TRUMAN CAPOTE
Sommerdiebe ROMAN Aus dem Amerikani...
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TRUMAN CAPOTE
Sommerdiebe ROMAN Aus dem Amerikanischen von Heidi Zerning
KEIN & ABER
Herausgegeben und mit einer editorischen Notiz von Anuschka Roshani Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Summer Crossing« bei Random House, New York. Copyright © 2006 by The Truman Capote Literary Trust This Translation published by arrangement with Random House, an imprint of Random Housc Publishing Croup, a division of Random House, Inc. 1. Auflage, März 2006 2. Auflage, April 2006 3. Auflage. April 2006 4. Auflage, April 2006 Deutsche Erstausgabe Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2006 by Kein & Aber AG Zürich Umschlagfoto: Cecil Realon, by courtesy of Cecil Bcaton Studio /Archive, Sotheby’s Covergestaltung: Nicholas Ditzler Gesetzt aus der Fairfield Light Satz Dörlemann Satz. Lemförde Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 3 03619 5157 1 www. keinundaber.ch
KAPITEL 1
»Du bist ein Rätsel, mein Liebes«, sagte ihre Mutter, und Grady, die versonnen durch einen Tafelauf‐ satz mit Rosen und Farn über den Tisch blickte, lächelte nachsichtig: ja, ich bin ein Rätsel, und der Gedanke gefiel ihr. Aber Apple, acht Jahre älter, verheiratet und alles an‐ dere als rätselhaft, sagte: »Grady ist dumm, weiter nichts; ich wünschte, ich könnte mitkommen. Stell dir vor, Mama, nächste Woche um diese Zeit wirst du in Paris früh‐ stücken! George verspricht immer, dass wir hinfahren ... aber ich weiß nicht.« Sie schwieg und sah ihre Schwes‐ ter an. »Grady, warum in aller Welt willst du mitten im Sommer in New York bleiben?« Grady wünschte, die an‐ deren würden sie in Ruhe lassen; immer dieses Nach‐ haken, dabei war nun endlich der Tag gekommen, an dem das Schiff auslief: was gab es da noch zu sagen, über das hi‐ naus, was sie schon gesagt hatte? Danach gab es nur noch die Wahrheit, und mit der mochte sie nicht ganz heraus‐ rücken. »Ich habe hier noch nie den Sommer verbracht«, sagte sie, wobei sie es vermied, ihnen in die Augen zu schauen, indem sie aus dem Fenster sah: das Glitzern des Verkehrs hob die Stille des Junimorgens im Central Park hervor, und die Sonne strömte mit der Kraft des jungen Sommers, der den grünen Schorf des Frühlings trocknet, 7
durch die Bäume vor dem Plaza, in dem sie frühstückten. »Ich bin eben pervers, ihr habt Recht.« Lächelnd gestand sie sich ein, dass es vielleicht ein Fehler gewesen war, das gesagt zu haben: ihre Familie war ohnehin nicht weit weg davon, sie für pervers zu halten; schon mit vierzehn war sie zu der erschreckenden und völlig klaren Einsicht ge‐ langt: ihre Mutter, begriff sie, liebte sie, ohne sie wirklich zu mögen; anfangs hatte sie gedacht, es läge daran, dass sie in den Augen ihrer Mutter hässlicher, eigensinniger, weniger kokett war als Apple, aber später, als sehr zu Apples Kummer deutlich wurde, dass sie, Grady, wesentlich hüb‐ scher aussah, gab sie es auf, sich über den Standpunkt ih‐ rer Mutter den Kopf zu zerbrechen: die Antwort lautete natürlich, was auch sie schließlich begriff, dass sie ein‐ fach, in aller Stille, ihre Mutter nie, nicht einmal als ganz kleines Mädchen, sonderlich gemocht hatte. Doch beide machten davon nicht viel Aufhebens; das Haus ihrer Ab‐ neigung war bescheiden mit Zärtlichkeit möbliert, die Mrs. McNeil jetzt zum Ausdruck brachte, indem sie die Hand ihrer Tochter ergriff und dabei sagte: »Wir werden uns aber Sorgen um dich machen, Liebling. Wir können gar nicht anders. Also ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Ich bezweifle, ob das das Richtige ist. Siebzehn ist nicht sehr alt, und du warst noch nie ganz allein.« Mr. McNeil, der, wenn er den Mund auftat, sich im‐ mer so anhörte, als ginge es um seinen Einsatz beim Pokerspiel, der aber nur selten den Mund auftat, teils, weil seine Frau nicht gern unterbrochen wurde, teils, weil er ein sehr müder Mann war, titschte seine Zigarre in der Kaffeetasse aus, was bei Apple und Mrs. McNeil be‐ 8
wirkte, dass sie zusammenzuckten, und sagte: »Als ich achtzehn war, Teufel auch, da hatte ich mich schon drei Jahre lang in Kalifornien umgetan.« »Aber Lamont – du bist schließlich ein Mann.« »Was gibt’s da für einen Unterschied?«, brummte er. »Gibt doch schon seit einiger Zeit keinen Unterschied mehr zwischen Männern und Frauen. Behauptest du selbst.« Mrs. McNeil räusperte sich, als habe das Gespräch eine unangenehme Wendung genommen. »Trotz allem, Lamont, ist mir gar nicht wohl bei der Abreise ...« Unbändiges Gelächter stieg in Grady auf, eine freu‐ dige Erregung angesichts dieses Sommers, der sich vor ihr erstreckte wie eine endlose weiße Leinwand, auf die sie selbst die ersten groben Pinselstriche auftragen konnte, ganz und gar frei. Dann wiederum, und mit erns‐ tem Gesicht, lachte sie, weil die anderen kaum etwas ahnten, nichts. Das Licht, das flirrend vom Tafelsilber abprallte, schien ihre Erregung zu stärken und ihr gleich‐ zeitig ein Warnsignal zuzublinken: Vorsicht, Liebes. Aber anderswo sagte etwas: Grady, sei stolz, du bist groß, also hisse deine Flagge hoch droben, im Wind. Was konnte gesprochen haben, die Rose? Rosen sprechen, sie sind das Herz der Weisheit, hatte sie irgendwo gelesen. Sie sah wieder aus dem Fenster; das Gelächter strömte hoch, es flutete auf ihre Lippen: was für ein strahlender, son‐ nenüberglänzter Tag für Grady McNeil und Rosen, die sprechen! »Was ist denn so komisch, Grady?« Apple hatte keine angenehme Stimme; sie erinnerte an das vorsprachliche 9
Gebrabbel eines missgelaunten Säuglings. »Mutter stellt eine einfache Frage, und du lachst, als wäre sie eine dum‐ me Kuh.« »Grady hält mich bestimmt nicht für eine dumme Kuh«, sagte Mrs. McNeil, aber ein Unterton schwacher Überzeugung deutete auf Zweifel hin, und ihre Augen, verhangen von dem spinnennetzartigen Hutschleier, den sie jetzt vor das Gesicht zog, trübten sich von dem Stich, den sie stets verspürte, wenn ihr das entgegenschlug, was sie für Gradys Verachtung hielt. Es ging noch an, dass es zwischen ihnen nur die spärlichste Verbindung gab: es herrschte keine echte Sympathie, das wusste sie; doch dass Grady sich durch ihre Unnahbarkeit für die Über‐ legene ausgeben konnte, war unerträglich: in solchen Au‐ genblicken zuckten Mrs. McNeil die Hände. Einmal, aber das war schon viele Jahre her, als Grady noch ein Wildfang mit kurzen Haaren und verschorften Knien war, hatte sie ihre Hände nicht beherrschen können, und bei dieser Gelegenheit, die natürlich in jene Zeit fiel, welche die nervenaufreibendste im Leben einer Frau ist, hatte sie, provoziert von Gradys rücksichtsloser Unzugänglich‐ keit, ihre Tochter heftig geohrfeigt. Jedes Mal, wenn sie danach von ähnlichen Regungen überkommen wurde, gab sie ihren Händen Halt auf einer festen Oberfläche, denn anlässlich ihrer damaligen Unbeherrschtheit hatte Grady, deren abschätzende grüne Augen wie Bröckchen aus Meerwasser waren, sie unverwandt angeblickt, hatte in sie hineingeblickt und einen Scheinwerferkegel auf den verwohnten Spiegel ihrer Eitelkeit gerichtet: denn sie war eine beschränkte Frau, es war ihre erste Begegnung mit 10
einer Willenskraft, die stärker war als ihre eigene. Be‐ stimmt nicht, sagte sie und zwinkerte mit gekünsteltem Humor. »Tut mir leid«, sagte Grady. »Hast du eine Frage ge‐ stellt? Ich höre offenbar nicht mehr hin.« Das Letzte war von ihr weniger als Entschuldigung gemeint, sondern eher als ein ernstes Geständnis. »Also wirklich«, zwitscherte Apple, »man könnte mei‐ nen, du bist verliebt.« Etwas pochte an ihr Herz, ein Gefühl der Gefahr, das Silber bebte bedeutsam, und eine Zitronenscheibe, halb zerdrückt in Gradys Hand, verharrte reglos: Grady schau‐ te ihrer Schwester rasch in die Augen, um zu sehen, ob dort irgendetwas Kluges und nicht ganz so Dummes zu entdecken war. Zufrieden drückte sie weiter die Zitrone in ihren Tee aus und hörte ihre Mutter sagen: »Es geht um das Kleid, Liebes. Ich finde, ich kann es ebenso gut in Paris anfertigen lassen: Dior oder Fath, so jemand. Das könnte auf lange Sicht sogar preiswerter sein. Ein wei‐ ches Lindgrün wäre himmlisch, besonders bei deinem Teint und deinen Haaren – ich muss allerdings sagen, ich wünschte, du würdest sie nicht so kurz tragen: das wirkt unpassend und nicht ... nicht sehr weiblich. Zu schade, dass Debütantinnen nicht Grün tragen können. Ich denke da an etwas aus weißer moirierter Seide ...« Grady unterbrach sie mit einem Stirnrunzeln. »Wenn das das Partykleid sein soll, dann will ich es nicht haben. Ich will keine Party, und ich habe nicht vor, auf eine zu ge‐ hen, jedenfalls nicht auf so eine. Ich will mich nicht zum Gespött machen.« 11
Von allen Dingen, die Mrs. McNeil auf die Nerven gin‐ gen, reizte und ärgerte sie das am meisten: sie zitterte, als erschütterten unnatürliche Schwingungen das solide und stabile Mauerwerk des Plaza‐Speisesaals. Auch ich lasse mich nicht zum Gespött machen, hätte sie sagen können, denn im Hinblick auf Gradys Debütantinnenjahr hatte sie schon viel Vorarbeit geleistet, viel in die Wege geleitet; es wurde sogar erwogen, eine Sekretärin einzustellen. Darü‐ ber hinaus hätte sie in einem Anfall von Selbstgerechtig‐ keit sogar so weit gehen können, zu behaupten, sie habe ihr gesamtes Gesellschaftsleben, jeden öden Lunch und jeden todlangweiligen Fünfuhrtee (wie sie das in diesem Licht hinstellen würde) nur ertragen, damit ihren Töch‐ tern in ihrem Balljahr ein glänzender Empfang bereitet wurde. Lucy McNeils eigenes Debüt war ein berühmtes und gefühlvolles Ereignis gewesen: ihre Großmutter, eine zu Recht gefeierte New‐Orleans‐Schonheit, die den Sena‐ tor LaTrotta von South Carolina geheiratet hatte, führte Lucy zusammen mit ihren beiden Schwestern ein, auf einem Kamelienball in Charleston im April des Jahres 1920; es war wahrhaftig eine Einführung, denn die drei La‐ Trotta‐Schwestern waren kaum mehr als Schulmädchen, deren gesellschaftliche Abenteuer sich bislang in den Fes‐ seln der Kirche zugetragen hatten; so hungrig war Lucy an jenem Abend herumgewirbelt, dass ihre Füße noch tage‐ lang die Blasen dieses Eintritts ins Leben getragen hatten, so hungrig hatte sie den Sohn des Gouverneurs geküsst, dass ihre Wangen noch einen Monat lang vor reumütiger Scham gebrannt hatten, denn ihre Schwestern – damals Jungfern und immer noch Jungfern – behaupteten, Küsse 12
produzierten Babys: nein, sagte ihre Großmutter, als sie ihr tränenreiches Geständnis hörte, Küsse produzieren keine Babys – sie produzieren aber auch keine Ladys. Erleichtert setzte sie ihren Weg durch ein Jahr des Triumphs fort; es wurde ein Triumph, weil sie angenehm anzusehen und nicht unerträglich anzuhören war: enorme Vorteile, wenn man bedachte, dass dies die karge Jahreszeit war, in der den jungen Herren nur solche beklagenswerten Essig‐ pflaumen wie Hazel Veere Numland oder die Lincoln‐ Mädchen zur Auswahl standen. Dann, in den Winter‐ ferien, hatte auch die Familie ihrer Mutter, die Fairmonts aus New York, ihr zu Ehren und genau in diesem Hotel, dem Plaza, einen stilvollen Ball gegeben; sie versuchte sich daran zu erinnern, aber obwohl sie jetzt so dicht beim da‐ maligen Schauplatz saß, vermochte sie sich nur wenig ins Gedächtnis zu rufen, lediglich, dass alles golden und weiß gewesen war, dass sie die Perlen ihrer Mutter getragen hatte, und, ach ja, sie war Lamont McNeil begegnet, ein nicht weiter bemerkenswertes Vorkommnis: sie tanzte ein‐ mal mit ihm und war nicht sonderlich angetan. Ihre Mut‐ ter jedoch war stärker beeindruckt, denn Lamont McNeil, gesellschaftlich zwar ein unbeschriebenes Blatt, warf, ob‐ wohl erst Ende zwanzig, einen immer größeren Schatten auf die Wall Street und galt deshalb als gute Partie, wenn nicht im Kreise der Engel, so doch bei denen in der Schicht direkt darunter. Er wurde zum Essen gebeten. Lucys Vater lud ihn nach South Carolina zur Entenjagd ein. Mannhaft, gab Mrs. LaTrotta von sich, die große alte Dame, und da dies ihr Maßstab war, erteilte sie ihm das goldene Siegel. Sieben Monate später sagte Lamont 13
McNeil, seine Pokerstimme zu ihrem zärtlichsten Vibrato senkend, sein Sprüchlein, und Lucy, die zuvor erst zwei Heiratsanträge erhalten hatte, einer absurd und der andere ein Scherz, sagte, ach, Lamont, ich bin das glücklichste Mädchen auf der Welt. Sie war neunzehn, als sie ihr erstes Kind bekam: Apple, spaßigerweise so benannt, weil Lucy McNeil diese Früchte während ihrer Schwangerschaft kistenweise verzehrt hatte, aber ihre Großmutter, die zur Taufe erschien, fand das geradezu schockierend frivol – Jazz und die zwanziger Jahre, sagte sie, seien Lucy zu Kopf gestiegen. Aber diese Namenswahl war das letzte fröhliche Ausrufungszeichen einer verlängerten Kindheit, denn ein Jahr später verlor sie ihr zweites Kind; es war ein totgebo‐ rener Sohn, und zum Andenken an ihren im Krieg gefal‐ lenen Bruder nannte sie ihn Grady. Sie brütete lange vor sich hin, Lamont mietete eine Jacht, und sie machten eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer; in jedem hellen, pastellfar‐ benen Hafen, von St. Tropez bis Taormina, gaben sie an Bord traurige, verweinte Eiscremepartys für Horden ein‐ heimischer verlegener kleiner Jungs, die der Steward an Land gekapert hatte. Aber bei ihrer Rückkehr nach Ameri‐ ka lichtete sich dieser tränenreiche Nebel abrupt: sie ent‐ deckte das Rote Kreuz, Harlem und das zwingende Ge‐ bot beim Bridge, sie engagierte sich für die Trinitarische Kirche, den Cosmopolitan und die Republikanische Par‐ tei, es gab nichts, was sie nicht förderte, begünstigte und protegierte: einige sagten, sie sei bewundernswert, andere nannten sie tapfer, einige wenige verachteten sie. Diese wenigen bildeten jedoch eine energische Clique, und mit vereinten Kräften hatten sie im Laufe der Jahre ein Dut‐ 14
zcnd ihrer ehrgeizigen Bestrebungen hintertrieben. Lucy hatte gewartet: sie hatte auf Apple gewartet: die Mutter einer erstklassigen Debütantin verfügt über die gesell‐ schaftliche Form des atomaren Gegenschlags; aber dann wurde sie darum betrogen, denn es gab einen neuen Krieg, und ein Debüt mitten im Krieg hätte von außerordentlich schlechtem Geschmack gezeugt: sie hatten stattdessen England einen Sanitätswagen geschenkt. Und nun ver‐ suchte auch Grady, sie darum zu betrügen. Ihre Hände zuckten nervös auf dem Tisch, flogen zum Revers ihres Kostüms und zupften an einer Brosche aus zimtfarbenen Diamanten: es war zu viel, Grady hatte immer versucht, sie zu betrügen, einfach dadurch, dass sie nicht als Junge ge‐ boren wurde. Sie hatte sie trotzdem Grady genannt, und die arme Mrs. LaTrotta, die sich damals in ihrem letzten, verdrossenen Lebensjahr befand, hatte sich dazu aufge‐ rafft, Lucy für morbide zu erklären. Aber Grady war nie Grady gewesen, nicht das Kind, das sie sich wünschte. Und es war keineswegs so, dass Grady in dieser Hinsicht ideal sein wollte: Apple mit ihrer niedlichen, koketten Art und unterstützt von Lucys Stilgefühl, wäre ein sicherer Erfolg gewesen, aber Grady, die, so fing es schon an, bei jungen Leuten nicht beliebt zu sein schien, war ein Wag‐ nis. Wenn sie sich weigerte mitzumachen, war der Miss‐ erfolg unvermeidlich. »Es wird ein Debüt geben, Grady McNeil«, sagte sie und zog ihre Handschuhe in die Länge. »Du wirst weiße Seide tragen und einen Strauß grüner Or‐ chideen haben: der wird ein wenig die Farbe deiner Augen einfangen und zu deinen roten Haaren passen. Und wir werden die Kapelle engagieren, die die Beils für Harriet 15
hatten. Ich warne dich, Grady, wenn du dich deswegen grässlich aufführst, werde ich nie wieder ein Wort mit dir wechseln. Lamont, verlangst du bitte die Rechnung?« Grady schwieg einige Augenblicke lang; sie wusste, dass die anderen nicht so ruhig waren, wie sie taten: sie warteten darauf, dass sie wieder Theater machte, was be‐ wies, mit welcher Ungenauigkeit sie sie beobachteten, wie wenig sie von ihrem neuen Wesen ahnten. Noch vor einem Monat, noch vor zwei Monaten wäre sie, wenn sie sich in ihrer Würde so angegriffen gefühlt hätte, hinaus‐ gestürzt und in ihrem Auto mit durchgetretenem Gas‐ pedal über die Hafenstraße gebraust; sie hätte Peter Bell aufgetrieben und den Ärger in einem Wirtshaus an der Landstraße hinter sich gelassen; sie hätte alle dazu ge‐ bracht, sich Sorgen zu machen. Aber was sie jetzt emp‐ fand, war echte Unbeteiligtheit. Und bis zu einem ge‐ wissen Grade Sympathie für Lucys ehrgeizige Pläne. Es war so weit fort, einen ganzen Sommer weit; es gab keinen Grund, zu glauben, dass es je geschehen würde, das weiße Seidenkleid und die Kapelle, die die Beils für Harriet ge‐ habt hatten. Während Mr. McNeil die Rechnung beglich und sie den Speisesaal durchquerten, nahm sie Lucys Arm und drückte ihr mit ungelenker Ausgelassenheit ein zartes, spontanes Küsschen auf die Wange. Es war eine Geste, die die unmittelbare Wirkung hatte, sie alle zu ver‐ einen; sie waren eine Familie: Lucy strahlte, ihr Mann, ihre Töchter, sie war eine stolze Frau, und Grady, bei all ihrer eigensinnigen Sonderbarkeit, war ein wunderbares Kind, eine richtige Persönlichkeit. »Liebling«, sagte Lucy, »du wirst mir fehlen.« 16
Apple, die vorausging, drehte sich um. »Grady, bist du heute Morgen in deinem Auto hergekommen?« Grady ließ sich Zeit mit der Antwort; neuerdings schien alles, was Apple sagte, verdächtig zu sein; aber warum sich Gedanken machen? Was, wenn Apple es wusste? Trotzdem hatte sie etwas dagegen. »Ich bin mit dem Zug aus Greenwich gekommen.« »Dann hast du das Auto zu Hause gelassen?« »Wieso, ist das von Bedeutung?« »Nein; na ja, schon. Und du brauchst mich nicht so an‐ zublaffen. Ich dachte nur, du könntest mich nach Long Island hinausfahren. Ich habe George versprochen, dass ich in der Wohnung vorbeischaue und seine Enzyklopädie hole – einen schweren Brocken. Ich würde sie äußerst un‐ gern im Zug mitschleppen. Wenn wir früh genug hinkä‐ men, könnten wir baden gehen.« »Tut mir leid, Apple. Das Auto ist in der Werkstatt; ich hab’s neulich hingebracht, weil der Tachometer klemmte. Wahrscheinlich ist es inzwischen fertig, aber ich bin schon in der Stadt verabredet.« »Ach ja?«, sagte Apple säuerlich. »Was dagegen, wenn ich frage, mit wem?« Grady hatte sehr viel dagegen, gab aber »Mit Peter Bell« zur Antwort. »Mit Peter Bell, großer Gott, warum triffst du dich an‐ dauernd mit dem? Der hält sich für sehr klug.« »Das ist er auch.« »Apple«, sagte Lucy, »Gradys Freunde gehen dich nichts an. Peter ist ein reizender Junge; und seine Mutter war eine meiner Brautjungfern. Lamont, weißt du noch? 17
Sie hat den Brautstrauß aufgefangen. Aber ist Peter nicht noch in Cambridge?« Genau in diesem Augenblick hörte Grady, wie je‐ mand quer durch die Hotelhalle ihren Namen rief: »Heda, McNeil!« Nur ein Mensch auf der ganzen Welt nannte sie so, und mit gespielter Freude, denn er hatte sich für sei‐ nen Auftritt nicht den glücklichsten Zeitpunkt ausgesucht, sah sie, er war es. Ein junger Mann, teuer, aber unpassend gekleidet (er trug eine weiße Abendkrawatte zu einem strengen Flanellanzug, dessen Hose von einem denkbar unpassenden, schmucksteinbesetzten Wildwestgürtel zu‐ sammengehalten wurde, und an seinen Füßen staken Ten‐ nisschuhe), der sein Wechselgeld am Zigarrenstand ein‐ steckte. Als er auf sie zuging, wobei sie ihm auf halbem Wege entgegenkam, schritt er mit dem lassigen Selbstver‐ trauen dessen aus, der immer weiß, wo das Beste im Le‐ ben zu finden ist. »Was bist du hübsch, McNeil«, sagte er und drückte sie voller Zutrauen an sich. »Aber nicht so hübsch wie ich: ich war gerade beim Friseur.« Die makel‐ lose Frische seines glatten, klaren Gesichts bewies das; und ein frischer Haarschnitt gab ihm jenen Anschein wehrloser Unschuld, wie es nur ein Haarschnitt kann. Grady versetzte ihm einen glücklichen, jungenhaften Schubs. »Warum bist du nicht in Cambridger Oder ist das Recht zu langweilig?« »Langweilig schon, aber nicht so langweilig, wie meine Familie es sein wird, wenn sie hört, dass ich rausge‐ schmissen worden bin.« »Ich glaube dir kein Wort«, lachte Grady. »Jedenfalls will ich alles darüber hören. Nur sind wir gerade schreck‐ 18
lich in Eile. Mutter und Dad fahren nach Europa, und ich bringe sie zum Schiff.« »Kann ich mitkommen? Bitte, Miss?« Grady zögerte, dann rief sie: »Apple, sag Mutter, Peter kommt mit«, und Peter Bell drehte Apple hinter ihrem Rücken eine lange Nase, dann lief er auf die Straße, um ein Taxi zu rufen. Sie brauchten zwei Taxis; Grady und Peter, die an der Gar‐ derobe warteten, um Lucys kleinen schielenden Dackel abzuholen, nahmen das zweite. Es hatte ein Schiebedach: Taubenflüge, Wolken und Hochhaustürme stürzten auf sie ein; die Sonne, sommerspitze Pfeile abschießend, spiel‐ te mit der hellen Kupferpennyfarbe von Gradys kurzge‐ schnittenen Haaren, und ihr schmales, lebhaftes Gesicht, geformt aus Knochen von fischgrätenhafter Zartheit, er‐ glühte unter dem wehenden honiggelben Licht. »Falls je‐ mand fragen sollte«, sagte sie, als sie Peters Zigarette für ihn anzündete, »Apple oder jemand, dann sag bitte, dass wir verabredet sind.« »Ist das ein neuer Trick, den Herren die Zigaretten an‐ zuzünden? Und dieses Feuerzeug; McNeil, wo hast du das denn her? Grauenhaft.« Das war es auch. Es war ihr jedoch bis zu diesem Augenblick nicht so vorgekommen. Spiegelblank und mit einer riesigen Initiale aus Glitzerplättchen, war es die Art von Neuheit, die man auf den Ladentischen von Drug‐ stores findet. »Ich habe es gekauft«, sagte sie. »Es funk‐ tioniert phantastisch. Denkst du trotzdem an das, was ich dir gerade gesagt habe?« 19
»Nein, mein Schatz, das hast du nie im Leben gekauft. Du gibst dir große Mühe, aber ich fürchte, du bist wirk‐ lich nicht besonders ordinär.« »Peter, nimmst du mich auf den Arm?« »ja, natürlich«, lachte er, und sie zog ihn, ebenfalls la‐ chend, an den Haaren. Obwohl nicht miteinander ver‐ wandt, waren Grady und Pctcr dennoch Verwandte, nicht durch das Blut, sondern aus Sympathie: es war die beglü‐ ekendste Freundschaft, die sie kannte, und in ihrem war‐ men, sicheren Bad entspannte sie sich bei jedem Zusam‐ mensein mit ihm. »Warum sollte ich dich nicht auf den Arm nehmen? Machst du nicht genau das mit mir? Nein, schüttle nicht den Kopf. Du führst was im Schilde, und du willst es mir nicht sagen. Macht nichts, Liebes, ich werde dich jetzt nicht quälen. Und was die Verabredung angeht, warum nicht? Hauptsache, ich kann meinen be‐ sorgten Eltern aus dem Weg gehen. Allerdings wirst du zahlen: was hat es schließlich für einen Sinn, für dich Geld auszugeben? Viel lieber würde ich um die liebe Schwester Harnet herumscharwenzeln; wenigstens kann sie einem alles über Astronomie erzählen. Übrigens, weißt du, was dieses öde Mädchen gemacht hat: sie ist nach Nantucket gefahren und will den Sommer damit ver‐ bringen, die Sterne zu studieren. Ist das das Schiff? Die Queen Mary? Und ich hatte auf etwas Amüsantes wie einen polnischen Tanker gehofft. Wer sich diesen wider‐ lichen Walfisch ausgedacht hat, der müsste vergiftet wer‐ den: ihr Iren habt völlig Recht, die Engländer sind ein Graus. Aber die Franzosen auch. Die Normandie ist gar nicht früh genug ausgebrannt. Trotzdem würde ich nie 20
