MADDRAX
DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 88
Sohn der Finsternis
Die wahren Ausmaße des Gewölbes versanken in der Dun...
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MADDRAX
DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 88
Sohn der Finsternis
Die wahren Ausmaße des Gewölbes versanken in der Dunkelheit, doch der sauber gefegte Steinboden bot genügend Platz für die betenden Männer und Frauen, die rund um die Feuerschalen saßen. Süßliche Rauchschleier stiegen aus den Flammen empor. Die wohl dosierte Mischung berauschender Krauter, die dort verbrannte, half den acht Propheten ihre Sinne zu weiten. Mantras vor sich hin murmelnd versanken sie in Trance offen für alles, was die Götter senden mochten. Den alten Wladov überfiel die Eingebung als Ersten, doch bereits einen Lidschlag später schienen auch in den übrigen Köpfen kleine Sonnen zu explodieren. Einen normalen Geistmeister mit der Gabe des zweiten Gesichts hätten die grellen Szenen sicher in die Flucht geschlagen. Aber die hier meditierenden Nosfera begegneten der Apokalypse nicht zum ersten Mal... »Es naht die Zeit, in der die Sonne zum zweiten Male wächst«, verkündete Wladov die alte Prophezeiung. »Das Ende der Nacht steht bevor! Es ist unsere Pflicht, sie zu schützen, denn es ist ihre Dunkelheit, die unser Volk am Leben hält.« Eine lange Spanne völliger Bewegungslosigkeit lag hinter den Propheten, die mit untergeschlagenen Beinen auf dem nackten Stein saßen. Doch nun, da die Bilder in ihnen aufflammten, strafften sich ihre Leiber. Völlig in Trance versunken, begannen sie sich vor und zurück zu wiegen. Ihre Augäpfel ruckten hektisch unter den geschlossenen Lidern, während schreckliche Bilder von einer übergroßen Sonne, die allem Leben das Fleisch von den Knochen brannte ihre Sinne marterten. Obwohl es in dem Gewölbe angenehm kühl war, glänzte Schweiß auf den bleichen Gesichtern. »Dunkelheit bedeutet Leben«, stimmte Wladov an, bevor die anderen mit einfielen: »Blut, Dunkelheit und ein fester Glaube sind die Fundamente, auf denen das Leben der Nosfera beruht!« Lange braune Mäntel aus schwerem Tuch umhüllten die hageren Gestalten. Im Freien eine lebensnotwendige Kleidung, um die Haut vor den sengenden Strahlen der Sonne zu bewahren, doch hier, in der Obhut der Tiefe, hatten sie die Kapuzen zurückgeschlagen. So hätten zufällige Besucher den Schmerz sehen können, der ihre blassen Züge zu Grimassen verzerrte. Doch welcher Unbefugte sollte schon den Weg in die Meditationskammer finden, diesem abgeschirmten Refugium tief unterhalb der Ordensburg?
Was bisher geschah... Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Die Antworten darauf, was mit der Erde und der Menschheit geschehen ist, liegen im Kratersee. Trotzdem kommt Matthew Drax die Weltrat-Expedition zuvor und scheitert! Lynne Crow und Prof. Smythe gelten als verschollen, seit sie zum Kometen hinab tauchten. Auch Matts Gruppe wagt den Vorstoß. Bei der Bergung eines grünen Kometenkristalls wird der Hydrit Mer'ol gefangen. Quart'ol, ein zweiter Hydrit, nimmt Kontakt mit dem Kristall auf. Sie erfahren, dass das außerirdische Volk der Daa'muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutationen der Tier- und Pflanzenwelt eine Lebensform zu erschaffen, in die Milliarden körperloser Geister schlüpfen können. Auch die Degeneration der Menschheit über Jahrhunderte und ihre anschließende Reorganisation diente diesem Zweck. Jener Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung als Matt in einer Bruthöhle unbeabsichtigt eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als obersten Feind und hetzen ihm ihre Mutanten auf den Hals, Die Freunde fliehen in einem russischen ARET-Panzer. Quart'ol bleibt zurück, um Mer'ol zu retten, was ihm später auch gelingt. Dabei stellt er fest, dass Smythe und Lynne Crow von den Daa'muren festgehalten und durchleuchtet werden. Als der Barbar Pieroo erkrankt, fahren der Cyborg Aiko und die Rebellin Honeybutt mit ihm im Beiwagen des ARET voraus. Unterwegs stoßen sie auf Jed Stuart und Majela Ncombe, zwei WCA-Überläufer, die mit einem Zug nach Kiew weiterreisen. In der Hafenstadt Nydda werden die Gefährten um Matt Drax mit der Familie eines Umstürzlers verwechselt und festgesetzt. Nur Mr. Black kann entkommen, und nachdem er die Freunde befreit hat, entschließen sie sich für getrennte Wege: Dave und Rulfan fahren auf einem Dampfer nach Britana, während Matt, Aruula und Black den ARET nehmen. In Perm treffen sie auf zwei verfeindete Bunkerbesatzungen und können sie auf gemeinsames Bündnis gegen die Daa'muren einschwören. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein Serum, das aus dem Blut Mr. Blacks gewonnen werden kann und schon dem Weltrat half, die typische Immunschwäche der Technos zu überwinden...
Nur einige Adepten, die respektvoll Abstand hielten, beobachteten voller Spannung, wie die Schleier des Schicksals angehoben wurden, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Sobald der erste Schrecken verflogen war, begannen die Propheten die einströmenden Bildfragmente zu kanalisieren. Keine leichte Aufgabe, doch die Erfahrungen der vergangenen Jahre halfen ihnen, sich zurecht zu finden. Geschickt tastete jeder Meditierende nach dem Geist seines Nachbarn, bereit, sich zu einer geballten Kraft zu vereinen, die gemeinsam mehr war als die Summe ihrer einzelnen Gaben. Acht haarlose, mit faltiger Pergamenthaut bespannte Schädel traten bei jedem Atemzug stärker im Fackelschein hervor. Selbst innerhalb des Ordens gab es nun niemanden mehr, der den Göttern näher stand, und so waren sie fähig, tiefer in die erschütternde Vision einzudringen. »Großer Murrnau!«, trieb Wladov die Beschwörung voran. »Zeige uns einen Weg, die Dunkelheit zu schützen.« Seine Mitstreiter fielen in die mehrfach wiederholte Bitte ein, bis sie sich als Echo in die umliegenden Gewölbe fortpflanzte. In einem genau abgestimmten Takt fügte Wladov dem Ritus geheime Beschwörungsformeln hinzu, die den Eingeweihten vorbehalten waren. Angenehme Wärme durchflutete seinen Leib, dem er mit jeder Silbe stärker entrückte. Seine Augenlider schienen an Substanz zu verlieren, bis sich nur noch feines Aderwerk vor den drei Feuerschalen abzeichnete, deren lodernde Säulen die Eckpfeiler des Ordens symbolisierten. Blut, Dunkelheit und ein fester Glaube! Der Refrain, der längst zu einem fernen Wispern geworden war, versetzte Wladovs Leib in Schwingungen. Alles Körperliche fiel von ihm ab, während er mit den Geistern der übrigen Propheten zu einer Einheit verschmolz. Einen Moment lang glaubte er noch, sich und die anderen aus einer erhöhten Perspektive zu sehen, dann wurden seine Gedanken auch schon in den flammenden Mahlstrom gerissen, den die Götter sandten. Einige von den Bildern, die sich laufend wiederholten, waren den Bluttemplern seit langem bekannt. Etwa die pulsierende Sonne, die zu einem riesenhaften, verzehrenden Glutofen anwuchs, der alles Leben auf Erden zu verbrennen drohte. Obwohl die Sonne nur ihrer Imagination entsprang, wussten sie doch mit Gewissheit, dass sie wirklich eines nicht mehr fernen Tages fähig sein würde, den schweren Stoff ihrer Umhänge zu durchdririgen. War damit das Schicksal der Nosfera besiegelt? Wladov mochte es nicht glauben. Denn da gab es noch mehr zu sehen. Viel mehr! Kryptische Bilder, Symbole und, Gefühle, die den Verstand eines Sterblichen überforderten. Zu fremd, zu göttlich muteten die Schicksalsfäden an, die sie schauen durften. Zu entfernt gewoben, im Jenseits, das jedem Nosfera verschlossen blieb, bis er den Großen Blutstrom durchschwömmen hatte. Und doch, irgendwo zwischen diesen beklemmenden Visionen musste eine Antwort liegen, anders konnte es gar nicht sein. Ein Mann im Feuervogel wird vom Südland kommen und die Welt verändern! Wladov wusste nicht, woher dieser Gedanke stammte, er blitzte einfach auf. So wie immer, wenn sich eine Prophezeiung anbahnte. Ihre Runde, die jeden Tag aufs Neue meditierte, hatte schon oft zukünftige Ausblicke erhascht, die Unheil abwenden halfen. Zwar wichen die Voraussagen ab und zu von der Wirklichkeit ab, aber solche Rückschläge konnten bestimmt durch noch intensivere Beschwörungen minimiert werden. Was blieb ihnen angesichts der drohenden
Sonnenherrschaft auch anderes übrig, als die Anstrengungen zu verstärken? Sie mussten einfach mehr erfahren, in diesem Punkt waren sie zum Erfolg verdammt. »Der Mann aus dem Feuervogel«, sprachen die Propheten plötzlich wie aus einem Munde, »sein Weg führt nach Moska!« Ihre Stimmen schwollen vor Aufregung an, bis der Choral zu einem langgezogenen Missklang wurde. Was sich hinter der Prophezeiung zur zweiten Zeit der Sonne verbarg, gehörte zu den größten Mysterien ihres Ordens. Wurde die tägliche Meditation nun endlich belohnt? Rückte die Lösung in greifbare Nähe? Vermutlich nicht, denn der Blick in die Zukunft kostete sehr viel Kraft. Wladov spürte bereits, wie ihm die Beschwörungen schwerer von den Lippen gingen. Seine Hoffnung, dem Geheimnis diesmal ein Stück näher zu rücken, sanken bereits... als sich die gleißende Sonne auf einmal verdunkelte. Der Geistmeister mochte es zuerst nicht glauben, doch der glühende Himmelskörper wurde unversehens vom Schatten eines Mannes überlagert, dessen Umrisse deutlich aus der Bilderflut hervor traten. Zu Wladovs Verwunderung nahte dort kein Nosfera, sondern ein Mensch! Doch wer war er schon, die Fügungen des Schicksals zu hinterfragen? Groß wirkte er, dieser grün gewandete Krieger mit dem blondem Haar, das in ungewöhnlichem Gegensatz zu der Finsternis stand, die er verströmte. Ein furchterregender Zug lag auf seinem gebräunten Gesicht, aber das mochte ein Zeichen von Stärke sein. Und stark musste er sein, wenn er die Macht der Sonne brechen sollte. »Ist er das?«, fragte Wladov in den Raum hinein. »Bringt dieser dort die Rettung?« Eine törichte Frage, auf die er natürlich keine Antwort erhielt. Stattdessen vernahm er Worte in einer unbekannten, nicht menschlichen Sprache, die selbst bei genauem Hinhören unverständlich blieben. Die Vision begann bereits zu verblassen, als Wladov dem fernen Wispern endlich eine Bedeutung abringen konnte. Die einzige, die wirklich Sinn ergab. Danach brach der Kontakt ab. Erschöpft sackte er auf die nackten Fersen zurück. Das Ritual hatte ihn und seine Mitstreiter viel Kraft gekostet. Sofort eilten Adepten mit sauberen Tüchern herbei, um den Propheten die Stirn zu trocknen, doch Wladov scheuchte sie mit einer ärgerlichen Geste zurück. Es gab jetzt Wichtigeres, als auf Reinlichkeit zu achten. »Benachrichtige den Erzvater«, wies er den nächststehenden Jungen an. »Sag ihm, dass den Bluttemplern eine neue Prophezeiung geschenkt wurde.« Die jungen Gesichter, die den Kreis umgaben, glänzten vor Neugierde, doch niemand wagte eine Frage zu stellen. Eine neue Prophezeiung war zuerst für die Ohren des Erzvaters bestimmt. Er allein durfte entscheiden, ob sie allen Ordensbrüdern zugänglich gemacht wurde. Während der zum Boten bestimmte Adept die braun gewirkte Kutte raffte und durch den Gang davon huschte, traten seine Kameraden zaghaft näher. Auch wenn es ihnen nicht anzusehen war, es handelte sich um Nosfera. Murrnaus Keim schlummerte bereits in ihnen, doch es würden noch einige Sommer und Winter verstreichen, bis der Blutdurst in ihnen erwachte. Sie, die noch in ihren menschlichen Hüllen steckten, setzten kleine Messer an ihre vernarbten Handgelenke, um den Propheten eine Erfrischung zu reichen. Rot und dunkel quoll es aus den frischen Schnitten hervor. Der aufsteigende Geruch ließ Wladovs Nasenflügel erbeben. Erfreut presste er beide Lippen auf die dargebotene Wunde und saugte das kostbare Nass auf, bevor es zu Boden tropfen konnte.
Ach, frisches menschliches Blut! Wie selten dieser Hochgenuss doch geworden war. Ein Hauch von Wehmut stieg in ihm auf, während er sich stärkte. Die alten Zeiten, ob sie je wiederkehren würden? Manche der Jüngeren kannten sie nur aus Erzählungen, doch er selbst hatte noch den Höhepunkt der Macht miterlebt. Damals, als die Bluttempler nicht nur Moska, sondern ganz Ruland regierten. Schon nach wenigen Schlucken fühlte Wladov die Kräfte zurückkehren. Einen Moment lang genoss er noch den süßen, klebrigen Geschmack im Mund, dann sonderte er einen Speichelschub mit wundstillender Wirkung ab. Der Adept wartete geduldig, bis die Blutung versiegte, bevor er den Arm zurückzog. Wladov schenkte seinem Spender ein wohlwollendes Nicken, das gleichzeitig alle Jungen und Mädchen aus der Katakombe entließ. Die anstehende Verkündung war nicht für ihre Ohren bestimmt, dazu bedurfte es keiner großen Erklärungen. Und obwohl den Adepten viele Fragen auf den Lippen brannten, zogen sie sich schweigend zurück. Disziplin gehörte zu den größten Tugenden, die einen Bluttempler über andere Nosfera erhoben. Mit einer knappen Geste bedeutete Wladov seinen Mitstreitern, die kreisförmige Sitzordnung aufzugeben. Ein jeder zupfte noch rasch den wollenen Umhang in Form, bevor sie sich zu einer Linie mit Blick auf den Gang ausrichteten. Nur Wladov kniete in vorgeschobener Position. Das war sein Recht als Sprecher der Propheten. Während sie schweigend auf den Erzvater warteten, befiel ihn eine merkwürdige Unruhe. Der karge Meditationsraum aus grob behauenen Steinquadern, der nur einige tönerne Krüge und Feuerschalen zu bieten hatte, kam dem Alten plötzlich zu schäbig vor für eine Nachricht dieser Tragweite. War es richtig gewesen, seine Heiligkeit zu sich zu bitten? Sollten sie ihm nicht lieber entgegen eilen, bevor er die herrschaftlichen Gemächern verließ? Nein! Wladov schüttelte den Gedanken ab, ehe er sich in ihm festsetzen konnte. Die Meditationskammer mochte karg sein, doch sie war auch ein stiller Hort der Macht, an dem sich gerade die Zukunft der Nosfera entschieden haben mochte. Grund genug, die Prophezeiung hier und nirgendwo anders zu verkünden. Für eine Änderung war es ohnehin zu spät. Vielfaches Scharren von Ledersohlen auf Stein kündete von Personen, die durch den Gang näher kamen. Die übrigen Propheten vernahmen es ebenfalls. Natürlich, schließlich waren sie Nosfera. Empfindsame Ohren und scharfe Augen gehörten zu den hervorstechenden Merkmalen ihres Volkes. Eine fiebrige Spannung legte sich über die Gruppe. Den langen Schatten, die im Gang sichtbar wurden, folgte alsbald die Leibwache mit der hölzernen Sänfte, auf der das rot gekleidete Ordensoberhaupt thronte. Obwohl nicht der kleinste Sonnenstrahl in die Katakomben dringen konnte, trug der Erzvater die Kapuze so tief in die Stirn gezogen, dass sein Gesicht völlig im Schatten versank. Die gewölbte Decke lag nur anderthalb Speerlängen über dem Boden. Die Träger mussten die Sänfte am ausgestreckten Arm halten, damit sich seine Heiligkeit nicht den Kopf stieß. Als sie die Meditationskammer erreichten, wirkten die Krieger abgehetzt. Einige rangen stoßweise um Atem, bewahrten aber trotzdem würdevoll Haltung, nachdem sie den kunstvoll geschnitzten Stuhl abgestellt hatten. Disziplin, Ehre und Körperbeherrschung. Die großen Tugenden der Bluttempler, dem mächtigsten aller Nosfera-Orden! Seine Heiligkeit orientierte sich an den leise knisternden Flammen, als er den Kopf in Richtung der Propheten drehte. Genauso gut hätte er an die Decke starren können, denn sehen konnte er nicht viel, bestenfalls den Unterschied zwischen Hell und Dunkel
wahrnehmen. Trotzdem verneigte sich Wladov so tief, dass seine Stirn nur eine Handbreit über dem kalten Stein schwebte. »Blut und Dunkelheit auf all deinen Wegen«, grüßte er. »Ich danke dir, Erzvater, für dein rasches Erscheinen. Sei versichert, dass unser Bericht von größter Wichtigkeit ist.« Die rot gewandete Gestalt antwortete nicht, sondern bedeutete Wladov mit einem kurzen Wink, näher zu treten. Nie um einen guten Auftritt verlegen, dachte der Prophet spöttisch, wenn auch nur in einem abgeschirmten Bereich seines Verstandes, den selbst das Oberhaupt nicht erlauschen konnte. Obwohl seine alten Knochen leise knackten, erhob sich Wladov ohne das geringste Anzeichen von Schmerz und trat in gemessenen Schritten an die Sänfte. Als er sich vorbeugte, um die Prophezeiung in gedämpften Ton zu verkünden, glitzerte es in den trüben Pupillen, die unter der herrschaftlichen Kapuze verborgen lagen. Es sprach für die Brisanz des Augenblicks, dass selbst seine Heiligkeit ein wenig an Ruhe verlor. Nachdem Wladov geendet hatte, gebührte es dem Erzvater, die Vision bekannt zu geben. Gespanntes Schweigen erfüllte das Gewölbe bis zum letzten Mauerspalt, während sich alle Augen auf die Sänfte richteten. Seine Heiligkeit zögerte den Moment der Verlautbarung ein wenig hinaus, entweder um die Spannung zu erhöhen, oder weil er die Neuigkeit selbst noch verdauen musste. Die Schatten der umstehenden Leibwache tanzten ruhelos über die Wände, bis er einen aus ihrer Mitte zu sich befahl. »Es ist so weit, Radek«, drang es dumpf unter der Kapuze hervor. »Gott Murrnau sendet einen Diener, der unser Volk vor dem Untergang bewahren soll. Schwärmt aus und sucht ihn, diesen Sohn der Finsternis, denn je eher er Moska erreicht, desto besser für die Nosfera.« Radeks welke Haut spannte über der Kinnpartie, während er seine Aufgabe vernahm. Ratlos blickte er zu den übrigen Leibwächtern, die ebenso verwirrt wie er zu sein schienen. »Sohn der Finsternis?«, stieß er schließlich hervor. »Ist das alles, was wir über diesen Nosfera wissen?« Statt darauf zu antworten, wandte seine Heiligkeit den Kopf in Wladovs Richtung. Der Prophet wusste die noble Geste zu schätzen, als er statt seiner ausführte: »Der Mann, den wir suchen, ist ein Mensch von hohem Wuchs. Sonnengelbes Haar umgibt sein Haupt und er trägt eine grün gefärbte Tracht.« Eine Beschreibung, die auf Tausende von Ruländern zutraf. Wladov spürte ein geradezu spitzbübisches Vergnügen, zu beobachten, wie Radek die blassen Lippen aufeinander presste, um nicht mit weiteren Fragen herauszuplatzen. Ehe die Verzweiflung des Kriegers überhand nehmen konnte, fuhr der Alte jedoch lächelnd fort: »Das Wichtigste ist aber, dass wir den Namen unseres Verbündeten kennen. Er lautet Massiuu Drex!«
* Einige Wochen später... Wenn man den alten Karten trauen durfte, dann stimmte der ausgewalzte Weg, über den der ARET rollte, exakt mit dem Verlauf der ehemaligen M7 überein, die als Schosse Entusiastow bis in den Stadtkern von Moskau führte. Die Außenbezirke des einstigen Molochs hatte das gepanzerte Fahrzeug bereits erreicht. Links und rechts der überwucherten Autobahn erstreckte sich eine zerfurchte Landschaft aus geborstenen
und anschließend überwachsenen Hochhäusern, die auf diese Weise ihre graue Tristesse verloren hatten. Die hiesige Vegetation gedieh mehr als üppig. Viele Ruinen waren vollständig begrünt; nicht einmal Fensteröffnungen sah man mehr unter dem dichten Blättergeflecht. In dem zu beiden Seiten der Schneise aufragenden Dschungel lebten Barbaren. Darauf ließen mehrere Rauchsäulen schließen, die zwischen den Bäumen in die Höhe stiegen. Von Zeit zu Zeit blickten Einheimische zwischen Büschen und Bäumen hervor oder ließen sich auf einem der zahlreichen Pfade sehen, die in unübersichtliche Gefilde abzweigten. Zumeist handelte es sich um wild anmutende Gestalten, die von Natur aus finster dreinblickten. Gegerbte und vernähte Felle schützten sie vor Wind und Kälte, manche bevorzugten auch grob gewebtes Tuch. An ihren breiten Gürteln hingen Schwerter, Dolche oder Äxte, zusätzlich trugen sie entweder Speere oder Pfeil und Bogen. Von Armbrüsten oder Feuerwaffen dagegen keine Spur. So weit war die hiesige Zivilisation noch nicht gediehen. Nicht zum ersten Mal, seit sie die ehemalige GUS von Osten her durchführen, fühlte sich Matthew Drax an die eureeischen Barbaren erinnert, die er zu Beginn seiner bizarren Wanderschaft zwischen Mailand und Berlin angetroffen hatte. Aruula ging es nicht viel anders. Nicht umsonst bezeichnete sie die überwucherte M7 immer wieder als Otowajii. Einige Frekkeuscher, die über den grünen Häuserschluchten aufstiegen, festigten das heimische Gefühl noch weiter. Das kann doch wohl nicht wahr sein, staunte Matt über seine melancholischen Anwandlungen. Lag das Leben im 21. Jahrhundert wirklich schon so weit zurück, dass er diese bizarre Umgebung als Normalzustand empfand? Der einzige Fremdkörper in dieser Szenerie schien tatsächlich der ARET zu sein, der fünfzehn Meter lange Koloss aus Leichtmetall-Verbundpanzerung, mit dem sie auf hohen Plastiflexreifen durch die Landschaft rollten. »Vorsicht!«, warnte eine energische Stimme. »Da vorne nähern sich Kerle auf Riesenameisen!« Matt brauchte einen Moment, um den Grund für Mr. Blacks Aufregung zu begreifen. Sicher, er hatte die entgegenkommenden Barbaren ebenfalls gesehen, doch ihr Anblick war ihm so vertraut, dass er sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht hatte. Black, der aus Washington stammte, wo die Mutationsrate wesentlich niedriger lag, begegnete solchen Großinsekten dagegen immer noch mit deutlichem Misstrauen. Während Matt überlegte, wie er auf den Ausruf reagieren sollte, streckte Aruula den Kopf neugierig durch die Zwischenschleuse und sah über ihre Schultern hinweg. »Das sind bloß ein paar Andronenreiter«, kommentierte sie gelassen. Merkwürdigerweise gab sich Mr. Black mit diesem Hinweis zufrieden. Vielleicht, dachte Matt schmunzelnd, um nicht eingestehen zu müssen, dass ihm eine Barbarin an Wissen überlegen ist. Zu größerer Schadenfreude blieb allerdings keine Zeit, denn die bepackten Lasttiere erforderten seine volle Aufmerksamkeit. Um jeden Aufruhr zu vermeiden, drosselte Matt die Geschwindigkeit und lenkte den ARET so weit nach rechts wie möglich, ohne die tiefhängenden Äste der angrenzenden Bäume zu touchieren. Die Andronenreiter rückten ebenfalls zur Seite, zeigten jedoch keinerlei Anzeichen von Überraschung. Einige Kinder, die auf den Hinterleibern der Insekten saßen, winkten sogar fröhlich, als sie einander passierten. Gepanzerte Fahrzeug waren offenbar ein gewohnter Anblick in dieser Gegend.
»Sieht beinahe so aus, als ob die hiesige Bunkerbesatzung in Einklang mit den Barbaren lebt«, sprach Matt seinen Gedanken laut aus. »Können ja nicht alle so paranoid und machtbesessen wie der Weltrat sein«, stimmte Mr. Black zu. Der Brustkasten des hochgewachsenen Mannes hob und senkte sich in ruhigem Takt. Keine Spur mehr von seiner kurzzeitigen Verwirrung. Er war wieder die Ruhe selbst. Während Matt den ARET zurück zur Straßenmitte lenkte, griff sein Beifahrer nach dem Funkgerät. »Allzu weit kann der Stadtkern nicht mehr entfernt sein«, erklärte Black. Dann legte er den Kippschalter um, der die Antenne auf dem Dach ausfuhr. Matt war mit diesem Vorgehen einverstanden. »Nur zu. Je eher wir Kontakt zur örtlichen Community erhalten, desto besser.« Während die bizarre Landschaft an der Frontscheibe vorüber zog, setzte Black einen wiederkehrenden Funkruf auf der Frequenz ab, die ihnen die Technos in Perm mit auf den Weg gegeben hatten: »US-Delegation ruft Ramenki, US-Delegation ruft Ramenki bitte kommen.« Matt hätte fast das Steuer verrissen. »US-Delegation?«, fragte er entgeistert. »Delegation von was denn, wenn ich fragen darf?« Black löste seinen Daumen vom Rufknopf des Funkmikros und sah irritiert auf. »Von der Untergrundregierung, die ich repräsentiere. Das wissen Sie doch!« Falls die Empörung in seiner Stimme gespielt war, handelte es sich um eine oscarreife Leistung. Matt schützte vor, sich auf den Weg konzentrieren zu müssen, während er seine Gedanken ordnete. Sicher, Mr. Black führte eine Rebellengruppe an, die dem Weltrat Widerstand leistete, einem Verein, den keiner von ihnen mochte, besonders seit sie wussten, dass General Crow und seine Mannen andere Länder mit Hilfe von barbarischen Hilfsvölkern unterjochten. Doch Blacks Running Men, die in jüngster Zeit stark dezimiert worden waren, hatten auch nie den Volkswillen von Waashton wie die Hauptstadt nun genannt wurde, geschweige denn ganz Meerakas repräsentiert. Matt riskierte einen kurzen Seitenblick, der leider bestätigte, dass Mr. Black auf eine Antwort wartete. »Bei allem Respekt für Ihren Freiheitskampf«, begann Matt vorsichtig, »aber finden Sie nicht, dass Sie ein wenig zu hoch pokern? Dass die Running Men die gesamten Vereinigten Staaten repräsentieren, ist mir jedenfalls neu.« Blacks Miene kühlte um einige Grade ab, blieb aber weit davon entfernt, frostig zu wirken. Der Zug, der sich in seine Wangen grub, strahlte eher etwas Trauriges aus. Unbewusst trommelte er auf dem metallenen Übersetzungsmodul herum, das zur Verständigung mit den Einheimischen diente. Black schien jedes seiner Wort abzuwägen, bevor er antwortete. Vielleicht, weil er ahnte, dass ihre Gruppe jetzt, so kurz vor dem Eintreffen in Moskau, Einigkeit bewahren musste. »Glauben Sie wirklich, dass es mir darum geht, mich persönlich in ein besseres Licht zu rücken?«, fragte er schließlich mit vorwurfsvollem Unterton. »In diesem Fall darf ich Ihnen versichern, dass mir ausschließlich unsere Sache am Herzen liegt, Mr. Drax. Und wir sind uns doch wohl darüber einig, dass die Existenz der Menschheit auf dem Spiel steht, oder?« Matt blieb nichts anderes übrig als zu nicken. Nach allem, was am Kratersee geschehen war, mussten sie davon ausgehen, dass eine außerirdische Lebensform den Niedergang der Menschheit plante, um sich eine neue Bleibe auf diesem Planeten zu schaffen. Bisher hatten diese Wesen, deren Geistesinhalte in Kristallen gespeichert
waren, nur indirekt aber massiv in die Evolution eingreifen können, doch wie es schien, standen sie nun kurz davor, in neue Körper aus Fleisch und Blut zu schlüpfen. Körper, die das Ergebnis unzähliger Mutationen rund um den Erdball waren, was die extreme Mutationsrate nach dem Kometeneinschlag erklärte. Wenn das glückte, konnten sie die ganze übrig gebliebene Menschheit überrennen. Denn bei einem Tauchgang hatten Mr. Black und er Millionen, wenn nicht gar Milliarden dieser Kometenkristalle auf dem Grund des Kratersees entdeckt. Gegen ein Heer diesen Ausmaßes besaß die irdische Bevölkerung keine Chance. Deshalb durfte es gar nicht erst so weit kommen. Darüber waren sich Matt, Aruula und der Rebell in nächtelangen Gesprächen einig geworden. »Sehen Sie doch ein, dass wir die Zügel in die Hand nehmen müssen«, sagte Mr. Black geradezu beschwörend. »Wir können nicht nur durch die Gegend fahren und verkünden, was wir erlebt haben. Wir müssen auch politisch handeln! Es gilt Bündnisse zu schmieden und eine Verteidigungslinie zu etablieren. Bis die Russische Liga von selbst aktiv wird, ist es doch längst zu spät. Wir haben ja in Perm gesehen, wie sich Moskowiter und Petersburger in den Haaren liegen.« »Schon richtig.« Matt konnte selbst nicht erklären, warum er sich derart gegen Blacks Worte sträubte. Vielleicht wegen der Grauzone, die an jedem Verhandlungstisch früher oder später zu Tage trat. Ein aufrechter Kampf, Mann gegen Mann, war Matt jedenfalls lieber als die Fallstricke der Diplomatie. »Dient es wirklich dem Überleben der Menschheit, wenn wir uns als Delegation aufspielen?«, formulierte er seine Bedenken. »Nicht dass wir die Moskowiter damit großartig täuschen können, schließlich wissen die Technos in Perm dank der EVGVerhöre über die Situation in Waashton Bescheid.« »Was heißt hier aufspielen?« Mr. Black lächelte listig. »Gleichziehen trifft es wohl eher. Die Bunkerliga vertritt auch nicht die Interessen der hiesigen Barbaren, trotzdem nennt sich ihr Anführer regierender Kommissar, oder? Wenn wir gegen solche Titel bestehen wollen, müssen wir selbst ein wenig auftrumpfen.« Matt lachte spontan auf. Der Running Man war normalerweise nicht die große Spaßkanone, umso erfreulicher, dass er zur Abwechslung ein wenig Humor aufblitzen ließ. Bewies es doch, dass er, trotz all seiner Rebellenallüren, mit beiden Beinen in der Realität stand. Black fiel in sein Lachen ein, wurde aber schnell wieder ernst. »Glauben Sie mir, Commander«, versicherte er. »Wenn es darum geht, einen Düsenjet zu fliegen, werden Sie stets den Ton angeben. Aber um die Gremien der Russischen Liga zu beeindrucken, greifen wir besser auf meine Erfahrungen zurück.« Matt spürte die leise Kritik, die in diesen Worten steckte. In den vergangenen Monaten hatte zumeist er die Linie vorgegeben, an der sich die anderen der Gruppe ausrichteten. Fiel es ihm mittlerweile vielleicht schwer, Ideen anderer Leute zu akzeptieren? Ehe er sich dazu äußern konnte, fühlte er Aruulas Hand auf seiner Schulter. Die Barbarin, die das Gespräch schweigend verfolgt hatte, hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Wange und flüsterte dabei: »Black meint es ehrlich.« So wie sie den Satz betonte, äußerte sie keine bloße Vermutung, sondern eine feste Gewissheit. Kein Wunder. Schließlich besaß sie die Fähigkeit, Gefühle und manchmal auch die Gedanken anderer Menschen zu erlauschen. Diese telepathische Begabung war oft hilfreich, schützte aber keineswegs vor bösen Überraschungen.
