Nr. 304
Sohn der Götter Begegnung mit dem Wächter des schlafenden Fafnir von Marianne Sydow
Sicherheitsvorkehrungen, ...
19 downloads
580 Views
296KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 304
Sohn der Götter Begegnung mit dem Wächter des schlafenden Fafnir von Marianne Sydow
Sicherheitsvorkehrungen, die auf Atlans Anraten noch gerade rechtzeitig getroffen wurden, haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftauchen von Atlantis oder Pthor zur Strafe für sein »menschliches« Handeln auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die die Sperre unbeschadet durchdringen können, mit der sich die Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Kleidung und technische Ausrüstung. Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und Schrecken. Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am »Berg der Magier«. Ihr weiterer Weg führt sie zur »Straße der Mächtigen« und zum SOHN DER GÖTTER …
Sohn der Götter
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Razamon - Die Besucher von Terra begegnen dem Wächter des schlafenden Fafnir. Honir - Ein ›Göttersohn‹ wird demaskiert. Muur-Arthos - Honirs treue Diener. Szaru - Ein Mitglied der Horden der Nacht.
1. Hugin und Munin zogen ihre Kreise in der Nähe der Stadt Zbahn. Unter ihnen zog sich die Straße der Mächtigen wie ein gewundenes Band aus Altsilber durch die steppenartige Landschaft. Im Osten waren einige Häuser ziemlich deutlich zu erkennen – das war Harsth, eine Art Vorort von Zbahn. Alles andere verschwamm im Dunst. Aber die scharfen Augen der beiden Raben waren nicht auf die Stadt gerichtet. Sie beobachteten die Straße und deren Umgebung. Sie bemerkten das Burkoll, das weiter westlich den Kadaver eines Tieres von der Straße herunterschleifte und sich im trockenen Gras zu seiner Mahlzeit niederließ. Plötzlich stieß Hugin ein scharfes Krächzen aus. Munin warf sich in der Luft herum und änderte seine Flugrichtung. Fast gleichzeitig stiegen die beiden Vögel weiter nach oben, und dabei richtete sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Stadt, über der ein kurzer, gleißender Lichtreflex erschienen war. Dann sahen sie den Zugor. Das Fahrzeug raste heran. Es schlingerte und torkelte, und die beiden Raben stoben krächzend zur Seite. Hugin und Munin sahen zwei Menschen, die in dem Zugor saßen, sich mit dessen Bedienung aber wohl nicht sehr gut auskannten. Die Geschwindigkeit der Schale war zu hoch. Und was noch schlimmer war: Der Zugor verließ die schmale Flugschneise, in der allein er sich bewegen durfte. Die Raben stießen dem abstürzenden Fahrzeug nach. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie, wie die Flugschale kurz vor der Berührung mit dem Boden kippte und sich fast überschlug. Die beiden Insassen
wurden hinausgeschleudert. Ein paar Meter von den reglosen Gestalten entfernt schlug das Fahrzeug auf. Sand wirbelte durch die Luft und versperrte den Vögeln die Sicht. Sie zogen ihre Kreise und warteten. Der Zugor hatte sich mit der Kante teilweise in den lockeren Boden hineingebohrt. Er stand schräg, mit dem gewölbten Boden nach oben. Die beiden Menschen rührten sich immer noch nicht. Hugin krächzte rauh und ließ sich nach unten fallen. Der andere Rabe blieb auf seiner Flugbahn und behielt die Umgebung im Auge, während Hugin landete und vorsichtig durch das trockene Gras stolzierte. Aus unmittelbarer Nähe betrachtete er die beiden Menschen. Der eine hatte silberweißes Haar, was dem Raben ein kurzes, beinahe erschrockenes Glucksen entlockte. Der andere war dunkelhaarig. Beide lebten und waren anscheinend kaum verletzt. Hugin entfaltete die Schwingen und kehrte zu Munin zurück. Mit lautstarkem Krächzen verständigten sich die beiden Vögel. Sie lösten sich aus ihrer Kreisbahn und strebten mit kräftigen Flügelschlägen nach Westen. Über dem Burkoll hielten sie kurz an, kreisten und krächzten abermals und starrten dabei nach unten. Das Burkoll unterbrach seine Mahlzeit und sah mit feuchten, dunklen Augen zu den Raben hinauf. Das halbintelligente Wesen wußte bereits, daß es Arbeit gab. Es hatte den Aufprall gespürt. Es wunderte sich über das Verhalten der Vögel. Es hatte Nahrung gefunden, und sobald es gesättigt war, würde es zum nächsten Beobachtungspunkt eilen. Die Erschütterung des Bodens war nur schwach zu spüren gewesen. Die Unfallstelle mußte jenseits des Horizonts liegen. Es schien, als wollten die Raben dem gepanzerten Wesen etwas mitteilen. Was im-
4
Marianne Sydow
mer es sein mochte – das Burkoll begriff den Sinn der Botschaft nicht. Hugin und Munin gaben es auf, ließen sich von den warmen Luftströmungen in eine größere Höhe tragen und flogen nach Westen davon. Nach einiger Zeit glitzerte unter ihnen die Fläche des Kelch-Or-Sees. Das Wasser umschloß den Rundbau des Schlosses Komyr mit seinem hochaufragenden Turm. Die beiden Raben zogen die Flügel eng an ihre Körper und stürzten wie lebende Geschosse in die Tiefe. Vor den Zinnen des Turmes fingen sie ihren rasenden Flug ab. Sie hörten das melancholische Schwirren einer Windharfe. Sie waren am Ziel.
* Der Besuch der Raben hatte das Burkoll beunruhigt. Brummend und schnaufend ließ es von dem Kadaver ab, hob die stumpfe Nase in die Luft und schnüffelte, als könnte es dem leichten Wind Informationen über die Art des Hindernisses entnehmen, die es zu beseitigen galt. Das Burkoll verstand sich als einen der Wächter über diesen Teil der Straße der Mächtigen. Gemeinsam mit seinen drei Brüdern sorgte es für Ordnung. Das Burkoll wußte, daß es außer ihm und seinen Brüdern noch einen anderen Wächter gab, einen Zweibeiner mit gewaltiger Rüstung und ungeheurer Macht, in den Augen der Gepanzerten schon fast ein Gott. Er kam bisweilen und beseitigte Gefahren, mit denen ein Burkoll nicht fertig wurde. Aber er griff die Gepanzerten niemals an, und darum waren das Burkoll und seine Brüder zu der Überzeugung gelangt, daß ihre Tätigkeit im Sinne des Zweibeiners war. Das Burkoll verbrachte ganze Tage und Nächte mit Überlegungen dieser Art. Es glaubte, bereits einige Erkenntnisse gewonnen zu haben. Der Wind war an diesem Tag aber nicht dazu aufgelegt, das Burkoll zu unterstützen. Er wehte aus der falschen Richtung. Der Gepanzerte empfing schwach den Körperge-
ruch eines anderen Burkolls, das westlich von ihm einen Abschnitt der Straße bearbeitete. Wieder einmal waren die seltsamen Wesen am Werk gewesen, die die Straße zu versperren versuchten, wann immer sie eine Gelegenheit dazu fanden. Auch das war ein Rätsel. Das Burkoll hatte schon viele Sperren beseitigt, aber es hatte die, welche sie erbauten, noch niemals gesehen oder gewittert. Sie kamen und gingen lautlos und hinterließen keine Spuren – von den Sperren einmal abgesehen. Das Burkoll stellte fest, daß sein Bruder mit der vorhandenen Sperre allein fertig werden würde und gab seinen jetzigen Standort endgültig auf. In langen, geschmeidigen Sprüngen rannte es nach Osten. Es betrat das altsilberne Band der Straße nicht, sondern hielt sich auf dem sandigen Streifen daneben. Während des rasenden Laufes achtete es weder auf die Straße, noch auf seine Umgebung. Es konnte sich unmöglich auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren. Die Horden der Nacht kamen selten so nahe an die Straße heran, und selbst wenn eines der monströsen Wesen sich über die Gesetze hinwegsetzte, genügte es, sich südlich der Straße zu halten. Noch niemals hatte das Burkoll ein solches Ungeheuer die Straße der Mächtigen überqueren sehen. Vor ihm tauchte eine gerüstähnliche Konstruktion auf. Das Burkoll wurde etwas langsamer und hielt direkt vor den untersten Stangen an. Es gab die Gerüste überall entlang der Straße, und das Burkoll war froh darüber. Unbeholfen kletterte es an den Stangen und Streben hinauf. Seine krallenbewehrten Pfoten waren für diese Art der Fortbewegung nicht gut geeignet, aber die Mühe lohnte sich. Je höher es kam, desto größer wurde sein Horizont. Es konnte über die sonst geltenden Grenzen hinwegsehen – ein Phänomen, das das Burkoll immer wieder mit Ehrfurcht erfüllte. Die einfachen Zusammenhänge von der Höhe des Standorts und des sich damit vergrößernden Blickfelds waren ihm unbegreiflich. Für das Burkoll war
Sohn der Götter der Blick über den »Horizont« ein Wunder. Als es die obersten Stangen erreichte, klammerte es sich fest und verharrte regungslos. Die Vielzahl der Informationen, die der Wind ihm hier oben jedesmal zutrug, versetzten es regelmäßig in einen wahren Rausch. Hinzu kam das leichte Vibrieren der Stangen unter seinen Füßen und der freie Blick in alle Richtungen. Das Burkoll brauchte mehrere Minuten, bis es sich an diese Eindrücke so weit gewöhnt hatte, daß es sich seinem eigentlichen Vorhaben zuwenden konnte. Das Burkoll starrte nach Osten. Es sah so viele Dinge, daß es ihm Mühe bereitete, die unwichtigen Eindrücke auszuschalten. Endlich entdeckte es das Ding, das nicht in diese Landschaft gehörte. Es war grau und groß, und an einigen Stellen reflektierte es das Sonnenlicht in grellen Blitzen. Daneben gab es zwei dunkle Flecken. Das Burkoll hatte schon etliche Zugors gesehen und auch beiseite geräumt. Trotzdem bereitete es ihm immer noch Schwierigkeiten, diese nicht eßbaren Dinger mit seiner Arbeit in Verbindung zu bringen. Das Burkoll war ein Aasfresser. Irgendwann hatte es mit seinen drei Brüdern in Erfahrung gebracht, daß es auf und neben der Straße besonders oft Nahrung fand. Das war der Anfang seiner Tätigkeit. Erst später hatte es begonnen, auch Treibsand und andere Hindernisse wegzuschaffen. So ein Zugor war ein dicker Brocken. Das Burkoll erinnerte sich verschwommen daran, wie schwer es war, ein solches Fahrzeug zu bewegen. Mühsam stieg es nach unten. Seine Pfoten rutschten ein paarmal an den glatten Stangen ab. Das Burkoll bekam jedesmal einen solchen Schreck, daß es sich sekundenlang kaum zu rühren vermochte. Die Angst war der Preis für den Rausch, den es da oben genossen hatte. Das Burkoll wäre niemals auf die Idee gekommen, die Gitterkonstruktion so zu verändern, daß der Auf und Abstieg erleichtert wurde. Statt dessen empfand es Demut und Dankbarkeit, als es wieder den
5 gewohnten Sand unter den Füßen spürte. Es betrachtete das Gerüst, legte leise winselnd den Kopf auf den Boden und schaufelte etwas Sand auf seinen Rücken. Regungslos wartete es, bis der Wind die feinen Körner davongeblasen hatte. Erst dann stand es auf. Es wartete gespannt, aber das Gerüst blieb heute stumm. Manchmal hatte die Zeremonie Erfolg, und es hörte ein feines Singen, das von der Spitze des Bauwerks zu ihm herabdrang. Vielleicht war das Gerüst unzufrieden. Das Burkoll wandte sich traurig ab und trottete nach Osten weiter. Es mußte den Zugor aus der unmittelbaren Nähe der Straße entfernen. Wenn ihm das gelang, würde es vielleicht beim nächstenmal eine Antwort erhalten. Die Hoffnung darauf wirkte ermutigend. Das Burkoll wurde schneller. Nach einiger Zeit tauchte vor ihm die schräg im Boden steckende Schale auf. Daneben lagen die beiden dunklen Körper. Das Burkoll hielt überrascht an. Neben dem Fahrzeug lag eine gute Beute. Sie würde ihm die Kraft geben, die es benötigte, um seine Aufgabe zu erfüllen.
* Honir sah die beiden Vögel nicht, denn seine Gedanken beschäftigten sich nicht mit dieser Welt. Er starrte über die Zinnen des Turmes in die Weite, ohne die Umgebung wahrzunehmen. Die klagenden Töne der Windharfe entführten seinen Geist in das Reich der Träume. Dort galt sein Schicksal nichts, dort war er alles, was er zu sein wünschte. Erst als Munin ihm direkt ins Ohr krächzte, schrak Honir zusammen. Er drehte sich um. Die beiden Raben flatterten über seinem Kopf, vollführten tollkühne Flugmanöver auf engstem Raum und stießen dabei ihre rauhen Laute aus. Honir neigte lauschend den Kopf und nickte schließlich. Seufzend nahm er Abschied von der Windharfe. »Es ist gut!« sagte er zu den Raben. Seine Stimme klang dumpf unter dem Helm her-
6 vor. Manchmal empfand Honir dieses Gebilde als unangenehm und hinderlich, aber er wollte diesen Helm niemals ablegen. Zwar vermutete er, daß die Raben sein Geheimnis niemandem verraten würden, aber er war vorsichtig. Außerdem mußte er Muur-Arthos berücksichtigen. Der Doppelköpfige war der treueste und ergebenste Diener, den man sich nur vorstellen konnte. Dennoch war Honir nicht bereit, auch nur das kleinste Risiko einzugehen. Die Raben jagten noch einmal um den Turm und entfernten sich dann krächzend. Honir betrat die enge, gewundene Treppe, die nach unten führte. Im Innern des Turmes war es fast dunkel. Die wenigen, sehr schmalen Fenster reichten nicht aus, um die Treppe zu erhellen. Fast automatisch griff Honir in eine Nische und nahm den aus Stein geschnitzten Leuchter. Daneben stand eine Glutschale – Muur-Arthos hatte dafür zu sorgen, daß die Lichter stets entzündet werden konnten. Zwei klobige Kerzen flammten auf. Ihr flackerndes Licht erzeugte gespenstische Schatten an den steinernen Wänden. Am Ende der Treppe wartete Muur-Arthos. Das verkrüppelte Wesen mit den bis zur Unkenntlichkeit verquollenen Gesichtern neigte demütig die beiden Köpfe. »Es gibt Arbeit«, sagte Honir. »Hugin und Munin statteten mir einen Besuch ab. Es scheint, als wären Fremde in unserem Gebiet aufgetaucht. Ich muß herausfinden, was sie hier wollen.« Muur-Arthos kannte seinen Herrn gut genug, um keine Fragen zu stellen. Honir schritt an ihm vorbei in die Rüstungskammer, und der Doppelköpfige eilte ihm nach. »Jeder Fremde bedeutet eine Gefahr«, fuhr Honir fort, während er mit Muur-Arthos' Hilfe die schwere Rüstung anlegte. »Der schlafende Fafnir muß beschützt werden. Die Gnitaheide ist ein verlockendes Ziel für die Unwürdigen.« »Ich komme selbst von dort«, antworteten die beiden Münder des Doppelköpfigen im Chor. »Wer sich auf die Ebene Kalmlech
Marianne Sydow wagt, ist des Todes. Die Horden der Nacht lassen sich nicht überlisten.« Honir lächelte unter dem Helm. »Dich hat man bekehrt«, bemerkte er. »Das ist der Beweis dafür, daß auch die Horden der Nacht kein vollkommener Schutz sind. Sie hausen in der Gnitaheide, die du Kalmlech nennst, und ich kenne ihre vernichtenden Kräfte. Aber wir beide wissen auch, daß die Macht der Magie sie besiegen könnte.« Muur-Arthos spürte, daß Honir unruhig war. Immer wieder kam es auf der Straße der Mächtigen zu Zwischenfällen, die die Ruhe im Schloß störten. Muur-Arthos hatte jedesmal Angst um Honir, wenn dieser das Schloß verließ. Der Göttersohn hatte viele Kämpfe bestanden, aber der Doppelköpfige war der Ansicht, daß man sein Glück nicht übermäßig strapazieren solle. Er war von Honir abhängig. Der Göttersohn war unsterblich, solange er sich von allen Gefahren fernhielt. Ein Hieb oder ein Stich jedoch konnte ihn töten. Und dann war es für MuurArthos vorbei mit dem angenehmen Leben. Es gab noch drei andere Göttersöhne, aber Honir hatte mit keinem von ihnen Kontakt. Nach seinem Tode würde das Schloß Komyr verwaisen, und Muur-Arthos mußte dann zu den Horden der Nacht zurückkehren. »Es gibt noch mehr Straßenabschnitte«, murmelte er mißmutig und reichte Honir die Stülphandschuhe. »Ich hörte, daß sie verwahrlost und ungepflegt sind.« »Nicht alle Teile des schlafenden Fafnirs sind von gleich hoher Bedeutung«, erwiderte Honir streng. »Außerdem kümmert es mich nicht, wie es meine Brüder mit ihrer Aufgabe halten. Ich bin für meinen Bereich verantwortlich.« Muur-Arthos schwieg vorsichtshalber. Er durfte Honir nicht reizen. Der Göttersohn konnte jederzeit seine Entscheidung, den Doppelköpfigen als Diener zu akzeptieren, widerrufen. »Ist die Windrose bereit?« fragte Honir und streckte gebieterisch die Hand aus. Muur-Arthos hakte die Vars-Kugel von der
Sohn der Götter Wand und reichte sie seinem Herrn. »Sie steht im Vorhof«, sagte er, und er konnte es sich nicht verkneifen, hinzuzusetzen: »Wie immer, Herr!« Honir reagierte nicht auf die Anspielung seines Dieners. Er verließ die Rüstungskammer und schritt über die breite Galerie bis zu der wuchtigen Steintreppe, die in die Halle hinabführte. Muur-Arthos beeilte sich, an ihm vorbeizukommen. Der Doppelköpfige durchquerte auf seinen kurzen Beinen hastig die Halle. Sein Kettenhemd rasselte leise, als er die Riegel des Tores zurückschlug. Er schaffte es auf die Sekunde genau. Als Honir das Tor erreichte, drückte Muur-Arthos die schweren Flügel auseinander. Helles Sonnenlicht flutete herein und ließ die Waffen an den Wänden der Halle aufblitzen. »Darf ich das Tor hinter dir schließen?« erkundigte sich der Doppelköpfige, als Honir an ihm vorbeiging. Er hatte diese Frage schon tausendmal gestellt und ebenso oft die stets gleiche Antwort erhalten. »Nein!« »Warum nicht?« Honir drehte sich überrascht um. Es kam sehr selten vor, daß Muur-Arthos sich nicht mit der normalen Antwort begnügte. »Das solltest du selbst am besten wissen«, bemerkte er langsam. »Die Horden der Nacht sind sehr unruhig«, gab Muur-Arthos zu bedenken. »Unruhig genug, um gegen den unumstößlichen Befehl zu handeln, den die Herren der FESTUNG gegeben haben?« fragte Honir spöttisch. »Die Burgen der Göttersöhne sind für sie absolut unangreifbar. Sie dürfen sich nicht einmal in die Nähe des Schlosses wagen. Du bist die einzige Ausnahme – die Gründe dafür sind dir bekannt.« »Wo es eine Ausnahme gibt, ist die zweite nicht fern«, murmelte Muur-Arthos besorgt, aber Honir ging nicht darauf ein. Er hatte bereits die Windrose erreicht und schwang sich auf den mittleren Sitz des Fahrzeugs. Muur-Arthos hatte sich an dieses Zauberding nie gewöhnen können. Er machte eine abergläubische Bewegung, als das
7 Doppelrad sich zu drehen begann. Honir steuerte auf die Brücke zu, die den Vorplatz mit dem Ufer des Sees verband. Der Doppelköpfige sah zu, wie die Windrose auf die Straße der Mächtigen einbog und dort schnell an Geschwindigkeit gewann. »Beim Traum des Fafnir«, sagte er zu sich selbst. »Dieses Ding haben die Geister der Finsternis geschaffen. Gut, daß Honir ein Göttersohn ist. Sonst hätten die bösen Geister mich bestimmt schon gepackt. Ich wollte, er würde das Zauberding da draußen stehen lassen.« Muur-Arthos sprach oft mit sich selbst, wenn sein Herr auf der Straße der Mächtigen unterwegs war. Mit seiner eigenen Stimme versuchte er sich Mut zu machen. In Honirs Nähe fühlte er sich geborgen, aber sobald der Göttersohn das Schloß verließ, fühlte Muur-Arthos sich ungemütlich. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß er sich durch harte Arbeit am sichersten von diesen Gedanken ablenken konnte. Und Arbeit gab es im Schloß Komyr genug. MuurArthos beschloß, den Boden der Halle zu scheuern. Der Doppelköpfige holte einen Eimer und hakte ihn an dem Seil fest, das dicht neben dem Tor am Geländer der Brücke befestigt war. Er hörte das Klatschen, mit dem der Eimer ins Wasser tauchte, beugte sich vor – und starrte voller Entsetzen in die monströse Fratze des Wesens, das aus den Fluten des Kelch-Or-Sees auftauchte.
* Honir war inzwischen schon weit von seinem Schloß entfernt. Die Windrose raste über die silbergraue Straße und erzeugte gewaltige Staubwolken. Die Burkolls waren zwar sehr fleißig, aber gegen den Flugsand kamen auch sie nicht an. Der Göttersohn genoß den Rausch der Geschwindigkeit. In Augenblicken wie diesem fühlte Honir sich als schier unüberwindlicher Held. Die Steuerung der Windrose war einfach. Honir brauchte fast nichts zu tun, um das
8 Doppelrad auf der Straße zu halten. Das gab ihm Zeit genug, um seine Umgebung zu beobachten. In regelmäßigen Abständen ragten die Gittertürme der Burkolls auf. In südlicher Richtung war das Land hügelig. Hier, nicht allzuweit vom Schloß entfernt, gab es eine ziemlich reiche Vegetation. Blühende Büsche und Kräuter bedeckten den Boden und in den Senken zwischen den Hügeln standen alte, knorrige Bäume. Die Luft war würzig und warm. Nördlich der Straße dagegen bedeckten nur zähe Steppengewächse den Boden, und meistens breitete sich das Land flach wie eine Tischplatte aus. Es war sehr still. Nachts hörte man auf der Straße der Mächtigen manchmal das Brüllen der Horden von monströsen Wesen, die das Zentrum der Ebene Kalmlech beherrschten. Honir kannte die Aufgabe, die sich den Horden der Nacht in unregelmäßigen Abständen stellte. Diese Aufgabe rechtfertigte die Existenz der Monstren, und die Herren der FESTUNG hatten noch nie die Kontrolle über die unheimlichen Bewohner der Gnitaheide aus der Hand gegeben. Aber manchmal wünschte sich der Göttersohn, daß ein gewaltiger Sturm die Horden der Nacht davontragen und für immer in das Dunkel der Zeiten stürzen möge. Rechts von ihm war eine schnelle Bewegung. Honir zuckte zusammen und streckte instinktiv die Hände nach den Kontrollen aus. Verschwommen sah er die beiden Schatten, die neben der Windrose herglitten. Hugin und Munin, die beiden Raben, waren ihm gefolgt. Beruhigt wollte er sich zurücklehnen, aber dann hörte er durch das Sausen des Windes hindurch die krächzenden Stimmen der Vögel. Als einer der Vögel fast bis auf den Erdboden herabstieß, um Honir auf sich aufmerksam zu machen, beschloß der Göttersohn, seine Fahrt zu unterbrechen. Das Verhalten der Vögel war ungewöhnlich und ließ auf wichtige Ereignisse schließen. Der Entschluß war lobenswert, kam aber zu spät.
Marianne Sydow Die Windrose prallte gegen ein Hindernis, schlingerte und schwankte, und dem Göttersohn flogen Brocken aus Stein und Holz um die Ohren. Dann gab es einen harten Ruck, und Honir flog aus dem Sitz. Er landete im harten Gras der Gnitaheide und überschlug sich, kam aber sofort wieder auf die Beine. Gleichzeitig hakte er die schwere Vars-Kugel vom Gürtel und ließ sie drohend durch die Luft schwingen. Seine blauen Augen blitzen zornig aus den Sehschlitzen des Helmes hervor, während er nach denen Ausschau hielt, die es gewagt hatten, den schlafenden Fafnir mit diesem Hindernis zu verschandeln. Niemand war in Sicht. Nur die Raben flatterten aufgeregt um die Windrose, die sich quergestellt hatte und von den Überresten der Straßensperre umgeben war. »Eines Tages werde ich euch erwischen!« versprach Honir seinen unsichtbaren Gegnern. »Die Gebeine der Yuugh-Katze wurden über ganz Pthor verstreut. Eure Knochen jedoch werde ich über so viele Welten verteilen, daß selbst der mächtigste Magier von Oth sie niemals zusammenfügen kann!« Honir lauschte einen Augenblick, aber er erhielt keine Antwort auf seine Drohung. Verdrossen bahnte er sich durch die umherliegenden Trümmer einen Weg zur Windrose. »Ihr hättet mich ruhig eher warnen können!« schrie er zu den beiden Raben hinauf, die nach Westen davonflogen.