an Bord eines amerikanischen Schilfes gehen, und wenn man mir dafür ...« Die McNeils waren im A‐Deck untergebracht, in einer Suite mit getäfelten Kabinen und falschen Kaminen. Lucy, an deren Revers eben eingetroffene Orchideen zit‐ terten, huschte hierhin und dorthin, mit Apple im Ge‐ folge, die ihr die Begleitkarten von diversen Obst‐ und Blumenpräsenten vorlas. Mr. McNeils Sekretärin, die statt‐ liche Miss Seed, ging zwischen ihnen mit einer Flasche Piper‐Heidsieck umher, ihre Miene war ein wenig ver‐ kniffen angesichts der Ungehörigkeit von Champagner am Vormittag (Peter Bell sagte zu ihr, er brauche kein Glas, er nähme auch die Flasche mit dem, was noch drin sei), und Mr. McNeil selbst, würdig geschmeichelt, stand an der Tür und wimmelte einen Mann ab, der wichtige Reisende für das Fernsehen interviewte: »Tut mir leid, alter Knabe ... hab mein Make‐up vergessen, haha.« Nie‐ mand mochte die Witze von Mr. McNeil, die einzigen, bei denen er damit ankam, waren andere Männer sowie Miss Seed: und das nur, behauptete Lucy, weil Miss Seed in ihn verliebt war. Der Dackel zerriss die Strümpfe einer Photographin, die Lucy in ihrer steifsten Zeitschriften‐ pose ablichtete: »Was haben wir drüben vor?«, sagte Lucy, die Frage des Reporters wiederholend. »Also, ich weiß nicht genau. Wir besitzen ein Haus in Cannes, das wir seit dem Krieg nicht mehr gesehen haben; da werden wir wohl Halt machen. Und Einkäufe machen; natürlich wer‐ den wir Einkäufe machen.« Sie hüstelte verlegen. »Aber hauptsächlich geht es um die Schiffsreise. Nichts weckt die Geister wie eine Sommerpassage.« 21
Peter Bell stahl den Champagner und entführte Grady hinauf durch die Salons bis auf ein offenes Deck, wo Pas‐ sagiere, die mit ihren Abschiedsbesuchern vor der Sky‐ line der City promenierten, sich bereits stolz den wiegen‐ den Seemannsgang angeeignet hatten. Ein einsames Kind stand an der Reling und warf traurig Konfettiwolken in die Luft: Peter bot ihm einen Schluck Champagner an, aber die Mutter des Kindes, eine Riesin von ungewöhnlichem Körperbau, nahte mit donnernden Schritten und trieb sie in die Flucht zu dem Deck mit den Hundezwingern. »Oh je«, sagte Peter, »von der bösen Familie in die Hunde‐ hütte verbannt: ist das nicht immer unser Los?« Sie kauer‐ ten sich an einem sonnigen Plätzchen zusammen; es war so verborgen wie das Versteck eines blinden Passagiers, ein sehnsüchtiges Röhren aus den Schornsteinen klagte durchdringend, und Peter sagte, wie wundervoll es wäre, wenn sie einschliefen und erst aufwachten, wenn die Sterne am Himmel stünden und das Schiff auf hoher See wäre. Als sie Vorjahren über die Strände von Connecticut gelaufen waren und auf den Sund geblickt hatten, da hat‐ ten sie ganze Tage damit zugebracht, ausführliche und abenteuerliche Pläne zu schmieden: Peter hatte dabei im‐ mer eine ernste Begeisterung an den Tag gelegt, er schien fest zu glauben, dass ein Schlauchboot sie bis nach Spa‐ nien tragen würde, und etwas von dem alten Ton schwang jetzt in seiner Stimme mit. »Wahrscheinlich ist es nur gut, dass wir keine Kinder mehr sind«, sagte er und teilte den letzten Rest Champagner mit ihr, »das wäre wirklich zu elend. Aber ich wünschte, wir wären noch Kinder genug, um auf diesem Schiff zu bleiben.« 22
Grady streckte die nackten braunen Beine aus und warf den Kopf in den Nacken. »Dann würde ich an Land schwimmen.« »Vielleicht kenne ich dich nicht mehr so gut wie früher. Ich bin viel weggewesen. Aber wie kannst du Europa aus‐ schlagen, McNeil? Oder ist das unverschämt? Ich meine, mische ich mich in dein Geheimnis ein?« »Es gibt kein Geheimnis«, sagte sie, teils verärgert, teils beschwingt von dem Wissen, dass es vielleicht doch eins gab. »Kein richtiges. Es ist mehr, na ja, eine Heimlichkeit, eine kleine Heimlichkeit, die ich gerne noch eine Weile hüten würde, nicht für immer, aber eine Woche, einen Tag, nur ein paar Stunden: weißt du, so, wie man ein Geschenk in der Schublade verwahrt; man muss es bald genug fortgeben, aber eine Weile noch möchte man es ganz für sich haben.« Obwohl sie ihr Gefühl unbeholfen ausgedrückt hatte, warf sie einen Blick in Peters Gesicht, überzeugt, dort eine Spiegelung des altgewohnten Ver‐ ständnisses zu finden; aber sie entdeckte nur eine be‐ unruhigende Abwesenheit jeglichen Ausdrucks: er wirkte ausgeblichen, als habe die plötzliche Einwirkung des Son‐ nenlichts ihn aller Farbe beraubt, und da sie plötzlich merkte, dass er ihre Worte gar nicht gehört hatte, tippte sie ihm auf die Schulter. »Ich habe mich gefragt«, sagte er blinzelnd, »ich habe mich gefragt, ob Unbeliebtheit nicht am Ende doch noch belohnt wird?« Das war eine Frage mit einer Vorgeschichte; aber Grady, die von Peters eigenem Leben die Antwort darauf erhalten hatte, war überrascht, sogar ein wenig erschro‐ cken, hören zu müssen, dass er sie so wehmütig stellte, 23
ja dass er sie überhaupt stellte. Peter war nie beliebt ge‐ wesen, so viel war richtig, weder in der Schule noch im Club, noch bei irgendjemandem von den Leuten, zu deren Bekanntschaft, wie er es ausdrückte, sie verurteilt waren; dabei hatte gerade das dazu geführt, dass sie sich miteinander verschworen hatten, denn Grady, der wenig an all dem lag, liebte Peter und hatte sich ihm in seinem abseitigen Reich angeschlossen, ganz als gehörte sie dort aus demselben Grunde hin wie er: Peter seinerseits hatte ihr eingeredet, sie sei ebenso unbeliebt wie er: sie seien zu edel, es sei nicht ihre Zeit, diese Ära der Jugendlich‐ keit, man werde sie beide, sagte er, erst in Zukunft zu schätzen wissen. Grady hatte das nie beschäftigt; in die‐ sein Sinne war sie nie unbeliebt gewesen, erkannte sie, als sie an das zurückdachte, was ihr jetzt wie ein lächer‐ liches Problem vorkam: sie hatte einfach nie irgendwelche Anstrengungen dafür unternommen oder tief empfun‐ den, dass es wichtig war, gemocht zu werden. Wohin‐ gegen das für Peter von größter Bedeutung gewesen war. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie ihrem Freund da‐ bei geholfen, eine schützende, wenn auch zugige Sand‐ burg zu errichten. Solche Sandburgen müssen irgendwann durch natürliche und erfreuliche Prozesse zerfallen. Dass die seine für Peter immer noch existierte, war schlicht außergewöhnlich. Auch wenn Grady immer noch Ver‐ wendung hatte für die Sammlung der nur für sie beide lustigen Stichwörter, für die traurigen Anekdoten und zärtlichen Wortprägungen, die sie miteinander teilten, so mochte sie sich doch an der Sandburg nicht mehr betei‐ ligen: jene gelobte Stunde, der goldene Augenblick, den 24
Peter versprochen hatte, wusste er nicht, dass der jetzt da war? »Ich weiß«, sagte er, als habe er ihren Gedanken er‐ raten und antworte jetzt darauf. »Trotzdem.« Ich weiß. Trotzdem. Er seufzte über sein Motto. »Du hast wahr‐ scheinlich gedacht, ich mache Witze. Über die Univer‐ sität. Aber ich bin wirklich rausgeflogen; nicht, weil ich das Falsche gesagt habe, sondern weil ich vielleicht das zu Richtige gesagt habe: beides ist offenbar uner‐ wünscht.« Die Ausgelassenheit, die ihm so gut stand, ließ sein Schalksgesicht wieder zum Vorschein kommen. »Ich bin froh über dich«, sagte er unerklärlicherweise, aber mit solch einem Schwall von Wärme, dass Grady die Wange an sein Gesicht drückte. »Wenn ich sagen würde, ich liebe dich, dann wäre das inzestuös, nicht wahr, McNeil?« Alle‐an‐Land‐Gongs hallten durch das Schiff, und Schat‐ ten, die plötzlich aus grauen Wolken fielen, häuften sich wie Asche auf dem Deck. Grady verspürte für einen Augenblick den sonderbarsten Verlust: der arme Peter, er kannte sie noch weniger als Apple, wurde ihr bewusst, und doch, weil er ihr einziger Freund war, wollte sie ihm sagen: nicht jetzt, irgendwann. Und was würde er sagen? Weil er Peter war, vertraute sie darauf, dass er sie noch mehr lieben würde: wenn nicht, dann mochte das Meer ihre Sandburg verschlingen, nicht die, die sie gebaut hat‐ ten, um das Leben fernzuhalten, die war schon ver‐ schwunden, wenigstens für sie, sondern eine andere, die‐ jenige, die Freundschaften und Versprechen beschützt. Als die Sonne sich bedeckt hatte, stand er auf und zog sie mit den Worten auf die Beine: »Und wo werden wir 25
heute Abend feiern?«, aber Grady, die ihm jeden Augen‐ blick erklären wollte, dass sie die Verabredung mit ihm nicht einhalten konnte, kam nicht dazu, denn als sie die Treppe hinuntergingen, rief ihnen ein Steward blechern mit glänzendem Gong seine Warnung zu, und später, im Getümmel von Lucys Abschied, vergaß sie es ganz. Mit flatterndem Taschenluch hektisch ihre Töchter umarmend, folgte Lucy ihnen zur Gangway; sobald sie beide an den Segeltuchtunnel gebracht hatte, eilte sie hinaus aufs Deck und hielt nach ihnen hinter dem grünen Zaun Ausschau; als sie die beiden erblickte, eng zusam‐ mengedrängt und geblendet hochschauend, fing sie an, das Taschentuch zu schwenken, um ihnen zu zeigen, wo sie war, aber ihr Arm wurde seltsam schwach, und über‐ wältigt von einem Schuldgefühl der Unvollständigkeit, etwas unbeendet, ungetan gelassen zu haben, ließ sie ihn sinken. Das Taschentuch wanderte ernsthaft zu ihren Augen, und das Bild von Grady (sie liebte sie! Bei Gott, sie hatte Grady so sehr geliebt, wie das Kind es zugelas‐ sen hatte) wellte sich und verschwamm; es hatte gram‐ erfüllte Tage, schwere Tage gegeben, und obwohl Grady so verschieden von ihr war, wie sie von ihrer eigenen Mut‐ ter gewesen war, halsstarrig und härter, war sie trotzdem noch keine Frau, sondern ein Mädchen, ein Kind, und es war ein schrecklicher Fehler, sie konnten sie nicht hier‐ lassen, sie konnte ihr Kind nicht unfertig, unvollständig lassen, sie musste sich beeilen, sie musste Lamont sagen, dass sie nicht fahren durften. Aber bevor sie sich regen konnte, hatte er die Arme um sie gelegt; er winkte zu den Kindern hinunter; und dann winkte auch sie. 26
KAPITEL 2
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Der Broadway ist eine Straße; er ist auch ein Stadtvier‐ tel, eine Atmosphäre. Seit Grady dreizehn war, hatte sie jede Woche, auch in all den Wintern von Miss Hisdales Unterricht, und sogar, wenn das bedeutete, die Schule zu schwänzen, was oft der Fall war, heimliche Expeditionen in diese Atmosphäre unternommen, wobei sie anfänglich von den Big Bands im Paramount und im Strand angezo‐ gen wurde, von ausgefallenen Filmen, die nie in die Licht‐ spielhäuser östlich der Fifth Avenue gelangten oder gar nach Stamford und Greenwich. Im letzten Jahr jedoch war sie lieber nur herumgelaufen oder an Straßenecken stehen geblieben, umspült von zahllosen Passanten. Sie verharrte den ganzen Nachmittag lang und manchmal, bis es dunkel wurde. Aber es wurde dort nie dunkel: die Lich‐ ter, die den ganzen Tag über gebrannt hatten, färbten sich gelb in der Dämmerung und weiß in der Nacht, und die Gesichter, all diese traumverfangenen Gesichter, gaben dann mehr als sonst von sich preis. Anonymität machte einen Teil des Reizes aus, sie fühlte sich dann nicht mehr als Grady McNeil, doch gleichzeitig wusste sie nicht, wer an ihrer Stelle dort stand, und die höchsten Flammen ihrer Erregung entsprangen einem Brennstoff, den sie nicht zu benennen vermochte. Sie sagte niemandem etwas 29
von den perlenäugigen Negern, von den Männern in Sei‐ den‐ oder Matrosenhemden, muskelbepackt oder mit blei‐ chen Zähnen und lavendelfarbenen Anzügen, von den Männern, die lugten, lächelten, hinterherkamen: wo soll’s denn langgehen? Manche Gesichter, wie das der Frau, die in Nicks Spielhalle das Geld wechselte, sind Gesichter, die nirgendwohin gehören, sind grüne Schatten unter grü‐ nen Augen schirmen, einbalsamierte Abendmumien, die in der karamellsüßen Luft schweben. Los, schnell. Laut‐ sprecher in den Eingängen, die das triste Dröhnen von Rhythmen hektisch ins grelle Licht schleudern, hetzen die Sinne in die Ohnmacht: lauf‐ hinaus aus dem weißen Schein in die wirkliche, die heimelige Dunkelheit ohne Sex, ohne Jazz: von diesen berauschenden Schrecknissen hatte sie niemandem erzählt. In einer Seitenstraße vom Broadway und nicht weit vom Roxy lag ein bewachter Parkplatz. Eine unbelebte, scheinbar brach liegende Fläche, erlaubte er den einzigen freien Blick in einem Häuserblock mit Flohkinos und Stundenhotels. An der Einfahrt befand sich ein Schild mit der Aufschrift NEMO‐PARKPLATZ. Er war teuer und eigentlich ungünstig gelegen, aber schon seit einigen Mo‐ naten, nachdem die McNeils ihre Wohnung geschlos‐ sen und das Haus in Connecticut geöffnet hatten, stellte Grady ihr Auto jedes Mal, wenn sie in die Stadt fuhr, dort ab. Irgendwann im April hatte ein junger Mann die Stel‐ le des Parkplatzwächters übernommen. Sein Name war Clyde Manzer. 30
Noch bevor Grady den Parkplatz erreichte, hielt sie nach ihm Ausschau; an ruhigen Vormittagen spazierte er manchmal in der Gegend umher oder setzte sich in einen Automatenimbiss und trank Kaffee. Aber er war nirgend‐ wo zu sehen; auch nicht, als sie auf dem Parkplatz an‐ langte. Es war Mittag, und vom Boden stieg heißer Ben‐ zingestank auf. Obwohl er offensichtlich nicht da war, überquerte sie den Platz und rief ungeduldig seinen Na‐ men; die Erleichterung von Lucys Abfahrt, das Jahr oder die Stunde Wartezeit bis zum Wiedersehen mit ihm, all die Dinge, die sie durch den Vormittag getragen hatten, schienen plötzlich in einem gähnenden Loch unter ihr versehwunden zu sein; sie gab es schließlich auf und stand still verzweifelt in der gleißenden Glut. Dann fiel ihr ein, dass er manchmal in einem der Wagen ein Nicker‐ ehen machte. Ihr eigener Wagen, ein blaues Buick‐Kabriolett mit ihren Initialen auf dem Connecticut‐Nummernschild, war der letzte in der Reihe, und während sie noch weit davor nach ihm Ausschau hielt, begriff sie, dass sie ihn dort finden würde. Er schlief auf dem Rücksitz. Obwohl das Verdeck aufgeklappt war, hatte sie ihn vorher nicht gesehen, denn er hatte sich tief hineingekauert. Das Radio verbreitete murmelnd die Nachrichten des Tages, und in seinem Schoß lag ein aufgeschlagener Kriminalroman. Von vielen magischen Momenten ist einer, den Geliebten schlafen zu sehen; frei von Wahrnehmung und Wahrgenommen‐ werden, hält man für einen süßen Augenblick sein Herz; hilflos, und so ist er dann, wie vernunftwidrig auch immer, all das, wofür man ihn gehalten hat, männlich rein, kind‐ 31
lich zart. Grady beugte sich über ihn, ihre Haare fielen ihr ein wenig in die Augen. Der junge Mann, den sie betrach‐ tete, war jemand von etwa dreiundzwanzig Jahren, we‐ der hübsch noch hässlich; es wäre sogar schwer gefallen, durch die Straßen New Yorks zu laufen und nicht alle paar Schritte junge Männer zu sehen, die ihm ähnelten, ob‐ wohl er, da er den ganzen Tag an der frischen Luft ver‐ brachte, wesentlich wettergebräunter war als die meis‐ ten. Aber er erweckte den Eindruck von wohlgestalteter Geschmeidigkeit, und seine Haare, schwarz mit kleinen Löckchen, passten ihm wie eine eng anliegende Per‐ sianerkappe. Seine Nase war leicht gebrochen, und das verlieh seinem Gesicht, das bei all seiner rustikalen Röte nicht ohne eine gewisse scharfsinnige Kraft war, eine übertriebene Männlichkeit. Seine Augenlider zitterten, und Grady, die spürte, wie sein Herz durch ihre Finger glitt, erwartete angespannt, dass sie sich öffneten. »Clyde«, flüsterte sie. Er war nicht ihr erster Geliebter. Vor zwei Jahren, als sie mit sechzehn das Auto bekommen hatte, war sie mit einem zurückhaltenden jungen Paar aus New York, das sich nach einem Haus umsah, in Connecticut herumge‐ fahren. Als sie dann schließlich das Haus fanden, ein klei‐ nes, nettes auf dem Gelände eines Country‐Clubs gleich neben einem kleinen See, waren sie, die Boltons, von ihr hingerissen, und Grady schien ihrerseits vernarrt zu sein: sie überwachte den Umzug, sie legte ihren Steingarten an, fand für sie ein Hausmädchen, und an den Samstagen spielte sie mit Steve Golf oder half ihm beim Rasen‐ 32
mähen: Janet Bolton, ein zurückhaltendes, harmloses, hüb‐ sches Mädchen frisch aus Bryn Mawr, war im fünften Monat schwanger und so allen Anstrengungen abgeneigt. Steve war Rechtsanwalt, und da er bei einer Kanzlei arbei‐ tete, die für ihren Vater tätig war, wurden die Boltons oft nach Old Tree eingeladen, dies der Name, mit dem die McNeils ihr Anwesen versehen hatten: Steve benutzte den dortigen Swimmingpool und die Tennisplätze, und Mr. McNeil überließ ihm mehr oder weniger zur eigenen Benutzung eine kleine Wohnung, die Apple gehört hatte. Peter Bell war ziemlich ratlos; ebenso wie Gradys wenige übrige Freunde, denn sie war nur noch mit den Boltons zusammen, oder, aus ihrer Sicht, nur noch mit Steve; und als ob all die Zeit, die sie gemeinsam verbrachten, nicht genügte, gewöhnte sie sich an, hin und wieder in seinem Morgenzug mit ihm in die City zu fahren. Um sich bis zur abendlichen Zugfahrt mit ihm nach Hause die Zeit zu ver‐ treiben, spazierte sie von einem Broadway‐Film in den nächsten. Doch sie fand keinen Frieden; sie konnte nicht verstehen, warum die Freude, die sie anfangs empfunden hatte, zu Schmerz geworden war und nun zu Qual. Er wusste es. Sie war überzeugt, dass er es wusste; seine Au‐ gen, die ihr folgten, wenn sie ein Zimmer durchquerte, wenn sie im Swimmingpool auf ihn zu schwamm, jene Augen wussten es und waren nicht unzufrieden: und so lernte sie, verbunden mit ihrer Liebe, auch etwas über den Hass, denn Steve Bolton wusste es und tat nichts, um ihr zu helfen. In jener Zeit war jeder Tag widerborstig, ein Zertreten von Ameisen, ein Ausreißen von Glühwürm‐ chenflügeln, Wutanfälle, so schien es, gegen alles, was so 33
hilflos war wie ihr hilfloses und verschmähtes Ich. Und sie ging dazu über, die dünnsten Kleider zu tragen, die sie auftreiben konnte, Kleider, so dünn, dass jeder Blattschat‐ ten oder Windhauch eine Kühle war, die sie streichelte; aber sie mochte nichts essen, sie wollte nur Coca‐Cola trinken und Zigaretten rauchen und in ihrem Auto fahren, und sie wurde so flach und hager, dass die dünnen Kleider um sie herumflatterten. Steve Bolton hatte die Angewohnheit, vor dem Früh‐ stück in dem kleinen See bei seinem Haus schwimmen zu gehen, und Grady, die das entdeckt hatte, musste im‐ mer wieder daran denken: sie wachte morgens mit seinem Bild vor Augen auf, sah ihn am Bande des Sees im Ried stehen wie einen seltsamen, morgenrotgoldenen Voge!. Eines Morgens ging sie dorthin. Ein kleines Kieferngehölz wuchs unweit vom See, und dort versteckte sie sich, lag bäuchlings auf den taufeuchten Nadeln. Trüber Ilerbst‐ nebel trieb auf dem See: natürlich kam er nicht, sie hatte zu lange gewartet, der Sommer war vergangen, ohne dass sie es auch nur gemerkt hatte. Dann sah sie ihn auf dem Weg: gelassen, pfeifend, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Handtuch; er war nur mit einem Mor‐ genmantel bekleidet, den er, als er den See erreichte, aus‐ zog und auf einen Felsblock warf. Es war, als sei end‐ lich ihr Stern herabgefallen, einer, der beim Aufprall auf die Erde nicht schwarz wurde, sondern nur noch blauer brannte: halb kniete sie jetzt, mit vorgestreckten Armen, als wollte sie ihn berühren, begrüßen, während er hinein‐ watete und zugleich, so schien es, märchenhafte Größe annahm, zu ihr emporragte, bis er ohne jede Warnung in 34
die Tiefe sank und hinter dem Ried verschwand; Grady, die trotz allem unwillkürlich aufschrie, schlüpfte hinter einen Baum, den sie umarmte, als wäre der ein Teil seiner Liebe, ein Teil seiner Herrlichkeit. Janet Boltons Baby wurde am Ende der Saison gebo‐ ren: in der fasanengesprenkelten Herbstwoche, bevor die McNeils Old Tree schlossen und wieder in ihre Winterre‐ sidenz in der Stadt zogen, Janet Bolton war ziemlich ver‐ zweifelt; sie hatte das Baby zwei Mal fast verloren, und ihre Haushaltshilfe war, nachdem sie einen Tanzwett‐ bewerb gewonnen hatte, immer respektloser geworden: meistens erschien sie erst gar nicht, so dass, wäre Grady nicht gewesen, Janet nicht gewusst hatte, was sie anfan‐ gen sollte. Grady kam öfter vorbei und bereitete einen 1m‐ biss zu und wischte rasch Staub; eine Pflicht gab es, der sie sich mit Hingabe annahm: sie sammelte gern Steves Wäsche ein und hing seine Sachen auf. An dem Tag, an dem das Baby geboren wurde, fand sie Janet zusammen‐ gekrümmt und schreiend vor. Jedes Mal, wenn ein Grund dazu vorlag, war Grady stets wieder überrascht, wie liebe‐ voll besorgt ihre Gefühle für Janet waren: ein Nichts von einer Person, wie eine Muschel, die vielleicht aufgehoben und wegen ihrer geriffelten rosa Vollkommenheit aufbe‐ wahrt wird, aber nie einen Platz unter den wahren Schät‐ zen eines Sammlers erhalten wird: Unwichtigkeit machte ihren Reiz aus und bildete zugleich ihren Schutz, denn es war unmöglich, stellte jedenfalls Grady fest, sich von ihr bedroht zu fühlen oder auf sie eifersüchtig zu sein. An jenem Morgen jedoch, als Grady das Haus betrat und sie schreien hörte, empfand sie eine Genugtuung, die, auch 35
wenn sie nicht grausam gemeint war, sie zumindest daran hinderte, ihr sofort zu Hilfe zu kommen, denn es war, als gelangten all die Qualen, die sie selbst kannte, in diesen Momenten von Janet Boltons Martyrium zu triumphalem Ausdruck. Als sie sich schließlich dazu durchrang, die notwendigen Dinge zu tun, tat sie sie sehr gut; sie riel den Arzt, brachte Janet ins Krankenhaus und rief dann Steve in New York an. Er kam mit dem nächsten Zug; es war ein beklom‐ mener Nachmittag, den sie miteinander im Krankenhaus verbrachten; es wurde Abend, und immer noch nichts, und Steve, der mit Grady ein paar Scherze, ein Spiel Herz‐Ramsch zustande gebracht hatte, zog sich in eine Ecke zurück und ließ Schweigen sich zwischen ihnen breitmachen. Eine schale Verzweiflung von Zugfahrplä‐ nen und Geschäften und unbezahlten Rechnungen schien von ihm aufzusteigen wie müder Staub, er saß da und blies Rauchringe, Nullen, so hohl, wie Grady sich inzwi‐ schen fühlte ... es war, als krümmte sie sich von ihm fort in den leeren Raum, als wiche sein Bild am See vor ihr zu‐ rück, bis sie ihn jetzt sehen konnte, wie er wirklich war, ein Anblick, der sie mehr rührte als alle anderen, denn mit den erschöpft gebeugten Schultern und der Träne im Au‐ genwinkel gehörte er zu Janet und ihrem Kind. In dem Wunsch, ihm ihre Liebe zu zeigen, nicht als Geliebtem, sondern als von Liebe und Geburt niedergedrücktem Mann, ging sie zu ihm. Eine Krankenschwester war an die Tür gekommen; und Steve Bolton hörte von seinem Sohn ohne irgendeine Veränderung in seinem Gesichts‐ ausdruck. Langsam erhob er sich, bis er aufrecht stand, 36
die Augen blind‐bleich; und mit einem Seufzer, der den Raum ins Wanken brachte, fiel sein Kopf nach vorn auf Gradys Schulter: ich bin ein sehr glücklicher Mann, sagte er. Das war es, mehr wollte sie von ihm nicht, die Sehn‐ süchte des Sommers waren vergangen zu Wintersamen: Winde wehten sie weit fort, bevor ein neuer April ihre Blüte brach. »Los, steck mir eine Zigarette an.« Clyde Manzers Stimme, knurrig vom Schlaf, aber immer etwas heiser und be‐ legt, hatte eine bestimmte Eigenschaft: alles, was er sagte, machte einen gewissen Eindruck, denn eine murmelnde Kraft, gedämpft wie ein Motor im Leerlauf, durchzog jede Silbe mit der Lunte der Männlichkeit; trotzdem stolperte er über Wörter, Pausen zertrennten manche Sätze, so dass aller Sinn sich verflüchtigte. »Sabber sie nicht voll, Klei‐ nes. Du sabherst sie immer voll.« Die Stimme, obwohl auf ihre Art attraktiv, konnte täuschen: ihretwegen hielten einige ihn für dumm: was nur bewies, welch schlechte Beobachter sie waren: Clyde Manzer war überhaupt nicht dumm: seine spezielle Klugheit war sogar die alleroffen‐ sichtlichste. Das schlichte Stipendium, das zu einem Diplom in Alltagsbewältigung führt – wohin laufen, wo verstecken, wie U‐Bahn fahren und ins Kino gehen und einen Münzfernsprecher benutzen, ohne etwas zu be‐ zahlen –, die Kenntnisse, die einhergehen mit einer Groß‐ stadtkindheit der Bandenkriege und verzweifelten Nach‐ mittage, wenn nur die Grausamen und Schlauen, die Schnellen, die Tapferen überleben – das war die Ausbil‐ dung, die seinen Augen die bewegliche Ausdruckskraft 37