Auch jemand, der die besten Absichten verfolgt, kann geradewegs in den Abgrund steuern, schoss es Matt durch den Kopf. Doch andauernder Pessimismus brachte sie nicht weiter. Zum Glück entband ihn leichtes Ätherrauschen von einer Fortsetzung der Aussprache. »Funkstation Ramenki an Präsident Black«, dröhnte es auf Russisch, gefolgt von einer englischen Übersetzung durch den Translator: »Perm hat uns ihr Eintreffen angekündigt. Unsere Wissenschaftler erwarten sie bereits.« »Woher wissen die von uns?«, wunderte sich Aruula. Matt zuckte mit den Schultern. »Durch irgendetwas, das schneller als der ARET ist.« Auf die gleiche Weise musste auch durchgesickert sein, dass sich Mr. Black in Perm als Oberhaupt der einzig legitimen US-Regierung vorgestellt hatte. Dass ihm dieser Rang tatsächlich zugestanden wurde, zeigte, wie hoch er in der Gunst der Liga stand. Nun ja, kein Wunder. Schließlich war es einzig und allein sein Blut, das zur Serumherstellung taugte. Der Rebellenführer wollte auf den Funkspruch antworten, doch Matt kam ihm zuvor. Er beugte sich über den Translator und rief: »Hier Commander Matthew Drax, USDelegation, Sektion Washington. Ich gebe weiter an das Oberhaupt der provisorischen Untergrundregierung, Mr. Black!« Er biss sich auf die Lippen, während die russische Übersetzung den Äther erfüllte. Black, der ihn aus zusammengekniffenen Augenlidern fixierte, drohte spielerisch mit der geballten Rechten, doch das milde Lächeln auf seinen Lippen zeigte, wie sehr ihm in Wirklichkeit die Ankündigung behagte. Kerzengerade aufgerichtet, wie um einem unsichtbaren Publikum zu gefallen, spann er den Dialog mit der fremden Funkstelle fort. Matt konzentrierte sich dagegen wieder auf die vor ihm liegende Strecke, auf der sich immer mehr Lasttiere, Träger und Passanten tummelten. Mit gedrosselter Geschwindigkeit umfuhr er einige langsamere Verkehrsteilnehmer, bis die M7 von einem breiten Weg gekreuzt wurde, der zu beiden Seiten bogenförmig aus dem Sichtfeld entschwand. Matt stoppte das Fahrzeug, um sich in Ruhe zu orientieren. »Wir erwarten Ihre Delegation an Portal B, nahe des ehemaligen Bolschoitheaters«, beschrieb der russische Funker den Treffpunkt, an dem sie sich einfinden sollten. Black sah fragend zu Matt herüber. Der Commander nickte nur. Er hatte sich anhand der ARET Datenbank bereits ein umfassendes Bild der Stadt gemacht. Black gab weiter, dass sie in Kürze eintreffen würden, und beendete die Verbindung. Danach nahm er sich ebenfalls Zeit, die Lage zu sondieren. Jenseits der zehn Meter langen Querschneise türmte sich ein mannshoher, mit Eisenstreben gespickter Erdwall, der zwar keine Stadtmauer ersetzte, aber klar machte, dass hier notfalls eine Verteidigungslinie verlief. »Der Wall folgt dem Autobahnring, der früher Moskau umlief«, erklärte Matt seinen Freunden. »Dahinter liegt der historische Stadtkern, oder zumindest das, was davon noch übrig ist.« Mit leichtem Druck der Zeigefingerkuppe aktivierte er ein sensitives Display, das zwischen Fahrer und Beifahrersitz in die Konsole eingelassen war. Auf dem zwanzig mal dreißig Zentimeter großen Bildschirm erschien ein farblich abgesetzter Stadtplan. Innerhalb des ehemaligen Kreisels wurden die Stadtteile Samoskworetschje, Arbatskaja, Twerskaja, Kitaigorod und Kreml sichtbar, während eine blau geschlängelte Linie den Verlauf der Moskwa darstellte, dem Fluss, dem die Stadt ihren Namen verdankte. Matt deutete auf Kitaigorod, den östlichen Distrikt, der ihnen am nächsten lag.
»Da müssen wir durch«, sagte er. »Wenn möglich, geradeaus bis zum Roten Platz und dann rechts ab, Richtung Theater.« Seine Fingerkuppe wanderte zu einem orangenen Zipfel, der bereits zum nördlich gelegenen Twerskaja gehörte. Während Aruula neben Mr. Black Platz nahm, warf Matt einen Blick aus dem Seitenfenster. Links von ihnen schlugen mehrere Barbaren einen respektvollen Bogen um das Fahrzeug. »Hoffentlich wird der hiesige Empfang etwas freundlicher als in Perm«, wünschte er sich, während er den Gang einlegte und beschleunigte. Mit routinierter Hand hielt Matt auf die Lücke zu, die vor ihnen im Wall klaffte. Von Wachen oder einem Tor war weit und breit nichts zu sehen. Nur einige hölzerne Palisaden, die den Durchbruch säumten, zeugten von einer gewissen Verteidigungs bereitschaft. Moskau schien eine offene Stadt zu sein, in der jeder ein und aus gehen konnte. Menschen und Tiere wichen ausnahmslos zur Seite, sodass sie zügig voran kamen. Als sie eine Anhöhe überwanden, konnte Matt bis zur Moskwa hinab sehen. Dabei stellte er fest, dass der Erdwall nur bis zum hiesigen Ufer reichte. Das südlich des Flusses gelegene Viertel Samoskworetschje genoss keinen besonderen Schutz; hier diente der breite Strom als natürliche Barriere gegen mögliche Angriffe. Matt folgte dem Straßenverlauf, zu dessen Seiten sich immer häufiger Ruinen erhoben. Diese Häuser waren nicht so stark bewachsen wie in der Vorstadt, doch gut erhalten bedeutete auch etwas anderes. Zum Teil standen nur einige ausgebrannte Fassaden aufrecht, aber dort, wo Wände und Stockwerke existierten, flatterten immer wieder Lumpen in den Fenstern, die Wind und Feuchtigkeit fern halten sollten. In anderen Straßen stand kein Ziegel mehr auf dem anderen. Dort wirkte alles wie mit der Planierraupe eingeebnet, ohne dass sich sagen ließ, ob dafür Feuersbrünste, Erdbeben oder menschliche Zerstörungswut verantwortlich waren. Je näher sie dem Stadtkern rückten, desto passabler wurde der Zustand der Bauwerke. Schließlich ließen sich sogar die Zwiebeltürme der Basiliuskathedrale ausmachen. Eine der charakteristischen Kuppeln fehlte zwar, dennoch war erstaunlich, dass die restlichen Türme fast unversehrt in den Himmel ragten. Auch während der von den Daa'muren initiierten Degenerationsphase mussten die Moskauer auf den Erhalt ihrer Kirchen geachtet haben. Die Götter, die sie anbeteten, mochten sich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben, aber der tiefe Glaube war offensichtlich stets gleich geblieben. Immer weiter drang der ARET in das Labyrinth aus zerfallenen, renovierten oder gut erhaltenen Straßenzügen ein, und obwohl Matt stets nach einem Hinterhalt Ausschau hielt, konnte er nicht umhin, die Schönheit vieler Gebäude zu bewundern. Erneut breitete sich Heimweh in ihm aus. Diesmal galt es dem 21. Jahrhundert, in das er nie mehr zurück kehren konnte. Kurze Zeit später erreichten sie den Roten Platz, dessen charakteristische Bepflasterung zwar längst versunken war, der aber seine Bedeutung als Stadtmittelpunkt in dieses barbarische Zeitalter hinüber retten konnte. Eine Reihe roh gezimmerter Marktstände breitete sich im Schatten der Basiliuskathedrale aus, deren Mauern auch aus der Nähe gut erhalten wirkten. Händler und Käufer feilschten hier um Brennholz, frischen Fisch, Pflanzenknollen, Getreide oder einfache Gebrauchsgegenstände. Alles in allem ging es recht friedlich zu, was an den Kriegern liegen mochte, die, einheitlich mit Lederharnisch und rotblau gefärbtem Waffenrock ausgerüstet, überall auf und ab patrouillierten. Auf der nahen Kremlmauer wehte eine rotblaue Fahne, was darauf schließen ließ, dass dort der lokale Fürst residierte.
Die trutzigen Mauern erhoben sich immer noch so imposant wie vor fünfhundert Jahren. Der Kreml wurde seiner ursprünglichen Bedeutung also weiterhin gerecht. Matt hätte gerne erforscht, wer die Festung zur Zeit regierte, doch das Treffen mit den Technos hatte Vorrang. Wehmütig wechselte er auf eine Straße, die Richtung Norden führte. Er fand die Strecke auch ohne Beschilderung, denn die Straßen folgten weiter den alten Verläufen. Von dem Asphalt alter Tage war natürlich nichts mehr zu erkennen. Eine dunkle Kruste aus Schlamm bedeckte alle Wege, die auf ihr Ziel zuführten. Die zerfallene Metrostation Ochotny Rjad diente als letzter Orientierungspunkt, bevor sie rechts abbiegen mussten. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, munterte Matt die anderen auf, während der ARET einen freien Platz passierte, aus dem alte Fundamente wie Zahnstummel in die Höhe ragten. Einige klägliche Mauerreste, mehr war nicht von dem imposanten Hotel geblieben, das hier einst gestanden hatte. In Sichtweite schloss sich der Platz der Revolution an, der statt einem Denkmal nur noch triste Öde bot. Matt hielt darauf zu, bis zur Linken das Bolschoitheater sichtbar wurde, über dessen Dach eine zerschlissene Flagge im Wind wehte. Hammer und Sichel auf rotem Untergrund. Das Zeichen der Russischen Bunkerliga! Hier waren sie richtig, auch wenn es keine sichtbaren Hinweise auf Technik oder Zivilisation gab. Nur ein paar Barbaren, die die Ankunft des ARET mit mäßigem Interesse beobachteten, lungerten auf dem Vorplatz herum. Zwischen den schmutzigen Gestalten wechseln verschiedene Eimer und Flaschen den Besitzer. Die halbherzige Heimlichkeit, die sie dabei an den Tag legten, wies auf einen Schwarzmarkt hin. Kein sonderlich vertrauenerweckender Anblick, aber auch nicht weiter bedrohlich. Der Panzerung des ARET konnten sie mit den primitiven Speeren, die sie bei sich trugen, nicht gefährlich werden. Trotzdem, aus irgendeinem Grund spürte Matt plötzlich ein warnendes Prickeln im Nacken. Wo zum Henker steckten die Technos, die sie angeblich erwarteten? »Ramenki an US-Delegation«, ertönte es wie zur Antwort aus dem Äther. »Wir haben Sichtkontakt. Halten sie auf den Haupteingang des mit einer Fahne markierten Gebäudes zu.« »Zu Befehl«, brummte Matt, dem die Geheimniskrämerei gehörig auf die Nerven ging. In einem engen Bogen lenkte er den ARET über die freie Fläche und hielt auf den Theatervorplatz zu. Von dem berühmten Springbrunnen, der dort gestanden hatte, waren nicht mal ein paar Bruchstücke verblieben. Dagegen hatte das Hotel Metropol, das den Platz zur rechten Seite flankierte, die letzten Jahrhunderte recht passabel überstanden. Von der Jugendstilfassade war zwar kaum noch etwas zu erkennen, doch die Mauern trugen noch einen zu zwei Dritteln erhaltenen Dachstuhl. Mit einer Geschwindigkeit von knapp 40 km/h verkürzte Matt die Distanz zum Bolschoitheater. Sie waren noch fünfzig Meter entfernt, als unter dem Säulenvorbau einige in Silber und Rot gekleidete Gestalten hervortraten. Sonnenstrahlen reflektierten auf gläsernen Helmen, die sie über den Köpfen trugen. Technos, in luftdicht verschlossenen Anzügen. Ihr Empfangskomitee. »Wurde auch Zeit«, machte Black seinem Unmut Luft. In der gleichen Sekunde blitzte auf dem Dach des Hotels eine Stichflamme auf. Matthew wusste nicht, was sich da oben entlud, doch er spürte instinktiv, dass es gegen den ARET gerichtet war. Für ein Ausweichmanöver war es zu spät und zum Nachdenken blieb auch keine Zeit. Matt reagierte einfach indem er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat.
Die Energie des atomaren Fusionskerns erreichte den Motor im Bruchteil einer Sekunde. Der ARET machte einen regelrechten Satz nach vorn, doch das Geschoss, das in abwärts geneigtem Winkel näher raste, war schneller. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schlug es auf Höhe des Laborsegments ein. Mr. Black und Aruula schrien überrascht auf, denn es fühlte sich an, als ob ein riesiger Vorschlaghammer auf den ARET niederfuhr. Obwohl die Gurte des Schalensitzes tief in seinen Oberkörper schnitten, umklammerte Matt das Lenkrad mit beiden Händen, um die Spur zu halten. Selbst dann noch, als der ARET mit der getroffenen Seite in die Höhe stieg und die Bodenhaftung verlor. Die Achsen ächzten metallisch, während sich die Last auf die linken Doppelreifen verlagerte. Schlingernd ging es mehr oder weniger geradeaus. Als das Fahrzeug Sekunden später wieder zu Boden krachte, riss es die drei Insassen beinahe aus den Sitzen. Der Motor jaulte wie ein waidwundes Tier, riesige Plastiflexbrocken flogen über den freien Platz. Die Barbaren, die alles mit großen Augen verfolgt hatten, stoben erschrocken davon. Einige von ihnen derart in Panik, dass sie die Eimer zur Seite warfen, um schneller vorwärts zu kommen. Lauter klumpige, irgendwie organisch wirkende Fontänen brachen aus den Behältnissen hervor, sobald sie auf den Boden prallten. Tatsächlich waren es angeschimmelte Essensreste, die sich da in hohem Bogen über den Platz verteilten. Matt spürte, wie die Räder blockierten. Ein Blick in den rechten Außenspiegel zeigte ihm auch warum. Der Einschlag hatte das mittlere Reifenpaar völlig zerfetzt. Bei jeder Drehung lösten sich weitere Stücke aus dem Gummimantel, bis die Radaufhängung umwickelt war. Matt nahm den Fuß vom Gas, das er die ganze Zeit durchgedrückt hatte. Immerhin, die rasche Beschleunigung hatte ihnen das Leben gerettet. Die Fensterfront war dem Geschoss entgangen. Stattdessen prangte eine rußgeschwärzte Delle im Kastenaufbau. Die Panzerung hatte standgehalten, trotzdem erstrahlte die Konsole im roten Glanz zahlloser Warnleuchten. Mehrere Filterabdichtungen waren durch den Einschlag geborsten, sodass der Druck in den Kabinen abfiel. Zum Glück brauchen sie sich deshalb keine Gedanken machen. Die Außenluft war für keinen der drei gefährlich, sie besaßen alle ein intaktes Immunsystem. Die angemahnte Notverriegelung konnten sie sich sparen. »Ein Hinterhalt!«, brüllte Mr. Black, nur für den Fall, dass es jemand nicht mitbekommen hatte. Sein Zeigefinger stach so anklagend in die Höhe, dass er beinahe die Panoramascheibe durchbohrte. »Da oben sitzt der Heckenschütze!« Matt sparte sich eine Antwort. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, das Differenzialgetriebe auf Allradlenkung umzustellen, damit sich alle Räder gleichzeitig einschlagen ließen. Wenn es nicht geradeaus weiter ging, wollte er wenigstens versuchen, sich seitlich aus dem Staub zu machen. Black rechnete ebenfalls mit weiteren Attacken. Mit fliegenden Händen löste er die Haltegurte, um nach hinten zu verschwinden. Vermutlich erreichte er den Kampfstand nicht mehr rechtzeitig, doch einen Versuch war es zumindest wert. Matt sah zwischen den geborstenen Dachpfannen des Metropol einen Sonnenreflex, der von einem Kunstglaskonus stammte. Verdammt, es war also ein Techno, der sie unter Feuer nahm! Und wie es schien, richtete er seine Panzerfaust erneut aus. Matt betätigte das Gaspedal, um die Kraftübertragung zu testen. Das Fahrzeug erbebte wegen des blockierten Reifenpaars, trotzdem ruckte es ein kleines Stück nach links.
Sein Plan funktionierte, nur die Geschwindigkeit ließ zu wünschen übrig. Ein geübter Schütze konnte ihre Flucht leicht ausgleichen. Deshalb wartete Matt kaltblütig ab, dass der Techno erneut feuerte. »Fahr doch endlich!«, brüllte Aruula, die für solche taktischen Finessen kein Verständnis aufbrachte. Ihr Metier war der Schwertkampf, die Konfrontation von Angesicht zu Angesicht. Gehetzt sah sie sich um. Der Fahrerraum erschien ihr plötzlich wie ein Gefängnis. »Wir müssen hier raus«, forderte sie, »und uns zwischen den Häusern verstecken!« »Zu gefährlich«, lehnte Matt ab. »Draußen lauern vielleicht Heckenschützen. Der Panzer ist unser bester Schutz.« Jede Faser seines Körpers war bis zum Zerreißen gespannt, während er auf die kommende Attacke wartete. Endlich drückte der Gegner erneut ab. In einer grell orangenen Feuerlanze brach das Geschoss aus dem Rohr hervor. Matt trat das Gaspedal bis aufs Bodenblech und umklammerte sein Lenkrad. Die Bewegungen um ihn herum schienen zu gefrieren, doch in Wirklichkeit ging alles rasend schnell. Kreischend radierten die intakten Plastiflexreifen über den Boden, bis der ARET auf ganzer Länge nach links rückte. Es war eine Sache von Sekunden, doch diesmal mussten nur drei Meter bewegt werden, keine fünfzehn. Das Manöver gelang, wenn auch nur um Haaresbreite. Mit einem dumpfen Laut hämmerte das Geschoss neben ihnen in den Boden und explodierte. Faustgroße Erdklumpen prasselten auf den ARET nieder. Es klang wie ein schwerer Hagelschauer, der gegen das Fahrzeug klatschte. Schaurig anzuhören, aber ungefährlich. Ganz im Gegensatz zu der Dingi-Armada, die zeitgleich aus den Seitenflügeln des Bolschoitheater hervorschoss. Knapp ein Dutzend dieser kleinen Allradfahrzeuge baugleich mit dem Gefährt, mit dem Aiko, Honeybutt und Pieroo unterwegs waren jagte über den Platz heran. Dabei war es nicht ihre Geschwindigkeit, die sie so gefährlich machte, sondern die aufmontierten Laserkanonen. Verankert auf der hinteren Plexiglaskuppel, die den Schützen vor Kälte, Staub und Fahrtwind bewahrte, ragte das Geschützrohr drohend zwischen den hohen Überrollbügeln hervor. Matt zählte insgesamt zehn Fahrzeuge. Die Besatzungen trugen rote Schutzanzüge, gehörten also zum militärischen Flügel der Technos. Auf Verhandlungen waren sie vermutlich nicht aus. Verbissen behielt Matt das Tempo bei, aber mit dem schleifenden Doppelrad und der eingeschränkten Lenkung konnten sie den Dingis unmöglich entkommen. Zwei von ihnen schnitten dem ARET bereits den Weg ab. Jetzt saßen sie tatsächlich in der Falle, genau so, wie Aruula vorausgesagt hatte. Mit verkniffener Miene blickte Matt zu der Barbarin hinüber, die ihr Schwert gezogen hatte. Sobald es möglich war, würde sie kämpfen. Ein metallisches Knirschen kappte seine Überlegungen. Das Geräusch stammte von der Drehlafette auf dem Dach. »Energiewerfer feuerbereit!«, meldete Mr. Black aus dem Kampfstand. Allzu viel konnten die Paralysestrahlen nicht ausrichten, doch weitere Bordwaffen standen nicht zur Verfügung. Der ARET war ein wissenschaftliches Fahrzeug, kein Militärpanzer. »Schaffen Sie einen sicheren Korridor, durch den wir uns zu den Häusern durchschlagen können«, empfahl Matt über die Schulter hinweg.
Aruula stieß ein zufriedenes Schnaufen aus. Sie brannte förmlich darauf, die Seitenluke zu öffnen, um dem ARET zu entfliehen. Ein Blick durch die Frontscheibe brachte Matts Strategie jedoch ins Wanken. Was sich auf dem Vorplatz abspielte, passte nicht so recht in das Bild der heimtückischen Technos, das er sich eben noch gemacht hatte. Trotz ihres hohen Tempos umrundeten die Dingis gerade mehrere Barbaren, die ängstlich auf dem Boden kauerten. Attentäter, die sich bemühten, Unbeteiligte zu schonen? Da stimmte etwas nicht. »Nicht schießen!«, rief Matt, doch seine Warnung kam zu spät. Mr. Black hatte das Geschütz bereits abgefeuert. Vor der Frontscheibe spaltete ein blassgelber Blitz die Luft, verfehlte das anvisierte Dingi jedoch um gut zwei Meter und fuhr, ohne Schaden anzurichten, in den nackten Boden. Gleich darauf überschlugen sich die Ereignisse. Drei der Dingis, die gerade noch herangerast waren, legten eine abrupte Kehrtwende ein, die sie mit qualmenden Reifen über den Platz schlittern ließ. Was anfangs wie ein zufälliges Übersteuern wirkte, zeugte in Wirklichkeit von genauem Timing. Alle drei Fahrzeuge blieben mit der Front zum Hotel auf einen Schlag stehen. Die Geschützrohre ruckten in die Höhe und suchten ihr Ziel: den Attentäter, der sich im Metropol verschanzt hatte. Mit leisem Sirren schnitten drei hochkonzentrierte Lichtstrahlen durch die Luft, gefolgt von weiteren Energiestößen, die das Dach in Brand setzten. Noch während die ersten Flammen in die Höhe schlugen, erreichte sie ein neuer Funkspruch. »Rasputin Eins an Präsident Black!«, übersetzte der Translator. »Stellen Sie das Feuer auf unsere mobilen Verbände ein! Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.« »Das hätten die aber auch gleich sagen können!« Aruula funkelte das Übersetzungs gerät an, als ob es an dem Missverständnis schuld wäre. Matt ging ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf, doch seine Erleichterung überwog den Zorn. Aufatmend bremste er den ARET ab, bevor sie einige Autowracks rammten, die seit Jahrhunderten im Schatten der Gebäude vor sich hin rosteten. »Die Technos wurden von dem Überfall genauso überrascht wie wir«, beschwichtigte er seine Gefährtin. »Da kann es schon mal drunter und drüber gehen.« Sobald er eine Hand frei hatte, bestätigte Matt die eingegangene Meldung. Danach fand er endlich Zeit, um die weiteren Ereignisse zu verfolgen. Vier Dingis schirmten den ARET nach allen Seiten ab, die übrigen sechs bezogen vor dem Hotel Stellung. Unablässig feuerten sie auf die Lücke im Dach, die dem Heckenschützen als Versteck diente. Ziegelsteine und Dachpfannen zerschmolzen unter den hohen Temperaturen zu glasigen Klumpen. Dichter schwarzer Qualm quoll zwischen lodernden Balken hervor und verwehte mit dem Wind. Falls der Attentäter dort oben festsaß, steckte er rettungslos in der Falle. Matt vermutete aber, dass sich der Kerl rechtzeitig abgesetzt hatte. Ansonsten wären bestimmt noch mehr Geschosse abgefeuert worden. Mittlerweile überschwemmte ein wahres Großaufgebot der Technos den Platz. Weitere Dingis rasten herbei, aber auch zwei gepanzerte Radfahrzeuge mit schweren Laserkanonen. Eines von ihnen bremste vor dem Metropol ab. Kaum zum Stehen gekommen, fuhr es ein drehbares Rohr aus, dem eine weiße Schaumladung entsprang. Unter hohem Druck spritzte die Pampe in die Höhe und breitete sich wie ein brodelnder Teppich über dem Brandherd aus. Ziegel, Balken und Pfannen wurden gleichmäßig eingedeckt.
Parallel dazu stürmten bewaffnete Technos das Gebäude, um den Attentäter zu ergreifen oder zumindest seinen Tod festzustellen. »Der Platz steht unter »unserer Kontrolle, Mr. President«, versicherte die russische Gegenstelle über Funk. »Bewahren Sie bitte Ruhe, Ihre Evakuierung wird umgehend eingeleitet.« Das zweite Panzerfahrzeug parkte parallel zum ARET ein, um sie gegen weiteren Beschuss zu decken. »Steigen sie bitte in den AMOT um«, bat die recht jugendlich wirkende Stimme. »Rasputin Eins wird sie wohlbehalten in ein vorbereitetes Quartier transportieren.« »Klingt ganz vernünftig.« Mr. Black, der den Kampfstand verlassen hatte, streckte seinen Kopf durch die Schleuse zwischen Fahrerraum und Labor. »Trotzdem ist mir die Sache nicht ganz geheuer. Was ist, wenn wir vom Regen in die Traufe kommen?« Um sein Misstrauen zu unterstreichen, streckte er Matt das Laser-Phasen-Gewehr entgegen. Die Waffe der Community London war auf den Piloten geeicht, deshalb konnte sonst niemand etwas damit anfangen. Matt legte den Strahler über seine Oberschenkel und griff erneut nach dem Funkgerät. »Commander Drax an Rasputin Eins. Wer hat da gerade auf uns geschossen?« Eine langer Moment knisternder Stille trat ein. Matt wollte die Frage bereits wiederholen, als es plötzlich hieß: »Tut mir Leid, Commander, im Augenblick sind wir genauso ratlos wie Sie.« Da der Kanal offen blieb, warteten sie auf weitere Erklärungen. Stattdessen folgte ein kurzer Wortwechsel, der zu leise war, als dass ihn der Translator übersetzten konnte. Dann schallte plötzlich eine weibliche Stimme aus dem Äther: »Hier spricht Irena Walujew, Botschafterin aus Petersburg! US-Delegation, sehen Sie sich vor! Wir müssen annehmen, dass der Attentäter ein Liga-Mitglied war, das den Tod von Dragurowka Bassutschok rächen wollte. Seien sie misstrauisch! Niemand weiß, wer in den Reihen der Moskowiter noch...« Die Meldung brach mitten im Satz ab, dafür wurden wütende Stimmen laut. »Was fällt Ihnen ein?«, empörte sich der ursprüngliche Funker. »Sie überschreiten Ihre Kompetenzen, Subkommissarin.« Ein transistorisches Knacken später brach die Verbindung endgültig ab. Matt fasste sein LP-Gewehr fester. Na prima, das geht ja gut los! Noch während er vielsagende Blicke mit Black und Aruula tauschte, verließen bewaffnete Technos den Schutz des AMOT, um, das Lasergewehr im Anschlag, die Umgebung zu sondieren. Angeführt wurde der Trupp von einem Wissenschaftler im Silberanzug, der mit großen Schritten näher eilte. Auf seinem fahlen Gesicht hoben sich die geröteten Wangen hervor wie bei einem halb fertig geschminkten Clown. Trotz seiner hageren Statur erschöpfte er bereits nach wenigen Schritten. Sein Atem ging stoßweise, während er sich vor dem Seitenschott der Fahrzelle aufbaute, um Matt und Aruula mit einer fahrigen Bewegung zum Aussteigen aufzufordern. Matt verständigte sich kurz mit seinen Gefährten, bevor er die Entriegelung aktivierte. Davonfahren kam mit dem beschädigten ARET nicht in Frage. Es blieb ihnen also gar nichts anderes übrig, als dem Empfangskomitee zu vertrauen. »Bleiben Sie noch einen Moment im Hintergrund«, bat er Mr. Black. »Sicher ist sicher.« Der Hüne nickte verstehend. Falls der Empfang schief ging, konnte er vielleicht noch rettend eingreifen.
