W.E.B. GRIFFIN
Sonderkommando Ins Deutsche übertragen von Joachim Honnef
TASCHENBUCH Band 13 657
© Copyright 1989 ...
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W.E.B. GRIFFIN
Sonderkommando Ins Deutsche übertragen von Joachim Honnef
TASCHENBUCH Band 13 657
© Copyright 1989 by W. E. B. Griffin All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe
1995 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel:
Special Operations Lektorat: Rainer Delfs Titelfoto: Capdevila/ Norma Agency,
Barcelona Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck
und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France
ISBN 3-404-13657-8
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen
Mehrwertsteuer.
Erste Auflage: Juni 1995
Für Sergeant Zebuion V. Casey (i. R.)
Abteilung ›Interne Angelegenheiten‹
Polizeibezirk der Stadt Philadelphia.
Er weiß, warum.
Liebe Leser, mit den beiden mehrteiligen Serien SOLDATENSAGA und DAS MARINE-CORPS habe ich versucht, ein genaues Porträt der militärischen Gemeinschaft zu zeichnen. Mit PHILADELPHIA-COPS schrieb ich eine ganz neue Serie, die auf einem meiner Lieblingsthemen basiert, der faszinierenden und komplexen Welt der Gesetzesvertreter. Die Polizei und das Militär haben viele gemeinsame außergewöhnliche Merkmale: erstaunliche Tapferkeit, Loyalität und Kameradschaft verbinden ihre Männer und Frauen wie bei keinem anderen Beruf der Welt. Ich hoffe, daß die Leser von SOLDATENSAGA und DAS MARINE CORPS mein Interesse an der Polizei teilen – vom Cop auf der Straße über die Kriminalbeamten bis zum Polizeichef. Und ich hoffe, diese Bücher fan gen die Welt der Polizei ein und zeigen den Streß und die Probleme, denen diese mutigen Männer und Frauen an jedem Tag ihres Lebens ausgesetzt sind. Herzlichst Ihr W. E. B. Griffin
Wo du wolle? Du sagen ich fahren.
»el taxista«
1
Die Polizei von Philadelphia wurde zum erstenmal am 29. Juni 1973 um 21 Uhr 21 auf Mary Elizabeth Flannery aufmerksam, als eine Bürgerin über die Notrufnummer meldete, daß sie und ihr Mann auf der Fahrt durch den Fairmount Park eine nackte Frau gesehen hatten, die auf der Chestnut-Hill-Seite der Brücke über den Wissahik kon Creek herumspazierte. Der Anruf wurde in der Funkzentrale entgegengenommen, die sich im zweiten Stock des Polizeipräsidiums in der Innenstadt befindet. Der Telefonist war eine zivile Teilzeitkraft, ein zweiunzwanzigjähriger, fast zwei Meter großer und zweihundertsiebenundzwanzig Pfund schwerer Schwarzer namens Foster H. Lewis junior. Fester H. Lewis senior war Sergeant im Achten Distrikt. Das hatte nicht geschadet, als sich Foster H. Lewis junior vor drei Jahren bei der Stadtverwaltung um einen Teilzeitjob beworben hatte, um sein Studium an der Temple University zu finanzieren, wo er einen Einfüh rungskurs in der Medizin besuchte. Foster H. junior, scherzhaft ›Kleiner‹ genannt, hatte zuerst gewalti gen Respekt vor der Funkzentrale gehabt, in der Reihen von Telefo nisten vor Schaltpulten saßen, und hatte sich bei den ständig einge henden Hilferufen, oftmals von Leuten am Rande der Hysterie, ziem lich unbehaglich gefühlt.
Die Polizei von Philadelphia reagierte als einzige von allen Polizei präsidien der amerikanischen Großstädte auf jeden Hilferuf, nicht nur bei gemeldeten Verbrechen. Es ist im Unterbewußtsein von Philadel phias 2,1 Millionen Bewohnern (im Großraum Philadelphia gibt es über fünf Millionen Leute), fest verankert, daß die Polizei für alles zuständig ist: ›Ruf die Cops‹, wenn sich Onkel Charley ein Bein bricht. ›Ruf die Cops‹, wenn ein Junge von seinem Fahrrad fällt und aus dem Mund blutet. ›Ruf die Cops‹, wenn eine nackte Frau im Fairmount Park herumspaziert. Lewis, der ›Kleine‹, arbeitete jetzt seit drei Jahren im Funkraum zwei, in drei Nächten pro Woche, an den Wochenenden und Vollzeit während des Sommers, und er hatte keinen gewaltigen Respekt mehr vor der Funkzentrale oder seiner Aufgabe, mit einem Bürger zurechtzukommen, der um Hilfe bat. In diesem Fall war er ziemlich überzeugt, daß die Anruferin sich keinen Jux erlaubte und nicht hysterisch oder betrunken oder beides war. »Darf ich bitte Ihren Namen haben, Ma’am«, fragte Lewis höflich. »Der tut nichts zur Sache«, schnauzte ihn die Anruferin an. »Helfen Sie nur dieser armen Frau.« »Ma’am, ich muß Ihren Namen haben«, sagte Lewis eindringlich. Manchmal klappte es und manchmal nicht. Jetzt nicht. Die Anruferin legte auf, und die Leitung war tot. »Joe!« rief Lewis, der ›Kleine‹, gerade laut genug, um den Abtei lungsleiter auf sich aufmerksam zu machen, ein vereidigter Polizei beamter namens Joe Bullock. Joe Bullock war sechzehn Jahre im Dienst gewesen, als er einen betrunkenen Autofahrer gestellt hatte. Er hatte mit ihm neben dem Wagen gestanden, als ein anderer betrunkener Autofahrer den ge stoppten Wagen gerammt hatte. Keiner der beiden Trunkenbolde war ernsthaft verletzt worden, aber Joe Bullock hatte sieben Monate in der Universitätsklinik verbracht. Danach hatte man ihn entlassen und ihm Invalidenrente zahlen wollen, doch Bullock hatte sich an den Po lizeichef gewandt. Der Polizeichef, damals Jerry Carlucci, der jetzige Bürgermeister, hatte sich die Zeit genommen, Officer Bullock zu empfangen, obwohl er im Wahlkampf um das Bürgermeisteramt sehr in Anspruch ge nommen war. Commissioner Carlucci erinnerte sich nur vage an Of ficer Bullock, als Bullock ihn höflich darauf aufmerksam machte, daß er ihn kennengelernt hatte, als der Commissioner noch Sergeant der Highway Patrol gewesen war, aber er schüttelte ihm herzlich die Hand und versicherte ihm, solange er Polizeichef oder Bürgermeister
sein werde, würden die verdammten Bürokraten keinen guten Cop mit Invaliditätsrente in Pension schicken, der weiter bei der Polizei arbeiten wollte und einen Beitrag leisten konnte. Officer Bullock wurde zur Funkzentrale versetzt. »Was haben Sie, Kleiner?« fragte Officer Bullock Lewis. »Eine nackte Frau im Park bei der Bell’s Mill Road und beim Wis sahickon Creek, in der Gegend des Forbidden Drive«, sagte der ›Kleine‹. »Ich denke, da ist was dran.« »Es könnte ein Mädchen sein, das sich in letzter Minute anders entschieden hat«, sagte Joe Bullock. Die ›Verbotene Straße‹ war ein unbefestigter Weg am Wissahickon Creek, der am Tag von ehrbaren Bürgern als Reitweg und des Nachts von jungen Paaren benutzt wurde, die einen Parkplatz such ten, um im Wagen Intimitäten auszutauschen. »Das glaube ich nicht«, sagte der ›Kleine‹. »Ich habe das Gefühl, daß etwas dran ist.« Joe Bullock nickte. Er wußte, daß Lewis ein Gespür für seinen Job hatte und sehr selten aufgeregt wurde. Er wußte auch, daß sich die Gegend in Chestnut Hill befand. Es hieß, daß fünfundvierzig Prozent von Philadelphia im Besitz von Leuten waren, die in Chestnut Hill wohnten, sehr oft in sehr großen Villen auf sehr großen Grundstük ken; die Art Leute, die den besten Polizeischutz gewohnt waren und sofort bis zum Bürgermeister durchdringen konnten, wenn sie mein ten, ihn nicht zu erhalten. Bullock ging zu seinem Schaltpult und überprüfte das Display für den Vierzehnten Polizeidistrikt, der für Northwest Philadelphia ein schließlich Chestnut Hill zuständig war. Es überraschte ihn nicht, daß die Anzeige ›1423‹ leuchtete. Die ›14‹ bezeichnete den Distrikt; ›23‹ war der Streifenwagen, der die Gegend Chestnut Hill abfuhr. Es hätte ihn überrascht, wenn 1423 nicht leuchtete, was hieß, daß 1423 nicht im Einsatz und verfügbar war. Chestnut Hill war kein Gebiet mit hoher Kriminalität oder Verkehrsproblemen. »Vierzehn-dreiundzwanzig«, sprach Joe Bullock ins Mikrofon. Er erhielt sofort Antwort: »Vierzehn-dreiundzwanzig.« »Vierzehn-dreiundzwanzig«, sagte Joe Bullock. »Meldung einer nackten weiblichen Person auf dem Forbidden Drive in der Nähe der Bell’s Mill Road auf der Brücke. Anruf von Bürgerin.« »Vierzehn-dreiundzwanzig, verstanden«, sagte Officer William Dohner, der in seinem Distrikt auf der Germantown Avenue in der Nähe der Springfield Street Streife fuhr. Er klinkte das Mikrofon in die Halterung, schaltete Sirene und Rotlicht ein, wendete seinen Ford und fuhr zur Verbotenen Straße.
Während dessen schrieb Lewis, der ›Kleine‹, die Information auf eine Karte. In diesem Stadium war die Sache offiziell eine ›Ermittlung, Person‹. Dann schob er die Karte zwischen Kontakte eines Apparats über dem Schaltpult. Dadurch erlosch der Punkt hinter der Tafel ›1423‹ auf dem Display, was bedeutete, daß Vierzehn dreiundzwanzig einen Einsatz hatte. Joe Bullocks Funkruf bezüglich der nackten Frau im Fairmount Park wurde ebenso über die Funkgeräte in anderen Poli zeifahrzeugen gehört. Fast sofort schaltete der Fahrer eines Ford Transporters, EPW 1409, einer der mit zwei Mann besetzten Emer gency Patrol Wagons des Vierzehnten Distrikts zum Transport von Verletzten und Gefangenen, Rotlicht und Sirene ein und fuhr zum Forbidden Drive. Ebenso Wagen neunzehn der Highway Patrol, der zufällig in diesem Gebiet war. Ebenso D – 209, ein neutraler Wagen des Nordwest-Distrikts der Kriminalpolizei. Und andere. Es war ein relativ ruhiger Abend gewesen, und eine nackte weibli che Person auf der Verbotenen Straße verlangte alle Unterstützung, die ein sonst unbeschäftigter Polizeibeamter geben konnte.
Joe Bullocks Funkruf wurde ebenfalls über den Polizeifunk des Kurzwellenradios in einem verschrammten, vier Jahre alten Chevrolet Impala Coupe empfangen, das auf Michael J. O’Hara, South Shields Street 2100 in West Philadelphia, zugelassen war. Mr. O’Hara hatte den Sonntagabend mit seiner verwitweten Mutter im Cobbs Creek Altenpflegeheim verbracht. Mickey war ein pflichtge treuer Sohn, der seine Mutter liebte, und er bemühte sich tapfer, zweimal pro Woche mit ihr zu Abend zu essen. Es war jedesmal ein deprimierendes Erlebnis. Mrs. O’Hara war nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, und sie sprach viel über Leute, die seit langem tot waren oder die sie nie gekannt hatte. Und über Mitbewohner des Altenpflegeheims, die ihrer Ansicht nach sündige sexuelle Beziehun gen pflegten, wenn sie nicht damit beschäftigt waren, Dinge von Mrs. O’Hara zu stehlen. Das Essen war ebenfalls mies; es erinnerte Mi ckey an den Fraß, den sie in der Grundausbildung bei der Army aus gegeben hatten. Nachdem Mickey seine Mutter im Rollstuhl über den gebohnerten, glatten Flur des Altenpflegeheims in ihr Zimmer geschoben hatte, ging er für gewöhnlich sofort zu Brannigans Bar & Grill, wo er schnell ein paar John Jamison’s trank, die er jeweils mit einem Glas Bier hin unterspülte. Heute war er jedoch auf direktem Weg nach Hause gefahren, nicht,
weil er keinen Whisky brauchte – ganz im Gegenteil – , sondern weil ihm eine Entwicklung in seinem Leben ein so großes Unbehagen bereitete, wie er es noch nie empfunden hatte. Und Mickey kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, daß er unter diesen Umständen besser auf Alkoholisches verzichtete. Er wohnte in dem Haus, in dem er aufgewachsen war, im vierten Reihenhaus rechts am Ende des Blocks 2100 in der South Shields Street. Er wohnte jetzt seit zweieinhalb Jahren allein, seit Pfarrer De lahanty von der katholischen Kirche es geschafft hatte, Mrs. O’Hara zu überreden, ›vorübergehend‹ ins Pflegeheim zu ziehen, bis sie wieder gesund sein würde. Sie würde das Altenpflegeheim nie wieder verlassen, und jeder außer Mrs. O’Hara wußte das, aber sie sprach immer wieder von ihrer Rückkehr nach Hause, und Mickey brachte es nicht übers Herz, das verdammte Haus zu verkaufen und irgendwo ein Apartment zu mieten. Er wäre sich schäbig vorgekommen, wenn er die Mutter bei seinen Besuchen hätte belügen müssen. Mickey ging ins Haus und stellte das Fotoalbum zurück ins Regal, wo es seit seiner Kinderzeit verwahrt wurde. Er hatte das verdammte Album ein paar Dutzend Male zum Altenpflegeheim und zurück ge tragen. Seine Mutter bat ihn, es mitzubringen, er brachte es ihr, und eine Woche später verlangte sie, daß er es mit nach Hause nahm und ins Regal stellte; im Pflegeheim wimmelte es laut Mrs. O’Hara von Dieben, die alles stahlen, was nicht angekettet war, und sie woll te das Fotoalbum nicht verlieren. Dann ging Mickey in die Küche und sagte sich, daß ein Glas Bier ihn nicht in Schwierigkeiten bringen würde. So füllte er ein PabstBlue-Ribbon-Glas aus einer Flasche Ortleib’s Bier, das einen Dime billiger war als das Pabst-Bier und nach Mickeys Geschmack oben drein besser schmeckte. Er ging mit dem Bier ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und schaute sich die Wiederholung einer Streiterei beim Denver-Clan an, bis es an der Zeit war, in die Innen stadt zu fahren. Bull Bolinski, sein ältester Freund, hatte angekündigt, daß er um 20 Uhr 30 mit dem Flugzeug eintreffen werde. Mickey sollte ihm eine Stunde Zeit geben, in der er zum Hotel fahren und dort ein paar Anru fe erledigen konnte. Mickey hatte angeboten, ihn am Flughafen ab zuholen, aber Bull hatte keinen Sinn darin gesehen und erklärt, er werde ein Taxi nehmen. Mickey schaltete den Fernseher aus und spülte das Pabst-BlueRibbon-Bierglas in der Spüle. Dann verließ er das Haus und stieg in den Wagen. Er schaltete aus Gewohnheit den Polizeifunk ein. Noch
bevor er losfuhr, hörte er »nackte weibliche Person im Fairmount Park…« Dieser Funkruf löste zwei Gedanken bei ihm aus. Irgendeine Pup pe – betrunken, high oder verrückt – lief im Evaskostüm durch den Fairmount Park. Wenn es eine gutaussehende Puppe war, mochte etwas Lustiges dabei herausspringen, vorausgesetzt, sie war blau oder high oder vielleicht wütend auf ihren Ehemann oder Freund. Jeder Cop in Northwest Philly würde auf den Funkruf ›nackte weibli che Person‹ reagieren; es würde ein regelrechtes Bullentreffen im Fairmount Park werden. Es war jedoch nicht lustig, wenn die Lady verrückt war. Mickey hat te seine Prinzipien, und dazu zählte, daß er an Verrückten nichts lu stig fand. Es sei denn natürlich, sie hielten sich für den König von Pennsylvania oder Tarzan oder sonstwas, Mickey schrieb nie über Verrückte, die bedauernswert waren. Der zweite Gedanke war mehr eine Ahnung als sonstwas. Es konnte etwas mit einem echten Verrückten zu tun haben, einem ge fährlichen, einem weißen Bastard, der seit einiger Zeit Frauen verge waltigte. Nicht nur irgendwelche Frauen, sondern schöne, junge wei ße Frauen der Mittelschicht. Und er vergewaltigte sie nicht nur, son dern zwang sie zu allerlei üblen, perversen Dingen. Oder tat sie ihnen an. Jack Fisher, einer der Kriminalbeamten von Northwest Philadel phia, hatte Mickey erzählt, daß der Wahnsinnige ein Mädchen auf ihrem Bett gefesselt, sich ausgezogen und dann auf sie uriniert hatte. Dann kam Mickey ein dritter Gedanke: Was auch immer los war, es war im Augenblick nicht von beruflichem Interesse für Michael J. O’Hara. Es würde vermutlich eine Story im Philadelphia Bulletin er scheinen, entweder im ›Panorama‹, garniert mit Anzeigen, oder viel leicht sogar auf der Titelseite, aber sie würde nicht von Michael J. O’Hara geschrieben sein. Michael J. O’Hara verweigerte dem Bulletin seine beruflichen Dien ste, bis zur Lösung vertraglicher Differenzen zwischen den beiden Parteien. Bull Bolinski hatte ihm gesagt: »Nein, du streikst nicht. Bus fahrer streiken, Stahlarbeiter streiken. Du bist ein verdammter Gei stesarbeiter. Geht das nicht in deinen Dickschädel hinein?« Mickey O’Hara verweigerte seine Dienste jetzt seit drei Wochen. Er war noch nie so lange ohne Arbeit gewesen, und es beunruhigte ihn sehr. Wenn die Zeitung nicht nachgab, war es durchaus möglich, daß er erledigt war. Nicht nur beim Bulletin, sondern auch bei den ande ren Zeitungen in Philadelphia. Die Bastarde in der Geschäftsleitung kannten sich alle untereinander, aßen zusammen im Union League Club zu Mittag, und wenn das Management vom Bulletin ihm oder
Bull Bolinski den Laufpaß gab, dann würde es zusätzlich verbreiten, daß Mickey O’Hara, stets ein Unruhestifter, diesmal wirklich zu weit gegangen war. Und es war schon über den Punkt hinaus, an dem er den Schwanz einkneifen, einfach in die Redaktion spazieren und wieder an die Ar beit gehen konnte. Er konnte nur sein Vertrauen in Bull setzen. Und Blut schwitzen. Mickey schaltete den Polizeifunk aus und fuhr in die Innenstadt in Richtung City Hall.