2. Muur-Arthos war wie gelähmt vor Schreck. Seine vier Augen waren auf das Ungeheuer gerichtet. Er vermochte es nicht, den Blick abzuwenden. Das Monstrum im See war mindestens zehn Meter lang. Jetzt, da es fast ganz aufgetaucht war, sah man die Hornzacken auf seinem Rücken. Auch der kurze, kräftige Schwanz trug solche Zacken, aber diese waren dünner und an der Spitze zurückgekrümmt. Die Füße steckten noch im Wasser
Sohn der Götter und waren nur undeutlich zu erkennen. Der Kopf dagegen war Muur-Arthos nur zu nahe. Die tellergroßen, grellblauen Augen starrten den Doppelköpfigen an, als wollten sie ihn hypnotisieren. Aus den im Atemrhythmus pulsierenden Nasenlöchern drangen kleine Dampfwolken. Die Bestie beendete die Musterung ihres Opfers und riß zufrieden das Maul auf. Der Anblick der riesigen Reißzähne ließ MuurArthos aus seiner Trance erwachen. Er stieß mit beiden Mündern einen spitzen Schrei aus und rannte davon, so schnell seine kurzen Beine ihn zu tragen vermochten. Das schwere Tor knarrte und quietschte. Muur-Arthos riß mit aller Macht an den Riegeln. Der Anblick des Ungeheuers, das soeben den Kopf über das Brückengeländer steckte, verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Noch ehe das Untier den ersten Fuß auf die Brücke gesetzt hatte, war das Tor geschlossen, und die schweren Riegel und Balken krachten in ihre Halterungen. Muur-Arthos blieb keuchend stehen und lauschte. Von draußen drang das Schnaufen und Brummen der Bestie herein. Es hörte sich ganz so an, als hätte dieses Biest das Tor bereits erreicht. Einen Augenblick später krachte etwas von außen gegen die dicken Holzbohlen. Muur-Arthos warf einen Blick in die Runde. Die Wände der Halle waren voll von Waffen, aber er hatte starke Zweifel daran, daß er damit etwas gegen das Ungeheuer auszurichten vermochte. Er war lange genug Honirs Diener, um zu wissen, daß in einigen Waffen eine teuflische Magie steckte. Aber in seinen plumpen Händen würde der Zauber sich kaum entfalten, und wenn, so konnte es geschehen, daß die Wirkung sich nicht gegen die Bestie, sondern gegen den Doppelköpfigen richtete. Ein neuer Schlag ließ das Tor erzittern. Muur-Arthos wußte genau, daß sein Gegner noch lange nicht seine volle Kraft einsetzte. Wenn dieses Monstrum es darauf anlegte, so würde es ohne jegliche Schwierigkeiten das Tor vor sich herschieben und vielleicht noch
9 einen Teil der Mauern mitnehmen. Muur-Arthos gelangte zu der Überzeugung, daß in diesem Fall Flucht der bessere Teil der Tapferkeit sei. Aber wohin? Es gab keinen zweiten Ausgang – wenigstens wußte der Doppelköpfige nichts von einer solchen Hintertür. Auf den Turm? War er erst einmal oben, so saß er in der Falle. Er konnte nicht wieder hinunter, ehe das Monstrum entweder abgezogen oder von Honir besiegt worden war. Ein paar meterlange Splitter, die sich aus den Balken lösten und quer durch die Halle katapultiert wurden, regten die Entschlußfreudigkeit des Doppelköpfigen gewaltig an. In einem Tempo, das es sich selbst nicht zugetraut hätte, raste er einer steinernen Tür zu, riß sie auf und sprang ein paar Stufen hinunter. Als er sich umdrehte und die Tür hinter sich zuschob, bohrte sich die stumpfe Schnauze des Ungeheuers gerade mitten durch die gewaltigen Bohlen des Haupttors. Muur-Arthos schob in fieberhafter Eile etliche steinerne Keile in die dafür vorgesehenen Maueraussparungen und tastete sich die stockdunkle Treppe hinab. Etwas weiter unten gelangte er in eine quadratische Kammer. In den anderen drei Wänden gab es je eine Tür. Rechts lagen die Vorratsräume, und an deren Ende gab es einen großen Weinkeller, in dem der Doppelköpfige sich gut auskannte. Geradeaus kam man in eine Reihe mittelgroßer Kellerräume, in denen einfache Werkzeuge, Metallteile, bestimmte Steine, Stoffballen, Leder und ähnliche Materialien aufbewahrt wurden. Ein Raum war als Werkstatt eingerichtet. Und die linke Tür schließlich durfte nur Honir selbst öffnen. Damit war die Entscheidung eigentlich schon gefallen. Muur-Arthos tastete sich nach rechts. Hinter der Tür fand er einen Leuchter und das übliche Glutbecken. Die Kellerräume waren zum größten Teil aus massivem Fels geschlagen. Es würde selbst dem Monstrum aus der Gnitaheide Schwierigkeiten bereiten, bis hierher vorzudringen. Und die Treppen und Gänge waren für die-
10 ses Wesen viel zu eng. Er zündete die Kerzen an und eilte weiter. Zu beiden Seiten stapelten sich Säcke mit getrocknetem Obst, Bohnen, Körnerfrüchten und Kräutern. An der Decke hingen Speckseiten, Dauerwürste, geräucherte Fleischstücke und getrocknete Fische. Nicht alles stammte aus Pthor. Der Göttersohn kannte bestimmte Wege, um sich Waren aus der Außenwelt zu verschaffen, sobald Pthor irgendwo anhielt. Für Muur-Arthos war dies ein Grund mehr, dem Göttersohn mit abergläubischer Scheu zu begegnen. Manchmal zweifelte er sogar daran, daß die Herren der FESTUNG mehr Macht besaßen als Honir. Endlich erreichte er den Weinkeller. Er hatte unterwegs jede Tür gewissenhaft hinter sich verschlossen. Aufatmend ließ er sich auf einen hölzernen Hocker fallen. Er lauschte – von oben drang ein dumpfes Rumpeln bis zu ihm herab. Das Biest trieb sich also immer noch im Schloß herum. Der Gedanke an die Verwüstungen, die das Ungeheuer mit Sicherheit anrichten würde, verwandelte Muur-Arthos' momentane Erleichterung in eisigen Schrecken. Honir würde ihn dafür verantwortlich machen! Er schwankte zwischen Pflichtgefühl und Angst. Schließlich siegte sein Selbsterhaltungstrieb. Es wäre glatter Selbstmord gewesen, sich dem tobenden Ungeheuer zu stellen. Außerdem hatte Muur-Arthos den Göttersohn gewarnt. Aus irgendeinem Grund war diesmal der Plan der Herren der FESTUNG wenigstens teilweise fehlgeschlagen. Die Horden der Macht waren unruhig. Mordlust und Zerstörungswut füllten das Denken der zahllosen Monstren aus. Aber der Weg durch den Wölbmantel war diesmal nicht begehbar. Muur-Arthos konnte sich recht gut in die Lage der Bestie versetzen. Auch er hatte es erlebt, daß die Mordgier ihn über den Rand der Beherrschung hinausgetrieben hatte. Trotzdem – angenehm war die Situation des Doppelköpfigen wirklich nicht. Er fürchtete sogar, Honir könnte ihn zur Strafe in die Ebene Kalmlech zurückschicken.
Marianne Sydow Tiefe Depressionen waren die Folge dieser Überlegungen. Beinahe automatisch wandte er sich dem erstbesten Weinfaß zu.
* Szaru war zutiefst empört über die Feigheit seines Opfers. Dabei sah der Fremde aus, als hätte er selbst einmal zu den Horden der Nacht gehört. Darauf wiesen schon die beiden Köpfe hin. Als das Wesen mit einem Schrei davonrannte, war Szaru zunächst nicht weiter beunruhigt. Er hatte schon seit geraumer Zeit im See gelegen und heimlich das Schloß beobachtet. Szaru hatte fast alle Hemmungen, die seine Herren ihm auferlegt hatten, abgestreift. Er hatte die Grenzen des erlaubten Gebiets überschritten und sich in die Nähe einer Götterburg gewagt. Eines jedoch wagte er noch nicht: Er kannte den Göttersohn, und er konnte nicht einmal den See verlassen, solange Honir anwesend war. Er hatte jedoch festgestellt, daß der Göttersohn nicht der einzige Bewohner des Schlosses war. Szaru war nicht sehr intelligent, und er war das Mitglied einer Horde, in der es zwar alles andere als friedlich zuging, in der er sich aber trotz allem geborgen fühlte. Der Doppelköpfige, der sich aus unbekannten Gründen im Schloß aufhielt, stammte ebenfalls aus der Horde. Szaru vermochte sich nicht vorzustellen, daß MuurArthos außerhalb der Gemeinschaft lebensfähig war. Darum nahm er an, daß er drinnen noch andere Schloßbewohner finden würde. Als Honir die Windrose bestieg, lag Szaru am Ufer des Sees unter den überhängenden Zweigen wilder Sträucher. Er sah den Göttersohn davonfahren, und die Erkenntnis, daß er jetzt endlich so richtig loslegen konnte, raubte ihm den letzten Rest von Selbstbeherrschung. Er genoß die Furcht des Doppelköpfigen und stieg bewußt langsam aus den Fluten. Inzwischen wünschte er, er hätte diesen Kerl sofort von der Brücke gerissen und zerfetzt.
Sohn der Götter Im sicheren Gefühl seiner Überlegenheit hatte er den Doppelköpfigen entkommen lassen, und nun hockte er in der Halle und sah weder den Doppelköpfigen, noch einen anderen Gegner vor sich. Szaru riß das Maul auf und brüllte wütend los. An den Wänden vibrierten die Waffen, und ein riesiger, klobiger Tisch zersplitterte unter einem ungezielten Hieb der rechten Pranke. Die Augen des drachenähnlichen Wesens glitzerten tückisch, als er in die anschließende Stille lauschte. Wenn dieses Gebrüll die Gegner nicht zu einer Reaktion veranlaßte … Es blieb ruhig. Szaru brüllte abermals, und diesmal durchdrang der urweltliche Schrei das gesamte Schloß. Hugin und Munin, die sich gerade auf den Zinnen niedergelassen hatten, rasten wie vom Satan verfolgt davon – und diesem schreckerfüllten Blitzstart war es zu verdanken, daß sie sogar die schnelle Windrose noch einholten, bevor das Doppelrad in die Sperre krachte. Inzwischen hatte Szaru begriffen, daß die Gegner nur mit Gewalt zu einem Kampf gezwungen werden konnten. Mühevoll zwängte er sich die Treppe hinauf. Oben gab es Türen. Sie waren nicht verriegelt, und öffneten sich ausnahmslos nach innen. Szaru drückte eine Tür nach der anderen auf, schob seinen schuppigen Kopf in den Raum und untersuchte jene Winkel, die er nicht direkt sehen konnte, mit seiner langen, gespaltenen Zunge. Als er rund um die Galerie gekrochen war, fehlten im Geländer neun Zehntel der kunstvoll aus rotgemasertem Gestein gearbeiteten Stützen. Szaru hatte sie – ohne es eigentlich zu merken – mit seinem Schwanz in die Tiefe geschleudert, wo sie in tausend Stücke zerbarsten. Die verschiedenen Kammern und Zimmer, die dem Göttersohn Honir weniger zur Unterbringung von Gästen als zur Aufbewahrung seltener Beutestücke dienten, waren total verwüstet – und Szaru hatte nicht ein einziges Opfer gefunden. Dann entdeckte er die Treppe, die in den
11 Turm hinaufführte. Sie war zu eng, um ihm Platz zu bieten. Szaru beschloß, einen Trick anzuwenden, der ihm zwar wenig Spaß machte, dafür aber wirksam war. Er würgte den Inhalt einer in der Kehle sitzenden Drüse heraus, sammelte mit der Zungenspitze die harzigen Körnchen vom Boden auf und steckte sie sich in die dampfenden Nüstern. Dort bildete sich ein betäubendes Gas, das durch die sich schließenden Schleimhäute daran gehindert wurde, in Szarus Lungen einzudringen. Nach ein paar Sekunden mußte Szaru niesen. Oben im Turm klapperte die Glutpfanne, und das stinkende Gas drang bis in die letzten Ritzen vor. Szaru legte sich nieder und wartete auf den Erfolg dieser Aktion. Nach seinen bisherigen Erfahrungen konnte es nicht lange dauern, bis ihm die halb besinnungslosen Opfer wie reife Früchte vor die Füße fielen. Aber es fiel gar nichts, und Szaru wurde allmählich ernsthaft wütend. Schnaubend und schnaufend schob er sich die Treppe wieder nach unten, wobei sein Schwanz dem lädierten Geländer den Gnadenstoß versetzte. In der Halle setzte er sich nieder, um angestrengt nachzudenken. Das Ergebnis dieser geistigen Anstrengung war, daß er sich auf eine längere Wartezeit gefaßt machte. Irgendwann mußten ja wohl oder übel die Bewohner des Schlosses zurückkehren. An Honir durfte er sich nicht vergreifen – die Herren der FESTUNG hatten sich da sehr deutlich ausgedrückt. Aber wenn der Göttersohn dem armen Szaru zufällig zwischen die Zähne geraten sollte, konnte man den Drachen doch schlecht für Honirs Unachtsamkeit verantwortlich machen, nicht wahr? Und außerdem hockte in irgendeinem Versteck immer noch der Doppelköpfige … Um sich die Wartezeit zu verkürzen, angelte Szaru mit der Zungenspitze einige wohlpräparierte Felle von den Wänden und kaute darauf herum. Er konnte nicht ahnen, daß er ausgerechnet Honirs wertvollste Jagdtrophäen erwischt hatte.
*
12 Das Burkoll hatte die Absturzstelle des Zugors erreicht. Vorsichtig umkreiste es das Fahrzeug. Es kam zu dem Schluß, daß es in diesem Fall die Hilfe seiner Brüder brauchte. Der Zugor steckte so tief im Boden, daß ein einziges Burkoll die Flugschale unmöglich von der Stelle bewegen konnte. Der Gepanzerte lief bis an den Rand der Straße und schickte den Ruf los, der die anderen Burkolls alarmieren sollte. Nachdem das Burkoll dieses Problem gelöst hatte, wandte es sich dem nächsten Punkt zu. Neben dem Zugor lagen zwei Zweibeiner. Das Burkoll hatte schon früher welche gefunden, und sie waren ausnahmslos den Weg aller anderen organischen Hindernisse auf der Straße der Mächtigen gegangen. Das Burkoll hatte auch keine Lust, mit dem Beginn der Mahlzeit zu warten, bis seine Brüder eintrafen. Die Beute befand sich in seinem Revier – damit standen die besten Stücke nur ihm zu. Eine sehr lästige Angewohnheit der Zweibeiner war es, sich ein künstliches Fell überzuwerfen. Das Burkoll war daran gewähnt, methodisch vorzugehen und sich zuerst den Innereien der Beute zu widmen. Erst ganz zum Schluß kamen das Fell und die Knochen an die Reihe. Das Burkoll betrachtete es als Ehrensache, daß von einem eßbaren Hindernis absolut nichts übrigblieb. Mit den künstlichen Fellen der Zweibeiner hatte er in diesem Punkt Schwierigkeiten. Das Zeug war nicht einmal für den Magen eines Burkolls verdaulich. Beim letzten Mal hatte es schreckliches Bauchgrimmen davon bekommen. Es beschloß daher, diese Zusatzhaut nicht anzurühren. Das weiße Haar des einen Hindernisses rief in dem Gepanzerten merkwürdige Gefühle wach. Er empfand eine gewisse Scheu. Darum beschloß er, sich zuerst mit dem anderen Zweibeiner zu befassen. Und um das Problem der zweiten Haut zu lösen, würde er die Beute einfach auswickeln. Er war dabei, diesen Entschluß in die Tat umzusetzen, da hörte er hinter sich einen
Marianne Sydow wilden Schrei. Entsetzt fuhr der Gepanzerte herum. Der andere Zweibeiner schien noch nicht begriffen zu haben, daß er zum organischen Abfall gehörte und sich dementsprechend still zu verhalten hatte. Der Gepanzerte war über das unbotmäßige Verhalten seiner Beute so erstaunt, daß er den Zweibeiner nur noch anzustarren vermochte.
* Atlans letzte Erinnerung war das Bild der rasend schnell heranschießenden Straße der Mächtigen, das pfeifende Geräusch, das der abstürmende Zugor verursachte, und der heftige Ruck, mit dem er aus dem Fahrzeug geschleudert wurde. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, lag er lange Zeit wie erstarrt im Sand, unfähig, sich zu bewegen. Im ersten Augenblick dachte der Arkonide entsetzt, daß er sich durch den Sturz so schwer verletzt hatte, daß eine totale Lähmung die Folge wäre. Dann begann es in seinen Armen und Beinen zu prickeln, und er wußte, daß dieser Zustand vorübergehen würde. Vor lauter Erleichterung verlor er abermals das Bewußtsein. Das nächste Erwachen gestaltete sich wesentlich dramatischer. Atlan schlug die Augen auf, starrte den Zugor an, der wie eine abstrakte Skulptur im Boden steckte, und drehte vorsichtig den Kopf. Und da entdeckte er, daß er und Razamon Besuch bekommen hatten. Das sehr kräftig wirkende Wesen war ungefähr so groß wie eine Hyäne, trug aber kein Fell, sondern einen Panzer. Es wirkte gefährlich, und Atlan hatte sofort den Eindruck, nicht nur ein Tier vor sich zu haben. Das Panzerwesen schien über einen gewissen Schuß von Intelligenz zu verfügen. Auf seine Freßgewohnheiten hatte das bißchen Verstand aber offensichtlich keinen Einfluß. Das Biest hatte Razamon zwischen seine vier Füße geklemmt und zerrte mit seinen kräftigen Zähnen am Halsverschluß des Umhangs herum. Dabei gab es Laute von sich,
Sohn der Götter die dem Arkoniden eine Gänsehaut über den Rücken jagten. In Erwartung kommender Gaumenfreuden schmatzte und schlabberte das Panzerwesen wie eine Dogge, die von einem heftigen Schnupfen geplagt wird. Bevor Atlan noch imstande war, sich der Situation gemäß zu verhalten, riß der Stoff von Razamons Umhang. Das Panzerwesen sprang mit allen vier Füßen gleichzeitig in die Luft und stieß ein Freudengeheul aus. Dann bleckte es die Zähne und näherte sich dem armen Razamon in der durch nichts verborgenen Absicht, ihn von innen zu betrachten. Atlan raffte alle seine Kräfte zusammen und sprang mit einem wilden Schrei auf, genau in dem Augenblick, in dem das Panzerwesen Razamons Bauchdecke aufreißen wollte. Das Biest war von dem Schrei so überrascht, daß es seine Mahlzeit vorübergehend vergaß und Atlan anstarrte. Der Arkonide starrte zurück und überlegte fieberhaft, wie er die Bestie vertreiben könnte. Er besaß keine Waffe, nicht einmal ein Messer, und dieses Wesen sah außerordentlich kräftig aus. Da bemerkte er aus dem Augenwinkel ein schwaches Glitzern neben seinem rechten Fuß. Blitzschnell bückte er sich. Im Sand lag das Stück einer Kette, wie sie in dem Zugor zu finden waren. Das war jedenfalls besser als gar nichts. Der Arkonide schwang die Kette über seinem Kopf und brüllte das Panzerwesen aus vollen Kräften an. »Scher dich weg!« schrie er. »Na los, wird's bald?« Die Bestie verstand vermutlich kein Wort, aber als Atlan mit seiner Kette näherkam, zog sie sich vorsichtig ein Stück zurück. Dabei brummte sie unwillig. Atlan zerfetzte mit einem heftigen Schlag der schweren Kette einen kleinen Busch, um dem Wesen klarzumachen, daß er keineswegs hilflos war. Das Argument schien zu wirken – die Bestie zog sich noch ein Stück zurück. Sie setzte sich neben ein Grasbüschel, hob die stumpfe Schnauze zum Himmel und stieß
13 ein gedämpftes Winseln aus. Dann sah es Atlan mit seinen feuchten, dunklen Augen traurig an. »Du brauchst gar nicht den Unschuldigen zu spielen!« schrie Atlan und trat noch einen Schritt vor. »Verschwinde endlich!« Das war von dem Panzerwesen wohl doch zuviel verlangt. Es blieb sitzen. Atlan hatte Razamon inzwischen erreicht. Er wagte es, die Bestie für einen Augenblick aus den Augen zu lassen, um nach seinem Gefährten zu sehen. Razamon war bewußtlos, hatte aber fast keine äußerlich sichtbaren Wunden davongetragen. Das Panzerwesen duckte sich ein wenig, als Atlan nach Razamons Füßen griff. Der Arkonide schnellte sofort wieder hoch, ließ die Kette drohend durch die Luft sausen und tat einen wilden Sprung in die Richtung seines Gegners. Diesmal siegte die Angst über die Freßgier der Kreatur. Das Panzerwesen schoß mit einem erschrockenen Jaulen davon und blieb erst in ungefähr fünfzig Metern Entfernung stehen. Vorsichtig schielte es nach hinten und war sichtlich erleichtert, als es bemerkte, daß der Arkonide auf eine Verfolgung verzichtete. Atlan nutzte die Gelegenheit. Der Sand war weich und sauber. Er packte Razamon einfach an den Füßen und zog ihn bis unter den Zugor. Erst dann merkte er, daß ihm der Schweiß in Strömen über den Körper lief. Ihm war sehr heiß, und unter der Flugschale war die Luft stickig, wie in einem Backofen. Vorsichtig hielt er Ausschau nach dem Panzerwesen. Es saß immer noch in einiger Entfernung im Sand. Der Arkonide untersuchte Razamon behutsam. Er fand nichts, was ihm Sorgen bereitet hätte. Allerdings wußte er sehr gut, daß sein Befund fragwürdig war. Innere Verletzungen konnte er ohne jedes Hilfsmittel nicht aufspüren. Als er wieder unter der Flugschale hervorsah, schlich das Panzerwesen gerade wieder näher heran. Atlan bekam ein Stück Metall zwischen die Finger, das aus dem Kontrollblock des Zugors stammen mochte. Der
14 Brocken traf genau die Stirn der Bestie – Atlan stellte zufrieden fest, daß er von seiner früher erworbenen Treffsicherheit nicht viel verloren hatte. Das Panzerwesen stob heulend davon. Es blieb jedoch in der Nähe der Flugschale. Der Arkonide hörte Razamon leise stöhnen und drehte sich nach ihm um. »Was ist passiert?« fragte der Pthorer leise und richtete sich mühsam auf. »Wir sind abgestürzt«, antwortete Atlan ruhig. »Und wir hatten Glück. Jetzt brauchen wir nur noch ein Mittel zu finden, uns dieses Biest da draußen vom Leibe zu halten. Es wollte dich gerade auffressen, als ich zu mir kam.« Razamon warf einen Blick auf seinen zerrissenen Umhang, dann deutete er in die Richtung einiger dürrer Sträucher. »Unser Freund hat Gesellschaft bekommen.« Atlan drehte sich um und fluchte leise vor sich hin. Die beiden Panzerwesen, die von den kahlen Zweigen kaum verdeckt wurden, sahen sich so ähnlich wie eineiige Zwillinge. Mit unverhohlener Gier starrten sie zu den beiden Männern hinüber. »Die scheinen uns für eine Delikatesse zu halten«, murmelte er ratlos. »Kennst du diese Wesen?« »Nein. Aber sie sehen gefährlich aus. Hoffentlich sind nicht noch mehr Gäste zu diesem Festbankett geladen.« »Sie werden sich einen Teil ihrer Zähne an uns ausbeißen«, versicherte Atlan grimmig. »So leicht kriegen sie uns nicht. Sag mir Bescheid, wenn sie sich rühren.« Während Razamon Wache hielt, suchte der Arkonide jeden Brocken Metall zusammen. Mehrere Ketten hatten sich gelockert – sie gaben gefährliche Waffen ab. Trotzdem war es mehr als fraglich, ob die beiden Männer sich gegen die kräftigen, gepanzerten Wesen wirksam zur Wehr setzen konnten. Atlan wußte das. Er wußte auch, daß die Zeit gegen sie arbeitete. »Da kommt noch jemand«, sagte Razamon leise und deutete nach Westen. Eine
Marianne Sydow sich rasch vergrößernde Staubwolke erhob sich dort.
3. Honir starrte den davonfliegenden Raben nach und überlegte, weshalb sie ihm wirklich nachgeeilt waren. Wollten sie ihn nur vor der Straßensperre warnen? Er hatte den Eindruck, als hätten die Vögel ihm eine Nachricht überbringen wollen. Durch seine heftige Reaktion hatte er sie verjagt. Der Göttersohn zuckte die Schultern und untersuchte die Windrose. Erleichtert stellte er fest, daß das Doppelrad heil geblieben war. Das Fahrzeug war unersetzlich. Honir hatte die Windrose und seine Rüstung von den Technos bekommen – vor so langer Zeit, daß er sich kaum noch daran erinnerte. Inzwischen waren seine Kontakte zu den anderen Bewohnern von Pthor fast restlos abgerissen. Honir kümmerte sich ausschließlich um seinen Abschnitt dieser rätselhaften Straße. Er räumte die Trümmer aus dem Weg. Nichts durfte auf dem schlafenden Fafnir liegen bleiben. Während er die Überreste der Sperre beseitigte, dachte Honir darüber nach, wer diese Barrikaden errichten mochte. Immer wieder stieß er auf solche Fallen, aber die Erbauer blieben unsichtbar, als wären sie körperlose Geister. Endlich hatte er die Trümmer neben der Straße aufgeschichtet. Eines der Burkolls würde den Rest der Arbeit erledigen. Honir schob die Windrose zurecht und schwang sich in das innere Rad. Diesmal fuhr er vorsichtiger und langsamer. An einer Stelle sah er die Bestandteile einer zweiten Sperre, die jedoch bereits von einem Burkoll demontiert worden war. Und etwas später entdeckte er den abgestürzten Zugor. Er bremste die Windrose ab, lenkte sie behutsam von der Straße herunter und hielt an. Erst dann entdeckte er die beiden Burkolls. Unwillig gab er den Gepanzerten einen Wink, sich zu entfernen. Die Burkolls starr-
Sohn der Götter ten ihn an, zeigten ihre Zähne und blieben sitzen. »Was soll das?« fragte Honir verwundert. »Ihr habt zu gehorchen! Das hier ist meine Sache. Für euch gibt es ohnehin genug zu tun!« Die Gepanzerten duckten sich, als wollten sie den Göttersohn anspringen. Sie knurrten drohend. Honir war erstaunt über das Verhalten dieser Wesen. Zwischen ihm und den Burkolls gab es ein stillschweigendes Abkommen. Die Gepanzerten waren die einzigen Lebewesen, die der Göttersohn auf die Dauer in unmittelbarer Nähe des schlafenden Fafnirs duldete. Er ließ sie in Ruhe, und dafür nahmen sie ihm einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Arbeit ab. Das alles hatte sich fast von selbst so ergeben. Honir hatte niemals einen Grund gehabt, sich näher mit den Burkolls zu beschäftigen. Und sie hatten ihrerseits nie versucht, sich dem Göttersohn zu widersetzen. Gab es in dem Zugor etwas, was für die Burkolls so wichtig war, daß sie selbst den Waffenstillstand zwischen ihnen und Honir aufs Spiel setzten? Der Göttersohn warf einen Blick in die Richtung des Wracks. Er sah nichts Ungewöhnliches. Dafür hatte er eines der Burkolls direkt vor sich, als er sich wieder den Gepanzerten zuwendete. Die Bestie setzte gerade zum Sprung an. Natürlich war dieser Angriff lächerlich. Selbst wenn es dem Burkoll gelungen wäre, Honir schon im ersten Anlauf zu Boden zu reißen, hätte es über den Ausgang dieses Kampfes keinen Zweifel gegeben. Die Rüstung und der Helm schützten den Göttersohn vor den Zähnen und Krallen der Aasfresser, und mit einem Schlag der VarsKugel konnte Honir die Schädel der Burkolls mühelos zertrümmern. Aber er wollte die sonst so nützlichen Wesen gar nicht töten. Das angreifende Panzerwesen heulte enttäuscht auf, als Honir unerwartet schnell zur Seite auswich. Der Sprung ging ins Leere, und das Burkoll, das sich nicht schnell ge-
15 nug abfangen konnte, überschlug sich in der Luft. Sein Artgenosse wollte ihm zu Hilfe eilen, aber der Göttersohn trat ihm in den Weg. Das Burkoll prallte erschrocken zurück, als es die durch die Luft schwingende Kugel sah. Das andere Panzerwesen hatte sich inzwischen aufgerappelt. Honir sah das kurze Aufblitzen in den dunklen Augen der vor ihm stehenden Bestie. Blitzschnell duckte er sich und warf sich gleichzeitig zur Seite. Das Burkoll, das ihn von hinten hatte anfallen wollen, landete auf seinem Bruder. »Habt ihr den Verstand verloren?« brüllte der Göttersohn die beiden Burkolls an, die für einen Augenblick wie betäubt liegenblieben. »Schert euch weg, sonst wird es euch schlecht ergehen! Bis jetzt habe ich euch geschont, aber ich könnte es mir anders überlegen!« Dazu schwang er drohend die Vars-Kugel. Die Burkolls starrten ihn an. Sie schwankten noch zwischen Gier und Angst, aber als Honir mit einem genau berechneten Schwung die schwere Kampfkugel über ihre Köpfe sausen ließ, warfen sie sich heulend herum und hetzten davon. Der Göttersohn sah ihnen nach und lachte laut auf. Dann hakte er die Kugel wieder am Gürtel fest und ging langsam zu dem Zugor hinüber. Es war nicht der erste Absturz in diesem Gebiet. Honir hatte jeden Zugor sorgfältig untersucht, auch jene, die die Burkolls bereits aus dem Bannfeld der Straße entfernt hatten. Niemals hatte er einen Überlebenden gefunden. Aus irgendeinem Grund rührten die Panzerwesen die Leichen der Technos am Absturzort nicht an. Honir hatte die Toten neben ihren Fahrzeugen in der Steppe begraben. Er liebte diese Arbeit keineswegs, aber noch unangenehmer wäre es ihm gewesen, später auf die mehr oder weniger unappetitlichen Überreste der Toten zu stoßen. Als er sich bückte, um unter den schräg stehenden Zugor zu schauen rechnete er mit so ziemlich allem, aber nicht damit, zwei sehr lebendige Bruchpiloten vorzufinden. Er war starr vor Staunen, als er die beiden Männer sah. Sie blickten ihn feindlich an.