verlieh. »Bah, du hast sie vollgesabbert. Verdammt, ich hab’s ja gewusst.« »Ich werde sie rauchen«, sagte Grady; und mit dem Feuerzeug, das Peter so geschmacklos fand, zündete sie ihm eine neue an. An einem Montag, Clydes freiem Tag, waren sie zu einer Schießbude gegangen, und er hatte dort das Feuerzeug gewonnen und ihr geschenkt: seitdem zündete sie gern allen die Zigarette an: es erregte sie, zu sehen, wie ihr Geheimnis, kaschiert als dünne Flamme, zwischen ihr, die es kannte, und jemand anders, der es entdecken konnte, nackt emporschoss. »Danke, Kleines«, sagte er und nahm die neue Ziga‐ rette an. »Du bist ein braves Mädchen: du hast sie nicht vollgesabbert. Ich hab bloß schlechte Laune, weiter nichts. Ich darf eben nicht so schlafen. Ich hab wieder was ge‐ träumt.« »Hoffentlich bin ich drin vorgekommen.« »Ich erinnere mich nie an meine Träume«, sagte er und rieb sich das Kinn, als müsse er sich rasieren. »Dann er‐ zähl mal, hast du sie weggebracht, deine Familie?« »Gerade eben – Apple wollte, dass ich sie nach Hause fahre, und ein alter Freund ist aufgetaucht; es war ein einziges Durcheinander, ich bin direkt vom Pier herge‐ kommen.« »Ein alter Freund von mir, war schön, wenn der auf‐ taucht«, sagte er und spuckte auf den Boden. »Mink, kennst du Mink? Ich hab dir von ihm erzählt, das ist der, mit dem ich beim Militär war. Wegen dem, was du mir ge‐ sagt hast, hab ich ihm gesagt, er soll vorbeikommen und den Nachmittag heute übernehmen. Der Mistkerl schul‐ 38
det mir zwei Dollar: ich hab ihm gesagt, wenn er vorbei‐ kommt, dann ist das vergessen. Also, Baby«, seine aus‐ gestreckte Hand berührte die kühle Seide ihrer Bluse, »wenn er nicht auftaucht«, und glitt dann mit sanftem Druck zu ihrer Brust, »dann hänge ich hier fest.« Sie betrachteten einander schweigend, so lange, wie ein Schweißtropfen brauchte, um an seiner Stirn und dann an seiner Wange hinunterzulaufen. »Du hast mir gefehlt«, sagte er. Und er hätte noch mehr gesagt, wenn nicht Kundschaft auf den Parkplatz eingebogen wäre. Drei Damen aus Westchester, in der Stadt zu einem Imbiss und einer Nachmittagsvorstellung; Grady setzte sich ins Auto und wartete, während Clyde sie abfertigte. Sie mochte die Art, wie er ging, die Art, wie seine Beine sich Zeit zu lassen schienen, jeder Schritt langsam aus‐ greifend und ruhig federnd: der Gang eines groß gewach‐ senen Mannes. Dabei war Clyde nicht viel größer als sie. Auf dem Parkplatz trug er immer eine Sommerkhakihose und ein Flanellhemd oder einen alten Sweater: Kleidung, die viel besser aussah und weitaus besser zu ihm passte als der Anzug, auf den er so stolz war. Diesen Anzug, einen blauen Zweireiher mit Nadelstreifen, trug er meis‐ tens, wenn er in ihren Träumen erschien; sie konnte sich gar nicht vorstellen, warum; aber schließlich waren ihre Träume von ihm ohnehin unsinnig. Darin war sie fortwäh‐ rend die Zuschauerin, und er war mit jemand anders zu‐ sammen, einem anderen Mädchen, und sie gingen an ihr vorbei, feixten verächtlich oder taten sie ab, indem sie wegschauten: die Demütigung war groß, ihre Eifersucht noch größer, es war unsinnig; trotzdem hatte sie Grund 39
zur Besorgnis: zwei‐ oder dreimal war sie sicher gewesen, dass er mit ihrem Auto weggefahren war, und einmal, nachdem sie das Auto über Nacht dort gelassen hatte, hatte sie zwischen den Polstern eine protzige kleine Puder‐ dose gefunden, die ganz bestimmt nicht ihr gehörte. Aber zu Clyde sagte sie nichts von diesen Dingen; sie behielt die Puderdose und sprach nie davon. »Bist du nicht Manzers Freundin?« Sie hatte im Radio nach Musik gesucht; sie hatte niemanden näherkommen hören, und deshalb erschrak sie, als sie aufblickte und sah, dass ein Mann am Auto lehnte, die Augen auf sie ge‐ richtet und den halben Mund zu einem Lächeln verzogen, das einen Gold‐ und einen Silberzahn freilegte. »Ich hab gesagt, du bist doch Manzers Freundin, hm? Wir haben das Photo von dir in der Illustrierten gesehen. Das war ein gutes Photo. Meiner Freundin Winifred (hat Manzer dir von Winifred erzählt?), ihr hat das Photo sehr gefallen. Meinst du, der Bursche, der’s gemacht hat, würde auch eins von ihr machen? Das war für sie eine große Sache.« Grady konnte ihn nur ansehen; und auch das kaum: denn er war wie ein fetter, schwabbeliger Säugling, der mit gro‐ tesker Plötzlichkeit zur Größe eines Ochsens gewachsen war: seine Augen standen hervor, und seine Lippen hin‐ gen herunter. »Ich bin Mink«, sagte er und holte eine Zigarette hervor, die Grady ihm anzuzünden erlaubte: sie hupte, so laut sie konnte. Clyde ließ sich nie hetzen; nachdem er das Westches‐ ter‐Auto abgestellt hatte, kam er gemächlich angeschlen‐ dert. »Was soll denn der Lärm?«, fragte er. »Na dieser Mann, der ist da.« 40
»Meinst du, das seh ich nicht? Hallo, Mink.« Er wandte sich von ihr ab und widmete seine Aufmerksam‐ keit dem teigig lächelnden Gesicht von Mink, und Grady nahm wieder ihre Suche im Radio auf: selten schnappte sie bei dem, was Clyde sagte, rasch ein. Seine Grantigkeit bewirkte bei ihr lediglich, dass sie sich ihm näher fühlte, denn dass er seiner schlechten Laune ihr gegenüber so freien Lauf ließ, machte nur deutlich, wie nahe sie sich standen. Sie hätte es jedoch vorgezogen, wenn für die‐ ses Ochsenkind nichts deutlich geworden wäre: bist du nicht Manzers Freundin? Sie hatte sich vorgestellt, dass Clyde mit seinen Freunden über sie redete, ihnen sogar ihr Photo in der Illustrierten zeigte, das war in Ordnung, warum nicht? Andererseits hatte ihre Vorstellungskraft nicht so weit gereicht, in Betracht zu ziehen, was das für Freunde sein mochten. Aber jetzt war es ein bisschen zu spät, um sich aufs hohe Ross zu schwingen, also ver‐ suchte sie lächelnd, Mink hinzunehmen, und sagte: »Clyde hatte schon Angst, du könntest vielleicht nicht kommen. Es ist sehr nett von dir, das für uns zu tun.« Mink strahlte, als hätte sie auf einen Lichtschalter in ihm gedrückt; was peinlich war, denn an dem neuen Le‐ ben in seinem Gesicht erkannte sie, er hatte gemerkt, dass sie ihn nicht mochte, und es hatte ihm etwas ausge‐ macht. »Aber klar doch, ich lass doch Manzer nicht im Stich. Ich war ja schon eher hier gewesen, bloß Winifred, du weißt schon, Winifred, die ist gerade in Streik getreten, und sie hat mich dazugeholt, damit ich denen da oben mal die Meinung geige (Entschuldigung).« Gradys Blicke irr‐ ten unruhig zu dem kleinen Schuppen mit dem Nemo‐ 41
Büro: Clyde war darin verschwunden, um sich umzuzie‐ hen, und sie wartete ungeduldig auf seine Rückkehr, denn es war nicht nur nervtötend, mit Mink allein zu sein, son‐ dern, und das traf vor einer Minute ebenso zu wie vor einer Woche, sie sehnte sich nach ihm. »Fabelhaftes Auto hast du, ehrlich. Winifreds Onkel, das ist der in Brooklyn, der kauft gebrauchte Autos: ich wette, er würde dir einen Batzen dafür geben. He, wir müssen uns alle vier mal für einen Abend verabreden: zum Tanzen ausgehen, weißt du, was ich meiner« Clydes Wiedererscheinen nahm ihr die Antwort ab. Unter einer ledernen Windjacke hatte er ein sauberes weißes Hemd und eine Krawatte angelegt; es gab einen Versuch zu einem Scheitel in seinen Haaren, und seine Schuhe waren geputzt. Er pflanzte sich vor ihr auf, die Augen zur Seite gerichtet, die Hände in die Hüften ge‐ stützt: das grelle Sonnenlicht zwang ihn, die Stirn zu run‐ zeln, aber seine ganze Haltung schien zu sagen: wie sehe ich aus? Und Grady sagte: »Liebling, du siehst einfach wundervoll aus!« 42
KAPITEL 3
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Es war ihre Idee gewesen, mit ihm im Central Park in dem Selbstbedienungsrestaurant neben dem Zoo es‐ sen zu gehen. Da die Wohnung der McNeils in der Fifth Avenue und fast gegenüber dem Zoo lag, hatte sie dieses Lokal seit langem über, aber heute, beflügelt von der unge‐ wohnten Aussicht, im Freien zu essen, kam ihr das festlich vor; darüber hinaus würde es für Clyde etwas ganz Neues sein, denn bestimmte Bezirke der Stadt waren weiße Fle‐ cke auf seiner Landkarte: das ganze Gebiet zum Beispiel, das um das Plaza herum beginnt und sich nach Norden und Osten erstreckt. Diese Welt östlich vom Park war na‐ türlich das New York, das Grady am besten kannte: abge‐ sehen vom Broadway hatte sie sich nicht oft daraus hinaus gewagt. Und so hatte sie es für einen Witz gehalten, als Clyde sagte, er habe nicht mal gewusst, dass es im Cen‐ tral Park einen Zoo gebe; zumindest könne er sich an kei‐ nen erinnern. Diese Wissenslücken vertieften das große Rätsel seines Milieus; sie wusste, wie groß seine Fami‐ lie war und wie alle hießen: da gab es die Mutter, zwei Schwestern, die arbeiteten, und einen jüngeren Bruder – der Vater, ein Polizist, war schon tot; und sie wusste un‐ gefähr, wo sie wohnten: irgendwo in Brooklyn, in einem Haus nicht weit vom Meer, und mit der U‐Bahn brauchte 45
man bis dorthin über eine Stunde. Dann gab es mehrere Freunde, deren Namen sie oft genug gehört hatte, um sie sich einzuprägen: Mink, dem sie gerade begegnet war, dann einen namens Bubble und einen dritten namens Gump; sie hatte einmal gefragt, ob das ihre richtigen Na‐ men waren, und Clyde hatte geantwortet: klar. Aber das Bild, das sie sich aus diesen Einzelteilen zu‐ sammengesetzt hatte, war zu stümperhaft, um auch nur den bescheidensten Rahmen zu verdienen: es mangelte ihm an Perspektive, und es zeigte wenig Begabung fürs Detail. Die Schuld daran lag natürlich bei Clyde, der ein‐ fach nicht sehr gesprächig war. Außerdem schien er fast gar nicht neugierig zu sein: Grady war von der Dürftigkeit seiner Nachfragen und der Gleichgültigkeit, die dahin‐ terstehen mochte, manchmal so beunruhigt, dass sie ihn großzügig mit persönlichen Auskünften versorgte; was nicht heißen soll, dass sie immer die Wahrheit sagte, wie viele Verliebte tun das? oder können das?, aber zumindest gestand sie ihm genug Wahrheit zu, um ihm einen mehr oder weniger zutreffenden Einblick in jenes Leben zu ge‐ ben, das sie ohne ihn geführt hatte. Sie wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass er ihre Geständnisse lieber nicht hörte: er schien sie sich so schwer fassbar, so verschlossen zu wünschen, wie er selbst es war. Und doch konnte sie ihn nicht mit Fug und Recht beschuldigen, verschlossen zu sein: alle Fragen, die sie ihm stellte, beantwortete er: trotzdem war es wie der Versuch, durch eine Jalousie zu spähen. (Es war, als sei die Welt, in der sie sich begegne‐ ten, ein Schiff, in die Flaute geraten zwischen zwei Inseln, die sie selbst waren: ohne jede Anstrengung konnte er ihre 46
Küste sehen, aber seine blieb verborgen im tief hängen‐ den Nebel.) Einmal, gewappnet mit einer weit hergehol‐ ten Idee, war sie mit der U‐Bahn nach Brooklyn gefahren, aus dem Gedanken, wenn sie nur das Haus sehen konnte, in dem er wohnte, und durch die Straßen laufen konnte, durch die er ging, dann würde sie ihn so verstehen und kennen, wie sie es wollte: aber sie war noch nie zuvor in Brooklyn gewesen, und die geisterhaften, menschen‐ leeren Straßen, die Flachheit des Geländes, das sich in einem Durcheinander gleich aussehender eingeschossi‐ ger Häuser, brachliegender Grundstücke und stummen Leerstandes erstreckte, jagte ihr solche Angst ein, dass sie nach zwanzig Schritten kehrtmachte und zurück in die U‐Bahn floh. Sie erinnerte sich hinterher, dass sie von Beginn an gewusst hatte, der Ausflug würde ein Reinfall werden. Vielleicht hatte Clyde, ohne bewusste Einsicht, mit dem Umfahren der Inseln und der Einsamkeit des Schiffes die beste Wahl getroffen: aber ihre Reise schien keinerlei Zielhafen zu haben; und während sie auf der Ter‐ rasse der Gaststätte im Schatten eines Sonnenschirms saßen, hatte Grady plötzlich wieder einen Grund, die be‐ ruhigende Sicherheit von Land zu brauchen. Sie hatte es zu einem Vergnügen machen wollen, eine Feier ihnen beiden zu Ehren, und das war es auch; die Seehunde verschworen sich, spaßig zu sein, die Erdnüsse waren heiß und das Bier kalt. Aber Clyde entspannte sich einfach nicht. Mit feierlichem Ernst widmete er sich den Pflichten eines Begleiters bei solch einem Ausflug; Peter Bell hätte aus Hohn und Spott einen Ballon gekauft: Clyde überreichte ihr einen als Feil eines altehrwürdigen 47
Rituals. Grady fand es so rührend und dabei so lächerlich, dass sie sich eine Weile lang schämte, ihn anzusehen. Sie hielt die ganze Mahlzeit hindurch an dem Ballon fest, als sei es ihr eigenes Glück, das an der Schnur ruckte und zurrte. Am Ende der Mahlzeit jedoch sagte Clyde: »Hör mal, du weißt, ich würde gern bleiben! Nur, es ist was da‐ zwischengekommen, und ich muss bald zu Hause sein. Ich hatte das ganz vergessen, sonst hätte ich’s dir früher gesagt.« Grady blieb gelassen; aber sie kaute an ihrer Unter‐ lippe, bevor sie antwortete. »Tut mir leid«, sagte sie, »das ist wirklich zu schade.« Und dann, mit einer Verärgerung, die sie nicht umleiten konnte: »Ja, ich finde wirklich, das hättest du mir früher sagen müssen. Dann hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, etwas zu planen.« »An was hast du denn gedacht, Kleines?« Clyde sagte es mit einem Lächeln, das ein wenig Lüsternheit preisgab: der junge Mann, der über die Seehunde lachte und Bal‐ lons kaufte, hatte ihr seine andere Seite zugekehrt, und gegen dieses neue Profil, das härtere Züge aufwies, ver‐ mochte Grady sich nie zu verteidigen: sein Draufgänger‐ tum fesselte sie, lähmte sie derart, dass sie nur noch den Wunsch verspürte, zu beschwichtigen. »Ist ja auch egal«, sagte sie und zwang sich ihrerseits zu einem lüsternen Unterton. »Es ist jetzt niemand in der Wohnung, und ich hatte gedacht, wir könnten dorthin gehen und uns etwas zu essen kochen.« Turmhoch und über das halbe Ge‐ bäude verlaufend, waren die Fenster der Wohnung, wie sie es ihm gezeigt hatte, von der Terrasse aus zu sehen. Doch schon der Vorschlag eines Besuchs dort schien ihn 48
zu verstören: er strich sich die Haare glatt und zog den Knoten seiner Krawatte fester. »Wann musst du nach Hause? Doch nicht gleich?« Er schüttelte den Kopf; dann ließ er sie wissen, was sie vor allem wissen wollte, nämlich, warum er überhaupt fort musste, und sagte: »Es ist mein Bruder. Der Kleine hat seine Bar‐Mizwa, und es gehört sich einfach, dass ich dabei bin.« »Eine Bar‐Mizwa? Ich dachte, das ist etwas Jüdisches.« Starre überkam wie Schamröte sein Gesicht. Er sah nicht einmal hin, als eine dreiste Taube gemächlich einen Krümel vom Tisch aufpickte. »Es ist doch etwas jüdisches, nicht?« »Ich bin Jude. Meine Mutter ist Jüdin«, sagte er. Grady saß stumm da und ließ sich von der Über‐ raschung seiner Bemerkung umschlingen wie von einer Ranke; und in diesem Augenblick, während Fetzen der Gespräche an den Nebentischen herüberwehten, sah sie, wie weit sie beide von jedem Ufer entfernt waren. Es war unwichtig, dass er Jude war; für Apple hätte das viel‐ leicht eine Rolle gespielt, aber Grady wäre es nie in den Sinn gekommen, irgendjemanden danach einzuordnen, am wenigstens Clyde; trotzdem setzte der Ton, in dem er es ihr gesagt hatte, nicht nur voraus, dass sie es tun würde, sondern hob darüber hinaus hervor, wie wenig sie ihn kannte: statt breiter zu werden, wurde ihr Bild von ihm enger, und sie hatte das Gefühl, ganz von vorn anfan‐ gen zu müssen. »Tja«, begann sie langsam. »Und was soll mich das kümmern? Das kümmert mich nämlich nicht, weißt du.« 49
»Was verdammt meinst du mit kümmern? Was ver‐ dammt bildest du dir ein, wer du bist? Kümmre dich um dich selber. Ich bin nichts für dich.« Eine antike Dame mit einer Siamkatze an der Leine be‐ lauschte sie reglos. Ihretwegen hielt Grady sich in Zaum. Der Ballon war etwas verwelkt, seine pralle Haut begann runzlig zu werden; immer noch daran festhaltend, schob sie den Tisch zurück und eilte die Stufen der Terrasse hinunter und einen Weg entlang. Es dauerte einige Minu‐ ten, bis es Clyde gelang, sie einzuholen; und als eres dann tat, war er fort, der Zorn, der sie aufgebracht und davon‐ getragen hatte. Aber Clyde hielt sie an beiden Armen fest, als befürchtete er, sie könnte versuchen, sich loszureißen. Flocken aus Sonnenlicht fielen durch einen Baum und schaukellen umher wie Schmetterlinge; auf einer Bank weiter fort saß ein Junge mit einem aufziehbaren Gram‐ mophon auf dem Schoß, und aus dem Grammophon wand sich, einem Aal gleich, das Lied einer Soloklarinette in die flatterige Luft. »Du bist etwas für mich, Clyde; und mehr als das. Aber ich kann es nicht entdecken, weil wir anscheinend nie über dieselben Dinge reden.« Dann verstummte sie; unter dem Druck seines Blicks wurde Sprache betrügerisch, und welches nun ihr Ziel als Lie‐ bespaar sein mochte, das schien allein Clyde zu verste‐ hen. »Sicher, Kleines«, sagte er, »was immer du sagst.« Und er kaufte ihr einen neuen Ballon; der alte war ein‐ geschrumpelt wie ein Apfel. Dieser neue Ballon war weit‐ aus origineller, weiß und geformt wie eine Katze, bemalt mit purpurroten Augen und Schnurrhaaren. Grady war entzückt; »Komm, den zeigen wir den Löwen!« 50
Das Raubtierhaus im Zoo hat einen aufreizenden Ge‐ ruch, eine Luft, durchpirscht von Schlaf, räudig von altem Atem und toten Gelüsten. Eine Komödie in trauriger Ton‐ art, das ist die liederliche Löwin, die in ihrem Käfig ruht wie eine Filmkönigin mit stummem Ruhm; und einen ungeschlachten, grotesken Anblick bietet ihr Partner, der ins Publikum blinzelt, als könnte er eine Bifokalbrille brauchen. Irgendwie leidet der Leopard nicht; auch der Panther nicht: ihrer beider stolzer Gang stellt deutliche Anforderungen an den Puls, denn nicht einmal die Er‐ niedrigungen des Freiheitsentzugs können die Gefahr ihrer asiatischen Augen verringern, diese goldenen und gelbbraunen Blumen, die in der Dämmerung der Gefan‐ genschaft mit grollendem Mut blühen. Zur Fütterungszeit verwandelt sich ein Raubtierhaus in einen ohrenbetäuben‐ den Dschungel, denn der Wärter, der mit blutgetränkten Händen zwischen den Käfigen hindurchgeht, ist manch‐ mal langsam, und seine Schützlinge, eifersüchtig auf den, der zuerst gefüttert worden ist, brüllen gierig aus voller Kehle, dass die Gitterstäbe rasseln. Eine Gruppe von Kindern, die sich zwischen Clyde und Grady geschoben hatte, hopste und kreischte, als der Tumult begann; aber nach und nach, eingeschüch‐ tert von dessen anschwellender Flut, wurden die Kinder still und scharten sich enger zusammen. Grady ver‐ suchte, sich zwischen ihnen hindurchzudrängen; mit‐ tendrin verlor sie ihren Ballon, und ein kleines Mädchen mit bösem Blick schnappte ihn sich stumm und huschte fort: Räuberin und Raubgut entkamen fast unbemerkt, denn Grady, fiebrig von den zustoßenden, lendentiefen 51
Tierlauten, wollte nur Clyde erreichen und sich, wie ein Blatt vor dem Wind sich neigt oder eine Blume unter dem Fuß des Leoparden sich beugt, seiner Kraft unter‐ werfen. Es war nicht nötig, etwas zu sagen, das Zittern ihrer Hand verriet ihm alles; wie sein antwortender Hän‐ dedruck auch ihr. In der Wohnung der McNeils sah es aus, als seien Un‐ mengen von Schnee gefallen, hätten sich dämpfend auf die großen Gesellschaftsräume gelegt und die Möbel in frostige Decken gehüllt: Samt und Handarbeiten, die feinen Patinas und die empfindlichen Vergoldungen, alle schützten sich gespensterweiß in ihren Schonbezügen ge‐ gen den Schmutz des Sommers. Irgendwo weit fort in die‐ sem Halbdunkel aus Schnee und zugezogenen Vorhängen klingelte ein Telefon. Grady hörte es, als sie hereinkam. Bevor sie an den Apparat ging, führte sie Clyde einen Flur entlang, der so weitläufig war, dass man Worte, gesprochen am einen Ende, am anderen nicht mehr gehört hätte: die Tür zu ihrem eigenen Zimmer war die letzte in einer Reihe von vielen. Es war das einzige Zimmer, das die Haushälte‐ rin beim Schließen der Wohnung genauso belassen hatte, wie es im Winter war. Ursprünglich hatte es Apple gehört, aber nach deren Heirat hatte Grady es geerbt. Sosehr sie sich auch bemüht hatte, sieh von Apples Kitsch zu be‐ freien, viel davon war noch da: grässliche kleine Parfüm‐ vitrinen, ein Sitzkissen so groß wie ein Bett, ein ßctt so groß wie eine Wolke. Aber sie hatte das Zimmer ohnehin haben wollen, denn es besaß Fenstertüren zu einem Bal‐ kon mit Blick über den ganzen Park. 52
Clyde drückte sich an der Tür herum; er hatte nicht mitkommen wollen, er sagte, er sei nicht richtig angezo‐ gen; und jetzt schien das klingelnde Telefon weitere Un‐ sicherheiten aufzuwirbeln. Grady ließ ihn auf dem Sitz‐ kissen Platz nehmen. In dessen Mitte befand sich ein Grammophon mit einem Stapel Schallplatten. Manch‐ mal, wenn sie alleine war, streckte sie sich genau dort aus und legte träge Schlager auf, die alle Arten von abwegigen Gedanken hübsch begleiteten. »Stell es doch an«, sagte sie und ging, mit der Frage, warum zum Teufel es immer noch klingelte, ans Telefon. Es war Peter Bell; Abendes‐ sen? Natürlich hatte sie es nicht vergessen, aber nicht hier und bitte nicht im Plaza, und nein, nicht beim Chi‐ nesen; und nein, sie war wirklich ganz allein, welche Aus‐ gelassenheit? ach, das Grammophon – mhm, Billie Holi‐ day; ja gut, Pomme Soufflée, Punkt sieben, bis dann. Als Grady den Hörer auflegte, wünschte sie sich, Clyde wür‐ de fragen, wer angerufen hatte. Der Wunsch ging nicht in Erfüllung. Also sagte sie von sich aus; »Ist das nicht reizend? Ich brauche doch nicht allein zu essen: Peter Bell führt mich aus.« »Hmm.« Clyde ging weiter die Platten durch. »Sag mal, hast du Red River Valley?« »Hab noch nie davon gehört«, sagte sie barsch und stieß die Fenstertüren auf. Er hätte sie wenigstens fragen können, wer Peter Bell war. Vom Balkon aus konnte sie Turmspitzen und Wimpel weit über der City im verflüs‐ sigten Nachmittag wabern sehen: obwohl der Himmel schon brüchig wurde und bald zu Zwielicht zerfallen würde. Bis dahin konnte er fort sein; und mit diesem Ge‐ 53
danken wandte sie sich wieder dem Zimmer zu, erwar‐ tungsvoll, drängend. Er hatte sich vom Sitzkissen zum Bett begeben; und wie er da auf der Kante hockte, umgeben von dem riesigen Bett, sah er klein und scheu aus: auch beklommen, als könnte jemand hereinkommen und ihn hier erwischen, wo er nichts verloren hatte. Als suche er bei ihr Schutz, legte er die Arme um Grady und zog sie hinunter neben sich. »Auf so eins haben wir lange gewartet«, sagte er, »müsste gut sein in einem Bett, Schatz.« Das Bett war in Blau bezogen, und die Bläue breitete sich vor ihr aus wie ein untiefer Himmel; aber es kam ihr völlig fremd vor, ein Bett, so hätte sie schwören können, das sie noch nie gese‐ hen hatte: seltsame Seen aus Licht kräuselten die seidige Oberfläche, die aufgeklopften Kissen waren Berge eines unerforschten Gebiets. Im Auto oder an den bewaldeten Plätzen, die sie auf der anderen Seite des Flusses und hoch oben auf den Klippen gefunden hatten, hatte sie sich nie gefürchtet: aber das Bett, mit seinen Seen und Himmeln und Bergen, wirkte so imposant, so ernst, dass es ihr Angst machte. »Frierst du oder was"?«, sagte er. Sie presste sich an ihn; sie wollte durch ihn hindurchfließen: »Nur ein Frösteln, sonst nichts«; und dann, ein wenig von ihm abrückend: »Sag, dass du mich liebst.« »Ich hab’s gesagt.« »Nein, oh nein. Hast du nicht. Ich habe genau hinge‐ hört. Und du sagst es nie.« »Gib mir Zeit.« »Bitte.« 54