Bill Dohner, ein drahtiger zweiundvierzigjähriger Polizist, der genau die Hälfte seines Lebens im Polzeidienst war, schaltete Rotlicht und Sirene aus, als er noch vier Blocks vom Forbidden Drive entfernt war, doch er fuhr nicht langsamer. Manchmal war es falsch, mit rotierendem Rotlicht und heulender Sirene am Ziel einzutreffen. Er nahm seine Taschenlampe vom Beifahrersitz und bremste hart am Beginn des Forbidden Drive. Die unbefestigte Straße wirkte ver lassen, und so fuhr er die Bell’s Mill Road hinab und über die Brücke über den Wissahickon Creek. Dort sah er ebenfalls nichts. Er wende te – schnell, jedoch ohne quietschende Reifen – , kehrte zum Forbid den Drive zurück und fuhr darauf weiter. Das Scheinwerferlicht erfaßte nichts auf der Straße. Dohner fuhr sehr langsam und schaute nach links und rechts hinab in den Wissa hickon Creek zu seiner Rechten und in den Wald zu seiner Linken. Und dann sah er Mary Elizabeth Flannery. Sie war zu Fuß, gerade am Rand der Lichtbahn der Scheinwerfer und am Straßenrand. Sie hielt den Kopf gesenkt und die Hände hinter dem Rücken, als wären sie gefesselt. Und sie war nackt. Dohner beschleunigte schnell und nahm das Mikrofon aus der Hal terung. »Vierzehn-dreiundzwanzig. Ich habe eine nackte Frau auf dem Forbidden-Drive. Kann man mir Unterstützung schicken?« Er stoppte bei Mary Elizabeth Flannery und nahm eine gefaltete Decke vom Boden vor dem Beifahrersitz. Dann sprang er aus dem Wagen. Dohner sah den leeren Ausdruck in Mary Elizabeth Flannerys Au gen, als sie ihn anschaute, und dann erkannte er, daß seine Vermu tung stimmte: ihre Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. »Es wird alles in Ordnung kommen, Miss«, sagte Bill Dohner freundlich und sanft und legte ihr die Decke um die Schultern. »Kön nen Sie mir sagen, was passiert ist?«
In diesem Augenblick ertönte es piep, piep, piep aus jedem Funk gerät in allen Polizeifahrzeugen von Philadelphia, und Joe Bullock forderte Unterstützung für einen Polizeibeamten an und gab die Orts angaben durch. Rotlicht und Sirene all der Wagen, die zuvor in Richtung Bell’s Mill Road unterwegs gewesen waren, blieben weiterhin an, und die Fah rer gaben mehr Gas. Rotlicht und Sirene wurden in Wagen einge schaltet, die von Bill Dohners Sergeant (14A) gefahren wurden; von Bill Dohners Lieutenant (14c); zwei von Dohners Kollegen im selben Dienstgrad, die irgendwo im Vierzehnten Distrikt Streife fuhren (1421 und 1415); in den Wagen Highway 26, D-Dan 209 und anderen. Bill Dohner nahm ein vielbenutztes, aber sehr scharfes Federmesser aus seiner Tasche und schnitt die weiße Leitungsschnur durch, mit der Mary Elizabeth Flannerys Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Er versuchte nicht, den Knoten der Schnur zu lösen. Ein Knoten konnte manchmal als Beweismaterial benutzt werden. Die Typen, die so etwas taten, machten manchmal ungewöhnliche Knoten. Er steck te die Schnur in seine Hosentasche und führte Mary Elizabeth Flan nery sanft zu seinem Wagen. »Können Sie mir sagen, wie er aussah?« fragte Bill Dohner. »Der Mann, der Ihnen das antat?« »Er kam in die Wohnung, und ich hörte ihn nicht, und er hatte ein Messer.« »War es ein Weißer?« Dohner öffnete die Fondtür des Strei fenwagens. »Ich weiß es nicht… Ja, er war ein Weißer. Er hatte eine Maske.« »Was für eine Maske?« »Eine Kindermaske, die des Lone Ranger.« »Und war es ein großer Mann, ein kleiner Mann oder…« Dohner spürte, daß sich Mary Elizabeth Flannery unter seiner Hand versteif te. »Was ist los?« fragte er sehr sanft. »Ich will nicht hinten einsteigen«, sagte sie. »Nun, dann setze ich Sie vorne hin«, erwiderte Dohner, »Miss, was tat Ihnen dieser Mann an?« »O Gott!« Mary Elizabeth Flannery begann zu schluchzen. »Hat er Ihnen Gewalt angetan?« »O Gott!« Sie weinte. »Ich muß es fragen, Miss, was hat er Ihnen angetan?« »Er zwang mich – er urinierte auf mich!« »Ist das alles?« fragte Dohner sanft. »O Gott!« Mary Elizabeth Flannery schluchzte auf. »Er zwang mich – er schob mir sein Ding in den Mund. Er hatte ein Messer…«
»Was für ein Messer?« »Ein Messer«, sagte sie. »Ein Fleischermesser.« »Wie heißen Sie, Miss? Nennen Sie mir bitte Ihren Namen?« Er setzte sie auf den Beifahrersitz, lief um die Schnauze des Wa gens herum und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Sie schaute ihn nicht an, als er sich ihr zuwandte. »Wie heißen Sie, Miss?« fragte Dohner abermals. »Flannery«, sagte sie. »Mary Flannery.« »Damit wir diesen Mann schnappen können, müssen Sie mir sa gen, wie er aussieht«, sagte Bill Dohner. »Wie war er bekleidet? Können Sie mir das sagen?« »Er war nackt.« »Er brachte Sie von Ihrer Wohnung hierhin, nicht wahr?« fragte Dohner, und Mary Elizabeth Flannery nickte. »Wie brachte er Sie hierhin?« »In einem Transporter.« »War er da nackt?« »O Gott!« »Erinnern Sie sich, was für ein Transporter das war? War er dunkel oder hell?« Sie schüttelte den Kopf. »War er neu oder alt?« Sie schüttelte wieder den Kopf. »War er wie ein Kombi mit Fenstern oder hinten geschlossen?« »Geschlossen.« »Und war es ein kleiner Mann?« Keine Antwort. »Ein großer Mann? Haben Sie seine Haarfarbe gesehen? Hatte er einen Bart oder Narben oder irgend etwas Auffallendes?« »Er war groß«, sagte Mary Elizabeth Flannery. »Und haarig.« »Sie meinen, er hatte langes Haar, oder war sein Körper behaart?« »Sein Körper«, sagte sie. »Was geschieht jetzt mit mir?« »Wir werden uns um Sie kümmern«, sagte Dohner. »Alles kommt jetzt in Ordnung. Aber Sie müssen mir sagen, wie dieser Mann aus sieht, was er trug, damit wir ihn schnappen können. Können Sie mir sagen, was er anhatte, als er Sie hierhin brachte?« »Einen Overall«, sagte sie. »Oder Coverall. Sie wissen, was ich meine.« »Erinnern Sie sich an die Farbe?« »Schwarz«, sagte sie. »Ich sah es, als er ihn anzog…« »Und welche Farbe hatte der Transporter?« »Das sah ich nicht. Vielleicht grau.« »Und als er Sie hier zurückließ, in welche Richtung fuhr er? Kehrte
er zur Bell’s Mill Road zurück, oder fuhr er in die andere Richtung?« »Bell’s Mill Road.« »Und wohin fuhr er von dort aus?« »Nach rechts«, sagte Mary Flannery überzeugt. Dohner griff zum Mikrofon. »Vierzehn-dreiundzwanzig«, sagte er. »Vierzehn-dreiundzwanzig«, wiederholte der Mann in der Funkzen trale. »Vierzehn-dreiundzwanzig«, sagte Dohner. »Unterstützung wie deraufnehmen.« »Unterstützung wiederaufnehmen«, war Polizeikauderwelsch, ver bale Kurzschrift für ›Diejenigen Beamten, die mit Rotlicht und heulender Sirene hierhin unterwegs sind, um mich in punkto ›nackte Lady‹ zu unterstützen, können jetzt ihren normalen Dienst fortsetzen. Ich habe hier alles im Griff, bin nicht in Gefahr und erwarte meinen Vor gesetzten, einen Wagen und vielleicht einen Kriminalbeamten des Distrikts.‹ Im ganzen nordwestlichen Philadelphia verstummten die Sirenen von Polizeiwagen. Dohner sprach weiter ins Mikro, »Wir haben ein Sittlichkeitsvergehen, Kidnapping, tätliche Bedrohung mit einer Waffe. Ausschau halten nach weißer männlicher Person in grauem Trans porter, Marke unbekannt. Er trägt schwarzen Coverall und ist vielleicht im Besitz einer schwarzen Maske und eines Fleischermessers. Zuletzt gesehen auf der Bell’s Mill Road ostwärts Richtung Germantown.« Als er das Mikrofon einhakte, bog ein Streifenwagen mit rotierendem Rotlicht und heulender Sirene auf den Forbidden Drive ein. Er stoppte neben Bill Dohners Wagen, und zwei Cops der Highway Pa trol sprangen heraus. Joe Bullocks Stimme ertönte über Funk. Er gab die Informationen durch, die er von Bill Dohner erhalten hatte. »Mary«, sagte Bill Dohner freundlich. »Ich spreche kurz mit diesen Beamten und sage ihnen, was passiert ist, und dann bringe ich Sie zum Krankenhaus.« Als Dohner ausstieg, trafen zwei weitere Polizeiwagen ein, ein Streifenwagen vom Vierzehnten Distrikt und ein neutraler Wagen von der Kriminalpolizei. Nach dem kurzen Gespräch mit den beiden Polizisten der Highway Patrol stieg Bill Dohner wieder in seinen Wagen. Mary Elizabeth Flannery zitterte unter der Decke, obwohl es warm war. Er nahm das Mikrofon. »Vierzehn-dreiundzwanzig. Ich bringe das Opfer ins Chestnut Hill Hospital.«
Bill Dohner fuhr los. Er blickte wieder zu Mary Elizabeth Flannery und fluchte lautlos. Sie stand vermutlich unter Schock. Schock kann fatal sein. »Alles in Ordnung, Mary?« »Warum hat er mir das angetan?« fragte Mary Elizabeth Flannery klagend.
2
Mickey O’Hara fuhr mit dem verschrammten Chevrolet um die City Hall, dann die South Broad Street hinunter, vorbei am ehrwürdigen Union League Club. Als er am ebenso ehrwürdigen Bellevue Stratford Hotel anlangte, stoppte Mickey am Straßenrand direkt bei dem Schild, das absolutes Parkverbot anzeigte. Er schob sich hinüber auf den Beifahrersitz und stieg auf der rech ten Seite aus. Dann ging er zur Drehtür des Bellevue Stratford und trat ein. An der marmornen Rezeption stand eine kleine Schlange. Zwei gutgekleidete Männer in mittlerem Alter, die Mickey als Vertreter ein schätzte, und ein weißhaariges älteres Paar, das nach Mickeys Ein schätzung eine Frau und ein Ehemann waren, der sie zu Hause ge lassen hätte, wenn er die Wahl gehabt hätte. Die Vertreter fragten die Empfangsdame nur, ob Post für sie da war. Die Frau hatte offenbar ihren Ehemann angestachelt, sich über ihr Zimmer zu beschweren, das nicht das bot, was sie als zufrieden stellende Aussicht betrachtete, und als er die Beschwerde vortragen wollte, nahm sie ihm das Wort aus dem Mund. Sie hielt sich offenbar – und zu Recht – für eine erstklassige Xanthippe. Die Empfangsdame hatte anscheinend die Geduld einer Heiligen, wie Mickey fand. Und bei genauerer Betrachtung sagte sich Mickey,
daß sie auch so aussah. Wenn nicht wie eine Heilige, dann wie ein Engel. Groß, gut gebaut, mit brauner Haarfülle, gesundem Teint und schönen haselnußbraunen Augen. Und sie trug keine Ringe, wie Mi ckey bemerkte, weder Verlobungs- noch Ehering. Sie gab der erstklassigen Xanthippe und ihrem Gemahl ein ande res Zimmer und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten, die vielleicht durch das ursprüngliche Zimmer entstanden waren. Mickey hatte den Eindruck, daß die erstklassige Xanthippe ein wenig ent täuscht war wie ein Boxer, der seinen Gegner durch einen Glückstref fer in der ersten Runde ausknockt. Voll angespannt und auf Touren, und keiner mehr da, gegen den man kämpfen konnte. »Guten Abend, Sir«, sagte die Empfangsdame. »Wie kann ich Ih nen helfen?« Ihre Stimme war weich und melodiös, ihr Lächeln strahlend, und die haselnußbraunen Augen waren faszinierend. »Welches Zimmer hat Bull Bolinski?« fragte Mickey. »Mr. Bolinski ist nicht hier, Sir«, erwiderte sie sofort. »Er ist nicht hier?« »Sind Sie Mr. O’Hara, Sir? Mr. Michael O’Hara?« »Schuldig.« Sie lächelte. Herzlich, wie Mickey fand. Echt belustigt. »Ich kenne Sie von Fotos in der Zeitung«, sagte sie. »Ich bin eine Ihrer begeisterten Leserinnen, Mr. O’Hara.« »Tatsächlich?« Sie nickte bekräftigend. »Mr. Bolinski rief an, Mr. O’Hara. Vor we nigen Minuten. Er hat sich verspätet.« »So?« »Er sagte, Sie würden herkommen, und er bat mich. Ihnen auszu richten, daß er sehr spät in Philadelphia eintreffen wird und hofft, daß Sie morgen früh gegen zehn Uhr Zeit haben, um mit ihm zu frühstük ken.« »Oh.« »Kann ich irgend etwas für Sie tun, Mr. O’Hara?« »Nein. Nein, danke.« Sie lächelte ihn wieder an. Bezaubernd. Als er an der Drehtür war, erkannte Mickey, daß sich ihm eine Chance geboten hatte, und er – wie gewöhnlich – zu blöde gewesen war, um sie zu nutzen. Aber was, zum Teufel, hätte ich denn sagen sollen? dachte er. »He, Süße, wann hast du frei? Machen wir beide einen drauf?« Mickey stieg in den Chevy und fuhr heim. Tapfer widerstand er der Versuchung, bei den sechs Kneipen zu stoppen, die an seinem Weg
lagen, und sich nur einen John Jamison’s zu genehmigen. Er ging in die Küche, trank den Rest aus der Flasche Ortleib’s, und dann gönnte er sich zwei weitere Flaschen Bier, während er grübelte, was er tun würde, wenn er kein Polizeireporter mehr sein konnte. Und er über legte nach der verpatzten Gelegenheit all die klugen, charmanten und geistreichen Dinge, die er der Empfangsdame mit der sanften Stimme und den schönen haselnußbraunen Augen hätte sagen sollen.
George Amay, der Kriminalbeamte der Kripo Nordwest, der den Funknamen D-Dan 209 hatte, war auf den Funkruf bezüglich der nackten Frau hin zum Forbidden Drive gefahren und dort gerade so lange geblieben, bis er eine grobe Vorstellung dessen hatte, was los war. Dann war er wieder in seinen Wagen gestiegen und zu einem Münzfernsprecher auf dem Parkplatz einer Gaststätte an den North western Avenue gefahren. Er telefonierte mit dem diensthabenden Beamten der Kripo Nordwest, einem Mortimer Shapiro. Detective Shapiro meldete sich im zweiten Stock des Gebäudes des fünfunddreißigsten Polizeidistrikts an den North Broad und Champlost Streets am Telefon. »George Amay, Mort«, sagte Amay. »Ich schaltete mich auf einen Funkspruch vom Fünfunddreißigsten Distrikt ein. Nackte Lady auf dem Forbidden Drive. Es ist wenigstens versuchte Vergewaltigung, Kidnapping et cetera et cetera.« »Wo sind Sie?« »In einer Telefonzelle an der Northwestern. Das Opfer ist ins Chestnut Hill Hospital gebracht worden. Der Lieutenant und Sergeant vom Fünfunddreißigsten Distrikt sind am Tatort. Und die Highway Patrol. Und ‘ne Menge anderer Leute.« »Kehren Sie zum Tatort zurück und versuchen Sie zu verhindern, daß die Highway Patrol Spuren und Beweismaterial zerstört«, sagte Shapiro. »Ich schicke jemanden rüber.« Dann zog Detective Shapiro das ›Dienstrad‹ zu Rate, das in Wirk lichkeit ein Blatt Papier war, auf dem er die Nachnamen aller Krimi nalbeamter geschrieben hatte, die in dieser Nacht bei der Kripo Nordwest Dienst hatten. Die Zuteilung von Ermittlungen – genannt Jobs – an die Kriminal beamten fand auf Rotationsbasis statt. Wenn ein Job anfiel, erhielt ihn der Beamte, dessen Name als nächster auf der Liste stand. Wenn ein Beamter einen Job erhalten hatte, wurde ihm kein anderer zuge teilt, bis alle anderen Kriminalbeamten der Abteilung einen Fall über nommen hatten. Erst dann wurde sein Name wieder an die Spitze der
Liste gesetzt. Der nächste Name auf der Liste war der des Beamten, den Mort Shapiro insgeheim ›Harry der Furzer‹ nannte. Abgesehen von seinen erstaunlichen Blähungen war Harry ein netter, junger Kerl, aber nicht der Gescheiteste. Was Amay soeben gemeldet hatte, war kein Job, den man einem wie Harry dem Furzer zuteilen sollte, wenn man Hoffnung hatte, den Täter zu schnappen. Der Name unter Harry dem Furzer war der von Richard B. ›Dick‹ Hemmings, der nach Mort Shapiros Einschätzung ein hervorragender Cop war. Shapiro zog die Schreibtischlade auf und nahm die Meldung eines wiederaufgefundenen, gestohlenen Autos heraus, die vor ein paar Stunden eingetroffen und von Shapiro ›vergessen‹ worden war. Wenn ein gestohlenes Fahrzeug aufgespürt, oder – wie in diesem Fall – verlassen gefunden wird, erhält ein Kriminalbeamter den Auf trag, am Fundort alles Beweismaterial zu sichern, das bei der Straf verfolgung des Diebes helfen kann, vorausgesetzt, daß der Täter oder die Täterin gefaßt werden kann. Da nur sehr wenige Autodieb stähle jemals aufgeklärt werden, ist die Ermittlung im Fall eines wie deraufgefundenen Kraftfahrzeugs eine dieser zeitraubenden, mei stens zwecklosen Aufgaben, die eine Belastung für die dünne Perso naldecke darstellen. Mit anderen Worten, es war genau der richtige Job für Harry den Furzer. »Harry!« rief Mort Shapiro, und Harry der Furzer, ein ziemlich beleibter Mann Anfang dreißig, auf dessen Hemd dunkle Schweißflecken waren, kam zu Shapiros Schreibtisch. »O Gott«, sagte Harry der Furzer, als er seinen Job sah. »Schon wieder so was?« Shapiro lächelte mitfühlend. »Scheiße!« sagte Harry der Furzer, ließ einen fahren und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Als Harry der Furzer nach Shapiros An sicht genügend abgelenkt war, erhob sich Shapiro und ging zu dem Schreibtisch, an dem Detective Hemmings saß und auf einer alten, manuellen Schreibmaschine einen Bericht tippte. Er legte Hemmings eine Hand auf die Schulter und forderte ihn mit einem Nicken auf, ihm zum Kaffeeautomaten zu folgen. »Amay hat soeben angerufen«, sagte Shapiro, als er mit Hem mings in dem kleinen Alkoven war, in dem der Kaffeeautomat stand. »Wir haben wieder eine Vergewaltigung, wie es aussieht, auf dem Forbidden Drive bei der Bell’s Mill-Brücke über den Wissahickon.« Hemmings, ein adretter, schlanker Fünfunddreißigjähriger mit schütterem Haar, spitzte die Lippen und hob die Augenbrauen. »Amay sagte, daß er etwas Hilfe bei der Absicherung des Tatorts
gebrauchen kann«, sagte Shapiro. »Ich habe Harry soeben die Er mittlungen im Fall eines wiederaufgetauchten, als gestohlen gemel deten Kfz übertragen.« Hemmings nickte verstehend. Er durchquerte den Raum und ging zu einer Reihe Aktenschränke in der Nähe von Shapiros Schreibtisch. Er zog eine Schublade auf und nahm seinen Revolver und das Wa denholster heraus. Er kniete sich hin und schnallte das Holster um die rechte Wade. Danach ging er zu Shapiros Schreibtisch, zog die mittlere Schublade auf und nahm den Schlüssel zu einem der neutra len Wagen heraus. Dann ging er. Shapiro bemerkte ärgerlich, jedoch nicht überrascht, daß Harry der Furzer immer noch an seinem Schreibtisch herumgammelte, anstatt sich auf den Weg zu machen. Er ging ins Büro des Lieutenants, das jetzt vom Schichtleiter, Lieutenant Teddy Spanner, belegt war. »Amay meldete versuchte Vergewaltigung, Kidnapping et cetera«, sagte Shapiro. »Sieht aus, als ob dieser Dreckskerl wieder zuge schlagen hat. Ich habe Hemmings den Fall gegeben.« »Wo ist das passiert?« fragte Spanner. »Forbidden Drive, bei der Brücke über den Wissahickon.« »Wer ist als nächster mit einem Job dran?« fragte Spanner. »Edgar und Amay«, sagte Shapiro. »Was macht Harry Peel?« erkundigte sich Spanner. »Ich setzte ihn auf die Ermittlungen in einem Kfz-Diebstahl an«, antwortete Shapiro. Ihre Blicke trafen sich. »Nun, wenn Edgar als nächster dran ist, schicken Sie ihn zur Un terstützung rüber. Er soll Amay sagen, daß er an dem Fall dran bleiben soll. Oder ich sage es ihm selbst. Ihr fahre selbst dorthin.« »Jawohl, Sir«, sagte Mort Shapiro und kehrte zu seinem Schreib tisch zurück.