Aruula sprang als erstes nach draußen, in die Lücke zwischen den gepanzerten Fahrzeugen. Einige Technos, die hilfsbereit näher kamen, wichen umgehend zurück, als die Barbarin ihr blankes Schwert hob. Kein Wunder, schließlich reichte ein kleiner Schnitt im Anzug, um sie mit Bakterien zu infizieren, denen ihr Immunsystem nichts entgegenzusetzen hatte. Selbst der silbern eingekleidete Wissenschaftler zeigte Respekt vor der scharfen Klinge. Hektisch ließ er seinen Blick zwischen Aruulas wildem Gesichtsausdruck und der Waffe hin und her pendeln, ohne sich entscheiden zu können, was ihm mehr Furcht einflößte. »Nur die Ruhe«, bat er, die Hände in einer abwehrenden Geste erhoben. »Niemand will Ihnen etwas tun. Wir sind Freunde.« Der Lautsprecher, aus dem die Worte drangen, war in den Metallkragen eingelassen, der zur Befestigung des Kunstglashelms diente. Aruula reagierte nicht auf die Beschwichtigung, sondern hielt die Technos weiter auf Abstand, um Matts Ausstieg zu sichern. Erst als er, das LP-Gewehr in der Armbeuge, neben ihr stand, entspannte sie ein wenig. Auf dem Gesicht des Silbernen breitete sich umgehend Erleichterung aus. »Ah, Mr. President«, freute er sich mit beflissenem Gesichtsausdruck. »Mein Name ist Alexander Marinin, 3. Subkommissar, Abteilung für Außeneinsätze. Im Namen der Bürger von Ramenki heiße ich Sie in Moska willkommen.« Trotz der elektronischen Verzerrungen war seine Begeisterung nicht zu überhören. Am liebsten wäre er Matt wohl auch noch um den Hals gefallen, doch Aruulas Schwert hielt seine Gefühle im Zaum. Vorsichtig auf die Klingenspitze deutend, sagte er stattdessen: »Würden Sie bitte Ihre Begleiterin darauf hinweisen, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für Gewaltanwendung ist?« »Keine Sorge«, antwortete Matt, die gekünstelte Freundlichkeit des Russen nachahmend: »Aruula ist äußerst friedliebend solange nicht auf uns geschossen wird. Ich bin übrigens Commander Matthew Drax, nicht Mr. Black.« »Oh!«, entfuhr es Marinin, dessen Enttäuschung aber sofort wieder verflog, als Mr. Black am Seitenschott erschien. Mit einem Lächeln, das wie festgenagelt wirkte, umrundete er Aruulas Schwert und eilte auf den Rebellen zu. »Herzlich willkommen in Ramenki«, leierte er erneut herunter, ohne Matt und die Barbarin länger zu beachten. »Entschuldigen Sie den unerfreulichen Empfang, wir können uns diesen Vorfall selbst nicht erklären.« Noch bevor Black festen Boden unter beiden Füßen hatte, wurde er schon von einem halben Dutzend Technos umringt, die ihn mit ihren bloßen Leibern vor weiteren Attentaten schützen wollten. Eigentlich ein nutzloses Unterfangen, da er sie alle um mindestens einen Kopf überragte. »Schnell, zur Heckschleuse«, trieb Marinin seine Leute an. »Erst im Inneren des Panzers sind wir wirklich sicher.« Ehe Matt und Aruula richtig wussten, wie ihnen geschah, standen sie alleine zwischen den Fahrzeugen. Verdutzt sahen sie sich an. Konnte es sein, das sich niemand für sie interessierte? »Na ja.« Der Pilot zuckte ratlos mit den Schultern. »Wenigstens wissen wir nun, dass uns diese Typen nicht ans Leder wollen. Denen sind wir schlicht egal.« Aruula stimmte ihm zu, behielt den Bihänder aber in beiden Händen, während sie zwischen den Radpanzem hervor spähte. Von weiteren Angreifern war nichts zu sehen, und die Technos sorgten auch dafür, dass es auch so blieb. Mit Nachdruck scheuchten sie alle Barbaren davon, die sich noch auf dem Platz aufhielten. Ein Mann in
zerschlissener Kleidung, der nur wenige Meter entfernt zwischen den Autowracks Deckung gesucht hatte, sah noch kurz herüber, bevor er der Übermacht wich. Mit beiden Armen umklammerte er einen stinkenden, mit Gemüseschalen gefüllten Holzeimer, als ob sein Leben davon abhinge. Dem armen Teufel schlotterten regelrecht die Beine, so sehr stand er unter Schock. Explosionen und Feuergefechte gehörten in Moskau anscheinend nicht zur Tagesordnung. Ein gutes Zeichen. »Hey, was ist mit meinen beiden Begleitern?«, dröhnte es dumpf aus dem AMOT hervor. Black war endlich aufgefallen, dass sie fehlten. Eine Sekunde später kam Marinin auch schon angelaufen und wedelte mit beiden Händen. »Wo bleiben Sie denn?«, rief er Matt und Aruula vorwurfsvoll entgegen. »Kommen sie endlich, hier ist es zu unsicher! Wir müssen hinunter, in die Stadt!« Mit Stadt meinte er wohl Ramenki, den unterirdischen Komplex, der den Technos längst zur natürlichen Heimat geworden war. Doch so gut sie sich auch über die Jahrhunderte mit ihrer Situation arrangiert haben mochten, der Wunsch, frei umherlaufen zu können, beseelte diese Männer und Frauen noch immer. Warum sonst machten sie so viel Aufhebens um Mr. Black, den sie fast wie einen Messias behandelten? Nur keine Eifersucht, mahnte Matt sich selbst, bevor er endlich Zeit fand, den Schaden am ARET zu begutachten. Zum Glück hatte der zerfetzte Doppelreifen die Hauptwucht des Einschlags abgefangen. Der gepanzerte Aufbau war kaum beschädigt. Er wies zwar eine rußgeschwärzte Delle auf, doch von Rissen oder Löchern gab es keine Spur. »Keine Sorge, unsere Techniker kümmern sich um Ihr Fahrzeug«, riss ihn Alexander Marinin aus der Betrachtung. »Rasputin Zwei schleppt den ARET ab, sobald der Brand gelöscht ist.« Nun, da er Mr. Black in Sicherheit wusste, wirkte der junge Wissenschaftler merklich ruhiger. Seine Gesten schienen längst nicht mehr so fahrig wie zu Anfang, sondern ruhig und besonnen, wie es wohl auch seinem Charakter entsprach. Auf seinen Lippen erschien sogar die Andeutung eines Lächelns, als sie die Heckschleuse des AMOT erreichten, in der bereits Mr. Black wartete. Der Radpanzer setzte sich in Bewegung, noch ehe das Zischen, das den Versieglungsvorgang begleitete, verklungen war. Entsprechend der Größe dieser rollenden Festung besaß auch die Luftschleuse gewaltige Ausmaße. Ein knappes Dutzend Menschen fand hier bequem Platz. Über einen Wandmonitor konnten sie verfolgen, wie Rasputin Eins zum Bolschoitheater fuhr. Matts Vermutung, dass Marinin sie in Schutzanzüge stecken würde, erwies sich als falsch. »Das ist nicht nötig«, erklärte der Subkommissar auf Nachfrage. »Unser Kollektiv hat einen septischen Bereich eingerichtet, um Ihrer Gruppe möglichst große Bewegungsfreiheit zu garantieren. Damit umgehen wir außerdem alle Risiken, die sich durch den Aufenthalt von OFK-Trägern ergeben.« »Ohefkaa?«, fragte Aruula verständnislos. »Ist das etwas Schweres, das man auf dem Rücken tragen muss?« Der Techno lächelte amüsiert. »Nein, OFK ist die Abkürzung für OberflächenKrankheitserreger. Das ist für eine Wilde wie Sie natürlich schwer zu verstehen, aber Viren und Bakterien...«, seine Hände kreisten in Schulterhöhe, als ob er die treffenden Worte einfangen wollten, »... das sind gefährliche Tierchen...«
»... die so klein sein, das man sie nicht sehen kann«, unterbrach ihn Aruula ungehalten. »Ich weiß, schließlich bin ich nicht dumm. In Britana habe ich gesehen, was sie anrichten können. Die Bunkermenschen, die von ihnen gebissen wurden, haben sich die Innereien aus dem Leib gehustet und sind gestorben.« »Tatsächlich?« Die roten Flecken auf Marinins Wangen verschwanden innerhalb von Sekunden. Plötzlich war er ebenso weiß im Gesicht wie die übrigen Technos. Ein Hustenreiz schien seinen Hals zu quälen, doch er unterdrückte ihn erfolgreich, bevor er sich entschuldigte: »Tut mir Leid, ich wusste nicht, dass Sie sich so gut mit der Materie auskennen.« Matt schenkte seiner Gefährtin ein stolzes Lächeln. Wegen ihrer barbarischen Herkunft wurde Aruula oft unterschätzt, dabei hatte sie im Laufe der Jahre viel dazugelernt. Und obwohl sie dazu neigte, sich technische Dinge auf ihre ganz persönliche Art und Weise zu erklären, war sie manchem zivilisierten Menschen längst an Erfahrung ebenbürtig oder gar überlegen. Peinlich berührt rang Marinin nach Worten, doch bevor er fortfahren konnte, wechselte das Monitorbild mit einem lautlosen Flackern auf eine blasse Frau, deren Schutzanzug sich in einem entscheidenden Detail von denen der übrigen Technos unterschied: Statt des Sowjetemblems spannten sich über ihrer Brust die weißblauroten Streifen einer russischen Fahne. Das musste Irena Walujew sein, die Abgesandte aus St. Petersburg. Mit der golden Kunsthaarperücke, die ihr schmales aber ausdruckstarkes Gesicht umrahmte, wirkte sie auf Matt wie ein GoGo-Girl der Disco-Ära, doch ihre scharfen Worte machten deutlich, dass sie nicht zum Tanzen aufgelegt war. »Gibt es einen besonderen Grund, warum mir ein Zusammentreffen mit unseren Gästen verwehrt wird, Subkommissar?«, fauchte sie angriffslustig in die Kamera. »Ich mache darauf aufmerksam, dass ich ein minutiöses Protokoll über diesen Vorgang anfertigen werde. Und wenn Sie nicht auf der Stelle...« Der rote Schimmer kehrte umgehend auf Marinins pigmentlose Wangen zurück. »Das ist doch Unsinn«, unterbrach er seine Kollegin schroff, als er an das Kommunikationsgerät trat. »Der Dekontaminationsvorgang würde länger dauern als unsere Fahrt zu Portal B. Dort haben Sie noch genügend Zeit, um mit dem Präsidenten und seinen Begleitern zu sprechen.« »Vielleicht ist es bis dahin längst zu spät«, ereiferte sich die Walujew, die zwar im gleichen Fahrzeug steckte, aber durch das innere Schott der Schleuse von ihnen getrennt wurde. »Ich bestehe darauf, sofort mit Präsident Black zu sprechen.« Marinin schüttelte erbost den Kopf, doch ehe er verbal ablehnen konnte, stand Black schon neben ihm. »Lassen sie mich hören, was die Frau zu sagen hat«, forderte er. Marinin rang sich zu einem säuerlichen Lächeln durch »Gut, von mir aus. Die Russische Liga hat nichts zu verbergen. Wir sind ja ein föderales System.« Was er damit meinte, hatten Matt und seine Freunde schon im Großen Peter erfahren, einem der beiden Perm Bunker. Innerhalb der Russischen Bunkerliga schlossen sich achtzehn über das ganze Land verstreute Techno Gemeinschaften zu einem föderalen System zusammen, in dem es zwar eine rege Kooperation, aber keine übergeordnete Macht gab. Selbst die Zentralregierung hier in Moskau besaß keine Befehlsgewalt über die anderen Bunker. In Petersburg glaubt man dagegen, die drängenden Probleme nur mit einer starken Zentralgewalt lösen zu können. Die Bewohner des Großen Peter sowie vier weitere Bunkerstädte hatten sich dieser Meinung angeschlossen und eine Allianz gebildet, die streng hierarchische Strukturen bevorzugte. Die übrigen Kolonien beharrten
dagegen auf dem föderalen System, das jedem Liga-Mitglied die Selbstständigkeit bewahrte. In einer atemlosen Ansprache wiederholte Irena die bekannten Fakten, wobei sie nicht müde wurde, die Moskowiter als rückständige Idioten zu beschreiben, die nicht zu einer gerechten Verteilung des Serums in der Lage wären. »Sie sehen ja, wie Sie hier empfangen wurden, Herr Präsident« , klagte sie an. »Einigen Föderalisten ist es sogar wichtiger, den Tod einer alkoholsüchtigen Tyrannin zu rächen, als zu neuen Ufern aufzubrechen.« Marinin wollte empört auffahren, doch Mr. Black brachte ihn mit einer raschen Geste zum Verstummen. »Begleiten Sie mich umgehend nach Petersburg«, fuhr Irena triumphierend fort. »Nur unsere neue Allianz bietet die nötigen Strukturen, eine rasche Verteilung des Serums zu gewährleisten.« »Kein Problem«, antwortete Black leichthin. »Sobald Ramenki versorgt ist, nehme ich diesen Umweg gerne in Kauf.« Irenas Lächeln, das während ihrer Rede immer breiter und zufriedener geworden war, fiel schlagartig in sich zusammen. »Bis dahin kann es schon zu spät sein«, begehrte sie auf. »Sie müssen...« »Schluss jetzt!«, forderte Mr. Black energisch. »Dieser kleinliche Zwist zwischen Liga und Allianz interessiert mich nicht. Vor uns stehen große Aufgaben, die nur gemeinsam bewältigt werden können. Ich werde mein Blut jedem zur Verfügung stellen, der es benötigt, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Nur so hat die Menschheit eine Chance.« Während die verblüffte Subkommissarin seine Worte noch verdaute, stapfte Black bereits zurück zu seinem Platz und setzte sich wieder. Die leisen Unterredungen in der Schleusenkammer waren allesamt verstummt. Niemand wagte noch ein Wort zu sprechen; Blacks entschiedenes Auftreten hatte alle beeindruckt. Marinin nutzte die Gelegenheit, um die Verbindung zu Irena zu unterbrechen. Das Bild der Außenkamera kehrte zurück. Rasputin Eins hatte den Seitenflügel des Theaters beinahe erreicht. Durch ein offenes Tor, das von Bewaffneten abgeschirmt wurde, rollten sie in eine große Halle. »Ich kann Ihnen versichern, dass die Förderation alles Menschenmögliche unternimmt, um Ihr Leben zu schützen«, durchbrach Marinin das allgemeine Schweigen. »Die Anwesenheit von Subkommissarin Walujew beweist darüber hinaus, dass wir gewillt sind, mit Petersburg zu kooperieren.« Mr. Black winkte nur müde ab. »Das wird sich alles zeigen. Erzählen Sie uns lieber, wie die weiteren Pläne aussehen.« Rasputin Eins erreichte den ehemaligen Theatersaal im Inneren des Gebäudes. Dort wo einst Zuschauer den Vorführungen gelauscht hatten, lag nun eine triste Halle. Nicht mal ein paar Stuckreste erinnerten noch an den Glanz der alten Zeiten. Der Boden war mit einer Betonschicht ausgegossen, die noch kein Jahrzehnt auf dem Buckel hatte. Unzählige Reifenspuren zeichneten ein bizarres Muster rund um eine abschüssige Rampe, die wie ein dunkler Schnitt im Grau des Belages wirkte. »Unsere Eile hat einen guten Grund«, unterstrich Marinin inzwischen. »In Kürze treffen Neuigkeiten aus Perm ein, die auch für Ihre Delegation von höchster Bedeutung sein dürften.« Die Zufahrt führte gut fünfzehn Meter in die Tiefe. Der Fahrer musste die Strecke wie im Schlaf beherrschen, denn die Scheinwerfer bohrten anfangs nur zwei bleiche Lichtfinger
in ein schwarzes Nichts, ohne auch nur den Grund unter ihren Reifen zu enthüllen. Erst nach einigen Sekunden flammte eine Reihe von Beleuchtungskörpern an, die das Kellergeschoss in buttergelbes Licht tauchten. Hier unten musste der Fuhrpark in Bereitschaft gestanden haben, der nun den Vorplatz besetzte. Weiter hinten befanden sich verglaste Räume, in denen zwei Dutzend Technos in Schutzanzügen vor Monitoren und Funkgeräten saßen oder geschäftig hin und her eilten. »Hier werden die Außeneinsätze koordiniert, die über Portal B laufen«, erklärte Marinin. Bei dem Portal handelte es sich um einen schlichten Lastenaufzug, der in die Rückwand eingelassen war. Mit einer Grundfläche von fünf mal acht Metern bot er genügend Platz, um Dingis oder anderes Großgerät aus dem Bunker an die Oberfläche zu schaffen. Die AMOTs mussten dagegen auf anderem Wege hierher gelangt sein. Ein stählernes Gitter schützte vor unbefugtem Betreten. Nachdem er Rasputin Eins verlassen hatte, bemerkte Matt sofort ein hydraulisches Brummen über ihren Köpfen. Alarmiert schaute er in die Höhe, entspannte aber sofort wieder. Unter der Decke rollte lediglich ein schweres Stahlschott entlang, das die Rampenabfahrt auf ganzer Länge verschloss. Vermutlich nur eine von vielen Maßnahmen, mit denen sich Ramenki vor fremden Eindringlingen schützen konnte. Trotzdem umringten die Technos ihre Gäste weiter wie eine persönliche Leibgarde. Während sie gemeinsam auf die Ausschleusung von Irena Walujew warteten, eilte eine Dreierabordnung aus dem Kontrollzentrum herbei. Der Offizier an der Spitze, ein untersetzter Mann mit fülligem Gesicht, dessen Schutzanzug an Armen und Beinen zahlreiche Falten warf, während er über Brust und Bauch spannte, grüßte auf militärische Weise, bevor er zu einem Lagebericht ansetzte. »Kollektiv Delta hat einen Leonow-Raketenwerfer auf dem Dach des Metropol gefunden«, berichtete er atemlos. »Die genaue Herkunft ist noch ungeklärt, aber es sieht leider so aus, als ob er aus unserer eigenen Produktion stammen würde.« Marinin ballte wütend seine Hände zu Fäusten. »Verdammt, wie konnte das nur passieren?« Der Dicke machte ein zerknirschtes Gesicht. »Bisher noch ungeklärt, Subkommissar, aber die Interne Sicherheit arbeitet daran. Sämtliche Bestände werden überprüft, ebenso die automatischen Schleusenprotokolle.« Die Meldung sollte Ruhe und Sicherheit vermitteln, doch Marinin machte den Effekt mit einem ärgerlichen Kopfschütteln zunichte. »Das bringt doch nichts. Wer clever genug ist, einen Leonow zu entwenden, kann auch die Sicherheitsabfragen manipulieren.« Seine Worte sorgten für pikierte Gesichter in der Runde, nur der meldende Offizier blieb überraschend gelassen. Es schien sogar, als musste er ein Lächeln unterdrücken, bevor er antwortete: »So furchtbar schlau war der Attentäter nun auch wieder nicht, sonst hätte er gewusst, dass die Leonow-Geschosse keine panzerbrechende Wirkung haben.« »Wie bitte?«, platzte Matt spontan heraus. »Soll das etwa heißen, dass für uns keine echte Gefahr bestanden hat?« Es dauerte einen Moment, bis er eine Antwort erhielt, weil der Übersetzungsprozess alle Gespräche um einige Sekunden verzögerte. In dieser Zeit gewann das Lächeln des Offiziers endgültig Überhand. »Ganz richtig«, verkündete er voller Zufriedenheit. »Selbst bei einem Volltreffer auf die Fahrerkabine hätten Sie nur geringe Blessuren
davongetragen. Unsere ARETs sind beste russische Wertarbeit, die halten eine Menge aus.« Matt wusste nicht Recht, was er davon halten sollte, deshalb enthielt er sich erst mal jedes weiteren Kommentars. Vermutlich wäre er auch gar nicht zu Wort gekommen, denn inzwischen rauschte schon Irena Walujew heran, um die Petersburger Interessen lautstark zu vertreten. Mit geradezu beschwörendem Pathos versuchte sie Mr. Black davon zu überzeugen, den lebensgefährlichen Aufenthalt abzubrechen und sie umgehend nach Petersburg zu begleiten. »Denken Sie doch an die guten Erfahrungen, die Sie mit unserer Allianz in Perm gesammelt haben«, lockte sie unter vollem Körpereinsatz, indem sie wie zufällig mit ihrer voluminöse Oberweite über seinen Arm strich. Für Blacks Geschmack wohl eine Spur zu aufdringlich, denn er antwortete kühl: »Meine Reisegefährten wurden im Großen Peter unter Drogen gesetzt und gefoltert. Ich würde das nicht unbedingt als guten Einstand bezeichnen.« Die Subkommissarin ging nicht näher auf seine Rüge ein, sondern plapperte munter weiter. Selbst scharfe Zurechtweisungen der Moskowiter oder Blacks genervtes Augenrollen konnten ihren Redefluss nicht bremsen. Matt und Aruula grinsten sich heimlich an. Inzwischen empfanden sie es durchaus als Vorteil, dass sich das russische Interesse auf Mr. Black konzentrierte. Begleitet von Marinin und drei Bewaffneten begab sich ihre Gruppe in den Lastaufzug. Gut dreihundert Meter ging es hinab, Ramenki entgegen, der Bunkerstadt, die schon im 20. Jahrhundert eine Legende gewesen war. Das schwere Hebewerk lief nicht besonders schnell, deshalb hatte Matt genügend Muße, sein Halbwissen über die Anlage zu rekapitulieren. Die Medien seiner Zeit hatten immer wieder unverhohlen von einer geheimen Staat unterhalb der Lomonosow Universität berichtet, die, über mehre Stockwerke verteilt, auf einer Fläche von vier Quadratkilometern bis zu 30.000 Menschen Platz bieten sollte. Angeblich war sie bereits zwischen 1960 und 1975 erbaut worden und durch eine geheime U-Bahn-Linie sowohl an den Flughafen Wnukowo als auch an alle wichtigen Ministerien angeschlossen. Aber das war noch nicht alles. In und um Moskau sollte es noch an die fünfzig weitere strategische Einrichtungen unterirdischer Natur geben. Alle schon zur Zeit des Kalten Krieges errichtet und im Laufe der Jahrzehnte immer wieder modernisiert, bis sich die immensen Investitionen am Vorabend des Kometeneinschlags endlich bezahlt gemacht hatten. Nirgendwo sonst auf der Welt, nicht mal in Tokio gab es einen derart großen Bunkerkomplex, in den sich die Menschen flüchten konnten. Geheimnisvolles Ramenki. Was wirklich an dieser Stadt dran war, hatten selbst die USGeheimdienste nicht lösen können, aber vielleicht gelang ja Aruula und ihm, was der CIA verborgen geblieben war. »Geht es hinab in die zweite Metro?«, fragte Matt, um den Russen auf den Zahn zu fühlen. »Bis zur Universität ist es ja noch ein Stück hin.« Marinin blickte erstaunt auf, doch nach kurzem Nachdenken glätteten sich seine Gesichtszüge wieder. »Richtig«, sagte er, mehr zu sich selbst als an seinen Gast gewandt, »Sie sind ja der Mann aus der Vergangenheit.« Statt auf die Frage einzugehen, verfiel der Techno jedoch in Schweigen, was Matt anfangs vermuten ließ, das er mit seiner Theorie richtig lag. Erst bei genauerem Hinsehen fiel ihm auf, dass der Subkommissar einen stillen Funkruf entgegennahm, der nicht über den Außenlautsprecher kam. Konzentriert ins Leere schauend, nickte Marinin
mehrmals vor sich hin, obwohl ihn die Gegenstelle nicht sehen konnte. Dann straffte er
seine Gestalt, zum Zeichen, dass er etwas zu verkünden hatte, das sie alle anging.
»Es hat sich eine neue Situation ergeben«, sagte er mit fester Stimme. »Deshalb
unterbrechen wir die Fahrt für kür ze Zeit auf dem Sonnendeck. Kein Grund zur Sorge,
das ist nur eine Sicherheitsmaßnahme.«
Bei den übrigen Technos löste diese Meldung leichtes Unverständnis, bei Irena Walujew
sogar harschen Unmut aus.
Matt, Aruula und Mr. Black wechselten einen kurzen Blick miteinander, der sie zur
gegenseitiger Wachsamkeit aufrief. Während der Fahrstuhl an Geschwindigkeit verlor,
umklammerten sie ihre Waffen ein wenig fester. Nur für den Fall, dass es mehr
Überraschungen gab, als ihnen lieb sein konnte.
* Ramenki, Akademischer Wohntrakt Die Strogoff im 45Grad-Winkel zu Boden gerichtet, tastete sich Nikolai an der Wand entlang. Zwei Kilo brünierter Stahl konnten auf Dauer ziemlich schwer werden, doch er spürte das Gewicht der Waffe nicht mal, als er die Ecke erreichte. Das Einzige, was ihn störte, war der Hörknopf der Sprechgarnitur, der in seinem Ohr juckte. Mit einer schnellen Handbewegung bedeutete er den beiden Gefreiten, die in einigen Schritten Abstand folgten, zurückzubleiben. Bisher war ihr Einsatz unbemerkt geblieben, und so sollte es auch bleiben. Der Moment, der nun folgte, barg viele Risiken, doch Nick wie ihn seine Freunde nannten überstand ihn mit routinierter Gelassenheit. Die linke Hand fest an die Mauer gepresst, tauchte er mit dem Kopf blitzschnell hinter der Ecke hervor und wieder zurück. Die kurze Zeitspanne reichte, um den abknickenden Gang zu überblicken. Er war leer, wie erwartet. Um diese Uhrzeit befanden sich die meisten Wissenschaftler im Dienst und nicht in ihrem Quartier. Trotzdem lag eine leise Melodie in der Luft. Gitarrenklänge drangen hinter der Tür mit der Nummer 356 hervor, und eine helle Stimme wimmerte etwas von den Winds of Change, was auch immer sie verändern mochten. Nick drückte vorsichtig auf den Hörknopf, von dem ein dünner Bügel abging, der direkt vor seinen Lippen endete. »Er ist da«, flüsterte er ins Mikrofon. Tschechow, sein Leitoffizier im zentralen Lagezentrum, hatte nur auf diese Meldung gewartet. »Zugriff!«, befahl er, ohne nur eine Sekunde zu zögern. Nick spähte noch einmal in den gelb gestrichenen Gang, in dem zu jeder Seite vier Türen abgingen. Weiterhin alles ruhig. Auf sein Zeichen hin schlüpften die Gefreiten vorbei und postierten sich links und rechts der Nummer 356. Sie trugen den gleichen dunkelblauen, mit Kunststoffschalen verstärkten Kampfanzug wie er. In ihren Fäusten ruhten Maschinenpistolen mit kurzem Lauf, nicht viel größer als eine altertümliche Magnum, wenn auch wesentlich kompakter. Die Strogoff, das Standardmodell der Internen Sicherheit, besaß ein Zwanzig-Schuss-Stangenmagazin und konnte wahlweise Neun-Millimeter-Patronen oder Betäubungspfeile verschießen. Innerhalb eines Bunkers, in dem luftdichte Versieglung zu den höchsten Geboten gehörte, barg der Einsatz von Laser oder Handfeuerwaffen gewisse Risiken. Andererseits konnte eine zu geringe Durchschlagskraft bei Festnahmen ebenfalls zu Komplikationen führen, deshalb arbeite Nick als Einziger ihres Greiftrupps mit den
lähmenden Geschossen. Seine Begleiter hatten echte Munition geladen, mit der sie notfalls einen verheerenden Bleihagel auslösen konnten. Sicher war sicher. Doch wenn alles gut ging, würde es gar nicht so weit kommen. Nick trat an die verschlossene Tür, hinter der immer noch Musik dröhnte, und drückte erneut auf den Hörknopf. »Zentrale, bitte Quartier 356 entriegeln.« Weder optische noch akustische Signale zeigten an, dass der persönliche Code von Juri Dolgoruki überschrieben wurde. Nur Tschechows knappe Meldung: »Tür entriegelt.« Die Gesichter der Gefreiten glänzten vor Schweiß, Nick blieb dagegen die Ruhe selbst. Aufmunternd blinzelte er den beiden zu, bevor er den Sensorknopf im Türrahmen berührte. Zischend glitt das Schott zur Seite. Die Strogoff im beidhändigen Anschlag, stürmte Nick ins Innere. Den offenen Vorraum, der nach wenigen Metern, nur durch einen zweistufigen Absatz getrennt, direkt in den Wohnbereich mündete, durchmaß er mit schnellen Schritten. Sich hier zurechtzufinden fiel ihm nicht schwer; er hatte schon viele Quartiere dieses Zuschnitts betreten. Links von ihm ging es ins Schlafzimmer, rechts lagen Küche und Bad. Was er suchte, konnte er aber schon von der Tür aus sehen. Dolgoruki lag auf einer hufeisenförmigen Couch, die einen fleckigen Glastisch zu drei Seiten umgab. Ein fein geknüpfter Wandteppich und mehrere Grünpflanzen sorgten für einen Hauch von Gemütlichkeit, doch statt Blütenduft hing eine schwere Alkoholwolke in der Luft. Voodka! Und zwar in rauen Mengen. Das leere Glas und die beiden Flaschen, eine von ihnen umgefallen und ausgelaufen, sprachen Bände. Daneben lag eine weiße Kunststoffschachtel, wie sie von der medizinischen Station zur Medikamentenvergabe benutzt wurde. Rasachow stand auf dem Klebetikett. Die Bezeichnung für ein starkes Schlafmittel. »Sicherheitsdienst!«, wies sich Nick vorschriftsmäßig aus. »Dies ist eine Festnahme.« »Wsss?« Dolgoruki schreckte hoch, fand aber nicht genügend Kraft, um sich empor zu stemmen. Leise vor sich hin murmelnd sank er wieder zurück. So hektisch, wie seine Augenlider flatterten, nahm er die Umgebung kaum noch wahr. Nick ließ die Strogoff sinken. »Scheint so, als hätte er sich einen Gift-Cocktail genehmigt«, sagte er an die beiden Gefreiten gewandt. »Vorläufiger Verdacht auf Suizid.« Gemeinsam kümmerten sie sich um den Besinnungslosen, der noch bis zur Hüfte in einem silbernen Schutzanzug steckte. Nachdem sie sichergestellt hatten, dass Dolgoruki keine verdeckte Waffe am Körper trug, nahm einer der Gefreiten eine Blutprobe. Dazu bedurfte es nur eines zwanzig mal dreißig Zentimeter großen, mit Elektronik vollgestopften Kunststoffkästchens, das über eine Fingermulde verfügte. Die winzige Nadel, die daraus hervorschoss, ohne eine sichtbare Wunde zu hinterlassen, war mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Trotzdem schimmerte Sekunden später ein roter Tropfen auf dem Kontaktträger, der die Analyse vornahm. »Gerade mal 0,5 Promille«, las der Beamte von dem digitalen Display ab, »aber ansteigende Barbiturat Konzentrationen. Die Tabletten in seinem Magen beginnen sich aufzulösen.« »Magen auspumpen«, befahl Nick. »Danach bekommt er ein Aufputschmittel, das den Kreislauf stabilisiert.« Professor Dolgoruki leistete keinen Widerstand, als sie ihn aus dem Schutzanzug schälten und in die Hygienezelle führten. Während von nebenan würgende Geräusche
erklangen, kümmerte sich Nick um die Beweisaufnahme. Mittels eines Handchromato graphen wies er auf der Anzugsoberfläche Schmauchspuren nach. In dessen unmittelbarer Nähe war also kürzlich eine Explosivwaffe abgefeuert worden. Ein Indiz mehr in der Beweiskette, die gegen den Ingenieur sprach. Nick übermittelte das Ergebnis an die Zentrale, die daraufhin eine Festnahme anordnete. »Was ist denn los? Was wollen Sie von mir?« Das Aufputschmittel begann zu wirken. Dolgoruki wurde langsam munter, als sie ihn wieder herein schleiften. Sein weißer Kittel und der darunter sichtbare Hemdausschnitt waren mit Erbrochenen verschmiert, und auch sonst sah er mitgenommen aus. Kopfschüttelnd setzte er sich auf die Couch, die Augen unnatürlich geweitet, entweder vor Schreck oder wegen all der gegensätzlichen Substanzen, die in seinem Blut miteinander rangen. »Wer sind Sie überhaupt?«, fragte er empört. »Und mit welchem Recht dringen Sie in meine Wohnung ein?« »Sicherheitsdienst«, antwortete Nick knapp. »Sie stehen unter dem dringenden Tatverdacht, ein Attentat auf die angereiste US-Delegation ausgeführt zu haben.« »Wie bitte?« Dolgorukis Stimme schwankte zwischen Panik und Empörung. »Das muss ein Irrtum sein! Ich... ich war doch die ganze Zeit...« Unversehens brach er ab. Hilflosigkeit befiel seine Züge. »Verdammt, ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern. Nicht mal daran, wie ich hierher gekommen bin. Ich weiß nur noch, dass ich zur Kantine wollte...« In einer angewiderten Geste klappte Nick sein Notebook auf. »Vielleicht kann ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen«, bot er mit Blick auf die Daten an. »Laut Schleusenprotokoll haben Sie um zwölf Uhr achtunddreißig eine Sicherheitsüberprüfung an Notausstieg Alpha Siebzehn unternommen. Knapp eine Stunde später folgte eine weitere bei Delta Neun. Normalerweise kein ungewöhnlicher Vorgang. Aber angesichts der Tatsache, dass Ihnen eine enge Bekanntschaft zur verstorbenen Dragurowka Bassutschok nachgesagt wird, liegt der Verdacht nahe, dass Sie Ihren Autoritätscode missbraucht haben, um Ramenki mit einem Raketenwerfer vom Typ Leonow zu verlassen.« »Aber... das ist doch Unsinn«, protestierte der Ingenieur. »Warum sollte ich so etwas tun?« Nick sah von seinem Display auf. »Sie haben mehrfach beantragt, den Serumsträger wegen Mordes anzuklagen, was vom obersten Gremium entschieden abgelehnt wurde.« Dolgorukis vorspringende Nase, die sein Profil ohnehin stärker beherrschte, als ihm lieb sein konnte, trat noch deutlicher aus dem Gesicht hervor. Vergeblich tastete er nach einer schwarzen Perücke aus echtem Barbarenhaar, die unter dem Tisch lag. Die Sicherheitskräfte unterbanden jede seiner Bewegungen. »Ich wollte doch nur herausfinden, was wirklich in Perm passiert ist«, begehrte der Ingenieur auf. »Die Protokolle aus Perm II und dem Großen Peter weichen in entscheidenden Punkten voneinander ab, das kann doch niemand bestreiten.« »Ach, und deshalb haben Sie beschlossen, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen?«, fragte Nick, nur scheinbar verstehend. Dolgoruki hielt entsetzt inne. Sein weißes, von mangelnden Pigmenten zeugendes Gesicht färbte sich übergangslos grau. »Nein, natürlich nicht!«, brach es heftig aus ihm hervor. »So glauben Sie mir doch, dazu gab es gar keinen Grund.« Beschwörend wollte er Nick am Oberarm packen, doch der Beamte unterband die Berührung, indem er seine Faust in den Magen des Ingenieurs grub. Keuchend stolperte Dolgoruki zur Seite. Sein
Versuch, sich an einer der Zimmerpflanzen festzuhalten, führte nur dazu, das er mitsamt des Farns zu Boden stürzte. Knackend brachen die hoch aufragenden Stiele entzwei. Schade drum, dachte Nick, denn es war eine Bunkerzüchtung, frei von gefährlichen Außenkeimen. Im Laufe der Jahrhunderte hatten sich die Bewohner von Ramenki ein vollkommen eigenes Biotop geschaffen, inklusive genetisch veredelten Gemüses, das ihren Speiseplan bereicherte. Hier unten gab es wirklich alles, was sie zum Leben brauchten; na ja, außer genügend Platz und Sonnenlicht natürlich. Die Begrünung des Bunkers verlief so erfolgreich, dass es bereits spezifische Bunkerinsekten gab, die bei einem Ausflug an die Oberfläche unweigerlich eingingen. Genauso wie die Menschen, die hier lebten. So wie jeder hier im Raum. Mit wutverzerrtem Gesicht zog Nick seine Strogoff aus dem Holster und drückte die Mündung dem am Boden Knienden in den Nacken, der daraufhin erstarrte. Dass das Magazin nur Betäubungspfeile enthielt, konnte Dolgoruki schließlich nicht ahnen. Ein ängstliches Wimmern drang über seine Lippen, als sie ihm die Hände mit stählernen Schellen auf den Rücken fesselten. Das Klicken der Magnetschlösser besaß etwas Endgültiges, das dem Delinquenten bis ins Mark erzittern ließ. Nick riss den Ingenieur auf die Beine. »Los«, befahl er, »das oberste Gremium will Sie umgehend sprechen.« Dolgorukis zaghafte Bitte um Diskretion stieß bei den Sicherheitsbeamten auf taube Ohren. Erbarmungslos trieben sie ihn quer durch die vierte Etage, hinauf zum Sonnendeck. Die Männer, Frauen und Kinder, die ihnen unterwegs begegneten, blieben erschrocken stehen und begannen zu tuscheln. Dolgoruki war eine bekannte Persönlichkeit. Es dauerte keine zwei Stunden, bis auch der Letzte in Ramenki von seiner Festnahme wusste.