16
Marianne Sydow
Neben ihnen lagen Metallbrocken und kurze Ketten. Sie machten durchaus den Eindruck, als wollten sie sich nach besten Kräften gegen ihn wehren. Also hatten Hugin und Munin doch die Wahrheit gesagt. Honir hatte nicht daran glauben wollen, daß die beiden Fremden noch lebten. Jetzt sah er es mit eigenen Augen, und er begriff nun auch, warum die beiden Raben ihn benachrichtigt hatten. Er starrte den Mann mit den weißen Haaren fassungslos an.
* Atlan und Razamon hatten den Fremden keine Sekunde aus den Augen gelassen. Allein das Fahrzeug dieses Mannes war sehenswert, aber noch phantastischer wirkte der Fremde selbst. »Kennst du den?« fragte Atlan leise. Razamon schüttelte nur den Kopf. Der Fremde war groß und massig – jedenfalls mußte man diesen Eindruck gewinnen. Von dem Mann selbst sah man fast nichts, denn er wurde von Kopf bis zu Fuß von einer äußerst malerischen Rüstung eingehüllt. Diese Rüstung bestand aus hartem, braunem Leder und eingearbeiteten Bändern aus hellblauem Metall. Auch die Aufsätze auf Brust und Schultern glänzten blau. Die Hände steckten in Stülphandschuhen und Metallbesätzen. Der Kopf verschwand völlig unter einem Helm aus demselben blauen Metall. Zwei flügelähnliche Fortsätze erinnerten Atlan an die Kopfbedeckung der Wikinger. Über dem schmalen Augenschlitz war ein großer Rubin von ungewöhnlicher Farbintensität und Strahlungskraft eingelassen, und aus dem Nackenbund der Rüstung fiel ein breiter, blutroter Schulterumhang bis zu den Knien des Fremden hinab. Gespannt verfolgten die beiden Männer die Auseinandersetzung des Fremden mit den beiden Panzerwesen. Der Mann schien die Bestien gut zu kennen. Er forderte Gehorsam von ihnen, aber damit erreichte er nichts. Atlan war erstaunt über die Leicht-
fertigkeit, mit der der Fremde sich auf einen Kampf mit diesen Gegnern einließ. Es stellte sich allerdings schnell heraus, daß der Fremde den Gepanzerten weit überlegen war. Er bewegte sich trotz der schweren Rüstung blitzschnell und geschmeidig, und er verstand mit seiner Waffe umzugehen, einer schweren Kugel, die wie ein Morgenstern ohne Stacheln aussah. Die Kette, an der diese Kugel hing, war knapp einen halben Meter lang. Sie und der Griff bestanden ebenfalls aus dem seltsamen blauen Metall, während die Kugel grauschwarz war. Der Fremde schwang diese Kugel mit spielerischer Leichtigkeit. Er mußte über erstaunliche Kräfte verfügen. Wenig später flohen die Gepanzerten in heillosem Schrecken, und der Fremde wandte sich dem Zugor zu. »Vielleicht will es uns helfen«, vermutete der Arkonide. »Ich habe fast alles vergessen, was ich einmal über Pthor wußte«, flüsterte Razamon zurück. »Aber an eines erinnere ich mich doch: Die Möglichkeit, hier Freunde oder Hilfe zu finden, ist sehr gering.« Sie hofften, daß die Lichtfülle über der sommerlichen Steppe es dem Fremden erschweren würde, die beiden Männer im tiefen Schatten unter der Flugschale zu erkennen. Dabei waren sie sich völlig darüber im klaren, daß sie gegen den Mann in der Rüstung nur eine geringe Chance hatten. Immerhin verfügte jedoch Razamon ebenfalls über fast unglaubliche Kräfte, und Atlan würde – falls der Fremde überhaupt angriff – dessen rätselhaftes Fahrzeug besetzen. Dieses Gefährt war hoffentlich wertvoll genug, um den Unbekannten damit zu erpressen. Als der Fremde den Zugor erreichte, waren die beiden Männer kampfbereit. In den Händen hielten sie schwere Metallbrocken und Kettenstücke. Beim ersten Anzeichen beginnender Feindseligkeiten sollte Razamon sich auf den Fremden stürzen, damit Atlan Zeit und Gelegenheit bekam, sich mit dem Fahrzeug zu befassen. Der Mann in der Rüstung blieb regungs-
Sohn der Götter los stehen, als er die beiden Männer entdeckte. Nach einer Weile, in der sie sich gegenseitig angestarrt hatten, wurde Atlan unruhig. Zwar griff der Fremde nicht zu seiner seltsamen Waffe, aber er wirkte in seiner Rüstung auch so drohend genug. Hinzu kam, daß man sein Gesicht nicht sehen konnte. »Ihr seid keine Technos«, sagte der Fremde endlich. Seine Stimme klang ungewöhnlich dumpf. »Warum versteckt ihr euch? Die Burkolls werden nicht so schnell zurückkehren.« Das hörte sich nicht danach an, als wollte der Fremde ihnen auf der Stelle den Schädel zertrümmern. Atlan gab Razamon ein unauffälliges Zeichen und ließ seine schwere Metallkette fallen. Langsam ging er auf den Fremden zu. Der Mann mit der Rüstung trat höflich zur Seite und gab dem Arkoniden damit den Weg frei. Auch Razamon verließ das Versteck unter dem Zugor. »Wer bist du?« fragte Atlan und starrte auf den Augenschlitz des Helmes. Der Fremde hatte strahlend blauen Augen, und seine Blicke wirkten auf unbestimmbare Weise einschüchternd. Der Arkonide hatte das Gefühl, einen überaus mächtigen Mann vor sich zu haben, jemanden, der in seine Machtposition hineingeboren worden war. Die Blicke des Fremden erinnerten Atlan an die Mitglieder des Hochadels von Arkon. »Ich bin Honir«, antwortete der Fremde nach einem kurzen Zögern. Er schien erstaunt darüber zu sein, daß Atlan seinen Namen nicht sofort erraten hatte. Der Arkonide stellte Razamon vor und nannte auch seinen eigenen Namen. »Atlan?« fragte Honir verwundert. »Ich habe nie von dir gehört. Welcher Abschnitt des schlafenden Fafnirs steht unter deinem Schutz?« »Wer ist der schlafende Fafnir?« fragte Atlan verblüfft zurück. »Die Straße der Mächtigen«, erklärte Honir und zeigte in die Richtung seines Fahrzeugs. »Merkwürdig, das müßtest du doch wissen. Ich nahm an, daß alle Göttersöhne dieses Geheimnis kennen.«
17 Das also war es! Der Mann in der Rüstung hielt Atlan für den Abkömmling irgendwelcher Götter. Es war nicht das erstemal, daß Bewohner von Pthor den Arkoniden mit den geheimnisvollen Göttersöhnen in Verbindung brachten. Die Art und Weise, in der Honir sich ausdrückte, brachte Atlan auf den Verdacht, der Mann in der Rüstung könnte sich selbst für ein solches übergeordnetes Wesen halten. Wenn aber Honir zu den sogenannten Göttersöhnen gehörte, sollte man doch annehmen, daß er seine Verwandten gut genug kannte, um sie nicht mit Fremden zu verwechseln! »Es tut mir leid, wenn ich dich jetzt enttäuschen muß«, sagte Atlan vorsichtig. »Aber ich bin kein Göttersohn. Ich weiß auch so gut wie nichts über den schlafenden Fafnir und dieses ganze rätselhafte Land. Ich komme von draußen, von der Erde, auf der diese Insel plötzlich auftauchte.« »Es ist dir gelungen, den Wölbmantel zu durchdringen?« »Ja. Das Erscheinen dieser Insel, die in unserer Sprache Atlantis genannt wird, hätte fast zu einer riesigen Katastrophe auf unserem Planeten geführt. Da lag es nahe, sich an Ort und Stelle umzusehen, um weitere Gefahren in Zukunft ausschalten zu können.« »Weißt du eigentlich, wovon du gerade gesprochen hast?« fragte Honir ungläubig. »Nicht einmal wir Göttersöhne kennen die letzten Geheimnisse von Pthor. Nur die Herren der FESTUNG sind informiert – und die sind selbst für uns Unsterbliche unerreichbar.« »Du bist unsterblich?« fragte Atlan überrascht. »Selbstverständlich. Alle Göttersöhne sind es.« »Aber Gewalt kann dich töten?« Honir nickte bestätigend, und Atlan dachte an das eiförmige Gerät, das jetzt unter seiner Haut saß. Eine Unzahl von wilden Vermutungen stieg in ihm auf. Gewaltsam konzentrierte er sich auf dieses Gespräch, das eine beinahe unwirkliche Wende genommen
18 hatte. Die Gelegenheit war günstig – auch wenn Honir behauptete, nicht viel zu wissen, so hatte er doch offensichtlich wichtige Informationen. »Nimm mir meine Unwissenheit bitte nicht übel«, sagte Atlan. »In meiner Heimat gibt es keine sichtbaren Götter, schon gar nicht solche mit Nachkommen. Darum finde ich das alles ziemlich verwirrend.« »Das kann ich dir nachfühlen«, antwortete Honir belustigt. »Außerdem nehme ich an, daß deine Vorstellungen von Göttern nicht mit der Realität von Pthor übereinstimmen. Wir haben nicht viel Macht, und man betet uns auch nicht an. Odin, unser Vater, hinterließ uns genau genommen nichts als Pflichten. Er teilte den schlafenden Fafnir auf, damit wir ihn bewachen.« »Das erinnert mich an eine Sage«, murmelte Atlan nachdenklich. »Man erzählte sich, daß Fafnir ein Riese sei, der die Gestalt eines Drachen annahm, um einen Schatz zu behüten. Ein Mann namens Siegfried tötete ihn, badete in seinem Blut und aß sein Herz. Dadurch wurde er beinahe unverwundbar und außerdem gewann er die Kräfte eines Riesen. Die Sage geht noch weiter, es ist eine regelrechte Gruselgeschichte mit entsetzlichen Kämpfen und unzähligen Toten.« »Daran ist eines auf jeden Fall wahr«, behauptete Honir. »Der Schatz existiert. Er liegt in der Gnitaheide, und die Horden der Nacht halten selbst den habgierigsten Mann davon ab, sich ihm zu nähern.« »Aha«, machte Atlan und dachte an die nordischen Götter und Heldensagen. Diese Geschichten waren allesamt ungeheuer grausam, und jetzt, da er wußte, welche verheerenden Auswirkungen Atlantis auf eine Kultur hatte, bot sich eine Verbindung geradezu an. Sicher war nicht alles, was in diesen Geschichten erzählt wurde, tatsächlich geschehen, aber es schien zumindest der berühmte wahre Kern darin zu stecken. Atlan spürte eine Gänsehaut auf seinem Rücken, als er sich vorstellte, welchen Scheußlichkeiten sie begegnen mochten, wenn er mit seiner Vermutung recht hatte.
Marianne Sydow »Warum hat der schlafende Fafnir es eigentlich nötig, sich bewachen zu lassen?« fragte er. »Die Frage müßte umgekehrt gestellt werden«, erklärte Honir. »Im Auftrag unseres Vaters haben wir darauf zu achten, daß der schlafende Fafnir nicht geweckt wird.« »Du bist also nicht der einzige Wächter?« »Nein. Jeder bekam einen Abschnitt zugeteilt. Mein Gebiet reicht von Zbahn bis Orxeya, den Abschnitt zwischen dieser Stadt und Wolterhaven wird von meinem Bruder Balduur bewacht. Zwischen Zbohr und Donkmon sorgt Heimdall für Ordnung, und für den Rest der Strecke, also bis nach Aghmont, ist Sigurd zuständig.« Atlan dachte an ihre Erlebnisse in Zbahn und Zbohr. »Dann bist du durch die Verbindung zu deinen Brüdern über nahezu alles informiert, was in Pthor geschieht«, stellte er fest. »Es gibt keine Verbindung«, korrigierte Honir. Er wandte sich Razamon zu. »Du kommst nicht von draußen!« Razamon zuckte die Schultern. »Deine Leute leben in der Nähe des Taambergs«, fuhr der Göttersohn fort. »Jedenfalls war es früher so, und ich denke nicht, daß sich etwas daran geändert hat. Seltsam, daß einer von euch in dieser Gegend auftaucht. Ihr gehört nicht zu den Wanderern.« Razamon antwortete nicht auf die versteckte Frage. Sie wußten noch nicht, wie weit sie Honir trauen durften. Wahrscheinlich war es besser, ihn über ihre Ziele völlig im unklaren zu lassen. Honir fand sich schnell damit ab, daß Razamon seine Geheimnisse für sich zu behalten wünschte. »Wohin wollt ihr?« fragte er. »Nach Orxeya?« »Warum nicht?« murmelte Atlan. »Wir haben kein festes Ziel.« In Wirklichkeit blieb ihnen nur dieser eine Weg. Hinter ihnen lag die Stadt, aus der sie gerade erst geflohen waren. Atlan legte keinen großen Wert darauf, so schnell wieder
Sohn der Götter
19
Kontakt mit den Technos zu bekommen. Er hatte vorerst genug von diesen merkwürdigen, androidenhaften Leuten. Im Süden lag die Große Barriere von Oth – die erste, flüchtige Bekanntschaft mit diesen Bergen und ihren Bewohnern war auch nicht gerade ermutigend. Und im Norden schließlich warteten die Horden der Nacht nur darauf, daß ihnen eine fette Beute über den Weg lief. »Ich nehme euch mit«, bot Honir an. »Mein Schloß ist nicht weit von Orxeya entfernt. Dort könnt ihr die Nacht verbringen – hier draußen ist es nachts ziemlich ungemütlich.« Atlan und Razamon tauschten vielsagende Blicke. Das Angebot des Göttersohns war ihnen nicht recht geheuer. Welche dunklen Zwecke verfolgte er mit seiner großzügigen Einladung? Andererseits hatten die beiden Männer absolut nichts bei sich, was man ihnen hätte rauben können. Der Gedanke an die Panzerwesen schließlich gab den Ausschlag. »Einverstanden«, sagte Atlan, während Razamon unter den Zugor kroch, um sein Parraxynt zu holen. Das Bruchstück schien den Göttersohn zu interessieren. Er bat Razamon, sich die Gravuren ansehen zu dürfen. »Das Stück ist größer als das in meinem Schloß«, murmelte er nach einiger Zeit. »Und wichtiger – viel wichtiger. Seine Bedeutung …« Er brach plötzlich ab, gab das Bruchstück an Razamon zurück und wandte sich ab. Atlan und der Pthorer folgten ihm, als er schweigend durch den Sand zu seinem Fahrzeug stapfte.
* Als sie die Windrose erreichten, vergaß Atlan vorerst alle anderen Fragen. Das Fahrzeug war für ihn in jeder Beziehung einmalig. Es bestand aus zwei aufrechtstehenden, konzentrischen Rädern. Das äußere hatte einen Durchmesser von etwa drei Metern
und war einen halben Meter breit. Es bestand aus schwarzem Metall, und seine Lauffläche glänzte wie poliert. Das innere Rad, das scheinbar ohne jede Verbindung zum äußeren war, durchmaß zwei Meter, war über einen Meter breit und enthielt drei mit Leder bespannte Sitze. Es schien aus purem Silber zu bestehen und war mit zahlreichen eingravierten Symbolzeichen versehen. Vor dem mittleren Sitz gab es eine Art Instrumentenbord. Honir schwang sich auf den mittleren Sitz. Atlan musterte die seltsame Konstruktion mißtrauisch, ehe er dem Göttersohn folgte. Zwischen dem äußeren und dem inneren Rad hatte er flirrende Energiewirbel entdeckt – er fragte sich, wo dieses Fahrzeug hergestellt worden war. In Pthor? Es wurde eng, denn Honir in seiner kompakten Rüstung konnte, wenn er es sich auch nur halbwegs bequem machte, mühelos alle drei Sitze gleichzeitig in Anspruch nehmen. Atlan hatte angenommen, daß Honir zumindest den unbequemen Helm abnehmen würde, wenn er sich erst in der Sicherheit seines Doppelrades befand. Aber der Göttersohn dachte gar nicht daran, sich zu demaskieren. Er tippte einige Schalter und Knöpfe an, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Das Doppelrad bewegte sich lautlos, nur der Fahrtwind rauschte und pfiff. Atlan schluckte trocken, als er sah, mit welch irrsinnigen Werten dieses komische Ding beschleunigte. Als die Windrose ihre Endgeschwindigkeit erreicht hatte, rasten sie mit ungefähr einhundertfünfzig Kilometern in der Stunde über das graue Band der Straße. »Dieses Land ist voller Wunder«, murmelte Atlan in der Hoffnung, dem Göttersohn noch ein paar Informationen zu entlocken. »Niemand weiß, woher es kam, als es auf unserem Planeten auftauchte.« »Es kam von irgendeiner anderen Welt«, antwortete Honir gleichgültig. »Pthor ist fast ständig in Bewegung. Es gleitet durch Raum und Zeit, und ab und zu hält es an.« »Dann wird es also von jemandem gesteuert?« fragte der Arkonide gespannt.