Officer Bill Dohner schaltete auf der Fahrt zur Notaufnahme des Chestnut Hill Hospital weder Rotlicht noch Sirene ein. Zum einen war es nicht weit, und es war nicht viel Verkehr. Zum anderen – noch wichtiger – sagte er sich, daß die junge Frau schon aufgeregt genug war und er ihr Trauma nicht mit Rotlicht und Sirene vergrößern sollte. »Bleiben Sie einfach sitzen, Miss«, sagte Dohner. »Ich rufe jeman den der uns hilft.« Er stieg aus dem Wagen und ging schnell in die Notaufnahme. Eine Schwester in mittleren Jahren stand bei der Tür des Schwe sternzimmers.
»Ich habe draußen eine Frau, die überfallen wurde«, sagte Dohner. »Sie hat nur eine Wolldecke an.« Die Schwester gab keine Antwort, aber sie legte sofort das Klemmbrett ab, das sie in den Händen gehalten hatte, und ging schnell zu einer Kabine, vor der ein Vorhang hing. Sie schob den Vorhang zur Seite und zog eine Liege auf Rädern heraus. Sie schob die Liege zur Tür. Als sie dort war, folgten ihr eine dicke, rothaarige Krankenschwester und ein dünner, fast zerbrechlich wirkender Schwarzer mit weißer Arztjacke. »Haben Sie irgendwelche Verletzungen gesehen?« fragte der Arzt Dohner. Dohner schüttelte den Kopf. »Nein.« Die rothaarige Krankenschwester, die sich für ihre Massen erstaun lich schnell bewegte, war vor allen anderen am Streifenwagen. Sie öffnete die Tür. »Können Sie ohne Hilfe aussteigen?« fragte sie. Mary Elizabeth Flannery starrte sie an, als hätte sie Türkisch ge sprochen. Die rothaarige Krankenschwester neigte sich in den Wagen, zog Mary Elizabeth Flannery heraus und bettete sie behutsam auf die Liege. Sie breitete ein weißes Laken über ihr aus und zog dann mit einigen Schwierigkeiten Dohners Decke unter dem Laken hervor. »Es wird alles wieder in Ordnung kommen, meine Liebe«, sagte die Krankenschwester. Dohner nahm die Decke entgegen. Der Arzt neigte sich über Mary Elizabeth Flannery, als die Krankenschwester die Liege in die Not aufnahme rollte. Dohner faltete die Wolldecke und legte sie in den Wagen vor den Beifahrersitz. Dann nahm er das Mikrofon aus der Halterung. »Vierzehn-dreiundzwanzig. Ich bin mit dem Opfer im Chestnut Hill Hospital.« »Vierzehn-dreiundzwanzig, ein Detective wird Sie dort treffen.« »Vierzehn-dreiundzwanzig, verstanden«, sagte Dohner. Er schob das Mikro in die Halterung und ging in die Notaufnahme. Keiner der Leute, die Mary Elizabeth Flannery aus seinem Wagen geholt hatten, war in Sicht, aber er hörte Geräusche und nahm Be wegung hinter dem Vorhang der Kabine wahr, aus der die Schwester die Liege geholt hatte. Dohner setzte sich auf einen Stuhl aus Chrom und Plastik und wartete auf das Eintreffen des Kriminalbeamten oder das Ende der Untersuchung des Opfers. Die dicke, rothaarige Krankenschwester verließ die Kabine, kramte in einem Schrank und fluchte leise, als sie nicht fand, was sie suchte.
Dann verschwand sie wieder hinter dem Vorhang. Die andere Schwester kam heraus, fluchte leise und ging zum Telefon. Dann entdeckte sie einen jungen Mann. »Gehen Sie ins Lager, und besorgen Sie einen Satz Johnson für Vergewaltigung«, wies sie ihn an. »Holen Sie gleich ein halbes Dut zend, damit wir Vorrat haben.« Sie blickte zu Dohner. »Sie ist nicht verletzt«, sagte sie. »Keine Schnitte oder so.« »Ich hätte gern ihre Personalien«, sagte Dohner. »Das muß warten«, erwiderte die Schwester. Ein paar Minuten später kehrte der junge Mann mit einem Armvoll kleiner Packungen über den gebohnerten Gang zurück. Er ging in die Kabine, gab jemandem eine der Packungen und legte die anderen in den Schrank. Officer Dohner wußte, was ein Satz ›Johnson Vergewaltigung‹ war und wie er benutzt wurde, und eine Mischung aus Zorn und aus Mit leid mit Mary Elizabeth Flannery stieg in ihm auf. Sie wirkte auf ihn wie eine nette junge Frau, und sie würde jetzt eine Erfahrung ma chen, die für sie fast so schockierend und widerlich war wie das, was ihr der Dreckskerl bereits angetan hatte. Der Satz ›Johnson Vergewaltigung‹ enthielt eine Reihe steriler Fläschchen und Tupfer und Spatel. Mary Elizabeth Flannery wurde Blut entnommen. Tests auf Geschlechtskrankheiten und Schwanger schaft würden gemacht werden. Aus Rachen, Vagina und After wur den Abstriche gemacht, um festzustellen, ob es Samen, fremder Speichel, Urin oder Blut darin gab. Es war eine unangenehme und erniedrigende Prozedur, aber sie war nötig für eine erfolgreiche Anklage des Hurensohns, der ihr das angetan hatte – vorausgesetzt, sie konnten ihn schnappen. Die ›Beweiskette‹ würde sorgfältig aufbewahrt werden. Der Stell vertretende District Attorney, der Anklage erhob, wiederum vorausge setzt, daß die Polizei den Vergewaltiger fassen konnte, mußte vor dem Gericht beweisen, daß sich die Ergebnisse der Untersuchung von Mary Elizabeth Flannerys Körperöffnungen in Polizeigewahrsam befunden hatten, von dem Moment an, an dem der Arzt die Untersu chungsergebnisse Dohner aushändigte (oder einem Kriminalbeam ten, wenn einer auftauchte, bis der Arzt die Tests beendet hatte), bis zur Vorlage als Beweismaterial in einem Gerichtssaal. Detective Dick Hemmings traf in der Notaufnahme des Chestnut Hill Hospital zwanzig Minuten nach Officer Bill Dohners Ankunft ein. Er fand Dohner, der auf dem Stuhl saß und ein Formular 75-48 aus füllte, den ersten Ermittlungsbericht. Es ist eine Kurzform, in der nur
festgehalten wird, was sich ereignet hat. Dohner nickte Hemmings zu, der sich zu ihm setzte und wartete, bis er fertig war. Dohner überreichte ihm das Formular 75-48. Gut lesbar hatte er geschrieben: »Opfer sagte aus, weiße männliche Per son brach in ihr Apartment ein, zwang sie zu oralem Sex, urinierte auf sie, fesselte sie, zwang sie in einen Transporter und setzte sie bei Bell’s Mill Road u. Forbidden Drive aus.« »Mein Gott«, sagte Hemmings. »Wo ist sie?« »Da drinnen mit dem Arzt«, sagte Dohner und nickte zu dem Vor hang hin. »Verletzt?« »Nein.« Dohner griff in die Tasche und holte die Leitungsschnur hervor, die er von Mary Elizabeths Handgelenken geschnitten hatte. »Damit hat er sie gefesselt.« Hemmings sah, daß Dohner die Schnur nicht entknotet hatte. »Gut gemacht«, sagte er. »Stellen Sie sicher, daß der Knoten nicht angerührt wird. Geben Sie mir ein paar Minuten, um herauszufinden, was wir haben, und dann bringe ich die Schnur zur Kripo Nordwest und lasse mir eine Empfangsbestätigung geben.« Dohner nickte. Er hielt einen Plastikbeutel auf und verstaute die Leitungsschnur darin. »Den gab mir eine der Schwestern«, sagte er. Die Empfangsbestätigung – Formular 75-3 des Philadelphia Police Department – wird benutzt, um die ›Beweiskette‹ zu wahren. Wie bei den Proben der Untersuchungen von Mary Elizabeth Flannerys Kör per würde der Stellvertretende District Attorney vor Gericht beweisen müssen, daß die Leitungsschnur, mit der das Opfer gefesselt worden war, immer in Gewahrsam der Polizei gewesen war, seit Dohner sie von den Handgelenken des Opfers entfernt hatte; die Beweiskette durfte nicht unterbrochen werden. Empfangsbestätigungen sind fort laufend numeriert. Ein Beamter, der eine haben will, muß dafür unter schreiben, und es ist strikt vorgeschrieben, daß die Eintragung auf dem Formular entweder mit Schreibmaschine oder mit Tinte in Druckschrift geschrieben sein muß. Folglich wird das Beweismaterial fast stets behalten, bis der Beamte eine Schreibmaschine finden kann, um das Formular auszufüllen. »Hat sich etwas auf dem Forbidden Drive getan?« fragte Dohner. »Das mobile Labor traf dort ein, als ich dort war«, sagte Hem mings. »Niemand hat sich sehen lassen, der wie der Täter aussieht. Wie lange hatte er sie dort?« »Ich brachte nicht viel aus ihr heraus«, sagte Dohner. »Nur ihren
Namen und was der Kerl ihr antat. Sie war ziemlich erschüttert.« Hemmings beendete das Ausfüllen eines Formulars, mit dem er den Erhalt eines Stücks Leitungsschnur bestätigte, mit dem Mary Elizabeth Flannery gefesselt worden war. Er unterschrieb und gab Dohner das Original, der ihm daraufhin die Schnur überreichte. »Sie können fahren, Bill«, sagte Hemmings. »Ich übernehme von jetzt an.« »Ich hoffe, Sie schnappen ihn«, sagte Dohner, stand auf und reich te Hemmings die Hand. Dann ging er hinaus, stieg in den Wagen und teilte der Funk zentrale mit, daß 1423 wieder im Streifendienst war.
Mary Elizabeth Flannery schaute den Fremden, der die Kabine be treten hatte, verängstigt an. »Miss Flannery, mein Name ist Dick Hemmings, und ich bin Krimi nalbeamter. Wie geht es Ihnen?« Sie gab keine Antwort. »Möchten Sie irgend jemanden anrufen? Ihre Eltern vielleicht? Ei nen Freund?« »Nein!« sagte Mary Elizabeth Flannery heftig, als entsetze sie der Gedanke. »Ich weiß, was Sie durchgemacht haben«, sagte Hemmings. »Nein, das wissen Sie nicht!« »Aber je eher wir etwas über den Mann erfahren, der Ihnen das an tat, desto besser«, fuhr Hemmings freundlich fort. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Sie musterte ihn mißtrauisch, sagte jedoch nichts. »Als erstes brauche ich Ihre Adresse«, sagte Hemmings. »Henry Avenue 210«, sagte sie. »Apartment C. Man nennt den Block Fernwood.« »Das ist in der Gartenstadt?« fragte Hemmings, und er sah vor seinem geistigen Auge das Gebiet von Roxborough. »Ja«, sagte sie. »Wie ist der Mann Ihrer Ansicht nach in das Apartment gelangt?« fragte Hemmings. »Woher soll ich das wissen?« erwiderte sie heftig. »Gibt es dort eine Feuertreppe? Waren Fenster offen?« »Es gibt eine Hintertür«, sagte sie. »Zu kleinen Terrassen.« »Sie wohnen im Erdgeschoß?« »Ja.« »Haben Sie irgendwelche Geräusche gehört, das Klirren von Glas,
das Aufbrechen einer Tür?« »Die Fenster waren offen«, sagte sie. »Es war heiß.« Sie hält mich für blöde, aber sie redet wenigstens, dachte Hem mings. »Wann bemerkten Sie zum erstenmal, daß dieser Mann in Ihrer Wohnung war?« »Als ich ihn sah!« »Wo waren Sie und was taten Sie, als Sie ihn zum erstenmal sa hen?« »Ich war im Wohnzimmer vor dem Femseher.« »Und wo war er, als Sie ihn zum erstenmal sahen?« »Er stand einfach da, auf der Türschwelle zu meinem Schlaf zimmer.« Sie verzog das Gesicht. »Können Sie ihn beschreiben?« »Nein.« »Überhaupt nicht?« »Er trug einen schwarzen Overall oder Coverall, wie immer man das nennt, und eine Maske. Das war alles, was ich sehen konnte.« »Was für eine Maske?« »Eine Maske. Über den Augen.« »Ich meine, welche Farbe hatte die Maske? Haben Sie das be merkt?« »Es war eine Lone-Ranger-Maske«, sagte sie. »Die Art mit einem Tuch über dem Mund.« »Schwarz?« »Ja, schwarz.« Der Lone Ranger, dachte Hemmings, trug eine Maske, die nur die Augenpartie bedeckte und kein Tuch über dem Mund hatte. »Hatte er irgend etwas bei sich?« »Er hatte ein Messer«, sagte sie in ungeduldigem Tonfall, als wür de sie erwarten, daß Hemmings all diese Einzelheiten bereits wußte. »Was für ein Messer?« »Ein Fleischermesser.« »War es Ihr Messer?« »Nein, es war nicht mein Messer.« »Erinnern Sie sich, ob das Fenster in Ihrem Schlafzimmer geöffnet war?« fragte Hemmings. »Ich sagte schon, daß die Fenster geöffnet waren. Es war heiß.« »Wie groß war das Messer?« Hemmings hielt beide Zeigefinger hoch und vergrößerte langsam den Abstand dazwischen. »So groß«, sagte Mary Elizabeth Flannery, als sie fand, daß er die richtige Größe anzeigte.
»Und es war ein Fleischermesser?« »Das sagte ich Ihnen.« »Ich meine, es kann kein Jagdmesser oder Bajonett oder irgendei ne andere Art Messer gewesen sein?« »Ich weiß, wie ein Fleischermesser aussieht.« »Miss Flannery, ich bin auf Ihrer Seite.« »Warum lassen Sie dann solche Leute frei herumlaufen?« fragte sie herausfordernd. »Wir versuchen, das nicht zu tun«, sagte Hemmings ernst. »Wir versuchen, sie zu schnappen und dann dafür zu sorgen, daß sie hin ter Gitter verschwinden. Aber wir brauchen Hilfe, um sie zu schnap pen.« Mary Elizabeth Flannery schwieg. »Was geschah dann, Miss Flannery?« fragte Hemmings freundlich. »Ich sagte schon dem Cop, was der dreckige Bastard mir angetan hat.« »Aber ich muß es wissen, und leider in einigen Einzelheiten«, sag te Hemmings. »Er bedrohte mich mit dem Messer und zwang mich – o Gott!« »Können Sie mir sagen, was genau er sagte?« Sie schnaubte. »Sie wollen wissen, was genau er sagte? Ich sage Ihnen, was er sagte, er sagte ›Sehr schön‹, das sagte er.« »Was für eine Stimme hatte er?« »Wie meinen Sie das, was für eine Stimme?« »War sie tief oder hoch? Sprach er mit irgendeinem Akzent?« »Er hatte eine normale Stimme. Ohne Akzent.« »Und was geschah dann?« »Dann – dann kam er zu mir und schnitt meine Kleidung auf.« »Wo saßen Sie? In einem Sessel? Oder auf der Couch?« »Ich lag auf meiner Couch.« »Was von Ihrer Kleidung schnitt er auf? Was trugen Sie?« Sie errötete und wandte das Gesicht ab. »O Gott!« sagte sie. »Miss Flannery«, sagte Hemmings. »Manchmal, wenn es so heiß ist und meine Klimaanlage nicht funktioniert und keiner mich sehen kann, dann setze ich mich in Unterwäsche vor den Fernseher. War es so bei Ihnen?« Sie nickte, hielt das Gesicht jedoch immer noch von ihm abge wandt. »Trugen Sie BH und Höschen, weil es so verdammt heiß war?« »Nur mein Höschen«, sagte sie schwach nach einer Weile, und dann brauste sie auf: »Das hört sich an, als geben Sie mir die
Schuld!« »Nein, das tue ich nicht, Miss Flannery«, sagte Hemmings ein dringlich. Er hätte vielleicht bei ihr eingebrochen, wenn sie einen knö chellangen Pelzmantel angehabt hätte. Aber als er sie nur mit einem Höschen durchs Fenster sah, hat ihn das nicht gerade abgeschreckt, dachte Hemmings. Und er schämte sich sofort. »Sie sagten, er schnitt Ihre Kleidung auf. Sie meinen das Hös chen?« »Er kam zu mir, schob das Messer unter mein Höschen und schlitzte es auf.« »Sagte er etwas? Oder sagten Sie etwas?« »Ich wollte schreien, als ich ihn zum erstenmal sah, aber ich konn te es nicht«, sagte sie. »Und als er dann das Messer benutzte, hatte ich zu große Angst.« »Sagte er etwas?« »Er sagte ›Laß den Rest sehen‹«, antwortete sie schwach. »Was tat er zu diesem Zeitpunkt mit dem Messer?« fragte Hem mings sanft. »O Gott. Ist das nötig!« »Ja, Ma’am, leider.« »Er drückte mir die Messerspitze gegen die Brust.« Sie drehte den Kopf, sah ihn kurz an und wandte das Gesicht schnell wieder ab. »Dann sagte er ›Zieh den Slip aus‹, und ich tat es«, sagte sie leise. »Und dann brachte er mich ins Schlafzimmer, und ich mußte mich aufs Bett legen, und er fesselte mich an das Bett…« »Was benutzte er, um Sie ans Bett zu fesseln?« »Meine Strumpfhose. Er nahm eine Strumpfhose aus meinem Schrank und fesselte mich ans Bett.« »Ans Bett?« »Ans Bett. Ich habe ein Bett mit Messingpfosten, und er band mich am Kopf- und am Fußende daran fest.« »Auf dem Rücken oder auf dem Bauch?« »Auf dem Rücken«, sagte sie. »Und was geschah dann?« »Dann begann er dreckig zu reden.« »Erinnern Sie sich, was er sagte?« »Was meinen Sie denn?« fuhr sie ihn an. »Können Sie mir seine genauen Worte sagen?« fragte Hemmings. »O Gott! Er benutzte Wörter wie ›Titten‹ und ›Fotze‹ und so.« »Sonst noch etwas?« »Reicht das nicht? Oder meinen Sie, ob er mir sonst noch etwas
antat?« »Alles und jedes, was Sie wissen. Miss Flannery, kann uns viel leicht helfen…« »Dann zog er seinen Overall aus…« »Lassen Sie uns diesen Punkt klären«, unterbrach Hemmings. »Overalls werden zum Beispiel von Farmern getragen, wenn Sie mir folgen können. Sie haben Träger über den Schultern und vorne eine Art Latz. Coveralls werden zum Beispiel von Mechanikern getragen. Sie bedecken den ganzen Körper; sie haben Ärmel. Was von beiden trug er?« »Coverall«, sagte sie. »Er trug einen schwarzen Coverall.« »Schwarz oder vielleicht dunkelblau?« »Schwarz«, sagte sie überzeugt. »Manchmal wird den Leuten der Coverall von ihrer Firma gestellt«, sagte Hemmings. »Und die Coveralls sind bestickt oder haben einen Aufnäher. ›Joe’s Garage‹ oder so was. Oder ein Name ist darauf ge stickt. Haben Sie irgend so etwas bemerkt?« »Nein«, sagte sie entschieden. »Als er den Coverall auszog, haben Sie da seine Unterwäsche ge sehen?« »Als ich sah, was er tat, schloß ich die Augen.« »Und?« »Und ich betete das Ave-Maria«, sagte sie. »Und was geschah dann?« »Er hatte kein Unterhemd an«, sagte sie. »Soviel sah ich. Seine Brust war nackt. Er war behaart. Sehr stark behaart.« »Und was geschah?« »Ich spürte, daß er sich auf dem Bett niederließ, und als ich die Augen öffnete, war er über mir.« »Er lag auf Ihnen?« »Nein! Er kniete, hockte über mir, über meinem Kopf. Und er war ganz nackt.« »Und was tat er?« »Er befahl mir, ihn zu lecken«, sagte sie bitter. »Er meinte seinen Penis?« »Was meinen Sie denn?« »Hatte er eine Erektion?« »Nein«, sagte sie. »Nein. Er sagte ›lutsch ihn und blas ihn mir hart‹.« »Und er steckte den Penis in Ihren Mund?« »Er hielt mir das Messer an die Kehle!« »Und er zwang seinen Penis in Ihren Mund?«