Er setzte sich auf und schaute zu einer Uhr an der Wand. Es war nach fünf. Dann zog er entschlossen die Windjacke aus und begann, die Schuhe aufzuschnüren. »Willst du nicht, Clyder« Er grinste sie an. »Doch, ich will.« »Das meine ich nicht; und außerdem mag ich das nicht: du hörst dich an, als redetest du mit einer Hure.« »Reg dich ab, Schatz. Du hast mich nicht hier raufge‐ schleppt, damit ich dir was von Liebe erzähle.« »Du widerst mich an«, sagte sie. »Hör sich das einer an! Sie ist sauer.« Ein Schweigen folgte, das kreiste wie ein verletzter Vogel. Clydc sagte: »Du willst mir eine knallen, hm? Du gefällst mir, wenn du sauer bist: so ein Mädchen bist du«, worauf Grady in seinen Armen leicht wurde, als er sie an sich zog und küsste. »Willst du immer noch, dass ich’s sage?« Ihr Kopf sank auf seine Schulter. »Denn das werd ich«, sagte er und fuhr ihr mit den Fingern durch die Haare. »Zieh dich aus – und ich sag’s dir richtig.« In ihrem Ankleidezimmer stand ein Tisch mit einem dreifachen Spiegel. Beim Ablegen ihres Armbands konnte Grady in diesem Spiegel jede von Clydes Bewegungen im anderen Zimmer sehen. Er zog sich rasch aus und ließ seine Sachen fallen, wo er gerade war; nackt bis auf die Unterhose zündete er sich eine Zigarette an und rekelte sich, die Farben des Sonnenuntergangs spielten über sei‐ nen Körper; dann, mit einem Lächeln zu ihr, ließ er die Unterhose herunter und trat in die Tür: »Meinst du das? Dass ich dich anwidere?« Sie schüttelte langsam den Kopf; und er sagte: »Das möchte ich meinen«, während 55
der Spiegel, erschüttert vom Umfallen ihres Stuhls, blen‐ dende Pfeile durch die Dämmerung schoss. Es war nach zwölf, und Peter bestellte sich mit lauter Stimme über das Pochen einer Rumba‐Band hinweg beim Barmixer noch einen Scotch; er schaute auf die Tanzflä‐ che, winzig klein und so voll, dass die Tänzer eine einzige anonyme Masse bildeten, und überlegte, ob Grady wohl zurückkommen würde. Vor einer halben Stunde hatte sie sich entschuldigt, vermutlich, um die Toilette aufzusu‐ chen; jetzt kam ihm jedoch der Gedanke, dass sie viel‐ leicht nach Hause gegangen war: aber warum? Nur, weil er nicht begeistert gewesen war, als sie ihm, und das auch noch ziemlich abstrakt, die Wunder der Liebe beschrie‐ ben hatte? Sie sollte dankbar sein, dass er ihr nicht so einiges an den Kopf geworfen hatte. Sie war verliebt; nun gut, er glaubte ihr, obwohl es ihn rasend machte, ihr glau‐ ben zu müssen: dennoch, hatte sie etwa vor, den Betref‐ fenden zu heiraten? Danach hatte er sie nicht zu fragen gewagt. Diese Möglichkeit war unerträglich, und seine Reaktion darauf hatte ihn so munter gemacht, dass er sich nach den Martinis und den unzähligen Gläsern Scotch immer noch schmerzlich nüchtern fühlte. Seit den letzten fünf Stunden wusste er, dass er selbst in Grady McNeil verliebt war. Es war für ihn seltsam, dass er aufgrund des vorliegen‐ den Beweismaterials nicht früher zu dieser Schlussfol‐ gerung gelangt war. Die Wolke aus Strandburgen und Freundschaft, mit Blut besiegelt, hatte zu viel verdunkeln dürfen: trotzdem waren die Anzeichen von etwas Intensi‐ 56
verem immer da gewesen, wie Bodensatz am Grund einer Tasse; schließlich war sie es, mit der er jedes andere Mäd‐ chen verglich, es war Grady, die berührte, amüsierte, ver‐ stand: immer wieder hatte sie ihm geholfen, als Mann anerkannt zu werden. Und mehr noch: ein Teil von ihr, fühlte er, war das Ergebnis seines eigenen Unterrichts, ihre Eleganz und ihr Urteil in Geschmacks fragen; die Wil‐ lenskraft, die sie so leidenschaftlich besaß, schrieb er sich nicht zugute: denn die, das wusste er, war seiner eigenen weit überlegen, und tatsächlich war es ihr Wille, der ihm Angst machte: bis zu einem gewissen Grade konnte er ihn beeinflussen, aber danach tat sie genau das, was sie wollte. Weiß Gott, eigentlich hatte er ihr nichts zu bieten. Es war möglich, dass es ihm nie gelingen würde, mit ihr zu schlafen, und wenn doch, würde es zergehen zu dem Lachen oder den Tränen miteinander spielender Kinder: Leidenschaft zwischen ihnen war unwahrscheinlich, so‐ gar lächerlich, doch, das sah er ein (wenn auch nicht in aller Deutlichkeit); und einen Augenblick lang verachtete er sie. Doch gerade da glitt sie am Absperrseil vorbei, winkte ihm zu, und er eilte zu ihr, konnte nur denken, und das mit einer Bewussthcit, die ihm einzigartig schien, wie ent‐ zückend sie war, mit welcher Erlesenheit sie herausragte aus den glitzernden Schwadronen wichtiger Kakadus. Ihre in alle Richtungen weisenden Haare waren wie eine rostige Chrysantheme, von der einige Blütenblätter lose in ihre Stirn fielen, und ihre Augen, die so verblüffend in ihrem feinen, ungeschminkten Gesicht saßen, fingen mit Witz und grüner Lebendigkeit jede Atmosphäre ein. Es 57
war Peter, der ihr geraten hatte, kein Make‐up zu benut‐ zen; seine Empfehlung war es auch, dass sie am besten in Schwarz und Weiß aussah, denn ihre eigenen Farben wa‐ ren zu ausgeprägt, um nicht mit bunten Mustern in Kon‐ flikt zu geraten, und es erfüllte ihn mit Genugtuung, dass sie eine Harlekinbluse und einen weit fallenden, langen schwarzen Rock trug. Der Hock wogte mit der Musik, als er ihr zu einem Tisch folgte; unterwegs zählten seine Augen diskret die Summe der Blicke zusammen, die sie erhielt. Es war üblich, dass sich die Leute nach ihr umsahen, einige, weil sie wirkte wie die gewinnende junge Person auf einer Party, der man gerne vorgestellt werden möchte, und andere, weil sie wussten, dass sie Grady McNeil war, die Tochter eines wichtigen Mannes. Es gab einige we‐ nige, deren Augen sie aus einem anderen Grunde fesselte: und das war, weil diese wenigen in ihrer Aura eigenwilli‐ gen und privilegierten Zaubers spürten, dass sie ein Mäd‐ chen war, dem etwas widerfahren würde. »Kannst du dir vorstellen, wen ich letzte Woche getroffen habe? Bei Locke‐Ober’s in Boston?«, sagte er, sowie sie unter dem gleißenden Licht eines weißen Zellophanbau‐ mes Platz genommen hatten. »Erinnerst du dich an Locke‐ Ober’s, McNeil? Ich war mal dort mit dir essen, und es hat dir gefallen, weil draußen ein Mann mit einem Banjo und einem Hut mit Messingglöckchen stand. Jedenfalls bin ich einem alten Freund von uns begegnet, Steve Bol‐ ton.« Es war nicht so, als sei ihm diese Begegnung gerade eingefallen: vielmehr hatte er die Erinnerung ausgesucht 58
mit der Absicht, ihr den Ausgang eines alten Gefühls ins Gedächtnis zu rufen, der die Vorzüge eines gegenwärtigen in Zweifel zu ziehen vermochte: auch wenn er nur vermu‐ ten konnte, was sie einmal für Steve Bolton empfunden hatte. »Wir haben zusammen etwas getrunken.« Grady sagte: »Steve, du lieber Gott, das ist jahrelang her, oder? Nein, vermutlich nicht. Aber was macht er denn in Boston?«, und das drückte genau den Charakter ihres Interesses aus. Der Gedanke, dass sie ihn geliebt hatte, lastete nicht mit peinlichem Gewicht, wie Peter es angenommen hatte; außerdem hatte sie sich nie dafür ge‐ schämt. Aber sie hatte schon seit Monaten nicht mehr an ihn gedacht, und er schien so aus der Mode gekommen zu sein wie die Schlager, die alle Welt in jenem Sommer ge‐ sungen hatte. »In geschäftlichen Angelegenheiten da, würde ich den‐ ken. Oder ein Klassentreffen: er ist so ein Typ. Ich konnte ihn nie leiden, weißt du, obwohl ich jetzt nicht mehr viel Grund dazu habe: er sah ziemlich abgekämpft aus und nicht mehr ganz so Steve‐isch. Er sagte, wenn ich dich sehe, soll ich dich schön grüßen.« »Und Janet? Wie geht es Janet und dem Baby?« Nachdem Peter entdeckt hatte, dass Steve Boltons Name keine Erschütterung auslöste, langweilte ihn das Thema. Grady jedoch wartete auf eine Antwort und merkte, ihr Interesse für Janet war echt; anders als Steve war Janet nicht am kleinen Ende eines Fernrohrs zu se‐ hen, sondern scharf im Vordergrund, greifbar und stra‐ fend, und ihr fiel wieder der Morgen ein, an dem sie Janets Martyrium verlängert hatte (mit Gewissensbissen, 59
die sie so noch nie empfunden hatte). »Oder hat er sie nicht erwähnt?« »Doch, natürlich. Er sagte, es gehe ihnen gut. Es ist noch eins da, diesmal ein Mädchen. Du kannst sicher sein, dass er mir ein Foto gezeigt hat: was bringt die Leute dazu, das zu tun? All diese Hochglanzschnappschüsse von kleb‐ rigen Bälgern! Pervers. Ich hoffe, du kriegst nie Kinder.« »Warum denn bloß? Ich hätte gerne ein kleines O‐bei‐ niges Baby: es baden, weißt du, und ans Licht halten.« Das war ein Keil, und er benutzte ihn. »Ein O‐beiniges Baby? Und was, meine Liebe, würde er davon halten?« »Wer?«, fragte Grady. »Du wirst mir verzeihen, ich kenne den Namen des Herrn nicht«, sagte er und servierte ein As. »Ich wage je‐ doch zu sagen, dass es sich um einen recht bekannten handelt (gib’s zu, ist das nicht der Grund, warum du ihn mir nicht sagst?), dass er so eine Art Intellektueller und mindestens zwanzig Jahre älter ist; nervöse Mädchen von ausgeprägter Sensibilität verlieren bei väterlichen Män‐ nern immer den Kopf.« Grady lachte, obwohl Gelächter, das erkannte sie zu spät, ihn dazu befugte, ihre Situation zu karikieren. Sie war jedoch bereit, ihm diese Freiheit einzuräumen: ein ge‐ ringer Lohn für einen Dienst, den er ihr an diesem Abend erwiesen hatte, einen, der sich nicht beschreiben ließ; er bestand schlicht darin, dass er jetzt von Clyde Man‐ zers Existenz wusste; denn sein Mitwissen ließ Clyde zu menschlichen Dimensionen schrumpfen und auch wirk‐ lich existieren. Sie hatte ihn so lange im Dunkeln und Ge‐ heimen verborgen, dass er übergroße Gestalt angenom‐ 60
men hatte. Das Mitwissen eines anderen Menschen nahm dem Geheimnis das Alptraumhafte und verringerte ihre Furcht, er könnte sich auflösen: er war endlich etwas Konkretes, jemand, den sie nicht nur im Kopf mit sich herumtrug, und im Geiste schwebte sie auf ihn zu, selig seiner Umarmung entgegen. Peter war mit sich zufrieden. »Du brauchst nicht zu antworten: aber habe ich Recht1?« »Das sage ich dir nicht; wenn ich’s dir sagen würde, be‐ käme ich keine von deinen Theorien mehr zu hören.« »Willst du wirklich meine Theorien hören?« »Nein, eigentlich nicht«, sagte sie: aber eigentlich doch: denn das gab etwas von der Erregung zurück, ein Geheim‐ nis zu haben. »Sag mir eines.« Peter spießte seinen Handteller mit einem Cocktailstäbchen. »Wirst du ihn heiraten?« Sie erkannte das Absichtsvolle seiner Frage und war, ganz auf Neckerei eingestimmt, davon irritiert. »Ich weiß es nicht«, sagte sie, mit gereiztem Kratzton in der Stimme. »Muss man immer heiraten wollen? Ich bin sicher, es gibt Arten von Liebe, in denen das kaum eine Rolle spielt.« »Ja: aber sind nicht Liebe und Heirat in den Köpfen der meisten Frauen von alters her gleichbedeutend? Jeden‐ falls bekommen nur sehr wenige Männer das Erste, ohne das Zweite zu versprechen: nämlich Liebe – wenn es al‐ lerdings nur darum geht, die Beine breit zu machen, das tut fast jede Frau umsonst. Aber im Ernst, Liebes?« »Dann im Ernst (obwohl offensichtlich du derjenige bist, der nicht ernst ist): ich kann dir keine Antwort ge‐ ben, wie denn auch, wenn ich noch nie darüber nachge‐ 61
dacht habe? Wir sind hergekommen, um zu tanzen, Lieb‐ ling. Wollen wir?« Bei ihrer Rückkehr warteten auf sie ein Photograph, mürrisch vor Desinteresse, und der Presseagent des Bam‐ boo Clubs, ein aufdringlicher junger Mann mit Schmoll‐ mündchen, dessen juwelengeschmückte Hände über den Tisch flatterten und festliche Requisiten arrangierten: einen Sektkübel, eine Vase mit Blumen, einen giganti‐ schen Aschenbecher, auf dem der Name des Clubs pho‐ togen prangte. »Ganz recht, Miss McNeil, nur ein kleines Photo. Sie haben doch nichts dagegen? Aber, aber, nicht in die Kamera starren, so ist’s gut, schauen Sie einander in die Augen: süß, absolut goldig, könnte nicht reizen‐ der sein! Artie, du machst eine großartige Aufnahme, du fängst die junge Liebe ein, ja, das tust du. Ach, Miss McNeil, ich weiß es besser – da, hören Sie, sogar Ihr jun‐ ger Mann sagt, dass ich Recht habe! Nicht wahr, junger Mann? Wer sind Sie eigentlich? Warten Sie, ich will mir alles notieren. Aber ist das nicht jemand, der schrecklich alt oder tot oder berühmt oder so was ist, Walt Whit‐ man? Ach, ich verstehe, Sie sind Walt Whitman der Zweite; sind Sie ein Enkel? Ach, das ist ja goldig. Vielen Dank, Miss McNeil, und Ihnen auch, Mr. Whitman: Sie sind beide reizend gewesen, absolut entzückend.« Er ver‐ gaß nicht, die Blumen, den Champagner und den Aschen‐ becher mitzunehmen. Peters Ausgaben für Whisky hatten endlich eine Divi‐ dende abgeworfen: was heißen soll, sein Sinn für Humor hatte ein Stadium erreicht, das Unterscheidungsvermö‐ gen vermissen ließ; und er war entschlossen, dies noch zu 62
steigern: bedauerlicherweise bot ihm jemand Gelegenheit dazu. Nämlich ein grauer, gehemmter kleiner Mann, der sich, angestachelt von seiner Begleiterin, einer rosigen, rotblonden, Weinbrand trinkenden Frau, vom Nachbar‐ tisch herüberbeugte und Peters Arm einen schüchternen Stups versetzte: »Verzeihen Sie«, sagte er, »aber wir haben uns gefragt, ob Sie beide zum englischen Königshaus ge‐ hören? Meine Freundin sagt, wenn von Ihnen ein Photo gemacht wird, dann gehören Sie zum englischen Königs‐ haus.« »Nein«, sagte Peter mit geduldigem Lächeln. »Zum amerikanischen Königshaus.« Grady fand, sie sollten besser gehen: noch eine Minute, und es würde eine Schlägerei geben: genau aus dieser Erwartung heraus wollte Peter bleiben. Er könnte sich wenigstens was schämen, sagte Peter und kam mit bis zur Tanzfläche, aber da bockte er, bestand darauf, dass sie tanzten, und verlangte vom Orchester sein Lieblingslied: Just One of’ Those Things. Sie verbot ihm vergeblich, ihr ins Ohr zu singen: »Nur so ein Flug wie im Traum«: also sang sie nach einer Weile mit. Ein Marathon scharlachroter Sterne blinkte an der Decke im Kreis, und Grady, berieselt von ihrem Licht, schwindlig von ihrem Wirbel, schwebte empor in den Schutz dieses Himmels: eine Stimme, weit drunten auf der Erde, drang zu ihr empor; kannst du mich hören? dass ich sage, du bist königlich? Träumerisch dachte sie, es sei Clyde, doch wie sehr hörte es sich nach Peter an! Und im Raum wirbelnd, flogen ihre Haare wie im Siegesrausch. Die beiden tanzten, bis mit einem Mal die Musik verstummte und die Sterne erloschen. 63
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KAPITEL 4
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Der Portier hat mir die gegeben«, sagte Clyde, fast eine Woche später. Er hielt ihr zwei Telegramme hin, aber Grady nahm sie erst, nachdem sie den Wasser‐ hahn in der Küche aufgedreht und den Waffelteig von ihren Händen abgespült hatte. »Dem Kerl möchte ich eins auf die Nase geben: ein richtiges Rindvieh! Du müsstest mal sehen, wie der mich mustert. Und das Bürschchen im Fahrstuhl, das ist eine kleine Tücke: dem geb ich mal was zu knabbern.« Sie kannte diese Beschwerden schon, sie benötigten keinen Kommentar von ihr, also sagte sie: »Wo ist die Butter, Schatz? Und hast du den Sirup bekommen, den ich haben wollte?« Sie machte ein sehr spätes Früh‐ stück: sie waren erst nach elf aufgestanden. In den letzten Tagen war der Parkplatz geschlossen gewesen; der Besitzer hatte irgendwelche Probleme mit seiner Genehmigung. Und am Tag zuvor waren sie zusammen mit Mink und sei‐ ner Freundin hinauf in die Catskills picknicken gefahren. Auf dem Rückweg hatten sie eine Reifenpanne gehabt, und so war es zwei Uhr morgens, als sie über die George Washington Bridge gefahren waren. »Bei deinem Sirup war kein Seifenstück dabei, also hab ich Log Cabin geholt, o.k.?«, sagte er, ließ sich neben dem Waffeleisen nieder und entfaltete eine Boulevardzeitung, die er mitgebracht 67
hatte. Seine Augenbrauen zogen sich beim Lesen immer wie die eines Wissenschaftlers zusammen (und mit mur‐ melndem Geräusch kaute er an einem Fingernagel nach dem anderen). »Hier steht, Sonntag war der heißeste 6. Juli seit 1900; über eine Million Menschen auf Coney — was hältst du davon?« Grady erinnerte sich an die glü‐ hende, mit Steinen übersäte Wiese, auf der sie sich ein Plätzchen gesucht, mit Insekten gekämpft und ungesal‐ zene hart gekochte Eier gegessen hatten, und hielt nicht viel davon. Sie trocknete sich die Hände ab und setzte sich hin, um die Telegramme zu öffnen. Das eine war ein Überseetelegramm, ein verschwende‐ rischer Zweiseiter von Lucy aus Paris: Heil angekommen stop scheußliche Reise da Daddy Smoking vergessen und wir gezwungen abends in Kabine zu bleiben stop schicke Smoking sofort mit Luftpost stop schicke auch meinen fal‐ schen Zopf stop mach überall Licht aus stop rauch nicht im Bett stop treffe morgen Mann wegen deines Kleides stop werde Stoffproben schicken stop geht es dir gut Fragezei‐ chen sag Hermione Bensusan sie soll mir dein Horoskop für Juli und August schreiben stop mache mir Sorgen um dich stop in Liebe Mutter. Stöhnend faltete Grady das Telegramm zusammen; glaubte ihre Mutter wirklich, sie werde sieh wieder auf Hermione Bensusan einlassen? Miss Bensusan war eine Astrologin, für die Lucy schwärmte. »He, beeil dich mit den Waffeln. Im Radio kommt ein Baseballspiel.« »Auf dem Küchenschrank steht ein Radio«, sagte sie, ohne von der sonderbaren Botschaft ihres zweiten Tele‐ gramms aufzuschauen. »Stells an, wenn du willst.« 68
Er berührte sacht ihre Hand. »Was ist denn: schlechte Neuigkeiten?« »Nein, nein«, sagte sie lachend. »Nur etwas ziemlich Albernes.« Und sie las vor: »Mein nächtlicher Spiegel sagt, du bist wie keine, und der tägliche Spiegel sagt, du bist die meine.« »Wer hat’s geschickt?« »Walt Whitman der Zweite.« Clyde drehte am Radio. »Kennst du den Kerl?«, fragte er zwischen Fetzen von Rundfunksendungen. »In gewisser Weise.« »Muss ein Spaßvogel sein: oder spinnt der?« »Ein bisschen«, sagte sie und meinte es auch: einmal, in der Zeit, als er bei der Marine war und als sein Schiff in irgendeinem Hafen im Fernen Osten vor Anker lag, hatte Peter ihr eine Opiumpfeife und fünfzehn seidene Kimo‐ nos geschickt. Alle bis auf einen davon hatte sie einem Wohltätigkeitsbasar gespendet, eine Freigebigkeit, die nach hinten losging, als jemand entdeckte, dass die schlichten Muster darauf eine Täuschung waren: in einem bestimm‐ ten Licht kamen darunter schauderhafte Obszönitäten zum Vorschein. Mr. McNeil, unversehens in den Mittel‐ punkt des anschließenden Gezeters geraten, hatte gesagt, Unsinn, der Wert der Kimonos sei offensichtlich höher zu veranschlagen: er hatte keine Einwände dagegen erhoben, dass Grady einen trug. Tatsächlich trug sie ihn jetzt, ob‐ wohl die unpraktischen Ärmel die lästige Angewohnheit hatten, in die Schüssel zu hängen, als sie dastand und ih‐ ren Waffelteig schaumig schlug. Sie mochte nicht zugeben, dass ihr alles missriet. Ohne 69
sich von verbrutzeltem Frühstücksspeck und eiskaltem Kaffee aus der Fassung bringen zu lassen, goss sie ihr Ge‐ misch auf die Unterseite, die sie einzufetten vergessen hatte, und sagte: »Ach, ich koche zu, zu gerne: dann fühle ich mich so gedankenlos nützlich. Und ich habe mir ge‐ dacht – wenn du dir ein Baseballspiel anhörst, dann könn‐ te ich doch einen Schokoladenkuchen backen: würde dir das gefallen?« In diesem Augenblick wies das Waffeleisen mit einem Rauchwölkchen auf seinen verkohlten Inhalt hin; zwanzig Minuten später, nachdem sie das Eisen ab‐ gekratzt hatte, verkündete sie fröhlich und nicht ohne Stolz: »Frühstück ist fertig.« Clyde setzte sich hin und inspizierte seinen Teller mit einem so matten Lächeln, dass sie fragte: »Was ist denn, Liebling? Konntest du im Radio dein Baseballspiel nicht finden?« Hmm, er hatte den richtigen Sender gefunden, aber das Spiel hatte noch nicht angefangen: und würde es ihr was ausmachen, den Kaffee aufzuwärmen? »Peter hasst Baseball«, sagte sie, aus keinem anderen Grunde, als dass es ein Detail war, das ihr gerade eingefallen war: im Gegensatz zu Clyde, der auf seine Worte acht zu ge‐ ben schien, hatte sie sich angewöhnt, alles zu sagen, was ihr in den Sinn kam, ganz egal, wie belanglos es war. »Sei vorsichtig«, sagte sie, als sie die Kanne vom Herd holte und ihm Kaffee eingoss, »diesmal wirst du dir den Mund verbrennen.« Als sie vorbeiging, ergriff er ihre Hand und schwang sie leicht hin und her. »Danke«, flüsterte sie. »Wieso?«, fragte er. »Weil ich glücklich bin«, antwortete sie und entzog ihm ihre Hand. »Komisch«, sagte er, »ko‐ misch, dass du nicht die ganze Zeit über glücklich bist«, 70
und sein Arm fuhr in einer Geste umher, die Grady sofort bedauerte, denn diese Geste gab zu verstehen, bewies so‐ gar, wie sehr ihm ihre Lebensverhältnisse bewusst waren: absurderweise hatte sie ihn nicht für verbittert gehalten. »Glück ist relativ«, sagte sie; es war die einfachste Antwort. »Relativ in Bezug auf was: Geld?« Diese Entgegnung schien seine Stimmung zu heben. Er reckte sich, gähnte und bat sie, ihm eine Zigarette anzuzünden. »Danach musst du sie dir selber anzünden«, sagte sie, »denn ich werde alle Hände voll mit dem Schokoladen‐ kuchen zu tun haben. Du kannst uns von Schrafft’s Eis‐ creme holen: wird das nicht himmlisch sein?« Sie baute ein Kochbuch vor sich auf. »So viele köstliche Rezepte: hör dir das an ...« Er unterbrach sie und sagte; »Mir ist gerade eingefal‐ len: hast du es ernst gemeint, als du Winifred gesagt hast, sie kann hier eine Party geben? Sie ist so eine, die denkt, du hast es ernst gemeint.« Das warf ihre eigenen Gedanken aus der Bahn: was für eine Party? Und dann, in einem Wolkenbruch des Ge‐ dächtnisses, der sie völlig durchnässte, erinnerte sie sich daran, dass Winifred das dunkelhaarige, stämmige große Mädchen war, das Mink zum Picknick in den Catskills mitgebracht hatte: einem Picknick, zu dem Winifred, zu‐ sätzlich zu einem Pfund Salami, annähernd zweihundert Pfund kicherndes Fett‐ und Muskelgewebe beigetragen hatte. Ein Rhinozeros als Waldnymphe, und bekleidet mit einer kurzen Pumphose, einem Überbleibsel aus den Turnstunden in der Lincoln High School, hatte sie den 71
ganzen Nachmittag über mit der Natur geflirtet und da‐ bei nie ein verschwitztes Sträußchen Gänseblümchen aus der Hand gelassen: einige fanden es einfach komisch, wie sehr sie Blumen liebte, sagte sie, aber ehrlich, es gab nichts, was sie mehr als Blumen liebte, denn so war sie eben. Und doch, auf schwer zu beschreibende Weise, war Winifred bewundernswert. So wie von ihren Spaniel‐Au‐ gen ging auch von ihrer Hemmungslosigkeit eine zärt‐ liche, gute Art von Wärme aus; und wie betete sie Mink an, wie war sie stolz auf ihn und besorgt um ihn! Grady kannte niemanden, den sie weniger attraktiv fand als Mink oder grotesker als Winifred: doch zusammen und um sich herum strahlten sie ein klares, liebenswürdiges Licht aus: es war, als setzen sie aus ihrem gewöhnlichen Stein, ihren massigen, unförmigen Gestalten etwas Kost‐ bares frei, eine Figur, melodisch und rein: sie konnte nicht anders, als dem Anerkennung zu zollen. Clyde, der die beiden allem Anschein nach mitgebracht hatte, um sie zu warnen, all das, was zu ihm gehörte, werde ihr nicht zu‐ sagen, schien überrascht zu sein, dass sie die beiden mochte. Als dann der Reifen platzte und die Männer ihn reparierten, war Grady mit Winifred allein im Auto geblie‐ ben, und Winifred hatte sie in die Höhle weiblicher Ver‐ traulichkeit gelockt und damit bald einen der seltenen Augenblicke herbeigeführt, in denen Grady sich einem anderen Mädchen nahe fühlte. Beide erzählten eine Ge‐ schichte. Die von Winifred war traurig: sie arbeitete als Telefonistin, und das gefiel ihr, aber ihr Leben zu Hause war eine Qual, denn fest entschlossen, Mink zu heiraten, 72