* Obwohl das Sonnendeck knapp hundertfünfzig Meter unter der Erde lag, hatte es seinen Namen redlich verdient. Ein antikes Stück Griechenland, anders konnte Matt nicht beschreiben, was sich da hinter zentimeterdickem Panzerglas abspielte. Angenehmes Tageslicht, durch ein kompliziertes System aus Hohlspiegeln in die Tiefe geleitet, überstrahlte eine mit weißem Marmor geflieste Anlage, die von hellen Steinbänken, Säulen und einem quadratischen Schwimmbecken beherrscht wurde. Weinblätter rankten an einem Bogengang bis zur Decke empor. Lorbeer, Ginster und blühende Krokusse lockerten das Ambiente weiter auf. Mit ihren luftigen weißen Umhängen erinnerten die Männer und Frauen, die zwischen Pool und Ruheplätzen umher wandelten, wirklich an Gestalten des Altertums. Erst auf dem zweiten Blick fielen ihre stark geröteten Hautstellen ins Auge, die bewusst offen lagen, damit das Tageslicht auf sie erwirken konnte. Nicht der Wunsch nach mediterraner Lebensweise hatte die Technos hierher geführt, sondern Schuppenflechte, Neurodermitis und Ekzeme Bunkerkrankheiten, die sich durch Salzbäder und natürliche Sonneneinwirkung besser kurieren ließen als durch die ständige Einnahme von Medikamenten.
»Es muss ein riesiger Aufwand gewesen sein, diese Anlage zu bauen«, sagte Matt anerkennend. Seine Bewunderung für die Arbeitsleistung der Russen war so groß, dass er für kurze Zeit vergaß, warum sie eigentlich hier standen. Nämlich nur, weil fünfzig Meter tiefer, in Ramenki, gerade der Mann verhaftet wurde, der auf sie geschossen hatte. »Das Sonnendeck wurde zu einer Zeit konstruiert, als unsere Mütter und Väter noch nicht auf Schutzanzüge angewiesen waren«, gab sich Marinin überraschend auskunftsfreudig. »Das hat die Bauarbeiten wesentlich erleichtert.« Natürlich, die Immunschwäche war nicht über Nacht gekommen, sondern hatte sich schleichend über mehrere Generationen ausgebreitet. Anfangs hatte es vermutlich nur die Anfälligeren erwischt, doch spätestens nach den ersten eingeschleppten Epidemien musste allen klar geworden sein, dass niemand mehr ohne Schutzvorkehrungen hinaus und wieder herein durfte. Während sie sich nahe einer Luftschleuse versammelten, wurden die ersten Patienten auf ihre Gruppe aufmerksam. Drei Personen, die ohne Schutzanzug durch einen septischen Bereich marschierten das sorgte natürlich für Aufsehen. Innerhalb weniger Minuten gab es drinnen nur noch ein Thema: die Besucher von der Oberfläche. Was gesprochen wurde, konnte man nicht hören, aber die Freude auf den Gesichtern genügte, um sich den allgemeinen Tenor zusammen zu reimen. Mr. Blacks Ankunft wurde bereits sehnsüchtig erwartet. Neugierig kamen die Russen in kleinen Gruppen näher, zuerst noch unschlüssig, ob sie lieber ihm oder Matt zujubeln sollten. Erst nachdem ihnen der muskulöse Hüne mit einem stolzen Lächeln zugewinkt hatte, drängten sie näher heran, beinahe so, als ob seine bloße Anwesenheit bereits die Heilung ihrer Leiden versprach. Matt konnte nicht umhin, Blacks Auftreten im Stillen zu bewundem. Dieser Mann verstand es einfach, andere Menschen zu beeindrucken. Vermutlich weil er keine Rolle spielte, sondern wirklich so reagierte, wie es seinem Wesen entsprach. Er war eben stolz darauf, diesen Technos helfen zu können, die besser als alle anderen bewiesen, dass der Mensch von Natur aus für ein Leben auf und nicht unter der Erde geschaffen war. Und wer wollte ihm dieses Gefühl schon verübeln? Wer außer Irena Walujew, die ihren russischen Begleitern vernichtende Blicke zuwarf? »Kluger Schachzug«, lobte sie in einem ätzenden Tonfall, den selbst die Lautsprecher verzerrungen nicht überdecken konnten. »Ihr Moskowiter seid wirklich Meister der Propaganda.« Marinin, dem die Worte galten, begnügte sich damit, ein unschuldiges Gesicht zu präsentieren. Nur seine gekräuselten Lippen ließen ahnen, wie genau der Vorwurf zutraf. Hinter dem Panzerglas brachen die Patienten in spontanen Applaus aus. Mr. Black genoss einige Sekunden lang, wie ihre Hände lautlos ineinander klatschten, bevor er ganz der souveräne Staatsmann, der niemals an sich selber dachte zu einer um Ruhe heischenden Geste anhob. »Bald ist die Zeit Ihrer Gefangenschaft vorbei«, versprach er, obwohl ihn niemand der Angesprochenen verstehen konnte. »Schon in Kürze werden Sie alle sich frei bewegen können, so wie es einem Menschen zusteht.« »Ein Bild für die Fernsehkameras«, spottete Matt leise. »Fehlt nur noch das Baby, das er auf den Arm nehmen kann.«
Aruula, die ihn als Einzige gehört hatte, legte die Stirn in Falten. »Mr. Black ist Vater?«, fragte sie überrascht. »Davon hat er mir nie etwas erzählt.« Matt winkte ab, zum Zeichen, dass er später erklären würde, was er damit gemeint hatte. Insgeheim gab er jedenfalls Irena Walujew Recht. Dieser Aufenthalt diente der Public Relation, und zwar so erfolgreich, dass sie ihre Wirkung auch auf ihn nicht verfehlte. Mochte der Besuch von Ramenki auch gefährlich sein, diese Menschen hatten es verdient, an den Segnungen des Weltrat-Serums teilzuhaben. Schade nur, dass erst die Bedrohung durch die Daa'muren nötig gewesen war, um den Wissensaustausch voran zu treiben. Mr. Black, dem vermutlich Ähnliches durch den Kopf ging, gewährte Matt über die Schulter hinweg ein verschwörerisches Blinzeln. Sehen Sie, mochte das bedeuten, meine Methode ist die Richtige. Ehe der Pilot reagieren konnte, deutete Black bereits mit theatralischer Geste auf ihn und Aruula. »Das sind meine Freunde«, verkündete er für die, die ihn hören konnten. »Ohne diese beiden hätte ich es nie bis nach Moska geschafft!« Die Patienten hinter der Scheibe verstanden ihn auch ohne viel Worte. Matt war es beinahe peinlich, als Aruula und ihm nun die gleiche Begeisterung entgegenschlug. Zum Glück durften die Technos nicht zu lange auf dem Sonnendeck verweilen, weil ihre Haut sonst Schaden genommen hätte. Widerstrebend folgten sie einem Signal, das sie durch einen Ausgang berief. Matts Befürchtung, dass sie durch eine neue Patientengruppe abgelöst werden könnten, erfüllte sich zum Glück nicht. Dafür traten zwischen den Säulen drei Sicherheitskräfte hervor, die einen Gefangenen begleiteten. Für die Schönheit der lichtdurchfluteten Anlage besaß keiner von ihnen ein Auge, deshalb erreichten sie die Luftschleuse in weniger als zwei Minuten. »Juri Dolgoruki«, stellte Marinin den mit Stahlschellen gefesselten Mann vor. »Ein Bauingenieur, Spezialist für Versorgungsleitungen in aseptischer Umgebung. Er hat die Bassutschok bei einem routinemäßigen Austauschprogramm kennen gelernt, und wenn man den Kantinengesprächen glauben darf, ist er ihr sexuell hörig gewesen. Keine Ahnung, ob's stimmt. Jedenfalls sprechen alle Indizien gegen ihn.« Matt runzelte die Stirn, sagte aber kein Wort. Seit dem Anschlag war nicht mal eine Stunde vergangen und schon wurde ein Täter präsentiert. Entweder war die Polizei von Ramenki extrem leistungsfähig oder sehr, sehr vorschnell. Das eine schloss das andere leider aus, deshalb nahm Matt sich vor, weiterhin misstrauisch zu blieben, bis er ein verlässliches Urteil fällen konnte. Wie die meisten Technos war Dolgoruki von schlanker Gestalt, ohne deshalb schlaksig zu wirken. Sein Gesicht besaß raubvogelhafte Züge, die noch durch die eingefallenen Wangen unterstützt wurden. Wie ein Mörder sah er nicht gerade aus, aber welchem Täter prangte schon ein Warnzeichen auf der Stirn? Nachdem er in einen bereitliegenden Schutzanzug gestiegen war, legte man dem Ingenieur erneut Handschellen an und schob ihn in die voll verglaste Schleuse. Da er aus dem sterilen in einen septischen Bereich wechselte, konnte auf den Dekontaminationsvorgang verzichtet werden. So dauerte es nur wenige Minuten, bis er von Marinins Männern in Empfang genommen wurde. »Da ist ein Komplott gegen mich im Gange«, beteuerte Dolgoruki, sobald das Außenschott offen stand. »Ich versichere Ihnen, dass ich unschuldig bin. Ich...« »Darüber können wir hier gar nicht befinden«, unterbrach Marinin schroff.
»Heben Sie Ihren Protest lieber für das oberste Gremium auf, dort wird über Ihr weiteres Schicksal entschieden.« Der kränklich wirkende Ingenieur sackte angesichts dieser Abfuhr förmlich in sich zusammen. Seine Verschwörungstheorie schien ihm wohl selbst unglaubwürdig, vor allem, als Marinin laut wiederholte, was alles gegen ihn vorlag: die unentschuldigte Abwesenheit vom Arbeitsplatz, zwei verdächtige Schleusenprotokolle, die Schmauch spuren auf dem Schutzanzug und ein vereitelter Selbstmordversuch. »Nikolai Lewkow ist einer unserer besten Ermittler«, lobte der Subkommissar, bevor er drohend fortfuhr: »Als Nächstes kümmert er sich um die Herkunft des Raketenwerfers. Falls Ihre Autoritätscodes in der Waffenkammer auftauchen, sieht es schlecht für Sie aus.« Der Verdächtige schnaufte verächtlich. »Ist doch jetzt schon klar, was bei dieser Untersuchung herauskommt. Ihr steckt doch alle unter einer Decke.« Marinin ließ die Anschuldigung gleichmütig an sich abperlen, und auch sonst gab sich niemand die Mühe zu reagieren. Irena Walujew wollte zwar erst nachhaken, ließ sich dann aber doch überzeugen, dass die Zeit drängte. Im Laufschritt ging es zurück zum Fahrstuhl, der sie nun ohne weitere Zwischenstation in die alte Metro hinab transportierte. Unterwegs warf Matt seiner Gefährtin einen verstohlenen Blick zu, doch Aruula deutete nur ein Kopfschütteln an. Sie konnte nicht erlauschen, ob Dolgoruki log oder die Wahrheit sagte. Die mit Elektronik vollgestopften Schutzanzüge schirmten die Gedanken der Technos zu stark ab.
* »Sein Name lautete wirklich Massiuu Drex?« Um den gestrengen Ton seiner Frage zu unterstützen, schlug Radek die Kapuze zurück, denn er wusste, dass der Anblick eines knochigen Nosfera-Gesichts den meisten Menschen Furcht einflößte. Hier, im verräucherten Schankraum der Taverne, konnten ihm die Sonnenstrahlen, die den Tageshimmel durchzogen, nichts anhaben. Er beugte sich weit über den klobigen Holztisch, um Waasili aus tief liegenden Augenhöhlen zu fixieren, bevor er fragte: »Bist du dir ganz sicher?« Der Barbar, der ihm gegenüber saß, nickte beflissen. »So wahr ich über zwei gesunde Ohren verfüge«, bekräftigte er mit fester Stimme. Kein Anflug eines Zitterns lag auf seinen Händen, nicht mal ein Schweißtropfen trat ihm auf die Stirn. Äußerlich zeigte Waasili kein Anzeichen von Unsicherheit, obwohl er in Wirklichkeit dachte: Eigentlich hat es sich eher wie Matthew Drax angehört, aber was macht das schon? Radek, der den Gedanken las, ließ es durchgehen, denn er teilte die Einschätzung des Barbaren. Die Namensähnlichkeit war groß genug, um der Sache auf den Grund zu gehen. Einer der Fremden, von denen bereits die halbe Stadt sprach, mochte durchaus der Sohn der Finsternis sein. Ein kalter Schauer durchlief seinen Körper. Wenn dieser Teil der Weissagung wirklich zutraf, lagen die Propheten auch mit der drohenden Herrschaft der Sonne richtig. »Massiuu Drex«, wiederholte Waasili geschäftstüchtig, »das ist doch der Mann, nach dem die Bluttempler überall suchen, oder?« Radek antwortete nicht, sondern lehnte sich auf seiner Sitzbank zurück. Nur nichts überstürzen, dachte er, sonst versucht diese Taratze am Ende noch, den Preis in die
Höhe zu treiben. Bedächtig griff er nach einem mit Tee gefüllten Tonbecher, führte ihn an die Lippen, ohne davon zu trinken, und ließ seinen Blick durch den Schankraum gleiten. Das Raspuutin lag im Keller eines alten Steingebäudes, dessen obere Geschosse schon vor langer Zeit zusammengebrochen waren. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, den aufgetürmten Schutt beiseite zu räumen, und auch hier unten sah es so aus, als ob sich seit Dekaden nichts geändert hätte. Teile der verschlissenen Einrichtung mochten schon die Zeit vor Kristofluu erlebt haben. Und obwohl sie der Rauch eines pausenlos befeuerten Samowars langsam zerfraß, hielt sie sicher noch der Dreck zusammen, wenn die Knochen der anwesenden Gäste längst zu Staub zerfallen waren. Die Getränke der letzten durchzechten Nächte klebten noch an den Tischen. Oft so breit verschmiert, dass sich nicht mehr genau sagen ließ, ob sie verschüttet worden waren, bevor oder nachdem sie eine durstige Kehle durchflossen hatten. Wahrlich, das Raspuutin war ein schmutziges Drecksloch, doch den zerlumpten Barbaren, die sich hier für gewöhnlich aufhielten, bot die Taverne Schutz vor Regen und Kälte. Deshalb kam der Abschaum in Scharen hierher. Und natürlich wegen des Voodkas, den Sniimow, der Wirt, aus Küchenabfällen destillierte. Stärker und billiger als hier gab es nirgends sonst Alkohol. Viele der Gäste, die sich schon tagsüber einen Rausch ansoffen, um ihr trauriges Leben zu ertragen, bezahlten mit Eimern voller Obst und Gemüseschalen, die sie in ganz Moska zusammenklaubten. Dieser Sammeltrieb war den Moskawitern mittlerweile so vertraut, dass niemand mehr darauf achtete, wenn eine dieser Straßentaratzen im Müll herum stocherte. Genau das war es, was die Gäste des Raspuutin so wertvoll machte. Mit ihren Eimern trieben sie sich überall in der Stadt herum. Und obwohl sie selbst ignoriert wurden, schnappten sie doch alles auf, was um sie herum geschah. Nichts blieb ihnen lange verborgen, und wer es verstand, die richtigen Fragen zu stellen, konnte dieses Wissen für eine geringe Gegenleistung verfügbar machen. »Massiuu Drex«, brachte sich Waasili ungeduldig in Erinnerung. »So hieß doch der Kerl, nach dem wir uns umhören sollten! Blondes Haar und grüne Kleidung. Das war er bestimmt, ich habe ihn vor der Festung gesehen, in der die Glashelme leben. « Die Hände des Barbaren rieben nervös ineinander, während er wieder und wieder bekräftigte, dass es sich nur um den Gesuchten handeln konnte. Radek ignorierte das Gestammel geflissentlich. Sein Interesse galt gerade mehr den drei Männern, die lässig am Schanktisch lehnten und neugierig bis provozierend zu ihm herüber starrten. Zwei senkten sofort die Augen, als er ihre Blicke kreuzte, doch der Größte von ihnen, der in speckiges Leder gekleidet war und nur eine ärmellose Weste über dem behaarten Oberkörper trug, nahm die Herausforderung mit einem spöttischen Lächeln an. Seine Unverschämtheit kam nicht ohne Grund. Der Kerl sah noch etwas zu gesund und kräftig aus, um schon lange das Leben einer Straßentaratze zu führen, und das schien ihn hochmütig zu machen. Erst als Radek den Becher abstellte und nach dem Schwert an seiner Hüfte griff, erbleichte der Kerl bis unter die rostroten Haarspitzen. Hastig wandte er sich ab. Na also. Mochte die bloße Anwesenheit eines Bluttemplers auch nicht mehr jeden vor Ehrfurcht erzittern lassen, ihre Kampfkunst war weiterhin gefürchtet. Und das zu Recht. Radek hätte alle Personen in diesem Raum schneller töten können, als selbst ein Säufer seinen Voodka-Becher zu leeren vermochte.
Aber er war nicht hier, um Blut zu vergießen, sondern um Informationen zu sammeln.
*
Angeblich bestand das geheime U-Bahn-Netz aus vier Linien, die alle vom Kreml aus zu verschiedenen Punkten außerhalb Moskaus führten. Als Stationen der Linie Eins galten neben Ramenki unter anderem die Lenin-Bibliothek und der Militärflughafen. Siebenundzwanzig Kilometer sollte dieser Tunnel lang sein, während Linie Zwei, die bis zum Ausweichkommandopunkt Bor reichte, sogar sechzig Kilometer durchmaß. Bereits die offiziellen U-Bahn-Linien lagen so tief in der Erde, dass sie im zweiten Weltkrieg als Luftschutzbunker dienten. Die geheime Metro jedoch, die Ramenki mit den anderen militärischen Einrichtungen verband, ruhte noch viel tiefer als das zivile System. Zu Matts Zeit war sie dadurch völlig unangreifbar gewesen, doch in den letzten fünfhundert Jahren hatte sich das geändert, wie so vieles andere auch. »Ab und an gibt es Probleme mit mutierten Riesenratten«, warnte Marinin, als sie die Talsohle erreichten. »Bereits vor dem Kometeneinschlag war Moskau von Tunneln und Schächten unterminiert. Ein wahrer Tummelplatz für die Taratzen, und dort, wo sie anfangs nicht hingelangten, wurden inzwischen Gänge in den Boden gescharrt. Sie sind die wahren Herren der septischen Unterwelt, und werden dabei immer dreister. Bislang scheitern sie zwar noch an den Stahlbetonhüllen unserer Bunker, doch sie haben schon mehrfach versucht, durch die Schleusen einzudringen. Darum wurden die unteren Eingänge versiegelt. Wir nutzen nur noch höhere Ebenen, um in den Außenbereich zu wechseln.« Nur einige schwache Scheinwerfer beleuchteten den zerfallenen Bahnsteig bis hin zu einem Abstellgleis, auf dem die verrosteten Überreste eines alten Waggons allmählich zerfielen. Dort wo einst Schienen lagen, breitete sich nur noch zermürbtes Gestein aus, das die schmutzigbraune Farbe oxidierten Metalls angenommen hatte. Vom Prinzip des starren Gleistransport waren die Technos längst abgekommen. Stattdessen öffneten sie einen stählernen Verschlag, in dem ein halbes Dutzend Dingis parkte. Im Gegensatz zu den Oberflächenmodellen besaßen sie keine Plexiglaskuppeln. »Für eine Verteidigung innerhalb der Tunnel sind aufmontierte Kanonen ungeeignet«, erklärte Marinin auf Nachfrage. »Mit unseren Handwaffen können wir viel flexibler reagieren. Aber keine Sorge, das wird nicht nötig sein. Taratzen reagieren sehr empfindlich auf hochfrequente Töne, deshalb besitzt jedes Dingi einen Synthesizer, der laufend Ultraschallwellen aussendet.« Um seine Ausführungen zu unterstreichen, deutete der Subkommissar auf einen kleinen Stahlblechkasten, der unterhalb der Scheinwerfer am Chassis klebte. Ob der Frontlautsprecher vibrierte, war nicht zu erkennen, da ihn ein lackiertes Drahtgeflechtgitter bedeckte. Nur die rote Leuchtdiode auf der Oberseite signalisierte Betriebsbereitschaft. »Während der Beschallung halten sich die Biester für gewöhnlich fern«, versicherte Marinin mit einem strahlenden Lächeln. »Zumindest wenn sie nicht ausgehungert sind.« Für Matts Geschmack besaß diese Maßnahme etwas zu viele Einschränkungen, um wirklich ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Vermutlich spürte er deshalb ein unangenehmes Kribbeln zwischen den Schulterblättern, als er mit Aruula in das bereitstehende Fahrzeuge stieg. Nur drei Dinge flößten ihm Zuversicht ein, als er die
Fahrt antrat: sein Driller, das LP-Gewehr und die kampferprobte Gefährtin an seiner Seite. Die Anfangsbeschleunigung drückte ihn tief in den Sitz, während die Dingis den beleuchteten Bahnsteig verließen. Gleich darauf wurde es übergangslos dunkel. Zwar schuf das Scheinwerferpaar zwei eng umgrenzte Lichtkorridore, die das Vorwärts kommen erleichterten, aber die allumfassende Schwärze vermochten sie nicht zu verdrängen. Zuckende und tanzende Schatten umgaben die erhellten Abschnitte, zumeist von Vorsprüngen oder Trümmerhaufen verursacht, manchmal aber auch von alten Leitungen, die wie durchtrennte Nerven von der Decke hingen. Matt hielt das LPGewehr fest in beiden Händen, jederzeit bereit, auf einen unverhofft auftauchenden borstigen Umriss zu schießen. Der ständige Wechsel zwischen Hell und Dunkel spielte ihm mehrmals einen Streich, doch er gab sich nie die Blöße, überhastet drauflos zu feuern. Wenn er der eigenen Wahrnehmung misstraute, genügte ein kleiner Blick zu Aruula, um wieder zu entspannen. Die Barbarin witterte eine Taratze auf hundert Meter gegen den Wind.