»Ja, verdammt noch mal, ja!« »Und ejakulierte er?« »Was? Oh. Nein, Gott sei Dank nicht.« »Was machte er?« »Nach einer Weile zog er ihn raus, setzte sich zurück auf die Hak ken und – spielte an sich herum.« »Ejakulierte er dann?« »Alles über mich, über mein Gesicht, meinen Mund, meine Brü ste…« »Sie sagten, er war stark behaart. Haben sie sonst noch etwas bemerkt? Hatte er Narben? Muttermale? Tätowierungen? Irgend et was in dieser Art?« »Ich versuchte, ihn nicht anzuschauen.« »Sie hatten die Augen die ganze Zeit geschlossen?« »Er stieß mich mit dem Messer an und zwang mich, sie zu öffnen«, sagte sie. »Er verlangte, daß ich zuschaue.« »Und nachdem er masturbiert hatte, was tat er dann?« »Er hockte eine Weile auf meinen Beinen, und dann stand er auf und zog seinen Overall – Coverall an.« »Ging er zur Toilette?« »Ich war seine Toilette«, antwortete sie in einer Mischung aus Grauen und Zorn. »Er stieg von mir, stellte sich neben das Bett und – pißte auf mich.« »Er stand neben dem Bett und urinierte auf Sie, bevor oder nach dem er seinen Coverall anzog?« »Bevor«, sagte sie. »Und sie sahen keine besonderen Merkmale auf seinem Körper?« »Nein, ich sah keine, das sagte ich doch schon.« »Und was geschah dann?« »Er schnitt mich los, und ich mußte mich auf den Bauch wälzen. Und dann fesselte er mich wieder.« »Als Officer Dohner Sie fand, Miss Flannery, waren die Hände mit einer Leitungsschnur gefesselt. Erinnern Sie sich, woher er die nahm?« »Nein.« »Er schnitt die Strumpfhose durch, mit der Sie ans Bett gefesselt waren, ist das richtig? Er band Sie nicht los?« »Er versuchte es«, sagte sie. »Und als es ihm nicht gelang, wurde er wütend. Er wurde sogar noch zorniger, als er keine andere Strumpfhose fand. Er zog die Schrankschublade ganz heraus und warf sie auf den Boden.« »Und was tat er, nachdem er Ihnen die Hände auf den Rücken ge
fesselt hatte?« »Er sagte: ›Wir machen eine kleine Spazierfahrt, damit jeder…‹« »Was?« »Mich so sehen kann.« »Waren das mehr oder weniger die genauen Worte?« »Er sagte, er will, daß jeder – meine – Geschlechtsteile sieht. Und sieht, daß er mich bespritzt hat.« »Und dann?« »Er fand meinen Regenmantel…« »Wo war der?« »Im Gaderobenschrank in der Diele«, sagte sie. »Er befahl mir, aufzustehen, und legte mir den Regenmantel um die Schultern. Und er sagte, wenn ich versuche zu flüchten, würde er mir – das Messer – zwischen die Beine stoßen.« »Und dann?« »Er brachte mich durch die Hintertür hinaus und stieß mich in den Transporter.« »Erzählen Sie mir von dem Transporter«, sagte Hemmings. »Wo stand er?« »Auf dem Parkplatz hinter meinem Apartment.« Hemmings versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie so ein Park platz in dem Komplex der Gartenstadt aussah. »Was für ein Fabrikat war der Transporter?« »Ein kleiner Transporter«, sagte sie ungeduldig. »Wo mußten Sie einsteigen?« »Hinten.« »War da vielleicht eine Tür an der Seite, eine Schiebetür?« »Ja, da war eine Schiebetür. Er öffnete sie, und ich mußte ein steigen und mich mit dem Gesicht nach unten hinlegen.« »Sahen Sie etwas in dem Transporter? Ich meine, war die Ladeflä che leer, oder gab es Sitze oder Polster? Lag vielleicht ein Teppich auf dem Boden?« »Nein. Der Boden war aus Metall. Und es war nichts darauf.« »Wirkte der Wagen auf Sie neu oder alt? Hatte er vielleicht Beulen oder Kratzer? Hatte er einen besonderen Geruch? Irgend etwas in dieser Art?« »Es war dunkel, und ich lag mit dem Gesicht nach unten auf der Ladefläche und konnte nichts sehen«, sagte sie. »Und was geschah dann?« »Er stieg ein und startete, und ich nehme an, er fuhr mich auf ge radem Weg dorthin, wo er mich aussetzte und wo mich der Cop fand.«
»Passierte etwas, während Sie in dem Transporter lagen? Hörten Sie vielleicht etwas, das Ihnen in Erinnerung geblieben ist?« »Ich dachte, er würde mich töten«, sagte sie. »Ich betete.« »Sagen Sie mir, was passierte, als sie auf den Forbidden Drive ge langten«, sagte Hemmings. »Ich wußte, daß wir die Straße verlassen hatten«, sagte sie. »Eine normale Straße, meine ich. Die Fahrgeräusche klangen anders auf der unbefestigten Straße.« Diese Antwort enttäuschte Dick Hemmings ein wenig; wenn sie das bemerkt hatte, dann war es unwahrscheinlich, daß ihr etwas anderes Ungewöhnliches entgangen war. Folglich war nichts Interessantes auf der Fahrt passiert. »Und?« »Und dann stoppte er, und ich hörte, daß er die Tür öffnete, und dann befahl er mir auszusteigen. Er sagte, ich sollte von ihm wegge hen, und wenn ich mich umschaute, würde er mich töten.« »Und er trug immer noch seine Maske?« »Ja.« »Und dann?« »Er nahm mir den Regenmantel ab, gab mir einen Stoß, und ich ging. Und dann hörte ich ihn fortfahren.« »Wußten Sie, wo Sie waren?« »Ich nahm an, daß ich im Park war«, sagte sie. »Wir waren nicht sehr weit gefahren. Aber ich hatte keine Ahnung, wo im Park.« »Kam irgend jemand vorbei, bevor Officer Dohner eintraf?« »Nein. Ich sah Lichter, Scheinwerfer und ging in diese Richtung.« »Ich werde bestimmt noch einmal mit Ihnen reden, Miss Flannery«, sagte Hemmings. »Aber das reicht für den Anfang. Ich danke Ihnen für Ihre offenen Antworten.« »Ich hoffe, er läuft weg, wenn Sie ihn schnappen, damit Sie den Hurensohn erschießen können!« sagte sie. »Vielleicht haben wir das Glück«, sagte Hemmings. Das hätte ich nicht sagen sollen, dachte er sofort. »Was geschieht jetzt mit mir?« fragte Mary Elizabeth Flannery. »Nun ich nehme an, das entscheidet der Arzt«, sagte Hemmings. »Er wird Sie vielleicht die Nacht über hierbehalten wollen.« »Ich will nicht hierbleiben«, sagte sie ärgerlich. »Ich will nach Hau se.« »Nun, die Entscheidung liegt vermutlich bei Ihnen…« »Wie komme ich nach Hause? Ich habe keine Kleidung. Und mei ne Handtasche…« »Wenn Sie möchten, Miss Flannery«, sagte Hemmings, »fahre ich
zu Ihrer Wohnung. Ich könnte Ihnen Kleidung holen, und wenn Sie das mit dem Arzt geklärt haben, werde ich Sie gern nach Hause fah ren. Aber wenn Sie meinen Rat hören möchten, ich würde an Ihrer Stelle hierbleiben oder wenigstens bei Ihren Eltern oder einem Freund oder einer Freundin übernachten…« ›»Hallo, Daddy, rate mal, was mir passiert ist?‹« »Ich bin überzeugt, daß Ihr Vater Verständnis haben würde«, sagte Hemmings. Sie schnaubte. »Mein Vater würde sagen: ›Ich habe dich gewarnt, daß so etwas passiert, wenn du dir eine eigene Wohnung nimmst.‹« »Wie ist es mit Freunden?« »Ich will keine Fragen mehr beantworten müssen«, sagte sie. »Nun, ich werde Ihnen Kleidung besorgen und sie herbringen«, sagte Hemmings. »Und inzwischen können Sie noch einmal darüber nachdenken, wo Sie übernachten.«
3
Als Mickey O’Hara das Bellevue Stratford Hotel verließ, wurde der Fahrer eines Buick Super ein paar Meilen nördlich, ungefähr eine Meile südlich der Stadtgrenze, von einem Stau in Richtung Innenstadt überrascht. Er bremste scharf, und die Schnauze des Buick wippte auf und ab, als der Wagen mit quietschenden Reifen stoppte. Der Fahrer des Mercury vor ihm schaute erst alarmiert und dann ärgerlich zurück. Ich war vermutlich ein bißchen zu schnell, dachte der Fahrer des Buick. Ich muß aufpassen. Sein Name war David James Pekach, und er war zweiunddreißig. Pekach war nur einssechzig groß, und er wog einhundertdreiundfünf zig Pfund. Er war glattrasiert, hatte jedoch langes Haar, das in der Mitte gescheitelt und im Nacken mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Er trug ein weißes Hemd mit Krawatte. Das Hemd war verknittert und hatte Schweißflecke. Das Jackett seines Leinenanzugs lag auf dem Beifahrersitz. Der Buick Super war noch nicht ganz drei Jahre alt, hatte jedoch bereits über hunderttausend Kilometer auf dem Tacho. Die Stoß dämpfer mußten erneuert werden, und auch die Bremsleistung ließ sehr zu wünschen übrig. Das Schaumgummikissen unter David Ja mes Pekachs Hintern war seit langem verschlissen, und die rechte
Hintertür konnte man nur öffnen, indem man ihr einen Tritt versetzte. Aber die Klimaanlage funktionierte noch, und Pekach hatte sie auf vollen Touren gegen die schwüle Wärme und hohe Luftfeuchtigkeit des späten Juniabends ankämpfen lassen. David James Pekach war auf der Heimfahrt von einem Besuch im oberen Bucks County. Sein Cousin Stanley hatte am Morgen um elf Uhr in der römisch-katholischen St. Stanislaus Kirche in Bethlehem geheiratet, und anschließend hatte es einen Empfang im Haus der Braut in der Nähe von Riegelsville am Delaware River gegeben, am nördlichsten Punkt des Bucks County. Es war reichlich Alkohol geflossen, und er hatte mehr getrunken, als gut für ihn war. Er war ein kleiner Mann, jedenfalls im Vergleich zu seinen Brüdern und Cousins, und er konnte ohnehin nicht viel Alkohol vertragen. Es hatte die üblichen Witze wegen seiner Körpergröße und natür lich wegen des Pferdeschwanzes gegeben (»Wißt ihr, was Davie ist? Mit diesem Pferdeschwanz? Ein Hung Low. Der einzige chinesische Polacke der Welt.«) Und jedesmal, wenn er zum Priester geschaut hatte, war er von dem Priester angestarrt worden, der plötzlich ein gezwungenes Lächeln aufgesetzt hatte. Es war nicht ihr Geistlicher, sondern der Priester der Familie der Braut, und er dachte offenbar: »Was hat ein solcher Gammler in der Familie der Pekach zu su chen?« Er sah den Grund für den Stau. Ein Unfall. Vielleicht ein schlimmer, dachte er, denn zwei Streifenwagen stehen bei dem Autowrack. Er hatte der Gegend keine Aufmerksamkeit gewidmet. Jetzt orien tierte er sich, wo er war. Als er bis zu dem Polizisten vorgerückt war, der den Verkehr regel te, signalisierte ihm der Cop, daß er halten sollte.Dave Pekach stopp te und kurbelte die Fensterscheibe herunter. »Sie sind fast auf den Mercury aufgefahren«, sagte der Ver kehrspolizist vorwurfsvoll. An der Art, wie der Cop ihn ansah, erkann te Dave Pekach, daß er wie der Priester keine Männer mochte, die langes, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trugen. »Ich weiß«, sagte Dave Pekach höflich. »Ich hatte nicht auf gepaßt.« »Sie haben getrunken?« Es war eine Anschuldigung, keine Frage. »Ich komme soeben von einer Hochzeit«, gab Pekach zu. »Aber ich bin nicht betrunken.« Der Cop leuchtete mit seiner Taschenlampe in den Buick, ließ Pe kach zwanzig Sekunden lang schwitzen und winkte ihn dann weiter.
Pekach fuhr ein Stück weiter, fluchte und bremste wieder scharf. Erneut quietschten die Reifen, und die Schnauze des Wagens ächzte laut, als sie über den Bordstein wippte. Dann stoppte Pekach auf dem Bürgersteig. Er öffnete die Wagentür, stieg aus und ging auf zwei Männer zu, die bei der Motorhaube eines fünf Jahre alten Ford standen. »He, Buddy!« rief der Cop, der ihn gestoppt hatte. »Was machst du da?« Pekach ignorierte ihn. Der Cop eilte hinter ihm her und erreichte fast gleichzeitig mit Pe kach den alten Ford. Er hörte einen der Männer Pekach grüßen. »He, Captain.« Er war ein stämmiger, rothaariger Ire mit T-Shirt und Jeans. »Sie sehen aber todschick aus!« Der Cop war verlegen. Er hatte gespürt, daß mit dem Wagen etwas nicht ganz in Ordnung war. Das relativ neue Auto war lange nicht mehr gewaschen, geschweige denn poliert worden. Es sah aus, als wäre es sehr strapaziert worden. Das Ausstellfenster an der Fahrer seite hatte ein daumengroßes Loch und Risse. Die Reifen waren größer als die serienmäßigen, wie er jetzt sah. Bis jetzt hatte der Cop nach etwas Falschem gesucht, nach etwas, das ihm einen triftigen Grund gegeben hätte, zu sehen, was der Clown mit dem Pferdeschwanz unter dem Sitz oder im Handschuh fach oder im Kofferraum verborgen hatte. Nun betrachtete er wieder den Wagen und sah, was ihm als Hinweis entgangen war: Auf der Ablage zwischen Rücksitz und Heckscheibe befand sich eine dünne, etwa acht Zoll lange Antenne für Kurzwellenempfang. Der verschrammte, dreckige Buick war ein Polizeiwagen, und der komisch aussehende kleine Typ mit dem Hippie-Pferdeschwanz war Polizeibeamter. Mehr als ein Cop. Einer der Jungs vom Rauschgift dezernat hatte ihn mit ›Captain‹ angesprochen. Und dann fiel es dem Cop wie Schuppen von den Augen. Der klei ne Typ mit dem Pferdeschwanz war Captain David Pekach vom Rauschgiftdezernat des Philadelphia Police Department. Er erinnerte sich jetzt auch, daß Pekach soeben erst zum Captain befördert wor den war. Als Captain wird er sich vermutlich von dem Pferdeschwanz trennen müssen, dachte der Cop. Captains arbeiten nicht als Under cover-Agenten; ebensowenig Lieutenants und nur selten Sergeants. Der Cop erinnerte sich an eine Geschichte, die sich bei der Polizei herumgesprochen hatte. Ein Lieutenant vom Rauschgiftdezernat (of fenbar der jetzige Captain Pekach) war vom Polizeichef persönlich wegen des Pferdeschwanzes zur Schnecke gemacht worden. Pekach hatte ihm die Stirn geboten. Er hatte ihm erklärt, wenn er seine ver
deckten Ermittler, die auf den Straßen arbeiteten, kontrollieren sollte, dann könne er das nur, wenn er von Zeit zu Zeit mit ihnen auf die Straße gehe. Und die Tarnung der zivilen Ermittler des Rauschgiftde zernats, die sich kleideten wie Junkies und Penner, war schnell zum Teufel, wenn man sie mit einem Mann reden sah, der einen ordentli chen Anzug und kurzen gepflegten Haarschnitt hatte. Bei einem Mann mit schmutzigem Sweatshirt und Pferdeschwanz hingegen wurden keine Fragen gestellt. Es hieß, daß der Polizeichef, Commis sioner Czernick, einen Rückzieher gemacht hatte. »Was ist los?« fragte Captain Pekach den rothaarigen Mann vom Rauschgiftdezernat, der Coogan hieß. »Wir mähten das Gras im Wissahickon Park«, sagte der andere Beamte vom Rauschgiftdezernat, ein Lateinamerikaner. Er trug eine ärmellose offene Denim-Jacke, unter der seine nackte, schweißglän zende Brust zu sehen war. Er war klein, sogar noch kleiner als Pe kach. Er hatte so gerade noch die Mindestgröße für Polizeibeamte. »Gras mähen«, war eine witzige Bemerkung. In Parks gibt es Gras. Cannabis sativa, im allgemeinen bekannt als Marihuana, wird auf der Straße als »Gras« bezeichnet. Aber die Festnahme von Kleindealern, die nur geringe Mengen Gras verkauften, zählte nicht zu den Aufga ben von Undercoveragenten des Rauschgiftdezernats. Diese Beam ten wußten das, und sie wußten, daß Captain David Pekach es wuß te. »Und?« fragte Pekach. »Es war ein ruhiger Abend, Captain«, sagte Alexandro GresNarino, der sich sichtlich unbehaglich fühlte. »Abgesehen von der nackten Lady«, warf Tom Coogan ein. »Nackte Lady?« fragte Pekach. »Da lief eine pudelnackt im Fairmont Park herum«, erklärte Tom Coogan. »Jeder Cop nördlich der Market Street fuhr hin.« »Erzählen Sie mir von dieser Sache«, sagte Pekach ungeduldig und wies vage in Richtung Autowrack und Streifenwagen. »Sie wurden beim Kauf von Gras überrascht und flüchteten«, sagte Coogan. »Und wir jagten sie. Und sie gerieten hier von der Straße ab.« »Heiße Verfolgungsjagd, wie?« fragte Pekach trocken. »Wir doch nicht, Captain«, sagte Coogan entrüstet. »Wir gaben über Funk eine Beschreibung des Wagens durch, und eine Streife vom Fünfunddreißigsten Distrikt entdeckte ihn und jagte ihn. Wir fuh ren erst hierhin, nachdem das hier passiert war.« »Und was habt ihr?« fragte Pekach in müdem, angewiderten Ton fall.
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er zu einem der Strei fenwagen des Fünfunddreißigsten Distrikts und schaute durch das halb geöffnete Fenster in den Fond. Auf dem Rücksitz hockten ge drängt vier weiße Halbwüchsige, zwei Jungen und zwei Mädchen, und alle vier schauten ihn verängstigt an. »Jemand verletzt?« fragte Pekach. Vier Köpfe wurden verneinend geschüttelt, aber keiner sagte et was. »Wem gehört der Wagen?« frage Pekach. Er erhielt nicht sofort eine Antwort, aber schließlich sammelte einer der Jungen all seinen Mut und sagte: »Mir.« »Dir? Oder deinem Vater?« fragte Pekach. »Meinem Vater«, sagte der Junge. »Er wird dich lieben«, sagte Pekach und ging zu den Beamten des Rauschgiftdezernats zurück. »Nun, was haben Sie bei ihnen gefunden?« fragte er Officer Coo gan. »Ungefähr anderthalb Unzen«, antwortete Coogan sichtlich verle gen. »Anderthalb Unzen!« sagte Pekach sarkastisch und in gespieltem Staunen. »Nichtbeachten polizeilicher Anweisungen, Geschwindig keitsüberschreitung, rücksichtsloses Fahren«, fuhr Coogan mit sicht lichem Unbehagen fort. »Sie lieben die Arbeit der Verkehrspolizei, Coogan? Säubern die Straßen von rücksichtslosen Fahrern? Die vielleicht eine nackte Lady überfahren?« Officer Coogan gab keine Antwort. Ein Wagen näherte sich mit heulender Sirene. Pekach blickte über die Schulter und sah einen Transporter vom Fünfunddreißigsten Di strikt heranfahren und stoppen. Zwei Polizisten stiegen aus dem Transporter, sprachen mit einem der Cops der Streifenwagen, und dann ging einer von ihnen zum Transporter und öffnete die Hecktür, während der andere mit dem Cop zu dem Streifenwagen ging. Der Streifenbeamte öffnete die hintere Tür des Patrol Cars und forderte die Teenager mit einem Wink auf, auszusteigen. »Moment mal«, rief Pekach. Er ging zu ihnen. Eines der Mädchen, ein attraktives kleines Ding mit langem brau nen, in der Mitte gescheiteltem Haar und großen, dunklen Augen, sah aus, als würde es jeden Augenblick losheulen. »Habt ihr Geld?« fragte Pekach. »Wer sind Sie?« fragte der Cop des Transporters.