20 »Wer will das wissen? Die Welten wechseln seit ewigen Zeiten. Machmal kommt Nachricht von draußen – Leute oder Wesen wie du, aber die wenigsten Besucher überleben die ersten Tage. Ich habe die fremden Welten nicht gezählt. Für mich sind sie unwichtig. Nur manchmal gelangen Waren von draußen in den Handel auf Pthor. Meine Aufgabe ist es, den schlafenden Fafnir zu bewachen, alles andere interessiert mich nicht.« Atlan merkte, daß Honir das Gespräch nicht fortsetzen wollte und schwieg deswegen. Er dachte an die Welt jenseits des Wölbmantels. Was mochte dort alles geschehen sein? Er fragte sich immer wieder, warum keine Unterstützung für ihn eintraf. Gewiß, die Amnesie, die jeden traf, der sich der Insel näherte, war ein Hindernis. Aber es gab schließlich auch noch die Mutanten. Es war ein Risiko, sie zur Insel zu schicken. Die ungeheuere Katastrophe, die der Erde bevorstand, wenn die Schutzschirme um Atlantis brachen, rechtfertigten jedoch nach Atlans Meinung jeden nur denkbaren Versuch. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Herren der FESTUNG untätig zusahen, wie ihre schrecklichen Monstren durch die Schirme zurückgehalten wurden. Wer immer diese Herren waren – sie mußten einfach technische Mittel haben, um sich gegen derartige Verteidigungsmaßnahmen zur Wehr zu setzen. Waren sie aber auch die wirklichen Herrscher, oder stellten sie nur Werkzeuge für eine noch größere Macht dar? Wer steuerte diesen Alptraum von einer Insel durch Zeit und Raum? Und warum das alles? War Pthor wirklich nichts weiter als eine gigantische Waffe, von unbekannten, rätselhaften Mächten dazu bestimmt, blühende Zivilisation zu vernichten? Oder steckte mehr dahinter? Jede Waffe hat zwei Seiten – sie kann vernichten, aber auch helfen. Der Gedanke daran, die Aufgabe dieser Waffe umzukehren, erschien ihm als purer Wahnsinn. Er würde trotzdem suchen. Zuerst nach
Marianne Sydow den Herren der FESTUNG, wer oder was sie auch immer sein mochten. Vorerst fuhren sie genau in die entgegengesetzte Richtung, aber Atlan hatte genug erlebt, um zu wissen, daß der gerade Weg nicht immer auch besonders kurz sein mußte. »Dort ist Komyr«, sagte Honir und riß den Arkoniden aus seinen Gedanken. »Mein Schloß!« Die Windrose bog von der Straße der Mächtigen ab, rollte über eine Brücke und hielt auf einem mit riesigen Steinplatten belegten Vorhof. Komyr war ein Wasserschloß, von allen Seiten von einem düster wirkenden See eingeschlossen und nur durch diese Brücke mit dem Land verbunden. Alles an diesem Bau wirkte robust, fast titanenhaft. Das Schloß selbst war ein Rundbau aus Steinquadern. Es glich dem Tempel einer urweltlichen Gottheit. »Muur-Arthos!« schrie Honir, nachdem sie die Windrose verlassen hatten. »Wo bleibst du denn?« Ehe Atlan und Razamon begriffen, daß Honirs Diener mit dieser Frage gemeint war, ertönte aus dem Innern des Schlosses ein dumpfes Brüllen. »Das Tor sieht nicht so aus, als hätte jemand es mit dem Schlüssel geöffnet«, murmelte Razamon mißtrauisch. Wegen des Helmes ließ sich Honirs Gesichtsausdruck nicht deuten, aber Atlan kam es so vor, als sei der Göttersohn zum erstenmal seit ihrer Begegnung draußen in der Steppe beunruhigt. Als Honir den seltsamen Morgenstern vom Gürtel hakte, trat der Arkonide unauffällig einen Schritt zurück. Er war nicht feige, aber er sah auch nicht ein, weshalb er an Kämpfen teilnehmen sollte, die ihn nichts angingen. In diesem Augenblick ertönte ein Brüllen, gegen das sich das Geheul eines Nebelhorns geradezu zärtlich angehört hätte. Durch die Trümmer des Tores schob sich der Kopf eines regelrechten Drachen. Atlan trat noch einen Schritt zurück und warf einen Blick über die Schulter. Der Weg
Sohn der Götter war frei, niemand hielt sich auf der Brücke auf … Es war Razamon, der ihn aufhielt. »Zwecklos«, flüsterte er. »Das Biest ist verrückt genug, um gegen den Willen der Herren der FESTUNG einen Göttersohn anzugreifen. Glaubst du, es würde ausgerechnet uns verschonen?« »Wenn wir schnell genug laufen …« »Der da ist flinker«, versicherte Razamon. »Und er macht Hackfleisch aus uns – falls er es nicht vorzieht, uns ungekaut zu verschlucken.« Das Biest am Tor riß das Maul auf. Eine stinkende Dunstwolke trieb über den Hof. Atlan hustete und nickte grimmig. »Also gut«, stimmte er zu. »Betätigen wir uns als Drachentöter. Ich schlage vor, einer von uns opfert sich, damit die anderen ihm inzwischen die Augen auskratzen können. Oder hast du zufällig zwei Impulsstrahler?« Razamon schnitt eine Grimasse und deutete auf Honir, der seine Kampfkugel schwang und mit Todesverachtung auf das Tor zustapfte. »Zuerst müssen wir dafür sorgen, daß dieser unsterbliche Narr dem Biest nicht direkt in den Rachen spaziert«, knurrte er. Atlan gestattete sich ein flüchtiges Lächeln und nickte dem Pthorer zu. Sie rasten los und erreichten Honir gerade noch rechtzeitig. »Laßt mich los!« schrie der Göttersohn wütend. Atlan wich geschickt der Vars-Kugel aus, aber Razamon mit seinen titanenhaften Kräften brachte den Mann in der Rüstung zu Fall, warf sich über ihn und rollte mit Honir bis an den Rand der Brücke. Der Drache brüllte enttäuscht hinter ihnen her. »Immer schön langsam!« warnte Razamon, ließ Honir los und brachte sich gleichzeitig mit einem gewaltigen Satz in Sicherheit. »Mit der kleinen Kugel kann man zwar allerhand anrichten, aber ich glaube nicht, daß du das Biest damit ernsthaft verletzen wirst. Warum mit dem Kopf durch die Wand marschieren, wenn es eine Tür gibt? Sei vernünftig!« Honirs stahlblaue Augen blitzten zornig,
21 aber dann schien er doch zu begreifen, daß Razamon nicht ganz unrecht hatte. Er ließ die Vars-Kugel sinken und starrte zu dem Drachen hinüber. Die Bestie blockierte mit ihrem gewaltigen Schädel den Eingang zum Schloß. Das Ungeheuer hatte seinen Vorteil klar erkannt. Vermutlich wußte es sogar, daß Honir sein Schloß um jeden Preis zurückerobern würde. Es konnte also in aller Ruhe auf seine Beute warten. »Hast du einen besseren Plan?« fragte Honir düster. »Pläne liegen nicht wie der Sand in der Gegend herum«, konterte Razamon. Im Gegensatz zu Atlan war sich der Pthorer völlig darüber im klaren, daß es sich hier nicht etwa um eine persönliche Auseinandersetzung handelte. Der Drache gehörte zu den Horden der Nacht. Seine Mordgier war so übermächtig, daß er sich über alle Befehle hinwegsetzte. Daß er sich sogar an den Göttersohn heranwagte, wies auf eine akute Krise hin. Entweder brachten sie den Drachen um, oder sie ließen sich von ihm zerreißen. Eine dritte Möglichkeit existierte nicht. Und jeder Fluchtversuch war sinnlos. »Gibt es da drin Waffen?« fragte Razamon und deutete auf das Schloß. Honir lachte dumpf. »Jede Menge. Aber wir können sie nicht holen, ohne dem Kerl dort zwischen die Zähne zu kommen.« »Wie wäre es mit der Hintertür?« mischte Atlan sich ein. »Die gibt es doch in jedem anständigen Schloß für Lieferanten und so weiter.« »Es gab eine solche Tür«, antwortete Honir widerwillig. »Vor langer Zeit – aber das ist eine Geschichte für sich. Jedenfalls wurde diese Tür zugemauert.« »Man könnte sie aufbrechen«, meinte Razamon. »Unmöglich«, wehrte Honir ab. »Es wurden tonnenschwere Steinquader genommen, dazu ein Mörtel, der nach den Anweisungen eines Magiers gemischt wurde. Ich traute diesem Magier nicht und prüfte die Haltbar-
22
Marianne Sydow
keit des Mörtels mit der Vars-Kugel. Es gelang mir nicht, auch nur den kleinsten Splitter herauszuschlagen.« Atlan dachte sehnsüchtig an die Waffen, die sich draußen jenseits des Schutzschirms befanden. Als er und Razamon den Wölbmantel durchdrangen, hatten sie ihre ganze Ausrüstung verloren. Selbst ihre Kleidung hatte sich aufgelöst. Sie waren völlig auf die Mittel angewiesen, die sie auf der Insel fanden. »Na ja«, murmelte Razamon. »Dann bleibt uns also nur die rohe Gewalt. Wir müssen diesen Drachen beschäftigen. Ich versuche, an ihm vorbeizukommen.« »Er wird dich töten«, stellte Honir ohne bemerkbare Gemütserregung fest. »Mag sein«, erwiderte der Pthorer im gleichen Tonfall. »Wenn wir hier draußen warten, bis er die Geduld verliert, erwartet mich dasselbe Schicksal. Ehe ich mich abschlachten lasse, werde ich kämpfen.«
4. Sie hatten nicht viel Zeit, denn der Drache schnaubte immer ungeduldiger und wagte einzelne Ausfälle fast bis zum Beginn der Brücke. Er stieß wahre Wolken stinkenden Atems aus, die betäubend wirkten. Damit wollte er seine Gegner außer Gefecht setzen. Allerdings hatte er nicht auf den Wind geachtet, der genau aus der falschen Richtung kam. Der Gestank drang kaum über die Grenzen des Vorhofs hinaus. Neben dem Weg, der das Schloß mit der Straße der Mächtigen verband, lagen eine Menge Steine verschiedener Größe. Während Atlan und Razamon eine ausreichende Menge von Wurfgeschossen zusammentrugen, brach Honir am Ufer des Sees eine Anzahl von Ästen und jungen Stämmen ab. Als diese Vorbereitungen abgeschlossen waren, betrachtete Atlan die »Waffensammlung« mit sehr gemischten Gefühlen. »Ihr müßt versuchen, ihn nach links zu drängen«, sagte Razamon. »Auf der rechten Seite komme ich leichter an ihn heran. Da
gibt es wenigstens ein paar Trümmer vom Tor, die mir etwas Deckung bieten. Fangen wir an!« Er hob den ersten Stein auf, aber Honir hielt ihn zurück. »Du bist sehr mutig«, sagte der Göttersohn betont ruhig. »Aber dies ist mein Schloß und mein Kampf. Ich werde gehen.« Razamon wollte protestieren, aber Atlan warf ihm einen warnenden Blick zu. Honirs Entschluß stand fest, und er hatte sogar recht. Außerdem hatte der Göttersohn die besseren Überlebenschancen. Er trug die Rüstung, und er hatte die einzige wirkliche Waffe zur Verfügung. »Jetzt!« befahl der Göttersohn und schleuderte selbst den ersten Stein. Es war ein Volltreffer. Der Stein prallte gegen die Nüstern des Drachen, und das Ungeheuer stieß ein wildes Schmerzgeheul aus. Honir rannte nach rechts. Während Razamon und Atlan den Drachen mit Steinen bewarfen, erreichte der Göttersohn die Mauer. Es gab einige Vorsprünge, die wie halbierte Säulen aussahen. Noch boten diese Stellen dem Göttersohn eine halbwegs brauchbare Deckung, aber je näher er dem Tor kam, desto größer wurde die Gefahr, daß der Drache ihn sah. »Vorwärts!« stieß Razamon hervor, ergriff einen langen Ast und rannte auf den Drachen zu. Atlan lief hinterher und schleuderte dabei weitere Steine. Eines der Wurfgeschosse traf das rechte Auge des Drachen. Das Ungeheuer hatte bis dahin keine ernsthaften Verletzungen erlitten, aber immerhin war es gezwungen, zur Seite zu weichen und seine Betäubungsversuche einzustellen. Jetzt begriff es, daß diese im Vergleich zu ihm winzigen Feinde es ernst meinten. Als der Stein das Auge traf, richtete sich der Drache brüllend auf und schrammte mit dem Kopf über den steinernen Bogen über dem Tor. Fast gleichzeitig warf Razamon den Ast mit einer solchen Wucht gegen die Kehle der Bestie, daß die scharfen Kanten der Bruchstelle die empfindliche, feingeschuppte Haut aufrissen. Das Ungeheuer brüllte er-
Sohn der Götter neut und senkte den Kopf. »Zurück!« schrie Atlan und rettete sich selbst durch einen wahren Hechtsprung. Während er sich abrollte, sah er, daß der Drache in einem blitzschnellen Vorstoß Razamon fast erreichte. Der Pthorer rollte über den Boden. Er schien die Orientierung verloren zu haben, denn er bewegte sich auf die Bestie zu, anstatt die Flucht zu ergreifen. In rasender Eile raffte Atlan ein paar Steine auf. Er zielte auf das linke Auge des Ungeheuers, aber der Drache riß ausgerechnet in diesem Augenblick das Maul auf. Die lange, gespaltene Zunge zuckte auf den Pthorer zu, der Stein landete zwischen den Zähnen des Drachen. Ehe Atlan zu einem neuen Wurf ansetzen konnte, sprang Razamon plötzlich auf die Beine. Seine Fäuste wirbelten durch die Luft, er bekam mit jeder Hand eine Zungenspitze des Drachen zu packen und hielt sie fest. Hätte Atlan nicht mit eigenen Augen das »Stahlbad« gesehen, in dem Razamon von Zeit zu Zeit seine Berserkerkräfte austobte, so hätte er das, was jetzt geschah, für eine Halluzination gehalten. Vielleicht eine Sekunde lang stand Razamon regungslos da. Er hatte seinen Umhang verloren, und das Spiel der Muskeln auf dem Rücken und den Oberarmen zeigte, welche Kräfte er einsetzen mußte. Der Drache seinerseits schien wie gelähmt vor Schmerz. Und dann riß Razamon mit der bloßen Hand diese Zungenspitzen ab und sprang gleichzeitig aus dem Stand nach hinten, überschlug sich in der Luft und landete weit genug von dem Ungeheuer entfernt, um einem weiteren Vorstoß entgehen zu können. Der Drache blieb immer noch stehen, sein gewaltiger Kopf pendelte langsam hin und her, und die ersten Blutflecken erschienen auf dem steinernen Pflaster. Atlan starrte das Ungeheuer wie hypnotisiert an. Er achtete kaum darauf, daß in der Zwischenzeit Honir das Tor erreichte. Nur der Schwanz des Drachen bildete dort noch ein Hindernis, und damit gedachte der Göttersohn sich keine große Mühe zu machen. Atlan sah einen
23 schwachen Lichtreflex und hörte ein gräßliches Krachen und Knirschen. Razamon rannte von dem Drachen weg und riß Atlan mit sich. »Dieser Narr!« keuchte er wütend. Wieder ertönte das ohrenbetäubende Brüllen. Hinter ihnen tappte der Drache vorwärts. Seine Krallen knirschten und kratzten über die Steinplatten. Rechts und links tauchte das wuchtige Geländer der Brücke auf. »Ins Wasser!« befahl Razamon und gab dem Arkoniden einen Stoß. Atlan zögerte nicht lange, sondern tauchte mit einem Kopfsprung in den klaren See. Razamon war auf der anderen Seite über das Geländer gesprungen. Als die beiden Männer prustend auftauchten, stand der Drache am Beginn der Brücke und schwang unter wütendem Gebrüll den Kopf hin und her. Offensichtlich wußte es nicht, welchem seiner Opfer er sich zuerst widmen sollte. Und dann drehte er sich plötzlich um und schrie noch lauter. Atlan entdeckte eine schmale, sehr steile Treppe, die neben der Brücke nach oben führte. Vorsichtig kletterte er nach oben und spähte über den Rand der niedrigen Brüstung, die den Vorhof von der steilen, felsigen Böschung trennte. Honir war dabei, seinen Fehler von vorhin wieder gutzumachen. Er stand vor dem zertrümmerten Tor und hielt eine Waffe in den Händen, die einer Armbrust ähnlich sah. Atlan hörte das leise Pfeifen, mit dem die stabförmigen Geschosse auf den Drachen abgefeuert wurden. Das riesige Wesen blutete aus mehren Wunden am Hals und an den Vorderbeinen. Das Ende des Echsenschwanzes war völlig zerschmettert. Atlan entdeckte Razamon, der auf der anderen Seite der Brücke ebenfalls über die Brüstung spähte. Er gab dem Pthorer einen Wink, und Razamon nickte. Es war eine unbequeme und anstrengende Kletterei, denn aus der Böschung wurde in der Nähe des Schlosses eine senkrechte, fast fugenlose Mauer. Atlan hielt sich am Rand der Böschung fest und hangelte sich müh-
24 sam vorwärts. Sein einziger Trost bei diesem Unternehmen war, daß er schlimmstenfalls ein zweites Bad im See nahm, wenn er den Halt verlor. Als er meinte, sich weit genug von dem brüllenden Monstrum entfernt zu haben, zog er sich hoch und sah sich um. Honir stand immer noch vor dem Tor. Er schoß mit seiner Armbrust in so kurzen Abständen, daß man hätte meinen können, einen Kampfroboter vor sich zu haben. Der Drache allerdings schien sich inzwischen vom Schock der ersten Angriffe erholt zu haben. Er schüttelte unwillig den Kopf, wischte mit den Pranken durch die Luft und arbeitete sich allmählich wieder auf das Tor zu. Diese Armbrust war sicher unter normalen Umständen eine gefährliche Waffe, aber der Drache war damit wohl kaum umzubringen. Atlan wartete, bis das Untier wieder einmal mit der Pranke ein heransausendes Geschoß aus der Luft schlug. Der Drache sah in die Richtung, aus der Razamon auftauchen mußte. Der Arkonide schwang sich hastig über die Brüstung und ließ sich auf der anderen Seite fallen. Seine Rechnung ging auf. Der Gegner konzentrierte sich jetzt auf den Göttersohn und bemerkte die kurze Bewegung gar nicht. Geduckt lief Atlan auf das Schloß zu. Vor ihm sprang Razamon über die Trümmer des Tores und rannte an Honir vorbei in das Gebäude hinein. Als der Arkonide hinter sich das zornige Aufbrüllen hörte, ahnte er bereits, daß der Drache ihn nun doch entdeckt hatte. Er verzichtete auf jede Vorsicht und rannte so schnell er konnte weiter. Flüchtig sah er Razamon hinter dem Göttersohn auftauchen. Etwas blitzte in der Sonne, und Atlan schlug beinahe instinktiv einen Haken. Über seinem Kopf fauchte etwas, dann krachte wenige Meter weiter links der Schädel des Drachen auf die Steinplatten. Atlan wich blitzschnell nach der anderen Seite und entging dadurch den wild schlagenden Beinen des verwunde-
Marianne Sydow ten Ungeheuers. Als er das Tor erreichte, schleuderte Razamon den dritten Speer – und der Kampf war entschieden. Honir ließ langsam die Armbrust sinken, starrte wortlos das gewaltige Wesen an, das im Schloßhof lag, und kippte nach ein paar Sekunden zur Seite. Die Metallteile der Rüstung klirrten gegen die Mauer. Atlan warf nur einen kurzen Blick auf den sterbenden Drachen, dann beugte er sich zu Honir hinab. »Für einen Göttersohn hat er ziemlich schwache Nerven«, bemerkte Razamon spöttisch. Atlan schüttelte den Kopf und deutete auf eine Stelle der Rüstung, an der durch eine winzige Öffnung Blut sickerte. »Er ist verletzt. Komm, wir müssen ihn hineinbringen und ihn aus diesem Panzer holen. Wenn das Blut schon bis nach draußen dringt, möchte ich nicht wissen, wie es darunter aussieht.« »Du wirst es notgedrungen erfahren müssen«, murmelte Razamon. »Hoffentlich ist es kein Fehler, wenn wir ihm jetzt helfen.«
* Der Drache hatte in Honirs Schloß eine ganze Menge von Spuren hinterlassen. Der Boden der großen Halle war mit zertrümmerten Gegenständen aller Art übersät. Atlan entdeckte einen freien Platz und dirigierte Razamon dorthin. »Sieh zu, ob du irgendwo so etwas wie ein Bett findest. Verbandsmaterial wäre auch nicht schlecht«, sagte er und begann sich mit den Verschlüssen der Rüstung zu befassen. Während Razamon zuerst die Halle und dann die an die Galerie grenzenden Räume untersuchte, schälte Atlan den Göttersohn systematisch aus seinem Panzer. Die Wunde mußte ungefähr in Höhe der rechten Hüfte liegen. Er konzentrierte sich darauf, möglichst schnell diese Stelle freizulegen. Als Razamon zurückkehrte, hatte er gerade herausbekommen, wie die schweren, metalle-
Sohn der Götter nen Schnallen funktionierten. »Diese Rüstung ist der reinste Safe«, murmelte er als Antwort auf Razamons Frage, wie weit er gekommen sei. »Faß mal mit an. Diese vier Schnallen müssen gleichzeitig geöffnet werden, sonst geht's nicht.« »Verflixt!« sagte Razamon, als sie es endlich geschafft hatten. »Das sieht böse aus!« Und damit hatte er recht. Offensichtlich war Honir, als er mit der Vars-Kugel den Schwanz des Drachen zertrümmerte und damit seine Gefährten in höchste Gefahr brachte, von dem Monstrum zur Seite geschleudert worden. Dann war er mit der Hüfte gegen ein Hindernis geprallt, und dabei hatte sich einer der Metallbeschläge zum Teil gelöst. Von außen schien die Rüstung unbeschädigt, von drinnen sah man die scharfe Metallkante, die tief in das Fleisch eingedrungen war. Es war völlig unverständlich, daß Honir mit dieser Wunde über einen so langen Zeitraum fähig gewesen war, sich zu bewegen und sogar noch zu kämpfen. Immerhin verstand Atlan jetzt, warum der Göttersohn sich darauf beschränkt hatte, den Drachen mit seiner Armbrust in Schach zu halten. »Oben ist ein Bett«, sagte Razamon und reichte Atlan ein Päckchen aus zusammengerollten Stoffstreifen. »Das scheint Verbandsmaterial zu sein. Hoffentlich wirkt es auch blutstillend.« Während der Arkonide vorsichtig den Stoff der leichten Unterkleidung auseinanderzog und das weiße Zeug über den tiefen Schnitt legte, beschäftigte Razamon sich mit dem Helm, der nicht mit der Rüstung verbunden war und daher immer noch das Gesicht des Göttersohns verdeckte. Atlan bemerkte bei seiner Arbeit verwundert, daß Honir außer der Unterkleidung, die einem Schlafanzug ähnelte, noch ein Kleidungsstück trug, eine Schicht aus hautfarbenem, porösem Material. Ehe er sich über den Grund dieser schweißtreibenden Verhüllung den Kopf zerbrechen konnte, stieß Razamon einen überraschten Schrei aus. Atlan richtete sich erschrocken auf.
25 »Dieser Göttersohn ist gar keiner!« sagte Razamon fassungslos. »Das ist eine Frau!« Atlan warf einen Blick auf das Gesicht, und plötzlich wurden ihm einige Zusammenhänge klar. Da war der Helm, den Honir beharrlich aufbehalten hatte, obwohl es sicher heiß darunter war. Und dann die hautfarbene Schicht unter der Kleidung. »Darum kümmern wir uns später«, entschied er. »Wir müssen sie vor allen Dingen nach oben bringen.« Das Verbandszeug wirkte tatsächlich blutstillend. Als sie Honir – oder wie der angebliche Göttersohn auch immer heißen mochte – endlich oben auf ein breites Lager gebettet hatten und Atlan das weiße Zeug vorsichtig anhob, sah er, daß die Wundränder sich bereits zu schließen begannen. Razamon brachte ein zweites Päckchen. Dann saßen sie sich am Bett gegenüber und sahen Honir ratlos an. »Vielleicht irren wir uns«, murmelte Razamon unschlüssig. »Das Gesicht allein …« »Schau dir das an«, unterbrach Atlan ihn. »Das ist eine Körpermaske. Wozu sollte sie das Ding tragen, wenn sie niemanden damit täuschen will? Das Material ist ziemlich dick. Es reicht, um verräterische Körperformen auszugleichen und übermäßige Muskulatur vorzutäuschen.« »Wie mag sie wirklich aussehen?« »Wir werden es noch früh genug erfahren. Ich fürchte, es wird ihr einen gewaltigen Schock versetzen, wenn sie merkt, daß wir ihr Geheimnis kennen. Wenn wir sie jetzt auch noch aus diesem Zeug da schälen – nein, das möchte ich ihr wirklich nicht zumuten. Und an die Wunde kommen wir auch so heran. Es scheint die einzige Verletzung zu sein.« »Reg dich nicht auf«, wehrte Razamon ärgerlich ab. »So habe ich es nicht gemeint. Es ist doch wohl verständlich, daß ich neugierig bin. Verdammt, und diese Frau hat sich mit dem Drachen angelegt, obwohl ich ihr angeboten hatte, zuerst in das Schloß zu gehen.« »Damit hat sie dir gleichzeitig das Leben gerettet. Du hättest nämlich keine Chance
26
Marianne Sydow
gehabt.« »Das will ich ja gerade sagen!« schimpfte Razamon empört. »Weißt du noch, wie sie draußen in der Steppe ihre Kugel durch die Luft geschwenkt hat? Ich habe das Ding vorhin kurz in die Hand bekommen – ich möchte wetten, daß du dich zumindest in einem Punkt irrst. Ob Körpermaske oder nicht, die Muskeln müssen echt sein.« Atlan hörte kaum zu. Honirs Gesicht interessierte ihn. Er konnte kaum den Blick davon wenden. Es war fast das Gesicht eines jungen Mädchens, sanft geformt, von kurzem, goldblondem Haar umrahmt. Die Augen lagen weit auseinander, die Brauen darüber waren weich geschwungen. Um die Nase herum gab es ein paar Sommersprossen, und die Lippen waren voll und breit. Er versuchte sich vorzustellen, wie dieses Gesicht aussehen mochte, wenn Honir lachte. Jetzt waren die Augen geschlossen, und ein Zug von Traurigkeit lag um den Mund der jungen Frau. »Wenn du recht hast und sie ihr Geheimnis hüten will, sollten wir vielleicht lieber gehen, ehe sie aufwacht«, sagte Razamon unruhig. »Jetzt sieht sie ja ganz harmlos aus, aber wenn sie wütend wird, möchte ich ihr lieber nicht über den Weg laufen.« Atlan lächelte und setzte zu einer spöttischen Antwort an. Im selben Augenblick flog die Tür krachend gegen die Wand, und eine schrille Stimme schrie: »Heraus mit euch, ihr Mörder! Ihr werdet meiner Rache nicht entgehen, und wenn ihr euch nicht zum Kampf stellt, werdet ihr in Feigheit und Schande sterben!« Sie starrten fassungslos das Wesen an, das vor der Tür stand und ein riesiges Schwert schwenkte.
* Muur-Arthos hatte sich lange Zeit seinem Kummer hingegeben. Je mehr Wein er trank, desto fester wurde seine Überzeugung, daß dies das Ende war. Wenn Honir zurückkam und sah, wie jämmerlich sein
Diener versagt hatte, würde er ihn mit Schimpf und Schande davonjagen. Vorausgesetzt, er fand dazu noch Zeit und der Drache fraß ihn nicht vorher auf. Indem er versuchte, die Depressionen mit noch mehr Wein zu betäuben, legte MuurArthos sich einen Rausch zu, der allmählich monumentale Formen annahm. Und dann kam der Punkt, an dem die Wirkung des Alkohols sich allmählich umkehrte. Was tat er überhaupt in diesem Keller? War dies sein Platz? War das die Art und Weise, in der er Honir seine Dankbarkeit für die lange, glückliche Zeit in Komyr bewies? »Jämmerlicher Feigling!« sagte MuurArthos zu sich selbst. »Du verkriechst dich hinter den Fässern und läßt deinen Herrn in den Tod rennen. Du hast es verdient, zu den Horden der Nacht zurückgejagt zu werden, tausendmal hast du es verdient.« Er trank noch einen Schluck. »Also«, sagte er streng. »Du wirst jetzt nach oben gehen und dieses hirnlose Ungeheuer verjagen. Noch besser, du schlägst es tot. Und wenn Honir kommt, dann breitest du die Haut der Bestie vor ihm aus. Das ist deine einzige Chance. Um den Preis der Trophäe wird er die übrigen Schäden vielleicht übersehen.« Der Becher war leer. Muur-Arthos stemmte sich von seinem Hocker hoch, fiel sofort wieder zurück und kam zu der Überzeugung, daß er eine Stärkung brauchte, weil er sonst auf der Stelle zusammenbrach. Also füllte er den Becher wieder, trank ihn in einem Zug aus und probierte es noch einmal. Seine Knie waren weich wie Haferbrei und ehe sie ihn mit ihrem Gewackel abermals niederzwingen konnten, setzte er sich in Richtung Tür in Bewegung. Er hatte den Eindruck, sich durchaus normal zu bewegen. Erst als er mit der Stirn des linken Kopfes gegen den Türrahmen stieß, dämmerte es ihm. Aber MuurArthos ließ sich nicht beirren. Nach etlichen Anläufen bekam er tatsächlich die Tür auf. Leider hatte er nicht bedacht, daß sie sich nach außen öffnete, und
Sohn der Götter so fiel er hinter ihr her in den nächsten Raum. Muur-Arthos kam brabbelnd auf die Knie. Er beschloß, auf weitere Höhenflüge zu verzichten und kroch auf allen vieren weiter. Es dauerte geraume Zeit, bis er auf diese Weise die Treppe erreichte. Mühsam kroch er hinauf, und als er oben war, hörte er das Brüllen des Drachen. Er bekam einen solchen Schrecken, daß er beinahe wieder nach unten gefallen wäre. Am ganzen Körper zitternd und zu keiner gezielten Bewegung fähig, blieb er sitzen und lauschte. Erst nach einiger Zeit fiel ihm auf, daß das Gebrüll nicht aus der Halle kommen konnte, denn dazu war es zu leise. Und als er noch dabei war, diese Tatsache zu verdauen, wurde es urplötzlich still. Muur-Arthos hielt den Atem an und wartete. Undeutlich vernahm er Stimmen. In der Halle fiel klappernd ein Gegenstand um. Es gab ein Guckloch in der Tür, aber es war viel zu weit oben angebracht, als daß Muur-Arthos es hätte erreichen können. Und wenn er an den Riegeln zog, mußte man ihn in der Halle hören. Der Doppelköpfige konnte zwar die murmelnden Stimmen nicht deutlich genug auseinanderhalten, aber er war sich ziemlich sicher, daß Honir sich nicht an dem Gespräch beteiligte. Wer waren die Fremden da draußen? Was hatten sie mit dem Drachen gemacht? Schreckliche Vermutungen quälten den Doppelköpfigen. Unter den Horden der Nacht gab es genug Wesen, die – wie MuurArthos selbst – intelligent genug waren, um sprechen zu lernen. War der Drache etwa gar nicht alleine gekommen? Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis es draußen still wurde. Muur-Arthos wartete noch, dann hielt er es nicht mehr aus. Er schob die Riegel und Steinkeile zurück, drückte behutsam die Tür auf und spähte hinaus. Das erste, was er sah, war das total zerstörte Tor. Dann entdeckte er die Windrose und den toten Drachen. Nur Honir selbst konnte das Doppelrad in den Vorhof gefah-
27 ren haben. Aber wo steckte der Göttersohn? Muur-Arthos, der sich sofort sicherer und mutiger fühlte, wenn sein Herr in der Nähe war, trat in die Halle hinaus und wollte eben nach Honir rufen, da sah er die Rüstung. Schwankend eilte er darauf zu. Noch ahnte er, Honir sei nach dem Kampf mit dem Drachen vor Erschöpfung zusammengebrochen, und er war gerne bereit, die Stimmen, die er gehört hatte, als eine Täuschung abzutun. Aber dann stand er vor der Rüstung, und diese war leer. Was jedoch das Schlimmste war: auch Honirs Helm lag auf dem Boden. Muur-Arthos kannte Honirs Geheimnis nicht. Er hatte sich auch niemals den Kopf darüber zerbrochen, warum der Göttersohn stets diesen Helm trug. Das Ding war immerhin in bestimmten Situationen außerordentlich unbequem, und wenn Honir darauf bestand, es selbst beim Essen auf dem Kopf zu behalten, dann hatte er bestimmt seine Gründe dafür. Muur-Arthos akzeptierte das. Im Lauf der Zeit hatte er verschwommene Vorstellungen entwickelt, die in der Überzeugung gipfelten, daß Honir sterben müsse, sobald er den Helm einmal absetzte. Von diesem Augenblick an hatte MuurArthos nur noch einen Gedanken: Er würde Honir rächen. Sein Blick fiel auf das riesige Schwert, von dem Honir einmal gesagt hatte, daß es Zauberkräfte besäße. Muur-Arthos hatte vor jeder Art von Magie entsetzliche Angst, aber jetzt war ihm selbst das egal. Er nahm das Schwert und stapfte die Treppe hinauf.