hatte sie sich vorgenommen, eine Verlobungsparty zu geben, und ihre Familie, die Mink für einen Nichtsnutz hielt, wollte das nicht in ihrem Haus erlauben: was sollte sie bloß tun? Grady hatte gesagt, also wenn es nur eine Party war, dann konnte sie ja die Wohnung der McNeils benutzen. Prompt war Winifred in dicke Tränen ausge‐ brochen: das ist furchtbar nett, hatte sie gesagt. »Selbst wenn du es nicht ernst gemeint hast«, fuhr Clyde fort, »ich finde das keine so gute Idee: wenn deine Familie je davon erfährt, dann wird jemand schwer dafür büßen müssen.« »Ist es nicht ziemlich widersinnig, dass du dir über meine Familie Gedanken machst?«, sagte sie, und ihr schoss durch den Kopf, dass er eifersüchtig war, nicht in Bezug auf sie, sondern in Bezug auf Mink und Winifred, denn es war, als glaubte er, sie hätte die beiden von ihm fortgeködert. »Wenn du die Party nicht willst, auch gut: mir doch egal. Ich habe das nur angeboten, weil ich dachte, ich tue dir einen Gefallen: schließlich sind es deine Freunde, nicht meine.« »Schau mal, Kleines – du weißt, was zwischen uns läuft. Also bring das nicht mit einem Haufen anderer Dinge durcheinander.« Das schmerzte sie: es gab ihr das Gefühl, hässlich zu sein; und, mühsam das Schweigen wahrend, versteckte sie sich hinter dem Kochbuch. Was ihr am meisten auf der Zunge brannte, war, ihm zu sagen, dass er ein Feigling war: nur ein Feigling, das wusste sie, würde auf solch eine Taktik zurückgreifen; und sie war auch die Stille leid, die er ihr aufzwang: er schien mit der Stille so vertraut zu sein 73
und sie so leicht hinzunehmen, dass er vielleicht nicht verstand, wie weit sie davon entfernt war, Schuld zu emp‐ finden, zumindest ihm gegenüber. Gereizt, das Rezept auf der Seite vor sich nur noch verschwommen wahrneh‐ mend, lauschte sie dem Rascheln seiner Zeitung. Er hatte sich auf einem Stuhl zurückgelehnt, der jetzt mit lautem Ruck vorkippte. »Verdammt!«, sagte er, »hier ist ein Photo von dir«, und er drehte sich um, so dass sie ihm über die Schulter schauen konnte. Ein unscharfes, mit Fliegendreck getüp‐ feltes Bild von ihr und Peter, auf dem sie einbalsamierten Fröschen ähnelten, schaute ihr aus der Zeitung entgegen. Clyde fuhr mit dem Finger unter der Zeile entlang und las vor: »Debütantin Grady McNeil, die Tochter des Finanz‐ magnaten Lamont McNeil, und ihr Verlobter, Walt Whit‐ man der Zweite, in privatem Gespräch im Atrium Club. Whitman ist ein Enkel des berühmten Dichters.« Ein Skandal, konnte sie Apple sagen hören: trotzdem brauchte es eine eisige Bemerkung von Clydc, damit sie aufhörte zu lachen: »Lass noch jemand an dem Witz teil‐ haben.« »Ach, Liebling, das ist so kompliziert«, sagte sie und wischte sich die Augen. »Und außerdem ist es unwich‐ tig.« Auf das Photo tippend sagte er: »Ist das nicht der Bur‐ sche, der dir das Telegramm geschickt hat?« »Ja und nein«, sagte sie und verzweifelte daran, es zu erklären. Aber Clyde schien es gleichgültig zu sein. Mit zusammengekniffenen, in die Ferne blickenden Augen sog er Rauch ein und atmete ihn langsam durch die Nase 74
aus. »Ist das wahr?«, fragte er. »Bist du mit diesem wie beißt er noch verlobt?« »Das weißt du doch: natürlich nicht. Er ist nur ein alter Freund, jemand, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne.« Mit finsterem Gesicht zog er nachdenklich auf dem Tisch einen Kreis: sein Finger fuhr wieder und wieder da‐ rauf entlang; und Grady, die das Thema schon für erledigt gehalten hatte, ahnte, dass noch mehr auf sie zukam. Die‐ ses Gefühl vertiefte sich mit jedem Kreis, der entstand und verschwand; die Spannung zwang sie auf die Beine. Erwartungsvoll sah sie zu ihm hinunter. Aber es war, als könne er sich nicht entscheiden, was er nun eigentlich sa‐ gen sollte. »Ich bin mit Peter zusammen aufgewachsen, und wir ...« Clyde räusperte sich entschlossen. »Kann sein, du weißt es noch nicht. Kann sein, das ist für dich neu: aber ich bin verlobt.« Die winzigsten Geschehnisse in der Küche schienen plötzlich ihre Aufmerksamkeit zu heischen: Zeit, die in einer unsichtbaren Uhr verging, die rote Ader eines Ther‐ mometers, spinnendünnes Krabbeln in den Musselin‐ gardinen, eine Wasserträne am Hahn, die nie herabfiel: all das verwob sie zu einer Wand: aber die Wand war zu dünn, zu papieren, und Clydes Stimme ließ sich nicht ab‐ stellen. »Ich hab ihr aus Deutschland einen Ring ge‐ schickt. Wenn es das heißt, verlobt zu sein. Naja«, sagte er, »ich hab dir ja gesagt, dass ich Jude bin: oder jedenfalls meine Mutter ist Jüdin – und sie schwärmt von Rebecca. 75
Ich weiß nicht, Rebecca ist ein nettes Mädchen: sie hat mir jeden Tag geschrieben, als ich beim Militär war.« In der Ferne klingelte das Telefon: noch nie hatte Grady einen Anruf für wichtiger gehalten; ohne den Ne‐ benapparat in der Küche zu beachten, hastete sie durch ein Labyrinth von Dienstbotengängen in die vordere Woh‐ nung und in ihr eigenes Zimmer. Es war Apple in East Hampton. Sprich langsamer, bat Grady, denn am anderen Ende waren nur eine Menge Wörter und Gestotter: ich versuche, die Familie zu ruinieren? sagte sie, als ihr klar wurde, dass Apples weitschweifiger dramatischer Mono‐ log sich auf Peter Bell und das Zeitungsphoto bezog: leider hatte jemand es Apple gezeigt. Normalerweise hätte sie aufgelegt; aber jetzt, wo selbst der Fußboden substanzlos zu sein schien, hielt sie sich am Klang der Stimme ihrer Schwester fest. Sie beschwor, erklärte, nahm Beschimp‐ fungen hin. Allmählich war Apple so weit besänftigt, dass sie ihren kleinen Sohn an den Hörer holte und ihm zu sagen auftrug: hallo, Fante Grady, wann kommst du uns besuchen? Und als Apple, dieses Thema aufgreifend, ihr vorschlug, zu kommen und die Woche über in East Hampton zu bleiben, wehrte sie sich überhaupt nicht da‐ gegen: bevor beide auflegten, war ausgemacht, dass Grady am nächsten Morgen hinausfahren würde. Neben ihrem Bett war eine Stoffpuppe, ein ausgebli‐ chenes, unscheinbares Mädchen mit verhedderten Fäden roter, struppiger Haare; sie hieß Margaret, ihr Alter betrug zwölf Jahre und wahrscheinlich mehr, denn sie war schon nicht besonders ansehnlich gewesen, als Grady sie gefun‐ den hatte, von einem anderen Kind auf einer Parkbank zu‐ 76
rückgelassen. Zu Hause hatten alle bemerkt, wie ähnlich sie sich sahen, beide waren mager und strubbelig und rot‐ haarig. Sie bürstete die Haare der Puppe auf und brachte ihren Rock in Ordnung; es war wie früher, als Margaret ihr immer Beistand geleistet hatte: ach, Margaret, begann sie und verstummte, von dem Gedanken zum Schweigen ge‐ bracht, dass Margarets Augen blaue Knöpfe und kalt wa‐ ren, dass Margaret nicht mehr dieselbe war. Vorsichtig bewegte sie sich durchs Zimmer und hob den Blick zu einem Spiegel: auch Grady war nicht mehr dieselbe. Sie war kein Kind mehr. Es war eine so perfekte Ausrede gewesen, dass sie an der Vorstellung, sie sei noch ein Kind, festgehalten hatte: als sie zum Beispiel Peter ge‐ sagt hatte, ihr sei noch nicht in den Sinn gekommen, ob sie Clyde heiraten würde oder nicht, hatte das der Wahr‐ heit entsprochen, aber nur, weil sie das für ein Problem der Erwachsenen gehalten hatte: Hochzeiten geschahen in ferner Zukunft, wenn das graue und ernste Leben be‐ gann, und ihr eigenes Leben, glaubte sie fest, hatte noch nicht begonnen; doch als sie sich jetzt dunkel und blass im Spiegel sah, wusste sie, es währte schon sehr lange Zeit. Lange Zeit: und Clyde zu sehr ein Teil davon: sie wünschte, er wäre tot. Wie bei der Herzkönigin, die un‐ aufhörlich schrie: ab mit seinem Kopf, war das reines Wunschdenken, denn Clyde hatte nichts getan, was die Strenge eines Todesurteils rechtfertigte: dass er sich ver‐ lobt hatte, war kein Verbrechen, sondern sein gutes Recht: welchen Anspruch hatte sie überhaupt auf ihn? Es gab keinen, den sie geltend machen konnte; denn sie 77
hatte, uneingestanden, doch in der Mitte ihrer Gefühle, immer eine Vorahnung von Kürze gehabt, ein Wissen, dass er sich nicht in die Alltagskleidung ihrer Zukunft hineinschneidern ließ: aus eben diesem oder fast diesem Grund hatte sie beschlossen, ihn zu lieben: das Vorjahres‐ feuer sollte er sein, oder hätte er sein sollen, das seinen Schein auf den Schnee warf, der bald genug fallen würde. Bevor sie sich vom Spiegel abwandte, hatte sie gesehen, dass Wetterlagen allesamt unvoraussagbar sind: die Tem‐ peratur sank, der Schnee war schon da. Sie schwankte hin und her auf einer Schaukel aus Zorn und Selbstmitleid. Es gab eine Grenze für die Anschul‐ digungen, die sich gegen sie selbst vorbringen ließen: sie hielt auch ein paar für ihn bereit. Und die wichtigste davon war die Puderdose, die sie in ihrem Auto gefun‐ den hatte; mit schwungvoller Geste holte sie sie aus einer Schreibtischschublade hervor: fortan konnte er mit Rebecca in der Straßenbahn herumkutschieren. Die Stille und das Tosen eines Basehallspiels füllten die Küche; Clyde saß über das Radio gebeugt und biss sich auf die Nägel, aber als sie eintrat, wichen seine Au‐ gen ängstlich zur Seite aus. Und sie hielt inne, überlegte, ob sie es wirklich tun sollte. Im Handumdrehen war es jedoch getan: sie hatte die Puderdose neben ihm hinge‐ legt. »Ich dachte, vielleicht möchte deine Freundin sie zu‐ rückhaben: sie muss ihr gehören – ich habe sie im Auto gefunden.« Schamröte befleckte seinen Hals; aber dann, nachdem er die Puderdose in die Tasche gesteckt hatte, erfasste ihn ein stählernes Verhärten von Kopf bis Fuß, und seine hei‐ 78
sere Stimme wanderte in den Keller: »Danke, Grady Sie hat sie schon gesucht.« Es war, als kreiste ein elektrischer Ventilator in Clydes Kopf, und das Brabbeln des Sportreporters, das sich darin verfing, war ein gestörtes und irres Geräusch. Er tastete in der Tasche nach der Puderdose und schloss fest die Hand darum: ein Knacken, ein Klirren, und sie zerbarst; Splitter des Spiegels bohrten sich in seinen Handteller, der ein wenig blutete. Es tat ihm leid, dass er die Puderdose zerbrochen hatte, denn sie gehörte jemandem, den er liebte, seiner Schwes‐ ter Anne. Im April, als Grady ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sich im Kardantunnel ihres Buicks ein Knick gebil‐ det, ein Leiden, das er selbst nicht kurieren konnte, also hatte er das Auto nach Brooklyn gebracht, um es seinem Freund Gump zu zeigen, der in einer Werkstatt arbeitete. Anne trieb sich fast den ganzen Tag lang in dieser Werk‐ statt herum. Ein verkümmertes, verhutzeltes Mädchen von neunzehn Jahren, das nicht älter als zehn oder elf aus‐ sah und von Motoren so viel verstand wie ein Mann. Zu Hause hatte sie einen Stapel Sammelalben aufgehäuft, so groß wie sie selbst, und die Alben enthielten nichts als die Phantasiegebilde ihrer eigenen Entwürfe für super‐ schnelle Automobile und interplanetarische Flugzeuge. Das war ihr Lebenswerk, alles, was sie kannte, denn mit drei Jahren hatte sie einen Herzanfall erlitten und war deshalb nie zur Schule gegangen. Trotz vereinter Anstren‐ gungen der Familie war es niemandem gelungen, ihr das 79
Lesen und Schreiben beizubringen, sie hatte einfach je‐ den Versuch zurückgewiesen und war trotzig ihren wah‐ ren Interessen nachgegangen: der Funktionsweise eines Motors, dem Gleiten von Flügeln durch den Weltraum. Es hatte die Regel im I laus gegeben, dass man Anne nicht anschrie: immer und von allen außer Clyde wurde ihr die demonstrative Rücksicht erwiesen, wie man sie jeman‐ dem zeigt, der bald sterben wird: Clyde, der sich nicht vorstellen konnte, dass sie sterben würde, der sich das Haus nicht ohne ihr Motorengerede und Werkzeuggebas‐ tel denken konnte, ihre Märchenverzauberung beim Ge‐ räusch eines Flugzeugs oder beim Anblick eines neuen Autos, hatte sie mit einer natürlichen Derbheit behandelt, die sie damit beantwortet hatte, ihn anzubeten; wir sind Brüder, nicht wahr, Clyde?, so beschrieb sie ihre Nähe zu‐ einander. Und er schämte sich ihretwegen nicht. Die an‐ deren schon, ein wenig. Seine Schwester Ida hatte es ganz besonders gefuchst, dass Anne erlaubt wurde, sich den ganzen Tag in einer Werkstatt herumzutreiben: was sol‐ len denn die Leute von mir denken, wenn meine eigene Schwester sich wie ein Flittchen anzieht und mit jedem Lümmel aus der Nachbarschaft herumzieht? Clyde sagte wahrheitsgemäß, dass diese Jungs, die Ida Lümmel nann‐ te, viel für Anne übrig hatten: und sie waren die einzigen Freunde, die sie besaß. Schon schwerer fiel es, zu ent‐ schuldigen, wie sie sich anzog. Bis sie siebzehn war, hatte Anne niedliche Sachen aus Ohrbach’s Kinderabteilung getragen; dann, plötzlich eines Tages, kaufte sie sich ein Paar Stöckelschuhe, ein oder zwei nuttige Kleidchen, ein Paar falsche Brüste, eine Puderdose und eine Flasche mit 80
perlmuttfarbenem Nagellack; in ihrer neuen Aufmachung durch die Straßen wackelnd, sah sie aus wie ein verkleide‐ tes Kind: Fremde lachten. Clyde hatte mal einen Mann zusammengeschlagen, nur weil er sie ausgelacht hatte. Und er hatte zu ihr gesagt: kümmre dich nicht um Ida und die anderen, zieh einfach an, was du magst. Und sie hatte erwidert: persönlich sei es ihr eigentlich egal, was sie an‐ habe, aber für Gump wolle sie hübsch aussehen. Aus hei‐ terem Himmel hatte sie Gump einen Heiratsantrag ge‐ macht, der in seiner Nettigkeit sagte, wenn er je heiraten werde, dann Anne. Deswegen betrachtete Clyde ihn als seinen besten Freund: er protestierte nie, wenn Gump beim Kartenspiel mogelte. An dem Tag, an dem er Gradys Auto hinaus zur Werkstatt in Brooklyn gefahren hatte, war Anne dort: in Stöckelschuhen und mit einem Strasskamm im Haar half sie Gump, ein Motorklopfen zu orten. Ein Frühlingsregenbogen stand am Himmel, und die Farbmi‐ schung aus einem Regenbogen und einem blau blitzen‐ den Kabriolett war für sie zu viel gewesen: in solch einem Auto, hatte sie gesagt und Clyde angefleht, sie auf eine Fahrt mitzunehmen, in solch einem Auto konnte man das Ende des Regenbogens erreichen, bevor er zergangen war. Also hatte er sie im ganzen Stadtviertel herumgefahren und an einer Schule vorbei, aus der die Kinder strömten (sogar die Kleinsten wissen mehr als ich, aber sie haben noch nie in so einem wunderschönen Auto gesessen); wie ein Spatz auf der Sitzlehne hockend und die Beine schwenkend, hatte sie allen zugewinkt, als sei sie die Hel‐ din einer großen Parade. Und als er vor ihrem Haus hielt, um sie hinauszulassen, hatte sie ihm vom Bordstein aus 81
einen Kuss zugeworfen: er fand, er hatte im ganzen Leben noch nie ein hübscheres Mädchen gesehen. Ein paar Mi‐ nuten später, als sie die Treppe hinaufeilte, war sie hin‐ tenüber und hinuntergestürzt: es war eine Gnade Got‐ tes, sagte Ida, die als einzige im Haus gewesen und nicht rechtzeitig hinzugekommen war. Clyde dachte daran zurück: in diesen Tagen, als Ida und seine Mutter und Bernie und Crystal Beileid ein‐ sammelten und die Grabestrauer verewigten, war er von zu Hause fortgeblieben und hatte sich mit Grady eine schöne Zeit gemacht: mit einem verrückten Mädel wie ihr konnte man schlecht über Anne reden. In seiner Zeit beim Militär hatte er sehr viele Mädchen aufgegabelt: manchmal passierte nichts weiter als viel Gerede, und auch das war in Ordnung: denn es kam nicht darauf an, was man zu ihnen sagte, weil in jenen flüchtigen Momen‐ ten Lügen oder Wahrheit beliebig waren und man sein konnte, was man wollte. Am Morgen, an dem er Grady zum ersten Mal auf dem Parkplatz gesehen hatte, und spä‐ ter, als sie ein paar Mal vorbeigekommen war und er mit Bestimmtheit gewusst hatte, dass etwas in der Luft lag, war sie ihm wie eines jener Mädchen vorgekommen, wie jemand in einem Zug; und er hatte gedacht, ach, zum Teu‐ fel: nimm, was dir über den Weg läuft: also hatte er sich mit ihr verabredet. Hinterher verstand er sie überhaupt nicht mehr: sie hatte ihn in gewisser Weise hinter sich ge‐ lassen, war über das Ziel seiner Erwartungen hinausge‐ schossen: ein verrückter Fratz, sagte er und wusste nur zu gut, was für ein unzulängliches Etikett das war, und doch, behindert durch die Weite ihres Gefühls und die Enge 82
seines eigenen, wollte ihm kein anderes einfallen. Nur in‐ dem er sich zurückzog, konnte er sich überhaupt auf den Füßen halten: je wichtiger sie wurde, als desto unwichti‐ ger stellte er sie hin: denn, verdammt noch mal, was sollte er denn tun, wenn sie ihn sitzenließ? Was sie früher oder später tun würde. Wenn er anderer Überzeugung gewesen wäre, vielleicht hätte er dann sein Leben mit ihr teilen können, wie sie es wollte, aber die Zukunft, die ihn er‐ wartete, bestand ganz aus Untergrundbahn und Rebecca, und sich damit abzufinden, bedeutete, dass er ein Mäd‐ chen wie Grady McNeil nicht zu ernst nehmen durfte. Es fiel schwer. Und fiel immer schwerer. Bei dem Picknick hatte er eine Weile lang mit dem Kopf in ihrem Schoß ge‐ schlafen; und geträumt, dass jemand sagte, nicht Anne sei gestorben, sondern Grady: als er aufgewacht war und ihr Gesicht in einem Glorienschein aus Sonnenlicht gesehen hatte, war ein Riss durch ihn gegangen: wenn er gewusst hätte, wie, dann hätte er in jenem Augenblick den Betrug seiner Gleichgültigkeit aufgedeckt. Er fischte die zerbrochene Puderdose aus seiner Ta‐ sche und tat sie in den Mülleimer; ob Grady es bemerkte, vermochte er nicht zu sagen, denn bei jeder Bewegung von ihm wandte sie den Kopf ab, als habe sie Angst, ihre Blicke könnten sich begegnen oder er könnte sie be‐ rühren. Benommen und mit schwerfälliger Verstohlenheit hatte sie die Kuchenzutaten zusammengetragen; aber beim Trennen der Eier war ihr ein Dotter in die Schale mit dem Eiweiß gefallen, und nun stand sie da und starrte auf ih‐ ren Fehler, als sei sie bei einem unüberwindlichen Hin‐ dernis angelangt. Clyde, der ihr zusah, bekam Mitleid: er 83
wollte hingehen und ihr zeigen, wie leicht sich das Eigelb herausholen ließ. Aber aus dem Radio erscholl lautes Ge‐ brüll; jemand hatte einen Home Run erzielt, und er war‐ tete, um zu hören, wer: doch wieder konnte er dem Spiel nichts abgewinnen, und ziemlich heftig stellte er das Ra‐ dio aus. Baseball war ohnehin ein wunder Punkt, denn das erinnerte ihn an vergangene Triumphe und unerfüllte Hoffnungen und Träume, die sich in Rauch aufgelöst hat‐ ten. Vor langer Zeit hatte eigentlich festgestanden, dass aus Clyde Manzer ein berühmter Baseballspieler werden würde: alle hatten ihn als den besten Werfer der Spiel‐ platzliga gelobt: einmal, als er jeden Punkt der gegneri‐ schen Mannschaft verhindert hatte, war er auf vielen Schultern und mit einer Highschool‐Kapelle, die voran‐ marschierte, vom Platz getragen worden: er hatte geweint, und seine Mutter hatte auch geweint, obwohl ihre Tränen noch einer anderen Quelle als dem Stolz entsprungen waren; sie war überzeugt, Clyde sei nun ein für alle Mal verdorben und werde es nie mehr, wie sie es erhofft hatte, zum Rechtsanwalt bringen. Komisch, wie alles in sich zu‐ sammengefallen war. Kein einziger Trainer auf Talent‐ suche sprach ihn an; kein College bot ihm ein Stipendium an. Beim Militär hatte er noch einige Zeit weitergespielt, aber ohne jemandem aufgefallen zu sein; heutzutage musste man ihm gut zureden, damit er einen Ball in die Hand nahm, und das einsamste Geräusch in ganz Brook‐ lyn war für ihn das Klatschen eines Balls auf einen Base‐ ballschläger. Auf der Suche nach einer anderen Laufbahn beschloss er, Testpilot zu werden; und so hatte er sich nach seinem Eintritt ins Militär um eine Ausbildung bei 84
der Luftwaffe beworben: ungenügende Schulbildung hatte man als Grund für seine Ablehnung angegeben. Die arme Anne. Sie hatte Ida auf einen Stuhl gesetzt und ihr einen Brief diktiert: Schick sie zum Teufel, liebster Bruder. Das sind Vollidioten. Du wirst der Allererste sein, der eins von meinen Raumschiffen fliegt. Und eines Tages werden wir den Mond betreten. Ida hatte eine praktische Nachschrift hinzugefügt: Besser, du denkst mal über Onkel Al nach. Onkel Al betrieb eine kleine Kofferfabrik in Akron; mehr als einmal hatte er angeboten, den Sohn seines Bruders ins Geschäft aufzunehmen – ein Vorschlag, der Clyde, den Baseballchampion, beleidigte: nach seiner Entlas‐ sung aus der Armee und nach ein paar auf dem Kopf ste‐ henden mitternächtigen Monaten, in denen er den gan‐ zen Tag über geschlafen hatte und die ganze Nacht über rumgelaufen war, hatte er sich jedoch eines Tages in einen Bus nach Akron gesetzt, eine Stadt, die er schon hasste, bevor er auch nur halb dort war. Aber schließlich hasste er fast alle Städte, die nicht New York waren; woanders zu sein, schien reine Zeitverschwendung, eine Verbannung aus der Hauptströmung in träge Nebenflüsse, wo das Le‐ ben seicht und unecht war. Eigentlich war Akron gar nicht so öde gewesen. Seine Tätigkeit hatte ihm gefallen, wenn auch nur, weil sie einige Macht mit sich brachte – vier Männer arbeiteten unter ihm: jawohl, Sir, mein Sohn, sagte Onkel Al, zusammen werden wir’s zu Geld bringen. Aus all dem hätte etwas werden können, wäre da nicht Berenice gewesen. Berenice war Onkel Als einziges Kind, ein frühreifes, verwöhntes Püppchen mit milchig‐blauen Glupschaugen und einer Neigung zur Hysterie. Sie hatte 85
nichts Unschuldiges an sich; von Anfang an war klar, dass sie alles andere als ahnungslos war, und schon nach einer Woche unternahm sie entschlossene Annäherungsver‐ suche. Er wohnte in Onkel Als Haus, und eines Abends beim Essen spürte er unter dem Tisch ihren Fuß; sie hatte den Schuh ausgezogen, und ihr warmer seidiger Fuß, der sich an seinem Bein rieb, erregte ihn derartig, dass er die Gabel nicht still halten konnte. Es war ein Vorfall, der ihn hinterher mit größter Scham erfüllte: dass ein Kind ihn in Erregung versetzen konnte, kam ihm widernatürlich und erschreckend vor. Er versuchte, in ein YMCA im Zen‐ trum von Akron umzuziehen, aber Onkel Al wollte nichts davon hören: wir haben dich gerne im Haus, Junge – ge‐ rade erst gestern Abend hat Berenice gesagt, wie glücklich sie ist, seit ihr Vetter Clyde hier bei uns wohnt. Eines Ta‐ ges dann, als er sich nach dem Duschen abtrocknete, fiel sein Blick auf einen blassblauen Schimmer im Schlüs‐ selloch des Badezimmers, unverkennbar ein spähendes Auge. Alle Wut kochte in ihm hoch. In ein Handtuch ge‐ hüllt, riss er die Tür auf; und Berenice hatte sich stumm und schuldbewusst in eine Ecke gedrückt, während er sie mit schmutzigen Schimpfwörtern aus seiner Militärzeit überhäufte: zu spät merkte er, dass Onkel Als Frau oben auf dem Treppenabsatz alles mitangehört hatte. Warum redest du so mit einem Kind?, hatte sie leise gefragt. Ohne sich die Zeit für eine Antwort zu nehmen, hatte er sich angezogen, seine Sachen gepackt und das Haus verlas‐ sen. Zwei Tage später war er wieder in New York. Ida sagte, wie schade, dass ihm die Kofferindustrie nicht zu‐ gesagt hatte. 86
Ruhelose Ameisen voll Energie krabbelten durch seine Muskeln und stachelten ihn auf. Er hatte die Schnauze voll: von sich selbst und von Gradys dumpfem Brüten, das ihn ähnlich deprimierte wie die Tieftrauerphasen, zu denen seine Mutter fähig war. Als jugendlicher hatte er zwanghaft gestohlen, denn die Gefahren, die damit ver‐ bunden waren, hatten sich als seine wirksamste Waffe ge‐ gen die Langeweile erwiesen; beim Militär, und aus recht ähnlichen Gründen, hatte er einmal einen elektrischen Rasierapparat gestohlen. Jetzt spürte er einen Drang, et‐ was in der Art zu tun. »Lass uns verdammt noch mal von hier verschwinden«, explodierte er; dann, leiser: »Im Loews läuft ein Film mit Bob Hope.« Mit einer Gabel spießte Grady das verunglückte Eigelb auf. »Von mir aus«, sagte sie. Es war zum Umsinken auf der Lexington Avenue, be‐ sonders, weil sie gerade aus einem klimatisierten Kino gekommen waren; bei jedem Schritt gähnte ihnen der schale Atem der Hitze ins Gesicht. Ein sternenloser Nachthimmel hatte sich geschlossen wie ein Sargdeckel, und die Straße, mit ihren Zeitungsständen voller Kata‐ strophen und den flackernden Fliegensummgeräuschen der Neonlichter, wirkte wie eine in die Länge gezogene, dumpfige Leiche. Das Pflaster war nass von einem Hegen aus elektrischer Farbe; Passanten, von diesem feuchten Schein besudelt, wechselten mit chamäleonartiger Ge‐ schwindigkeit die Farbe: Gradys Mund wurde grün, dann purpurrot. Mord! Eine Gruppe, die Gesichter hinter Zei‐ tungsmasken verborgen, dampfend unter einer Straßen‐ 87