* Die Verhandlungen mit dem Bluttempler erwiesen sich für Waasili als ein Wechselbad der Gefühle. Eben noch hatte er sich schon im Voodka schwimmen sehen, da ließ ihn eine Frage wie unter einem Peitschenhieb zusammenzucken. »Dieser Matthew Drax...«, Radek benutzte absichtlich den Namen, den Waasili wirklich aufgeschnappt hatte, »wo genau hast du ihn gesehen? Und keine Lügen mehr, verstanden?« Die kleine Machtdemonstration zeigte umgehend Wirkung. Waasilis Kinn sackte vor Schreck in die Tiefe. Kein erbaulicher Anblick, aber auf einen Nosfera wirkten die fleischigen Rundungen eines menschlichen Gesichts ohnehin abstoßend. Da kam es auf ein paar verfaulte Zahnstummel, die im offenen Maul sichtbar wurden, auch nicht mehr an. »Wo du Drax gesehen hast«, drängte er. »Und was ist aus ihm geworden? Erinnere dich besser ganz genau, was passiert ist.« Waasili nickte beflissen, überwand seine Sprachblockade aber erst nach einem starken Räuspern. Radek musste nicht einmal die Magie des inneren Auges anwenden, um zu erkennen, wie sehr ihn der Barbar fürchtete. Waasilis Angst war förmlich zu riechen. »Ich hab Obstschalen gegen Voodka getauscht«, brachte er endlich über die Lippen. »Draußen, auf dem Toten Platz, als plötzlich Feuer vom Himmel fiel!« »Hoho, nicht so schnell«, verlangte Radek. »Immer schön eins nach dem anderen.« Seine Stimme nahm einen suggestiven Klang an, während er beruhigende Gesten mit der rechten Hand ausführte. »Erinnere dich Stück für Stück.« Wie erwartet, folgte Waasili den Bewegungen seiner langgliedrigen, knochigen Finger. Während die Pupillen von links nach rechts und wieder zurück wanderten, beruhigte sich der Herzschlag des Barbaren und seine Stimme gewann an Kraft und Deutlichkeit. In Waasilis schlichtes Gemüt zu dringen war ein Kinderspiel. Die einfachen und gradlinigen Gedanken, die er verströmte, formten sich vor Radeks innerem Auge rasch zu Bildern. Wie in einem Wachtraum machte er ein gepanzertes Fahrzeug aus, das über den Toten Platz rollte, bis es plötzlich, von einem nahen Gebäude herab, mit einem
Flammenstoß attackiert wurde. Bei dem anschließenden Gefecht ließ sich nicht ganz klar unterscheiden, wer gegen wen kämpfte, doch als der blonde Krieger, von dem Waasili berichtet hatte, aus dem Stahlkoloss stieg, lief es Radek kalt über Brust und Rücken. Dieses Gesicht es entsprach exakt der Prophezeiung, die Wladov gedanklich an ihn weiter gegeben hatte, damit er Murrnaus Diener erkannte, wenn er vor ihm stand. Dieser Massiuu Drex existierte also wirklich, und er war schon hier, in Moska! Nun, da der Bluttempler Gewissheit besaß, wurde ihm der Mund trocken, doch er wagte nicht, nach dem Teebecher zu greifen. Heiße Fieberwellen durchliefen seinen Körper, während er Waasilis Erinnerungen verfolgte. Die Befürchtung, der Sohn der Finsternis mochte verletzt worden sein, bestätigte sich zum Glück nicht. Besonders respektvoll behandelten ihn die Glashelme zwar nicht gerade, aber es schien durchaus, als ob er in Freundschaft aufgenommen wurde. Wirklich sicher konnte Radek jedoch erst sein, wenn er ihn gefunden hatte: den Mann, auf dem alle Hoffnungen der Nosfera ruhten. Den Sohn der Finsternis. Wenn Waasilis Erinnerungen nicht trogen, folgte Matthew Drax den Glashelmen in ihre Festung. Nun, es war kein großes Geheimnis, dass von dort aus ein Gang in die Tiefe, in die wahre Burg der Ungläubigen führte. Dorthin musste Radek gelangen, wenn er letzte Gewissheit erlangen wollte. Der Nosfera zog aus einer verborgenen Innentasche seines Umhangs einige glänzende Münzen hervor, die sich problemlos in mehrere Flaschen Voodka umwandeln ließen. »Hier, für dich«, sagte er und schob die Summe über den Tisch. »Du hast unserem Orden einen großen Dienst erwiesen.« Waasili griff mit beiden Händen zu, um den Lohn einzustreichen. So genießerisch, wie er dabei mit der Zunge über die Lippen fuhr, spürte er bereits das scharfe Brennen des Voodka in der Kehle. Ein schneller Rausch, gefolgt vom Jammertal des nächsten Morgens, viel mehr würden ihm die Ruubel nicht einbringen. »Was noch viel wichtiger ist«, fuhr Radek fort, und zwar laut genug, damit es auch die dreisten Kerle am Schanktisch hörten. »Du hast dir auch den Schutz der Bluttempler verdient. Wer dich in Zukunft bedroht, muss mit unserer Vergeltung rechnen.« Zu einer anderen Zeit wäre das ein Bann gewesen, den kein Moskawiter zu durchdringen wagte. Damals, bevor der, dessen Name nicht genannt werden darf, das Unglück über die Bluttempler brachte. Heute dagegen... nun, vielleicht würden Waasili diese Worte wenigstens davor bewahren, dass ihm die Münzen noch am gleichen Abend von einem Stärkeren abgenommen wurden. Sniirnow, der noch die alten Zeiten kannte, trat an den Samowar und nahm die kleine Kanne mit dem Teekonzentrat vom Boiler. Vorsichtig goss er ein wenig davon in eine henkellose Porzellantasse und füllte den Extrakt mit heißem Wasser auf. Früher hätte er vielleicht den Arm zum Aderlass gereicht, nun brachte er einen frischen Tee, um seinen Respekt zu bezeugen. Radek wusste die Geste sehr wohl zu schätzen, deshalb nahm er die Tasse mit einem knappen Nicken entgegen und nippte daran, obwohl er kaum Durst verspürte. Eigentlich trank er nur, um allen in der Schänke zu beweisen, dass ein Nosfera nicht vom Blut allein lebte. Nur Murrnau mochte wissen, warum die göttliche Speisung, die sein Volk über alle anderen Lebensformen erhob, von den Menschen mit so viel Misstrauen betrachtet wurde. Wann immer in Moska Kinder oder Erwachsene verschwanden, flackerte sofort
das Gerücht auf, dass sie sicher das Opfer eines blutigen Nosfera-Rituals geworden wären. Meistens waren diese Anschuldigungen völlig haltlos, und schon mehr als einmal hatte sich später herausgestellt, dass diejenigen, die sie am lautesten verkündeten, selbst etwas zu verbergen hatten. So wie jener Wirt, der seine Fleischpastete nur deshalb so günstig anbieten konnte, weil Zechpreller in seiner Schenke regelmäßig auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Was sich wirklich in den Katakomben der Bluttempler zutrug, wollten die meisten Moskawiter ohnehin nicht wissen. Es mochte sie daran erinnern, welche Rolle sie selbst einmal in der alten Ordnung gespielt hatten. Radek schob den Gedanken an die Vergangenheit zur Seite, während er den Tee trank. Danach ging er, ohne sich zu verabschieden. Nur an der Tür verhielt er kurz, um seine Kapuze in die Höhe zu schlagen. Eine weise Entscheidung, denn draußen brannte sie noch, die verfluchte Sonne. Kaum dass er die Kellertreppe empor gestiegen war, lösten sich drei dunkle Schatten aus den umliegenden Gassen und Hausecken. Seine Schwertbrüder, die dort unbemerkt gewartet hatten, um ihm notfalls zur Hilfe zu eilen, flankierten ihn sofort wie eine Leibwache. »Er ist da«, sagte Radek, mehr nicht. Einen Namen zu nennen war überflüssig, die anderen wussten auch so, dass er vom Sohn der Finsternis redete. Seiner Ankündigung folgte eine respektvolle Stille, die nur durch das Plärren eines Kindes gestört wurde, das zwei Dutzend Schritte entfernt an der Hand seiner Mutter zerrte. Der kleine Schreihals verstummte jedoch abrupt, als die verhärmte Frau warnend auf die vermummte Gruppe deutete. Wenn du nicht artig bist, holen dich die Nosfera, um dich zu schlachten und dein Blut zu trinken. Auch sonst leerte sich die Straße, die nur wenige Steinwürfe vom Fluss entfernt lag, in Windeseile. Nur zwei mit randvollen Eimern bewehrte Saufbolde, die dem Raspuutin zustrebten, belebten noch die Szene. Respektvoll starrten sie auf die roten Embleme, die jeder Bluttempler oberhalb der linken Schulter in den Umhang gestickt hatte. Zwei gekreuzte Schwerter in einem Kreis das Zeichen der Krieger. Mit denen legte man sich besser nicht an. Radek richtete das Wort an den Jüngsten der Gruppe: »Grobak, du nimmst das Boot und erstattest dem Erzvater Meldung. Die anderen begeben sich mit mir auf die Suche nach Murrnaus Diener.« Vukov und Rraal, seine erfahrenen Waffenbrüder, zeigten keinerlei äußerliche Regung, obwohl sie natürlich darauf brannten, ihn zu begleiten. Dem Sohn der Finsternis als Erste zu begegnen bedeutete mehr Ehre, als manch anderem Nosfera ein Leben lang zuteil wurde. »Weißt du denn, wo er zu finden ist?«, fragte Grobak neugierig. Man musste es wohl seiner Jugend zugute halten, dass er die Antwort nicht kannte. Radek tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn. »Keine Sorge, ich habe bereits die Witterung aufgenommen. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir ihn aufspüren.«
* Jeder, der Perm nicht rechtzeitig verlassen hatte, weil er vielleicht dachte, dem Gegner widerstehen zu können, starb eines grausamen Todes. Allein die schiere Masse der
Anstürmenden erstickte jede Verteidigung bereits im Ansatz. Zu Tausenden fielen die Mutanten in der Stadt ein und erschlugen jeden Barbaren, der ihnen unter Klinge und Kralle kam. Verwachsene und unheimliche Kreaturen waren es, die da ein Blutbad anrichteten. Gefleckte und vierarmige Kreaturen, aber auch aufrecht gehende Echsen mit platten, von spitzen Fangzähnen dominierten Gesichtern, wie sie nur die abgrundtiefen Schlünde der Hölle gebären konnten. Oder eben die genetischen Versuche der Daa'muren. Dazu gesellten sich kleinwüchsige Gestalten mit zotteligen Haaren, die mangelnde Größe durch immense Körperkraft ausglichen, und hagere Schwertkämpfer, deren kriegerisches Talent sich durchaus mit den Schwertmeistern vergangener Jahrhunderte messen konnte. Nie zuvor in seiner an Gewalttaten nicht gerade armen Geschichte war dieses Land von solch einer fürchterlichen Streitmacht heimgesucht worden. Begriffe wie Kapitulation oder Gnade waren den Mutanten unbekannt. Alle, die sich ergeben wollten, wurden genauso niedergemetzelt wie jene, die sich dem unvermeidlichen Schicksal bis zum letzten Atemzug entgegen stemmten. Matthew Drax spürte, wie sein Magen verkrampfte, als die Aufnahme einen Rriba'low näher zoomte, der bis zu den Knöcheln in Blut und Innereien watete. Am Kratersee war ihm das vierarmige Fischervolk stets friedfertig und besonnen erschienen, doch nun zeigte es sich von einer ganz und gar unmenschlichen Seite. Von bohrendem Hunger getrieben, riss der Mutant einen Arm aus der Schulter eines Toten und begann das noch körperwarme Fleisch mit seinen Zähnen von den Knochen zu zerren. Wir sind zu spät aufgebrochen, dachte Matt erschüttert. Die Mutanten waren schon zu nahe, als dass wir sie von Perm fortlocken konnten. Und daran anknüpfend: Hoffentlich war es in Nydda nicht genauso! »Nahrungsaufnahme war der einzige Zweck dieses Überfalls«, analysierte ein russischer Wissenschaftler die grobkörnigen Bilder auf dem Großbildschirm. »Das eroberte Territorium wurde weder besetzt noch gehalten. Die Mutanten haben einen Tag lang nur gefressen, getrunken und geschlafen. Und da sie nicht auf genügend Vorräte gestoßen sind, um ihr großes Heer zu verpflegen, machten sie nicht einmal vor sich selber Halt.« Die nächste Einstellung besaß gewisse Unschärfen, trotzdem ließ sich ein mit zerschlagenen Fässern und Kisten übersäter Straßenzug erkennen, in dem mehrere Scheiterhaufen loderten. Rings um die Feuer ragten lange Spieße auf, jeweils weit genug entfernt, um nicht zu verbrennen, doch nahe genug, damit das daran aufgespießte Fleisch knusprig braun wurde. Nicht wenige der blutigen Brocken, die da brieten, besaßen die Hautzeichnung eines Rriba'low oder Mastr'ducha. Gefallene der Schlacht? Matt musste trocken schlucken, bevor er die Frage stellen konnte, die ihm seit Beginn des Berichtes auf den Lippen brannte: »Wie steht es um Perm II und den Großen Peter?« »Beide Bunker blieben unbehelligt.« Dr. Antonow, der den Vortrag leitete, rang sich ein gequältes Glück-im-Unglück-Lächeln ab. »Die Besatzungen kamen unversehrt davon. Nur ein Spähtrupp, der sich während der Filmaufnahmen zu nahe herangewagt hatte, wurde attackiert, konnte aber ohne größere Verluste entkommen. Wie gesagt, den Mutanten ging es nur um eine schnelle Versorgung, danach zogen sie weiter nach
Westen. Sie marschieren Tag für Tag und hinterlassen dabei eine kilometerbreite Spur der Verwüstung.« »Gibt es einen konkreten Hinweis, wie ihr genaues Ziel aussieht?« Die grässlichen Aufnahmen verschwanden. Dafür erschien das Standbild einer alten Landkarte, auf der die Existenz des Kratersees völlig ignoriert wurde. Aber woher sollten auch die Daten für eine Aktualisierung stammen? Im Gegensatz zu Matt und Aruula war den Wissenschaftlern der Liga kein Flug zur ISS vergönnt gewesen. Perm, Moskau, Petersburg und ein paar weitere Städte wurden auf der Karte durch rote Umrandungen hervorgehoben. Die Marschroute des Heeres schlängelte sich dagegen als blaue Linie von Osten nach Westen. »Nun ja«, Antonow wedelte hilflos mit den Händen, »wenn man die bisherige Stoßrichtung verlängert, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass die Horde geradewegs auf Moskau zuhält. Wie es scheint, sind Ihnen die Mutanten weiter hartnäckig auf den Fersen.« Matt versuchte aus den letzten Worten einen Vorwurf herauszuhören, doch es gelang ihm nicht. Dass ihre Gruppe das Verderben mit sich brachte wie eine ansteckende Krankheit, schien den anwesenden Russen weniger auszumachen als ihm selbst. Nachdenklich ließ er den Blick durch den Konferenzraum wandern, in dem die Führung von Ramenki mit der dreiköpfigen Delegation aus Petersburg beisammen saß. Der zweigeschossige Bunker, den sie ohne nennenswerte Zwischenfälle erreicht hatten, verfügte über gut zwanzig Räume. Früher hatte er einmal zur Koordinierung des Raketenschutzschildes über Moskau gedient, doch die Technik des Kontrollzentrum war schon vor Jahrhunderten ausgebaut worden, um an anderer Stelle weitaus nützlichere Dienste zu leisten. Statt den Außenposten gänzlich einzumotten, hatten die Russen jedoch Lazarett und Konferenzraum intakt gelassen. Sei es, um hier Treffen mit Vertretern der Oberwelt durchzuführen oder Experimente, die bei einer unkontrollierten Reaktion gefährliche Auswirkungen nach sich ziehen konnten. Egal, was hier auch schief ging, Ramenki wurde davon nicht betroffen. Dafür nahmen die Technos gerne in Kauf, unbequeme Schutzanzüge zu tragen. An der Stirnseite einer hufeisenförmig angeordneten Tischgruppe saß Konstantin Fedjajewski, der regierende Kommissar der Bunkerliga, flankiert von seinen Stellvertretern. Im Gegensatz zu den meisten Technos, denen die Evolution jegliche Behaarung genommen hatte, trug er stolz einige graue Augenbrauen zur Schau, die über der Nasenwurzel zusammenwuchsen. Angesichts seines kahlen Schädels gab ihm das etwas Verschrobenes, dem jedoch der wache Blick zweier klarer hellblauer Augen entgegen wirkte. Seine Begrüßungsrede, in der er kurz den Wissenstand der Bunkerliga dargelegt hatte, bewies ebenfalls, wie sauber und präzise er arbeitete. Dank der EVG-Verhöre in Perm wussten die Russen bereits über die Vorgänge am Kratersee Bescheid. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Matt endlich, wie die Verbindung zwischen den Bunkern verlief. Um die CF-Strahlung, die jeden Funkkontakt auf lange Strecken unterband, zu umgehen, sandten die Russen unbemannte Flugdrohnen mit Speicherkristallen auf die Reise. Diese Raketen ohne Sprengkopf gingen in einem zuvor anvisierten Gebiet nieder und mussten dort von den Empfängern geborgen werden. Da der Vorrat an Feststofftriebwerken begrenzt war, griff man aber nur in Notfällen zu dieser Maßnahme. Normalerweise wurden Kuriere eingesetzt, die manchmal Wochen oder Monate brauchten, um alle Ligamitglieder zu verständigen. Ein äußerst umständliches System, das viele Nachteile besaß. Aus diesem Grund lagen jetzt
mehrere Weltrat-Funkgeräte auf dem Tisch. Es handelte sich um Replikate, die dem Original, das Matts Gruppe mit sich führte, bis auf die letzte Diode glichen. »Eins verstehe ich nicht«, überlegte Mr. Black laut. »Woher wissen diese verdammten Mutanten, wo wir zu finden sind? Die können doch unmöglich der Spur des ARET folgen.« Obwohl die Frage an niemanden speziell gerichtet war, übernahm Dr. Antonow die Beantwortung. Seine silbernen Handschuhe fuhren eilends über das in den Tisch eingelassene Bedienungspult, worauf die Karte auf dem Großbildschirm einem strahlend blauen Himmel wich. »Der Spähtrupp aus Perm, der dem Mutantenheer folgt, hat eine interessante Entdeckung gemacht«, erklärte er, obwohl zunächst nur eine Wolkenfront sichtbar wurde. Als die Aufnahme näher heran zoomte, ließ sich jedoch ein weißer Fleck ausmachen, der nichts mit der übrigen Formation zu tun haben konnte. Anfangs wirkte die Anomalie wie ein Lichtreflex, bis sich zeigte, dass sie einen ringförmigen Kurs verfolgte. Ein elektronisches Raster, das sich über den Umriss legte, arbeitete die Form eines fliegenden Rochens heraus, der in fünf Kilometern Höhe über der Streitmacht kreiste. Das konnte nur eine der Dienerkreaturen sein, die von der Macht im Kratersee gelenkt wurden! »Möglicherweise ist es nur ein Beobachter der Ereignisse«, führte Antonow aus. »Vielleicht übermittelt er aber auch Befehle der Daa'muren oder späht zukünftigen Ziele aus. Wir wissen es nicht genau.« Matt spürte einen kalten Schauer über den Rücken rieseln. Unsere bloße Anwesenheit stürzt hier alle ins Unglück!, schrie es in ihm, doch er bezähmte seinen inneren Aufruhr, bevor er vorschlug: »Wir sollten unseren Aufenthalt in Moskau so kurz wie möglich gestalten, damit die Stadt verschont bleibt.« Er wusste, dass Mr. Black anderer Ansicht war, doch zu seiner Überraschung kam der Widerspruch von dritter Seite. »Für keinen von Ihnen besteht ein Grund zur Eile«, wehrte Konstantin Fedjajewski freundlich ab. »Ihre Gruppe mag der Überbringer der schlechten Nachrichten sein, doch Sie sind bestimmt nicht deren Verursacher. Im Gegenteil, ohne Sie wüssten wir nicht einmal von der Existenz der Daa'muren.« Der regierende Kommissar machte eine kurze Pause, um seine Worte in Ruhe wirken zu lassen. Wer in dieser Zeit genau hinsah, konnte den triumphierenden Seitenblick bemerken, den er der Petersburger Delegation zuwarf, die hinter der rechten Tischreihe Platz genommen hatte und somit Matt, Aruula und Mr. Black gegenüber saß. Mit seiner schnellen Reaktion wollte Fedjajewski wohl verhindern, dass der Serumsträger in den Petersburger Bunker eingeladen wurde. Mr. Black verfolgte aber ganz andere Pläne. »Ich freue mich, auf so viel Entschlussfreudigkeit zu treffen«, sagte er an den regierenden Liga-Kommissar gerichtet. »Wir müssen den Mutanten endlich die Stirn bieten, bevor sie noch mehr Unheil anrichten können. Meine Freunde und ich sind bereit, Sie in jeder Hinsicht zu unterstützen.« Matt und Aruula nickten, um das Angebot zu bekräftigen. Mr. Black hatte vollkommen Recht: Sie konnten nicht länger davonlaufen. Was die Daa'muren anging, so war deren Existenz eine Bedrohung für die gesamte Menschheit doch die Mutantenarmee war hinter ihnen her. Nachdem Commander Matthew Drax eine Bruteinheit der Außerirdischen zerstört hatte, waren sie zu Tausenden aufgetaucht und ließen sich
seitdem nicht mehr abschütteln. Sie mussten sich der Bedrohung stellen, bevor noch mehr Unschuldige in deren Weg gerieten. Jetzt hatten sie die Gelegenheit dazu! »Wir nehmen Ihre Hilfe gern in Anspruch«, spielte Fedjajewski den Ball zurück. »Obwohl Sie uns schon mehr zur Verfügung gestellt haben, als wir je wieder gutmachen können.« »Es geht hier nicht um eigennützige Tauschgeschäfte«, versicherte Black bescheiden. »Wir müssen uns ganz einfach in die Lage bringen, einer Invasion der Daa'muren zu widerstehen. Und die nötigen Mittel dazu haben nur die hochentwickelten Bunker kolonien, nicht nur hier, sondern überall auf der Welt.« Fedjajewski, eher ein Mann der leisen Töne, erlaubte sich ein stilles Lächeln, bevor er antwortete: »Natürlich, Präsident Black, Sie haben vollkommen Recht. Trotzdem wird die Liga versuchen, sich zu revanchieren. Und ich denke, wir haben einiges zu bieten, das den westlichen wie nannten Sie sie? Communitys das Leben erleichtern wird. Unsere besten Wissenschaftler arbeiten derzeit daran, die Nebenwirkungen zu neutralisieren, die bei diesen unfreundlichen Meerakanski...« »Präsident Hymes und General Crow«, sprang Aruula ein, als dem regierenden Kommissar die passenden Namen fehlten. »Genau, diese beiden Herren meine ich!« Fedjajewski versprühte eine gehörige Portion Charme, bevor er fortfuhr: »Unsere besten Kollektive suchen nach einer Lösung, damit die mit dem Serum verbundene Zeugungsunfähigkeit bald der Vergangenheit angehört. Und ich möchte mir erlauben, in diesem Punkt meine absolute Zuversicht auszudrücken, was den Erfolg angeht. Unsere Mittel sind weitaus größer als die des auf sich gestellten Waashton-Bunkers.« Das war die erste Eitelkeit, die Fedjajewski sich erlaubte. Matt nutzte sie sofort, um mehr über Ramenki zu erfahren. »Was bedeutet das genau?«, erkundigte er sich, in der Hoffnung, mehr über die Bunkerstadt herauszufinden. »Wie umfangreich sind Ihre Ressourcen?« Fedjajewskis Lippen kräuselten sich zu einem amüsierten Lächeln. »Glauben Sie mir, Commander«, versicherte er freundlich, »allein unser wissenschaftlicher Kader ist vermutlich genauso groß wie der gesamte Weltrat. Außerdem gibt es natürlich noch eine Vielzahl anderer Liga-Kollektive, sodass wir an mehreren Orten gleichzeitig forschen können.« »Das zweifle ich an«, fuhr ihm Irena Walujew unversehens dazwischen. Die Leiterin der Petersburger Delegation lauerte schon lange darauf, sich in das Gespräch einzumischen; nun hielt sie ihre Zeit für gekommen. »Die föderalen Strukturen haben sich in der Vergangenheit immer wieder als langsam und unflexibel erwiesen. Es steht daher zu befürchten, dass die Liga dieser großen Aufgabe nicht gewachsen sein wird.« Ein Schatten verdunkelte Fedjajewskis Züge, obwohl er sich redlich darum bemühte, freundlich zu bleiben. »Das sehe ich anders«, widersprach er bedächtig. »Aber wenn die Allianz eine direkte Führung vorzieht, will ich sie natürlich nicht davon abhalten, sich mir voll und ganz zu unterstellen.« Mit dieser Antwort hatte Irena Walujew nicht gerechnet. Überrascht riss sie die Augen auf und schluckte ein paar Mal, wie ein Fisch auf dem Trockenen, der nach Atem rang. »Das machen wir ganz bestimmt nicht«, brauste sie empört auf, nachdem sie die Sprache wiedergefunden hatte. »Schließlich ist es Ihrer Misswirtschaft zu verdanken, dass uns die amerikanische Community weit voraus ist, Genosse Kommissar. Und wenn Sie glauben, uns durch den Besitz des Serum zurück in die föderalistische Disziplin pressen zu können, dann...«
»Unsinn«, unterbrach Fedjajewski sie barsch. »Wenn ich nach Macht streben würde, säßen Sie gar nicht mit an diesem Tisch. Hier...«, er nahm eines der vor ihm liegenden Funkgeräte und schob es Irena zu, »damit können unsere Bunker in Zukunft direkt über das ISS-Relais kommunizieren. Damit sind die Verzögerungen der Vergangenheit beseitigt. Außerdem biete ich Petersburg die Serumsformel und den ersten Blutbeutel, den uns Präsident Black spenden wird, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. Somit ist die Allianz unabhängig von all unseren Entscheidungen. Was muss ich noch tun, um Ihre Zweifel zu zerstreuen?« Angesichts dieses großzügigen Angebots sahen die beiden Männer aus Irenas Delegation beschämt auf ihre Hände. Nicht so die Subkommissarin, die kühl abwartete, bis Fedjajewski zu einer Atempause ansetzte, um dann zu kontern: »Ich glaube erst an die Großzügigkeit von Ramenki, wenn ich unbeschadet zu Hause angelangt bin, Genosse Kommissar. Schließlich hat die Liga schon mehrfach bewiesen, mit welch radikalen Mitteln sie Andersdenkende aus dem Weg räumt. Ich erinnere nur an den nuklearen Überfall in Perm oder das Attentat vor wenigen Stunden.« Fedjajewski verzog das Gesicht wie unter Schmerzen. Der Angriff auf den ARET war ein unangenehmer Punkt, dem er nicht viel entgegenzusetzen hatte. »Fragt sich nur, wem meine angebliche Täterschaft am meisten nutzt.« Der Satz stand plötzlich im Raum, ohne dass der Urheber auf Anhieb zu ermitteln war. Erst nach einem Moment der Verwirrung richteten sich alle Blicke auf Juri Dolgoruki, der, umringt von mehreren Bewaffneten, auf einem Stuhl nahe der Tür saß. Angesichts des frostigen Empfangs, der ihm von Fedjajewski und den anderen Oberhäuptern bereitet worden war, hatte er die ganze Zeit nichts mehr von sich hören lassen, doch nun rückte er mit einem einzigen Satz wieder in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. »Was soll das bedeuten?«, fragte Irena erbost. »Dass ich die Leonow nicht abgefeuert habe«, beteuerte der Delinquent zum wiederholten Male. »Ich weiß nicht genau wie, aber irgendjemand hat mich für mehrere Stunden aus dem Verkehr gezogen und es so arrangiert, dass alle Indizien gegen mich sprechen. Da ich jedoch weiß, dass ich unschuldig bin, stellt sich für mich natürlich die Frage, wer von diesem Arrangement am meisten profitiert.« Das Gesicht der Walujew entflammte angesichts der Unterstellung zu einer feurigen Fratze. Ihre Empörung war so groß, dass der Plexiglashelm von innen beschlug, doch ehe sie ihrem brodelnden Zorn richtig Luft machen konnte, mischte sich der regierende Kommissar ein. »Das ist doch alles Unsinn«, wischte er die Anschuldigung vom Tisch, doch Dolgoruki ließ sich nicht beirren. »Warum?«, fragte er ungehalten. »Es ist kein Geheimnis, dass es in Ramenki zahlreiche Sympathisanten der Allianz gibt. Mir wird zur Last gelegt, dass ich die Bassutschok aus einem Aufenthalt in Perm kenne, dabei gibt es kaum ein Ligamitglied, das nicht einige Rotationsjahre in anderen Kollektiven verbracht hat. Viele davon in Petersburg oder einem anderen Bunker der heutigen Zentralisten.« »Und wenn schon«, hielt Fedjajewski dagegen. »Diese Rotationen gehörten zur normalen Routine. Die Anklage gegen Sie wird noch weiter untermauert, dessen können alle sicher sein. Aber natürlich werden wir auch nach allem fahnden, was Ihre Unschuld beweisen könnte. Ehe sich der unproduktive Streit weiter ausweiten konnte, brachte Matt einen wichtigen Aspekt zur Sprache. »Das ISS-Relais hat ein entscheidendes Handicap«, erinnerte er. »Der Weltrat kann unsere Funksprüche abhören. Alle eingehenden Meldungen werden
in der Raumstation zwischengespeichert und eine komplette Erdumkreisung lang ausgestrahlt. »Richtig«, bestätigte Fedjajewski, doch sein leises Lächeln deutete bereits die Lösung dieses Problems an. »Aus diesem Grund haben wir ein Kodiergerät eingebaut, das die Nachrichten zerhackt. Nur eine autorisierte Gegenstelle kann sie wieder sinnvoll zusammenfügen.« Lächelnd schob er drei modifizierte Geräte an seine amerikanischen Gäste weiter und fügte hinzu: »Ich sagte doch, dass unsere Ingenieure einiges zu bieten haben.« Matt nahm die Geräte dankend entgegen, bedauerte aber gleichzeitig, dass Aikos Funkgerät nicht ebenfalls über einen Zerhacker verfügte. So blieb der Kontakt zu ihm, Honeybutt und Pieroo ein Risiko. Fedjajewski deutete auf eine grüne Diode auf der Oberseite des handlichen Apparates. »Dieses Lämpchen leuchtet auf, wenn ein Zeitfenster für den Funkkontakt zur ISS offen ist.« Matt nickte. Natürlich war es nur möglich, ein Gespräch abzusetzen, wenn die Raumstation auf ihrem Weg um die Erde in Funkreichweite war. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Mr. Black, der vor Tatendrang geradewegs zu bersten schien. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, beginnen wir mit der ersten Blutabnahme«, schlug der regierende Kommissar vor. »Dr. Antonow hat bereits alles Nötige vorbereitet.« »Aber nur wenn meine Delegation der Prozedur beiwohnen darf«, mischte sich Irena sofort ein. »Anders ist Präsident Blacks Sicherheit nicht gewährleistet.« Fedjajewskis rollte mit den Augen, sah aber keinen Grund, sich ihrer Forderung zu verweigern. Stattdessen wandte er sich an Matt. »Während wir Präsident Black das Blut abnehmen, könnten Sie unseren Technikern im ARET helfen. Wir würden gern die Daten abrufen, welche die Perm-Expedition bis zu ihrem tragischen Scheitern am Kratersee gesammelt hat. Wenn Sie dem Vorgang beiwohnen wollen...?« Matt zog die Stirne kraus. War das nun ein höfliches Angebot gewesen oder hatten die Russen inzwischen gemerkt, dass Aiko Tsuyoshi die Datenbank mit einem Passwort versehen hatte? Aber wie es auch sei, es bestand kein Zweifel daran, dass die Liga ein Recht auf die Daten hatte. Also nickte er. »Gehen Sie ruhig, Mr. Drax«, ermunterte auch Mr. Black den Piloten. »So lange sich Petersburger und Moskowiter gegenseitig belauern, bin ich so sicher wie in Lincolns Schoß. Dass unser ARET fahruntüchtig ist, macht mir viel mehr Sorgen.« »Unsere Männer arbeiten schon daran«, konterte Fedjajewskis. »Das großzügige Geschenk von Perm II an Sie wird schon bald wieder fahrtüchtig sein.« Während sich Mr. Black in die Obhut der Ärzte begab, schlossen sich Matt und Aruula Subkommissar Marinin und seinen Männern an, die den Gefangenen zu weiteren Verhören abtransportierten. Auf dem Rückweg zum Bolschoitheater erschien Matthew der alte Metro-Tunnel längst nicht mehr so unheimlich wie noch anderthalb Stunden zuvor. Als Pilot war er es gewohnt, sich schnell auf neue Situationen einzustellen, deshalb genoss er die Fahrt auf dem Rücksitz bis Aruula neben ihm einen aggressiven Laut ausstieß. Die Nasenflügel der Barbarin blähten sich auf, als würde sie Witterung aufnehmen, während sie mit angestrengtem Blick in die Dunkelheit spähte. Alarmiert langte Matt über den Vordersitz, doch sein Versuch, dem Fahrer warnend auf die Schulter zu klopfen, kam zu spät.