»Ich bin Captain Pekach«, sagte Pekach. »Rauschgiftdezernat.« Er schaute das Mädchen an und wiederholte die Frage. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Pekach wies auf den Jungen, der bekannt hatte, daß er sich den Wagen seines Vaters ›ausgeliehen‹ hatte. »Hast du Geld, Casano va?« Der Junge zögerte, bevor er antwortete. »Ja, ich habe etwas Geld.« »Zwanzig Bucks?« fragte Pekach. Der Junge zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche. »Gib es ihr«, sagte Pekach und wies auf das Mädchen mit den großen, dunklen Augen. Dann wandte er sich an den Streifen beamten. »Sie haben die Namen und Adressen?« »Jawohl, Sir.« »Setzen Sie die Mädchen in ein Taxi«, sagte Pekach. Er wandte sich an das Mädchen mit den großen, dunklen Augen. »Eure Freunde wandern in den Knast«, sagte er. »Zuerst in eine Zelle des Reviers und dann ins Zentralgefängnis. Wenn sie raus kommen, fragt sie, wie es war.« Pekach ging zu den Officers Alexandro Gres-Narino und Thomas L. Coogan. »Wenn es Ihnen in Ihren vollen Terminplan paßt, möchte ich einen Moment Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Morgen um 15 Uhr 30 in meinem Büro.« »Jawohl, Sir«, sagten sie fast unisono. Pekach schaute noch einmal zu dem Mädchen mit den großen, dunklen Augen. Tränen rannen über ihre Wangen. »Danke«, sagte sie kaum hörbar. Captain David Pekach ging zu dem verschrammten und ver dreckten Buick, stieg ein und fuhr nach Hause.
Am nächsten Morgen um fünf nach neun parkte Mickey O’Hara abermals seinen verbeulten Chevrolet Impala vor dem Bellevue Strat ford Hotel bei dem Parkverbotsschild. Er machte sich keine Sorge wegen eines Strafzettels. Die Möglichkeit, daß ihm ein Polizeibeamter eine gebührenpflichtige Verwarnung hinter den Scheibenwischer steckte oder den Wagen gar abschleppen ließ, war so gering wie die, daß jemand Bürgermeister Jerry Carlucci gebührenpflichtig verwarnte oder gar seinen Cadillac abschleppen ließ. Es gab vielleicht ein paar Dutzend Polizeibeamte von den ungefähr achttausend, die den verbeulten, mit Antennen geschmückten Che vrolet nicht als den von Mr. Mickey O’Hara vom Philadelphia Bulletin
erkannten. Die anderen, vom Polizeichef bis zum Cop, der gerade erst von der Polizeiakademie gekommen war, würden Mickey O’Hara, wenn er aus seinem im Parkverbot geparkten Auto stieg, fröhlich be grüßen oder ihm die Hand reichen und höchstwahrscheinlich sagen: »He, Mickey, wie geht es? Was läuft?« Es wurde allgemein anerkannt, daß Mickey O’Hara zu jedem Zeit punkt mehr darüber wußte, was auf dem Gebiet interessanter Verbrechen vorging, als der gesamte Stab in der Funkzentrale im zweiten Stock des runden Präsidiums. Ebenso wichtig, Mickey O’Hara wurde allgemein als guter Kerl betrachtet, ein Freund der Cops, der ihre Probleme verstand und die Dinge in die Zeitung brach te, wie sie sich wirklich abgespielt hatten. Mit anderen Worten – Mi ckey O’Hara war daran gewöhnt, Parkverbotsschilder zu ignorieren. Als er jedoch heute aus seinem Wagen stieg, schaute Mickey auf das Schild, las es und spielte einen Moment lang tatsächlich mit dem Gedanken, wieder einzusteigen und irgendwo zu parken, wo es nicht verboten war. Die harte Wahrheit war, daß er im Augenblick kein Po lizeireporter war. Bull konnte es ständig als ›Arbeitsverweigerung‹ bezeichnen, aber Tatsache war, daß Mickey O’Hara ohne Job war. Und wenn man keinen Job hat und niemand einem einen Scheck überreicht, dann ist man folglich arbeitslos. Mickey entschied sich dagegen, woanders zu parken. Das wäre ei nem Eingeständnis der Niederlage gleichgekommen. Er wußte nicht, was man ihm beim Bulletin sagen würde, genauer gesagt, seinem Agenten: ›Lecken Sie uns am Arsch, wir brauchen ihn nicht.‹ Das hielt Mickey unter den gegebenen Umständen für die wahrscheinlich ste Möglichkeit, aber er wußte es nicht mit Sicherheit. Er hatte gehofft, die Sache auf die eine oder andere Art am ver gangenen Abend zu lösen. Aber Bull hatte sich verspätet. Es war verdammt deprimierend gewesen, und Mickey war am Morgen mit einem nur leichten Kater aufgewacht, ziemlich stolz auf sich, weil er nach der letzten Flasche Ortleib’s nicht ausgegangen und sich nicht richtig einen hinter die Binde gekippt hatte. Mickey straffte die Schultern und marschierte resolut auf die Dreh tür zur Halle des Bellevue Stratford zu. Es gibt keinen echten Grund zur Sorge, sagte er sich. Zum einen war er der unbestrittene König seiner Gilde in Philadelphia. Es gab vier Tageszeitungen in der Stadt der brüderlichen Liebe, und wenigstens ein Dutzend Leute, ein schließlich zweier Frauen in jüngster Zeit, die über Verbrechen be richteten. Die beste Berichterstattung über Verbrechen und Polizeiar beit hatte man beim Bulletin, und der beste Reporter vom Bulletin war Michael J. O’Hara, wenn auch die meisten der anderen Reporter, ein
schließlich der beiden weiblichen, Journalismus auf Universitäten wie der Columbia und Missouri studiert hatten. Mickey hatte nicht studiert. Er hatte nicht mal einen High-School-Abschluß. Er hatte als Redakti onsbote begonnen, in den Tagen, in denen Reporter ihre Artikel auf alten Schreibmaschinen tippten, dann hochhielten und den Boten riefen, der das Getippte zum Redakteur brachte. Mickey war von der West Catholic High School geflogen. Die ihm zur Last gelegten Vergehen betrafen berauschende Getränke, Tabak und – nach der festen Überzeugung des Direktors Monsignore John F. Dooley – der unbestrittene Beweis, daß Michael J. O’Hara seinen Mitschülern und den Hausmeistern Miezen vermittelte, und zwar im Auftrag eines gewissen Francisco Guttermo, der eine – wie zu Recht behauptet wurde – der erfolgreichsten Miezen-Vermittlungen im Sü den Phillys betrieb. Monsignore Dooley hatte Mickey etwas über der Sünde Sold leh ren wollen, indem er ihn in Schande aus der Gesellschaft seiner Klassenkameraden verbannte, drei oder vier Wochen, um dann dem Geläuterten die Rückkehr in die akademischen Hallen zu erlauben. Am Tag nach seinem Rausschmiß sah Mickey einen Zettel an der Tür der Philadelphia Daily News, die in jenen Tagen in einem herun tergekommenen Gebäude an der Arch Street in der Nähe des Schuylkill River ihren Sitz hatte. Auf dem Zettel stand nur: REDAKTIONSBOTE GESUCHT. Mickey hatte keine Ahnung, was man von einem Redaktionsboten erwartete, aber in dem Glauben, daß es nicht schlimmer als seine anderen Möglichkeiten war – Lagerjunge in einem Acme Supermarkt oder irgendwo Bürobote, ging er in das Gebäude und bewarb sich im zweiten Stock um die Stelle. James T. ›Spike‹ Dolan, der Lokalredakteur der Daily News, sah in dem jungen Mickey O’Hara eine freundliche Seele und stellte ihn ein. Binnen Stunden erkannte Mickey, daß er seinen Platz im Leben ge funden hatte. Er ging nie wieder zur West Catholic High School, doch viele Jahre später, als er in einer Umkehrung der Rollen von einem Reporter des Philadelphia Magazine interviewt wurde, machte er der West Catholic High School Ehre, besonders durch die drei Jahre La tein, die er dort gehabt hatte, indem er seine Wortgewandtheit be wies. Das Interview fand statt, nachdem Mickey den Pulitzer-Preis für recherchierende Berichterstattung erhalten hatte. Seine Artikelserie hatte sich mit Schikanen im damaligen Verfahren befaßt, bei dem ein Untersuchungsgefangener oder Angeschuldigter und sein Bürge eine schriftliche Verpflichtungserklärung anstelle von Zahlung einer Kauti on abgeben konnten.
Mickey sagte sich jetzt auch, daß er nicht nur der beste Poli zeireporter der Stadt war, sondern daß sein Agent einer der besten Agenten war. Er fühlte sich nicht sehr gut bei diesem Arrangement, denn einiges war falsch daran, und das wußte er. Zeitungsreporter haben keine Agenten. Filmstars und Fernsehgrößen und Sportstars haben Agenten, nicht jedoch ein Zeitungsreporter. Polizeireporter haben keine Verträge für ihre beruflichen Dienste. Polizeireporter werden nach Lust und Laune des Chefredakteurs an gestellt und gefeuert, wenn es dem Lokalredakteur gefällt oder sie dem Lokalredakteur mißfallen. Mickey, der mindestens einmal in sei ner journalistischen Laufbahn von jeder Zeitung in Philadelphia ge feuert worden war, plus Baltimore Sun und Washington Post, wußte das aus Erfahrung. Und Polizeireporter verdienen nicht soviel Geld, wie sein Agent ihm zugesichert hatte. Bull hatte sich sogar bereit er klärt, ihm um zwölf Uhr mittags mitten auf der Market Street den nackten Hintern zu küssen, wenn sich seine Voraussagen nicht erfül len sollten. Casimir ›Bull‹ Bolinski war vor einem Monat in die Stadt gekom men, und Mickey hatte ihn im Warwick Hotel besucht. Mickey und Bull kannten sich lange. Sie waren zusammen in der Saint Stephen’s Konfessionsschule gewesen. Damals hatte er Bull noch ›Casimir‹ und Bull hatte ihn ›Michael‹ genannt. Schwester Mary Magdalene, die Direktorin der Konfessionsschule, hatte etwas gegen Spitznamen. Der Name wurde einem bei der Tau fe gegeben, und weil die Taufe ein Sakrament war, heilig vor Gott, benutzte man diesen Namen und nicht einen, den man sich selbst ausgedacht hat. Schwester Mary Magdalene hatte ihren Schutzbe fohlenen ihre theologische Meinung mit ihrem Lineal aufgezwungen. Entweder hatte sie es jungen Sündern in die Rippen gestoßen oder den jungen Sündern den Hintern versohlt. Casimir Bolinski war weiterhin auf der West Catholic High School geblieben und hatte den Abschluß geschafft. Als Monsignore Dooley Michael J.O’Hara mit einer Tasche voll Fotos mit Adressen von Fran kie Guttermos Miezen erwischt hatte, hatte sich Mickey geweigert, den Namen seines Komplizen bei diesem unmoralischen Unterneh men zu nennen. Casimir Bolinski ging dann aufs College, wo er in der Foot ballmannschaft Halbstürmer wurde. Es folgte eine sechzehnjährige Karriere bei den Green Bay Packers. Seine Karriere als Footballprofi endete erst, als der Chef der Orthopädie der Universitätsklinik Mrs. Bolinski informierte, daß sie ihren Mann den Rest seines Lebens im Rollstuhl fahren mußte, wenn es ihr nicht gelang, ihn von einer Rück
kehr aufs Spielfeld abzubringen. Kurz nach Bull Bolinskis tränenreichem Abschied vom ProfiFootball auf einer Pressekonferenz wurde sein Geheimnis publik, das von seinen Teamkameraden, den Trainern und dem Management der Green Bay Packers sorgsam gehütet worden war. Bull Bolinski war ebenfalls Casimir J. Bolinski; Doktor der Rechtswissenschaften (cum laude) der University of Southern California, als Anwalt zugelassen in California, Pennsylvania, Wisconsin, Illinois und New York und vor dem Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten von Amerika. Er hatte nicht, wie man allgemein glaubte, die spielfreien Monate an der Westküste am Strand gelegen, Bier getrunken und Mrs. Bo linski Babys gemacht. Und Mrs. Antoinette Bolinski war nicht das, was die meisten Leute bei den Green Bay Packers dachten: nur eine hübsche Puppe mit sensationellem Busen, die Bull an einer ziemlich kurzen Leine hielt. Mrs. Bolinski war Schullehrerin, als sie ihren späteren Mann ken nenlernte. Sie begleitete etwas widerstrebend eine Gruppe von Sechstkläßlern bei einem Ausflug zum Trainingslager der Packers. Sie vertrat zu diesem Zeitpunkt die Ansicht, daß Profi-Football eine Art Wiedergeburt der Römischen Spiele war, ein blutiger Sport, mit wenig, wenn überhaupt irgendwelchem gesellschaftlichem Nutzen. Als sie Casimir zum erstenmal sah, hatte er einen Gegner mit sol chem Geschick und so großer Begeisterung gestoppt, daß drei Leute bei dem Gestoppten hockten. Sie tasteten ihn nach gebrochenen Knochen ab und versuchten ihn ins Bewußtsein zurückzurufen. Ca simir hatte seinen Helm abgenommen, stand da, kaute auf etwas herum – später erfuhr sie, daß es Old Mule Mentholkautabak war – und schaute bei den Bemühungen der Betreuer zu. Antoinette hatte in ihrem ganzen (dreiundzwanzigjährigen) Leben nie so einen liebevollen Ausdruck in den Augen eines Mannes gese hen. Und sie hatte nie gefühlsmäßig so reagiert wie in dem Augen blick, an dem Casimir zu ihr geblickt, ausgespuckt, scheu gelächelt, gezwinkert und ›Hallo, Schätzchen!‹ gesagt hatte. Zwei Monate später kehrten Mr. und Mrs. Bolinski von ihren Flit terwochen (genauer gesagt waren es drei Flittertage) aus dem Con rad Hilton Hotel in Chicago zurück. Unterdessen hatte sie ihn überre det, von Old Mule Mentholkautabak auf Pfefferminzbonbons umzu steigen, und sie dachte bereits über seine – jetzt ihre gemeinsame – Zukunft nach. Antoinette hatte vor der Ehe die vage Vorstellung ge habt, daß er einen Job als Trainer bekommen oder irgendein Ge schäft oder eine Imbißbude betreiben würde, wenn er nicht mehr Football spielen konnte.
Zwei Tage nachdem die Klubleitung der Green Bay Packers vor den Fernsehkameras Bull Bolinski zum Abschied eine goldene Rolex, einen Satz Golfschläger und einen Buick Cabrio schenkte, erhielt sie ein Schreiben von Heidenheimer & Bolinski, Rechtsanwälte, in dem ihr mitgeteilt wurde, daß die Kanzlei jetzt die Gentlemen J. Stanley Woszinski, Franklin D. R. Marshall und Ezra J. Houghton juristisch betreute und sie bei den bevorstehenden Vertragsverhandlungen vertreten würde. In allen Angelegenheiten in diesem Zusammenhang möge sich die Klubleitung in Zukunft an Mr. Bolinski wenden. Kurz darauf folgte das legendäre Fernseh-Interview mit Linebacker F. D. R. Marshall und Quarterback E. J. Houghton, bei dem Mr. Marshall sagte: »Wenn die Piepton Packers nicht mit Bull Bolinski verhandeln wollen, dann können sie, was mich betrifft, sich ihren Piepton Football in den Piepton schieben und mich am Piepton lek ken.« Woraufhin Mr. Houghton tadelte: »Halt die Klappe, FDR, du kannst nicht so schmutzig im Piepton Fernsehen reden.« So hatte Mickey O’Hara von Anfang an gewußt, daß Bull Bolinski nicht nur erfolgreich einen fairen Vertrag für seine ehemaligen Team partner bei den Packers ausgehandelt hatte, sondern ebenfalls bin nen ein paar Jahren der erfolgreichste Agent von Sportlern geworden und dabei reich geworden war. Aber als Bull in die Stadt kam, Mickey ihn im Warwick Hotel abhol te und sie nach Southern Philadelphia fuhren, um in einem italieni schen Restaurant eine wirklich gute Lasagne zu essen, hätte Mickey nicht im Traum daran gedacht, daß Bulls Besuch in der Stadt auch nur entfernt etwas mit ihm zu tun hatte. »Schalte die verdammte Klimaanlage ein, Michael«, sagte Bull, als sie erst eine kurze Strecke vom Warwick Hotel entfernt waren. »Die ist kaputt«, erwiderte Mickey. »Warum fährst du überhaupt in diesem Stück Scheiße herum?« Bull schaute sich im Wagen um und erwärmte sich für das Thema. »O Mann, das ist wirklich eine verdammte Schrottkiste, Michael.« »Leck mich am Arsch, Casimir. Der Wagen ist zuverlässig. Und er ist bezahlt.« »Du warst schon immer ein Geizhals«, sagte Bull. »Das Leben ist keine Probezeit, Michael. Kauf dir ein anständiges Auto. Mensch, du kannst es dir doch erlauben. Du bist nicht mal verheiratet!« Mickey schnaubte. »Ich komme auch so nur gerade über die Run den.« »Was zahlen sie dir, Michael?« Mickey sagte es ihm, und Bull lachte. »Du willst mich wohl ver scheißern.«
»Nein, Casimir, mehr bekomme ich nicht.« Bull starrte ihn ehrlich überrascht an. Dann wurde er wütend. »Du meinst das tatsächlich ernst! Diese miesen Hurensöhne!« Drei Tage später erhielt der Verleger des Bulletin ein Schreiben auf Briefpapier von Heidenheimer & Bolinski. Darin stand, weil in voraus gegangenen Verhandlungen keine Einigung über ein zufriedenstel lendes Entgelt für Mr. Michael J. O’Haras Dienste bis zum Abschluß eines endgültigen Vertrags zwischen den beiden Parteien erzielt wor den war, sei Mr. O’Hara gezwungen, mit sofortiger Wirkung seine Tätigkeit einzustellen. Als Mickey erfuhr, daß Bull mit ›zufriedenstellendes Entgelt‹ sie benhundertfünfzig Dollar pro Woche plus alle vernünftigen und not wendigen Spesen meinte, keimte in ihm der Verdacht, daß Bull zwar hervorragend mit Klubleitungen des Profisports verhandeln konnte, jedoch nicht die geringste Ahnung vom Zeitungsgeschäft hatte. Mi ckey hatte dreihundertzwölf Dollar pro Woche, plus einen Dime Mei lengeld für die Benutzung seines Wagens erhalten. »Vertraue mir, Michael«, hatte Bull gesagt. »Ich weiß, was ich tue.« Das war einen Monat her, und in all dieser Zeit hatte er vom Bulle tin keinen Pieps gehört. Die attraktive Empfangsdame von gestern abend – jetzt hatte sie das Haar zu einem Dutt aufgetürmt – stand hinter der marmornen Rezeption in der Halle des Bellevue-Stratford. Wie viele Stunden lassen diese Bastarde sie arbeiten? dachte Mi ckey. Diesmal belagerten keine Leute die Rezeption, und die schöne Empfangsdame sah Mickey, und Mickey lächelte sie an, und sie lä chelte zurück. »Guten Morgen, Mr. O’Hara«, sagte sie. »Mickey, bitte.« »Mr. und Mrs. Bolinski sind im Haus, Mr. O’Hara. Wenn Sie den Hörer eines Haustelefons abnehmen, wird der Telefonist Sie verbin den.« »Wenn ich mit ihm telefonieren möchte, hätte ich das von zu Hau se aus tun können«, erwiderte Mickey. »Ich möchte ihn besuchen.« »Sie müssen angemeldet werden«, sagte die Schöne, und ihre fein geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Sie haben Ihr Haar hochgesteckt«, sagte Mickey. »Ich war die ganze Nacht hier.« »Wie kommt das?« »Meine Ablösung ist nicht gekommen.« »Allmächtiger! Hat sie nicht angerufen oder sich sonstwie ent