laterne auf einen Bus wartend, starrte in die gedruckten Augen eines jugendlichen Mörders. Auch Clyde kaufte eine Zeitung. Grady hatte noch nie einen Sommer in New York ver‐ bracht und daher noch nie eine solche Nacht erlebt. Hitze öffnet den Schädel einer Großstadt, legt ihr weißes Ge‐ hirn bloß und ihr Herz aus Nerven, die prasseln wie die Drähte in einer Glühbirne. Und ein saurer, außermensch‐ licher Geruch strömt aus, der selbst Stein wie lebendiges Fleisch wirken lässt, mit Haut bedeckt und pulsierend. Nicht, dass Grady diese Art von beschleunigter Verzweif‐ lung unbekannt war, die eine Großstadt heraufbeschwö‐ ren kann, denn auf dem Broadway hatte sie alle Bestand‐ teile davon gesehen. Nur dort war es etwas, das sie von Ferne kennengelernt hatte, und sie hatte gleichsam nicht teilgenommen. Aber jetzt gab es für sie nirgendwo einen Notausgang: sie war ein Mitglied. Sie blieb stehen, um ihre Söckchen hochzuziehen, die sich in die Schuhe verkrochen hatten; und da be‐ schloss sie, einen Augenblick zu warten, gespannt, wie lange Clyde brauchen würde, um zu merken, dass er sie zurückgelassen hatte. An der Ecke war ein Marktstand, und der Bürgersteig dort war wie ein wundersamer Gar‐ ten, wo die Springbrunnen aus Obst und die Blumen zu Bündeln großer Sonnenschirme gebunden sind. Clyde blieb einen Augenblick dort stehen, dann ging er rasch zu ihr zurück. Und sie wollte mit ihm durch die Straßen eilen, sich mit ihm im Dunkel der Wohnung verstecken. Aber: »Geh über die Straße«, sagte er, »und warte vor dem Drugstore auf mich.« 88
Eine seltsame Spannung machte sein Gesicht schma‐ ler; deswegen fragte sie ihn nicht, warum sie dort warten sollte. Ihre Sicht auf ihn beschränkte sich auf kurze Blicke, erhascht zwischen Verkehrsschüben; gerade sah sie ihn den Obst‐ und Blumenstand umkreisen. Im selben Augenblick sah sie ein Mädchen auf sich zukommen, das mit ihr in der Klasse von Miss Risdale gewesen war: also drehte sie sich um, blickte in die grellen Schaufenster des Drugstores und betrachtete eine Auslage von Sportban‐ dagen. Ein Brausen aus dem Untergrund durchfuhr sie, denn sie stand auf einem U‐Bahn‐Lüftungsgitter: tief drunten in den Höhlen hörte sie das Kreischen eiserner Räder, und dann erscholl ein Stück näher heftiger Lärm: Autohupen gellten, Stoßstangen rumsten, Reifen quietsch‐ ten!, sie fuhr herum und sah, wie ein Autofahrer Clyde beschimpfte, der achtlos über die Straße lief, so rasch ihn seine Beine trugen. Er packte sie bei der Hand und zog sie mit sich, und sie rannten, bis sie eine leisere und nach Bäumen duftende Seitenstraße erreichten. Ais sie keuchend ancinander‐ lehnten, drückte er ihr einen Strauß Veilchen in die Hand, und sie wusste, ganz als hätte sie es mitangesehen, dass sie gestohlen waren. Sommer aus Moos und Schatten zeichnete sich in den Adern der Veilchenblätter ab, und sie presstc ihre Kühle an die Wange. Als sie wieder zu Hause war, rief sie Apple an, um ihr zu sagen, dass sie doch nicht nach East Hampton kom‐ men werde. Stattdessen fuhr sie mit Clyde nach Red Bank in New Jersey, und dort heirateten sie gegen zwei Uhr morgens. 89
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KAPITEL 5
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Clydes Mutter war eine füllige Frau mit dunklem Teint und dem erschöpften, enttäuschten Aussehen einer, die ihr Leben damit zugebracht hat, Dinge für andere zu tun: gelegentlich deutete die nachdenkliche Wehmut in ihrer Stimme darauf hin, dass sie dies bedauerte. »Kinder, Kinder, ich bitte euch, ein bisschen Ruhe«, sagte sie und fuhr sich mit den Fingerspitzen an die Stirn; ihre Haare, gerippt wie ein Waschbrett und von kleinen Kämmchen an den Kopf geheftet, waren mit silbernem Gekräusel durchzogen. »Bernie, Schatz, tu, was Ida dir sagt, nicht im Haus Ball spielen. Geh für Mama in die Küche und hilf deinem Bruder mit dem Eisschrank.« »Nicht schubsen!« »Wer schubst?« fragte Ida, die geschubst hatte. »Ich schlag das kleine Aas krumm und lahm. Ich warne dich, Bernie, wenn du im Haus Ball spielst, schlag ich dich krumm und lahm.« Woraufhin Mrs. Manzer ihre erste Bitte wiederholte. In ihren Ohren steckte Jett, und diese Perlen schwangen wie Glocken, als sie den Kopf schüttelte und ein unver‐ ständliches Schimpfwort seufzte. Auf einem Tisch neben ihr stand ein kleiner eingetopfter Kaktus, und sie drückte die Erde darum fest; Grady, die ihr gegenübersaß, regis‐ 93
trierte, dass sie dies bereits zum neunten oder zehnten Mal tat, und folgerte daraus, dass Mrs. Manzer sich eben‐ so unwohl fühlte wie sie selbst: ein Schluss, der ihr half, sich ein wenig zu entspannen. »Sie verstehen, mein wertes Fräulein? Ah, Sie lächeln und nicken; aber ganz unmöglich: Sie haben ja keine Brü‐ der.« Grady sagte: »Nein, das stimmt, ich habe nur eine Schwester«, und fasste in ihre Handtasche, um Zigaretten herauszuholen; aber da nirgendwo Aschenbecher standen, bekam sie Zweifel, ob Mrs. Manzer das Rauchen gestat‐ tete, also zog sie die Hand zurück und wusste nun leider nichts mehr damit anzufangen: alle ihre Körperteile kamen ihr zu schwerfällig vor, was nicht zuletzt Idas Schuld war, denn Ida hatte sie während der letzten Stunden einer Prü‐ fung unterzogen, so fein wie Spitzenklöppelei. »Nur eine Schwester? Das ist schlimm. Aber Sie wer‐ den Söhne bekommen, hoffe ich. Eine Frau ohne Söhne hat kein Gewicht: man hält nichts von ihr.« »Na, ohne mich«, sagte Ida, ein herbes, hämisches Mädchen mit krausen Haaren und fahlem, mürrischen Gesicht. »Jungen sind grässlich; Männer auch. Je weni‐ ger, desto besser, ist meine Meinung.« »Du redest dummes Zeug, Ida, mein Liebchen«, sagte ihre Mutter und stellte den Kaktus auf ein Fensterbrett, wo ein Fleckchen Brooklyner Sonnenlicht trostlos auf ihn fiel. »Das ist eine vertrocknete Art zu reden; du brauchst mehr Saft im Leib, Ida, mein Liebchen. Vielleicht fährst du besser mal in die Berge wie Minnies Tochter voriges Jahr.« 94
»Die war nicht in den Bergen. Glaub mir, über die weiß ich Bescheid.« Es war ungewöhnlich, in welchem Ausmaß Mrs. Man‐ zer und ihr älterer Sohn sich in ihren Eigenarten gli‐ chen: dieses unklare, vieldeutige halbe Lächeln, diese ein‐ drucksvollen Augen, das langsame Setzen der Wörter, das für die Sprechweise beider charakteristisch war: Grady be‐ kam Herzklopfen, diese typischen Merkmale bei einem anderen Menschen zu sehen und mit solch anderer Wir‐ kung. »Der Mann ist alles, ein empfindliches Alles«, sagte Mrs. Manzer, sich über die versteckte Andeutung ihrer Tochter hinwegsetzend, was auch sehr an Clyde erinnerte, der alles ausblendete, was ihm nicht passte. »Und der Mann, der im Kind steckt: genau das muss eine Mama be‐ hüten und bewahren, wie Bernie: ein lieber Junge, so gut zu seiner Mama, ein Engel. Das war mein Clyde auch. Ein Engel. Wenn er ein Milky Way hatte, hat er seiner Mama immer die Hälfte abgegeben. Ich schwärme für Milky Ways. Aber jetzt; ja, wenn Jungen groß werden, ändern sie sich, und sie denken nicht mehr so oft an die Mama.« »Siehst du? Jetzt sagst du dasselbe wie ich: Männer sind undankbar.« »Ida, mein Liebchen, bitte, beklage ich michr Es ist richtig, dass ein Kind die Mama nicht so liebt, wie die Mama das Kind liebt; Kinder schämen sich wegen der Liebe, die die Mama ihnen gibt; das ist nun mal so. Aber wenn ein Junge zum Mann wird, dann ist es richtig, dass seine Zeit anderen Damen gehört.« Stille breitete sich zwischen ihnen aus, aber sie hatte nichts Bedrückendes an sich, wie es so oft der Fall ist, 95
wenn Menschen, die sich noch nicht lange kennen, in Schweigen verfallen. Grady dachte an ihre eigene Mutter, an die schwierigen Beweise der Zuneigung, die sie ge‐ tauscht hatten, an die Augenblicke der Liebe, die Grady – aus Ungläubigkeit? aus unversöhnlichem Zweifel? – zu‐ rückgewiesen hatte; sie überlegte, ob Gelegenheit bestand, dies wiedergutzumachen, und sie erkannte, dass es keine gab, denn nur ein Kind hätte das tun können, und das Kind, wie auch die Gelegenheit, war verschwunden. »Ach, was ist schlimmer als eine alte Frau, die zu viel redet, eine Plaudertasche?«, sagte Mrs. Manzer mit einem lebhaften Seufzer. Sie sah Grady an: es war kein Blick, der fragte: warum hat mein Sohn dich geheiratet?, denn sie wusste nicht, dass sie verheiratet waren; son‐ dern: warum liebt mein Sohn dieses Mädchen? ist für jede Mutter eine tiefere Frage, und Grady konnte sie in ihren Augen lesen. »Sie sind höflich und hören zu. Aber ich werde jetzt meinen Mund halten und Ihnen zu‐ hören.« Als Grady sich den Besuch in Brooklyn ausgemalt hatte, war sie selbst in ihren Gedanken eine unsichtbare Zeugin gewesen, die unbeobachtet in die Teile von Clydes Leben spazierte, die man erst nach einstündiger U‐Bahn‐ Fahrt erreichte: erst an der Tür wurde ihr klar, wie un‐ realistisch das war und dass sie, ebenso wie die anderen, besichtigt werden würde: wer sind Sie? was haben Sie zu sagen? Es war keine Anmaßung von Mrs. Manzer, so zu fragen, und Grady, sich der Herausforderung stellend, zwang sich vorwärts: »Ich dachte gerade – ich bin sicher, Sie irren sich – an Clyde«, stammelte sie und griff nach 96
dem naheliegendsten Thema. »Clyde hängt ganz schreck‐ lich an Ihnen.« Sie wusste sofort, dass ihre Bemerkung unpassend war, und Ida, mit einem Gesichtsausdruck, der gerade noch diesseits der Überheblichkeit war, verlor keine Zeit, ihr das mitzuteilen: »Alle von Mamas Kindern hängen an ihr; in der Hinsicht hat sie eine Menge Glück.« Eine Außenstehende, die so indiskret war, sich über Familienbande zu äußern, musste mit Zurechtweisung rechnen, und Grady nahm die von Ida mit einem Anstand hin, als habe sie nicht bemerkt, dass es eine war. Denn die Manzers waren in der Tat eine Familie: die abgestandenen Düfte und die abgenutzten Möbel ihres Hauses rochen stark nach einem gemeinsamen Leben und einer Ein‐ tracht, die kein Aufruhr sprengen konnte. Es gehörte ih‐ nen, dieses Leben, diese Zimmer; und sie gehörten einan‐ der, und Clyde war weit mehr ihr Eigentum, als er wusste. Für Grady, die in dieser Weise wenig Familiensinn besaß, war es eine fremde, eine warme, fast eine exotische Atmo‐ sphäre. Es war jedoch keine Atmosphäre, die sie für sich selbst gewählt hätte – unter den stickigen, unentrinnba‐ ren Zwängen der Nähe zu anderen wäre sie bald genug verkümmert – ihr Organismus brauchte das kalte, abge‐ schiedene Klima des Einzelwesens. Sie fürchtete sich nicht, zu sagen: ich bin reich, Geld ist die Insel, auf der ich stehe; denn sie schätzte den Wert dieser Insel richtig ein, war sich bewusst, dass deren Boden ihre Wurzeln enthielt; aufgrund des Geldes konnte sie es sich leisten, immer alles zu ersetzen: Häuser, Möbel, Menschen. Wenn die Manzers das Leben anders verstanden, dann, 97
weil sie nicht zu diesen Annehmlichkeiten erzogen wor‐ den waren: sie entschädigten sich dafür durch eine grö‐ ßere Anhänglichkeit an das, was sie hatten, und der Rhythmus von Leben und Tod schlug für sie zweifellos auf einer kleineren, aber intensiveren Trommel. Es waren zwei Arten des Daseins, wenigstens sah sie es so. Doch letzten Endes, irgendwohin muss man gehören: sogar der durch die Lüfte schweifende Falke kehrt auf die Hand seines Herrn zurück. Mrs. Manzer lächelte ihr zu; leise, mit der ins Ohr ge‐ henden Kaminfeuerstimme einer Geschichtenerzählerin sagte sie: »Als ich ein junges Mädchen war, lebte ich in einer kleinen Stadt am Hang eines Berges. Auf seinem Gipfel lag Schnee und an seinem Fuß ein grüner Fluss: können Sie ihn sehen? Jetzt horchen Sie, und sagen Sie mir, ob Sie die Glocken hören können. Ein Dutzend Türme, und ständig läuten die Glocken.« Grady sagte: »Ja, ich höre sie«, und sie tat es; und Ida sagte ungeduldig: »Ist das über die Vögel, Mamar« »Fremde, die dorthin kamen, nannten sie eine Stadt der Vögel. Wie wahr. Des Abends, wenn es fast dunkel war, flogen sie in Wolken, und manchmal war es nicht möglich, den Mond aufgehen zu sehen: nie sind irgendwo so viele Vögel gewesen. Aber im Winter war es schlimm, morgens so kalt, dass wir das Eis nicht aufhacken konnten, um uns das Gesicht zu waschen. Und an jedem solchen Morgen sahen wir etwas Trauriges: dichte Decken aus Federn, wo die Vögel erfroren heruntergefallen waren: glauben Sie mir. Es war die Aufgabe meines Vaters, sie zusammenzu‐ fegen wie welkes Laub, und dann wurden sie verbrannt. 98
Aber ein paar brachte er mit nach Hause. Mama und wir alle, wir pflegten sie, bis sie wieder Kraft hatten und weg‐ fliegen konnten. Gerade wenn wir sie am liebsten hat‐ ten, flogen sie weg. Ach, ganz wie Kinder! Verstehen Sie? Wenn es dann wieder kalt wurde und wir die erfrorenen Vögel sahen, wussten wir im Herzen immer, dass hier und da einer war, den wir über den Winter gebracht hatten.« Die letzte glimmende Asche in ihrer Stimme flackerte auf und verlosch; in ihre Gedanken versunken, in sich ge‐ kehrt, tat sie einen tiefen, bebenden Atemzug: »Gerade wenn wir sie am liebsten hatten. Wie wahr.« Und dann berührte sie Gradys Hand mit den Worten: »Darf ich fragen, wie alt Sie sind?« Es war, als hätten die Finger eines Hypnotiseurs dicht vor ihren Augen geschnipst: geweckt, aus einem Schlum‐ mer verscheucht, in dem die Liebsten, von fremden Win‐ tern Erschlagenen in flügelflatternden Feuern verbrann‐ ten, blinzelte sie und sagte: »Achtzehn«; nein, noch nicht, noch Wochen bis dahin, bis zu ihrem Geburtstag, nahe‐ zu zwei Monate unzerteilter, fleckenloser Tage, wie ein Kirschkuchen oder Blumen, die sie plötzlich für sich be‐ anspruchte: »Eigentlich siebzehn. Erst im Oktober werde ich achtzehn.« »Siebzehn, da war ich schon verheiratet; achtzehn, da war ich die Mutter von Ida. So soll es sein: junge Leute, die jung heiraten. Dann wird der Mann arbeiten ge‐ hen.« Sie sprach heftig; und mit mehr Farbe, als nötig schien: die rasch verblasste und sie nachdenklich zurück‐ ließ. »Clyde wird bestimmt heiraten. Da habe ich keine Sorge.« 99
Ida kicherte. »Wenn du keine hast, Clyde hat welche – Sorgen, meine ich. Ich habe heute Morgen Becky im A & P getroffen, und sie war schlicht wütend; also hab ich gefragt, was ist dir denn über die Leber gelaufen, Schatz? Und sie hat gesagt, Ida, du kannst deinem blöden Bruder sagen, er soll sich auf eine Reißzwecke setzen.« Es war, als sei Grady abrupt in eine rauhe und schäd‐ liche Höhe versetzt worden; mit klingenden Ohren war‐ tete sie und wusste nicht, auf welchem Pfad sie hinabstei‐ gen sollte. »Rebecca ist wütend?«, sagte Mrs. Manzer, in ihrem Ton keimte ein wenig Sorge auf. »Warum denn das jetzt, Ida?« Die hob die Schultern: »Woher soll ich das wissen? Wie soll ich wissen, was zwischen den beiden vorgeht? Je‐ denfalls hab ich gesagt, sie soll heute vorbeikommen.« »Ida.« »Warum sagst du Ida, Mama? Es ist genug zu essen für alle da.« »Verflixt, du musst eben einen neuen Eissehrank be‐ sorgen: den da kann keiner mehr reparieren.« Es war Clyde, der unbemerkt näher gekommen war und nun am Rand des Zimmers stand, mit einem verschlissenen Treib‐ riemen in der Hand und von oben bis unten voller Schmierfett. »Und hör mal, Ma – kannst du Crystal nicht dazu bringen, dass sie voranmacht: ich muss nämlich um vier wieder bei der Arbeit sein.« Gleich hinter ihm er‐ schien Crystal, um sich eilends zu verteidigen: »Ich frage dich, Mama, was meinst du, was ich bin? ein Pferd? ein achtarmiger Krake? Den ganzen Tag lang bin ich in der 100
Küche gewesen, während ihr euch in den kühlen Teilen vom Haus gerekelt habt – und mir Bernie reinschickt, um mich verrückt zu machen, und Clyde mit dem Eisschrank überall auf dem Fußboden.« Mrs. Manzer hob die Hand, worauf alle Klagen verstummten; sie verstand es, mit ih‐ nen umzugehen. »Sei still, Crystal, mein Liebchen, ich komme gleich und mach es selbst. Clyde, geh dich wa‐ schen; und Ida, du gehst den Tisch decken.« Clyde blieb hinter den anderen zurück: im Halbdunkel, in der Ferne, ein Standbild; sein Hemd war seidennass von Schweiß und klebte an ihm wie ein dünner Marmor‐ überzug. Es war lange her, im April, da hatte Grady ihn im Geiste abphotographiert, sich sein Bild eingeprägt, deut‐ lich wie ein Scherenschnitt auf weißem Papier: wenn sie ganz allein, nur von der Nacht umgeben war, ließ sie es hervortreten, ein berauschendes Symbol, das ihr Blut zum Raunen brachte; jetzt, als er näher kam, schloss sie die Augen und zog sieh zu dem geliebten Bild zurück, denn ihr Ehemann, der drohend über ihr ragte, kam ihr vor wie eine Verzerrung, wie jemand anders. »Bei dir alles in Ordnung?«, fragte er. »Warum denn nicht?« »Ach ja?« Er sehlug sich mit dem Treibriemen aufs Bein. »Denk dran, du warst es, die herkommen wollte.« »Clyde, ich habe über alles nachgedacht. Und ich finde, wir müssen es ihnen sagen.« »Das kann ich nicht. Och, Schatz, du weißt verdammt gut, dass ich das nicht kann, noch nicht.« »Aber Clyde, aber etwas, ich ...« »Ganz ruhig, Kleines.« 101
Minutenlang, wie ein sie umkreisendes Wesen, blieb sein süßsaurer Schweißgeruch in der Luft, aber eine leichte Brise strich durchs Zimmer und nahm ihn mit: also öffnete sie die Augen, allein. Sie ging an ein Fenster und lehnte sich auf einen kalten Heizkörper. Kreischende Rollschuhe schrammten die Straße wie Kreide, die über eine Tafel quietscht; eine braune Limousine glitt vorbei, aus ihrem Radio ertönte laut die Nationalhymne; zwei Mädchen in Badeanzügen trippelten den Bürgersteig ent‐ lang. Drinnen, im Heim der Manzers, war es etwa so wie draußen, wo, durch eine zwergwüchsige Hecke vom Bür‐ gersteig getrennt, das Haus eines von fünfzehn in einer Reihe war, die sich zwar nicht genau glichen, aber trotz‐ dem mehr oder weniger ununterscheidbare Ansammlun‐ gen von stacheligem Putz und sehr roten Ziegelsteinen waren. In ähnlicher Weise hatte Mrs. Manzers Einrich‐ tung dieses Aussehen anonymer Angemessenheit: genug Stühle, viele Lampen, ein wenig zu viel Nippes. Jedoch nur der Nippes spiegelte ein Thema wider: zwei Buddhas, die vor Lachen fast platzten, stützten eine aus drei Bü‐ chern bestehende Bibliothek; auf dem Kaminsims schun‐ kelten lachend Humpen schwenkende, beschwipste Iren; eine schöne Indianerin aus rosa Wachs flirtete unaufhör‐ lich verträumt lächelnd mit Mickymaus, die in Puppen‐ größe auf dem Radio grinste; und wie komische Engel schaute eine Schar Stoffclowns von den luftigen Höhen eines Regals herunter. So war das Haus, die Straße, das Zimmer: und Mrs. Manzer hatte zwischen einem grünen Fluß und dem weißen Gipfel eines Berges in einer Stadt der Vögel gelebt. 102
Mit der Zunge trillernd und ein Modellflugzeug hoch‐ haltend, kam Bernie ins Zimmer geflitzt. Er war ein weiner‐ liches, wurmweißes, unwilliges Kind mit zerschundenen, von Pflastern bedeckten Knien, einem Stoppelhaarschnitt und verwegenen Augen. »Ida hat gesagt, ich soll kommen und mit Ihnen reden«, sagte er und schwirrte umher wie eine Fledermaus aus der Hölle; und Grady dachte, ja, das sah Ida ähnlich. »Sie hat Mas besten Teller fallen gelassen, und er ist nicht kaputtgegangen, aber Ma ist sowieso wü‐ tend, weil Crystal das Fleisch verbrannt hat und Clyde der Eisschrank ausgelaufen ist.« Er warf sich hin und wand sich auf dem Fußboden, als würde er von jemandem ge‐ kitzelt. »Bloß warum ist sie wegen Becky wütend?« Grady, die sich ein wenig unmoralisch vorkam, strich sich die Bluse glatt und sagte, einem Impuls nachgebend: »Keine Ahnung; ist sie das?« »Das sag ich ja; und ich finds einfach komisch, weiter nichts.« Er drehte am Propeller seines Flugzeugs, dann sagte er; »Ida hat gesagt, Crystal hat ihr Saures gegeben, und das find ich komisch, denn Becky kommt andauernd her, und nie gibt ihr einer Saures. Wenn das mein Haus wäre, würd ich ihr sagen, sie soll wegbleiben. Sie kann mich nicht leiden.« »Was für ein schönes kleines Flugzeug! Hast du das selber gebaut?«, fragte Grady plötzlich, denn im Flur wa‐ ren Schritte zu hören, die ihr Angst machten. Doch sie bewunderte das Flugzeug wirklich, denn es war unge‐ wöhnlich: sein zartes Gerüst und seine Tragflächen aus dünnem Papierwaren mit asiatischer Sorgfalt zusammen‐ gefügt worden. 103
Er zeigte stolz auf einen Kunstlederrahmen, in dem mehrere Kodakphotos nebeneinander steckten. »Siehst du sie? Sie hat’s gemacht. Das ist Anne. Sie hat Tausende und Millionen gemacht, alle möglichen Sorten.« Das zwergenhafte, an ein Gespenst erinnernde kleine Mädchen, das Grady für eine Spielkameradin von ihm hielt, fesselte ihre Aufmerksamkeit nicht einen Augen‐ blick, denn links von dem Kind war ein Photo von Clyde, fesch in einer Militäruniform und mit einem Arm gemüt‐ lich um die Taille eines unscharfen, aber vage hübschen Mädchens. Das Mädchen, in einem viel zu kurzen Rock und einem viel zu großen Oberteil, hielt eine amerikani‐ sche Flagge. Beim Betrachten des Photos spürte Grady ein kühles Echo von der Art, die sich einstellt, wenn man in einer neuen Situation das Gefühl hat, es sei alles schon einmal geschehen: wenn wir die Vergangenheit kennen und die Gegenwart leben, ist es dann möglich, dass wir die Zukunft träumen"? Denn sie hatte die beiden schon in einem Traum gesehen, Clyde und das Mädchen, sie liefen Arm in Arm, während sie selbst auf einer Rolltreppe in stimmlosem Protest vorbei‐ und fortglitt. Es sollte also ge‐ schehen: sie würde am wachen Tag leiden, und bei die‐ sem Gedanken hörte sie ldas Stimme, die wie ein hoher Baum krachend niederfiel: von ihrem Gewicht niederge‐ drückt verkroch sie sich in ihrem Stuhl. »Die hab ich alle selber aufgenommen, ich bin ganz wild aufs Photogra‐ phieren: sind die nicht süß? Das war gleich nach seiner Militärzeit, er war unten in North Carolina, und Becky hat mich überredet, mit ihr im Zug hinzufahren, was ha‐ ben wir gelacht! Und da hab ich Phil kennengelernt. Das 104
ist der in der Badehose. Ich treffe mich nicht mehr mit ihm; aber im ersten Jahr nach seiner Militärzeit waren wir verlobt, und er ist sechsunddreißig Mal mit mir tanzen ge‐ gangen, ins Diamond Horseshoe und überallhin.« jedes Photo war mit einer Geschichte verbunden, und Ida er‐ zählte sie alle, während Bernie im Hintergrund Cowboy‐ songs auf einem alten Grammophon abspielte. Welche unendlichen Energien werden darauf ver‐ schwendet, sich gegen eine Krise zu wappnen, die selten kommt: die Kraft, Berge zu versetzen, und doch ist es viel‐ leicht gerade diese Verschwendung, dieses qualvolle War‐ ten auf Dinge, die nie geschehen, das den Weg ebnet und einem erlaubt, die Bestie, die endlich in Sicht ist, mit fins‐ terer Gelassenheit hinzunehmen: resigniert hörte Grady die Türklingel läuten, ein Geräusch, das, als es kam, in die Gemütsruhe von allen anderen (bis auf Clyde, der oben war und sich die Hände wusch) hineinstach wie die Na‐ del einer Injektionsspritze. Obwohl sie in diesem Augen‐ blick allen Grund hatte, sich aus dem Staub zu machen, war sie entschlossen, keine schlechte Figur abzugeben, und als Ida sagte: »Da ist sie«, sah Grady deshalb nur zu der Schar der Engelclowns hoch und streckte ihnen ver‐ stohlen die Zunge raus.