Von einem grellen Blitz begleitet, wurde der Tunnel plötzlich durch eine Explosion erschüttert. Matt sah nur, wie das mittlere der drei Dingis, das direkt vor ihnen fuhr, von einer glutorangenen Feuerwolke eingehüllt wurde. Von der Druckwelle angehoben, überschlug es sich zwei Mal, landete wieder auf den Reifen und stellte sich quer. Seine Insassen wurden in den Sitzen wie Puppen hin und her geschleudert. Flammen, die aus dem Motorblock schlugen, tauchten den Unfall in flackerndes Licht. Staubschleier senkten sich wie dichte Nebelschwaden zu Boden. Matt wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als selbst am Steuer ihres Dingi zu sitzen, doch vermutlich hätte auch er nicht verhindern können, dass sie fast ungebremst in den Unfall rasten. Der Aufprall raubte ihm den Atem, weil die Sicherheitsgurte tief in seine Schultern schnitten. Mit dem rechten Vorderrad schrammten sie über das Wrack hinweg. Sie stiegen in die Höhe, wie bei einem Sprung über eine Schanze, doch der Flug wurde nach wenigen Metern brutal gestoppt, als sie mit den Radkappen voran gegen die linke Tunnelwand knallten. Mit hässlichem Knirschen radierten die Überrollbügel unter der Decke entlang, als sie nach rechts abkippten. Matthew bemerkte noch, wie ihm die Fliehkräfte das LP-Gewehr aus den Händen rissen, dann begann sich die Welt um ihn herum wie wild im Kreis zu drehen. Die Überrollbügel bewahrte die Insassen vor Schlimmerem, doch die aufwirbelnden Steine konnten sie nicht abhalten. Matt wurde an Kopf und Gesicht getroffen, ohne jedoch echten Schmerz zu empfinden. Die Kräfte, die an seinem Körper zerrten, nahmen ihn voll und ganz in Anspruch. Wogen von Angst und Übelkeit rollten abwechselnd durch sein Nervensystem, Staub drang in seine Luftröhre, ohne das er fähig war, ihn wieder abzuhusten. Der turbulente Zustand schien Ewigkeiten anzuhalten, doch in Wirklichkeit gab es nur zwei volle Überschläge, bevor sie gegen die rechte Tunnelwand knallten, dort wie von einer Billardbande abprallten und schließlich auf dem Dach liegen blieben. Während seiner Ausbildung zum Piloten hatte Matt mehrere Fahrten in einer Übungszentrifuge überstanden, vielleicht dauerte es deshalb nur wenige Sekunden, bis das Schwindelgefühl in seinem Kopf nachließ. Obwohl er sich fühlte, als ob jeder Knochen seines Leib gebrochen wäre, konnte er Finger und Zehenspitzen bewegen. Ein gutes Zeichen. »Mit euch alles in Ordnung?«, fragte er die anderen Insassen. Aruula antwortete mit einem wütendem Schnauben. Gleich darauf hörte er, wie die Schlösser ihres Sicherheitsgurtes aufrasteten. Kopfüber glitt sie aus dem Sitz und sprang sofort wieder in die Höhe. Ihre Fellweste, die während des Unfalls gelitten hatte, riss dabei endgültig. Blanker Busen schimmerte zwischen dem aufklaffenden Kleidungsstück hervor. Aruulas Versuch, ihr Schwert aus der Rückenkralle zu ziehen, scheiterte jedoch. Selbst bei ihrer robusten Konstitution brauchte sie noch einige Sekunden der Erholung. Haltsuchend stützte sie sich an der Wand ab, bis die Gleichgewichtsstörung abklang. Plötzlich erfüllten Schreie den Tunnel. Vielleicht waren sie schon die ganze Zeit da gewesen und Matt hatte sie bisher nicht wahrgenommen. Trotz seiner hängenden Position drehte er den Kopf, um zu sehen, was vor sich ging. Er blickte auf das brennende Dingi. Einer der Insassen steckte rettungslos fest. Er kam nicht mehr heraus, weil seine Beinen in dem zerknautschten Fahrzeuggestell
eingeklemmt waren. Sein Schutzanzug trotzte zwar den Flammen, aber er war nicht dafür konstruiert, dauerhaft hohe Temperaturen abzuhalten. Unter dem Kunstglaskonus zeigte sich bereits deutlich, dass die Haut des Technos Blasen warf. Der arme Kerl litt Höllenqualen. Zwei seiner Mitfahrer, die ihn verzweifelt zu befreien versuchten, mussten immer wieder vor dem lodernden Inferno zurückweichen. Selbst der dritte aus der Besatzung, dem beide Hände auf den Rücken gebunden waren, mühte sich zu helfen, indem er Sandfontänen aus dem Boden trat, die die Flammen ersticken sollten. Ein hoffnungsloses Unterfangen, das beinahe komisch gewirkt hätte, wenn nicht die Schreie des Technos gewesen wären, der sich verzweifelt im Sitz wand, ohne der Hitze entgehen zu können. Alles betteln und um sich schlagen nützte nichts, sein Anzug geriet in Brand. Wie eine lebende Fackel bäumte er sich auf, ohne dass ihm jemand helfen konnte. Feuerlöscher gab es nicht an Bord. Gott, das darf doch alles nicht wahr sein! Matt löste seine Gurte und zwängte sich zwischen den Sitzen hervor. Neben ihm glitt ihr Fahrer zu Boden, der noch nichts von der Tragödie im anderen Dingi mitbekommen hatte. Sein Blick galt einzig und allein dem Kameraden, der über ihm schwebte. »Pjotr, nein!«. Matt sah sofort, woher die Verzweiflung rührte: Der Kopf des Beifahrers stand in unnatürlichem Winkel zur Seite ab. Genickbruch, ganz klar. Um das zu erkennen, musste man kein Mediziner sein. Der Fahrer, ein Militär im Range eines Miadschijsershant, stieß ein letztes trockenes Schluchzen aus, bevor er seine Trauer beiseite schob. »Wir brauchen Licht«, rief er und hielt schon Sekunden später zwei Stablampen in Händen. Matt nahm sie entgegen und kroch unter dem umgestürzten Dingi hervor, das wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken lag. Beide Scheinwerfer funktionierten noch, leuchteten aber in einem aufstrebenden Winkel nutzlos zur Decke. Einige Meter entfernt zog gerade einer der Überlebenden des zweiten Dingi seine Strogoff und tötete den lichterloh brennenden Kameraden durch einen gezielten Kopfschuss. Zu gleichen Teilen von Trauer, Wut und Fassungslosigkeit erfüllt, stemmte Matt sich auf die Beine. Übelkeit stieg in ihm empor, während er auf Aruula zuwankte, die mit dem Rücken zur Wand stand und sich, das Schwert leicht erhoben, lauernd umsah. »Was ist los?«, fragte er, während sie die zweite Lampe entgegen nahm. »Spürst du was?« Der funkelnde Blick, den ihm die Barbarin zuwarf, traf Matt bis ins Mark. »Hörst du es denn nicht?«, schalt sie ihn, wie einen Schuljungen, der seine Hausaufgaben vergessen hatte. Matt knipste die Lampe an und tastete nach dem Driller in seiner Beintasche. Im Spot des schmalen Lichtkegels, der wie eine Klinge durch die Dunkelheit schnitt, konnte er nichts Verdächtiges entdecken. Als er jedoch sein Gehör anstrengte, vernahm er ein gleichmäßiges Klacken, das von der Decke kam. Matt leuchtete in die Höhe. Dort gab es nichts Besonders zu sehen, nur einige Blechplatten, die einen Kabelschacht verschlossen. Das Geräusch wurde lauter. Irgendwie hörte es sich an wie ein Paket Schrauben, das auf einem Stück Blech ausgeleert wurde. Solch ein Prasseln hatte er schon einmal gehört, vor langer Zeit, im Hause seiner Eltern. Damals hatte sich ein Marder unter der
Dachschräge eingenistet. Matt war mehr als einmal davon erwacht, wenn sich das
nachtaktive Tier zwischen Schindeln und Innenwand entlang bewegte.
Bis er aus dieser Erinnerung die richtigen Schlussfolgerung für die Gegenwart zog,
dauerte es einige Sekunden, aber dann durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitz.
* Im Schein der stählernen Blendlaternen bahnten sich die Nosfera einen Weg durch den abfallenden, nach Regenwasser und verfaultem Holz riechenden Gang. Trotz der guten Augen, die von ihrer nächtlichen Existenz zeugten, kamen sie in diesen lichtlosen Tiefen nicht ohne Leuchtmittel aus. Viel war es nicht, was sie brauchten kleine Talgkerzen, deren reflektierte Flammen nach vorne abgestrahlt wurden. Wo ein Mensch nicht weiter als bis zu den Fingerspitzen seines ausgestreckten Armes gesehen hätte, erkannten die Nosfera Hindernisse, die noch vier Schritte entfernt lagen. Die Dunkelheit war ihnen ein Freund, der Schutz und Geborgenheit bot und gleichzeitig all seine Geheimnisse offen legte. In dieser Umgebung bewegten sich die Nosfera schnell und zielsicher, ohne nur ein einziges Mal zu stolpern oder anzustoßen. Nur an Kreuzungen oder Weggabelungen verhielten sie kurz, damit Radek die neue Richtung bestimmen konnte. Obwohl er den Sohn der Finsternis bisher nur aus den Gedanken Dritter kannte, hatte Radek doch genügend Aura erhascht, um dessen Aufenthaltsort mit der Macht seines Inneren Auges aufzuspüren. Ähnlich den magischen Nadeln, die von Seefahrern zur Bestimmung der Himmelsrichtung benutzt wurden, verstand es Radek, eine gewitterte Person zu erlauschen. Warum das gerade ihm und einigen anderen Auserwählten möglich war, wusste er selbst nicht. Es war eine natürliche Begabung. Ein Geschenk Murrnaus an seine treuen Diener. Kurz bevor sie einen verschütteten Abschnitt erreichten, der von einem Taratzentunnel umgangen wurde, fühlte Radek ein unangenehmes Ziehen in den Ohren. Ein doppeltes Zischen aus den Mündern seiner Gefährten bewies, dass auch sie den hohen, fast an der Grenze des Hörbaren liegenden Ton vernahmen, der plötzlich sein Trommelfell reizte. Die Verwirrung dauerte nicht lange an, denn dieses Geräusch war ihnen durchaus bekannt. Es stammte von einem Amulett, wie es die Glashelme benutzten, um Taratzen fern zu halten. Die Magie der Ungläubigen wie Radek sie hasste! Vor allem weil sie so mächtig war, dass sich ihr selbst die Bluttempler immer wieder beugen mussten. Im gelben Schimmer der Laternen konnte er die verkniffenen Gesichter seiner Schwert brüder ausmachen. Hoffnung lag auf ihren Zügen. Hoffnung darauf, dass der Weg durch dieses unterirdische Labyrinth sie in eine andere Richtung führen möge. Zu schade, dass Radek sie enttäuschen musste. Die Witterung, die sich langsam verstärkte, überschnitt sich verdächtig stark mit dem Ursprung des schmerzenden Fieptons. Nur ein Zufall? Vermutlich nicht. Drax und seine Freunde befanden sich schließlich in Gesellschaft der Glashelme. Ein leichtes Zittern erfasste Radeks Knie, als die Befürchtung in ihm wuchs, dass dem Sohn der Finsternis gerade ein Leid geschehen könnte. Sie mussten sich sputen. Ein Versagen würde nicht nur den Verlust ihrer Ehre bedeuten, sondern auch schwere Strafen nach sich ziehen.
»Los!«, herrschte er die anderen an. »Weiter geht's. Wir müssen uns beeilen!« Die Dunkelheit teilte sich vor und schloss sich hinter ihnen, als sie in den Gang der Taratzen abbogen. Wahrlich, die Nacht war der Freund aller Nosfera. Das Entsetzen sprang Matt an wie ein wildes Tier. Was da oben herumkroch, war kein Einzelgänger, sondern ein ganzes Rudel! Alarmiert sah er den Tunnel hinab. Bisher war noch keines der borstigen Viecher zu sehen, nur die Besatzungsmitglieder des ersten Dingi, die ihnen zur Hilfe eilten. Marinin, der die Truppe anführte, blieb plötzlich stehen, um sich nach etwas metallisch Funkelndem zu bücken, das vor ihm im Staub lag. Das LP-Gewehr. Der Russe hob es auf. »Wir müssen hier weg!«, warnte Matt die anderen. »Hier treiben sich Taratzen herum!« Der Untersergeant, der neben ihm stand, schüttelte den Kopf. »Keine Sorge«, sagte er in väterlichem Tonfall, »die Ultraschaller halten die Biester auf Abstand.« Dass er damit ganz und gar falsch lag, zeigte sich Sekunden später, als eine Blechplatte unter lautem Scheppern aus der Verankerung sprang und nur wenige Meter entfernt zu Boden krachte. Matt leuchtete an die Decke. Das Licht erhellte eine plötzlich dort klaffende Öffnung und ein borstiges braunes Knäuel, das den Durchschlupf verstopfte. Matt blieb beinahe das Herz stehen, als er sah, wie sich die formlose Fellmasse in drei Taratzen teilte, die gleichzeitig in die Tiefe sprangen. Fauchend landeten sie auf ihren Hinterpfoten und gingen sofort zum Angriff über. Die Hände des wie erstarrt dastehenden Untersergeant waren Lichtjahre von der Strogoff in seinem Hüftholster entfernt. Paralysiert sah er den scharfen Krallen entgegen, die in einem sichelförmigen Schlag auf ihn zu rasten. Matt reagierte instinktiv. Der Driller in seiner Rechten vibrierte leicht, als er dem Rattenmonster zwei Sprengprojektile, nicht größer als Kugelschreiberspitzen, in den Pelz stanzte. Faustgroße Feuerbälle markierten die Einschlagstellen in Brust und Maul des Tieres. Blut spritzte durch den Tunnel, als die Taratze zurück flog. Der mit scharfen Zähnen bewehrte Unterkiefer war zur Hälfte weggerissen, das borstige Fell tränkte sich mit dunklem Blut und trotzdem kämpfte sich die Taratze wieder auf die Beine. Erst ein dritter Treffer, genau zwischen die Augen, ließ sie einknicken und zu Boden gehen. Zu viel Zeit und Munition für ein einzelnes Tier, insbesondere da nun auch an weiteren Stellen des Tunnels die Wände brachen. Fiepend und kreischend wühlte sich das Rudel aus der Verschalung hervor. Schwarze Knopfaugenpaare glänzten fiebrig vor Angriffs lust. Falls die Ultraschaller funktionierten, schien das die Aggressivität der Taratzen höchstens noch zu steigern. Rücksichtslos stießen sie einander beiseite, so versessen waren sie darauf, ihre Beute zu reißen. Den Untersergeant hätte es ohne Gegenwehr erwischt, wenn Aruula sich nicht an ihm vorbei auf die verhassten Rattenmonster gestürzt hätte. Knirschend fraß sich ihr doppelseitig geschliffenes Schwert durch eine vorgereckte Vorderpfote. Die scharfen Krallen schnappten instinktiv zusammen, als die abgeschlagene Tatze zu Boden fiel. Statt mit der verbliebenen Pfote den blutenden Stumpf abzudrücken, setzte die Taratze ihren Angriff fort. Wütend versuchte sie Aruula den Hals aufzuschlitzen, doch die Krallen erwischten nur noch das lange schwarze Haar der Barbarin, die unter dem plumpen Hieb wegtauchte. Gleichzeitig nutzte sie den Rückschwung des Schwertes, um die Schneide durch den ungeschützten Bauch des Tieres zu ziehen.
Wimmernd brach die Taratze zusammen. Aruula war den Kampf gegen eine Übermacht gewohnt, deshalb achtete sie darauf, dass die verendende Bestie zwischen ihr und dem letzten Angreifer lag. Die Krallen der dritten Taratze konnten ihr so vorläufig nicht gefährlich werden. Mit dem Bihänder hatte sie dagegen eine größere Reichweite, und die setzte sie gezielt ein. Mit einem beidhändig geführten Schlag wollte sie der Taratze den Kopf von den Schultern trennen, doch der silberne Halbkreis, den sie in die Luft zeichnete, touchierte lediglich deren rosigen Ohrspitzen. In einer geschmeidigen Bewegung hatte sich der Gegner zusammengekauert und sprang nun auf allen Vieren vorwärts. Fauliger Atem schlug Aruula entgegen, noch bevor sie erkannte, dass sie diesem Ansturm weder ausweichen, noch mit einem Rückhandhieb begegnen konnte. Alles was ihr noch blieb, war die zuschlagenden Vorderkrallen mit dem Schwertgriff zu blockieren. Ihr rechtes Handgelenk, das zu weit vorstand, wurde dabei aufgerissen. Heißer Schmerz brandete wie eine feurige Lohe bis zum Ellbogen hinauf. Doch was machte das schon angesichts der gebleckten Zähne, die nach ihrer Kehle schnappten? Aruula riss den Kopf so weit wie möglich in den Nacken. Obwohl sie damit den Hals schutzlos preisgab, rettete ihr diese Reaktion das Leben. Die gierigen Taratzenkiefer schnappten so dicht vor ihr zusammen, dass borstige Schnauzhaare über ihre Haut kratzten. Ein ungleiches Ringen Mensch gegen Tier folgte, in dem Aruula all ihre Kraft aufbringen musste, um sich die Krallen vom Leib zu halten. Dicke Muskelstränge traten an den Armen der Barbarin hervor, doch das schützte sie nicht vor der langen Taratzenschnauze, die sich immer höher schob, um erneut zuzubeißen. Aruula stand schon kurz davor, mit der bloßen Faust auf das stinkende Rattenmaul einzuschlagen, als der borstige Körper plötzlich unter ihr erzitterte. Der Ausdruck der schwarzen Augen wechselte von Angriffslust zu grenzenloser Pein, bevor sie brachen. Doch erst als Aruula das Loch im Rücken der Taratze bemerkte, aus dem dunkles Blut pulsierte, wurde ihr klar, wem sie ihre Rettung zu verdanken hatte. Maddrax! Lächelnd sah sie sich nach ihrem Gefährten um, der ihr nur kurz zunickte, bevor er sich weiteren Angreifern widmete. Für Dankesbezeugungen war keine Zeit. Das musste auch der Untersergeant feststellen, der seine Strogoff endlich aus dem Holster gezogen hatte. Mit dem Mut der Verzweiflung schoss er auf einen borstigen Schatten, der sich gerade aus dem offenen Kabelschacht in die Tiefe schwang. Die lange Feuerzunge schien nach der Taratze zu greifen, während sie die Vorderpfoten von der Blechkante löste und mit den Hintertatzen voran auf den Russen zu segelte. Obwohl die Kugel durch ihren Leib schlug, kam sie nicht von der Bahn ab. Fiepend grub sie ihre Krallen in den Schutzanzug und riss den Untersergeant mit ihrem Gewicht zu Boden. Ein lauter Knall hallte durch den Tunnel, als der Kunstglashelm unter dem harten Aufprall zersprang. Plastiksplitter schnitten in das Gesicht des Russen, aber das war nichts gegen die Krallen, die ihm Brust und Bauch zerfleischten. Seine Strogoff bellte erneut auf, aber die Taratze fuhr darin fort, ihm wie im Rausch Bekleidung und Leib zu zerfetzen. Matt und Aruula wollten zur Hilfe eilen, doch weitere Schüsse, die den monströsen Leib durchschlugen, hielten sie auf Abstand. Querschläger jaulten gefährlich nahe durch den Tunnel.
Die Taratze biss dem Russen die Kehle durch und labte sich an seinem Blut, während ihr selbst der Lebenssaft durch fünf klaffende Wundkanäle aus dem Körper wich. Zitternd krümmte sie sich zusammen und rollte, Vorder- und Hinterpfoten fest an den Leib gepresst, zur Seite. Schrille Laute, wie sie nur ein sterbendes Tier ausstoßen konnte, verließen ihre Kehle. Matt wandte sich erschüttert ab. Er hatte schon öfters mit diesen mutierten Riesenratten zu tun gehabt, doch er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so selbstmörderisch erlebt zu haben. Den Driller schussbereit vorgestreckt, kreiselte er auf dem Absatz herum, bereit, jeden anstürmenden Schatten niederzustrecken. Nur wenn sie die gefährlichen Biester auf Abstand hielten, gab es eine Überlebenschance. Im Augenblick konzentrierte sich der Kampf aber auf die übrigen Gruppen im Tunnel. Nahe des verunglückten Dingi nutzten die überlebenden Russen das brennende Chassis als Rückendeckung, um sich vor den anstürmenden Taratzen zu schützen. Trotz des Bleihagels, den sie mit den Strogoffs entfachten, blutete einer der Bewacher aus einer Risswunde am Bein. Eigentlich ein sicheres Todesurteil, aber wenn er rechtzeitig mit dem neuen Serum behandelt wurde, war sein Leben vielleicht noch zu retten. Um in den Genuss einer medizinischen Versorgung zu gelangen, mussten sie aber erst den Taratzen entkommen, und in dieser Hinsicht sah es nicht besonders gut aus. Das letzte noch fahrtüchtige Dingi wurde ebenfalls angegriffen. Die Technos, die sich dort verbissen gegen eine Übermacht zur Wehr setzten, waren nicht mehr als matt glänzende Schatten in der Dunkelheit, doch Mündungsfeuer und Stablampen schufen genügend Licht, um den Kampf zu verfolgen. Zu Matts Verwunderung beteiligte sich Marinin nicht an der Schießerei, sondern zog sich mit dem Laserphasengewehr langsam zurück. Unbehelligt von dem Wüten der Taratzen fuhr er den Teleskoplauf aus und zog den Kolben in die Schulter. »Werfen Sie mir das Ding zu!«, rief Matt, »Sie können damit nicht...« Er verstummte abrupt, als er sah, dass Marinin gar nicht auf eine Taratze, sondern eindeutig auf ihn anlegte. Um sicher zu gehen, richtete Matt die Stablampe auf den Techno. Der gelbe Lichtkegel enthüllte, was sein Verstand einfach nicht wahrhaben wollte: Marinin betätigte tatsächlich mehrmals den Abzug, ohne einen Strahl auslösen zu können. Als dann auch noch seine hektische Suche nach einer verborgenen Sicherung scheiterte, machte er auf dem Absatz kehrt und lief auf das parkende Dingi zu. Einen verletzten Kameraden, der sich ihm anschließen wollte, streckte er mit dem Gewehrschaft nieder. Sekunden später saß er am Steuer und beschleunigte. Mit durchdrehenden Reifen schoss das Dingi davon. Nun saßen sie endgültig fest. Die Männer aus Marinins Besatzung schrien wild durcheinander. Sie konnten einfach nicht glauben, was sie da sahen. »Dieser verdammte Feigling!« Aruulas Stimme überschlug sich ebenfalls vor Empörung. »Haut einfach ab und lässt uns hier im Stich!« Matts Gesicht wirkte wie versteinert. Seine Haut besaß plötzlich einen grauen Schimmer, und das lag nicht nur an dem Staub, der sie bedeckte. »Marinin lässt uns nicht nur im Stich«, sagte er bitter. »Ich fürchte, er hat diesen Hinterhalt erst gelegt. Fragt sich nur, in wessen Auftrag?«
*
Das beruhigende Lächeln, das Dr. Antonow zur Schau stellte, wirkte unter dem Kunstglaskonus mindestens ebenso verzerrt wie die Worte, die aus dem Kragen lautsprecher drangen: »Keine Sorge, es wird überhaupt nicht weh tun.« Eine lahme Phrase, die Mr. Black schon zu häufig gehört hatte, um sie nicht auf Anhieb zu durchschauen. Wegen der besonderen Beschaffenheit seines Blutes hatte er von Jugend an mehr Zeit auf medizinischen Liegen verbracht, als einem gesunden Mann eigentlich zugemutet werden konnte. Dabei war es ihm nie gelungen, das Gefühl der Ohnmacht, das ihn stets in Gegenwart von Ärzten beschlich, gänzlich abzulegen. Äußerlich schien Black zwar ruhig und gelassen, als er sich der schwarzen Jacke und des Pullovers entledigte, doch die leise Spannung, die zwischen seinen Schulterblättern lastete, ließ sich nicht verleugnen. Nur noch ein ärmelloses Shirt bedeckte seinen athletischen Oberkörper, als er an eine mit grauem Kunststoff bezogene Liege trat. Die bewundernden Blicke, die ihm einige der anwesenden Frauen zuwarfen, ließen ihn kalt. Alles woran Black denken konnte, war der Moment, in dem sich die Nadel in seine Vene bohren würde. Nicht dass er den kurzen Schmerz fürchtete; er hasste es nur, anderen Menschen ausgeliefert zu sein. Sich in jeder Situation selbst behaupten!, so lautete sein Grundsatz, dem es völlig zuwiderlief, still und ruhig dazuliegen und alles widerstandslos über sich ergehen zu lassen. Es dennoch zu tun, war eine Sache der Notwendigkeit. Aus den Augenwinkeln heraus nahm der Rebell wahr, wie ihm Fedjajewski und dessen Stellvertreter freudestrahlend zuwinkten. Durch eine lärmschluckende Panzerglaswand getrennt, verfolgten sie den für sie historischen Moment, in dem die bunkereigene Serumsproduktion eingeleitet wurde. Mit im Raum befanden sich Dr. Antonow und dessen medizinische Assistentin Anna Sharinow, sowie Irena Walujew mit ihrem ersten Stellvertreter. Zwei Moskowiter und zwei Petersburger, darauf hatte die Subkommissarin vor dem Eingriff strikt bestanden. Black ging dieses ganze Kompetenzgerangel allmählich auf die Nerven, trotzdem sah er die goldgelockte Subkommissarin an, während ihm der rechte Arm abgebunden wurde. Was Irena für einen Flirtversuch hielt und mit einem entsprechend aufmunternden Lächeln quittierte, diente ihm nur dazu, sich von der Prozedur des Blutabnehmens abzulenken. Als sie jedoch die Lippen anfeuchtete und das Kreuz durchdrückte, um ihre schweren Brüste besser unter dem Schutzanzug zur Geltung zu bringen, zog Black es vor, den Einstich in seiner Armbeuge zu verfolgen. Dr. Antonow war ein Meister seines Fachs. Trotz seiner unförmigen Handschuhe, die nahtlos in die Ärmel übergingen, traf die Nadel auf Anhieb ins Ziel. Sekunden später entsprang der Kanüle ein dunkler Strom, der durch den angeschlossenen Schlauch floss, bevor er sich in einem transparenten Kunststoffbeutel sammelte, der einen halben Liter Blut aufnehmen konnte. Um den Abfluss zu beschleunigen, ballte Black seine rechte Hand in regelmäßigen Abständen zur Faust. »Ganz prima«, lobte Antonow. »Sie sind ja ein richtiger Profi.« Wieder so eine Phrase, die niemand brauchte, trotzdem rang sich der Rebellenführer ein Lächeln ab. Die nächsten zwanzig Minuten vergingen in gepflegter Monotonie, obwohl das halbe Dutzend Zuschauer gebannt jede einzelne Bewegung seines Bizeps verfolgte. So langweilig kann die Grundsteinlegung zu einem neuen, freieren Leben sein, dachte Black in einem Anflug von Zynismus, musste sich aber schon Sekunden später korrigieren, da es im angrenzenden Besucherraum plötzlich sehr lebhaft wurde...
Zwei Bewaffnete in roten Schutzanzügen eilten herein und begannen auf den regierenden Kommissar und seine Stellvertreter einzureden. Was immer es dort zu berichten gab, es konnte nichts Positives sein, denn die Politiker reagierten sichtlich nervös. Rote Flecken traten auf ihre Wangen, während einer hektisch zum anderen blickte. Die klobigen Anzüge, die jeder Feinmotorik Hohn sprachen, machten es schwer, eine nicht mehr vorhandene Normalität vorzutäuschen. Black besaß ein Gespür für Situationen, in denen sich Unheil anbahnte, entsprechend alarmiert sah er auf. »Was ist da draußen los?«, wollte er wissen. Antonow, der die Aufregung ebenfalls bemerkt hatte, überprüfte einige Funkverbin dungen, bevor er ratlos den Kopf schüttelte: »Keine Ahnung, das läuft alles über direkte Sprachausgabe.« »Aha«, meldete Irena sofort Protest an. »Wir Petersburger sollen wohl von irgendwelchen Neuigkeiten ausgeschlossen werden?« Bevor sich ein handfester Disput zwischen den beiden entwickeln konnte, gewannen die Ereignisse weiter an Dynamik. Nebenan trafen noch mehr Bewaffnete ein, die den regierenden Kommissar mit weit ausholenden Gesten zu einem Ortswechsel überredeten. Fedjajewski brachte noch ein missglücktes Abschiedslächeln zustande, dann eilte er bereits mit der Leibgarde davon. Zurück blieb nur ein umgestürzter Stuhl, wie ein Dokument ihrer überhasteten Eile. »Hoppla, was sollte das denn?« Antonow lachte nervös. »Es wird doch wohl keine Palastrevolution im Gange sein?« So viel stand fest: Der Kerl mochte ein guter Arzt sein, als Komiker war er eine miese Nummer. Antonow spürte wohl selbst, wie schlecht seine Scherze ankamen, denn er brach übergangslos in emsige Geschäftigkeit aus. »Schwester Sharinow, versorgen Sie bitte den Patienten«, befahl er, schon halb zur Tür gewandt. »Ich überprüfe inzwischen, was draußen vor sich geht.« Mit schnellen Schritten lief er hinaus auf den Gang, wohl in der Hoffnung, Fedjajewski noch einzuholen. Irenas Gefolgsmann schien die Angelegenheit ebenfalls nicht ganz geheuer zu sein. Mit schnellen Schritten positionierte er sich vor der geschlossenen Tür, um einen hereinstürmenden Eindringling sofort abfangen zu können. »Keine Sorge«, beruhigte Irena, die an den Instrumententisch trat, um Schwester Sharinow zu assistieren. »Was auch passiert, wir sorgen für Ihre Sicherheit.« Black war froh, die Kanüle wieder loszuwerden. Einen sterilen Wattestreifen auf die Armbeuge gepresst, richtete er sich auf. Während die Krankenschwester den Kunststoffbeutel versiegelte, schwang er seine Beine von der Liege, doch Irena hinderte ihn mit einer deutlichen Geste am Aufstehen. »Nicht widerspenstig werden, bloß weil der Doktor gegangen ist«, drohte sie, halb belustigt, halb disziplinierend. »Ich bin ebenfalls Ärztin und verordne hiermit eine halbe Stunde Ruhezeit.« »Mir geht es gut«, widersprach Black unwillig. »Das haben schon ganz andere behauptet, bevor sie doch in Ohmacht gefallen sind.« Phrasen, nichts als Phrasen. Irena verpackte sie zwar in ein keckes Lächeln, das gut zu der goldenen Perücke passte, doch Black zeigte sich weiter resistent gegen ihre Reize. »Ich bin schon ein großer Junge, der auf sich alleine aufpassen kann«, stellte er freundlich klar, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass hier nur aus Angst um sein Wohlergehen gehandelt wurde.