* Das Wesen vor der Tür hatte zwei Köpfe, war nur eineinhalb Meter groß und sah abgrundtief häßlich aus. Es sprach mit beiden Mündern gleichzeitig, was zu einem unheimlich wirkenden Echoeffekt führte. Und dazu schwang es das viel zu lange Schwert so ungeschickt um sich herum, daß Atlan bereits fürchtete, es würde sich versehentlich selbst enthaupten. »Seid ihr zu feige, um zu kämpfen?«
28 schrie der Doppelköpfige herausfordernd, als die beiden Männer starr vor Staunen sitzen blieben. »Was für ein Zwerg!« murmelte Razamon. »Und der will mit uns kämpfen? Der Kerl muß lebensmüde sein!« »Dunkel bleibt mir der Sinn deiner Rede!« rief Muur-Arthos mit etwas so zu viel Pathos. »Dort liegt mein Herr, von euch ermordet, seines Helmes beraubt. Mein Leben bedeutet nichts mehr, nur die Rache ist mein Ziel!« »Ich komme mir vor wie im Theater«, stöhnte Razamon. »Aber offensichtlich meint er es ernst.« »Vorsicht!« sagte Atlan leise und hielt den Pthorer am Arm fest. »Sieh dir das Schwert an.« »Was soll damit sein?« Atlan antwortete nicht. Auf dem Knauf des Schwertes war eine silbern schimmernde Figur angebracht, deren Umrisse seltsam verschwommen wirkten. Er hatte so etwas schon einmal gesehen, vor langer Zeit. Die Erinnerungen stiegen in ihm auf, und nur mit äußerster Mühe wehrte er die Gefahr ab, die in ihm selbst lauerte. Er durfte sich nicht erinnern, nicht hier und vor allen Dingen nicht jetzt. Außerdem war es völlig unsinnig, Zusammenhänge zwischen dem Bauchaufschneider Fartuloon und dieser rätselhaften Insel zu suchen. Energisch wischte er jeden Gedanken daran beiseite – aber es gewisses Unbehagen blieb doch zurück. Muur-Arthos kam inzwischen zu dem voreiligen Schluß, daß diese Eindringlinge den Kampf scheuten. Das gab ihm neuen Mut. Er sprang in das Zimmer und holte mit dem Schwert aus, um den ersten Streich zu führen. Aber der Alkohol, der ihm im Kopf herumspukte, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Muur-Arthos sah plötzlich vier Gegner. Er entschied sich für den falschen. Das Schwert sauste durch die Luft, und Muur-Arthos flog im hohen Bogen hinterher. Dabei stieß er mit dem Handgelenk gegen die Bettkante. Er heulte vor Schmerz laut auf und ließ das Schwert fallen.
Marianne Sydow Razamon schüttelte fassungslos den Kopf, und Atlan brachte geistesgegenwärtig das Schwert in Sicherheit. Die beiden Männer waren sich stillschweigend darüber einig, daß sie nicht allzu unsanft mit dem Doppelköpfigen umgehen wollten. Er hatte sich selbst als Honirs Diener bezeichnet. Muur-Arthos erholte sich sehr schnell. Er sah Razamon dastehen und verächtlich lächeln. Das machte ihn noch wütender. Niemand hätte diesem Gnomen die Kraft zugetraut, mit der er sich vom Boden hochschnellte und dem Pthorer an die Kehle sprang. Razamon war im ersten Augenblick so verblüfft, daß er stocksteif stehenblieb. Inzwischen legte Muur-Arthos seine plumpen Finger um den Hals des Pthorers und drückte zu. Bei einem anderen hätte er damit vielleicht Erfolg gehabt, Razamon dagegen war lediglich verwundert über die Frechheit dieses Zwerges. Er bog die Arme des Doppelköpfigen mühelos zur Seite, hielt Muur-Arthos in der Luft fest und musterte den Kleinen, der wütend strampelte, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. »Ich sollte dir den Hals umdrehen«, sagte der Pthorer vorwurfsvoll. »Willst du wohl endlich stillhalten und zuhören? Was ist denn das für ein Benehmen, harmlose Fremde ohne jeden Grund mit spitzen Gegenständen zu bedrohen!« Muur-Arthos verzichtete auf eine Antwort. Er verrenkte sich fast die Wirbelsäule bei seinen Bemühungen, Razamon in die Finger zu beißen. Der Pthorer drückte ein bißchen fester zu, und der Doppelköpfige keuchte vor Schreck. Inzwischen hatte Atlan ein paar Schnüre gefunden. Muur-Arthos ahnte die Gefahr und keilte wie ein wütendes Pony nach hinten aus. Er verfehlte Atlans Kinn nur um Millimeter. »Mach das nicht noch mal!« warnte Razamon und schüttelte den Doppelköpfigen vorsichtig – Muur-Arthos allerdings empfand das so, als sollten seine Köpfe auf und davon fliegen. Benommen hing er in den Hän-
Sohn der Götter
29
den des Pthorers, und ehe er sich zu neuen Taten aufzuraffen vermochte, war er rundherum verschnürt. Razamon legte sein Opfer auf den Boden und nickte freundlich. »Siehst du, jetzt bist du brav. Du solltest uns allmählich darüber aufklären, warum du uns umbringen wolltest. Wir haben dir doch gar nichts getan!« Der Doppelköpfige heulte vor hilfloser Wut laut auf. »Hör auf, ihn zu reizen«, warnte Atlan. »Sonst trifft ihn noch der Schlag.« »Irgend etwas müssen wir mit ihm machen. Wir können ihn doch nicht hier liegen lassen. Das Geheul hält man doch auf die Dauer gar nicht aus!« »Wir bringen ihn in eines der Zimmer. Wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat, wird er sicher wieder vernünftig. Der Bursche stinkt wie ein altes Weinfaß!« Muur-Arthos protestierte lautstark, aber Razamon kümmerte sich nicht um das Gezeter. Er klemmte sich den Doppelköpfigen wie ein Paket unter den Arm. Atlan blieb zurück. Er setzte sich neben das Bett und sah Honir unverwandt an. Er wartete darauf, daß die junge Frau erwachte.
5. Atlans heimliche Hoffnung erfüllte sich. Der Schnitt verheilte mit atemberaubender Geschwindigkeit, und das Gesicht des bewußtlosen »Göttersohns« bekam wieder Farbe. Dieser fast unheimlich wirkende Heilungsprozeß konnte nicht allein durch das Verbandsmaterial hervorgerufen werden. Viel wahrscheinlicher war es, daß die relative Unsterblichkeit – trotz des Fehlens eines Zellaktivators – mit einer überhöhten Regenerationsfähigkeit verbunden war. Als es hinter den unverglasten Fensteröffnungen zu dämmern begann, erwachte Honir. Razamon und Atlan beobachteten die junge Frau gespannt. Sie schlug die Augen auf und blickte lange Zeit regungslos zur Decke hinauf. Dann hob sie vorsichtig den Kopf, sah sich um und entdeckte die beiden Män-
ner. »Ihr seid hier?« fragte sie erstaunt. »Der Drache – ich dachte, er hätte euch getötet, aber jetzt erinnere ich mich. Ich war verwundet, nicht wahr?« Atlan nickte. »Einer von euch hat das Ungeheuer getötet und …« Sie brach ab und hob hastig die Hände zum Kopf. Vielleicht war ihr aufgefallen, daß ihre Stimme anders klang, nicht dumpf unter dem Helm hervor, sondern sanft und angenehm. »Der Helm!« flüsterte sie entsetzt. »Wo ist der Helm?« »Er liegt in der Halle«, sagte Razamon. »Soll ich ihn holen?« Sie starrte den Pthorer an – und im nächsten Augenblick schlug sie die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen. Razamon und Atlan sahen sich hilflos an. Damit hatten sie nicht gerechnet. Nachdem diese junge Frau den Kampf gegen den Drachen mit dem Mut eines urweltlichen Helden geführt hatte, setzte sie sich wegen dieses Helmes hin und heulte! »Wäre ich euch nur niemals begegnet!« stieß »Honir« mit tränenerstickter Stimme vor. »Seit Odins Tod habe ich mein Geheimnis gehütet, und niemand wußte, daß ich nicht Honir war, sondern Thalia, die Tochter des mächtigen Jägers. Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde! Jetzt wird bald jeder in Pthor wissen, daß in Komyr nur eine Frau herrscht. Wie soll ich den schlafenden Fafnir noch länger bewachen? Sie werden die Straße der Mächtigen mit Unrat überziehen und ihre lächerlichen Kämpfe auf ihr führen. Sie werden mich auslachen und verhöhnen. Niemand wird in Zukunft noch auf mich hören. Warum hat der verdammte Drache mich nicht umgebracht?« Atlan räusperte sich verlegen. »Das ist doch alles Unsinn!« sagte er. »Es hat sich überhaupt nichts geändert. Die Rüstung und der Helm sind vorhanden, und in ihnen bist du für alle wieder Honir, nichts weiter. Abgesehen davon – wieso ist es so
30 schlimm, daß du eine Frau bist? Wozu diese Maskerade?« »Das verstehst du nicht. Jemand wie Odin zeugt keine Töchter. Er war fest davon überzeugt, daß nur ein mächtiger Magier ihm diese Schande zugefügt hatte. Nur in den Söhnen können die Kräfte der Götter fortleben.« »Wenn das die Auffassung deiner Leute war, dann wundert es mich nicht, daß das Göttergeschlecht am Aussterben ist«, murmelte Atlan erschüttert. »So etwas ist ja schlimmer als das Mittelalter. Von der Gleichberechtigung hat man hier ganz bestimmt noch nichts gehört!« »Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst. Aber ich weiß, daß ich verloren bin.« »Es ist nicht zu fassen«, sagte Razamon. »Sie prügelt sich mit diesen gepanzerten Aasfressern herum, kämpft mit einem Drachen, schleppt eine Rüstung durch die Gegend, unter der ein normaler Mann nach fünf Minuten zusammenbrechen würde – und wegen dieses Helmes heult sie wie ein Kind, dem man seine Puppe geklaut hat. Mädchen, glaube mir eines: So schnell bricht die Welt nicht zusammen. Erstens wird niemand etwas erfahren, weil wir andere Dinge zu tun haben, als Klatsch und Tratsch in der Gegend zu verbreiten. Und zweitens bist du selbst der beste Beweis dafür, daß dein Vater und die anderen sich gewaltig im Irrtum befanden, als sie dir diesen ganzen Unfug eintrichterten.« Thalia hob überrascht den Kopf. »Odin soll sich geirrt haben? Niemals! Er wußte alles!« »Das bezweifle ich. Er kannte ja nicht einmal die einfachsten biologischen Tatsachen. Aber lassen wir das. Sprechen wir von der so überaus wichtigen Götterkraft. Du als Frau kannst sie also nicht geerbt haben? Aber warum bist du dann unsterblich? Und die Kraft, die in deinen Muskeln steckt – ich weiß zwar nicht, wie du unter dieser Körpermaske aussiehst, aber mein Freund hier meint, du hättest ganz normale weibliche Formen.«
Marianne Sydow Thalia wurde rot – man sah es selbst im immer dämmeriger werdenden Licht. »Ich halte mich wahrhaftig nicht für einen Schwächling«, fuhr Razamon fort. »Aber ich würde mich um keinen Preis auf einen Kampf mit dir einlassen.« »Wirklich nicht?« »Ich sage die Wahrheit, nichts weiter.« »Und wie ist es mit deinem Freund?« »Ich finde dieses Leben ganz angenehm«, sagte Atlan zurückhaltend. »Ich möchte mich nicht von dir zu Hackfleisch verarbeiten lassen. Nein, einen Kampf müßte ich ablehnen. Falls du mich deshalb für einen Feigling hältst, kann ich nichts daran ändern.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Atlan hatte in seinem langen Leben viele Dinge gelernt, von denen Thalia nichts ahnte. Auch Razamon hätte gegen sie keineswegs hilflos gewirkt, aber den beiden kam es darauf an, ihr über den Schock hinwegzuhelfen. Man brauchte kein Psychiater zu sein, um zu begreifen, mit welchen Komplexen diese Frau zu kämpfen hatte. Atlan dachte wieder an die alten Sagen. Odin war ihm niemals besonders geheuer gewesen. Was er von Thalia erfahren hatte, bestärkte ihn in der Überzeugung, daß dieser angeblich so weise Göttervater in Wirklichkeit ein ungehobelter Klotz mit übersteigertem Geltungsbedürfnis und schlechten Manieren war. Was war das für ein Vater, der seine Tochter einem so tiefgreifenden, psychischen Terror unterwarf, daß sie schließlich die Flucht in diese idiotische Rüstung für den einzigen Ausweg hielt? Und er hatte dem Mädchen diese Komplexe so fest eingehämmert, daß sie für immer auf ein halbwegs normales Leben verzichtete – um den Schein zu wahren! »Vielleicht habt ihr recht«, sagte Thalia leise. »Ich bin ja unsterblich – und das ist Teil dieser geheimnisvollen Kräfte. Und wenn ihr tatsächlich schweigen könntet …« »Wir können«, wurde sie von Razamon unterbrochen. »Wenn du Wert darauf legst, schwören wir es sogar.«
Sohn der Götter
31
Sie schwieg lange Zeit, dann stand sie vorsichtig auf. »Ich werde versuchen, euch das zu glauben«, murmelte sie. »Holt ihr jetzt bitte den Helm? Ich werde meinen Diener damit beauftragen, uns eine Mahlzeit herzurichten. Es reicht, daß ihr beide mich so gesehen habt.« »Wenn du mit deinem Diener den kleinen Kerl mit zwei Köpfen meinst, kannst du dir die Verkleidung sparen«, sagte Atlan. »Er hat dich gesehen. Er dachte, wir hätten dich umgebracht, und da wollte er dich rächen.« »Wo ist er?« fragte Thalia erschrocken. »Es ist ihm nichts passiert«, beruhigte Razamon sie hastig. »An Zwergen vergreife ich mich nicht. Ich habe ihn nur ein bißchen festgehalten, damit Atlan ihn fesseln konnte. Das allerdings ließ sich leider nicht vermeiden. Er hat sich wie ein Verrückter benommen.« Sie nickte nachdenklich. »Er ist treu, und er würde alles für mich tun. Was ist das für ein verrückter Tag! Bindet ihn bitte los und schickt ihn in die Küche. Er soll sich beeilen.« »Er wird uns die Augen auskratzen – oder es wenigstens versuchen –, sobald er die Hände freihat«, versicherte Atlan spöttisch. »Er glaubt uns nämlich kein Wort.« »Dann gehe ich selbst zu ihm. In der Halle sieht es ziemlich wild aus, nicht wahr? Am Ende der Galerie ist eine Kammer, von der aus man in den Turm gelangt. Die linke Wand öffnet sich, wenn man den steinernen Kerzenhalter herumdreht. Dahinter findet ihr eine andere Treppe, die zu den äußeren Wohnräumen führt. Ich hoffe, daß der Drache diese Tür übersehen hat. Macht es euch in der kleineren Halle bequem – ich komme dann nach.«
* »Puh!« machte Razamon, als sie sicher waren, daß Thalia sie nicht mehr hörte. »Da haben wir Glück gehabt. Wer hätte auch ahnen sollen, daß das arme Ding so verdrehte
Vorstellungen mit sich herumschleppt. Immerhin – wir haben das großartig hingekriegt, oder meinst du nicht? Sie hat den Schock überstanden. Ein Glück, daß sie sich fürs Weinen entschieden hat. Sie hätte uns eine Menge Schwierigkeiten bereiten können.« »Sie kann das immer noch nachholen«, erwiderte Atlan nachdenklich. »Sie ist mir zu schnell wieder ruhig geworden. Wir müssen vorsichtig sein!« Razamon zuckte gleichmütig die Schultern und öffnete die verborgene Tür. In der Eingangshalle hatten Atlan und er bis auf eine Kellertür keine weiteren Ein und Ausgänge gesehen. Dem Arkoniden war das sofort aufgefallen, denn die Halle war zwar groß, konnte aber unmöglich das ganze Gebäude ausfüllen. Jetzt sahen sie, daß die eigentlichen Wohnräume entlang den Außenmauern angeordnet waren. Im Obergeschoß gab es eine Reihe von Schlafkammern, von denen aber nur eine so aussah, als würde sie häufig benutzt. Unten entdeckten sie die »kleine« Halle, von der Thalia gesprochen hatte. Es war ein gemütlicher Raum, mit vielen Fellen an den Wänden und auf dem Boden, einem Kamin und einigen Fenstern, die mit dicken Glasscheiben versehen waren. Sie nutzten die Zeit, in der sie unbeobachtet waren, und inspizierten schnell ein paar andere Räume. Sie fanden sogar ein Bad. Die Wanne war eine in den hier massiven Felsen geschlagene Vertiefung, das Wasser kam aus dem See – am Fenster hing ein Eimer, an dessen Henkel ein Seil befestigt war. Wollte man die Wanne leeren, so brauchte man nur einen steinernen Stopfen herauszuziehen, und das Wasser floß durch ein Loch direkt in den See zurück. Sie hörten Schritte auf der Treppe und gingen hastig in die Halle zurück. »Muur-Arthos wird bald kommen«, sagte Thalia. Atlan mußte sich zwingen, sie nicht zu aufdringlich anzustarren. Sie hatte die Körpermaske abgelegt und trug jetzt ein einfaches Gewand mit einem Gürtel. Er hätte mit
32 Razamon wetten sollen – sie hatte tatsächlich eine ausgesprochene ansehnliche Figur. Sie wirkte zwar kräftig, aber keineswegs maskulin – ganz im Gegenteil. Ihre Art, sich zu bewegen, erinnerte den Arkoniden an eine große Raubkatze. Sie wirkte natürlich, völlig ungekünstelt und sehr aufregend. Übrigens schien die Faszination durchaus nicht einseitig zu sein. Sie sah oft zu Atlan hinüber, und wenn er redete, hörte sie mit größter Aufmerksamkeit zu. Muur-Arthos erschien nach einiger Zeit mit einem schweren Krug und einigen silbernen Bechern. Thalia schenkte den Wein ein, und während sie tranken, schleppte der Doppelköpfige massenweise Tablette herein, auf denen riesige Bratenstücke, Gemüse, Obst, Salate, Brot und andere Nahrungsmittel lagen. Man hätte annehmen können, daß Thalia mindestens noch zwei Dutzend ausgehungerte Gäste erwartete. Sie fanden allerdings schnell heraus, daß die junge Frau selbst in Beziehung auf das Essen fähig war, drei bis vier ausgewachsene Männer zu ersetzen. Es war unglaublich, welche Mengen Fleisch sie vertilgte, und so ganz nebenher verschwanden auch das Gemüse und das Obst. Der Weinkrug leerte sich mit beängstigender Geschwindigkeit, und der kleine Diener hatte alle Hände voll zu tun, um seine Herrin zu versorgen. Gesprochen wurde während des Essens kaum, und als Thalia satt war, reckte sie sich ungeniert. »Ich bin müde«, sagte sie. »Das war ein anstrengender Tag. Muur-Arthos wird euch eure Zimmer zeigen. Morgen früh sehen wir uns wieder.« Atlan war enttäuscht. Er hatte gehofft, Thalia in ein Gespräch verwickeln zu können, in dessen Verlauf er unauffällig eine Reihe von Informationen einholen konnte. Aber die Tochter Odins war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen – oder, genauer gesagt, sie kümmerte sich um die Meinung ihrer Gäste gar nicht erst. Als sie die Halle verlassen hatte, kam Muur-Arthos.