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KAPITEL 6
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Der nächste Tag, Montag, bildete den Beginn einer denkwürdigen Hitzewelle. Obwohl die Morgenzei‐ tungen nur »heiter und warm« meldeten, wurde zur Mit‐ tagszeit deutlich, dass etwas Außergewöhnliches geschah, und Büroangestellte, die mit dem benommenen, verzwei‐ felten Gesichtsausdruck herumkommandierter Kinder vom Mittagessen zurückschlichen, fingen an, die Wettervor‐ hersage anzurufen. Am frühen Nachmittag, als die Hitze sich um alles schloss wie eine Hand um den Mund eines Mordopfers, zappelte die Stadt und wand sich, aber mit ihrem gedämpften Aufschrei, ihrer gebremsten Hast, ih‐ rem behinderten Streben war sie wie ein ausgetrockne‐ ter Brunnen, ein nutzloses Denkmal, und so sank sie ins Koma. Die dampfenden, welken Flächen des Central Parks waren wie ein Schlachtfeld, auf dem viele gefallen waren: Reihen erschöpfter Verwundeter lagen zusammengesun‐ ken im totenstillen Schatten, während Zeitungsphotogra‐ phen die Katastrophe dokumentierten und mit Grabes‐ mienen zwischen ihnen umhergingen. Im Raubtierhaus des Zoos brüllten die gepeinigten Löwen. Ziellos wanderte Grady von Zimmer zu Zimmer, wo Uhren in verschiedenen Winkeln boshaft zwinkerten, alle tot, zwei behaupteten, es sei zwölf, andere, es sei drei, 109
eine, es sei viertel vor zehn; völlig von Sinnen, wie diese Uhren, Boss die Zeit in ihren Adern – dick wie Honig, je‐ der Augenblick weigerte sich, vorbei zu sein: weiter und weiter, wie die goldenen Schreie der ruhelos pirschenden Löwen, die an den Fenstern zerschellten und die sie nur undeutlich hörte, ein Geräusch, das sie nicht identifi‐ zieren konnte. Ein nostalgischer, würziger Duft von Spa‐ nisch‐Geranie durchzog das Zimmer ihrer Mutter, und Lucy, diamantengeschmückt, eine Hermelinstola um rau‐ schendes Abendgeglitzer geschlungen, schwebte geister‐ haft vorbei, ihre gekünstelte Partystimme hallte nach: geh schlafen, mein Liebling, träume süß, mein Liebling; und der Hauch von Spanisch‐Geranie sagte Gelächter, Ruhm, sagte New York, Winter. Sie wartete auf der Schwelle, das grüne vornehme Zim‐ mer befand sich in erschreckender Unordnung: seine Som‐ merbezüge waren abgestreift, ein umgekippter Aschen‐ becher lag auf dem silberfarbenen Teppich, Krümel und Zigarettenasche übersäten das Bett, das ungemacht war: in die Bettwäsche verwickelt war eins von Clydes Hem‐ den sowie eine seiner Unterhosen und ein hübscher alter Fächer, der zu einem Satz gehörte, den Lucy gesammelt hatte. Clyde, der drei bis vier Mal pro Woche in der Woh‐ nung übernachtete, mochte das Zimmer und hatte es zu seinem gemacht; er bewahrte die Sachen, die er gerade nicht trug, in Lucys Kleiderschrank auf, so dass seine Khakihose immer schwach nach Spanisch‐Geranie duf‐ tete. Aber Grady, als verstünde sie nicht, warum es so verwüstet, von Einbrechern heimgesucht aussah, ver‐ wünschte das Zimmer mit entsetztem Gesichtsausdruck; 110
sie konnte nur denken: etwas Grausames ist hier gesche‐ hen, so herzlos, dass es mir nie verziehen werden wird; und sie zupfte an diesem und jenem, versuchte aufzuräu‐ men, hob sein Hemd auf, und dann stand sie da und strei‐ chelte mit dessen Ärmel ihre Wange. Er liebte sie, er liebte sie, und bevor er sie geliebt hatte, hatte es ihr nie etwas ausgemacht, allein zu sein, sie war viel zu gern allein gewesen. In der Schule, wo alle Mäd‐ chen füreinander schwärmten und in verliebten Pär‐ chen umherzogen, war sie für sich geblieben: bis auf das eine Mal, da hatte sie Naomi gestattet, sie anzuhimmeln. Naomi, strebsam und so spießbürgerlich wie ein Serviet‐ tenring, hatte ihr leidenschaftliche Gedichte geschrie‐ ben, die sich richtiggehend reimten, und einmal hatte sie sich von Naomi auf den Mund küssen lassen. Aber sie hatte sie nicht geliebt: es kommt sehr selten vor, dass Menschen sich in jemanden verlieben, den sie nicht um irgendetwas beneiden können: sie konnte kein Mädchen beneiden, nur Männer: und so wurde Naomi in ihren Ge‐ danken verlegt und ging dann verloren, wie ein alter Brief, einer, den man nie sorgfältig gelesen hat. Sie war gern al‐ lein gewesen, aber nicht, wie Lucy ihr vorwarf, um ihre Zeit damit zu verbringen, sich teilnahmslos zu langweilen, was ein Laster der allzu Wohlerzogenen, der von Natur aus Zahmen ist: durch sie pumpte eine nervöse, wilde Vitalität, die jeden Tag von ihr kühnere Taten, wage‐ mutigere Experimente einforderte: die Polizei hatte Mr. McNeil schon warnend auf ihre Fahrweise hingewiesen; zwei Mal war sie auf dem Merritt Parkway mit achtzig und mehr erwischt worden. Sie hatte nicht gelogen, als 111
sie der Polizeistreife sagte, sie habe keine Ahnung gehabt, wie schnell sie gefahren sei: Geschwindigkeit betäubte sie, knipste die Lichter in ihrem Kopf aus, und vor allem tötete sie ein wenig von dem Gefühlsüberschuss ah, der den Umgang mit anderen so schmerzhaft machte. Die an‐ deren schlugen die Tasten zu hart an, und zu laut waren die Akkorde, die dann bei ihr erklangen. Denk an Steve Bolton. Und auch an Clyde. Aber er liebte sie. Er liebte sie. Wenn doch bloß das Telefon klingeln würde. Viel‐ leicht wird es klingeln, wenn ich es nicht anschaue; das tat es manchmal. Oder steckte er in fürchterlichen Schwierigkeiten, klingelte es deshalb nicht? Die arme Mrs. Manzer, die weinte, und Ida, die schrie, und Clyde: geh nach Hause, ich ruf dich nachher an, das waren seine Worte gewesen, und wie lange konnte sie das ertragen, allein zwischen stehengebliebenen Uhren und hitzege‐ dämpften Geräuschen, die an den Fenstern zerschellten? Sie sank aufs Bett, ihr von Trübsal durchfluteter Kopf glitt schläfrig herab. »Verdammt, McNeil, ist die Klingel kaputt? Ich stehe schon seit einer halben Stunde hier.« »Ich schlafe«, sagte sie und blinzelte Peter aus schlaf‐ trüben, enttäuschten Augen an. Sie zögerte an der Tür: angenommen, Clyde kam, während Peter da war? Alles in altem war es nicht die Zeit für ein Treffen mit Peter. »Du brauchst mich nicht anzustarren, als wäre ich ein Alptraum«, sagte er und drängte sich freundlich an ihr vorbei. »Obwohl ich sagen muss, dass ich mich wie einer fühle – denn ich habe diesen scheußlichen Tag in der Eisenbahn zugebracht, umgeben von kleinen Rowdys, die 112
alle vor Energie nur so platzten nach ihren zwei Wochen an der frischen Luft. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich deine Dusche benutze?« Sie wollte nicht, dass Peter etwas von der Plünderung im Zimmer ihrer Mutter sah, und so eilte sie auf dem Flur vor ihm her. »Ich erinnere mich: du bist auf Nantucket ge‐ wesen«, sagte sie, als beide in ihr Zimmer gingen, wo er sofort sein verschwitztes Leinenjackett aufknöpfte. »Ich hab deine Karte bekommen.« »Ach, hab ich dir eine geschickt? Wie aufmerksam von mir. Eigentlich wollte ich, dass du hinkommst; ich habe tausend Mal angerufen, aber keine Antwort. Wir sind mit Freddy Cruikshanks Segelboot hingefahren, und es hat wirklich großen Spaß gemacht, außer dass mich ein Ta‐ schenkrebs gebissen hat – an einer Stelle, die ich dir nicht zeigen kann: apropos, dreh dich um, ich will die Hose aus‐ ziehen.« Sie setzte sich mit dem Rücken zu ihm und zündete sich eine Zigarette an. »Es hat bestimmt Spaß gemacht«, sagte sie und rief sich andere Jahre ins Gedächtnis, Som‐ mer am Meer mit weißen Segeln, mit Seesternen, entge‐ gengesetzte Sommer. »Ich habe die Stadt nicht verlassen, seit wir uns zuletzt getroffen haben.« »Was ziemlich offensichtlich ist, meinst du nicht? Du siehst aus wie eine Lilie: ein bisschen zu friedhofsreif für meinen Geschmack.« Er prahlte: sein eigener reinlicher, sehr gepflegter Körper hatte die Farbe von Tee, und son‐ nenhelle Strähnen durchzogen seine Haare. »Ich dachte, du bist eine glühende Anhängerin der freien Natur; oder gehörte das zu deiner Wildfang‐Phase?« 113
»Es ist mir nicht besonders gut gegangen«, sagte sie, und Peter, der schon im Badezimmer war, blieb stehen, um zu fragen, ob es etwas Ernstes war. »Nein, das nicht. Die Hitze, nehm ich an. Ich bin nie krank, wie du weißt.« Nur gestern. Es war nach Brooklyn; sie erinnerte sich, wie sie die Brücke überquert und dann an einer Ampel gehal‐ ten hatte. »Nur gestern, da bin ich ohnmächtig gewor‐ den«, und als sie das sagte, kippte etwas in ihr, fiel um: ein Gefühl, ganz ähnlich dem, das sie empfunden hatte, als das Licht der Ampel sich im Kreis drehte und Dunkelheit eintrat. Es hatte nur einen Augenblick gedauert, die Am‐ pel war gerade erst umgesprungen; trotzdem gab es ein Hupkonzert: Entschuldigung, hatte sie gesagt und war mit einem Ruck angefahren. »Kann dich nicht hören, McNeil. Sprich lauter.« »Ist nicht wichtig. Ich habe nur mit mir selbst geredet.« »Auch das noch? Du bist in schlimmer Verfassung. Wir brauchen beide etwas Beruhigendes, einen Martini oder zwei. Könntest du daran denken, keinen süßen Wermut zu nehmen: Ich habe es dir zwar immer wieder gesagt, aber das scheint nichts zu fruchten.« Glänzend, von Kopf bis Fuß wiederbelebt, kam er aus dem Badezimmer und fand ein Arrangement vor: einen Shaker mit zufriedenstellenden Martinis, auf dem Gram‐ mophon Fun to Be Fooled, hinter der Glastür Sonnen‐ untergangsfeuerwerk und eine Postkartenaussicht. »Ich werde das nicht lange genießen können«, sagte er und ließ sich auf das Sitzkissen fallen. »Es ist zu blöd, aber ich bin zum Abendessen mit jemandem verabredet, der mir viel‐ leicht eine Stellung besorgt: ausgerechnet heim Radio«, 114
und deshalb brachten sie einen Trinkspruch aus, der ihm Glück wünschte. »Gar nicht nötig, ich habe sowieso Glück, warte, wenn ich erst mal dreißig bin, werde ich die schlimmste Art von Erfolg gehabt haben: tüchtig, das Le‐ ben im Griff, jemand, der alle auslacht, die sich unter einen Baum legen wollen«, was keine leichtfertige Pro‐ phezeiung war, wie Peter, an seinem Glas nippend, kluger‐ weise wusste, und ihm war auch bewusst, dass es wahr‐ scheinlich das Glücklichste war, was ihm widerfahren konnte, denn insgeheim, unwiderruflich, bewunderte er den Mann, den er beschrieben hatte. Und die Dame mit einem Blumengarten, das war Grady, die Ehefrau, die Per‐ len zu Weihnachten wert ist, die ihre Gäste an einer ma‐ kellosen Tafel bewirtet, deren kultiviertes Benehmen eine Empfehlung für den Ehemann ist, so stellte er sie sich in seinen Zukunftsbildern vor, und während er zusah, wie sie ihm noch einen Cocktail eingoss, ganz so, wie sie es in einer Abenddämmerung in fünf Jahren tun mochte, dachte er daran, dass der Sommer vergangen war, ohne dass er sie einmal gesehen hatte, ohne dass sie angerufen hatte, alle Tage schleppten sich dahin, bis zu dem Tag, an dem sie sich ihm zuwenden würde, nachdem sie sich mit wem auch immer verausgabt hatte, und sagen würde: Peter, bist du es? Und ja. Als Grady ihm sein Glas gab, bemerkte sie mit Bestürzung eine ungerechtfertigte Besorgnis in Pe‐ ters Augen, eine Gierigkeit um seinen Mund, die ganz und gar nicht zu dem ausgelassenen Plan auf seinem Ge‐ sicht passte; als seine Finger die ihren um den Stiel des Glases berührten, kam ihr plötzlich ein grotesker Ge‐ danke: ist es möglich, bist du in mich verliebt? Und das 115
streifte sie wie eine Möwe, die sie sofort verscheuchte, solch ein dummes Geschöpf, aber sie kam wieder, kam immer wieder, und Grady war gezwungen, darüber nach‐ zudenken, was ihr Peter bedeutete: sie wollte seine Zuge‐ wandtheit, sie respektierte seine Kritik, seine Meinungen waren ihr wichtig, und weil sie das waren, lauschte sie mit halbem Ohr, ob Clyde kam, wovor sie sich jetzt eher fürchtete, denn Peter würde sein Urteil über ihn fallen und sie zwingen, sich über das, was sie getan hatte, Re‐ chenschaft abzulegen, und das brachte sie noch nicht übers Herz. Der Raum um beide wurde dunkel, und der Klang ihrer Stimmen, weich, nachgiebig, regte sich sanft um sie, es schien nicht darauf anzukommen, worüber sie redeten, es genügte vollkommen, dass sie dieselben Wör‐ ter benutzen, dieselben Maßstäbe anlegen konnten, und Grady fragte: »Wie lange kennst du mich schon, Peter?« Peter sagte: »Seit du mich zum Weinen gebracht hast; es war ein Geburtstagsfest, und du hast mir einen Haufen Eiscreme und Kuchen über meinen Matrosenanzug ge‐ kippt. Als Kind warst du wirklich niederträchtig.« »Und bin ich jetzt so anders? Meinst du, du siehst mich jetzt, wie ich wirklich bin?« »Nein«, sagte er lachend, »und das will ich auch gar nicht.« »Weil du mich vielleicht gar nicht magst?« »Wenn ich behaupten würde, ich sehe dich so, wie du wirklich bist, dann hieße das einfach, dass ich dich fallen‐ lasse, dass ich dich für oberflächlich und langweilig halte.« »Du könntest mich für wesentlich Schlimmeres hal‐ ten.« 116
Peters Silhouette bewegte sich vor der dunkelnden grü‐ nen Tür, sein Lächeln flackerte wie die Lichter jenseits des Parks, denn da er ihre Unehrlichkeit spürte, hatte ihn ein Gefühl von einem geisterhalten Kampf ergriffen: es war, als seien sie zwei in weiße Tücher gehüllte Gestal‐ ten, die mit Fäusten aufeinander losgingen: sie möchte von einem Tadel losgesprochen werden, ohne zu gestehen, warum ich Grund haben könnte, sie zu tadeln. »Wesent‐ lich schlimmer, als langweilig zu sein?« sagte er und ver‐ stärkte sein Lächeln. »In dem Fall hattest du Recht, mir Glück zu wünschen.« Er ging bald danach, ließ sie allein in dem dunklen Zimmer zurück, das von Zeit zu Zeit von aufschrecken‐ dem Wetterleuchten erhellt wurde, und sie dachte, jetzt wird es regnen, und es regnete nicht, jetzt wird er kom‐ men, und er kam nicht. Sie zündete sich Zigaretten an, ließ sie zwischen ihren Lippen ausgehen, und die Stun‐ den, dornenbesetzt, kreuzigend, warteten mit ihr und lauschten, wie sie lauschte: aber er kam nicht. Es war nach Mitternacht, als sie unten anrief und den Portier be‐ auftragte, ihr Auto holen zu lassen. Ein Blitz sprang von Wolke zu Wolke, ein unheimlicher, lautloser Vorbote, und das Auto raste wie ein herabgefallener Blitzstrahl durch die Randgebiete der Stadt, durch eintönige nachttote Vor‐ orte: bei Sonnenaufgang erblickte sie das Meer. Lass mich in Ruhe, verdammt noch mal, sagte er zu lda, als sie ihn auf dem Parkplatz aufstöberte, und lda sagte: du bist ja ein feiner Bursche, wie? Schlägst deine eigene Mama, und nun liegt sie im Bett mit gebrochenem Her‐ 117
zen, ganz zu schweigen von Becky, und die sagt, ihr Bruder sagt, er bringt dich um, also hör zu, ich möchte dich war‐ nen, das ist alles. Aber er hatte seine Mama nicht geschla‐ gen, Ida sagte das bloß, um alles noch schlimmer zu ma‐ chen; oder hatte er sie geschlagen? Er hatte eine Minute lang den Kopf verloren, als er diese Gaunerinnen im Flur gesehen hatte, und ha, wie er es denen gegeben hatte: das ist meine Frau, hatte er gesagt, und so, wie die sich aufge‐ führt hatten, wollte er verdammt sein, wenn er je wieder einen Fuß in dieses Haus setzen würde. Als wüsste er nicht sehr wohl, warum sie sich an ihn klammerten; klar, eine Lohntüte mehr im Haus zu haben, war eine gute Sache: Liebe – hatten sie Anne geliebt? außer dass es ihm leid tat, falls er seine Mama geschlagen hatte, bitte, Gott, er hoffte, er hatte seine Mama nicht geschlagen. Als kleiner Junge hatte er immer Baby Ruths gestohlen und ihr gebracht; und Milky Ways, die in den Eisschrank ge‐ legt und in kleine Scheiben geschnitten wurden: mein Clyde ist ein Engel, er kauft seiner Mama Schokoriegel. Mein Clyde wird mal ein berühmter Rechtsanwalt. Meinte sie vielleicht, auf dem Parkplatz zu arbeiten, machte ihm Spaß? Oder dass er es nur tat, um sie zu ärgern, wo er doch schon längst ein berühmter Rechtsanwalt sein konnte, ein berühmter Sonstwas? Was einem eben so pas‐ siert, Mama. Und Grady McNeil war Teil von dem, was einem so passiert. Aber was war mit Grady? Sie war zur Tür rausspaziert, und seitdem hatte er nichts mehr von ihr gesehen. Bubble sagte: lass die Finger vom Telefon, spar dein Geld, sie ist bloß beleidigt. Aber sie war nicht be‐ leidigt gewesen, also war das Unsinn, außer, sie war doch 118
beleidigt, weil er sich an dem Abend nicht hatte blicken lassen: ja, gut, er war in die Bar gegangen, in der Bubble arbeitete, und hatte einen draufgemacht: manchmal muss‐ te man eben mal allein sein, oder? Und wenn sie weiter mit ihm verheiratet bleiben wollte, dann mussten sie sich beide etwas Neues suchen. Erst einmal wollte er sie aus dieser Wohnung rauskriegen. Er kannte ein Haus in der 28. Straße, wo sie zwei Zimmer kriegen konnten. Wo war sie denn bloß? Ach, immer mit der Ruhe, sagte Bubble. Bubble war über dreißig, er arbeitete als Barkeeper in einem abgelegenen Nachtlokal; er war ein Freund aus der Zeit beim Militär, und er war so, wie er hieß: rund, kahl, dünnhäutig. Eines Morgens, es war der vierte Tag der Hitzewelle, wurde Clyde wach und spürte einen Arm um sich; er dachte, er wache mit Grady zusammen auf, und sein Herz fing an zu hämmern: Schatz, sagte er und kuschelte sich an, ach, Baby, du hast mir gefehlt. Bubble schnarchte laut auf, und Clyde stieß ihn weg. Er hauste bei Bubble, in einem möblierten Zimmer weit im Norden der City; un‐ ten war eine chinesische Wäscherei, auf der Straße riefen sommermatte Kinder ständig Schlitzauge! Schlitzauge!, und manchmal kam morgens ein Leierkastenmann, jetzt war er da, seine Gassenhauer klimperten wie die Mün‐ zen, die Hausfrauen aufs Pflaster warfen. Sie fehlte ihm, bunte Ballons, Blumenstände erinnerten ihn daran, und er drehte sieh auf die andere Seite des Bettes; er lag da, mit ihrem Bild vor Augen, seine Hand glitt hinunter, und er rieb sein Glied. Hör auf, sagte Bubble, ich will schla‐ fen, und Clyde nahm beschämt die Hand fort, aber Grady 119
blieb da, schwankend, unerfüllt, und er erinnerte sich an ein anderes Mädchen, eines, das er in Deutschland ge‐ sehen hatte: es war ein Frühlingstag, klar, wolkenlos, er ging auf dem Lande spazieren, und als er zu einer Brücke kam, die über einen schmalen, kristallklaren Fluss führte, blickte er hinunter und sah, als trabten sie unter der Oberfläche, zwei weiße Pferde, vor einen Wagen ge‐ spannt, und ihre Zügel waren um die Arme eines jungen Mädchens gewunden, dessen ertrunkenes, zerbrochenes Gesicht unter dem tanzenden Wasser schimmerte; er zog seine Kleidung aus, in dem Gedanken, sie loszuschnei‐ den, aber er hatte Angst, und so blieb sie dort, schwan‐ kend, unerfüllt, im Tode für ihn so unerreichbar, wie Grady es im Leben zu sein schien. Er suchte auf Zehenspitzen seine Sachen zusammen, dann schlich er zur Tür hinaus; im Treppenflur war ein Münzfernsprecher, er wählte ihre Nummer, wie üblich meldete sich niemand. Ein Schwärm Kinder umschwirrte ihn unten auf der Vortreppe: he, Mister, gib mir eine Zi‐ garette, und mit schwingenden Ellbogen bahnte er sich den Weg, und ein Schlauberger, ein dünnes Mädchen in einem mottenzerfressenen Badeanzug, sagte: he, Mister, knöpf deinen Hosenstall zu, und sie rannte ihm mit aus‐ gestrecktem Zeigefinger hinterher. Verdammt, sagte er und packte sie bei den Schultern: ihre Haare wehten, schwebten, ihr Gesicht, käsig vor Angst, schien zu wogen wie das Gesicht des Mädchens im Fluss, zu verschwim‐ men, wie Gradys Gesicht es tat, wenn er sich anstrengte, sie genau zu sehen, ganz, als die seine, und seine Hände erschlafften, er lief über die Straße, die Kinder schrien: 120
such dir jemand, der so groß ist wie du. Und wer sollte das sein, jemand so groß wie er, wenn er sich so klein und ge‐ ring fühlte? Er setzte sich in einem White Castle an den Tresen und bestellte Orangensaft; es war zu heiß für irgendetwas an‐ deres, obwohl ihm die Hitze nichts ausmachte, denn bei solchem Wetter schien New York, von der Hälfte seiner Bevölkerung verlassen, ihm so gut wie jedem anderen zu gehören. Während er auf den Orangensaft wartete, krem‐ pelte er seine Manschette hoch und untersuchte eine brennende frische Tätowierung, die sein Handgelenk wie ein Armband umgab. Es war am Abend zuvor passiert, als er sich mit Gump in der Stadt herumgetrieben hatte; Gump und seine verflixten Marihuanaglimmstengel, so‐ bald er ein oder zwei Stäbchen geraucht hatte, fielen ihm immer so bescheuerte Ideen ein wie die: ich kenne da einen komischen Kauz, der macht uns umsonst eine prima Tätowierung. Gump kannte tatsächlich einen komischen Kauz, dieser hier hauste in einer Kaltwasserwohnung in der Paradise Alley, und zwar ganz allein bis auf sechs Siamkatzen und eine ausgestopfte Pythonschlange na‐ mens Mabel: ach, meine lieben Jungs, ihr hättet eure alte Mutter zu der Zeit sehen sollen, als Mabel noch am Leben war! Was waren wir für verrückte Tunten, so lustig, so spa‐ ßig, alle haben uns angebetet, mehrere Könige und sämt‐ liche Königinnen, haha, ja, wir sind in der ganzen Welt zusammen aufgetreten, haben getanzt und getanzt, allein zwölf Wochen in London, Waldo und Sinistra, Sinistra war Mabels Künstlername, der arme Liebling, sie würde heute noch leben, wenn nicht diese widerlichen Fluggesell‐ 121
schaften wären, es ist wirklich zu grässlich, versteht ihr, sie wollten Mabel nicht mit ins Flugzeug lassen, das war in Tanger, und wir hatten einen dringenden Ruf nach Ma‐ drid, also habe ich sie mir einfach umgewickelt und einen Mantel drübergezogen; alles war bestens, bis sie irgendwo über Spanien angefangen hat, zuzudrücken, ich wusste ja, wie ihr zumute war, armes ängstliches Herzchen, aber es war die reinste Tortur, Mabel umklammerte mich fester und fester, bis ich schließlich einfach ohnmächtig gewor‐ den bin, woraufhin die Kerle sie mit einem Messer in zwei Teile zerhackt haben, behaupteten, das war die einzige Möglichkeit, mich zu befreien, diese Schlächter! Ach, ja – eine Flagge, eine Blume, den Namen deiner Liebsten? Wird kein bisschen weh tun. Aber es hatte weh getan; G‐R‐A‐D‐Y, die Buchstaben ihres Namens, blau und rot und durch Striche verbunden, brannten immer noch wie Feuer, also kaufte er sich eine Flasche Babyöl, setzte sich in einen Fifth‐Avenue‐Bus mit offenem Verdeck und mas‐ sierte es in sein Handgelenk. Beim Frick‐Muscum stieg er aus; auf der Parkseite, unter den Bäumen, ging er in Rich‐ tung Innenstadt, seine Blicke wanderten hin und her über die rautenförmigen Pflastersteine, aus einer alten Ge‐ wohnheit, nach verlorenen Wertgegenständen, nach Geld zu suchen: zweimal hatte er einen Ring gefunden, einmal einen Zwanzigdollarschein, und heute bückte er sich, um ein Fünfcentstück aufzuheben; als er sich aufrichtete, sah er über die Straße, und er war, wo er sein wollte, gegen‐ über dem W’ohnhaus der McNeils. Sieh dir diesen Fettkloß an, befrackt, weiß behand‐ schuht, was bildet der Kerl sich ein, aufgebläht wie ein 122
Täuberich? Äh, nein, Sir, Miss McNeil ist nicht zu Hau‐ se, äh, nein, Sir, ich fürchte, sie hat keine Nachricht hin‐ terlassen. Aber er konnte den Portier nicht einschüch‐ tern; er konnte nur hinter dem Rücken des Mistkerls ausspucken. Er überquerte wieder die Straße und ging mit hochgezogenen Schultern unter den Bäumen auf und ab. Dann sah er den kleinen Leslie, den Liftboy, ein En‐ gelchen mit rosigen Wangen und einem zuckersüßen Mund; er kam unter die Bäume geschossen: he, hallo, sagte er, wobei Liebe verstohlen seine Augen füllte, hö‐ ren Sie, ich weiß, wo sie ist, bloß sagen Sie dem nicht, dass Sie’s von mir haben, und er sagte, der Portier habe Post für Miss McNeil an das Haus ihrer Schwester in East Hampton weitergeleitet. Er schien verletzt zu sein, als Clyde ihm einen halben Dollar anbot. Was soll ich denn sonst machen, dir einen Kuss geben? sagte Clyde, und der kleine Leslie wich zurück und sagte trotzig: wol‐ len Sie mich verarschen? Er glaubte schon, verrückt werden zu müssen, ganz allein auf dem grellen Platz mit dem glühend heißen Schotter, und der Nachmittag wie eine ölige Blase, die nie platzen würde; aber Gump tauchte mit einer Handvoll echter Havanna‐Zigarren und einer Flasche Gin auf. Gump hatte Urlaub, und sie saßen in der Parkplatzbude, genos‐ sen die mitgebrachten Köstlichkeiten und spielten zu zweit Poker. Clyde konnte sich nicht auf das Spiel konzen‐ trieren, er verlor zweiundzwanzig Runden hintereinander, also warf er seine Karten hin und stand schmollend an den Türpfosten gelehnt; Abendschatten wallten auf, wog‐ ten, er sah die Nacht auf sich zukommen, und er sagte: 123
Hör mal, willst du einen kleinen Ausflug mit mir machenr Denn er hatte Angst, allein zu fahren. All das würde weitergehen, diese Wellen, diese Dünen‐ rosen, die ihre sonnengetrockneten Blütenblätter im Sand verstreuten; wenn ich sterbe, wird all das weitergehen: und es ärgerte sie, dass es so war. Sie erhob sich zwischen den Dünen und legte sich einen Schal um die Hüf‐ ten, dann ließ sie ihn wieder hinuntergleiten, denn es war niemand da, der sehen konnte, dass sie nackt war. Dies war ein grober, ungepflegter Strand, von rauher Weite und übersät mit den alten Knochen von Treibholz. Feine Leute, die den Strand des Clubs bevorzugten, benutzten ihn nie, obwohl manche, wie Apple und ihr Mann, sich an seinem Rand ein Haus gebaut hatten. Jeden Morgen nach dem Frühstück packte Grady ein Lunchpaket und blieb in den Dünen versteckt, bis die Sonne auf dem Meeresspie‐ gel kniete und der Sand kalt wurde. Manchmal stand sie am Wasser und ließ den Schaum um ihre Fesseln spülen. Sie hatte Wasser nie misstraut, doch jedes Mal, wenn sie sich jetzt in die Wellen stürzen wollte, bildete sie sich ein, dass sie verborgene Zähne und Fangarme bereithielten. Geradeso wie sie nicht ins Wasser hineingehen konnte, konnte sie auch nicht über die Schwelle eines Zimmers voller Menschen treten: Apple hatte es aufgegeben, sie aufzufordern, sich mit anderen zu treffen; zweimal hatten sie sich deswegen gestritten, besonders, als Grady sich einmal für einen Tanzabend im Maidstone Club zurecht‐ gemacht hatte, es sich dann anders überlegte und sich weigerte, hinzugehen: und Apple sagte: also ich finde, du 124
solltest mal zum Arzt gehen, meinst du nicht? Grady hätte antworten können, dass sie schon bei einem gewesen war: bei Dr. Angus Bell, einem Vetter von Peter, der in South‐ ampton praktizierte. Hinterher hatte sie das Gefühl, die Wahrheit schon länger, als möglich war, gewusst zu ha‐ ben – wenn sie bedachte, dass sie seit nicht mal ganz sechs Wochen schwanger war. Im Haus hatte sie ein me‐ dizinisches Buch gefunden, und nachts, nachdem sie die Tür vom Gästezimmer abgeschlossen hatte, studierte sie die Abbildungen schauriger Embryos mit gehallten Fäust‐ chen, fadenfeinen Adern, schleimdünner Haut und ge‐ ronnenen Augen, die, wie im Schlaf zusammengerollt, an den Wurzeln ihres Herzens hingen. Wann? in welchem Augenblick? an dem Nachmittag, an dem es regnete? sie war sicher, da war es passiert, es war das allerbeste Mal gewesen: dort zu liegen, sicher vor dem kühlen, schattigen Regen, und Clyde, der die Bettdecke zurückwarf und sich mit einer Sanftheit zu ihr legte, sanfter als das Schließen eines Augenlids. Wenn ich sterbe (in Greenwich hatte sie sehr oft von Liza Ash gehört, der vielgeliebten Liza, die den Text von jedem Schlager auswendig konnte: und Liza Ash war in einer U‐Bahn‐Toilette verblutet), wird all das weitergehen. Muscheln in Ebbe und Flut, Schiffe weit fort, die sich noch weiter entfernten. Oder näher kamen. Laut einem Brief, den Apple gerade erhalten hatte, legten ihre Mutter und euer armer Vater am sechzehnten September von Cherbourg ab, was bedeu‐ tete, dass sie in weniger als einem Monat zu Hause sein würden: Sag bitte Grady, sie soll Mrs. Ferry in die Stadt kom‐ men lassen, da sie bestimmt eine Schweinerei angerichtet 125
hat – Gott weiß, ich hätte die Wohnung in der Obhut von Mrs. Ferry lassen sollen –, und noch eine Schweinerei kön‐ nen wir nicht ertragen, denn wir haben gerade gesehen, was die Deutschen von dem Haus in Cannes übrig gelassen haben einfach unglaublich und noch etwas sag Grady ihr Kleid ist phantastischer als ein Traum geworden einfach unglaublich. Schließlich kommt ein Augenblick, da fragt man sich, was habe ich getan?, und für sie war er an diesem Morgen beim Frühstück gekommen, als Apple beim Vorlesen des Briefes zu dem Kleid gelangte; sie vergaß, dass sie es nicht gewollt hatte, wusste nur noch, dass sie es jetzt nie tragen würde, und so floh sie die Treppe eines neuen und uner‐ klärlichen Kummers hinunter: was habe ich getan? Das Meer fragte dasselbe, schrille Möwen sprachen es dem Meer nach. Der größte Teil des Lebens ist so langweilig, dass es sich nicht lohnt, darüber zu reden, und langweilig ist es in allen Lebensaltern. Wenn wir die Zigarettenmarke wechseln, in ein neues Stadtviertel ziehen, eine andere Zei‐ tung abonnieren, uns ver‐ und entlieben, dann protestieren wir auf oberflächliche und auch tiefe Weise gegen die nicht zu mildernde Langeweile des alltäglichen Lebens. Bedau‐ erlicherweise ist ein Spiegel so verräterisch wie der andere und zeigt uns in jedem Abenteuer ab einem gewissen Zeit‐ punkt dasselbe leere, unzufriedene Gesicht, wenn sie also fragt: was habe ich getan?, meint sie im Grunde: was tue ich da eigentlich?, wie es meistens der Fall ist. Die Sonne wurde schwächer, und ihr fiel ein, dass Apples kleiner Junge heute seinen Geburtstag feierte und dass sie, oh Gott, versprochen hatte, die Kinderspiele zu organisieren. Sie zog sich den Badeanzug über und wollte 126