»Warten Sie einen Moment«, lenkte Irena ein, als er Anstalten machte, aufzustehen. »Lassen sie mich Ihnen wenigstens etwas zur Stabilisierung des Kreislaufs verabreichen, danach können Sie meinetwegen Bäume ausreißen.« Eine silberne Kolbenpistole hielt sie bereits in der Hand. Black hatte sie zuvor gar nicht auf dem Instrumententisch bemerkt. Noch ehe er sich Gedanken darüber machen konnte, stand Irena schon neben ihm und drückte die glatte Mündung mit der Impfnadel gegen seinen Oberarm. Es gab nur ein kurzes leises Zischen, dann war alles vorbei. Mr. Black verspürte keinen Schmerz. »So, das war's schon.« Die Subkommissarin wischte mit einem in Alkohol getränkten Lappen über die punktierte Stelle, dann trat sie zur Seite, zum Zeichen, dass er sich frei bewegen durfte. Schwester Sharinow, die den Blutbeutel in eine Transportbox gepackt hatte, verfolgte Irenas eigenmächtige Handlungen mit gefurchter Stirn. Warten Sie nur, bis der Doktor zurück ist, lag ihr unausgesprochen auf den Lippen, aber den hohen Gast aus Petersburg direkt anzugreifen wagte sie nicht. Typisches Kompetenzgerangel, wie es Black zuwider war. Vorsichtig rutschte er von der Liege, bis seine Füße den Boden berührten. Zu seiner Verwunderung fühlte er sich tatsächlich wacklig auf den Beinen. »Wo bleibt nur Antonow?«, fragte er verwundert. »Es scheint doch etwas Ernstes zu sein.« »Halb so wild«, wehrte Irena ab. »Es gab nur einen Vorfall im Tunnel. Das Lagezentrum hat deshalb befohlen, alle Führungskommissare in Sicherheit zu bringen.« Bevor Black fragen konnte, woher sie dieses Wissen bezog, tippte Irena auf die Sendeanlage ihres Helmkragens. Im Gegensatz zu Antonow hatte sie wohl die richtige Frequenz gefunden. »Ein Vorfall im Tunnel?«, murmelte Black. Er musste sich an der Liege festhalten, um nicht ins Wanken zu geraten. »Interne Zwistigkeiten«, erklärte die Petersburgerin, die plötzlich um mehrere Zentimeter zu wachsen schien. »Ist doch ganz einfach. Wer das Serum besitzt, kontrolliert in Zukunft die Macht. Alle werden es haben wollen und dafür bereit sein, Kompromisse einzugehen.« Der Lautsprecher des Translators musste defekt sein, denn Irenas Stimme klang mit jedem Wort dunkler und weiter entfernt. »Keine Sorge.« Blacks Fingernägel hinterließen Kratzspuren auf dem Kunststoffpolster, so sehr hielt er sich daran fest. »Ich stehe dafür ein, dass alle Bunker gleichmäßig versorgt werden.« »Nein, das tun Sie nicht.« Ihre Lippen spalteten sich zu einem triumphierenden Lächeln. »Sie kommen schön mit, nach Petersburg. Das ist für alle Beteiligten das Beste.« Black wollte etwas erwidern, doch seine Stimmbänder versagten den Dienst. Plötzlich war ihm fiebrig heiß. Und da gab es noch diesen lähmenden Druck, der seine Brust ausfüllte. Dunkle Schleier tanzten vor seinen Augen, während ihn die drohende Ohmacht wie ein gieriges Tier umschlich. Es fiel ihm schwer, die Situation zu erfassen. Mühsam senkte er den Blick auf die punktierte Stelle an seinem Oberarm. Eine Frage schwirrte durch seinen Kopf, doch er bekam die nötigen Worte für eine Antwort einfach nicht in die richtige Reihenfolge. Zum Glück gab es noch Schwester Sharinow. »Was haben Sie dem Präsidenten wirklich gespritzt?«, wollte die resolute Assistentin wissen. Irena schien nicht zu einer Antwort aufgelegt. Sie legte die Impfpistole zur Seite und nahm dafür ein Skalpell auf. Die scharfe Klinge war durchaus in der Lage, den
Schutzanzug mit einem schnellen Schnitt zu durchtrennen. »Nur die Ruhe, Schätzchen«, beschied sie der Schwester, »dann geschieht dir auch nichts.« Mr. Black reagierte ohne nachzudenken. Mit einer Geschwindigkeit, die ihn selbst überraschte, ließ er seine Handkante auf Irenas Unterarm niedersausen. Die Subkommissarin schrie vor Schmerz und Überraschung auf, und das gefährliche Stück Edelstahl landete klappernd auf den Fußbodenfliesen. Da er nicht wusste, wie lange seine Kräfte noch hielten, riskierte Black keinen langen Schlagabtausch, sondern packte die Petersburgerin an beiden Schulter und stieß sie zurück, gegen den Instrumententisch, der krachend unter ihr zusammenbrach. Verzweifelt gegen eine bleierne Müdigkeit ankämpfend, taumelte er zur Tür. Jeder Schritt war eine Qual; es fühlte sich an, als würde er durch klebrigen Teer waten. Irenas Stellvertreter erwartete ihn schon mit einem breiten Grinsen. Black legte seine ganze verbliebene Kraft in den folgenden Schlag, doch mehr als Zeitlupentempo bekam er nicht mehr zustande. Mühelos fing der Russe seine Faust ab und versuchte ihm den Arm auf den Rücken zu drehen. Wut flammte in Mr. Black auf. Verdammt, so einfach wollte er sich nicht unterkriegen lassen! Die Hitze des Zorns drängte die Wirkung der injizierten Droge noch einmal zurück. Mit seinem ganzen Gewicht warf sich der Rebell vorwärts und schlug mit der verbliebenen Faust zu. Immer von unten herauf, immer in die gegnerische Magenkuhle. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Dem hatte der körperlich unterlegene Techno nichts entgegenzusetzen. Keuchend ließ er los und hielt sich schmerzgekrümmt den Bauch. Damit war der Weg zur Tür frei. Nur noch drei Meter, aber sie erschienen Black wie die Unendlichkeit. Hinter ihm hörte er, wie Irena und die Krankenschwester miteinander rangen. Los, vorwärts, spornte er sich an. Wenn du Antonow warnen kannst, hast du es geschafft. Es reichte nicht mehr. Der Türknauf schien ihm höhnisch entgegen zu wachsen, während seine Knie nachgaben. Er schlug der Länge nach hin und überbrückte dabei die verbliebene Distanz zur Tür. Seine Stirn prallte hart auf den Boden, doch er spürte keinen Schmerz. Nur wohlige Wärme, die ihn wie ein Wattebausch umgab, bevor die Welt in Schwärze versank...
* Der Schock über Marinins Flucht ließ die Gegenwehr einen kurzen Moment erlahmen das Todesurteil für die Besatzung seines Dingi. Blitzschnell schloss sich um die drei ein Ring aus krallenbewehrten Pfoten und Reißzahn-Mäulern, die unbarmherzig auf jeden einzelnen niederfuhren. Obwohl Matt nicht mehr als ein paar von Mündungsfeuer beleuchtete Einzelbilder erkennen konnte, drehte ihm das Gemetzel doch den Magen um. Doch so zynisch es auch klang: Der Tod der Männer verschaffte Aruula und ihm die Chance zur Flucht. Ihre frisch gerissene Beute war den Taratzen wichtiger als die weitere Jagd. Mehr von Instinkten als von tierischem Verstand getrieben, rangen sie wütend um den bisherigen Anteil. In Britana waren sie auf halbwegs intelligente Taratzen gestoßen, die sogar über eine rudimentäre Sprache verfügten. Doch hier, so nahe am Kratersee, waren die
degenerativen Auswirkungen der Jahrhunderte währenden CF-Strahlung wesentlich
ausgeprägter.
»Wir müssen fliehen!«, rief Aruula. »Fragt sich nur, wohin«, versetzte Matt.
Das war die Crux an ihrer Situation. Die Taratzen blockierten beide Enden des Tunnels.
Damit saßen sie in der Falle. Unbemerkt kamen sie an den Bestien nicht vorbei.
Tapsende Geräusche ließen Matt nach links wirbeln, doch dort nahten nur Juri Dolgoruki
und einer seiner Bewacher. An dem anderen labten sich bereits die Taratzen.
»Marinin, dieser Verräter«, fluchte Dolgoruki. »Sollen Blutmaden seine Eingeweide
fressen!«
»Sie glauben also auch, dass wir in einen gezielten Hinterhalt geraten sind?«, fragte
Matt, den Driller schussbereit, ohne die Taratzen aus dem Auge zu lassen.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Dolgoruki. »Natürlich war das geplant. Fragen Sie
Nikolajew.«
Der angesprochene Soldat nickte beflissen. »Diese Explosion, das war ein AK32
Sprengsatz, gar kein Zweifel. Ich habe die Dinger oft genug hochgehen sehen.«
»Und dann die Ultraschaller, die nur noch beim Führungsfahrzeug funktionierten«, legte
Dolgoruki nach. »Das stinkt doch!«
»Nicht nur das«, brachte Matt vor. »Marinin hat versucht, auf mich zu schießen.«
Dolgorukis Miene hellte sich bei diesen Worten auf, wenn auch nicht aus Boshaftigkeit.
Triumphierend reckte er seine Hände in die Höhe, so weit es die Rückenfesseln
zuließen. »Hab ich es nicht gesagt? Marinin hat mir das Attentat angehängt! Nun macht
mich endlich los und gebt mir eine Waffe!«
Nikolajew sah fragend in die Runde, doch Matt und Aruula hatten nichts einzuwenden.
Auch wenn die Unschuld des Ingenieurs noch längst nicht bewiesen war, in dieser
Situation zählte jede Hand, die eine Waffe abfeuern konnte.
Nachdem die Magnetbänder abgelöst waren, nahm Dolgoruki die Strogoff des toten
Untersergeanten an sich. Damit standen sie zur viert gegen die struppigen Schatten, die
sich weiter zu beiden Seiten des Ganges drängten. Mit wie vielen Taratzen sie es genau
zu tun hatten, ließ sich nur schwer abschätzen.
»Wir müssen zu einer Seite durchbrechen«, schlug Aruula vor. »Das ist unsere einzige
Chance.«
»Falsch«, berichtigte sie Dolgoruki. »Es gibt noch eine zweite: Wir nehmen den Weg,
auf dem die Taratzen gekommen sind.«
Matt spürte ein eisiges Kribbeln im Nacken, als würden Millionen feinster Eiszapfen
seine Haut durchbohrten, als er zu der lichtschluckenden Öffnung in der Decke sah.
»Sie wollen da hinauf?«, flüsterte er ungläubig. »Was ist, wenn oben noch mehr
Taratzen lauern?«
»Dann sind wir genauso im Arsch, als wenn wir hier unten blieben«, antwortete der
Ingenieur trocken. »Aber daran glaube ich nicht. Keine Taratze bleibt in ihrem Versteck,
wenn es was zu fressen gibt.«
Diese Theorie hatte etwas für sich.
»Außerdem«, fuhr Dolgoruki fort, »kenne ich mich hier unten bestens aus. Über den
Kabelschacht gelangen wir in einen Versorgungsgang, der parallel zum Tunnel
verläuft.«
Das überzeugte selbst Aruula.
Eilig machten sie sich daran, den Plan in die Tat umzusetzen, bevor die Taratzen ihre
Zurückhaltung aufgaben. Während Dolgoruki und Nikolajew die Umgebung sicherten,
faltete Aruula ihre Hände ineinander, um sie Matt als Tritt anzubieten. Schwungvoll
beförderte sie ihn so weit in die Höhe, dass er sich mit beiden Ellbogen im Durchbruch abstützen und hochstemmen konnte. Schnell leuchtete er den quadratisch angelegten Kriechschacht zu beiden Seiten aus. Dolgorukis Prognose erwies sich als vollkommen richtig. Hier oben gab es keine Taratzen. Dafür schlug ihm ein erbärmlicher Gestank nach Blut und Verwesung entgegen. Matts Nackenhaare sträubten sich, als er mit der linken Hand in etwas Glitschiges griff. Ein Schwenk mit der Taschenlampe bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Vor ihm breiteten sich blutige Tierinnerein aus. Für die Nase einer Taratze musste das nach einem Festmahl duften. Die Plastiksäcke, in denen sie hergeschafft worden waren, lagen auch noch herum. Auf diese Weise hatte man die Biester an die gewünschte Stelle gelockt. Matt verscheuchte einen aufsteigenden Fleggenschwarm, der den Lichtkegel seiner Lampe umkreiste. Ekel mischte sich in ihm mit heißem Zorn über die Menschen, die ihnen diesen Hinterhalt gelegt hatten. »Alles klar da oben?«, drang Aruulas Stimme an sein Ohr. Matt beugte sich über die Schachtöffnung und reichte ihr den ausgestreckten Arm. »Wenn man von einer Riesensauerei absieht, ja«, sagte er, bemüht, nicht durch die Nase zu atmen. Aruula ergriff seine Hand, und er zog sie mit einem Ruck nach oben. Geschmeidig schwang sie sich über die Kante. Sie hatte ihre Beine kaum eingezogen, als unten Schüsse fielen. Die Taratzen schienen mitzukriegen, dass sich ihre sicher geglaubten Opfer aus dem Staub machten. Matt warf sich flach auf den Bauch, den Driller vorgereckt, und schoss aus der Öffnung in die Tiefe. Eine halbe Sekunde später wurden zwei Taratzen von den Einschlägen der Explosivgeschosse zurückgeworfen. Ihre Artgenossen spritzten fiepend zur Seite, um dem gleichen Schicksal zu entgehen. Das verschaffte Dolgoruki genügend Zeit, um ebenfalls Matts Hand zu ergreifen und, mit Aruulas Unterstützung, in den Schacht zu fliehen. Nun fehlte nur noch Nikolajew. Matt streckte ihm den Arm entgegen. Der androgyne Techno war nicht viel schwerer als ein Halbwüchsiger. Bis zum Bauchnabel zog ihn Matt in den Schacht hinein. Dann jedoch verließ ihn das Glück. Plötzlich ging ein Ruck durch Nikolajews Körper und er schrie vor Schmerz auf. Der Versuch, ihn aus der Gefahrenzone zu ziehen, schlug fehl. Irgendetwas hielt ihn fest! Matt feuerte dicht an dem Techno vorbei in die Tiefe. Ein fauchender Schrei bewies, dass er ins Schwarze traf. Danach war der Russe frei, doch als sie ihn weiter zu sich herein zogen, sahen sie die Bescherung: Nikolajews Anzug war auf Höhe der rechten Wade aufgeschlitzt. Blut quoll zwischen dem auseinander klaffenden Material hervor. Es war nur eine Fleischwunde und doch tödlich. Den verseuchten Krallen der Taratzen hatte sein inaktives Immunsystem nichts entgegenzusetzen. »Noch ist nichts verloren«, sprach Matt dem Soldaten Mut zu. »Mit dem neuen Serum haben Sie noch eine Chance.« Nikolajew nickte, doch sein versteinertes Gesicht sprach eine ganz andere Sprache. Von Rache beseelt, übernahm Nikolajew freiwillig die rückwärtige Absicherung, während sie sich weiter vorarbeiteten. Jede Taratze, die es wagte, in den Kabelschacht zu folgen,
schoss er gnadenlos nieder. Die Enge gereichte ihnen hier zum Vorteil, da das Rudel nur nach und nach eindringen konnte. Trotzdem, sie mussten sich beeilen. Das Blech unter ihren Händen und Knien begann bereits zu beben, weil einige Taratzen aus dem Tunnel ihre Krallen daran wetzten. »Da vorn ist der Versorgungsschacht«, meldete Dolgoruki, der die Führung übernahm. »Danach kommen wir schneller voran.« Über einige rostige, in die Wand eingelassene Stiegen ging es zwei Meter in die Höhe, in einen Betonschacht, in dem sie wenigstens aufrecht stehen konnten. Rechts von ihnen liefen drei Kunststoffrohre entlang, die der Energie und Wasserversorgung dienten. An der Decke hing ein durchgehendes Gitter, das weitere Leitungen verdeckte. »Los, schneller«, forderte Dolgoruki. »In zwei Kilometern gibt es einen Stützpunkt! Dort können wir uns verbarrikadieren und um Hilfe rufen.« Er wollte bereits weiter eilen, doch Aruulas Warnruf ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren. »Was ist...?«, setzte er an, verstummte aber, als das Deckengitter über ihm zu beben begann. Sekunden später erfüllte ein aggressives Fauchen den Schacht. Doch es kam nicht etwa aus der Tiefe, von den Biestern, die sie verfolgten, sondern hatte seinen Ursprung direkt vor ihnen in der Dunkelheit! Matt war der Erste, der den Mut fand, die Taschenlampe auszurichten. Was ihr bleiches Licht enthüllte, ließ ihm das Blut in den Adern erstarren. Aus der kompakten Schwärze, die weiter den Hintergrund beherrschte, brach ein behaarter Pulk hervor, der zuerst wie ein vielarmiges Monstrum mit fünf Köpfen wirkte. Ein Taratzenrudel! Fauchend kamen sie heran. Ihre nackten Schweife peitschten aufgeregt umher. Einer der riesigen Nager sprang zum Gitter empor, um sich kopfüber näher zu hangeln. Es dauerte nur Sekunden, bis Matt den ersten Schrecken verdaut hatte. Er riss seinen Driller hoch und feuerte in die angreifende Meute. Neben ihm bellten die kleinen Maschinenpistolen der Russen auf. Es war ein wahrer Bleihagel, den sie entfachten, doch er reichte nicht, den Ansturm zu stoppen. Mit der bloßen Masse ihrer Leiber fegten die Taratzen über sie hinweg. Matt erhielt einen Stoß vor die Brust und taumelte keuchend gegen die Wand. Um ihn herum erklang ein schauerliches Konzert aus Schüssen, Fiepen und Brüllen. Das Bersten von Knochen erklang, gefolgt von Aruulas Triumphgeschrei. Querschläger sirrten an ihm vorbei, dann spürte er ein Krallenpaar, das die Rückseite seiner Jacke zerfetzte. Matt fuhr herum und erhielt einen mörderischen Schlag auf die linke Schulter. Die Lampe entglitt seinen gelähmten Fingern und rollte über den Beton davon. Ihr Lichtkegel zeichnete einen bleichen Kreis an die Mauer. Aruulas Schwert reflektierte ab und zu einen verirrten Lichtstrahl, doch je mehr Blut daran klebte, desto stärker verschmolz es mit der Dunkelheit. Als Matt unter den Fingerkuppen der Rechten Fell spürte, schlug und trat er zu, so gut er konnte. Ein schwerer Körper nagelte ihn gegen die Betonwand. Stinkender Speichelregen ging über sein Gesicht nieder und ließ ihn für Sekunden die Augen schließen. Als er sie wieder aufriss, schälten sich zwei lange gelbe, gebogene Hauer aus dem Dunkel, die auf seine Nase zielten. Ein schmatzendes Geräusch ertönte, wie von reißendem Fleisch. Es stammte aber nicht von einem zuschnappenden Maul, wie Matt befürchtet hatte, sondern von einer
Schwertspitze, die plötzlich aus dem Ohr der Taratze ragte. Ein wehleidiges Winseln drang aus der Kehle des Tieres, bevor es zur Seite fiel. Matt wusste nicht, was er von der neuen Situation halten sollte. Zuerst waren Schritte zu hören, dann das scharfe Fauchen von exakt geführten Schwertstreichen. Stahl fraß sich durch Muskel- und Sehnenstränge. Alles verlief so schnell, dass den Taratzen kaum Zeit zur Gegenwehr blieb. Wer immer da mitmischte, konnte im Dunkeln mindestens so gut sehen wie sie, wenn nicht sogar besser. Zuerst hatte Matt dafür keine Erklärung, bis jemand die Taschenlampe aufhob und damit auf den Boden leuchtete. Im Widerschein des Lichts wurden schwere Stiefel und eine verschnürte Lederhose sichtbar. Darüber ein langer Umhang, der einen hageren Körper fast vollständig umgab. Das blutbefleckte Schwert in der dürren fleischlosen Hand zeigte, dass es sich um Matts Lebensretter handelte. Angesichts dieses Aufzugs war der mit durchscheinender Pergamenthaut überzogene Skelettkopf keine Überraschung mehr. Ein Nosfera! Matt fühlte sich nicht besonders wohl bei dem Gedanken, dass er über und über mit Blut besudelt war, doch seine Befürchtung, dass sich der bleiche Mutant gleich auf ihn stürzen könnte, erwies sich als unbegründet. Demutsvoll kniete der Nosfera vor ihm nieder. Worte in einer fremden, barbarischen Sprache drangen über seine Lippen, die der Translator an Matts Gürtel mit »Er ist es, Brüder, der Sohn der Finsternis« übersetzte. »Maddrax! Alles in Ordnung mir dir?« Aruula musste über zwei tote Taratzen hinweg steigen, um sich zu ihrem Gefährten durchzukämpfen. Der fremde Nosfera schien einen Moment irritiert. »Maddrax? Ist das dein richtiger Name?« Matthew nickte, denn er hatte sich längst an die Bezeichnung gewöhnt, mit der ihn Aruula überall vorstellte. Wie sein Retter hieß, erfuhren sie Sekunden später, als ein weiterer Nosfera auftauchte, der Dolgoruki vor sich her stieß und vor ihnen auf die Knie zwang. »Sieh nur, Radek, noch ein Ungläubiger!« Mit kühler Geste deutete er auf den Ingenieur. »Was soll ich mit ihm machen?« Die Frage schien dem, der Radek genannt wurde, beinahe lästig zu sein. Mehr als eine abfällige Handbewegung hatte er nicht für den Techno übrig, bevor er befahl: »Töte ihn.« Die beiden kalten Worten hallten noch von den engen Wänden des Versorgungs schachtes wider, als die Klinge auf Dolgoruki niederfuhr.
* »Mischa, jetzt melde dich doch endlich.« Untersergeant Wronski hatte den Außenlaut sprecher aktiviert, deshalb war sein Funkruf im ganzen Flur zu hören. Aus seinem Tonfall schimmerte eine gewissen Nervosität hervor, die noch durch die Strogoff in seiner Linken unterstrichen wurde. Beunruhigt eilte Dr. Antonow näher. Der graue Kunststoffboden, den die Jahrhunderte stumpf und glanzlos gemacht hatten, knarrte unheilvoll unter seinen Stiefeln. »Was ist los?«, fragte er ungehalten. »Wo sind die übrigen Wachen?« »Keine Sorge, Doktor, alles in Ordnung.« Wronski setzte zu einem Lächeln an. Ein Versuch, der gründlich misslang. Sein schauspielerisches Talent reichte einfach nicht
aus, um das eigene Unbehagen zu verbergen. Vor allem als Antonow auch noch begann, ihn mit strengen Blicken zu bombardieren. Unbewusst strich der Soldat über seinen Glashelm. Eine verlegene Geste, die so tief im menschlichen Erbgut verankert war, das er sie ausführte, obwohl er den Kopf gar nicht erreichen konnte. »So weit ich weiß, hat es einen weiteren Anschlag gegeben«, erklärte er. »Alarmstufe Delta wurde ausgerufen. Das Lagezentrum hat veranlasst, den Führungs stab unverzüglich zu evakuieren.« »Wie bitte?« Antonow hätte den Kerl am liebsten an den Schultern gepackt und kräftig durchgeschüttelt. »Und was ist mit Präsident Black?« Wronski hob die fertig geladene Strogoff zu einer verteidigungsbereiten Geste. »Keine Sorge, die Sicherheit dieses Abschnitts ist gewährleistet.« Die Versicherung fiel leider eine Spur zu gequält aus, um wirklich überzeugend zu wirken. »Wie viel Männer sind noch vor Ort?«, hakte der Doktor deshalb nach. »Mit den Petersburgern fünf.« Ehe Antonow empört auffahren konnte, wirkte Wronski mit beruhigenden Gesten auf ihn ein. »Keine Sorge, in der Zentrale überblickt man die Lage viel besser als wir hier vor Ort. Außerdem ist längst Verstärkung unterwegs. Sobald Sie die Blutentnahme beendet haben, wird der Serumsträger sicher nach Ramenki überführt.« Kommissköpfe, Antonow hatte Mühe seinen Zorn zu bezähmen. Führen blind alle Befehle aus, so dumm sie auch sein mögen. Noch während er die militärische Abteilung in Gedanken verfluchte, dämmerte ihm, wie ungerecht er urteilte. Alarmstufe Delta sah vor, dass alle Kommissare separat in Sicherheit geschafft wurden, um zu verhindern, dass sie durch ein Attentat auf einen Schlag ausgelöscht werden konnten. Das war eine vernünftige Routine, zumindest solange man dabei nicht außer Acht ließ, dass es vielleicht Personen gab, die noch stärker bedroht waren. »Kein Grund zur Beunruhigung«, versicherte Wronski, der wohl ahnte, in welchen Bahnen die Überlegungen des Mediziners verliefen. »Die Zugänge sind durch Passwörter gesichert, und die Verstärkung trifft in wenigen Minuten ein.« »Wollen wir's hoffen«, zeigte sich Antonow mürrisch, obwohl seine Wut bereits verraucht war. »Die Blutentnahme ist beendet. Bereiten wir also alles zum Abtransport vor. Ruf Mischa und die anderen her. Unsere Kräfte müssen gebündelt werden.« Gemeinsam eilten sie zum Labor zurück. Während Wronski erneut den Funk aktivierte, schwang links von ihnen eine schwere Stahltür auf. Gleich darauf füllte sich der Rahmen mit einem silbernen Schutzanzug, auf dem die Farben der Petersburger prangten. Der Mann, der dort plötzlich vor ihnen stand, war ein unscheinbarer Typ von durchschnittlicher Größe, mit ebenmäßigen Gesichtszügen, die nicht besonders aus der Masse hervorstachen. Dmitri Poscharski, der zweite Mann in Irenas Delegation. Über seine Vorlieben und Schwächen ließ sich nicht viel sagen, denn er war nicht besonders redselig. Mehr als sein Name war den wenigsten bekannt, doch im Moment umklammerte er ein zwanzig Zentimeter langes Rohr, aus dessen vorderem Ende zwei Stahlstifte ragten. Sein Gesicht zeigte einen gehetzten Ausdruck, der sich beim Anblick von Antonow und Wronski verflüchtete. »Haben sie mich vielleicht erschreckt.« Poscharski presste die freie Hand auf die Herzgegend, um den Grad seiner Erleichterung zu unterstreichen. »Ich dachte zuerst, sie wären welche von denen!« Antonow spürte ein alarmierendes Prickeln unter der Kopfhaut.
»Von wem reden Sie?«, fragte er. »Und was ist mit Mischa? Sie hatten doch gemeinsam Dienst im Untergeschoss.« »Richtig«, bestätigte der Petersburger, während er sich umdrehte und in den Raum hinter ihm deutete. »Aber plötzlich waren da diese Kerle. Moskowiter, deren Gesichter ich noch nie gesehen hatte.« Ihren Blick weiter auf den leeren Türrahmen lenkend, trat Poscharski näher. Nur noch zwei Meter von ihnen entfernt, entsprang den Kontakten seines Schockers ein blendend weißer Spannungsbogen, der mitten in Wronskis Brustkorb endete. Der Soldat stieß nur einen kurzen, unartikulierten Laut aus, bevor er, die Strogoff fest umklammert, wie ein nasser Sack zu Boden ging. »Was soll das?«, keuchte Antonow überrascht. Eine sinnlose Frage, da ihm die Antwort längst dämmerte. Entsetzt blickt er auf den Schocker, der nun geradewegs auf seinen Bauch zielte. »Vorsicht, Doktor«, warnte Dmitri Poscharski. »Wenn Sie Unsinn machen, lege ich Sie ebenfalls schlafen.« Antonows Herzfrequenz stieg sprunghaft an. Wie entfesselt hämmerte es in seiner Brust, doch so sehr ihn die Angst auch packte, noch war er nicht bereit, kampflos aufzugeben. Er hatte die fünfzig zwar schon deutlich überschritten, hielt sich aber durch tägliche Gymnastik fit. Von Angst und Wut beflügelt, trat er mit der rechten Stiefelspitze unter das Handgelenk seines Gegners. Die Bewegung war so heftig, dass er sich dabei die Leiste zerrte. Ein brutales Stechen brannte durch seine Nervenbahnen, vom Bauchnabel bis zu den Zehenspitzen, trotzdem gewann er seinen festen Stand zurück. Ohne den hinderlichen Anzug hätte er dem Petersburger wohl die Waffe aus der Hand geprellt, so reichte es nur für einige Sekunden der Verwirrung. Die Chance nutzend, machte er auf dem Absatz kehrt und stolperte trotz der gezerrten Leiste den Flur entlang. Weiter als fünf Meter reichte der Schocker nicht. Wenn er ihm bis zum Aufzug entkam, hatte er vielleicht eine Chance. Hinter ihm ertönte ein angriffslustiges Knistern, doch der ausgesandte Energiestoß konnte die Entfernung nicht überbrücken. Antonow gelang die Flucht, zumindest für einige Meter, bis sich vor ihm der Fahrstuhl öffnete. Mit einem Ausdruck der Verwunderung auf dem Gesicht, trat Marinin durch die Schiebetür. Der Subkommissar wirkte verschwitzt und abgekämpft. Seine Linke umklammerte die Strahlenwaffe, die Antonow zuvor in den Händen der amerikanischen Delegation gesehen hatte. »Vorsicht!«, brüllte der Arzt, ohne lange nachzudenken. »Die Petersburger proben den Aufstand!« Um die Schussbahn frei zu machen, hechtete er zu Boden. Marinins silbern ummantelte Stiefel wuchsen zu klobigen Elefantenfüßen heran. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Doktor wäre gegen ihn geschliddert. So fing er sich zwei Meter zuvor ab und schlug die Hände schützend über den Helm. Das von ihm erwartete Strahlengewitter bleib jedoch aus. Stattdessen erklang Gelächter. Es dauerte einige Sekunden, bis Antonow begriff, was das zu bedeuten hatte. Marinin gehörte zu den Zentralisten! Beschämt sah er in die Höhe, zu den beiden Männern, die sich feixend vor ihm aufgebaut hatten. Gleich dreifach gähnten ihn die Mündungen von Elektroschocker, Laserwaffe und Wronskis Strogoff an. »Los, hoch mit dir«, befahl Marinin.