Marianne Sydow »Darf ich euch noch etwas bringen oder wollt ihr ebenfalls zur Ruhe gehen?« fragte er. »Du könntest uns etwas vom Leben in diesem Schloß erzählen«, schlug Razamon vor. »Und von dir natürlich. Wie kommt es, daß du hier lebst und nicht in der Ebene Kalmlech?« Der Doppelköpfige trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Über das Schloß ist nicht viel zu sagen«, murmelten seine beiden Münder. »Wir leben alleine hier. Besucher verirren sich so gut wie nie zu uns. Meine Arbeit besteht darin, für das Essen zu sorgen und Ordnung zu halten. Honir – ich meine Thalia – kümmert sich ausschließlich um die Straße der Mächtigen. Ab und zu fährt sie mit der Windrose nach Orxeya und kauft dort Vorräte ein. Manchmal tauchen fremde Händler an der Brücke auf, die Beute von fremden Welten bringen, aber sie dürfen das Schloß nicht betreten. Das ist eigentlich auch schon alles.« »Du hast meine zweite Frage noch nicht beantwortet«, bohrte Razamon hartnäckig weiter. »Du warst doch bestimmt früher bei den Horden der Nacht, nicht wahr?« Muur-Arthos sah sich ängstlich um. »Ich kann darüber nicht sprechen«, flüsterte er. »Ich würde großes Unheil heraufbeschwören.« »Wenn es so ist, sehe ich ein, daß du schweigen mußt«, gab Razamon zu. »Aber was hältst du von dem, was heute geschehen ist? Bist du überrascht darüber, daß eine Frau sich unter diesem Helm verbarg?« Auch dieses Thema war dem Kleinen unangenehm – man sah es ihm an. »Überrascht bin ich schon«, gab er zu. »Allerdings fürchte ich, daß eure unbedachte Tat schlimme Folgen haben wird. Ihr seid Fremde und konntet nicht wissen, daß niemand Honirs Helm berühren darf. Nehmt euch in acht – mehr kann ich dazu nicht sagen. Darf ich euch jetzt eure Zimmer zeigen?« Razamon sah ein, daß es sinnlos war, den Doppelköpfigen mit weiteren Fragen zu
Sohn der Götter quälen. Atlan hatte ohnehin das ungute Gefühl, daß der Pthorer in seiner Neugierde über das Ziel hinausgeschossen war. Sie sahen zu, wie der Kleine die dicken Kerzen in den Wandhaltern löschte, dann folgten sie ihm die Treppe hinauf. Er wies ihnen zwei nebeneinander liegende Schlafkammern zu, zündete die Kerzen in den Räumen an und versicherte, daß sie die ganze Nacht über brennen würden. Atlan wartete, bis der Kleine durch die getarnte Tür verschwunden war, dann zog er Razamon in eines der Zimmer. »Ich halte es für sicherer, wenn wir zusammenbleiben«, sagte er leise. »Wir haben genug Platz hier drin, und ich traue dem Frieden nicht.« »Ich glaube nicht daran, daß Thalia etwas gegen uns unternehmen wird. Wir haben ihr schließlich das Leben gerettet. Ohne unsere Hilfe hätte sie den Drachen nicht besiegt, und außerdem wäre sie glatt verblutet.« »Da bin ich mir nicht so sicher.« »Du siehst Gespenster! Was willst du eigentlich? Wir sind Gäste im Schloß einer Frau, die direkt von einem der Asen aus den alten Sagen abstammt. Und nicht von irgendeinem, sondern von Odin selbst! Wenn das kein Aufstieg ist …« »Ein bißchen Vorsicht kostet nichts«, stellte Atlan fest. »Und ich werde verdammt froh sein, wenn es sich herausstellt, daß mein Verdacht unbegründet ist. Aber gerade diese Sache mit Odin macht mich mißtrauisch. Wenn man den alten Geschichten glauben darf, dann waren die Asen ein Haufen von unberechenbaren und gewalttätigen Leuten, wobei die Frauen den Männern in nichts nachstanden. Die antiken Götter waren alle nicht besonders zartfühlend, aber die Asen schlagen jeden Rekord. Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher erinnere ich mich an diese Sagen. Komisch – Odin hatte meines Wissens acht Söhne und hier gibt es nur vier. Heimdall und Balduur gehörten dazu, nur schrieb man ihre Namen etwas anders. An einen Honir erinnere ich mich nicht, dafür hatte Odin einen Bruder
33 namens Hönir – die Ähnlichkeit dürfte nicht ganz zufällig sein. Sigurd paßt überhaupt nicht in diese Reihe. Er ist der Held einer blutigen Geschichte und mit jenem Siegfried identisch, der den Drachen Fafnir erschlug. Um die ganze Geschichte endgültig auf den Kopf zu stellen, wurde Balduur der Sage nach von seinem blinden Bruder Hödir getötet. Wo bleiben die anderen Göttersöhne, von deren Frauen und Nachkommen einmal ganz abgesehen?« »Glaubst du im Ernst daran, daß in diesen Schauermärchen auch nur ein Funken Wahrheit steckt?« »Warum nicht? Wir wissen doch, daß Atlantis die Erde schon früher besucht hat.« »Und die Unsterblichkeit der Götter? Haben deine Sagen dafür auch eine Erklärung?« »Sie aßen Äpfel«, sagte Atlan trocken. »Und zwar goldene Äpfel. Das ist natürlich die Umschreibung für etwas, was diese halben Urmenschen sich nicht erklären konnten. Auf jeden Fall war die Herkunft der Äpfel ziemlich rätselhaft. Einmal gingen sie sogar verloren. Die Asen begannen zu altern und hatten einige Mühe, ihre komischen Früchte wieder aufzutreiben.« Razamon war nachdenklich geworden. »Ich bin auf der Erde zwar auch ohne goldene Äpfel am Leben geblieben«, murmelte er, »aber merkwürdig kommt mir das auch vor. Vielleicht war das Zeug diesen angeblichen Göttern mitgegeben worden, und irgendwann wurden sie vom Nachschub abgeschnitten.« »Möglich. Aber jetzt haben wir lange genug herumspekuliert. Wir sollten uns Waffen besorgen. Drüben in der großen Halle gibt es genug davon.« »Wenn wir Pech haben, bringen wir Thalia durch eine solche Aktion überhaupt erst auf dumme Gedanken.« »Dieses Risiko nehme ich in Kauf!« knurrte Atlan und öffnete vorsichtig die Tür. Draußen brannten ein paar Kerzen. Es war niemand zu sehen. Lautlos schlichen sie bis zur Wand, öffneten die Geheimtür und tra-
34 ten endlich auf die Galerie hinaus. Hier irgendwo mußte sich Muur-Arthos aufhalten, aber der Kleine schien bereits zu schlafen. Im Gegensatz zu den hinteren Wohnräumen hatte man hier auf jede Beleuchtung verzichtet. Zwar gab es überall Leuchter mit den merkwürdigen, klobigen Kerzen, aber Muur-Arthos hatte sie nicht angezündet. Auch Atlan und Razamon hüteten sich, für Licht zu sorgen. Vorsichtig tasteten sie sich über die Galerie und dann die Treppe hinunter. Durch das offene Tor drangen das Rauschen der Bäume am See und das gelegentliche Brüllen weit entfernter Tiere herein. Als sie unten angekommen waren, erinnerte Razamon sich an die Vars-Kugel, die dicht neben der Treppe liegengeblieben war. Er tastete den Boden ab, fand jedoch nichts. Wahrscheinlich hatte der Doppelköpfige dafür gesorgt, daß Thalias Ausrüstung sich wieder an ihrem Platz befand. Der Pthorer war enttäuscht, denn er hielt die Kugel für eine verhältnismäßig gute Waffe. Atlan hatte inzwischen die Wand erreicht. Razamon folgte ihm und stellte fest, daß der Arkonide seine Wahl bereits getroffen hatte. »Zwei kurze Schwerter«, flüsterte Atlan. »Bist du einverstanden?« Razamon ertastete den Griff der Waffe und wog sie in den Händen. »Ziemlich leicht«, raunte er zurück. »Hoffentlich läßt sich etwas damit anfangen.« »Das wird nicht von den Schwertern abhängen«, gab Atlan zurück, »sondern von uns. Was ist das schon wieder?« Ein leises Singen ging durch das Schloß. Zuerst war es nur ein sich ständig wiederholender Ton, dann wurde eine Art Melodie daraus. Akkorde kamen dazu. Das ganze Gebäude war erfüllt von einer zwar nicht unangenehmen, aber irgendwie geisterhaften Musik. »Es kommt von oben!« behauptete Razamon. »Bist du sicher? Mir kommt es fast so vor, als ob die Wände selbst diese Töne erzeugen. Es hört sich zwar nicht übel an, aber
Marianne Sydow erstens werden alle anderen Geräusche davon überdeckt und zweitens frage ich mich, wie man dabei schlafen soll.« »Drittens erhebt sich die Frage, wer oder was diese Musik macht«, fügte Razamon hinzu, »und welche Absichten man damit verfolgt.« »Vielleicht kann Thalia ohne musikalische Berieselung nicht einschlafen«, murmelte Atlan und sah sich unruhig um. Es war ihm entschieden zu dunkel an diesem Ort, und jetzt durften sie sich nicht einmal mehr auf ihre Ohren verlassen. »Aber jetzt scheint es mir auch so, als ob die Quelle dieser Töne über uns ist.« »Sehen wir nach?« Der Arkonide brummte zustimmend und ging voran. Trotz der Musik, die ihre Schritte übertönte, blieben sie vorsichtig. Je höher sie auf der Treppe stiegen, desto deutlicher wurde es, daß die Töne aus jener Richtung kamen, in der sie den Zugang zum Turm wußten. Als sie die Kammer betraten, sahen sie im schwachen, rötlichen Schein einer Glutpfanne den Doppelköpfigen, der gerade den Fuß auf die erste Stufe setzte. Sie blieben wie erstarrt stehen, aber Muur-Arthos hatte sie nicht bemerkt. Er schien wie hypnotisiert zu sein. Mit den langsamen Bewegungen eines Schlafwandlers schritt er in den Turm hinein. Atlan stieß Razamon an und deutete nach oben. Der Pthorer nickte, nahm sein Schwert fester in die Hand und gab durch ein Zeichen zu verstehen, daß er die Rückendeckung übernehmen würde. Die Treppe war eng und gewunden. Die beiden Männer gingen langsam und sehr vorsichtig nach oben. Sie konnten die Schritte des Doppelköpfigen nicht hören, und in der fast vollkommenen Finsternis im Turm sahen sie auch nichts mehr von ihm. Atlan fürchtete jeden Augenblick, über den Kleinen zu stolpern. Der Aufstieg dauerte eine halbe Ewigkeit. Endlich sahen sie über sich eine quadratische Öffnung, durch die ein paar Sterne herabfunkelten. Jetzt erkannten sie ganz klar, daß die gespenstische Mu-
Sohn der Götter sik durch diese Öffnung kam. Atlan hatte es plötzlich eilig. Er wußte nicht, was ihnen bevorstand, aber er fühlte, daß ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Ohne Rücksicht auf entstehende Geräusche hastete er die letzten Stufen hinauf. Er kam genau im richtigen Augenblick. Die Gestalt des Doppelköpfigen zeichnete sich deutlich gegen den Himmel ab. MuurArthos stand auf dem Rand der Brüstung und breitete die Arme aus, als wollte er in die Nacht hinausfliegen. Mit einem langen Sprung erreichte Atlan die Brüstung. Er griff zu und erwischte die Beine des Doppelköpfigen in dem Augenblick, in dem Muur-Arthos nach vorne kippte. Der Kleine mußte den Verstand verloren haben, denn er setzte sich gegen Atlans Rettungsversuche zur Wehr. Der Arkonide hatte Mühe, den sich windenden Körper festzuhalten. Dann war endlich Razamon zur Stelle. Für ihn war es leicht, Muur-Arthos auf den sicheren Boden zu ziehen. Er hielt den Kleinen fest und deutete mit dem Kinn auf einen Gegenstand, der auf der anderen Seite des Turmes stand. »Kümmere dich um das Ding da!« sagte er hastig. »Mach schnell – der Kerl bringt sich sonst doch noch um.« Atlan lief an der Brüstung entlang und hob den schweren Gegenstand hoch. Die Klangfolge veränderte sich, die Akkorde brachen, und die Harmonie ging verloren. Der Arkonide stellte das Ding hastig auf den Boden, und sofort breitete sich wohltuende Ruhe aus. »Laß mich los«, sagte Muur-Arthos erstaunlich ruhig. »Was ist überhaupt geschehen?« »Du wolltest hinunterspringen«, erklärte Razamon gelassen. Der Doppelköpfige schnappte erschrocken nach Luft. »Die Windharfe!« flüsterte er endlich. »Sie hat mich verhext. Alle guten Geister, beschützt mich vor der dunklen Magie!« »Immer mit der Ruhe«, murmelte Atlan. »Mit Magie hat das nicht viel zu tun.«
35 Das Licht war zu schwach, um das seltsame Instrument näher zu untersuchen, aber Atlan fühlte eine Anzahl von Saiten und dünnen Membranen. Mit einer Harfe im üblichen Sinn hatte das alles wenig zu tun. Versuchsweise berührte er eine Saite – ein klagender Ton erklang, dem – ohne daß Atlan etwas dazu beigetragen hätte – ein weicher, dunkler Akkord folgte. Der Arkonide bückte sich vorsichtig und blies gegen eine Membrane. Sofort erklangen jene gespenstischen Töne, die Muur-Arthos in ihren Bann gezogen hatten. »Das Ding trägt seinen Namen zu Recht«, sagte Razamon nüchtern. »Der Wind hat es zum Singen gebracht. Eine praktische Angelegenheit. Man hat Musik im Haus und braucht sich nicht darum zu kümmern.« »Aber das ist noch nie passiert«, protestierte der Doppelköpfige. »Die Harfe steht fast immer hier oben. Honir spielt oft auf ihr. Von alleine hat sie noch nie einen Ton von sich gegeben.« Atlan hatte sich inzwischen mit den Knöpfen und Wirbeln beschäftigt. »Man kann die Membranen verstellen«, sagte er. »Und an den Membranen sitzen kleine Dornen, die die Saiten berühren. Wer sich damit auskennt und weiß, woher der Wind weht, kann das Instrument haargenau auf das einstellen, was wir gehört haben. Das ist wirklich sehr geschickt gemacht!« Minutenlang herrschte bedrücktes Schweigen. »Aber warum?« fragte Muur-Arthos schließlich leise. »Ich bin doch ihr Diener. Wenn sie mit mir unzufrieden ist, warum schickt sie mich dann nicht einfach zu den Horden der Nacht zurück? Oder galt es gar nicht mir?« »Die Falle war für dich bestimmt«, behauptete Atlan. »Wahrscheinlich hat sie diese Methode bereits ausprobiert, ohne daß du etwas davon gemerkt hast. Sie wußte, daß du auf die Musik reagieren würdest. Bei uns konnte sie da nicht so sicher sein. Ich fürchte, sie wird deshalb noch ein paar andere Überraschungen vorgesehen haben.«
36 »Ich gehe hinunter und verprügele sie!« sagte Razamon wütend. »Ich werde sie zerquetschen, und ihre Überreste werde ich …« Atlan sprang aus dem Stand in die Luft und schlug dem Pthorer den Knauf des Schwertes gegen die Schläfe. Muur-Arthos kreischte entsetzt und sprang zur Seite. Razamon brach zusammen, und Atlan nickte grimmig. »Keine Angst«, wandte er sich an den Doppelköpfigen. »Mein Freund hat einen harten Schädel. In einer halben Stunde ist er wieder munter. Hoffentlich benimmt er sich dann auch wieder normal.« Muur-Arthos verstand nicht, was Atlan meinte, und der Arkonide hatte jetzt auch kein Verlangen danach, es ihm zu erklären. Razamon hatte schon zu lange auf die Benutzung seines Stahlbades verzichten müssen, und die paar kleinen Prügeleien reichten nicht aus, um die immer wieder durchbrechende Zerstörungswut zu bekämpfen. Atlan machte sich Sorgen. Es schien tatsächlich so, als würde Thalia sich mit dem Versprechen, ihr Geheimnis zu wahren, nicht zufriedengeben. Es gab also Kampf. Abgesehen davon, daß die junge Frau ihm sympathisch war, hielt der Arkonide es auch aus ganz nüchternen Gründen für gefährlich, wenn Thalia bei diesem Kampf getötet wurde. Das Gerede von dem schlafenden Fafnir ging ihm nicht aus dem Sinn. Den Göttersöhnen war der Auftrag, diese merkwürdige Straße zu bewachen, sicher nicht ohne Grund erteilt worden. Und die Herren der FESTUNG schienen großen Wert darauf zu legen, daß Thalia und die anderen ihre Aufgabe erfüllten. Und nun kam Razamon dazwischen. Wenn Atlan den Pthorer nicht zur Vernunft brachte, würde er die nächstbeste Gelegenheit wahrnehmen, um sich gründlich auszutoben. Seine Wut richtete sich auf Thalia, und sie hatte keine Chance gegen Razamon, wenn dieser in den Rausch der Raserei geriet. »Was sollen wir tun?« fragte Muur-Arthos ängstlich. »Ich habe Angst.«
Marianne Sydow »Das vergeht«, murmelte Atlan beruhigend. »Wir werden es schon schaffen.«
6. Sie blieben auf dem Turm, bis Razamon wieder zu sich kam. Atlan stand sprungbereit, als der Pthorer sich langsam aufrichtete. Aber Razamon erwähnte den Zwischenfall mit keinem Wort. Es schien, als schämte er sich. »Gehen wir nach unten«, schlug er vor. Muur-Arthos gab jedem eine Kerze. Atlan übernahm die Spitze – Razamon ließ es kommentarlos geschehen. Im flackernden, unsicheren Licht stiegen sie bis in die Kammer hinab. Es war jetzt sehr still im Schloß. Atlan spähte in den Korridor hinter der verborgenen Tür, aber Thalia ließ sich nicht blicken. »Du kommst mit!« befahl er dem Doppelköpfigen. Leise schlichen sie an den Türen vorbei. Sie hatten die Absicht, gemeinsam in Atlans Zimmer auf den Morgen zu warten und abwechselnd Wache zu halten. Den kleinen Diener konnten sie in dieser Situation unmöglich sich selbst überlassen – er wäre Thalia hilflos ausgeliefert gewesen. Als sie die richtige Tür erreichten, atmete Atlan unwillkürlich auf. Er hatte damit gerechnet, in eine Falle zu laufen, und nun schienen diese Befürchtungen völlig überflüssig zu sein. Er streckte die Hand nach der schweren, metallenen Klinke aus – und wurde von Razamon so heftig zurückgerissen, daß er stürzte und bis an die gegenüberliegende Wand rollte. Das rettete ihm das Leben. Er hatte die Tür nur für einen Bruchteil von Sekunden berührt, aber diese hauchfeine Erschütterung hatte ausgereicht, um die Falle auszulösen. Über den Türen befanden sich dicke, steinerne Bögen, die weit aus der Wand herausragten. Dadurch entstand der Eindruck, jede Tür würde in ein eigenes Haus führen. Das »Vordach« war aber offensichtlich nicht so fest mit dem Stein verbunden, wie es aussah.
Sohn der Götter Es reichte wahrscheinlich, einen verborgenen Riegel zu verstellen, um den pompösen Wandschmuck zu lösen. Jetzt kam das ganze Stück herunter, krachte vor der Tür auf den Boden und zersprang in mehrere Stücke. Atlan wurde nicht getroffen, und Razamon hatte sich und den Doppelköpfigen ebenfalls in Sicherheit bringen können. Der Arkonide dachte an Thalia, die mit Sicherheit kam, um sich von der Wirksamkeit dieses Anschlags zu überzeugen. Er sprang auf, gab Razamon ein Zeichen und rannte in die Kammer unter dem Turm zurück. Der Pthorer hatte Muur-Arthos einfach hochgehoben, denn der Kleine kam mit seinen krummen Beinen nur langsam voran. Sie schafften es, die Tür zu schließen, bevor Thalia im Korridor erschien. »Die Küche!« flüsterte Atlan eindringlich. »Bringe uns hin – schnell!« Muur-Arthos eilte voran. Die Kerze in seiner Hand drohte zu verlöschen, aber er achtete kaum darauf. Inzwischen war auch ihm klar geworden, daß Thalia es ernst meinte. Er hüpfte mit ungeschickten Sprüngen über die herumliegenden Trümmerstücke hinweg und stieß eine Tür in der Nähe der Treppe auf. Drinnen brannten mehrere Kerzen, und es roch nach gebratenem Fleisch und Gewürzen. Atlan und Razamon schlossen die Tür und sahen sich kurz um. Muur-Arthos schien in diesem Raum nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu schlafen. Neben dem riesigen, gemauerten Herd mit den offenen Feuerstellen gab es ein Lager aus Fellen. Darüber lagen auf einem Bord verschiedene Gegenstände – bunte oder seltsam geformte Steine, eine offenbar handgeschnitzte Flöte und anderes – die der Doppelköpfige aus irgendeinem Grund aufbewahrte. Auf der einen Seite des Lagers stand eine schwere Truhe, deren Deckel auch als Tisch diente. Jetzt lagen die Reste einer Mahlzeit darauf. An den anderen Wänden hingen allerlei Geräte, die man zum Kochen und Braten brauchte, und in offenen Schränken wurden Geschirr, Vorräte und Gewürze aufbewahrt.
37 Es war fast unwahrscheinlich sauber in diesem Raum. Muur-Arthos war bereits am Herd, schob einen Kessel über das Feuer und holte hastig ein paar Teller und Becher. Das, was er von den Resten der Abendmahlzeit nicht selbst hatte essen können, war bereits auf verschiedene Platten verteilt – wahrscheinlich hoffte der Kleine, am nächsten Morgen auf diese Weise Arbeit zu sparen. Razamon und Atlan griffen schweigend mit zu. Innerhalb einer knappen Minute sah der Tisch in der Mitte des Raumes genau so aus, als hätten die beiden Männer dort schon seit einiger Zeit bei einem gemütlichen Imbiß gesessen. Als sich die Tür öffnete und Thalia die Küche betrat, knabberten Atlan und Razamon dünne, geröstete Fleischscheiben, und Muur-Arthos bereitete ein heißes Getränk zu. »Ich habe euch gesucht«, sagte Thalia. Sie ließ es sich nicht anmerken, daß sie ärgerlich oder enttäuscht war, sondern spielte ihre Rolle als besorgte Gastgeberin perfekt. »Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich dachte schon …« »Was ist denn?« fragte Atlan mit gespieltem Gleichmut. Thalia streifte den Doppelköpfigen mit einem ratlosen Blick. »Der steinerne Bogen über deiner Tür hat sich gelöst«, sagte sie und setzte sich auf einen Hocker. »Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Ich sah in dein Zimmer, aber du warst nicht da, und auch dein Freund schien verschwunden zu sein. Nur gut, daß ihr hier bei Muur-Arthos wart. Habt ihr gar nichts von dem Krach gehört?« »Nein«, antwortete Razamon mit vollem Mund. Muur-Arthos kam an den Tisch, stellte schweigend einen sauberen Becher vor Thalia hin und goß heißen Tee ein. »Euch ist also gar nichts aufgefallen?« »Absolut nichts«, bestätigte Atlan. »Auch etwas Fleisch?« Aber der Herrin von Schloß Komyr hatte es wohl den Appetit verschlagen. Sie trank
38
Marianne Sydow
den Tee und verließ die Küche, ohne noch ein Wort gesagt zu haben. Atlan und Razamon vergewisserten sich, daß Thalia in den hinteren Teil des Gebäudes zurückkehrte. Der Doppelköpfige besorgte ein paar Felle für ein zweites Lager. Atlan übernahm die erste Wache. Unruhig wartete er auf den Morgen. Wie sollte es weitergehen?
* Beim Frühstück gab sich Thalia freundlich und unbefangen. Sie erwähnte die Zwischenfälle der letzten Nacht mit keinem Wort, sprach dafür um so mehr über die viele Arbeit, die sie leisten mußte, um die Straße der Mächtigen sauberzuhalten. Dabei erwähnte sie auch ihre merkwürdigen, unsichtbaren Feinde, die immer wieder Barrikaden errichteten, um sie aufzuhalten, vielleicht sogar zu töten, und die dann doch nicht zur Stelle waren. Atlan und Razamon beschränkten sich fast ausschließlich aufs Zuhören. »Ich muß jetzt nach oben«, erklärte Thalia schließlich und gab Muur-Arthos einen Wink. »Vom Turm aus habe ich die beste Aussicht, außerdem erwarten Hugin und Munin von mir, daß ich dort oben anzutreffen bin.« Der Doppelköpfige brachte den Helm. Er wagte Thalia kaum anzuschauen. Sie setzte den Helm auf und verließ die kleine Halle. »Wir sollten die Gelegenheit nutzen und schleunigst verschwinden«, schlug Razamon vor, als sie alleine waren. »Ich traue dieser Frau nicht. Sie wird es wieder versuchen. Außerdem verlieren wir nur Zeit.« Atlan schüttelte den Kopf. »Sinnlos«, behauptete er. »Mit der Windrose kann sie uns spielend leicht einholen. Wir müssen sie davon überzeugen, daß wir Wort halten und keine Gefahr für sie darstellen. Denk doch nur an die anderen Göttersöhne.« »Sie hat keinen Kontakt zu ihnen.« »Das sagte sie, und vielleicht stimmt es sogar. Aber das hier ist eine Ausnahmesituation. Wenn wir ihr wirklich entwischen,
wird sie mit einiger Wahrscheinlichkeit ihre Brüder gegen uns aufhetzen. Sie wird dafür sorgen, daß man uns bei der erstbesten Gelegenheit umbringt.« Razamon starrte düster vor sich hin. »Wir sollten ihr den Hals umdrehen!« murmelte er wütend. »Damit wir die Rache der anderen zu spüren bekommen?« »Wie sollen die etwas vom Ende ihrer Schwester erfahren? Muur-Arthos teilt es ihnen bestimmt nicht mit.« »Nein, aber die beiden Raben sind auch noch da. Sie scheinen hier Beobachter und Kurierdienste zu leisten.« »Du hast recht, und ich gebe mich geschlagen«, seufzte der Pthorer. »Aber dann laß uns diese üble Geschichte wenigstens schnell erledigen, sonst verliere ich nämlich meinen letzten Rest von Geduld. Womit können wir sie überzeugen?« Darüber zerbrach sich Atlan schon seit geraumer Zeit den Kopf. Mit Versprechungen aller Art gab Thalia sich nicht zufrieden. »Gehen wir an die frische Luft«, schlug er vor. »Vielleicht fällt uns dann etwas ein.« Im Vorhof fanden sie Muur-Arthos, der inzwischen damit begonnen hatte, den toten Drachen auseinanderzunehmen. Mit einer kurzstieligen Axt schlug er den Panzer entlang des Rückenkamms auf. Er sah die beiden Männer kurz an, widmete sich dann aber wieder ganz seiner Arbeit. »Können wir dir helfen?« fragte Atlan. Der Doppelköpfige antwortete nicht. »Dann eben nicht«, murmelte der Arkonide. »Komm, wir wollen uns mal umsehen. Dein Umhang muß auch noch irgendwo herumliegen.« Sie fanden das plumpe Kleidungsstück in der Nähe der Brücke. Zum Glück war das Zeug sehr strapazierfähig. Ein paar kleine Risse und der aufgerissene Halsverschluß – mehr war nicht zurückgeblieben. Sie kehrten zu Muur-Arthos zurück. Der Doppelköpfige hatte den zackigen Kamm des Drachen inzwischen abgetrennt und legte ihn sorgfältig auf dem Steinboden aus.
Sohn der Götter »Wir müssen Razamons Umhang in Ordnung bringen«, sagte Atlan. »Dazu brauchen wir Nähzeug. Wo finden wir es?« Muur-Arthos starrte ihn an, wischte sich die blutbeschmierten Hände umständlich an seiner ledernen Hose ab und streckte die Hand aus. »Ich erledige das«, brummte er mit seiner seltsamen Doppelstimme. »Nachher, wenn ich mit diesem Biest fertig bin.« »Das dauert mir zu lange«, protestierte Razamon. »Du wirst vor dem Einbruch der Nacht bestimmt nicht dazu kommen, dich mit etwas anderem als diesem Drachen zu beschäftigen. Glaubst du, ich will den ganzen Tag hindurch halbnackt herumlaufen?« Muur-Arthos zuckte gleichmütig mit den Schultern, schnitt ein Stück von dem fast schwarzroten Fleisch ab und verteilte den Bissen auf seine beiden Münder. »In zwei Stunden wirst du von diesem Monstrum nichts mehr sehen«, behauptete er, warf den Umhang achtlos zur Seite und ging um die tote Bestie herum. Atlan und Razamon sahen sich schweigend an und schlenderten zum Schloß zurück. »Der Kleine gefällt mir nicht«, murmelte Razamon. »Er hat sich irgendwie verändert.« »Wahrscheinlich denkt er darüber nach, wie er uns loswerden kann«, stimmte Atlan zu. »Dieses Drachenfleisch scheint ihm ausgezeichnet zu bekommen. Sieh dir das an!« Es war ihnen vorhin schon aufgefallen, daß jemand in der Halle die frühere Ordnung wenigstens zum Teil wieder hergestellt hatte. Alles, was zerbrochen und beschädigt war, lag in ordentlichen Stapeln neben der Kellertür. Sie hatten angenommen, daß Thalia selbst diese Arbeit erledigt hatte, aber jetzt wurde ihnen klar, daß der kleine Doppelköpfige das alles getan hatte. Das rohe Fleisch schien ihm ungeheure Kräfte zu verleihen. Atlan drehte sich um und sah durch das offene Tor zu dem Drachen hinüber. Muur-Arthos hatte die Rückenhaut bereits vollständig abgezogen. Jetzt stemmte er den
39 riesigen Kadaver auf einer Seite hoch und rollte ihn herum. »Wenn er so weitermacht, kann er uns ganz schön gefährlich werden«, murmelte Razamon besorgt. »Auf jeden Fall sind wir jetzt ungestört. Thalia ist auf dem Turm, und der Kleine hat noch eine Weile zu tun.« Razamon nickte schweigend und ging auf die Treppe zu. Sie hatten die kurzen Schwerter in der Nacht heimlich in die Halle zurückgebracht. Thalia brauchte nicht zu wissen, wie mißtrauisch ihre Gäste inzwischen waren. Zwar hatte sie bestimmt schon Verdacht geschöpft, aber Atlan wollte den offenen Kampf vermeiden. Es mußte noch andere Mittel geben, um das Mißtrauen der Göttertochter zu besiegen. Rechts gab es neben der Treppe ein paar Nischen, die fast bis an die Decke reichten. Darin standen hohe Statuen, die Atlan an einige schlangenköpfige Säulen erinnerte, die er irgendwo in Mittelamerika gesehen hatte. Die Statue direkt am Fuß der Treppe erschien ihm besonders interessant. Wenn man genau hinsah, erkannte man, daß die Säule dem Körper eines hochaufgerichteten, schlanken Drachen nachempfunden war. Der aufgerissene Rachen mit den stark hervortretenden Augenwülsten war sehr sorgfältig gearbeitet, die Vorderbeine dagegen hatte man nur verschwommen angedeutet. Die Hinterbeine … Atlan bemerkte das leichte Zittern, das die tonnenschwere Statue durchlief, und sah gleichzeitig, wie die erste Treppenstufe sich unter Razamons Gewicht leicht senkte. Er stieß einen warnenden Schrei aus und warf sich nach hinten. Der Pthorer reagierte gerade noch rechtzeitig, fand aber keine Zeit mehr, gezielt aus dem Gefahrenbereich zu springen und landete unglücklicherweise auf dem Arkoniden, ehe der sich zur Seite rollen konnte. Atlan wurde von der linken Ferse des Pthorers am Knie erwischt. Er verlor vorübergehend die Besinnung. Dadurch blieb ihm wenigstens das Getöse erspart, mit dem die Drachensäule aufschlug.
40
Marianne Sydow
Razamon starrte entsetzt auf die Stelle, an der er sich ohne Atlans Warnung befunden hätte. Dann sah er sich um und rührte sich nicht vom Fleck, bis er eine Stelle entdeckte, an der sie mit einiger Sicherheit vor weiteren Überraschungen sicher waren. Er trug den Arkoniden in die Nähe des Tores. Hier gab es weder Statuen noch andere Gegenstände, die sich plötzlich selbständig machen konnten. »Willst du es immer noch auf die weiche Tour versuchen?« fragte er, als Atlan mit einem Ächzen wieder zu sich kam.