schuldigt?« »Mit keinem Wort«, sagte sie. »Sie haben überhaupt nicht geschlafen?« »So ist es.« »Sie sehen aber gar nicht so aus«, platzte Mickey heraus. Sie errötete und lächelte scheu. Dann nahm sie den Hörer eines der Telefone ab. Sie nannte die Nummer von Bulls Zimmer so leise, daß er sie nicht hören konnte. Das Telefon klingelte lange, bis sich Bulls Frau meldete. »Guten Morgen, Mrs. Bulinski«, sagte die Empfangsdame. »Hier spricht Miss Travis von der Rezeption. Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört. Mr. O’Hara ist hier.« Travis? dachte Mickey. Ich hätte mir denken können, daß sie einen so schönen Namen hat. »Darf ich ihn hinaufschicken?« fragte Miss Travis und blickte zu Mickey. Dann sagte sie: »Danke, Madam« und legte den Hörer auf. »Sie finden Mr. Bolinski in der Theodore Roosevelt Suite, Mr. O’Hara. Im zehnten Stock. Wenden Sie sich nach rechts, wenn Sie den Auf zug verlassen.« »Danke.« »Gern geschehen.« Mickey wandte sich ab und wollte zu den Aufzügen gehen. Dann drehte er sich wieder um. »Sie sollten ein wenig schlafen!« sagte er im Befehlston. Die schroffe Bemerkung erschreckte sie lange genug, um Mickey Gelegenheit zu der Erkenntnis zu geben, daß er eine Frau, die er wirklich mochte, behandelte wie ein kleiner Marquis de Sade, statt genau die richtigen Worte zu finden. Aber sie lächelte. »Danke. Ich werde es versuchen. Ich sollte jetzt jeden Augenblick abgelöst werden.« Mickey nickte ihr zu und ging zum Aufzug. Als er im Lift war, sich umwandte und zu ihr schaute, sah sie ihn an. Sie winkte, als sich die Aufzugtür schloß. Das hat verdammt nichts zu bedeuten. Sie lächelte gestern abend auch die alte, blauhaarige Xanthippe an. Mickey fand mühelos die Theodore Roosevelt Suite. Die Tür war nur angelehnt, und er konnte Antoinettes Stimme hören. Er klopfte an und schob die Tür auf. Antoinette saß auf einer der beiden Couches vor einem Kamin. Sie trug einen seidenen Morgenmantel, hatte die Beine unter sich ange zogen und telefonierte. Sie winkte ihn herein, hielt die Sprechmuschel zu und sagte: »Komm rein, Michael. Casimir ist unter der Dusche.«
Dann setzte sie ihr Gespräch fort. Mickey schnappte auf, daß sie mit ihrer Mutter und mindestens einem der Kinder sprach. Casimir Bolinski betrat den Raum. Er hatte ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Es war ein normal großes Handtuch um gewal tige Hüften, wodurch nur wenig von Mr. Bolinskis edlen Teilen be deckt war. »Ich kann meine Beißer nicht finden«, nuschelte er. Mrs. Bolinski hielt wieder eine Hand auf die Sprechmuschel. »Sie sind in dem blauen Glas, das ich dir in Vegas kaufte«, sagte Mrs. Bolinski. »Ich bin gleich bei dir, Michael«, nuschelte Bull und fügte hinzu: »Du bist früh hier.« Er verließ das Wohnzimmer der Suite. Mickey sah auf seinem Rücken und hinten auf den Beinen, besonders hinter den Knien, viele Operationsnarben. »Kuß, Kuß«, sagte Antoinette und legte den Telefonhörer auf. »Wir haben die Kinder bei meiner Mutter gelassen«, sagte sie. »Casimir und ich können wenig Zeit allein zusammen verbringen, und so begleitete ich ihn.« »Gut für dich«, sagte Mickey. »Ich wußte nicht, daß wir hierhin fliegen«, sagte Antoinette. »Das merkte ich erst auf dem Flughafen.« Mickey fragte sich, ob das eine Art Tadel war, und so lächelte er nur, anstatt etwas zu sagen. »Wie geht es deiner Mutter, Michael?« fragte Antoinette. »Ich habe gestern mit ihr zu Abend gegessen.« »Wie nett.« Antoinette nahm den Telefonhörer ab, wählte eine Nummer, stellte sich als Mrs. Bolinski vor und fragte, ob man jetzt das Frühstück servieren könnte. Bull kehrte zurück, jetzt in Hemd und Hose. Er streifte gerade die Hosenträger über die Schultern. »Ich sagte ihnen, sie sollten um zehn Uhr kommen«, sagte er, und mit Gebiß klang es jetzt deutlich. »Wir werden Zeit zum Frühstücken haben. Wie geht es deiner Mutter?« »Ich aß gestern mit ihr zu Abend. Wer kommt um zehn?« »Meint sie immer noch, die anderen Leute beklauen sie?« »Ja, wenn sie nicht Sexpartys feiern«, sagte Mickey. »Wer kommt um zehn?« »Rate mal«, erwiderte Bull. »Ich sagte ihnen, wir sind es leid, uns verarschen zu lassen.« »Hüte deine Zunge«, sagte Antoinette. »Es ist eine Lady anwe send.«
»Verzeihung, Schätzchen«, sagte Bull, und es klang echt zer knirscht. »Haben wir Kaffee?« »Auf dem Servierwagen im Schlafzimmer«, sagte Antoinette. Bull ging ins Schlafzimmer und schob kurz darauf einen Ser vierwagen heraus, auf dem ein Kaffeeservice und eine Ther moskanne standen. Er füllte eine Tasse mit Kaffee und gab sie Mi ckey, dann schenkte er sich selbst Kaffee ein. »Was bin ich, ein Waisenkind?« fragte Antoinette. »Ich dachte, du hast schon Kaffee getrunken«, sagte Bull. »Das habe ich, aber du hättest fragen sollen.« »Möchtest du eine Tasse Kaffee?« »Nein, danke. Ich muß mich ankleiden«, sagte Antoinette schnip pisch und verließ das Wohnzimmer. »Sie ist ein bißchen sauer«, erklärte Bull. »Sie wußte nicht, daß ich hierhin reise. Sie dachte, wir fliegen nach Palm Beach.« »Palm Baech?« »Lenny Moskowitz heiratet Martha Bethune«, erklärte Bull. »Wir müssen den Ehevertrag abschließen.« Mickey kannte Lenny Moskwitz. Er hatte einiges über ihn gehört. Er war einer der teuersten Footballspieler der amerikanischen Liga ge wesen. »Wer ist Martha Sowieso?« »Langbeinige Blondine mit solchen Titten«, Bull zeigte einen ge waltigen Busen an. »Sie ist fast so groß wie Lenny. Ihre Familie stellt Radkappen her.« »Was?« »Radkappen. Für Autos. Sie haben jede Menge Zaster und be fürchten, Lenny heiratet sie deswegen. Mann, ich habe ihm fünf Mil lionen für einen Dreijahresvertrag verschafft. Er braucht nichts von ihrem Geld.« Mickey lächelte gezwungen. Er dachte wieder, daß es ein gewalti ger Unterschied war, ob man einen Vertrag für jemanden aushandelt, der zu den teuersten Spielern der amerikanischen Footballiga zählte, oder für jemanden, der Polizeireporter beim Philadelphia Bulletin war. Ein paar Minuten später rollten zwei Kellner einen Servierwagen in die Suite, stellten einen Klapptisch auf und servierten das Frühstück. »Ich glaube, ich sagte dir schon, daß man an der Westküste keinen Taylor-Schinken und kein Scrapple bekommen kann«, bemerkte Bull, während er Essen auf seinen Teller schaufelte. Scrapple, ein Gericht aus zerkleinertem Schweinefleisch, Krautern und Mehl, das wahrscheinlich durch die Deutschen (die Hessen) ins östliche Pennsylvania eingeführt wurde, bezeichnete man auch als
›Schinken des armen Mannes‹. »Ja, das sagtest du«, erwiderte Mickey. »Was meinst du, wie wir stehen?« »Was meinst du mit ›wie wir stehen‹? Ah, du meinst die Bastarde vom Bulletin?« »Ja«, sagte Mickey. Antoinette kam ins Wohnzimmer, und Casimir erhob sich und rück te ihr höflich den Stuhl zurecht. »Danke, Liebling«, sagte Antoinette. »Michael, hat Casimir dir schon gesagt, daß man an der Westküste weder Taylor-Schinken noch Scrapple bekommen kann?« »Ich könnte euch welchen per Post schicken, wenn ihr möchtet«, sagte Mickey. »Er würde vermutlich schlecht werden, bis die verdammte Post ihn dort hat«, sagte Bull. »Aber es ist ein netter Gedanke von dir, Micha el.« »Ich habe nie etwa von Taylor-Schinken und Scrapple gehört, be vor ich Casimir kennenlernte«, sagte Antoinette, »aber jetzt bin ich genauso verrückt darauf wie er.« »Casimir wollte mir gerade sagen, wie es mit der Bulletin-Sache steht«, sagte Mickey. »Vielleicht solltest du den Taylor-Schinken und das Scrapple mit einem Kurierdienst schicken«, sagte Bull. »Wenn ich nicht von hier aus nach Florida fliegen würde, dann würde ich ein paar TaylorSchinken und Scrapple im Koffer mitnehmen. Aber er würde vermut lich schlecht werden, bevor wir daheim sind.« »Natürlich würde er verderben«, sagte Antoinette. »Und all unsere Kleidung würde in der Wärme fettig werden.« »Was meinst du denn, wie es mit der Bulletin-Sache steht?« fragte Bull etwas wehleidig. »Michael, du klingst, als hättest du nicht viel Vertrauen in Casimir«, sagte Antoinette. »Sei nicht albern«, sagte Mickey. »Mit dem Luftpost-Kurierdienst würde es vermutlich nur zwei Tage dauern, bis Taylor-Schinken und Scrapple bei uns sind«, sagte Bull. »Was soll’s, es ist einen Versuch wert.« Er griff in die Hosentasche, nahm ein Geldbündel heraus, das mit einer goldenen Spange in Form eines Dollarstücks zusam mengehalten wurde, zog einen Fünfzig-Dollar-Schein heraus und gab in Mickey. »Zwei große Taylor-Schinken«, sagte Bull, »und fünf Pfund Scrap ple. Kannst du das Scrapple einfrieren?«
»Vermutlich nicht«, sagte Antoinette. »Wenn man es einfrieren könnte, dann hätten sie es vermutlich im Kühlfach im Supermarkt.« »Was soll’s, wir versuchen es trotzdem. Man kommt nie voran, wenn man nichts riskiert, nicht wahr, Michael?« »So ist es.«
4
Die Antwaltskanzlei Mawson, Payne, Stockton, McAdoo & Lester befand sich im Philadelphia Savings Fund Society Building, an der Ecke Twelfth und Market Street, östlich der Broad Street, günstig gelegen zum Gericht und zum Finanzdistrikt. Die Kanzlei nahm den gesamten elften Stock und einen Teil des zehnten ein. Die Büros der beiden Gründungspartner, Brewster Cortland Payne II. und Colonel J. Dunlop Mawson, zusammen mit dem Konferenz raum und dem Büro von Mrs. Irene Craig, deren Titel Chefsekretärin war und deren Dienste sie seit Beginn ihrer Partnerschaft in Anspruch genommen hatten, nahmen die ganze Ostseite im elften Stock ein. Colonel Mawson hatte das Büro zur Rechten, Mr. Payne das zur Lin ken, und Mrs. Craigs Büro befand sich dazwischen. Keiner außer Colonel Mawson und Mr. Payne und natürlich Mrs. Craig selbst wußten, daß Irene Craigs Jahresgehalt höher war als das von jedem der einundzwanzig Juniorpartner der Kanzlei. Zusätz lich zu einem großzügigen Gehalt erhielt sie die Dividende von Akti en, die sie von dem Unternehmen besaß. Obwohl ihr Büro mit den modernsten Geräten ausgestattet war, die für eine erfahrene Chefsekretärin angemessen waren, war es sehr lange her, seit Mrs. Craig zum letzten Mal einen Brief oder Schriftsatz stenografiert oder getippt hatte. Sie hatte zwei Assistentinnen und
einen Assistenten, die Diktate aufnahmen und tippten und ähnliche Aufgaben erledigten. Irene Craigs Funktion, wie Colonel Mawson und Mr. Payne sie sa hen, bestand darin, dafür zu sorgen, daß ihre Zeit nicht verschwendet wurde. Ihre Zeit war schließlich das einzige, was sie zu verkaufen hatten, und das war eine begrenzte Quelle. Einer der sehr wenigen Punkte, in denen Colonel Mawson und Mr. Payne völlig überein stimmten, war die Ansicht, daß Mrs. Craig ihre Funktion hervorragend erfüllte. Deshalb ärgerte sich Brewster C. Payne auch nicht, als Mrs. Craig sein Büro betrat. Sie wußte, daß er einen langen Schriftsatz überprüf te, der in einer ziemlich komplizierten Verhandlung über ein Schiffs unglück vorgetragen werden mußte, und daß er nicht gestört werden wollte, es sei denn, es ging um eine Sache von großer Wichtigkeit, die einfach nicht warten konnte. Sie betrat sein Büro, und folglich erforderte etwas sehr Wichtiges seine Aufmerksamkeit. Brewster Cortland Payne II. war ein großer, würdevoller schlanker Mann Anfang Fünfzig. Er hatte markante Gesichtszüge und kurzge schnittenes graues Harr. Payne saß in einem Schreibtischsessel mit hoher Rückenlehne und blauem Lederbezug, die Lehne weit zurück gebogen und die Füße auf die Bank des Fensters gelegt, das einen Ausblick auf die Benjamin Franklin Bridge und Camden, New Jersey, bot. Das Jackett seines Kordanzugs hing über einem der beiden mit blauem Leder bezogenen Polsterstühle, die vor dem Schreibtisch standen. Der Button-down-Kragen seines Hemdes war geöffnet, und die gestreifte Krawatte war gelockert. Die Hemdsärmel waren auf gerollt. Er hatte nicht erwartet, daß jemand, Mandant oder Personal, sein Büro betreten würde. »Ich nehme an, das Gebäude brennt lichterloh und sie halten die Tür des allerletzten funktionstüchtigen Aufzugs auf«, sagte er und lächelte Irene Craig an. »Das soll man nicht tun«, erwiderte sie. »Bei einem Brand soll man das Treppenhaus benutzen.« »Tadel akzeptiert«, sagte er. »Ich behellige Sie ungern«, sagte Irene Craig. »Aber?« »Martha Peebles ist draußen.« Brewster C. Payne II. hob die Augenbrauen und ließ erkennen, daß er keine Ahnung hatte, wer Martha Peebles war. »Tamaqua Mining«, sagte Irene Craig. »Oh«, sagte Brewster C. Payne. »Sie kam mit Mr. Foster zu uns?« »Richtig.«
Einer der Faktoren, der den Exekutivausschuß von Mawson, Pay ne, Stockton, McAdoo & Lester veranlaßt hatte, James Whitelaw Fo ster eine Juniorpartnerschaft anzubieten, die durch eine Klausel fast schon auf eine volle Partnerschaft hinauslief, war die Tatsache, daß er der Kanzlei die juristische Vertretung der Tamaqua Mining Com pany Incorporated einbringen würde. Es war eine straff organisierte Gesellschaft mit umfassendem Landbesitz an Bergwerken im nördli chen Pennsylvania in der Nähe von Tamaqua – deshalb der Name – , im Herzen der Kohle-Region. »Und ich nehme an, Mr. Foster ist nicht anwesend?« fragte Payne. »Er ist in Washington«, sagte Irene Craig. »Sie ist sehr aufge bracht. Sie wurde bestohlen.« »Bestohlen?« »Bestohlen. Ich denke, Sie sollten sie empfangen.« »Wo ist der Colonel?« fragte Payne. »Wenn er hier wäre, würde ich Sie nicht stören«, sagte Irene Craig. Payne war sich nicht ganz sicher, ob das ärgerlich oder duldsam klang. »Er ist mit Bull Bolinski zusammen.« »Mit wem?« »Weltberühmter Ex-Footballspieler«, sagte Irene Craig. »Das sagt mir auch nichts«, bekannte Payne nach kurzem Überle gen. »Bull Bolinski. Er war Halbstürmer bei den Green Bay Packers. Haben Sie den Namen wirklich noch nie gehört?« »Ich befürchte, so ist es«, sagte Payne. »Und jetzt haben sie mich völlig verwirrt, Irene.« »Der Colonel ist im Bellevue-Stratford mit Bull Bolinski, der jetzt Anwalt ist und einen Reporter vertritt, der einen Vertrag mit dem Bul letin aushandelt.« »Warum kümmert sich der Colonel darum?« fragte Payne über rascht. Die juristischen Angelegenheiten vom Philadelphia Bulletin wurden von Kenneth L. McAdoo geregelt. »Weil der Colonel Bull kennenlernen wollte«, sagte Irene Craig. »Ich glaube, ich verstehe allmählich«, sagte Payne. »Sie meinen, ich sollte mit Mrs. Sowieso reden?« »Peebles«, erwiderte Irene Craig. »Miss Martha Peebles.« »In Ordnung«, sagte Payne. »Geben sie mir eine Minute, und füh ren Sie Miss Peebles dann herein.« Irene Craig nickte und verließ das Büro. Brewster C. Payne fluchte. Er legte den dicken Schriftsatz auf die Notizen, die er sich dazu gemacht hatte, in seine untere rechte Schreibtischschublade. Dann stand er auf, rollte die Hemdsärmel
hinunter, knöpfte die Manschettenknöpfe zu, dann den Hemdkragen, rückte seine Krawatte zurecht und zog sein Jackett an. Dann ging er zur Doppeltür seines Büros und öffnete den rechten Flügel. Eine junge Frau (er schätzte sie auf dreißig bis zweiunddreißig) schaute ihn an. Sie war schlicht, aber gut gekleidet. Ihr hellbraunes Haar war kurzgeschnitten, und sie trug weiße Handschuhe. Sie sah fast schön aus, aber nicht ganz. Ohne bewußt darüber nachzudenken, stufte Brewster C. Payne sie als Dame ein. Bewußt dachte er, daß sie mit ihrem Bruder einen we sentlichen Anteil der Aktien von Tamaqua Mining besaß und daß die se Aktien zwischen zwanzig- und fünfundzwanzig Millionen Dollar wert waren. Kein Wunder, daß Irene sie zu mir gelassen hat, dachte Payne. »Miss Peebles, ich bin Brewster Payne. Ich bedaure sehr, daß ich Sie warten lassen mußte. Würden sie bitte eintreten?« Martha Peebles lächelte, erhob sich vom Besucherstuhl und ging in sein Büro. Payne roch ihr Parfüm. Er wußte nicht, welche Marke es war, aber er fand, daß es ähnlich duftete, wie das Parfüm, das seine Frau benutzte. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Oder vielleicht Tee?« fragte Payne. »Das wäre sehr nett«, sagte Martha Peebles. »Kaffee, bitte.« Payne blickte zu Irene Craig und sah, daß sie es gehört hatte. Er schloß die Tür und führte Martha Peebles zu einer Couch. Als Miss Peebles Platz genommen hatte, setzte er sich ihr gegenüber in einen Sessel. Ein langer Couchtisch aus Teak trennte sie. »Leider ist Mr. Foster nicht hier«, sagte Payne. »Er wurde nach Washington gerufen.« »Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie mich empfangen« sagte Mart ha Peebles. »Ich bin Ihnen dankbar.« »Es ist mir ein Vergnügen, Miss Peebles. Was kann ich für Sie tun?« »Nun, ich bin bestohlen worden – und da ist noch mehr.« »Miss Peebles, bevor wir in die Einzelheiten gehen, möchte ich Sie fragen, ob Sie einverstanden sind, daß ich das Gespräch auf Band aufnehme. Es ist manchmal sehr hilfreich…« »Auf Tonband?« »Ja, das ist oftmals von Nutzen.« Sie schaute ihn sonderbar an. »Nun, wenn Sie meinen, daß es hilf reich ist, habe ich selbstverständlich nichts dagegen.« Payne drückte mit der Schuhspitze auf eine Taste des Ton