schon zum offenen Strand gehen, doch da sah sie zwei Pferde durch die seichte Brandung galoppieren. Auf den Pferden saßen ein junger Mann und ein hübsches Mäd‐ chen mit wehenden schwarzen Haaren; Grady kannte die beiden, sie hatte im vorigen Sommer mit ihnen Tennis ge‐ spielt, aber jetzt wollte ihr deren Name nicht einfallen, P‐sowieso, und Teil der jüngeren rasanten Clique: sehr nett, besonders die Frau. Sie preschten über den Strand, ihre Stimmen vereinten sich in ekstatischen Juchzern, und sie stürmten zurück, die triefnassen Pferde glänzten wie Glas. Nicht weit von dem Versteck, in dem Grady lag, stiegen sie ab, ließen den Pferden freien Lauf, stapften die Dünen hoch und fielen mit perlendem Gelächter ins hohe Gras einer Mulde; dann war es still, Möwen glitten geräuschlos, Gras erschauerte in der Meeresbrise, und Grady dachte an sie, wie sie beieinanderlagen, beschützt von einer Welt, die ihnen wohl wollte. Bosheit stachelte sie an, sich zu zeigen. Sie stand auf und ging dicht an ih‐ nen vorbei, und ihr Schatten, der wie ein Flügel über sie hinwegstrich, hatte die Aufgabe, ihr Glück zu zerschmet‐ tern. Das gelang ihm nicht, denn die P‐sowiesos, vom Wohlwollen der Welt unschuldig gemacht, konnten den Schatten nicht spüren. Sie lief den Strand hinunter, vom Sieg der beiden beseelt, denn durch sie meinte sie, eine Zukunft gesehen zu haben, die zu ertragen sein könnte, und als sie die Treppe hinaufstieg, die vom Strand zum Haus führte, stellte sie fest, dass sie sich unerklärlicher‐ weise auf Kinder und einen Geburtstag freute. Oben auf der Treppe begegnete sie Apple, die offenbar gerade hatte hinuntergehen wollen. Die Begegnung über‐ 127
raschte beide, sie traten weit auseinander und musterten einander unfreundlich. Grady sagte; »Wie läuft das Fest? Tut mir leid, wenn ich zu spät komme.« Doch Apple, die einen ihrer Ohrringe mit einer derart sorgfältigen Ge‐ nauigkeit befestigte, als wollte sie andeuten, dass er sich durch ihre Begegnung gelockert hatte, sah sie an, als könnte sie sie nicht unterbringen, als müssten sie einan‐ der vorgestellt werden. Das hatte auf Grady die doppelte Wirkung von Warnung und Entwarnung. »Tut mir wirk‐ lich leid, wenn ich zu spät komme. Lass mich nur schnell nach oben laufen und ein Kleid überziehen.« Apple versperrte ihr den Weg und sagte: »Hast du Toa‐ die nicht am Strand gesehen?« Toadie: der schauderhafte Spitzname von George, ihrem Ehemann. »Er ist dich su‐ chen gegangen.« »Er muss woanders langgegangen sein. Aber ist es nicht ein bisschen albern, dass er mich suchen geht? Ich hatte versprochen, ich komme zurück und helfe beim Fest.« Apple sagte: »Um das Fest brauchst du dich nicht mehr zu kümmern«, und ihre Mundwinkel zuckten beunruhi‐ gend. »Ich habe die Kinder nach Hause geschickt; Johnny‐ lein weint sich die Augen aus.« »Das kann ja wohl nicht meine Schuld sein«, sagte Grady, unsicher, abwartend. »Ich meine, warum jagst du mir Angst ein?« »Tue ich das? Ich würde meinen, es ist umgekehrt, will sagen: warum jagst du mir Angst ein?« »Ach ja?« Dann wurde Apple deutlich; sie sagte: »Wer ist Clyde Manzer?« 128
Eine Schwertlilie, von einem Stengel neben dem Weg gepflückt, zerriss in Gradys Händen, ihre bunten Schnip‐ sel verstreuten sich wie die abgerissenen Ecken von Kino‐ karten. Es dauerte sehr lange, bis sie sagte: »Warum willst du das wissen?« »Weil mir erst vor zwanzig Minuten gesagt wurde, dass er dein Ehemann ist.« »Wer hat dir das gesagt?« Sie antwortete nur: »Er selbst«, aber ihr hübsches klei‐ nes Gesicht war plötzlich kreuzunglücklich geworden. »Er ist mit einem Taxi aus der Stadt gekommen; es war noch ein anderer Junge bei ihm, und Nettie hat die beiden reingelassen, sie hat wohl gedacht, sie hätten was mit dem Fest zu tun ...« »Und du hast ihn gesehen«, sagte Grady leise. »Er hat nach dir gefragt, der Kleinere von den beiden, und ich habe gefragt, sind Sie ein Freund meiner Schwes‐ ter?, denn eigentlich hatte ich nicht den Eindruck, dass du ihn kennen kannst; und dann hat er gesagt, nein, wir sind nicht befreundet, aber ich bin ihr Ehemann.« Eine Pause entstand, Wellenrauschen erschütterte das Schwei‐ gen, und dann, während jede den Blick der anderen mied und lieber die Reste der zerstörten Schwertlilie betrach‐ tete, fragte sie, ob das stimmte. »Dass wir nicht befreundet sind? Schon möglich.« »Bitte, Liebes, ich bin dir nicht böse, wirklich nicht, aber du musst es mir sagen: was hast du getan?« Was hast du getan was habe ich getan, wie ein Echo in einer Höhle, das alles in Unsinn verwandelt. Ihr wäre es viel lieber gewesen, jemand bekäme einen Wutanfall, 129
denn auf so etwas hatte sie sich vorbereitet. »Du bist aber eine dumme Kuh«, sagte sie und bot ein erstaunlich natürliches Lachen auf. »Das ist einer von Peters ge‐ schmacklosen Scherzen; Clyde Manzer ist einer seiner Freunde aus dem College.« »Ich wäre eine dumme Kuh, wenn ich dir glauben würde«, sagte Apple und hörte sich an wie ihre Mutter. »Meinst du, ich würde Johnnyleins Geburtstag wegen eines Scherzes ruinieren? Natürlich ist dieser Junge kein College‐Freund von Peter.« Grady zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf einen Felsblock. »Nein, natürlich nicht. Peter hat ihn noch nie gesehen. Er arbeitet auf einem Parkplatz, und ich habe ihn dort im April kennengelernt; vor nicht ganz zwei Monaten haben wir geheiratet.« Apple ging einige Schritte den Weg hoch. Sie schien es nicht gehört zu haben, doch dann sagte sie: »Niemand weiß davon, oder?« Sie sah Grady an, die den Kopf schüt‐ telte. »Dann gibt es keinen Grund, warum irgendjemand es erfahren sollte. Natürlich kann das nicht rechtsgültig sein, du bist noch keine achtzehn, einundzwanzig oder was es nun ist. George wird uns bestimmt bestätigen, dass es nicht rechtsgültig ist; wir müssen unbedingt einen küh‐ len Kopf bewahren, er wird genau wissen, was zu tun ist.« Ihr Mann winkte ihnen vom Strand zu, und sie eilte, sei‐ nen Namen rufend, zur Treppe. Hinter ihm sah Grady die Pferde: sie schleuderten ihre Hufe in die Gischt, herrlich wie Pferde im Zirkus; und mit dem Gedanken an die Hoffnungen, die sie symbolisier‐ ten, ergriff sie Apples Handgelenk: »Sag’s ihm nicht! Sag 130
ihm nur, es ist ein Scherz von Peter. Hör mir zu, ich brau‐ che unbedingt die nächsten Wochen, bitte, Apple, gib sie mir.« Sie hielten sich schwankend aneinander fest, und Apple flüsterte: »Hör auf«, als hätte sie die Stimme ver‐ loren. »Nimm die Hände von mir.« Aber als Grady ver‐ suchte, sie loszulassen, merkte sie, dass es eigentlich Apple war, die sie festhielt, und sie wand sich in dieser Umarmung, erstickte in einem Gefühl, dass alles sich um sie zusammenballte: die Pferde stürmten voran, George war auf der Treppe, Clyde, das spürte sie, war nicht weit fort. »Apple, ich verspreche es dir, drei Wochen.« Apple wandte sich von ihr ab und ging zum Haus: »Er wartet im Windmill auf dich«, sagte sie, ohne sich umzusehen. Auf dem Wasser hatte sich Nebel gebildet, und die Pferde, kaum zu sehen, schössen vorbei wie Vögel. Eine Kellnerin, deren Schürze mit Windmühlen aus Chintz verziert war, stellte zwei Bier auf den Tisch und zün‐ dete eine Lampe an. »Bleiben die Herren zum Essen?« Gump, der sich mit einem Taschenmesser die Fingernä‐ gel schnitt, spuckte ein Stückchen Nagel in ihre Rich‐ tung: »Was haben Sie denn?« »Als Vorspeise haben wir Cape‐Cod‐Austern oder Shrimps nach Art von New Orleans oder New‐England‐ Muschelsuppe ...« »Wir nehmen die Suppe«, sagte Clyde, um sie zum Schweigen zu bringen. Für Gump war das prima, er hatte in dem trägen Long‐Island‐Nahverkehrszug, mit dem sie hergekommen waren, seinen Spaß gehabt, Comics durch‐ geblättert und mit Mädchen rumgealbert; aber Clyde 131
hatte die ganze Fahrt über dagesessen, als führe er Ach‐ terbahn. Einmal, als der Zug hielt, war ein Schmetterling zum offenen Fenster hereingebummclt; er hatte ihn in einer Pfefferminztüte gefangen, und die Tüte stand jetzt vor ihm auf dem Tisch: ein Geschenk für Grady. Ein Glöckchen bimmelte, als sie die Tür zumachte, und sie sah Clydes Gesicht, hagerer, weniger robust, im Licht aufleuchten; jemand, dem sie noch nie begegnet war, schüttelte ihr die Hand, Gump, ein schlaksiger junge mit fleckiger Haut in einem knallbunten Sommerhemd voller Hulatänzerinnen, und sie spürte die Stoppeln von Clydes unrasiertem Gesicht an ihrer Wange. »Ich weiß. Ich weiß«, sagte sie und wich seinem versöhnlichen Geflüster aus. »Darüber können wir jetzt nicht reden, nicht hier.« »He, wer bezahlt das denn jetzt?« rief die Kellnerin, die Suppenteller schwenkend, und Gump, der Clyde und Grady hinausfolgte, sagte: »Schicken Sir mir eine Rech‐ nung, Hübsche.« Sie zwängten sich alle drei auf die Vordersitze von Gradys Auto. Clyde fuhr, und sie saß in der Mitte. Ihr un‐ nachgiebiges Profil entmutigte jede Unterhaltung, und so fuhren sie schweigend; die Kurven schneidend, hinter‐ ließ das Auto einen spannungsgeladenen Schweif. Nicht, dass sie sich vorgenommen hatte, kalt zu sein: eher hatte sie sieh gar nichts vorgenommen, empfand nur wenig, bis auf, vielleicht, eine zusammengestürzte, eingeebnete Gleichgültigkeit. Ein Orangenmond stieg auf wie ein Luftschiff, und glasbesetzte Straßenschilder, die wie Kat‐ zenaugen vor ihre Scheinwerfer sprangen, verkündeten NEW YORK 98 MEILEN, 85. 132
»Müde?«, fragte Clyde. »Ganz, ganz müde«, sagte sie. »Dann hab ich das Richtige.« Gump schüttelte den Inhalt eines Briefumschlags in seine Hand, ungefähr ein Dutzend Zigarettenstummel. »Nur die Enden von Hasch‐ fluppen, aber sie werden uns wach machen.« »Lass das, Gump, tu das Zeug weg.« Gump sagte: »Geh zum Teufel«, und zündete sich einen Stummel an. »Schau«, sagte er zu Grady, »so musst du’s machen«: er schluckte den Rauch hinunter, als sei er etwas Essbares. »Willst du mal ziehen:« Wie eine schläf‐ rige Patientin, die keinen Augenblick lang in Frage stellt, was die Schwester ihr bringt, nahm sie die Zigarette und behielt sie, bis Clyde sie ihr wegriss; sie dachte, er wollte sie wegwerfen; doch nein, er rauchte sie selbst. »Jetzt weißt du Bescheid – hol dir deinen Schub von Dok‐ tor Gump.« Wieder wurden Stummel ausgegeben, einer für jeden, und jemand stellte das Radio an: Sie hören eine Sendung mit Schallplattenaufnahmen. Aschefunken stoben, und ihre Gesichter wurden glatt wie der junge Mond. Steig ein in das Kajak nach Quincy und Nyack, / Wir machen mal Ferien vom Ich. »Gutes Gefühl?« fragte Gump, und sie sagte ihm, dass sie überhaupt kein Gefühl habe, aber ein Kichern entschlüpfte ihr, und er sagte: »Du machst das prima, Schatz, nur weiter so.« Als Clyde dann sagte: »Ich hab dein Geschenk vergessen, ich hab dir ein Geschenk mitgebracht, einen Schmetterling in einer Bonbontüte«, war es aus: wie Fisch‐Luftblasen stieg in ihr das Kichern auf und zerplatzte zu Gelächter, lachend warf sie den Kopf von einer Seite zur anderen ... 133
»Nicht! Nicht! Es ist zu komisch.« Niemand wusste recht, was so komisch war, doch alle krümmten sich vor Lachen; Clyde zum Beispiel schaffte es kaum, den Wa‐ gen auf der Straße zu halten. Ein Junge auf einem Fahr‐ rad kurvte scharf vor ihren heranrasenden Scheinwerfern und landete in einer Hecke. Aber sogar wenn sie den Jun‐ gen getötet hätten, hätte das Gelächter nicht aufhören können; es war alles so lustig. Ein Schal löste sich von Gradys Hals und versickerte in der Dunkelheit; Gump holte seinen Umschlag hervor und sagte: »Kommt, ma‐ chen wir damit weiter.« Ein roter dunstiger Heiligenschein hing über New York, aber als sie über die Queensboro Bridge rasten, ex‐ plodierte die City, die plötzlich in voller Breite zu sehen war, wie Goldregen, jeder Turm ein zerbröselndes Feuer‐ werk stiebender Farbe, und »Ich möchte tanzen«, rief Grady, der strotzenden Silhouette zujubelnd. »Die Schu‐ he ausziehen und tanzen!« Das Paper Doll ist ein dürftiges Auffangbecken in einer Seitenstraße irgendwo in den East Thirties, und Clyde führte sie dorthin, weil das der Club war, in dem Bubble an der Bar stand. Bubble, der sie hereinkommen sah, glitt auf sie zu und zischte: »Bist du verrückt? Schaff sie hier raus. Sie ist zugedröhnt.« Aber Grady zeigte keinerlei Bereitschaft, zu gehen, sie fand Ge‐ fallen an dem schlaflosen Neonlicht, den Ganovengesich‐ tern, und Clyde musste ihr auf die Tanzfläche folgen, die zu klein und zu turbulent zum Tanzen war; sie hielten sich einfach in den Armen. »So viele Tage. Ich dachte, du wärst vor mir davonge‐ laufen«, sagte er. 134
»Man läuft nicht vor anderen davon; man läuft vor sich selber davon«, sagte sie. »Aber ist jetzt alles gut?« »Klar«, sagte er, »jetzt ist alles gut«, und machte mit ihr ein oder zwei vorsichtige Tanzschritte. Es war ein sonder‐ bares Trio, das für sie spielte: ein seidenweicher chinesi‐ scher Jüngling (Klavier), eine Farbige, die achtbar durch die Nickelbrille einer Schullehrerin blickte (Schlagzeug), und noch eine Negerin, ein großes, besonders dunkel‐ häutiges Mädchen, dessen schöner, schimmernder Kopf in der grünen Blässe eines Scheinwerfers schwebte (Gi‐ tarre). Es gab keinen Unterschied zwischen den Num‐ mern, denn ihre Musik klang immer gleich, einschmei‐ chelnd, unter die Haut gehend, wie unter Wasser. »Du solltest nicht mehr tanzen«, sagte Clyde, als das Trio eine Folge beendete. »Doch, doch, ich gehe nicht nach Hause«, aber sie ließ sich von ihm zu einer Ecke führen, in der Gump ihnen einen Tisch besorgt hatte. Die Gitarristin kam zu ihnen. »Ich bin India Brown«, sagte sie und hielt Grady die Hand hin. Es war eine Hand, die sich wie ein teurer Handschuh anfühlte, aber die Fin‐ ger waren lang und dick wie Bananen. »Bubble sagt, ich soll mit dir für kleine Mädchen gehen.« Grady sagte: »Babbel babbel babbel.« Das farbige Mädchen beugte sich über den Tisch; ihre Augen waren wie dunkle Quarzsplitter, die sich jetzt ver‐ schleierten und Grady abtaten; mit leiser, verschwöreri‐ scher Stimme sagte sie: »Es geht mich nichts an, was ihr Jungs vorhabt. Aber seht ihr den Dicken am Ende der Bar? Der hat uns auf dem Kieker – lauert nur auf eine Ge‐ 135
legenheit, den Laden dichtzumachen. Ein kleiner Ton von so einem Küken wie der da, und wir sind geliefert. Ehrlich.« Ein Ton? Singsang taumelte durch Gradys Kopf, und ihr Blick blieb an dem Dicken hängen; er betrachtete sie über den Rand eines Bierglases hinweg. Neben ihm stand ein braungebrannter junger Mann in einem schmu‐ cken Leinenanzug, der sich jetzt mit einem Glas in der Hand durch den Raum schlängelte. »Hol deine Sa‐ chen, McNeil«, sagte er und schien aus großer Höhe zu sprechen. »Es wird Zeit, dass dich jemand nach Hause bringt.« »Hör mal, Freundchen, damit wir uns richtig verste‐ hen«, sagte Clyde und stand halb auf. »Das ist bloß Peter«, sagte Grady; wie so vieles, das pas‐ siert war, kam ihr sein Erscheinen an diesem Ort nicht vernunftwidrig vor, und sie nahm ihn zur Kenntnis, als sei sie gegen Überraschungen gefeit. »Peter, Liebling, setz dich hin; lern meine Freunde kennen, lächle mich an.« Peter sagte nur: »Du lässt dich besser von mir nach Hause bringen«, und nahm ihre Handtasche vom Tisch. Ein Kellner, der ein Tablett mit Getränken brachte, wich zurück, und Bubble, den Mund zu einem elektrisierten O geformt, beugte sich über die Bar: das ferne Donnern einer vorbeifahrenden Hochbahn erschütterte den glit‐ zernden Raum. Clyde ging um den Tisch herum: es war kein fairer Kampf, denn obwohl Peter größer war, hatte er kaum Muskeln, nichts von Clydes Rauflust; und doch begegnete Peter der abschätzigen Musterung seinerseits mit kampfbereiten Blicken. Clydes Hand schoss so schnell 136
hervor wie der Stoß einer Schlange; er riss Peter die Hand‐ tasche weg und stellte sie neben Grady, die erst jetzt sein entblößtes Handgelenk sah: »Du hast dich verletzt«, sagte sie mit kaum lebendiger Stimme und berührte die wun‐ den eintätowierten Buchstaben ihres Namens; »für mich«, sagte sie und hob den Blick, erst zu Clyde, den sie nicht sehen konnte, und dann zu Peter, dessen weißes, uner‐ träglich strenges Gesicht immer kleiner zu werden schien. »Peter«, sagte sie verzückt und seufzte, »Clyde hat sich verletzt. Für mich.« Nur die Negerin bewegte sich; sie legte den Arm um Grady, und zusammen gingen sie ein wenig torkelig zur Damentoilette. Solange ich hier bin, kann mir nichts passieren, dachte sie und ließ den Kopf an den harten Brüsten der Gitarris‐ tin ruhen. »Er hat mir einen Schmetterling mitgebracht«, sagte sie und sprach in einen braunen und abblätternden Spiegel. »Er war in einer Pfefferminztüte.« Die Gitarris‐ tin sagte: »Es gibt einen Weg auf die Straße: durch die Tür da, dann zur Küche raus«, aber Grady antwortete lä‐ chelnd: »Ich dachte, er wäre ein Pfefferminz, er hat ge‐ nauso süß geschmeckt: fühl mal meinen Kopf, fühlst du, wie er darin fliegt?« Die Hände um den Kopf zu spü‐ ren, war beruhigend, es milderte das Schaukeln dort, das Sturzfluggeräusch: »Und manchmal fliegt er auch woan‐ ders, in meiner Kehle, in meinem Herz.« Die Tür ging auf, und die kleine Schlagzeugerin, die wie eine laszive Sehul‐ lehrerin aussah, kam herein und schnippte triumphierend mit den Fingern. »Die Luft ist rein«, verkündete sie. »Hooper hat die Kerle vor die Tür gesetzt, und bis jetzt keine eingeschlagenen Schädel. Nicht dein Verdienst«, 137
fügte sie hinzu und ging auf Grady los. »Ihr Opiumsüch‐ tigen geht mir schwer auf die Nerven mit eurer ewigen Rumtreiberei.« Aber die Gitarristin strich mit ihren Bana‐ nenfingern sanft Gradvs Haare glatt, und sagte: »Ach, halt die Klappe, Emma – sie weiß gar nicht, was los ist.« Die kleine Schlagzeugerin sah Grady lange an: »Du weißt nicht, was los ist, Süßer Von wegen!« Am Rinnstein stand ein pinkelnder Matrose; außer ihm war niemand auf der Straße, einer Straße mit rotbraunen Sandsteinhausern, in der sie das Auto abgestellt hatten; aber das Auto war nicht da, also ging Grady unter einer Straßenlaterne im Kreis und erwog nüchtern die Möglich‐ keiten: das Auto war gestohlen worden, oder was sonst? Lüftungsrohre, Teil einer Baustelle auf der Straße, spien düstere Dampfwolken aus, und der Matrose, in diese Ausdünstungen gehüllt, wankte über das Pflaster. Sie floh die Third Avenue hinunter, wo die langsam hin und her schwenkenden Scheinwerfer eines Autos sie grell erfassten. »He, du!« schrie der Fahrer, und sie blinzelte: es war ihr eigenes Auto mit Gump am Steuer. »Klar ist sie das«, sagte er, dann hörte sie Clyde: »Beeil dich, hol sie zu dir rein.« Clyde saß auf dem Rücksitz und Peter Bell ebenfalls; zusammen, jeder an den anderen gedrängt, schienen sie ein massiges, doppelköpfiges, mit Fangarmen bewehrtes Geschöpf zu sein: Peter, den Arm hinter den Rücken ge‐ klemmt, saß vornübergebeugt, und sein Gesicht, knitterig wie Stanniol und blutend, erschreckte Grady so, dass et‐ was nachgab: sie stieß einen Schrei aus, und es war, als 138
habe sich dieser Schrei seit Monaten in ihr angesammelt, aber es war niemand da, sie zu hören, weder in der stei‐ nigen Leere vorbeisausender Straßen, noch im Auto; Gump, Clyde und sogar Peter, sie waren aneinandergeies‐ selt durch sprachlose, taube Verzückung – es lag Freude in dem stumpfsinnigen Krachen von Clydes Fäusten, und während das Auto mit quietschenden Reifen die Third Avenue hochschoss, Hochbahnpfeilern auswich und sich nicht um rote Ampeln scherte, starrte sie stumm vor sich hin, wie ein benommener Vogel, der gegen Wände und Glas geprallt ist. Denn wenn Panik ausbricht, verfängt sich der Verstand wie die Reißleine eines Fallschirms: man fällt immer wei‐ ter. Das Auto bog rechts in die Neunundfünfzigste und schlidderte auf die Queensboro Bridge; und dort, über dem dumpfen Tuten der Schiffe auf dem Fluss und an einem Morgen, dessen Farben am Himmel er nie sehen sollte, schrie Gump: »Verdammt, du wirst uns umbrin‐ gen«, aber er konnte ihre Hände nicht vom Lenkrad lösen: sie sagte: »Ich weiß.« 139
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EDITORISCHE NOTIZ Vier Schulhefte und 62 lose Seiten voller Notizen, mit feiner Handschrift in Tinte beschrieben und vielen Kor‐ rekturen am Rande. Was Ende 2004 in einem alten Papp‐ karton bei Sotheby’s, New York, abgeliefert wurde, sollte sich als ein vollständiges Manuskript herausstellen: Sum‐ mer Crossing – Sommerdiebe, Truman Capotes erster Ro‐ man, den er 1943, mit neunzehn Jahren, zu schreiben be‐ gonnen hatte. Der anonyme Lieferant sagte, sein verstorbener Onkel habe auf Capotes Apartment in Brooklyn Heights acht‐ gegeben, das dieser um 1950 herum bewohnte. Capote ging auf Reisen und beschloss, nicht in die Wohnung zurück‐ zukehren. Aus der Ferne beauftragte er daher die Haus‐ verwaltung, sie räumen zu lassen und alles einfach auf die Straße zu stellen, jener Onkel hatte dann einiges vor der Müllabfuhr gerettet und bei sich aufbewahrt. 50 Jahre lang, bis er starb, sein Neffe das Manuskript fand und es zu Geld machen wollte, indem er es an das Auktionshaus Sotheby’s übergab. 141
Vielleicht lag es am hohen Schätzwert, vielleicht da‐ ran, dass der Truman Capote Literary Trust öffentlich er‐ klärte, dass mit dem Erwerb des Manuskripts die Urhe‐ berrechte nach wie vor beim Trust verblieben – letztlich ersteigerte niemand den Fund. Zum Glück, denn so konnte die New York Public Library dazu bewogen werden, ihn anzukaufen. Damit befindet sich in deren Truman‐Capote‐Archiv nun nach Andere Stimmen, andere Räume – dem vermeint‐ lichen Erstling von Truman Capote – sein wahres Roman‐ debüt. Die Geschichte der 17‐jährigen Grady, schön, reich und widerspenstig. Ein Geschöpf von der Upper East Side, das einen Sommer für sich allein hat, während die Eltern auf der Queen Mary nach Europa reisen und das gesell‐ schaftliche Debüt der Tochter vorbereiten. Ein Mädchen mit all der Klasse und dem Eigensinn jener Gefährtinnen, mit denen sich der junge Truman Capote selbst gerne um‐ gab: Gloria Vanderbilt, die berühmteste Erbin dieser Zeit; Oona O’Neill, Tochter des berühmten Dramatikers Eugene O’Neill und künftige Frau Chaplin; Carol Marcus, die erst William Saroyan und später Walter Matthau heiraten würde. Und Phoebe Pieree, seine beste Freundin aus dem vornehmen New Yorker Vorort Greenwich, die seine Be‐ geisterung für die Zeitschrift The New Yorker, Oscar Wilde und Saki teilte und mit ihm den Traum träumte, sich nicht wie bisher nur für eine heimliche Nacht nach Manhattan zu stehlen, sondern dort ins Zentrum des literarischen Lebens vorzustoßen. Capotes erster Schritt in die Welt, die er bis dahin für den Gipfel an Geist und Witz gehalten hatte, sah aller‐ 142
dings wenig glamourös aus: Er wurde Laufbursche und Redaktionsgehilfe beim New Yorker. Truman war achtzehn und wirkte wie zwölf, viel zu hübsch und elfengleich für einen Jungen, mit großen blauen Augen und blonden Haarsträhnen, die ihm verwegen ins zarte Gesicht hingen. Die Redakteure des New Yorker schenkten diesem Jungen mit dem Stimmchen einer kindlichen Kaiserin und dem Gehabe einer Operndiva zwar mehr Aufmerksamkeit als jedem ihrer Copy Boys zuvor; seine Kurzgeschichten, die er ihnen zu lesen gab, lehnten sie dennoch ab. »Sehr gut, aber auf eine Art romantisch, wie es unser Magazin nicht ist«, hieß es, erinnerte sich Capote später. Vielleicht war es sein Glück, dass ihn Harold Ross, der damalige Chef‐ redakteur, im Sommer 1944 herauswarf‐ angeblich halte er sich bei der Lesung eines Schriftstellers zu offensicht‐ lich gelangweilt. Erst war er gekränkt und weinte, dann trotzte er und fragte seinen Stiefvater Joe Capote, ob er ihn unterstützen würde, bis er sein Buch abgeschlossen habe. Bei diesem Werk, das er vollenden wollte, handelte es sich um Sommerdiebe. Schon im Herbst zuvor hatte er dem New Yorker einmal den Rücken gekehrt, damals aus freien Stücken, um sich ins Haus seiner Kindheit in Ala‐ bama zum Schreiben zurückzuziehen. Daraus war nichts geworden, und daraus sollte lange nichts werden. Bis in die Fünfziger hinein, noch nachdem Truman Capote et‐ liche Erzählungen veröffentlicht und mit Andere Stim‐ men, andere Räume Furore gemacht hatte, setzte er sich immer wieder an Sommerdiebe, feilte, änderte, verzwei‐ felte. 143
Am 1. April 1949 schrieb er aus Neapel an Robert Lins‐ cott, seinem Lektor bei Random House: »Ich erhoffe mir viel von Sommerdiebe, und ich fühle mich lebendig, und es war richtig, daran zu arbeiten, aber es macht mich zu‐ gleich nervös, was wahrscheinlich ein gutes Zeichen ist, und ich habe keine Lust, darüber zu reden, was ein weite‐ res gutes Zeichen ist.« Nur wenige Monate darauf, am 30. August, sehwankte seine Stimmung. In einem Brief von der Insel Ischia ließ er Linscott wissen: »Ich bin mit meinem Buch vorge‐ prescht und habe jetzt zwei Drittel geschafft – zumindest die Rohfassung –, mit einigem bin ich zufrieden, mit an‐ derem nicht, wie üblich. Ich schätze, es werden um die 80000 Wörter, um einiges länger, als ich gedacht habe – aber dann ist es zu einem ziemlich anderen, unendlich komplexeren Roman geworden, als ich ursprünglich an‐ nahm, und ihn in Reinform zu bringen, wird noch enorme Arbeit bedeuten.« Und im Sommer 1953 schrieb er von Portofino aus an Mary Louise Aswell, Redakteurin bei Harper’s Bazaar, die seine Kurzgeschichten ins Blatt brachte: »Ich wünschte, ich hätte eine Novelle gehabt, die ich dir hätte schicken können – seltsam genug, hätte ich vielleicht gekonnt, wenn du bis zum Dezember gewartet hättest. Was Som‐ merdiebe betrifft, das habe ich vor langer Zeit zerrissen – wie auch immer, es ist nie ganz fertig geworden.« Später wiederum, längst berühmt durch seine Bestsel‐ ler Frühstück bei Tiffany und Kaltblütig, behauptete er, das Manuskript zu Sommerdiebe fortgeworfen zu haben, weil es »dünn, clever, unempfunden« gewesen sei. Dann 144
1982, in einem langen Interview mit Lawrence Grobel, äußerte er sich ausführlicher. Auf die Frage, ob er schon einmal ein fertiges Manuskript vernichtet habe, sagte er: »Ich habe einmal ein ganzes Buch vernichtet. Es war ein Roman von mittlerer Länge. Eigentlich war er nicht schlecht. Hätte sich gut veröffentlichen lassen ... Es war ein ziemlich dramatischer, teilweise recht spaßiger Roman. Er hatte aber einen tragischen Schluss. Doch da war ir‐ gendetwas, das störte mich einfach. Und unbekümmert vernichtete ich ihn eines Tages. Ich wusste, wenn ich’s nicht täte, würde ich ihn veröffentlichen. Und ich wusste, ich sollte ihn lieber nicht veröffentlichen.« Er vernichtete Sommerdiebe nicht. Und da seine lang‐ jährigen Freunde und Berater – darunter sein Biograph Gerald Clarke, sein Anwalt Alan U. Schwartz und seine früheren Lektoren bei Random House – Capoles Wankel‐ mütigkeit und wechselnden Wahrheiten kannten, erlaub‐ ten sie seinem amerikanischen Verlag Random House, Sommerdiebe im Oktober vergangenen Jahres heraus‐ zubringen, nicht ohne vorher die Echtheit des wieder‐ entdeckten Manuskriptes und seine Qualität zu prüfen. Gemeinsam gelangten sie zu der Überzeugung, dass es unbedingt publiziert werden sollte, weil es trotz des ju‐ gendlichen Alters seines Autors ein überraschend reifes Buch sei. Selbst wenn es, an seinen späteren Werken und wahrscheinlich seinem eigenen Anspruch gemessen, noch kein perfekter Roman ist. Truman Capotes außergewöhn‐ liches Talent sei jedoch schon klar zu erkennen. Das Manuskript musste lediglich an sehr wenigen Stellen um ein fehlendes Wort ergänzt werden; die zum 145
Teil von der Grammatik abweichende Interpunktion des Schriftstellers wurde als Ausdruck seines Stilwillens auch in der deutschen Übersetzung belassen. Anuschka Roshant Zentaur 2006‐08‐26
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