* Während Muur-Arthos den Drachen zerlegte, kreisten seine Gedanken immer wieder um Thalia und die Frage, wie er sie von seiner Treue überzeugen konnte. Er mußte ihr beweisen, daß sie sich nach wie vor auf ihn verlassen konnte. Er schnitt die riesigen Fleischstücke zurecht. Er spürte, wie seine Kräfte wuchsen. Zum erstenmal seit seiner Ankunft in diesem Schloß stand ihm die Nahrungsquelle zur Verfügung, aus der er früher die Kraft für unzählige Kämpfe gezogen hatte. Gleichzeitig erkannte er endlich den Grund für die Schwäche, die ihm oft zu schaffen machte. Warum war er nicht früher auf diese Idee gekommen? Mit Honirs Hilfe hatte er sich zwar aus seiner früheren Gedankenwelt befreit, aber seine Zugehörigkeit zu den Horden der Nacht ließ sich durch nichts rückgängig machen. Um stark zu sein, brauchte er Fleisch wie dieses – das beste Wildbret konnte eine solche Mahlzeit nicht ersetzen. Mühelos hob Muur-Arthos eine Ladung Fleisch auf seinen Rücken, an die er sich vorher gar nicht erst herangewagt hätte. In der Halle bemerkte er, daß schon wieder etwas zerstört worden war. Er gönnte den Überresten der Drachensäule nur einen kurzen Blick und stampfte in den Keller. In dem dafür bestimmten Raum hängte er die Fleischstücke auf. Einige würden als Braten dienen, andere wollte Muur-Arthos räuchern
und trocknen. Thalia brauchte bei ihrer nächsten Fahrt nach Orxeya entschieden weniger Quorks für Vorräte auszugeben. Muur-Arthos arbeitete mit unglaublicher Geschwindigkeit. Die Haut des Drachen wurde zerschnitten – die dicken Rückenteile und den Kamm konnte Thalia in Orxeya gegen andere Waren tauschen. Die dünnere Haut von Bauch und Hals dagegen konnte Muur-Arthos gut gebrauchen. Eine neue Hose hatte er sich schon lange gewünscht. Die Innereien – so weit sie eßbar waren, wollte er für die Abendmahlzeit verwenden. Die Knochen wanderten ebenfalls in den Keller. Aus ihnen konnte man so ziemlich alles herstellen, was Muur-Arthos an Küchengeräten brauchte. Die letzten Reste des riesigen Drachen landeten im See. Als er es geschafft hatte, blieb nur der Umhang liegen, den Razamon zurückgelassen hatte. Muur-Arthos hob das Kleidungsstück auf und betrachtete es nachdenklich. Die Fremden waren an allem schuld. Ihretwegen hatte Thalia das Schloß verlassen, und damit hatte das ganze Unglück angefangen. Der Drache hätte sich niemals zu einem offenen Angriff verleiten lassen, solange die Tochter Odins anwesend war. Muur-Arthos hatte plötzlich eine großartige Idee. Die Fremden mußten weg. Erstens störten sie doch nur, und zweitens waren sie eine Gefahr für seine Herrin. Konnte er ihr einen besseren Beweis für seine Treue liefern, als diese Männer zu töten? Sie vertrauten ihm, hielten ihn sogar für ihren Verbündeten. Das war gut. Sie würden nicht mit einem Angriff rechnen, wenn er sich ihnen näherte. Außerdem wußten sie nichts von der Wirkung des Drachenfleisches. Muur-Arthos ging ins Schloß zurück. Die kurzstielige Axt behielt er in der Hand, und auch den Umhang nahm er mit. Als er an die Stelle kam, an der die stürzende Säule die untersten Stufen der Treppe zertrümmert hatte, kam ihm kurz der erschreckende Gedanke, die Fremden könnten längst kein Pro-
Sohn der Götter blem für Thalia mehr darstellen. Er stemmte sich gegen das längste Trümmerteil und rollte es etwas zur Seite. Dabei mußte er sich trotz seiner neu erwachten Kräfte gewaltig anstrengen, aber es lohnte sich. Muur-Arthos fand keine Spur von den Fremden. Sie waren also nicht in die Falle gegangen. Zufrieden stieg er nach oben und stieß die Tür zur Küche auf. Obwohl er dem Kampf mit den beiden Männern mit Zuversicht entgegensah, sich sogar darauf freute, erschrak er, als er seine Gegner plötzlich vor sich sah. Sie saßen am Tisch und betrachteten Thalias Bruchstück vom Parraxynt. Muur-Arthos überlegte, ob er jetzt gleich auf die beiden losgehen sollte, aber da drehte Razamon sich nach ihm um, und er sah den Doppelköpfigen so merkwürdig an, daß es MuurArthos ganz komisch im Magen war. Er trottete am Tisch vorbei und legte die Axt auf ihren Platz. Dann nahm er den Umhang und zog sich damit in eine Ecke zurück. Hatten die Fremden etwa doch etwas gemerkt? Oder hatte der Blick gar nichts zu bedeuten? Muur-Arthos fühlte sich zwar immer noch sehr stark, aber seine Zuversicht hatte beträchtlich abgenommen. Er war niemals besonders mutig gewesen. Mit Unbehagen erinnerte er sich an das erste Zusammentreffen mit Razamon. »Du bist also tatsächlich mit dem Drachen fertig geworden?« fragte Atlan beiläufig. »Das hätte ich dir gar nicht zugetraut!« Muur-Arthos stach sich vor Schreck in den Finger. »Alles Übungssache«, sagte er hastig, und begriff erst hinterher, daß er einen Fehler gemacht hatte. Atlan und Razamon wußten, daß es so gut wie ausgeschlossen war, in der Nähe des Schlosses auf Angehörige der Horden zu stoßen. Thalia selbst hatte das gesagt. Er tat, als würde die Reparatur des Umhangs ihn voll in Anspruch nehmen, beobachtete die beiden Fremden dabei jedoch unauffällig. Hatten sie den Schnitzer bemerkt? Es schien fast, als hätte Muur-Arthos noch
41 einmal Glück gehabt. Aber der Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Er vernähte den letzten Riß an dem Umhang und ging zu Razamon hinüber. »Fertig«, sagte er. Der Pthorer nickte, und Muur-Arthos bemerkte wieder diesen merkwürdigen Ausdruck in den stechenden, schwarzen Augen. Hastig wandte er sich ab. Es gab etwas, mit dem sich seine Unsicherheit vertrieben ließ. Einmal hatte Thalia aus Orxeya ein Faß mitgebracht, das wider Erwarten keinen Wein, sondern eine fremde, scharf schmeckende Flüssigkeit enthielt. Ihre Wut über den betrügerischen Händler war groß, denn sie hielt dieses Zeug für absolut ungenießbar. Muur-Arthos dagegen war begeistert, und mit einiger Mühe überredete er Thalia, ihm dieses Faß zu überlassen. Seitdem hatte er immer einen kleinen Krug mit diesem Wundermittel neben dem Herd stehen. Er trank selten davon, denn er fürchtete, daß seine Herrin sich nicht bereit erklären würde, ihm noch einmal so ein Faß mitzubringen. Schon nach dem ersten Schluck fühlte er sich wohler. Er entdeckte die Zutaten für das Abendmahl. Er hatte vorsorglich auch etwas von dem wundertätigen Fleisch mitgenommen. Ein Bissen davon und ein zweiter Schluck aus dem Krug reichten völlig aus, um sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Er hörte Atlan und Razamon leise sprechen. Muur-Arthos nahm eines der umherliegenden Messer in die Hand, bückte sich nach der Axt und drehte sich blitzschnell um. Das Messer flog durch die Luft – nur Razamon, der davon getroffen werden sollte, war nicht mehr auf seinem Platz. Muur-Arthos hatte sich so stark auf seinen Plan konzentriert, daß er die neue Lage viel zu spät erkannte. Inzwischen hatte er auch die Axt geworfen, dahin, wo Atlan eben noch gesessen hatte. Der Doppelköpfige schrie enttäuscht auf und sah sich nach seinen verschwundenen Opfern um. »Bleib jetzt schön ruhig, Muur-Arthos!« hörte er Atlans Stimme von rechts. »Ich ha-
42 be die Armbrust, mit der Thalia auf den Drachen geschossen hat. Sobald du dich bewegst, schieße ich dir den Bolzen in den Leib!« Muur-Arthos wußte nicht, was eine Armbrust war, aber er vermutete, daß Atlan die Skerzaal meinte, die Thalia aus Orxeya besorgt hatte. Er erinnerte sich an die Bolzen, die er unten im Hof gefunden hatte. Es war Pech für Atlan, daß Muur-Arthos wußte, wo sich die Skerzaal befand – in der Küche nämlich war sie nicht. Thalia pflegte diese wertvolle Waffe in ihren Privatgemächern aufzubewahren. Nicht einmal der Doppelköpfige wagte sich ohne besondere Aufforderung in diese Räume. Muur-Arthos entschied, daß er immer noch gute Chancen hatte. Atlan steckte rechts vom Herd, wahrscheinlich hinter dem großen Wasserbehälter. Razamon war nicht zu sehen. In Muur-Arthos beiden Köpfen kamen die Gedanken langsamer als sonst, aber der Kleine merkte das nicht. Er bewegte sich auch langsamer. Atlan, der hinter dem Wasserbehälter hervorspähte, richtete sich erstaunt auf. Muur-Arthos sah den Arkoniden nicht. Er tastete nach einem Messer. Als er es endlich fand, entfiel es seiner kraftlosen Hand. Atlan sah den Kleinen wanken. Er sprang auf und fing Muur-Arthos ab, ehe der Doppelköpfige in eines der Feuer fallen konnte. »Was ist denn mit dem los?« fragte Razamon und verließ ebenfalls sein Versteck. »Eben war er noch ganz wild …« »Gift!« antwortete Atlan lakonisch und deutete auf die beiden Gesichter. Die graue Haut hatte sich grünlich verfärbt. Razamon nickte nachdenklich, entdeckte den Krug, aus dem Muur-Arthos getrunken hatte, und roch daran. »Riecht wie normaler Schnaps«, meinte er. »Aber du hast recht. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Diesmal hat uns Thalia ungewollt sogar einen Gefallen getan. Der Bursche meinte es ernst.« »Er hatte sogar Chancen«, gab Atlan
Marianne Sydow grimmig zu. »Ein Glück, daß wir schon vorher mißtrauisch genug waren. Sieh dir die Axt an.« Das Mordwerkzeug war quer durch die große Küche geflogen und steckte mehrere Zentimeter tief in der dicken Holzwand eines Schrankes. »Ich möchte wissen, woher er plötzlich solche Kraft hatte«, murmelte Razamon. »Es muß an dem Drachenfleisch liegen. Aber im Grunde ist das jetzt nicht wichtig. Was machen wir mit Muur-Arthos?« »Wir können nichts tun«, murmelte Razamon mit einem verächtlichen Schulterzucken. »Und selbst wenn wir die nötigen Mittel hätten, würde ich meine Zeit nicht an diesen Kerl verschwenden. Laß ihn liegen. Wir sollten uns endlich um Thalia kümmern. Ihn hat sie erwischt – jetzt geht es uns ernsthaft an den Kragen!« Atlan starrte den Doppelköpfigen schweigend an. Er hoffte jedoch, daß Thalias Mordplan nicht aufging. Sie hatte zweifellos genug Gift in den Krug geschüttet, um Muur-Arthos auf der Stelle umzubringen. Sie konnte nicht wissen, daß der Doppelköpfige inzwischen durch das Drachenfleisch gewaltige Kräfte gewonnen hatte. Es hatte lange gedauert, bis die ersten Auswirkungen des Giftes sich bemerkbar machten. Vielleicht reichten die neugewonnenen Kräfte auch aus, um Muur-Arthos am Leben zu erhalten. »Wir werden ihr jetzt auch eine Falle stellen«, sagte Razamon. »Ich habe genug von diesem Spiel. Allmählich treibt sie es zu weit. Machst du mit, oder willst du warten, bis der Anblick deiner zerschmetterten Leiche sie zur Vernunft bringt?« Atlan setzte zu einer Antwort an, aber da hörten sie Geräusche vor der Tür. Razamon war mit wenigen Schritten bei der kurzstieligen Axt und zog sie mit einem heftigen Ruck aus dem Holz. Atlan griff sich das erstbeste Messer und beeilte sich, aus der Nähe der Tür zu kommen. Die Tür öffnete sich knarrend, und Thalia stand vor ihnen – mit Helm und Rüstung, die Vars-Kugel in der Hand.
Sohn der Götter
43
Die Zeit des Fallenstellens war endgültig vorbei.
7. Vom Turm aus hatte sie beobachtet, wie zuerst Muur-Arthos und dann auch Atlan und Razamon das Schloß verließen. Sie kannte die Angewohnheiten ihres Dieners gut genug. Das Gift in den Krug zu schütten, war eine Sache von Sekunden. Dann eilte sie die Treppe hinunter und setzte den Mechanismus in Betrieb, die die unterste Stufe mit der Drachensäule verband. Selbst wenn Muur-Arthos vor den beiden Männern nach oben ging, würde dem Doppelköpfigen nichts geschehen – sein Gewicht war nicht hoch genug. Diese Falle war ausschließlich für Atlan und Razamon bestimmt. Als sie wieder oben auf dem Turm saß, dachte sie daran, wie schade es doch eigentlich war, daß sie diese beiden Männer töten mußte. Auch um Muur-Arthos tat es ihr leid. Er hatte ihr immer treu gedient. Ohne ihn würde es noch einsamer im Schloß Komyr werden, ganz abgesehen davon, daß auf Thalia eine Menge Arbeit zukam. Der Doppelköpfige hatte sich um alles gekümmert und seiner Herrin damit die Zeit verschafft, sich fast ausschließlich um den schlafenden Fafnir zu kümmern. Warum hatten die beiden Fremden ihr nur diesen verflixten Helm abgenommen? Es wäre angenehm gewesen, die beiden einige Zeit als Gäste hier im Schloß zu haben. Sie waren in Zbahn und Zbohr gewesen. Thalia hatte sich niemals dafür interessiert, was in den Städten der Technos geschah. Aber sicher hätten Atlan und Razamon über interessante Dinge berichten können. Abgesehen davon hatte sich Thalia während der Fahrt mit der Windrose entschlossen, den beiden zu helfen, soweit ihr das möglich war. Viel konnte sie ohnehin nicht tun, aber ein paar Quorks, zwei gute Schwerter und ein paar Informationen über Orxeya – das konnte unter Umständen das Leben dieser Männer retten. Sie bewunderte die beiden,
weil sie den Mut gefunden hatten, in Pthor einzudringen, obwohl sie wußten, daß es hier unzählige Gefahren gab. Als sie Thalias Gesicht entblößten, hatten sie ihr eigenes Todesurteil gesprochen. Sie konnte diese Männer nicht gehen lassen, und auch Muur-Arthos mußte sterben. Es gab keinen anderen Weg! Auch wenn sie es noch so ungern tat – sie mußte ihr Geheimnis wahren. Endlich gingen Atlan und Razamon in das Schloß zurück. Am liebsten wäre Thalia nach unten gerannt, um die beiden zu warnen und alles rückgängig zu machen. Aber sie zwang sich dazu, sitzen zu bleiben und zu warten. Als die Drachensäule umkippte, drang der Lärm bis auf die Spitze des Turmes hinauf. Thalia senkte den Kopf. Erst nach mehreren Minuten fand sie die Kraft, sich aufzurichten und nach unten zu steigen. Sie schob die Tür zur Galerie auf – und erstarrte, als sie aus der Halle Stimmen hörte. Vorsichtig schlich sie an eine Stelle, von der aus sie den Raum überblicken konnte, ohne daß man sie von unten zu entdecken vermochte. Es war ihr ein Rätsel, wie die beiden es angestellt hatten, der Falle zu entkommen. Die Drachensäule hatte sich planmäßig gelöst und war genau auf die Stelle gefallen, die Thalia vorgesehen hatte. Und doch lebten die beiden Männer. Jetzt kamen sie die Treppe herauf. Thalia verbarg sich hinter der halboffenen Tür. Atlan und Razamon sahen sich zwar nach allen Seiten um, entdeckten die Göttertochter jedoch nicht. Sie verschwanden in der Küche. Thalia überlegte fieberhaft. Muur-Arthos war immer noch mit dem Drachen beschäftigt. Sollte sie die beiden Männer jetzt direkt angreifen? Oder war es besser, abzuwarten, bis wenigstens der Doppelköpfige ausgeschaltet war? Sie rannte in den Turm, sprang die Stufen hinauf und beugte sich über die Brüstung. Entsetzt sah sie, wie Muur-Arthos riesige Stücke Fleisch scheinbar mühelos davon-
44 trug. Sie hatte infolge der Aufregung vergessen, was das Drachenfleisch anrichten konnte. Jetzt verfügte Muur-Arthos wieder über die scheinbar unnatürlichen Kräfte, die jedes Mitglied der Horden der Nacht auszeichneten. Damit war die Entscheidung gefallen. Thalia wußte, daß es bereits ein Risiko war, es mit den beiden Männern aufzunehmen. Einzeln hätte sie jeden von ihnen mit absoluter Sicherheit geschlagen. Gemeinsam waren sie so gefährlich, daß Thalia dem Kampf nicht ohne Besorgnis entgegensah. Kam jedoch auch noch Muur-Arthos in seiner jetzigen Hochform dazu, dann hatte sie kaum noch eine Chance. Thalia stieg wieder nach unten und ging in die Rüstungskammer. Zum erstenmal seit Muur-Arthos' Ankunft hing auch die Körpermaske an einem Haken. Thalia vergewisserte sich, daß sie unbeobachtet geblieben war und schloß sicherheitshalber die Tür ab. Von der Wunde, die letztlich zu all diesen Vorfällen geführt hatte, merkte sie kaum noch etwas. Muur-Arthos hatte die Körpermaske und die Rüstung in Ordnung gebracht. Es war nicht einfach, ohne Hilfe mit diesen Wunderwerken der Technos fertig zu werden, und Thalia brauchte ungewöhnlich viel Zeit, bis sie endlich kampfbereit war. Sie holte die Vars-Kugel und spähte vorsichtig auf die Galerie hinaus. Sie kam gerade zur rechten Zeit – Muur-Arthos kam die Treppe herauf, seine Axt und Razamons mitgenommenen Umhang in den Händen. Als er die Tür zur Küche hinter sich geschlossen hatte, huschte Thalia leise vorwärts. Sie hörte, wie ihre drei Gegner sich unterhielten, aber die Tür dämpfte die Stimmen, so daß die Göttertochter kein einziges Wort verstand. Voller Ungeduld wartete sie. Wann endlich würde Muur-Arthos sich seinem Lieblingsgetränk zuwenden? Sie hoffte, durch die Reaktion von Atlan und Razamon den günstigsten Zeitpunkt zu erfahren. Nach einer halben Ewigkeit rumpelte und krachte es in der Küche. Sie hörte Muur-
Marianne Sydow Arthos schreien. Dann sprach jemand, und plötzlich wurde es still. Thalia hakte lautlos die Vars-Kugel vom Gürtel. Sie wußte nicht genau, was geschehen war, aber alle Anzeichen sprachen dafür, daß sie es mit einem Gegner weniger zu tun hatte. Jetzt begannen Atlan und Razamon sich über etwas zu unterhalten – vielleicht hatte Muur-Arthos doch aus seinem Krug getrunken. Jetzt mußte sie auch den zweiten Schritt tun. Für eine Umkehr war es zu spät. Die Vars-Kugel klirrte gegen die Kette, dann stieß Thalia die Tür auf. Die beiden Männer erwarteten sie bereits. Razamon hatte eine Axt, Atlan ein Messer. Thalia lächelte unter ihrer Maske verächtlich. Plötzlich waren alle ihre Bedenken verschwunden. Die beiden Fremden taten ihr nicht mehr leid. Nur der Kampf zählte. Langsam schritt sie in die Küche hinein, stieg über den reglos daliegenden MuurArthos hinweg und ließ die Vars-Kugel drohend pendeln. Sie wartete voller Spannung darauf, welcher ihrer Gegner zuerst die Nerven verlor. Es war Atlan. Er warf das Messer und beinahe hätte er sogar Erfolg gehabt. Wenige Millimeter unter den Augenschlitzen prallte das Messer vom Helm ab. Unwillkürlich hatte Thalia sich etwas zurückgebeugt, um dem Messer auszuweichen. Razamon nutzte diesen winzigen Augenblick der Unaufmerksamkeit. Er sprang vor und schlug mit der Axt zu. Dabei zielte er auf Thalias Oberschenkel. Hätte die Axt das Ziel erreicht, so wäre der Kampf schon in diesem Augenblick entschieden gewesen, denn das Leder konnte einen solchen Hieb nicht abfangen. Aber auch Thalia befand sich schon wieder mitten in der Bewegung, und so landete Razamons Schlag auf dem Metallstreifen um das Kniegelenk. Die Axt prallte ab, und bevor der Pthorer ein zweitesmal zuschlagen konnte, schwang Thalia die VarsKugel herum. Der erste Schlag mit dieser Waffe hatte den Arkoniden treffen sollen. Aber Atlan war blitzschnell ausgewichen. Und Razamon erkannte die Gefahr ebenfalls
Sohn der Götter rechtzeitig und brachte sich mit einem verzweifelten Sprung in Sicherheit. Thalia sah von einem Gegner zum anderen. Die Männer hatten den ersten Vorstoß abgewehrt. Atlan hielt bereits das nächste Messer in der Hand – Thalia verfluchte den Doppelköpfigen, der diese Dinger überall herumliegen ließ. Diesmal war sie aufmerksamer. Atlan konnte erstaunlich gut mit diesen Messern umgehen. Er warf sie fast ansatzlos. Dennoch gelang es ihr, rechtzeitig auszuweichen. Diesmal hatte auch der Arkonide auf ihre Beine gezielt. Thalia begriff, daß die beiden Männer es in erster Linie darauf anlegten, sie kampfunfähig zu machen. Das nächste Messer kam angeflogen und traf Thalias Unterarm, direkt über dem Rand des Handschuhs. Das Messer durchdrang zwar das Leder und die Körpermaske, richtete jedoch bis auf einen kleinen Stich keinen Schaden an. Immerhin reichte es, um Thalias Wut anzustacheln. Mit einem wilden Schrei ließ sie die Kugel durch die Luft sausen. Das schwere Ding krachte gegen den Rand des Wasserbehälters. Das dünne Metall wurde zerbeult und Atlan, der wie durch Zauberei ein paar Meter entfernt neben einem Schrank auftauchte, deckte die Göttertochter mit einem wahren Hagel von Messern ein. Keines davon traf senkrecht auf die Lederteile der Rüstung, aber Thalia war verwirrt und ärgerlich. Gleichzeitig hatte auch Razamon sich mit Wurfgeschossen eingedeckt. Er verwendete Teller und schwere Schalen, die an Thalias Helm zersplitterten. Sie begriff, daß sie mit der Vars-Kugel allein keine Chance hatte. Als dann auch noch ein Teller direkt vor ihrem Gesicht zerschellte und ein winziger Splitter unterhalb des rechten Auges in die Haut eindrang, wandte die Göttertochter sich zur Flucht. Die Skerzaal! Damit konnte sie außer Reichweite der Messer bleiben, und gegen die mit großer Wucht abgeschossenen Bolzen gab es keine Gegenwehr. Die Männer schienen diesen Plan zu
45 durchschauen. Vielleicht wußten sie sogar, wo Thalia diese Waffe aufbewahrte. Razamon raste hinter ihr her. Als er nahe genug war, ließ Thalia die Vars-Kugel pfeifend im Kreis sausen, aber der Pthorer tauchte mit unglaublicher Geschicklichkeit darunter hinweg. Sie hatte gesehen, daß dieser hagere Mann hinkte und ihm deshalb keine besondere Wendigkeit zugetraut. Zwar hatte Razamon ihr bei dem Kampf im Schloßhof bereits das Gegenteil bewiesen, aber daran dachte Thalia nicht mehr. Jedenfalls erreichte Razamon die Kammer vor ihr, und sie konnte es nicht verhindern, daß er die zweite Tür auch noch aufriß und hindurchschlüpfte. »Das hilft dir auch nicht!« schrie sie wütend, als die steinerne Tür vor ihrer Nase zuschlug. Sie drehte an dem Kerzenhalter, aber es geschah nichts. Der letzte Rest ihrer Beherrschung zerbröckelte. In rasender Wut ließ sie die Vars-Kugel gegen den Stein donnern. Die Tür rührte sich nicht. Das konnte nur bedeuten, daß Razamon den geheimen Mechanismus entdeckt hatte, mit dem sich die äußeren Rahmensteine so verschieben ließen, daß es praktisch unmöglich war, die Tür von der Turmseite her zu öffnen. Sie war von den hinteren Räumen abgeschlossen, und damit auch von der einzigen Waffe, mit der sie sich allen Schwierigkeiten gewachsen fühlte. Sie drehte sich um und sah Atlan am anderen Ende der Galerie stehen. »Wir wollen dich nicht töten!« rief der Arkonide ihr zu. »Dieser Kampf ist sinnlos. Wir haben dir versprochen, dein Geheimnis zu wahren. Warum glaubst du uns nicht?« Thalia wirbelte die Vars-Kugel im Kreis herum und ließ den Griff los. Atlan wich der heranfliegenden Waffe aus und rannte die Treppe hinunter. Eiskaltes Entsetzen erfaßte die Göttertochter. Er wollte fliehen, und das schreckliche Geheimnis nahm er mit sich. Sie lief hinter ihm her. Vielleicht dachte er nicht an die Windrose, dann konnte sie ihn verfolgen.