bandgeräts, das unter dem Couchtisch angebracht war. »Sie sagten, Sie wurden bestohlen?« »Ich dachte, Sie wollen das auf Band aufnehmen«, sagte Miss Peebles fast angriffslustig. »Das tue ich«, erwiderte Payne. »Ich habe das Gerät soeben ein geschaltet. Die Taste ist unter dem Tisch. Das Mikrofon befindet sich in diesem Kästchen auf dem Tisch.« »Oh.« Sie schaute auf das unauffällige Kästchen und dann unter den Couchtisch. »Wie clever!« »Sie sagten, Sie wurden bestohlen?« »Sie hätten das Tonbandgerät einschalten können, ohne zu fragen, nicht wahr?« fragte Martha Peebles. »Ich hätte nie gewußt, daß sie das Gespräch aufnehmen.« »Das wäre unanständig«, entgegnete Payne. »Ich würde so etwas niemals tun.« »Aber Sie hätten es tun können, nicht wahr?« »Ja, das hätte ich.« Es wurde ihm klar, daß sie ihn in Verlegenheit gebracht hatte. »Aber Sie sagten mir, Sie wurden bestohlen. Was geschah?« Jemand klopfte kurz an die Tür und öffnete sie. Edward F. Joiner, Irene Craigs Sekretär, ein dünner, sanft wirkender Mann, brachte Kaffee. Er lächelte Martha Peebles an, und sie erwiderte das Lächeln scheu, als er das Tablett mit dem silbernen Kaffeeservice auf den Tisch stellte. »Ich schenke ein, Ed«, sagte Payne. »Danke.« Martha Peebles trank ihren Kaffee schwarz und verzichtete auf Gebäck. »Sie sagten, Sie wurden bestohlen?« wiederholte Payne. »Zu Hause«, antwortete sie. »In Chestnut Hill.« »Wie genau geschah es? Ein Einbruchdiebstahl?« »Nein, ich bin mir ziemlich sicher, daß es kein Einbrecher war«, sagte sie. »Ich glaube sogar zu wissen, wer es tat.« »Wie wäre es, wenn Sie von Anfang an erzählen?« Martha Peebles berichtete, daß vor zwei Wochen – genau vor zwei Wochen und einem Tag, ihr Bruder Stephen einen jungen Mann mit nach Hause gebracht hatte, den er kennengelernt hatte. »Ein großer, ziemlich gutaussehender junger Mann« sagte Martha Peebles. »Sein Name ist Walton Williams. Stephen sagte, er studiert Theaterwissenschaft auf der University of Pennsylvania.« »Ist Ihr Bruder an Theater interessiert?« fragte Payne vorsichtig. »Ich denke, er ist eher an jungen Schauspielern interessiert als an Theater«, sagte Martha Peebles sachlich, ohne Mißbilligung und oh
ne Verlegenheit. »Ich verstehe«, sagte Payne. »Nun, sie blieben unten im Billardzimmer, und ich ging auf mein Zimmer. Und dann, kurz nach Mitternacht hörte ich, wie sie sich auf dem Säulengang direkt unter meinem Fenster gute Nacht sagten.« »Und Sie meinen, daß dieser Williams in den Diebstahl verwickelt sein könnte?« »Da gibt es keine Frage«, antwortete sie. »Wie können sie da so sicher sein?« »Ich sah ihn.« »Ich befürchte, ich blicke nicht ganz durch«, bekannte Payne. »Nun, am nächsten Abend, ungefähr um halb neun, nahm ich ein Bad, als jemand an der Haustür klingelte. Ich ignorierte das…« »War sonst jemand im Haus? Ihr Bruder? Hilfe?« »Das Personal verläßt um neunzehn Uhr das Haus. Und Stephen war nicht da. Er war am Morgen nach Paris gereist.« »Sie waren also allein im Haus?« »Ja, und weil ich niemanden erwartete, ignorierte ich einfach das Klingeln.« »Ich verstehe. Und was geschah dann?« »Ich hörte Geräusche in meinem Schlafzimmer. Das Öffnen der Tür, dann das Aufziehen von Schubladen. So stieg ich aus der Ba dewanne, zog einen Morgenmantel an und öffnete die Tür vom Ba dezimmer einen Spalt. Und da war Walton Williams an meiner Fri sierkommode und kramte in meinen Sachen.« »Was haben Sie dann getan?« fragte Payne. Und er dachte: Dies ist eine sehr dumme, junge Frau. Sie hätte sich in große Schwierigkeiten bringen, ja sogar umgebracht werden können, ab sie sich in einer solchen Situation dem Täter zeigte. Und dann änderte er ›dumm‹ in ›naiv‹ und ›unerfahren‹. »Ich fragte ihn, was er da machte«, sagte Martha Peebles, »und er starrte mich nur an, offensichtlich überrascht, weil jemand im Haus war. Und dann rannte er aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter und aus dem Haus.« »Und Sie glauben, er hat etwas gestohlen?« fragte Payne. »Ich weiß es«, sagte sie. »Ich weiß genau, was er mir stahl. All meine wertvollen Broschen und Anhänger und allen Schmuck meiner Mutter, der im Haus war.« »Und wo war Ihre Mutter zu dieser Zeit?« fragte Payne. Das brachte ihm einen kalten, fast empörten Blick ein. »Mutter starb im Februar«, sagte Martha Peebles. »Ich dachte, Sie wüßten das.«
»Verzeihung«, sagte Payne, »ich wußte es nicht.« »Die meisten von Mutters guten Stücken befinden sich natürlich im Tresor der Bank, aber es waren einige sehr schöne Schmuckstücke im Haus. Eine Jade-Halsketle, in Gold gefaßt, die sie in Djakarta kaufte, und dieser Williams stahl sie. Ich weiß, daß sie zehntausend Dollar dafür bezahlte. Ich mußte ihr das Geld telegraphisch überwei sen.« »Sie haben natürlich die Polizei angerufen?« erkundigte sich Pay ne. »Ja, und sie kam sofort. Ich gab den Beamten eine Beschreibung von Stephens Freund und eine noch unvollständige Liste, die später vervollständigt wurde, von allem, was fehlte. Mr. Foster kümmerte sich für mich darum.« »Nun, es freut mich, daß wir etwas helfen konnten«, sagte Payne. »Würden Sie es mir übelnehmen, wenn ich Ihnen einen kleinen Rat gebe?« »Ich bin hier, um Rat zu suchen«, sagte Martha Peebles. »Ich bezweifle, daß Ihnen so etwas jemals wieder in Ihrem Leben passieren wird«, sagte Payne. »Aber wenn es passieren sollte, wäre es viel besser, den Eindringling nicht herauszufordern. In einem sol chen Fall sollten Sie sich verstecken, den Täter nehmen lassen, was er will, und wenn er dann weg ist, die Polizei anrufen.« »Es ist schon wieder passiert«, sagte sie ungeduldig. »Wie bitte?« »Am vergangenen Sonntag. Sonntag vor einer Woche, nicht ge stern. Ich war im Rose Tree Club zum Büffet…« »Ich war auch dort«, warf Payne ein. »Mit meiner Frau und meinem ältesten Sohn.« »… und als ich zurückkehrte«, fuhr Martha Peebles fort, »und durch die Tür vom Zufahrtsweg aus das Haus betrat, hörte ich Ge räusche, Schritte in der Bibliothek. Und dann muß er mich gehört haben – ich bin überzeugt, daß es Stephens Freund war, aber ich sah ihn nicht richtig, denn er rannte zur Vordertür hinaus.« »Sie sind ihm nicht wieder entgegengetreten?« »Nein. Ich rief die Polizei vom Telefon im Butlerzimmer aus an.« »Und sie kam?« »Sehr schnell. Die Beamten durchsuchten das Haus und stellten fest, daß er eine Fensterscheibe im Gewächshaus eingeschlagen hatte, um sich Zutritt zu verschaffen, und ich fand heraus, was dies mal gestohlen worden war. Eine Leica Kamera – Stephens Kamera, ich weiß nicht, warum er sie nicht mit nach Frankreich nahm, aber er nahm sie nicht mit, das hatte ich an dem Morgen seiner Abreise regi
striert – und einiges Zubehör dafür und das Fernglas meines Vaters und einige andere Dinge.« »Miss Peebles«, sagte Payne. »Die unangenehme Tatsache ist, daß Sie vermutlich die gestohlenen Dinge niemals wiederbekommen. Aber wenn Mr. Foster Ihre Interessen vertreten hat, bin ich zuver sichtlich, daß Ihre Versicherung den Verlust ersetzen wird.« »Es geht mir nicht um eine Kamera, Mr. Payne«, sagte Martha Peebles. »Es geht mir um meine Sicherheit.« »Ich bezweifle, daß der Täter ein drittesmal zuschlagen wird, Miss Peebles«, sagte Payne. »Aber ein paar Vorsichtsmaßnahmen…« »Er kam in der vergangenen Nacht wieder«, unterbrach sie ihn. »Deshalb bin ich jetzt hier.« »Das wußte ich nicht«, sagte Payne. »Diesmal brach er durch die Seitentür ein. Er schnitt sich dabei, als er durch die eingeschlagene Scheibe griff. Es war Blut auf dem Bo den. Diesmal stahl er eine Bronzestatue, eine wirklich gute ägypti sche Bronzestatue, die mein Vater als junger Mann in Kairo kaufte. Nicht sehr groß, aber sehr schön. Und er stahl einige andere, persön liche Dinge.« »Zum Beispiel?« Sie errötete. »Er durchwühlte meinen Kleiderschrank«, sagte sie leise und ver legen, »und stahl Unterwäsche.« »Ich verstehe«, sagte Payne. »Besonders«, fügte sie hinzu, nachdem sie ihre Verlegenheit überwunden hatte, »all meine schwarze Wäsche, BHs und Hös chen.« »Nur die schwarzen?« fragte Payne und war ärgerlich auf sich, weil er fast gelächelt hätte. Was ihm diese junge Frau sagte, war nicht nur von großer Wichtigkeit für sie, sondern sehr wahrscheinlich sympto matisch für eine äußerst gefährliche Situation. Während sich eine perverse Ecke seines Gehirns über die Vorstellung amüsierte, daß ein ›Schauspieler‹, wahrscheinlich ein junger Gentleman mit Liebreiz und Grazie, dieser anständigen jungen Dame die Reizwäsche klaute, war es überhaupt nicht lustig. »Nur die schwarzen«, sagte sie. »Nun, als erstes sollten Sie vielleicht an die Installation einer Alarmanlage denken…« »Wir haben eine Acme-Alarmanlage, seit mein Vater das Haus bauen ließ«, sagte sie. »Bis jetzt dachte ich, daß sie ein gewisses Maß an Sicherheit bietet. Die verdammte Alarmanlage funktioniert anscheinend überhaupt nicht.«
»Darf ich vorschlagen, daß Sie die Firma auffordern, sie zu über prüfen?« sagte Payne. »Das habe ich bereits getan. Sie sagen, sie funktioniert völlig ein wandfrei. Ich denke, daß sich Leute wie Stephens warmer Freund in solchen Dingen auskennen und wissen, wie man sie ausschaltet, und Acme will einfach nicht zugeben, daß das möglich ist.« Sie hat vermutlich recht, dachte Payne. »Eine andere Möglichkeit für die nächste Zukunft ist, daß Sie vorü bergehend in ein Hotel ziehen, bis die Polizei diesen Williams gestellt hat«, sagte Payne. »Ich lasse mich nicht von so jemandem aus meinem Haus vertrei ben«, sagte Martha Peebles entschieden. »Ich hatte gehofft, von Mr. Foster zu hören, daß er etwas Einfluß bei der Polizei hat und dafür sorgt, daß man mir mehr Schutz gewährt, als es bisher der Fall war.« »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob Mr. Foster Einfluß bei der Poli zei hat, Miss Peebles…« »Das ist enttäuschend für mich«, unterbrach sie ihn. »Aber ich wollte gerade sagen, daß Colonel Mawson, ein Senior partner der Kanzlei, mit Polizeichef Czernick befreundet ist.« »Darf ich ihn dann bitte sprechen?« »Das wird nicht nötig sein, Miss Peebles. Ich werde ihm die Sache vortragen, sobald er zurückkehrt.« »Wo ist er jetzt?« »Im Bellevue Stratford Hotel. Mit einem gewissen Bull Bolinski.« »Der Bull Bolinski von den Green Bay Packers?« fragte Miss Pee bles, und ihre Miene hellte sich auf. »Ja, der Bull Bolinski von den Packers.« »Oh, ich habe fast geheult, als er mit dem Football aufhörte«, sagte Martha Peebles. »Er ist jetzt Anwalt.« »Davon habe ich nichts gehört« sagte sie. »Und ich hatte ver gessen, daß all dies aufgezeichnet ist, oder wurde es nicht auf Band genommen?« »Doch, es ist alles aufgezeichnet. Und ich werde es sofort nie derschreiben lassen.« Martha Peebles erhob sich und reichte Brewster C. Payne II. die Hand. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel besser ich mich fühle, nachdem ich mit Ihnen gesprochen habe. Und danke dafür, daß Sie mich ohne Termin empfangen haben.« »Gern geschehen«, sagte Payne. »Meine Tür steht Ihnen immer offen, Miss Peebles, und ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.
Aber ich wünschte, Sie würden vorübergehend in ein Hotel ziehen…« »Ich sagte Ihnen, daß ich mich nicht von solchen Leuten aus mei nem Haus verjagen lasse«, erwiderte sie entschieden. »Guten Mor gen, Mr. Payne.« Er begleitete sie zur Tür und dann zum Lift. Als er in sein Büro zu rückkehrte, folgte ihm Irene Craig. »Was zum Teufel, ist mit den Cops los?« fragte sie. »Sie gab ihnen eine Beschreibung von diesem Mistkerl. Und selbst wenn es ein fal scher Name war, hätten sie doch etwas herausfinden müssen.« »Warum habe ich den Verdacht, daß Sie die ganze Zeit dort drau ßen mit dem Ohr am Schlüsselloch waren?« fragte Payne. »Sie wußten, daß ich mithöre«, sagte Irene Craig. »Ich ließ es auch von Ed in die Stenografiermaschine geben. Die Umschrift sollte vorliegen, bevor der Colonel zurückkehrt.« »Gutes Mädchen!« sagte Payne. »Es gibt einige Frauen in meiner Position, die Anstoß an einer sol chen sexistischen Bemerkung nehmen würden«, sagte Irene Craig. »Aber ich werde das Kompliment zurückgeben. Sie sind wunderbar mit ihr umgegangen.« »Darf ich jetzt an meine Arbeit zurückkehren, Boß?« fragte Payne. »Oh, ich denke, der Colonel kann die Sache von jetzt an überneh men«, sagte sie und verließ das Büro. Brewster Cortland Payne II. widmete sich wieder seinem Schrift satz.
5
Die acht Männer, die im dritten Stock des runden Polizeigebäudes versammelt waren, plauderten leise miteinander, sprachen über alles außer Dienstlichem und warteten darauf, daß der Commissioner die Konferenz mehr oder weniger förmlich eröffnete. Er tat es erst, als der Deputy Commissioner Verwaltung, Harold J. Wilson, ein großer, dünner, würdevoller Mann, den Konferenzraum betrat, murmelte, daß er sich durch einen Verkehrsstau verspätet hatte, und Platz nahm. Police Commissioner Taddeus Czernick klopfte mit den Knöcheln auf den Konferenztisch und wartete, bis das leise Stimmengewirr verstummte. »Der Bürgermeister«, sagte Commissioner Czernick dann ruhig und trocken, »will nicht, daß Mike Sabara die Highway Patrol be kommt.« Taddeus Czernick war siebenundfünfzig, ein großer, schwer gewichtiger Mann mit silberweißer Haarfülle. Seine glattrasierten Wangen hatten einen rosigen Teint und hingen schon etwas. Er trug zu einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug mit Weste ein gestärktes Hemd und eine Krawatte mit Querstreifen. Alles in allem war der Poli zeichef ein gut und gesund aussehender, beeindruckender Mann. »Hat er gesagt, warum?« fragte Chief Inspector of Detectives Matt
Lowenstein. »Er sagte, ›in Uniform sieht Mike Sabara wie ein Wächter in einem Konzentrationslager aus‹«, zitierte Czernick. Chief Inspector Lowenstein, ein stämmiger Mann von fünf undfünfzig Jahren, betrachtete die Asche seiner langen Zigarre Mar ke Villa de Cuba ›Monarch‹ und lachte leise. »Das stimmt«, sagte Lowenstein. »Wenn man darüber nachdenkt, hat er recht.« »Das ist kaum eine Rechtfertigung dafür, Sabara nicht zum Chef der Highway Patrol zu machen«, sagte Deputy Commissioner Wilson etwas pedantisch. »Sagen Sie das dem Itaker, Harry«, erwiderte Lowenstein. Deputy Commissioner Wilson schaute Lowenstein finster an, erwi derte jedoch nichts. Er hatte vor langer Zeit gelernt, besser den Mund zu halten, wenn er sich ärgerte. Und es wurde ihm klar, daß er jetzt wütend war. Er ärgerte sich, weil er im Stau gestanden hatte und deshalb zu spät zu der Konfe renz gekommen war. Er war stolz auf seine Pünktlichkeit, und wenn er Polizeichef wurde, wie er hoffte, wollte er dafür sorgen, daß all seine Leute mehr Wert auf Pünktlichkeit legten, die seiner Ansicht nach für die Leistungsfähigkeit und Disziplin wesentlich war. Er ärgerte sich, weil bei seiner Ankunft am Konferenztisch nur noch der Platz neben Chief Inspector Lowenstein frei gewesen war, was bedeutete, daß er während der ganzen Konferenz den Qualm von Lowensteins Zigarre ertragen mußte. Er ärgerte sich, weil Chief Inspector Lowenstein den Bürgermeister von Philadelphia, den Ehrenwerten Jerry Carlucci, als ›Itaker‹ be zeichnet hatte. Und er ärgerte sich noch mehr darüber, daß Commis sioner Czernick ihn nicht sofort und scharf deswegen getadelt hatte. Für Deputy Commissioner Wilson war es völlig unverständlich, daß Bürgermeister Carlucci und Chief Inspector Lowenstein lebenslange Freunde waren, von ihrem Dienst als junge Streifenbeamte bei der Highway Patrol an; oder daß der Bürgermeister Chief Inspector Lo wenstein oftmals mit ähnlich abwertenden Bezeichnungen bedachte (›Wie geht’s, Judenjunge?‹) Der Bürgermeister war der Bürgermei ster, und ihm untergeordnete Beamte waren verpflichtet, ihm den seiner Position entsprechenden Respekt zu zollen. Deputy Commissioner Wilson ärgerte sich ebenfalls über den Bür germeister. Es gab einen Befehlsweg, und es galt, Richtlinien zu be achten. Wenn ein ranghoher Polizeibeamter für einen besonderen Posten ernannt wurde, prüfte der Deputy Commissioner Verwaltung die Empfehlungen und Vorschläge zu geeigneten Personen, und
nachdem er die Personalakte der entsprechenden Personen über prüft hatte, lieferte er dem Commissioner die Namen der drei am be sten qualifizierten Beamten für die betreffende Position. Dann traf der Commissioner nach Rücksprache mit dem Deputy Commissioner Verwaltung seine Wahl. Deputy Commissioner Verwaltung Wilson hatte die Prüfung der Personalakten der in Frage kommenden und empfohlenen Personen für den Posten des Chefs der Highway Patrol noch nicht abgeschlos sen. Selbst wenn man zubilligte, daß der Bürgermeister als oberster Verwaltungsbeamter von Philadelphia das Recht hatte, sich in den Vorgang einzuschalten und seine Meinung zu äußern, störte das den glatten Verwaltungsablauf und die Personalpolitik und wirkte sich gewiß nachteilig auf die Moral aus. Es hatte etwas mit Bürgermeister Carluccis Denkungsweise zu tun, nahm Wilson an. Der Bürgermeister betrachtete sich nicht als einen ehemaligen Polizisten. Carlucci hielt sich für einen Cop, der zufällig Bürgermeister war. Und noch schlimmer, Bürgermeister Carlucci, der einst Captain und Chef der Highway Patrol gewesen war, hielt sich für einen Mann der Highway Patrol, der zufällig Bürgermeister war. Der Cadillac des Bürgermeisters, der früher von einem Poli zeibeamten in Zivil gefahren worden war, wurde jetzt von einem uni formierten Sergeant der Highway Patrol gefahren. Der Wagen des Bürgermeisters war mit Funk ausgerüstet, der auf die Frequenz der Highway Patrol und der Kripo eingestellt war, und die BürgermeisterLimousine war berühmt oder vielleicht berüchtigt, weil sie nach Funk sprüchen zu Einsätzen fuhr, die der Bürgermeister interessant fand. Der Polizeifunk kündigte nach Deputy Commissioner Wilsons Ein schätzung viel zu oft an, Raubüberfall oder Beamter braucht Unter stützung oder Bewaffnete männliche Person, Schußwaffengebrauch, woraufhin sich als zweiter oder dritter – manchmal auch als erster – der Cadillac des Bürgermeisters meldete »M-Mary eins auf dem Weg zu bewaffneter männlicher Person, Schußwaffengebrauch« und be reits mit Rotlicht und Sirene über die Lancaster Avenue oder die South Broad Street oder den Schuylkill Expreßway raste. Deputy Commissioner Wilson war sich nicht sicher, warum sich der Bürgermeister so verhielt, ob es daran lag, daß er – wie er behaupte te – Polizistenblut hatte und einfach auf einen Ruf Beamter braucht Unterstützung reagieren mußte, oder ob es aus Absicht und Berech nung geschah. Das Foto des Bürgermeisters war sehr oft in den Zei tungen, und er wurde im Fernsehen gezeigt, wenn er bei Tatorten stand, die Hände in die Hüften gestemmt und das Jackett zurück schob, damit jeder den Griff seines .38er Smith & Wesson Chief’s