Antonow blieb nichts anderes übrig, als sich der bewaffneten Übermacht zu beugen. Unter ständiger Bedrohung durch Schocker und Strogoff wurde er zurück ins Labor getrieben. Seine Hoffnung auf Rettung sank dabei mit jedem Schritt. Die Unterhaltung, die Marinin und Poscharski miteinander führten, ließ nämlich keinen Zweifel daran aufkommen, dass alle Wachen innerhalb dieses Bunkers ausgeschaltet waren. Auch die Hoffnung, dass Präsident Black der Intrige entgangen sein könnte, zerschlug sich, als sie das Labor erreichten. Dr. Antonow spürte einen Stich in der Brust, als er Anna Sharinow bewusstlos am Boden liegen sah. Den Serumsträger hatte man dagegen auf eine rollbare Liege verfrachtet. Wenn nicht bald die versprochene Verstärkung eintraf, war alles verloren. Der erwartete Triumph auf Irenas Gesicht blieb jedoch aus. Stattdessen trat ein wütendes Blitzen in ihre Augen, als sie Marinins ansichtig wurde. »Was willst du denn hier?«, fragte sie wütend. »Der Plan sieht vor...« »Ich komme mit euch«, unterbrach sie der Subkommissar überraschend selbstbewusst. Irena schien damit nicht einverstanden, deshalb fügte er hinzu: »Die Umstände haben sich geändert! Bei Lewkow muss etwas schief gegangen sein, er meldet sich nicht mehr. Vielleicht ist er verletzt oder sogar schon tot. Wenn man ihn findet, wird jeder wissen, dass er die Attentate ausgeführt hat. Danach ist meine Tarnung nicht mehr sicher. Und eins steht fest: Ich will nicht für die toten Dingibesatzungen belangt werden.« »Es gab Tote?« Irenas Entsetzen kam Spontan und wohl dosiert. Falls sie nur spielte, so wirkte es durchaus glaubwürdig. »Von Toten war nie die Rede. Wir wollen nur das Serum! Zum Wohle aller Bunker. Nur wenn wir die Liga zentralistisch organisieren...« »Halt doch den Mund«, fiel ihr Marinin erneut ins Wort. »Und spar dir dein geschwollenes Gerede für die kommenden Sitzungen auf. Hier, ich habe eine neue Waffe der Amerikaner erbeutet.« Er hielt die bauchige Kugel mit dem Teleskoplauf in die Höhe. »Damit wird man mich in Petersburg mit offenen Armen empfangen.« Irena sah zu Poscharski, mehr nicht. Es war nur ein kurzer Blick, der jedoch mehr Kälte verbreitete als ein sibirischer Wintertag. Ihr Stellvertreter wusste sofort, was sie damit sagen wollte. Übergangslos richtete er seinen Elektroschocker auf Marinins Rücken und streckte ihn von hinten nieder. In der einen Sekunde erfüllte noch statisches Knistern die Luft, in der anderen zeigten die Kontaktstifte schon wieder auf Dr. Antonow. Schweigend sah der Arzt auf Marinin hinab, der sich noch einen Moment zu seinen Füßen krümmte, bevor sein Körper mit einem kleinen Ruck entspannte. Irena ging neben dem Bewusstlosen in die Knie, um ihm das LP-Gewehr zu entwinden. Als sie sich wieder aufrichtete, klebte ein Strähne der goldenen Kunsthaarperücke in ihrem Mundwinkel, die von nun an bei jedem Wort mitwippte. Sicher hätte Irena die Haare gerne beiseite gestrichen, doch der Kunstglashelm verhinderte eine entsprechende Geste. Es wirkte beinahe ein wenig grotesk, wie sie zurück trat und mit zitternder Hand auf Marinin deutete. Was sie da gerade wortlos befahl, schien ihr schwer zu fallen, trotzdem zögerte sie keine Sekunde. Ebenso wenig wie Poscharski, der am Regler seines Schockers hantierte und dann weitere Stromstöße auf den Bewusstlosen abfeuerte. Die Intensität der Blitze war nun weitaus höher, das zeigte sich schon an ihren Eintrittsstellen, die schwarz verschmorten. Feine Rauchsäulen stiegen von dem zuckenden Körper empor. Erst als die Stromstöße verebbten, erschlafften auch die Muskeln wieder. Diesmal für immer.
So wie Marinin dalag, bot er einen erschütternden Anblick. Selbst Irena liefen einige echte Tränen über ihre bleichen, mit goldenem Flitter gesprenkelten Wangen. »Tut mir Lied, dass es so kommen musste«, versicherte sie. Erst an den Leichnam zu ihren Füßen gewandt, dann mit Blick auf Dr. Antonow. »Wirklich, hier im Bunker sollte niemand zu Schaden kommen.« Der Arzt spürte, wie ihm die Knie weich wurden, als er sein Todesurteil vernahm. »Ich verstehe«, sagte er, und das tat er wirklich. Er wusste zu viel, so einfach war das. Wenn die Petersburger die Mähr von den chaotischen Zuständen in Ramenki aufrecht erhalten wollten, mussten sie ihn zum Schweigen bringen. Nur so konnten sie später behaupten, im Sinne der ganzen Liga gehandelt zu haben, als sie den Serumsträger entführten. Alles in Antonow schrie danach, seine Gegner einfach niederzureißen, doch diesmal waren seine Beine wie gelähmt. Das Pochen in der gezerrten Leiste erfüllte ihn bis zum letzten Nervenende, während ihm das Mündungsfeuer der Strogoff entgegensprang. Dumpf schlugen die Kugeln in seinen Brustkorb. Er taumelte nach hinten. Das Atmen fiel ihm schwer, weil sich seine Lungen mit Blut füllten, doch ehe der Schmerz den Schock dominieren konnte, blitzte es erneut im Waffenlauf. Diesmal zersprang der Helm vor Antonows Augen.
* »Halt!«, rief Maddrax, um das Schlimmste zu verhindern, doch mit Worten ließ sich die herabsausende Klinge nicht mehr aufhalten. Aruula reagierte da schneller und direkter. Wie ein stählerner Blitz fuhr ihr Bihänder über Dolgorukis Nacken und blockierte so den Hieb, der ihn köpfen sollte. Die Nosfera reagierten darauf eher verdutzt als aggressiv. Bis der, der sich Radek nannte, seinem Gefährten einen Wink gab, die Waffe sinken zu lassen. Aruula war das nur Recht. Die Schwerter der Kuttenträger waren zwar leichter und kürzer als ihres, doch sie hatte gesehen, wie gut beide damit umgehen konnten. »Sind diese Glashelme etwa eure Freunde?«, fragte Radek vorsichtig. »Wir dachten, sie hätten euch entführt.« »Die meisten Technos stehen auf unserer Seite«, antwortete Aruula, da Maddrax noch vom Kampf benommen schien. »Einige sind uns aber auch feindlich gesinnt.« Erleichterung zeichnete sich auf Radeks Zügen ab. »Oh, gut. Dann ist der, der die Taratzen auf euch hetzte, sicher ein Feind gewesen und ihr trauert ihm keine Träne nach, oder?« Aus irgendeinem Grund schien es den beiden Nosfera überaus wichtig, ihnen gefällig zu erscheinen. Aruula musste nicht mal ihren Lauschsinn schärfen, um die tiefe Ehrfurcht zu spüren, die sie erfüllte. Allein der Gedanke, Maddrax irgendwie verärgert zu haben, jagte ihnen eine Höllenangst ein. Dabei strahlten sie gleichzeitig großes Selbstbewusstsein aus und schienen auch nicht gerade zimperlich, wenn es um Leben und Tod von Taratzen und Technos ging. Suchend sah sich die Barbarin inmitten des Schlachtfeldes um, in dem sie immer noch stand. Der Boden zu ihren Füßen war mit Blut besudelt, das seitlich abfloss, bevor es sich in einer schmalen Rinne zu einem breiten roten Strom sammelte, der durch einen Abguss verschwand.
Im Gegensatz zu den Nosfera, die sich die Lippen leckten, widerte Aruula dieser Anblick an. Es versetzte ihr auch einen Stich ins Herz, als sie Nikolajew unter zwei Taratzen begraben fand, die er mit sich in den Tod gerissen hatte. Maddrax half inzwischen Dolgoruki auf. »Jemand hat die Taratzen auf uns gehetzt, sagst du?«, wandte er sich dabei an Radek. Der Nosfera nickte, beinahe etwas verlegen. »Ja, mit einem magischen Amulett, das schmerzende Töne aussandte. Unsere Ohren sind nicht ganz so fein wie die der Taratzen, trotzdem hat es auch uns beinahe wahnsinnig gemacht.« »Klingt nach einem Ultraschaller«, sagte Dolgorukis, der beide Nosfera weiter mit Argwohn betrachtete. »Ganz schön perfide. Erst die Taratzen mit Blut anlocken und dann per Ultraschall in unsere Richtung jagen. Bin gespannt, wer dahinter steckt.« Dem Wunsch, sie zu dem bewussten Glashelm zu führen, kam Radek sofort nach. Eile war wohl auch angebracht, wenn man den Attentäter noch lebend erreichen wollte. Gemeinsam eilten sie den Gang entlang, bis zu einigen erleuchteten Fenstern, hinter denen sich, laut Dolgoruki, ein Stützpunkt befand. Wenige Schritte entfernt, im Lichthof des vordersten Fensters, lag ein rot bekleideter Techno, der zwei tiefe Schnittwunden im Brustkorb aufwies. Eine dunkle Lache umgab ihn wie klebrige Pfütze, doch trotz des Blutverlustes wanderte sein Adamsapfel noch die Kehle auf und ab. Ein dritter Nosfera, den sie erst bemerkten, als er aus dem Schatten einer nahen Wand heraustrat, grüßte seine Waffenbrüder und berichtete, dass alles ruhig geblieben wäre. Dolgoruki wurde dafür um so lauter, als er den Verwundeten erkannte. »Hauptmann Lewkow«, stieß er bitter hervor. »Hab mir doch gleich gedacht, dass er die Beweise gegen mich gefälscht hat. Marinin und Lewkow haben gemeinsam zwei Jahre in Petersburg gedient. Dabei müssen sie zu Anhängern der Zentralisirer geworden sein.« Maddrax nahm die Anschuldigungen zur Kenntnis, wusste aber nicht recht, ob er sie glauben konnte. Aruula ging es nicht viel anders. Zu viel Widersprüchliches war bereits an diesem Tag geschehen. Und der Einzige, der ihre Fragen beantworten konnte, lag nun röchelnd in seinem Blut. Ihr Begleiter kniete zwar nieder und nahm ihm den Helm ab, doch zum Sprechen war Lewkow schon zu schwach. So ein Pech. Gerade jetzt, wo sie endlich hätte erlauschen können, ob er die Wahrheit sagte oder nicht. Lewkow hustete. Es ging mit ihm zu Ende. Angesichts des frei liegenden Kopfes kam Aruula eine Idee. Spontan hockte sie sich nieder und nahm ihr Gesicht zwischen die Knie. Ihre bevorzugte Stellung zum Lauschen. Vielleicht schnappte sie ja etwas auf, das weiterhalf? Ohne sich mit den anderen abzusprechen, führte sie ihr Vorhaben aus. Die Augen geschlossen, suchte sie die Gedanken des Sterbenden zu erhaschen. Doch obwohl sie ihm eine Hand auf die Stirn legte, spürte sie nicht mehr als ein Gefühl der... Lust und das, obwohl er mit dem Tode rang! Erschrocken brach sie den Kontakt ab und sprang in die Höhe. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. »Was du da versuchst, ist nicht ungefährlich«, tadelte Radek. »Sich mit einem Sterbenden zu verbinden, kann den Geist eines Lauschenden für immer verwirren.« So wie er vor ihr stand, in seinem Umhang und der verschnürten Lederkleidung, und sie vor dem Gebrauch ihrer Kräfte warnte, erinnerte er Aruula an einen anderen Nosfera. An Navok, der ihr zum Freund geworden war, als er sie aus der Sklaverei befreite.
Deutlich stand der Moment vor ihr, da sie den Händler aus Schernobil zuletzt gesehen hatte. An einem Lagerfeuer in der Nähe von Plymeth. Obwohl Radek vollkommen allein stand, taumelte er plötzlich zurück, als hätte ihn jemand geschlagen. Ein Ausdruck tiefsten Erschreckens trat auf sein Gesicht, doch ehe einer der anderen darauf aufmerksam wurde, kniete er selbst neben dem Sterbenden nieder und legte seine Finger an dessen Schläfen. Er konnte also auch lauschen, so wie Navok und sie. Zu Aruulas Unmut war er ihr darin sogar weit überlegen. Bereits nach zwei Herzschlägen stieß Radek ein unangenehm berührtes Seufzen aus. Seine Finger flogen zur Seite, als ob er sich die Kuppen verbrannt hätte. Lewkows Kopf kippte leblos zur Seite. Sein Licht war erloschen, doch niemand fühlte deshalb große Trauer. Immerhin hatte er Taratzen auf sie gehetzt. Für Aruula zweifellos das Schlimmste, was ein Mensch tun konnte. »Hast du irgendwas Besonderes gesehen?«, fragte Maddrax, dem es nichts auszumachen schien, dass Aruula zuvor an der selben Aufgabe gescheitert war. Radek zierte sich mit der Antwort. Überraschend schüchtern für jemanden, der seine Todesurteile mit solcher Geschwindigkeit fällte. Nach kurzem Zögern antwortete er endlich: »Ich sah den Sterbenden dabei, wie er sich mit einer Frau und einem weiteren Mann vereinigte.« »Vereinigt?«, platzte Aruula heraus. Konnte dieser Blutsäufer nicht klar und deutlich sagen, was er meinte? Wenn sie etwas erlauschte, drückte sie sich immer so aus, dass es jeder verstehen konnte. »Was heißt denn vereinigt?« Maddrax' Lippen kräuselten sich belustigt. »Fegaashaa«, erklärte er knapp in der Sprache der Wandernden Völker. Aruula spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Fegaashaa mit zwei Männern gleichzeitig? Die anderen schien diese Frage nicht weiter zu beschäftigen. Sie interessierten sich mehr dafür, mit wem sich Lewkow derart vergnügt hatte, das ihnen seine letzten Gedanken galten. »Kannst du die beiden Personen näher beschreiben?«, fragte Maddrax. »Wie sahen sie aus?« »Dürr und kahl, wie alle Glashelme«, antwortete Radek in abfälligem Tonfall, ganz so, als ob Nosfera behaart und beleibt wären. »Aber er hat an ihre Namen gedacht, sodass ich sie erlauschen konnte. Sie heißen Irena und Alexander.« Angesichts dieser Enthüllung schlug Dolgoruki mit seiner Faust in die flache Hand. »Hah, die Walujew! Ich wusste es doch! Aber mir was von sexueller Hörigkeit erzählen!« Seine Empörung brach sich noch in weiteren Beschimpfungen Bahn, für die Aruula kein Ohr mehr hatte. Mit kaltem Schaudern sah sie Maddrax an, in dessen Pupillen sich umgehend ihr eigenes Entsetzen widerspiegelte. »Irena Walujew steckt hinter allem?«, flüsterte er entsetzt. »Verdammt, wir müssen sofort zurück. Mr. Black schwebt in höchster Gefahr!«
* Die Metrostation unterhalb des Bunkers besaß nur eine Notbeleuchtung, die gerade genug Licht spendete, um die parkenden Dingis zu erkennen. Eines von ihnen trug das weißblaurote Zeichen der Petersburger, das andere, das mit quer gestellten Reifen inmitten eines aufgewühlten Schotterbettes stand, musste das sein, mit dem Marinin
gekommen war. Während Irena den Tunnel zu beiden Seiten absicherte, schoben ihre Gehilfen die Liege mit dem bewusstlosen Präsidenten aus dem Aufzug. Von den Einheiten aus Ramenki war bisher nichts zu sehen. So weit verlief alles nach Plan. Tschechow, ihr Verbündeter im Lagezentrum, hatte gute Arbeit geleistet. »Los, Beeilung«, befahl Irena den Männern, während sie zum Dingi voraus eilte. Nur noch wenige Schritte, dann waren sie aus dem Gröbsten heraus. Wenn sie erst mal in dem wendigen Gefährt saßen, musste schon ein ARET auftauchen, um sie noch zu stoppen. Zwanzig Minuten, länger brauchten sie nicht bis zur Endhaltestelle, dem ehemaligen Militärflughafen Wnukowo. Von dort aus bedurfte es nur noch eines kurzen Funkspruchs, um einen in Bereitschaft stehenden Radpanzer herbeizurufen, der sie sicher nach Petersburg brachte. Obwohl bisher alles glatt verlaufen war, spürte Irena eine gewisse Traurigkeit, während sie sich dem Dingi, ein Oberflächenfahrzeug mit Plexiglaskuppeln, näherte. Der Tod von Marinin und Lewkow machte ihr zu schaffen. Sie hatte mit den beiden nicht nur viel Spaß gehabt, sie hatte sie auch geliebt. Ein bisschen jedenfalls. Ihre gesamte Hingabe und Leidenschaft galt jedoch der von ihr geplanten Entführung des Serumsträgers. Deren Gelingen würde sie bis weit nach oben auf der Führungs ebene der bevorstehenden, von Petersburg aus geleiteten Allianz katapultieren. Der Gedanke an die Macht, die ihr bald zuteil wurde, verdrängte die Trauer aus ihren Gedanken. So schritt sie mit frischem Elan weit aus, hin zu dem Dingi, dessen rückwärtige Abdeckung sie öffnen wollte, damit man Präsident Black auf einem der Sitze verstauen konnte. Irena hatte das Fahrzeug noch nicht ganz erreicht, als sich ein dunkler Umriss aus dem Schatten des hüfthohen Bahnsteig löste. Zuerst führte sie ihn auf eine Überreizung ihrer Sinne zurück, doch statt zu verschwinden, nahm die Silhouette menschliche Gestalt an, auch wenn sich diese unter einem langen Kapuzenmantel verbarg. Ein verdammter Mutant, wie sie die Oberfläche zu Hunderten oder gar Tausenden bevölkerten. Was wollte er von ihr? Noch ehe Irenas Verstand begreifen konnte, was eigentlich vor sich ging, reagierte sie mit der ihr angeborenen Aggressivität. Die Strogoff in ihrer Rechten reckte sich dem Angreifer entgegen, doch bevor sie den Zeigefinger krümmen konnte, fuhr ein silberner Reflex auf ihren Arm nieder. Der lähmende Schmerz, der sie entwaffnete, zuckte bis zum Schulterblatt hinauf. Was folgte, war ein kurzer Moment der Erleichterung, weil nur die Waffe zu Boden polterte. Der Nosfera, der plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand, hatte mit der flachen Klingenseite zugeschlagen. Über seine feindlichen Absichten gab es trotzdem keinen Zweifei, da er das Schwert anschließend in die Höhe riss. Die abgezirkelte Bewegung zeugte von großer Präzision, denn die rasiermesserscharfe Schneide stoppte erst wenige Millimeter vor ihrem Anzug, knapp unterhalb des Helmkragens. Kalter Schweiß nässte Irenas Achselhöhlen. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, einem Nosfera zum Opfer zu fallen. Der Mutant, der sie bedrohte, sprach kein Wort, und die tief ins Gesicht gezogene Kapuze verhinderte einen Blick auf seine Züge, trotzdem zweifelte sie nicht daran, dass der verdammte Hund genau wusste, wie sehr sie ihm ausgeliefert war. Aus den Augenwinkeln konnte Irena sehen, dass ihre Gefährten genauso überrumpelt wurden. Da man jedoch keinen von ihnen tötete, kehrte ihre Zuversicht zurück.
Vorsichtig hob sie die Hand, um den Translator einzuschalten, doch als die Klinge drohend höher ruckte, erstarrte sie in der Bewegung. »Lass mich doch mit euch reden«, flehte sie. »Wir haben schließlich keinen Streit miteinander.« »Das sehen wir aber ganz anders!« Nacktes Entsetzen schüttelte ihren Körper, als sie sah, dass nicht der Nosfera zu ihr gesprochen hatte, sondern der strohblonde Commander aus der US-Delegation. Mit zerfetzter, blutgetränkter Jacke trat er aus einem Versteck hervor. Ihm zur Seite folgten seine barbarische Gefährtin und Juri Dolgoruki, der als Einziger der drei keine Verletzungen aufwies. Obwohl sie all ihre Pläne wie ein Kartenhaus zusammenbrechen sah, ließ das Zittern in Irenas Knien nach. Mit den Nosfera verstand sie nicht umzugehen, mit zivilisierten Menschen dagegen schon. »Gut, das Sie kommen«, sagte sie mit gespielter Erleichterung. »Oben im Bunker geht alles drunter und drüber, deshalb haben wir uns entschlossen, den Präsidenten zu evakuieren. Kommen sie mit uns nach Petersburg, nur so können wir für ihre Sicherheit garantieren.« Commander Drax widmete ihr nicht eine Sekunde seiner Aufmerksamkeit, sondern trat zu Dmitri Poscharski, dem er das fremdartige Lasergewehr aus den Händen nahm, um ihm den Schaft anschließend in einer blitzschnellen Bewegung in den Magen zu rammen. Die Klinge des Nosfera folgte dem zusammenbrechenden Soldaten, der keuchend auf die Knie sank. Irena tat darauf etwas, das ihr schwerer fiel als alles andere. Sie schwieg. Vermutlich die richtige Reaktion, denn statt sie ebenfalls zu misshandeln, baute sich der Commander nur zornfunkelnd vor ihr auf. Die dünne Kruste aus Staub und Schweiß, die sich auf seinem Gesicht gebildet hatte, erhielt tiefe Risse, als er wütend hervorstieß: »Sparen Sie sich die Lügen für die Verhandlung auf, Subkommissarin. Wir wissen alles über Ihre kleine Dreiecksbeziehung zu Marinin und Lewkow!« Nun fehlten ihr wirklich die Worte. Woher zum Teufel wusste der Kerl so gut Bescheid? Und warum war er mit diesen Nosfera im Bunde? Verstört blickte sie zu dem bewusstlosen Präsidenten auf der Liege und dann wieder zurück. Konnte es sein, dass dieser Commander, den alle nur für einen unbedeutenden Mitläufer gehalten hatten, in Wirklichkeit der wichtigste Mann der ganzen US-Delegation war?
* Mr. Black wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich sein Bewusstsein mühsam zurück an die Oberfläche kämpfte. Er fühlte keinen Schmerz, nur eine matte Kraftlosigkeit, die seine Arme wie mit Bleigewichten an die Bettdecke fesselte. Bettdecke? Vorsichtig sah er sich um. Tatsächlich, er lag auf einer weichen Matratze, bedeckt mit weiß bezogenen Kissen. Stöhnend wollte er sich aufrichten, doch eine kräftige Hand stoppte die Bewegung. »Lassen Sie es langsam angehen, Mr. Black. Sie waren einige Stunden weggetreten.« Die Stimme gehörte zu Matthew Drax, der plötzlich neben ihm stand. Seiner Jacke und der übrigen Oberbekleidung war der Commander entledigt. Weiße Mullbinden schlangen sich um seinen Oberkörper, darüber trug er einen weiten Krankenkittel. Miss
Aruula, seine Gefährtin, stellte ebenfalls zahlreiche Verbände zur Schau, als sie von einem Nachbarbett herüber kam. »Euch zwei hat es ja ganz schön erwischt«, entfuhr es Black in einem Anflug von Vertraulichkeit. »Kann mir jetzt noch jemand sagen, warum mich die Waljuew vor weiteren Spritzen verschont?« »Wahrscheinlich weil sie gerade im dunkelsten Kerker von Ramenki schmort!« Miss Aruula lachte schadenfroh. »Die blöde Bluugluu hat bekommen, was sie verdient.« Commander Drax präzisierte ihre blumige Ausführung. Mit schnellen Sätzen berichtete er von den Ereignissen im Tunnel und ihrer Begegnung mit den Nosfera, die ihnen treu zur Seite gestanden und sich erst nach der Ankunft der Verstärkung grußlos in die Dunkelheit verabschiedet hatten. »Glauben Sie, dass man diese Blut saufenden Mutanten für eine Koalition gegen die Daa'muren gewinnen kann?«, fragte Black interessiert. Seine anfängliche Benommen heit war längst verflogen. Statt dessen erfüllten ihn strategische Überlegungen aller Art. Zu planen und zu organisieren war für ihn die beste Medizin. Commander Drax zögerte mit seiner Antwort. »Vielleicht sind die Nosfera für vernünftige Argumente empfänglich, aber ich weiß es nicht genau«, gestand er ein. »Auf jeden Fall möchte ich sie noch einmal wiedersehen, um herauszufinden, was es mit diesem Gerede über den >Sohn der Finsternis< auf sich hat.« »Gute Idee«, stimmte Black zu. Alles was ihren Aufenthalt in Moskau verlängerte, kam ihm entgegen. »Außerdem müssen wir zwischen Petersburg und Ramenki vermitteln«, fuhr Matt fort. »Die Allianz bestreitet zwar jegliche Kenntnis von Irenas Vorhaben, trotzdem scheint die hiesige Führung gewillt, das Serum nur noch innerhalb der Liga zu verteilen.« »So ein Unsinn«, brauste Black auf, bereute seinen Versuch, sich aufzurichten, aber umgehend, weil der Druck unter der Schädeldecke zurückkehrte. »Das wird die Spannungen nur noch weiter erhöhen. Ich muss sofort mit Fedjajewski sprechen. Nur wenn die Zwistigkeiten beendet werden, können die Russen eine vernünftige Allianz gegen die Daa'muren aufbauen.« Commander Drax nickte fest entschlossen. »Vollkommen richtig«, bestätigte er. »Wenn hier weiter alles aus dem Ruder läuft, wird es Moskau genauso ergehen wie Perm. Aber ich bin sicher, wenn wir mit gutem Beispiel vorangehen und jede Rache für den Entführungsversuch ablehnen, wird das Kommissariat von Ramenki auf uns hören.« Black lächelte bei diesen Worten. Endlich, fuhr es ihm durch den Sinn. Endlich begreift dieser starrsinnige Drax, worauf es wirklich ankommt. Das war ihm sogar den pochenden Schmerz wert, der in seinem Schädel wütete.
Epilog Nur einige in Blut getränkte Talgkerzen beleuchteten das Audienzzimmer, in dem Erzvater den Bericht entgegen nahm. Die unsteten Flammen schälten nicht mehr als den vagen Umriss seiner Kutte hervor, während er unbeweglich auf dem geschnitzten Thron verharrte, als wäre er mit dem Holz verwachsen. »Du hast deine Aufgabe gut erfüllt«, lobte er, nachdem Radek geendet hatte. »Der Sohn der Finsternis ist gefunden, und die Gefahr, die von diesem anrückenden Heer für unsere Burg ausgeht, ist uns nun bekannt. Du hast Maddrax beschützt und ihm
bei seiner Bestimmung geholfen, wie ich es dir befohlen habe. Und doch spüre ich, dass
du mir etwas verschweigst. Was ist es, mein Sohn? Offenbare dich mir.«
Radek sah beschämt zu Boden wie ein ertapptes Kind. »Verzeih, Erzvater«, bat er, »ich
fürchte, ich habe gesündigt. Als ich mit dem Sohn der Finsternis sprach, erlauschte ich
von ihm und seiner Gefährtin einige Gedanken, die so stark waren, dass ich mein
inneres Auge nicht vor ihnen verschließen konnte. So erfuhr ich, dass sie schon einmal
Kontakt zu einem Nosfera hatten, dessen Mut- und Anstand sie sehr schätzen.«
Der Erzvater schwieg angesichts dieser wenig spektakulären Enthüllung, doch als
Radek keine Anstalten machte, weiterzusprechen, ermunterte er ihn: »Das war nur eine
Nachlässigkeit, aber kein Vergehen. Was verbirgst du wirklich vor mir?«
»Dieser Nosfera«, fuhr der Krieger zögernd fort. »Als ich seinen Namen erlauschte,
konnte ich es zuerst nicht glauben, deshalb drang ich in den Sohn der Finsternis, um
Gewissheit zu erlangen. Ja, wirklich, nur um sicher zu gehen, habe ich mein Auge
geöffnet. Doch leider irrte ich mich nicht. Maddrax und Aruula sind ihm wirklich
begegnet!«
Ervaters Interesse war geweckt. Beinahe unmerklich beugte er sich vor, obwohl es nicht
seiner Ohren bedurfte, um jedes Wort zu verstehen. »Wem begegnet?«, fragte er mit
leisem Knurren in der Stimme.
Radek schluckte. Die Antwort bereite ihm Angst, doch sie zu verschweigen hatte wenig
Zweck. »Dem... dessen Name nicht genannt werden darf.«
Stille.
So stark und intensiv, das sie beinahe schmerzte.
Nur das Knistern der Flammen war zu hören, bis seine Heiligkeit das Schweigen brach.
»Navok?«, fragte er drohend. »Bist du dir sicher?«
Radek zuckte zusammen, als er den Namen hörte. Seitdem das Unglück über sie
hereingebrochen war, hatte kein Bluttempler mehr gewagt, ihn laut auszusprechen. Nur
Erzvater konnte es sich erlauben, die eigenen Gebote zu brechen.
Eine unerklärliche, fast schon kreatürliche Furcht wütete in Radeks Gliedern, sodass er
nur ein nervöses Nicken zustande brachte. Doch Erzvaters Zorn blieb aus. Statt zu
toben, begann das Oberhaupt still in sich hinein zu lachen.
Anfangs ließ sich der Laut nicht von einem Schluchzen unterscheiden, doch dann brach
es laut und rau aus ihm heraus. Ein gehässiges Lachen, das von Tod und Höllenqual
kündete.
»Navok!« Erzvater spie den Namen erneut aus. »Nun bin ich sicher, das dieser Maddrax
von Murrnau gesandt wurde. Nicht nur die Macht der Sonne wird er brechen, nein, der
Sohn der Finsternis schenkt uns auch noch den Verräter, den wir schon so lange
suchen.«
Seine Heiligkeit lehnte sich in den Schatten der hoch aufragenden Stuhllehne zurück.
Und obwohl er die Stimme dämpfte, erfüllte sie den ganzen Raum, als er sprach:
»Konntest du sehen, wo sie auf diesen Lumpen gestoßen sind?«
»Ja, auf einer Insel, die sich Britana nennt.«
»Guuut.« Erzvaters Freude schlug sich in einem Gurren nieder, das aus fernen
Gewölben herüber zu hallen schien. »Sobald der Kampf um Moska entschieden ist,
werden wir die Jagd eröffnen.«
Radek sagte kein Wort, dafür zeigte sein Gesicht einen Ausdruck größter Verwirrung.
Eine Gefühlsaufwallung, die nicht verborgen blieb.
»Was ist mit dir? Teilst du meine Freude nicht?«
»Doch, Erzvater«, beeilte er sich zu versichern. »Es ist nur... Murrnaus Diener scheint dem, dessen Namen nicht genannt werden darf, durchaus freundlich gesinnt zu sein.« »Ein leises Lachen drang unter der blutroten Kutte des Oberhauptes hervor. Wahrlich, so vergnügt hatte man Erzvater seit vielen Wintern nicht mehr gesehen. Seit dem Tag, da er sein Augenlicht einbüßte, um genau zu sein. »Ach, braver, guter Radek«, hob er mit mildem Spott an. »Auch wenn es sich bei diesem Maddrax um den prophezeiten Sohn der Finsternis handelt, so ist er doch nur ein Mensch. Dass er uns dient, mag ihm nicht bewusst sein, wichtig ist nur, dass er es tut. Und was den Verräter angeht, so wollen wir einen Menschen doch nicht mit dieser unseligen Geschichte belasten, oder?« Radek erhob keinen Widerspruch. Natürlich nicht. Seine Heiligkeit registrierte es zufrieden. »So lass uns dem Sohn der Finsternis die Ehre erweisen«, hob er wie zur Andacht an. »Führe ihn so bald wie möglich zu mir, auf dass er das Unheil von unserem Volk fernhalten möge. Doch eins, Radek, darfst du dabei nie vergessen! Egal wie es nach außen hin auch aussehen mag, in Wirklichkeit ist es stets Maddrax, der uns dienen wird, und niemals umgekehrt!«
ENDE
Die Stunde des Feiglings Matthew Drax weiß noch nichts von seinem Glück, bei den Nosfera als Auserwählter zu gelten, der die »Herrschaft der Sonne« beenden soll. Einstweilen hat er genug damit zu tun, die nächsten Tage lebend zu überstehen. Denn das Mutantenheer hat Moskau erreicht und fällt mit nie gekannter Grausamkeit in die Stadt ein! Die Bunkerliga wirft alle verfügbaren Kräfte in die Schlacht, und Mr. Black wird zu ihrem Helden, als er sich an die Spitze der Streitmacht setzt. Doch da geschieht etwas, womit weder die Verteidiger noch die Nosfera gerechnet hätten: Auf dem Höhepunkt der Schlacht... ergreift Commander Drax feige die Flucht!