46 Als Thalia unten ankam, hatte Atlan zwei Lanzen mit metallenen Spitzen von der Wand gerissen. Die erste schlug sie zur Seite, die zweite konnte sie dank der schützende Handschuhe aus der Luft fangen. Sie schleuderte die Lanze mit aller Kraft, aber dieser verflixte Arkonide sprang in einem tollkühnen Hechtsprung zur Seite, rollte sich ab und war schon wieder auf den Beinen, ehe Thalia sich die zweite Lanze holen konnte. »Gib es auf!« keuchte Atlan, beobachtete sie aufmerksam und zog sich dabei vorsichtig bis an die Wand zurück. Jetzt bedauerte Thalia ihren Entschluß, die Wände der Halle mit möglichst vielen Waffen zu schmücken. Sie hatte damit dem Schloß ein besonders kriegerisches Aussehen verleihen wollen – niemand würde auf den Gedanken kommen, daß eine Frau sich freiwillig in so einem Gebäude aufhielt. Für Atlan war Thalias Trugschluß die Rettung. Er mußte nur dafür sorgen, in der Nähe der Wände zu bleiben. Allerdings hatte auch Thalia es leicht, sich neue Waffen zu besorgen. Als sie die zweite Lanze endlich aufgehoben hatte, hielt der Arkonide einen mannshohen Bogen in der Hand. Sie hatte das Ding samt einem Köcher voller Pfeile in Orxeya gefunden und der Versuchung nicht widerstehen können, diese exotische Waffe zu erwerben. Angeblich stammten Bogen und Pfeile aus dem Blutdschungel. Thalia selbst hatte ein paarmal versucht, das Geheimnis dieser Waffe zu lösen. Dann war sie zu dem Schluß gekommen, daß das Ding wertlos war. Die Sehne ließ sich nicht spannen. Atlan schien leider mehr davon zu verstehen. Thalia wußte nicht, wie er es angestellt hatte, aber der Pfeil, der auf sie gerichtet war, sagte genug. Thalia schrie auf, als der Pfeil mühelos das harte Leder durchdrang und ihre rechte Wade aufriß. Obwohl es kein direkter Treffer war, warf sie sich entsetzt herum. Sie rannte zum Tor. »Bleib stehen!« schrie Razamon von der
Marianne Sydow Galerie aus. Fast gleichzeitig pfiff ein mit der Skerzaal abgeschossener Bolzen an ihrem Helm vorbei. Thalia war völlig verwirrt. Einen solchen Kampf hatte sie noch nicht erlebt. Angst erfüllte sie, und ihr einziger Gedanke galt der Flucht. Sie erreichte das Tor und rannte nach rechts, wo erstens die dicken Mauern sie vor den Männern verbargen und zweitens die Windrose auf sie wartete. Im Laufen sah sie sich um und wunderte sich darüber, daß ihre Gegner noch nicht in Sicht waren. Erst als sie in der Windrose saß und die Hände auf die Kontrollen legte, begriff sie den Plan der beiden Männer. Sie hatte den Kampf verloren. Atlan und Razamon hielten den einzigen Zugang zum Schloß besetzt. Sie waren bewaffnet, Thalia dagegen hatte nur noch ihre Rüstung und die Windrose. Damit ließ sich so gut wie nichts anfangen. Wohin hätte sie fliehen sollen? Sie hatte keine Freunde – in Orxeya ebensowenig wie in Zbahn. Niemand konnte ihr zu Hilfe eilen. Und mit den beiden Männern da drinnen wurde sie nicht fertig. »Gib auf!« rief Atlan zu allem Überfluß vom Tor herüber. »Wir sind nicht deine Feinde. Wir geben dir noch einmal das Versprechen, dein Geheimnis zu wahren.« »Ich glaube nicht daran, daß ihr dieses Versprechen halten werdet!« schrie sie zurück. »Dann zwingst du uns, dich zu töten!« Sie überlegte. Atlan besaß den Bogen. Er hätte sie vorhin bereits total kampfunfähig machen können. Für Razamon mit der Skerzaal galt dasselbe. Sie konnte mit der Windrose wegfahren – dann saß sie in der Wildnis fest. Sich in eine der beiden Städte zurückzuziehen, war sinnlos. Und entlang der Straße der Mächtigen warteten jene geheimnisvollen, unsichtbaren Feinde. Sie konnte auch im Schloßhof bleiben und darauf hoffen, daß die beiden Männer die Geduld verloren. Aber bevor das geschah, würde vermutlich Thalia selbst zur Kapitulation gezwungen sein, denn Atlan und Razamon konnten sich aus den Vorräten im Schloß versorgen, wäh-
Sohn der Götter
47
rend es hier draußen nichts Eßbares gab. Wenn sie aufgab – was würden die beiden mit ihr machen? Sie entschied sich für einen Versuch. Sie hatte nicht mehr viel zu verlieren. Schwerfällig stieg sie aus der Windrose und ging bis auf wenige Meter an das Tor heran. »Was verlangt ihr von mir – als Preis für mein Leben?« »Nichts als ein Versprechen«, antwortete Atlan ernst. »Behandle uns wie Gäste – nicht wie Feinde. Und vergiß endlich dein Mißtrauen. Wir sind nicht nach Pthor gekommen, um dir und deinen Brüdern nachzuspionieren. Es gibt wichtigere Dinge.« Thalia schwieg. Sie sollte ihr Mißtrauen vergessen – Atlan ahnte vermutlich gar nicht, was er da von der Göttertochter verlangte. Sie führte einen erbitterten Kampf gegen sich selbst, ehe sie sich dazu durchringen konnte, diesen seltsamen Fremden zu vertrauen. Langsam ging sie auf Atlan und Razamon zu. Sie hielten ihre Waffen immer noch in den Händen, zielten aber nicht auf Thalia. Sie sahen ihr so gelassen entgegen, als hätten sie vor nichts und niemandem Angst. »Halt!« sagte Atlan warnend, als Thalia noch fünf Schritte von ihm entfernt war. »Du vergißt etwas!« »Ich verspreche es«, murmelte Thalia düster. »Ich werde euch nicht wieder angreifen.« »Auch keine Fallen mehr stellen?« »Keine Fallen stellen, kein Gift verwenden – ihr habt gesiegt.« Oben auf der Galerie knarrte eine Tür. Thalia blickte ungläubig hinauf. Muur-Arthos wankte an das Geländer und stierte die beiden Männer und seine Herrin an. Er hatte es tatsächlich geschafft, am Leben zu bleiben.
8. Der Doppelköpfige erholte sich schnell. Thalia schüttete höchstpersönlich den gifti-
gen Inhalt des Kruges fort und holte eine neue Portion des »Wundertranks« aus dem Keller. Inzwischen war es Abend geworden. »Ihr könnt jetzt nicht gehen«, wandte sie sich an Atlan und Razamon. »Bleibt über Nacht.« Sie hatte den Helm und die Rüstung wieder abgelegt. Als sie Razamons mißtrauische Blicke sah, lächelte sie flüchtig. »Ich habe mein Versprechen gegeben und werde es auch halten«, versicherte sie. »Niemand soll behaupten können, daß der Göttersohn Honir sein Wort gebrochen hat!« »Wenn du an so etwas glaubst – warum hast du uns dann nicht auch vertraut?« »Ihr seid Sterbliche«, sagte sie schulterzuckend. »Das ist schließlich ein Unterschied.« Razamon wollte etwas sagen, aber Atlan legte ihm rasch die Hand auf den Arm. Er hielt es für besser, wenn Thalia nicht erfuhr, daß auch ihre beiden Gäste dem Prozeß der biologischen Alterung nicht unterworfen waren. »Wir werden nach Orxeya gehen«, sagte Atlan, um dem heiklen Thema aus dem Weg zu gehen. »Morgen – du hast recht, wenn du uns vor der Dunkelheit warnst. Außerdem war dieser Tag nicht sehr erholsam.« Thalia nickte zufrieden und sah MuurArthos fragend an. »Mir geht es großartig!« versicherte der Doppelköpfige. »Ich werde mich um alles kümmern.« Atlan glaubte nicht daran, daß Muur-Arthos den Giftanschlag wirklich schon vollständig überwunden hatte. Aber der Kleine war sichtlich bemüht, das Vertrauen seiner Herrin zurückzugewinnen und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Zweifellos würde er sich an diesem Tag mit der Abendmahlzeit besondere Mühe geben. Aber auch Thalia wirkte wie umgewandelt. Sie führte die beiden wieder in die gemütliche »kleine« Halle, sorgte für Wein und unterhielt sich mit Atlan und Razamon. Den erbitterten Kampf erwähnte sie nicht, und die beiden Männer hüteten sich, dieses The-
48 ma anzuschneiden. »Orxeya«, sagte sie. »Ich kenne mich in der Stadt ein bißchen aus. Es wird nicht leicht für euch sein, dort zu bestehen. Zur Zeit ist es eine Stadt der Händler.« »Warum zur Zeit?« fragte Atlan dazwischen. »Kann sich daran etwas ändern?« »Auf Pthor ändert sich im Lauf der Zeit vieles. Manchmal verschwinden ganze Völkergruppen spurlos, und andere Wesen treten an ihre Stelle. Aber bleiben wir bei Orxeya. Der Blutdschungel ist dort gefährlich nahe. Es gibt immer Spannungen zwischen den dort lebenden Stämmen und den Händlern. Das Seltsame daran ist, daß man Freund und Feind oft kaum auseinanderhalten kann. Dieselben Stämme, die vor wenigen Minuten von den Händlern besiegt wurden, können plötzlich bei der Siegesfeier erscheinen und sind dort sogar willkommen. Oder es treffen Bewohner aus dem Blutdschungel ein, die irgendwelche Waren tauschen wollen. Mitten in der Feilscherei trifft die Nachricht ein, daß die Angehörigen der Besucher vor den Mauern stehen und zu kämpfen wünschen. Die anderen lassen ihre Waren liegen und beteiligen sich an der Schlacht. Wenn alles entschieden ist, kehren sie zurück und setzen den Handel fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.« »Das klingt jedenfalls so, als wäre in Orxeya eine ganze Menge los«, murmelte Razamon. »Es ist eine gefährliche Stadt«, bestätigte Thalia. »Die Leute dort sind grob und ungehobelt. Immerhin kann man sie wenigstens als ehrlich bezeichnen – außerhalb ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Handel. Da wird nach besten Kräften belogen und betrogen.« »Wie verhalten sie sich Fremden gegenüber?« fragte Atlan gespannt. »Es kommen selten welche hin«, antwortete Thalia. »Aber ich fürchte, daß man euch nicht gerade mit offenen Armen empfangen wird. Ihr werdet eine gute Ausrede dafür brauchen, warum ihr Orxeya besucht. Ich wüßte eine solche Geschichte.«
Marianne Sydow »Wie geht diese Geschichte?« »In der Großen Barriere von Oth gibt es Magier. Manchmal holen sie Leute zu sich, die wegen ihrer Fähigkeiten für sie von Nutzen sind. Ihr könntet euch als Steinbildner ausgeben. Künstler dieser Art genießen bei den Magiern alle Freiheiten, und in Orxeya gibt es viel zu sehen. Ihr solltet behaupten, daß ihr im Auftrag eines Magiers an einer magischen Statue arbeitet und neue Anregungen sucht. Darum habt ihr die Barriere verlassen und zuerst mich im Schloß Komyr besucht. Nun wollt ihr euch auch noch in Orxeya umsehen, um dann an die Arbeit zurückzukehren. Ich hoffe, daß man euch in Ruhe lassen wird, denn mit den Magiern legt sich niemand gerne an. Das heißt, etwas fehlt noch. Es gibt in Orxeya nichts umsonst, und die Leute sind nicht gerade gastfreundlich. Ich werde euch genug Quorks mit auf den Weg geben, und für jeden auch noch ein Schwert. Ohne Waffe gilt man bei den Händlern nicht viel.« Atlan hob erstaunt die Augenbrauen, als Thalia zwei Lederbeutel aus einem offenen Schrank nahm, sie öffnete und den Inhalt auf dem Tisch ausbreitete. »Das sind Quorks«, sagte sie lächelnd. »Ziemlich wertvolle sogar. Sie wurden aus den Knochen der Yuugh-Katze hergestellt. Je genauer und vielfältiger diese Gravuren sind, desto höher ist der Wert. Sie sind das überall gebräuchliche Zahlungsmittel.« Auf dem Tisch lagen vierzig gelbe Knochen, jeder etwa so lang wie ein Zeigefinger. Die Knochen waren kunstvoll bearbeitet, geschnitzt und mit eingeritzten Symbolen versehen. Thalia steckte je zwanzig dieser Knochen in einen der Lederbeutel. »Es heißt, daß es ungefähr dreißig Millionen Quorks gibt«, sagte sie dabei. »Wer sie alle in seinen Besitz bringt und auf einem Platz vereinigt, kann die Yuugh-Katze wiedererstehen lassen und sie zu neuem Leben erwecken. Aber man redet viel.« Sie reichte Razamon und Atlan die beiden Beutel. Der Pthorer brachte das wertvolle
Sohn der Götter Geschenk auf Thalias Rat in die Zimmer hinauf. Als Razamon die Halle verlassen hatte, wandte die Göttertochter sich an Atlan. »Du vertraust diesem Mann?« fragte sie leise. Atlan nickte. »Hoffentlich enttäuscht er dich nicht. Über die Leute vom Fuß des Taambergs erzählt man sich unschöne Geschichten.« »Ich weiß. Razamon hat mir alles erzählt – soweit er sich erinnert. Sein Gedächtnis will nicht so recht funktionieren. Manchmal wird er sehr unruhig, und dann muß man sich vorsehen. Aber dafür kann er nichts, es überkommt ihn einfach. Wenn er in einer solchen Phase Schaden anrichtet, tut es ihm hinterher selbst leid.« Sie hörten Razamons Schritte und wichen auf ein anderes Thema aus. Der Pthorer betrat die Halle. Er hinkte stark, ein sicheres Zeichen dafür, daß er sich entspannt und wohl fühlte und darum die anstrengende Kontrolle über seinen Körper vernachlässigte. »Bist du verletzt?« fragte Thalia besorgt. »Nein«, antwortete Razamon. »Warum fragst du?« »Es kam mir so vor, als hättest du Schwierigkeiten mit dem Laufen.« »Das ist nur dieser Zeitklumpen«, sagte Razamon wegwerfend. »Er hängt mir am Bein wie eine Fessel und ich kann ihn nicht loswerden.« Muur-Arthos brachte die ersten Platten mit Fleisch und Gemüse, und Thalia verzichtete auf weitere Fragen. Aber auf ihrem Gesicht lag ein seltsamer, schwer zu deutender Ausdruck. Der Rest des Abends verlief ruhig und brachte keine großen Neuigkeiten mehr. Thalia wußte erstaunlich wenig über das Land, in dem sie lebte. Sie interessierte sich nur für ihren Abschnitt jener Straße, die sie den schlafenden Fafnir nannte. Alles andere hielt sie für unwichtig. Da sie nur selten Kontakt zu anderen Pthorern bekam, erfuhr sie von Vorgängen in anderen Teilen der Insel selten etwas.
49 Das Essen war wie immer sehr reichlich und zweifellos gut, aber Atlan und Razamon scheuten vor den von Muur-Arthos servierten Spezialitäten zurück und beschränkten sich auf die Gemüsespeisen und geräucherte Fische. Drachenherz vom Spieß war nicht nach ihrem Geschmack, und auch die Leber des Ungeheuers, mit zahlreichen Gewürzen und auf sechs verschiedene Arten zubereitet, erschien ihnen nicht sehr verlockend.
* Thalia hielt ihr Versprechen. Die beiden Männer waren immer noch mißtrauisch, als sie sich zur Ruhe legten, aber in dieser Nacht geschah nichts. Und am nächsten Morgen klopfte Muur-Arthos an die Türen und verkündete, daß das Frühstück bereits darauf wartete, aufgegessen zu werden. »Ich habe eine Bitte an euch«, sagte Thalia, als der Doppelköpfige, für den es im Schloß pausenlos etwas zu tun gab, sich nach dem Servieren zurückgezogen hatte. »Es betrifft Muur-Arthos. Er war immer treu und ich wünsche ihm nichts Schlechtes, aber ich kann es nicht ertragen, ihn weiterhin in meiner Nähe zu haben.« »Du willst ihn fortschicken? Das hat er nicht verdient. Er hätte das Recht, dir mit Mißtrauen zu begegnen und vielleicht auch auf Rache zu sinnen. Ich bin sicher, daß er an so etwas nicht einmal im Traum denkt.« »Das weiß ich«, murmelte sie bedrückt. »Aber du kannst das nicht verstehen, Atlan. Ich kann ihn nicht im Schloß behalten, so leid es mir auch um ihn tut. Gerade darum wende ich mich an euch. Trotz allem würde ich es nicht übers Herz bringen, ihn zu den anderen in die Ebene Kalmlech zurückzuschicken. Er soll mit euch nach Orxeya gehen. Sicher wird er dort eine Möglichkeit finden, sich ein neues Leben aufzubauen. Er könnte sich als Diener verdingen oder in den Dienst eines Händlers treten. Er ist geschickt, fleißig und nicht gerade dumm. Wenn ihr ihn mitnehmt, ist ihm und mir geholfen.«
50 Razamon und Atlan sahen sich an. Der Pthorer zuckte die Schultern. »Es gibt wohl keinen vernünftigen Grund, deinen Wunsch abzuweisen«, sagte Atlan. »Du mußt selber wissen, wieweit du MuurArthos traust. Wenn du ihn nicht mehr sehen kannst, nehmen wir ihn eben mit.« Thalia lächelte erleichtert. »Dann werde ich euch jetzt die Schwerter geben. Ihr solltet nicht zu spät aufbrechen. Der Weg nach Orxeya ist noch weit. Wenn ihr die Stadt vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollt, werdet ihr euch beeilen müssen. Vergeßt die Quorks nicht – sie sind sehr wichtig!« Während sie in die Halle hinüberging, holten Atlan und Razamon ihre Habseligkeiten aus den Zimmern. Über ein Zuviel an Gepäck brauchten sie sich nicht zu beklagen. Außer den Umhängen und den Lederbeuteln besaßen sie nichts. In der Halle trafen sie Thalia, die gerade mit großem Sachverstand zwei Schwerter mit kurzen, breiten Klingen aus ihrer Sammlung heraussuchte. Muur-Arthos stand neben dem Tor. Er sah sehr traurig aus – Thalia hatte es ihm also schon gesagt. Atlan und Razamon waren darauf gefaßt gewesen, daß es Gejammer und Geschrei geben könnte, daß Muur-Arthos sich mit allen Kräften gegen die Entscheidung seiner Herrin sträuben, ihr vielleicht sogar mit Verrat drohen werde. Nichts davon geschah. Der Kleine fügte sich wortlos in sein Schicksal. »Geh nach oben und stelle für euch drei genug Proviant für zwei Tage zusammen«, befahl Thalia. Muur-Arthos schlich wie ein geprügelter Hund die Treppe hinauf. »Das sind gute Schwerter«, wandte sie sich an Atlan und Razamon. »Sie gehören euch.« Sie befestigten die Waffen mit Hilfe einfacher Lederschlaufen an den Gürteln ihrer Umhänge. Oben rumorte Muur-Arthos in der Küche – zum letzten Mal, wenn Thalia ihren Entschluß nicht doch noch änderte. Atlan nutzte die Zeit, um sich um etwas zu
Marianne Sydow kümmern, was ihm die ganze Zeit im Kopf herumging. Das sehr lange Schwert, mit dem der Doppelköpfige die vermeintlichen Mörder seiner Herrin angegriffen hatte, hing jetzt wieder zwischen den anderen Waffen an der Wand. Er wollte es sich genau ansehen. »Gefällt es dir?« fragte Thalia. »Leider kann ich es dir nicht überlassen. Es muß hierbleiben, an seinem Platz.« »Ich sehe es mir nur an«, wehrte Atlan ab. »Erstens wäre es unverschämt, eine so kostbare Waffe als ein Geschenk anzunehmen, und zweitens ist es für meinen Geschmack zu lang. Es sieht gut aus, aber zum Kämpfen taugt es nicht.« »Vielleicht«, war die lakonische und etwas merkwürdige Antwort. Und noch etwas war merkwürdig. Auf dem Knauf war tatsächlich eine silberne Figur angebracht, aber diese Figur erinnerte den Arkoniden an gar nichts. Die Konturen waren scharf, und nichts veränderte sich oder verschwamm, als er hinsah. Er faßte die Figur sogar an – es war alles in Ordnung damit. Als er sich umdrehte, war Thalia verschwunden. »Sie ist nach oben gegangen«, erklärte Razamon. »Wenn du mich fragst – ich werde sehr froh sein, wenn wir dieses Schloß hinter dem Horizont verschwinden sehen.« Atlan schwieg. Auch er fand, daß es einige Rätsel gab, aber sie waren ja nicht mit dem ausschließlichen Ziel auf diese Insel gekommen, die letzten Geheimnisse der Göttersöhne zu lösen. Atlantis stellte eine Gefahr für die Menschheit auf der Erde dar und es galt, diese Gefahr zu beseitigen – was in diesem Fall ausgesprochen schwierig sein mußte. Am liebsten wäre Atlan auf dem direkten Weg zur FESTUNG vorgedrungen, denn dort mußten die Antworten auf all seine Fragen zu finden sein. Orxeya lag in der entgegengesetzten Richtung, und das ärgerte ihn. Aber er mußte auch diesen Umweg in Kauf nehmen, denn durch die Ebene Kalmlech zu gehen, wäre glatter Selbstmord ge-
Sohn der Götter wesen. Sie mußten das Gebiet der Horden der Nacht umgehen, und zwar im Norden, denn im Süden wären sie unweigerlich wieder mit den Technos zusammengestoßen – und von denen hatten sie vorläufig die Nase voll. Endlich kam Muur-Arthos. Er trug einen schweren Proviantsack, und er war alleine. »Wo ist Thalia?« fragte Atlan. Muur-Arthos deutete nach oben. »Ich habe ihr geholfen, die Rüstung anzulegen«, sagte er leise. »Sie ist in den Turm hinaufgegangen. Kommt jetzt.« Schweigend folgten sie dem Doppelköpfigen durch das Tor, über den Vorhof und schließlich über die Brücke. Als sie die Stelle erreichten, an der der holprige Weg neben der silbergrauen Straße der Mächtigen endete, drehten sie sich wie auf ein unhörbares Kommando um. Oben auf dem Turm stand Thalia mit Rüstung und Helm, die Windharfe neben sich auf der steinernen Brüstung. Die beiden Raben kreisten über ihr. Die Tochter Odins gab mit keinem Zeichen zu verstehen, daß sie ihre Gäste unten an der Straße sah. Sie stand so still wie eine Statue. Welchen Gedanken mochte sie nachhängen? Bedauerte sie es, daß sie ihre Gäste nicht aufgefordert hatte, länger zu bleiben? Oder war sie traurig, weil sie nun – ohne den Doppelköpfigen – noch einsamer sein würde? Die stumme und reglose Gestalt auf dem Turm gab keine Antworten auf diese Fragen. »Wir dürfen die Straße nicht benutzen«, sagte Muur-Arthos und brach damit das bedrückte Schweigen. »Nur die Göttersöhne reisen auf dem schlafenden Fafnir.« Sie gingen auf dem sandigen Randstreifen neben der Straße her. Die Sonne schien, und es war warm. Weder Tiere noch Menschen waren zu sehen. Es war fast unnatürlich ruhig. Es schien, als würden selbst die Insekten die Nähe der Straße meiden. Und doch mußte es Lebewesen geben, die vor dem schlafenden Fafnir weder Angst noch Achtung empfanden. Ein paar Kilometer von Schloß Komyr entfernt fanden sie die Über-
51 reste einer Barrikade. Ein Burkoll war damit beschäftigt, die Balken und Steine wegzuschaffen. Als das gepanzerte Wesen die beiden Männer und den Doppelköpfigen sah, zog es sich in schnellem Lauf zurück. »Komische Kerle«, murmelte Razamon und sah dem Burkoll nach. »Das eine hätte uns fast gefressen und dieses hier ergreift die Flucht. Ob es vor diesen jämmerlichen Schwertern Angst hat? Sein Panzer sieht nicht so aus, als könnte man ihn so leicht knacken.« »Vielleicht weiß es, daß wir Thalias Gäste waren«, antwortete Atlan nachdenklich. »Schon möglich. Aber wir sollten diesen Namen nicht mehr gebrauchen, sonst plaudern wir ganz aus Versehen dieses große Geheimnis aus. Fällt dir sonst nichts auf?« »Die Burkolls scheinen großen Respekt vor den Horden der Nacht zu haben«, nickte Atlan. »Sie bleiben auf der anderen Seite der Straße, auch wenn sie sich damit das Leben schwer machen. Alle Hindernisse schleppen sie nach drüben. Die Frage ist nur, ob diese Monstren sich davon abhalten lassen, die Straße zu überqueren, wenn sie sich ernsthaft für eine Beute interessieren.« »Vielleicht …« Razamon drehte sich hastig um, weil Muur-Arthos einen klagenden Doppelschrei ausgestoßen hatte. Der Kleine zitterte am ganzen Leib und starrte wie hypnotisiert nach Norden. Im ersten Augenblick dachten die beiden Männer, Muur-Arthos hätte ein angreifendes Ungeheuer entdeckt, und sie zogen die Schwerter, aber als sie sich umsahen, war die Steppe leer. »Was hat du?« fragte Atlan den Kleinen besorgt. Muur-Arthos antwortete nicht. Stumm blickte er auf die spärlichen, fahlgelben Gräser. Er zitterte immer noch, und plötzlich warf er den Proviantsack weg und lief los. »Komm zurück!« schrie Atlan entsetzt. Er rannte hinter dem Doppelköpfigen her, aber der entwickelte ungeahnte Kräfte und flog förmlich mit langen Sprüngen davon, genau in die Richtung, in der die Horden der Nacht
52
Marianne Sydow
auf ihren Einsatz warteten. Keuchend blieb Atlan stehen und sah dem Kleinen nach. Er hörte ihn noch einige Male schreien, dann verschwand Muur-Arthos hinter einem sandigen Hügel und tauchte nicht wieder auf. Niedergeschlagen kehrte Atlan zu Razamon zurück. Der Pthorer deutete auf ein pyramidenförmiges Gerüst, das in etwa hundert Metern Entfernung neben der Straße aufragte. Sie rannten dorthin, und Atlan kletterte hinauf. Das Gerüst war fast zehn Meter hoch. Von oben sah er Muur-Arthos zum letztenmal – eine winzige Gestalt, die in schnellem Tempo dem Zentrum der Ebene Kalmlech entgegenzog. »Er kehrt zu seinen Leuten zurück«, sagte Razamon unten, hob den Proviantsack auf und wartete, bis Atlan neben ihm stand. »Gehen wir weiter. Wir können ihm nicht helfen, und wenn wir noch mehr Zeit vergeuden, bringen wir uns nur selbst in Gefahr.« »Ich bin sicher, daß er nicht freiwillig gegangen ist«, murmelte Atlan bedrückt. Erst jetzt merkte er, daß der Kleine ihm allen Ereignissen zum Trotz sympathisch geworden war. »Ob es daran liegt, daß wir auf der anderen Seite der Straße geblieben sind? Irgend etwas hat ihn gezwungen, uns zu verlassen. Vielleicht hätte die Straße der Mächtigen diesen Einfluß abgeschirmt. Wenn uns die Sache mit dem Burkolls doch nur früher aufgefallen wäre!« Razamon zuckte die Schultern. Es war ihm nicht anzusehen, ob er sich über das Schicksal des Doppelköpfigen überhaupt Gedanken machte. »Möglich ist alles«, sagte der Pthorer nach einer Weile. »Genauso gut kann es mit dem Drachenfleisch zusammenhängen, das Muur-Arthos gegessen hat. Jedenfalls ist er weg, und wir können nichts daran ändern.« Atlan sah seinen Weggefährten nachdenk-
lich von der Seite her an. Razamon tat, als merke er es nicht. Der Arkonide ahnte, daß ihm noch einige Unannehmlichkeiten bevorstanden. Er achtete darauf, stets einen Sicherheitsabstand zu dem Pthorer zu wahren. Vielleicht war sein Mißtrauen unbegründet, aber es sah ganz so aus, als treibe Razamon einer jener Phasen entgegen, in der er in sinnloser Wut die verrücktesten Angriffe startete. Schweigend trotteten sie durch fast staubfreien Sand neben der Straße her. Gegen Mittag fanden sie eine Quelle, neben der ein Dutzend Bäume standen, verkrümmte Gewächse mit zerzausten Kronen, die aber wenigstens etwas Schatten spendeten. Sie packten das mitgenommene Fleisch aus und schöpften das kristallklare Wasser mit den hohlen Händen aus dem Quellbecken. Anschließend setzten sie sich unter die Bäume, um für ein paar Minuten auszuruhen. Als Atlan einmal plötzlich aufblickte, begegnete er Razamons düsteren Blicken. Der Pthorer drehte sich hastig um. Sie waren noch dreißig Kilometer von Orxeya entfernt, eine lächerlich kurze Strecke für jemanden, der es gewohnt war, in Lichtjahren zu denken. Aber Pthor war eine Welt für sich, und dreißig Kilometer waren sechs Wegstunden am Rand der Gefahren, von denen Atlan nur einen Bruchteil erahnen konnte. Reichte das nicht? Mußte auch Razamon Schwierigkeiten machen? Er hielt es unter den Bäumen nicht mehr aus. Als Razamon sah, daß der Arkonide zum Aufbruch rüstete, erhob er sich ebenfalls. Er schwieg beharrlich, und sein Gesicht war düster, als wälzte er geheime Pläne.
ENDE
ENDE