Special Revolvers sehen konnte. Commissioner Wilson war sich völlig darüber im klaren, daß man nicht Bürgermeister der viertgrößten Stadt der Vereinigten Staaten werden konnte, wenn man blöde oder kindisch war oder nicht wußte, wie wichtig Öffentlichkeitsarbeit und Publicity waren. Es gab eine Menge Wähler, denen gefiel, daß ihr Bürgermeister mit einer Waffe im Hosengürtel zum Tatort eines Verbrechens brauste. »Ich nehme an, es hat etwas mit dem Leitartikel zu tun, der am Sonntag im Ledger stand«, sagte Commissioner Czernick jetzt. Das führte zu Geraune und einigen ziemlich unfeinen Bemer kungen. Beamte der Highway Patrol hatten zwei junge Leute bei einem Überfall auf einen Drugstore überrascht, und es war zu einer Schie ßerei gekommen. Beide jungen Täter waren ums Leben gekommen, einer hatte sechs Kugelwunden im Körper. Im Ledger war dann ein empörter Leitartikel unter der Schlagzeile POLIZEI ODER GESTIEFELTE GESTAPO? erschienen. Nicht zum erstenmal bezeichnete der Ledger die auf Hochglanz polierten schwarzen Lederstiefel der Motorradpolizisten der Highway Patrol als Gestapo-Stiefel. »Hat Carlucci jemanden im Sinn?« fragte Chief Inspector Dennis V. Coughlin. Coughlin ähnelte Commissioner Czernick. Er war ebenfalls groß und grobknochig, hatte noch alle Zähne und all sein Haar, das jetzt silbergrau war. Er war einer von elf Chief Inspectors der Polizei von Philadelphia, aber er galt als der Erste unter Gleichen. Ihm unter standen unter anderem das Rauschgiftdezernat, das Sittendezernat, die Abteilung Innere Angelegenheiten und die Abteilung Organisiertes Verbrechen. Die anderen zehn Chief Inspectors unterstanden entweder dem Deputy Commissioner (Operationen) oder dem Deputy Commissioner (Verwaltung), die dem Commissioner unterstellt waren. Denny Coughlin war dem Commissioner direkt unterstellt und war, nicht zu Unrecht, der Meinung, daß es seine Sache war, was irgendwo im Police Department geschah. »Der Bürgermeister hat verschiedene Dinge im Sinn«, sagte Commissioner Czernick vorsichtig, »und er war so freundlich, seine Gedanken mit mir zu teilen.« »Hört, hört«, bemerkte Lowenstein. »Er denkt, daß David Pekach ein guter Chef der Highway Patrol sein würde«, sagte Commissioner Czernick. Chief Lowenstein dachte einem Moment darüber nach. Dann lach
te er und sagte: »Dann muß er aber seinen Pferdeschwanz ab schneiden. Meinen Sie, daß David dazu bereit wäre?« Alle am Konferenztisch außer Deputy Commissioner Wilson lach ten. Der kürzlich beförderte Captain Pekach war nicht einmal auf Wil sons erster Liste von vierzehn Captains, aus der er schließlich drei auswählen wollte, von denen einer den Posten des Chefs der High way Patrol erhalten sollte, der frei geworden war, als Captain Richard C. Moffitt bei dem Versuch, einen bewaffneten Überfall zu stoppen, erschossen worden war. »Mike Sabara wäre als Moffitts Nachfolger dran«, sagte Chief In spector Coughlin. »Und er ist qualifiziert. Ich nehme an, der Bürger meister hat das bedacht?« »Der Bürgermeister meint, Mike würde der passende Stell vertretende Chef der Special Operations Division sein«, sagte Czer nick. »Besonders wenn ich mit seinem Vorschlag einverstanden bin, die Highway Patrol von der Verkehrspolizei wegzunehmen und Spe cial Operations zu unterstellen. Dann wäre es eine Art Beförderung für Sabara, sagte der Bürgermeister.« »Ich dachte, die Idee dieser Special Operations Division wäre ge storben«, sagte Deputy Commissioner für Operationen Francis J. Cohan, der sich zum erstenmal bei dieser Konferenz zu Wort melde te. »Ich mochte sie nicht, sagte das und jetzt wird sie trotzdem aufge stellt?« »Denny wird diese neue Abteilung für besondere Operationen lei ten«, sagte Commissioner Czernick und nickte zu Chief Inspector Coughlin hin. »Mein Gott!« stieß Cohan hervor. »Wenn die Highway Patrol nicht unter Operationen fällt, worunter dann?« »Sie haben jetzt alles außer der Highway Patrol«, sagte Com missioner Czernick. »Die Highway Patrol untersteht jetzt Special Operations.« »Die Highway Patrol und was sonst?« fragte Cohan. »Highway und ACT«, sagte Czernick. »Das ACT wurde bewilligt?« fragte Deputy Commissioner Wilson überrascht und ärgerlich. ACT war die Abkürzung für Anti Crime Team, ein bundesstaatlich finanziertes Projekt, das vom Justizministerium durchgeführt wurde. Es war mehr oder weniger ein Test, um zu sehen, welche Wirkung in einem Gebiet mit hoher Kriminalität der Einsatz einer Sondereinheit der Polizei hatte, die mit modernster Technik und besonderer Unter stützung von der Staatsanwaltschaft arbeitete. Der Stellvertretende Distrikt Attorney sollte ausschließlich damit beschäftigt sein, Krimi
nelle, die vom ACT festgenommen wurden, beschleunigt durch die Mühlen der Justiz zu drehen. Man versprach sich davon kurz- und langfristig eine Verbesserung der Verbrechensstatistik. »Wann ist all das passiert?« fragte Cohan. »Der Bürgermeister sagte mir, er erhielt Freitag nachmittag einen Anruf bezüglich der Bewilligung des Anti Crime Teams«, sagte Czer nick. »Ich nehme an, es wird morgen in den Zeitungen stehen oder vielleicht heute abend im Fernsehen sein. Der Bürgermeister sagte, wir bekommen Gelder, und einige sofort.« »Ich meine, wann wurde das mit der Special Operations Division entschieden?« fragte Cohan. »Warten Sie einen Moment«, sagte Czernick. »Ich bin froh, daß dies zur Sprache gekommen ist.« Er wandte sich Deputy Commissio ner für Verwaltung Wilson zu. »Harry, ich möchte nicht hören, daß beim Aufbau von Special Operations etwas nicht getan werden kann, weil es an Geld mangelt. Sie bewilligen, was immer nötig ist, benut zen den Fonds für unvorhergesehene Ausgaben, bis das Geld vom Bund kommt. Dann gleichen Sie den Fonds wieder aus. Verstan den?« »Jawohl, Sir«, sagte Deputy Commissioner Wilson. »Um Ihre Frage zu beantworten, es wurde gestern entschieden. Ich weiß nicht, wie lange der Bürgermeister darüber nachgedacht hat, aber die Entscheidung fiel gestern morgen um halb elf. Als er vom Gottesdienst heimkam, rief er mich an und sagte, wenn ich nichts Wichtiges vorhabe, solle ich auf eine Tasse Kaffee zu ihm kommen.« »War das bevor er den Ledger las oder danach?« fragte Lowen stein. »Er fragte mich gleich, als ich zur Tür hereinkam, ob ich den Artikel gelesen habe«, sagte Czernick. »Und wann wird das alles realisiert?« fragte Cohan. »Ab sofort, Frank«, erwiderte Czernick. »Mit Wirkung von heute.« »Soll ich einen Chef für diese neue Special Operations Division auswählen?« erkundigte sich Coughlin. »Sie können jeden auswählen, den Sie wollen, Denny, solange er Peter Wohl heißt.« Coughlin regte sich auf. »Warum zieht Carlucci nicht einfach hier ein, wenn er ohnehin jede verdammte Entscheidung trifft?« Dann fügte er hinzu: »Nicht, daß ich etwas gegen Peter Wohl hätte. Aber – verdammt!« »Carlucci braucht nicht hier einzuziehen, solange er meine Tele fonnummer hat, Denny«, sagte Commissioner Czernick. »Hat Carlucci Ihnen Gründe für all dies genannt?« fragte Deputy
Commissioner Wilson. »Oder für eine der Neuerungen?« »Nein, aber als er mir alles erklärte – es gibt noch etwas mehr, zu dem ich noch nicht gekommen bin – , fragte er mich, ob ich irgend welche Einwände habe, ob etwas falsch an seinen Vorstellungen sei, was ihm entgangen sei.« »Und Sie fanden nichts falsch daran?« fragte Cohan leise. »Er will eine Special Operations Division«, sagte Czernick. »Er weiß, daß Sie nichts davon wissen wollen. So gab er sie Denny Coughlin. Er will, daß Peter Wohl sie leitet. Was sollte ich da sagen? ›Peter ist nicht qualifiziert‹? Er findet, daß Mike Sabara schlecht für das Image der Highway Patrol ist. Was sollte ich sagen? ›Diese Schönheit ist nur äußerlich‹?« Cohan zuckte mit den Schultern. »Sie sagten, da ist noch mehr.« »Sobald Peter Wohl sich freigeschwommen hat, wird Denny ihn auffordern, jemanden von den Sergeants der Highway Patrol zu emp fehlen, der den Fahrer des Bürgermeisters ablöst. Sergeant Lucci, sein derzeitiger Fahrer, steht jetzt auf der Liste zur Beförderung zum Lieutenant. Wenn Peter Wohl einen Ersatz für ihn hat, wird Lieute nant Lucci zur Highway Patrol zurückkehren und seinem Rang ent sprechend Dienst tun.« »Sie denken nicht zufällig«, sagte Chief Lowenstein sarkastisch, »daß Lieutenant Lucci vielleicht vorhat, etwas von den ACT-Geldern für die Highway Patrol abzuzweigen, oder? Oder daß er zufällig dem Itaker dann und wann begegnet, sagen wir einmal pro Woche, und beiläufig beim Plaudern erwähnt, daß die Highway Patrol nicht soviel Geld erhält, wie sie seiner Meinung nach erhalten sollte. Nichts in dieser Art kann passieren, oder, Tad?« »Ich weiß es nicht«, sagte Czernick kühl. »Aber wenn das der Fall ist, dann würde das Peter Wohls Problem sein, meinen Sie nicht auch? Wohls und Dennys Problem.« »Was hat Carlucci wirklich – langfristig gesehen – mit dieser Spe cial Operations Division im Sinn?« fragte Chief Inspector Coughlin. »Langfristig? Da habe ich keine Ahnung«, sagte Czernick. »Kurz fristig? Ja, da weiß ich, was ihm vorschwebt.« Es folgte eine Pause, und als sie nicht endete, sagte Denny Coughlin: »Klären Sie uns auf?« »Er sagte, Denny, daß er es für schön halten würde, wenn er in ein paar Wochen eine Pressekonferenz einberufen und verkünden könn te, daß ein Anti Crime Team der neuen Special Operations Division, die ein kleiner Vorschlag von ihm an die Polizei war, soeben die Ver haftung des Perversen bekannt gegeben hat, der die anständigen Frauen von Nordwest-Philadelphia vergewaltigte und terrorisierte.«
»Dieser Dreckskerl ist keine Sache des Anti Crime Teams oder der Special Operations Division oder der Highway Patrol«, sagte Chief Inspector Lowenstein ärgerlich. »Vergewaltigung ist Sache der Kripo. So war es immer.« »So ist es immer noch, Matt«, erwiderte Czernick ruhig. »Abgesehen von den Ereignissen in Nordwest-Philadelphia. Diese Sache fällt jetzt unter Peter Wohls Zuständigkeit, weil Bürgermeister Carlucci es will.« »Der Perverse hat in der vergangenen Nacht wieder zu geschlagen«, sagte Deputy Commissioner Cohan. »Er brach in die Wohnung einer Frau namens Mary Elizabeth Flannery in der Henry Avenue in Roxborough ein, fesselte die Frau ans Bett, schnitt ihre Kleidung mit einem Messer auf, entkleidete sich, zwang das Opfer zu Oralverkehr, und als ihm das keine Erektion brachte, masturbierte er, ejakulierte und urinierte auf das Opfer. Dann fesselte er der Frau die Hände auf den Rücken, verfrachtete sie in einen Kleintransporter und setzte sie nackt am Forbidden Drive im Fairmount Park aus.« »Was meinen Sie mit ›setzte sie nackt im Park aus‹?« fragte Lo wenstein. »Einfach das, Matt. Er brachte sie in einem Kleintransporter in den Park und warf sie raus. Ihre Hände waren hinter dem Rücken gefes selt, und sie war splitternackt.« »Wenn man so jemanden schnappt, sollte man dem Bastard die Eier abschneiden und ihn verbluten lassen«, sagte Lowenstein. »Hoffen wir, daß Peter Wohl ihn schnappen kann«, sagte Czernick.
Fünf Minuten nach zehn stellte sich Colonel J. Dunlop Mawson von der Antwaltskanzlei Mawson, Payne, Stockton, McAdoo & Lester, Rechtsberater des Philadelphia Bulletin, an der Tür der Theodore Roosevelt Suite vor und wurde hereingebeten. »Mr. Bolinski«, sagte Colonel Mawson, während er Bull begeistert die Hand schüttelte, »ich bin einer Ihrer größten Fans.« »Und ich einer der Ihren, Colonel«, sagte Bull. Bevor der Satz ganz heraus war, erkannte Mickey O’Hara, daß Bull nicht mehr wie das typische polnische katholische Produkt von West-Philadelphia klang. »Ich kann nur hoffen, daß die Anwesenheit des besten Anwalts von Philadelphia nicht zu dem Versuch führt, meinem Mandanten das Fell über die Ohren zu ziehen.« Colonel Mawson strahlte bei dem Kompliment »bester Anwalt von Philadelphia«, doch dann lächelte er etwas gezwungen. »Bull«, sagte er, »… darf ich Sie Bull nennen?«
»Na klar«, sagte Bull. »Ich hoffe, wir werden Freunde.« »Bull, ehrlich gesagt, ich habe ein bißchen meinen Rang aus gespielt. Ich bin Seniorpartner der Kanzlei, und ich nutzte das aus, um eine Gelegenheit zu haben, Sie kennenzulernen.« »Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Bull, »und es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Colonel.« »Für mich ist es eine Ehre, den Mann kennenzulernen, der un bestritten der beste Halbstürmer war, den der Football je gekannt hat.« »Dies ist meine Frau, Colonel«, sagte Bull. »Und ich glaube, Sie kennen Mr. O’Hara.« »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Ma’am«, sagte Mawson. »Darf ich Ihnen Kaffee anbieten, Colonel?« fragte Antoinette. »Oder vielleicht etwas anderes?« »Kaffee ist eine hervorragende Idee«, sagte Colonel Mawson. Er nickte Mickey zu, sagte jedoch nichts und gab ihm auch nicht die Hand. Es folgte ein von Colonel Mawson geleiteter zehnminütiger Ausflug in die Vergangenheit des Football. Dann gab es einen Umweg via Bulls Erwähnung, daß er Lenny Moskowitz juristisch vertrat, und wei tere zehn Minuten, in denen die Kniffligkeit von Eheverträgen in Be griffen diskutiert wurde, die Mickey nicht im geringsten verstehen konnte. Schließlich sagte Bull: »Colonel, ich beende diese anregende Un terhaltung nur ungern, aber Antoinette und ich haben einen sehr vol len Terminplan.« »Selbstverständlich«, sagte Colonel J. Dunlop Mawson, »verzeihen Sie mir.« Er öffnete seinen Aktenkoffer aus Krokodilleder und nahm einen Aktenhefter heraus, den er Bull überreichte. »Ich denke, Sie werden feststellen, daß uns das zu einer Einigung führen wird«, sagte Colonel Mawson. Bull las das Dokument sehr sorgfältig, während Colonel J. Dunlop Mawson fasziniert Mrs. Bolinskis Reiseführung zu den besseren Re staurants in dem Gebiet Miami / Palm Beach lauschte. »Mit ein paar geringfügigen Abweichungen ist dies anscheinend das, was ich mit Mister – wie war der Name? – besprochen habe.« »Lemuelson«, sagte Colonel Mawson. »Steve Lemuelson. Was stört Sie, Bull?« »Ich möchte hier einen Passus einfügen«, sagte Bull. Colonel Mawson eilte zu Bulls Sessel, schaute Bull über die Schul ter und las laut, was er eingefügt hatte: »… es wird vereinbart, daß
die jährliche Lohnerhöhung normalerweise zehn Prozent des Entgelts und der Spesenvergütung betragen wird, es sei denn, die jährliche Inflationsrate geht über vier Prozent hinaus. In diesem Fall wird die jährliche Lohnerhöhung normalerweise zehn Prozent plus siebzig Prozent der Inflationsrate betragen, entsprechend den letzten veröf fentlichten Zahlen des US-Wirtschaftsministeriums.« Colonel Mawson stieß einen Grunzlaut aus. »Sie verstehen das Problem natürlich, Colonel«, sagte Bull. »Ich denke, wir können damit leben, Bull«, erwiderte Colonel Maw son. Mickey hatte keine Ahnung, wovon sie redeten. »Und dann hier in vierzehn (c) sechs«, sagte Bull. »Ich denke, das sollte ein wenig spezifiziert werden. Sie können sehen, was ich einge fügt habe.« Und wieder las Colonel Mawson die abgeänderte Klausel laut: »Ein Buick Super, Mercury Monterey oder ein gleichwertiges Automobil, einschließlich spezieller Funkanlage, die Mr. O’Haras Anforderungen entspricht, einschließlich Einbau, Wartung und aller diesbezüglich anfallenden Kosten.« Colonel Mawson schwieg einen Augenblick lang nachdenklich, und dann sagte er: »Oh, ich verstehe. Nun, das klingt zumutbar.« »Gut«, sagte Bull. »Und schließlich habe ich noch einen letzten Pa ragraphen hinzugefügt – sechsunddreißig.« Er blätterte in dem Do kument und las diesmal selbst laut vor: »Die Bedingungen dieses Vertrages treten mit Wirkung vom ersten Juni dieses Jahres in Kraft.« »Aber, Bull«, wandte der Colonel ein, »er hat all diese Zeit nicht gearbeitet.« »Er hätte gearbeitet, wenn Sie damals die Bedingungen akzeptiert hätten, die hier stehen«, sagte Bull. Der Colonel zögerte. Schließlich sagte er. »Ah, was soll’s. Bull, warum nicht?« »Ich bin der festen Überzeugung, daß Mr. O’Hara keine unzumut baren Bedingungen stellt«, sagte Bull. »Ich bedaure, daß es bis zur Arbeitsverweigerung gekommen ist«, sagte Colonel Mawson. »Ich schlage vor, daß Mr. O’Hara jetzt unterzeichnet und alles Ab geänderte paraphiert«, sagte Bull. »Und wenn ich wieder im Büro bin, lasse ich von meinem Mädchen ein halbes Dutzend Kopien machen und Ihnen per Post zuschicken.« Als Mickey O’Hara die Abänderung Abschnitt 11 Entgelt paraphier te, sah er, daß eine Zeile durchgestrichen war. Ursprünglich hatte
dort gestanden: ›… wöchentlicher Lohn siebenhundertfünfzig Dollar, null null Cent ($ 750,00)‹. und das war in ›… eintausend Dollar, null null Cent ($ 1000,00)‹ geändert worden. Darunter stand: Die Summe ist wöchentlich per Scheck an Heidenheimer & Bolinski zu zahlen, die hiermit die Verantwortung für die Zahlung aller Steuern und Sozial versicherungsbeiträge übernehmen. Als Mickey aus der Theodore Roosevelt Suite hinab in die Halle kam, hielten sich zwei Leute hinter der Rezeption des Bellevue Strat ford auf, und keiner davon war Miss Travis. Er wurde zwischen Ent täuschung und der Erleichterung hin und her gerissen, daß sie end lich abgelöst worden war. Er fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn er einfach mal im Bellevue-Stratford vorbeischauen und guten Tag sagen und sie viel leicht fragen würde, ob sie mit ihm essen oder ins Kino gehen würde. Dann wurde ihm klar, daß das ein alberner Gedanke war. Sie hatte ihm das gleiche Lächeln geschenkt wie die Xanthippe, die Theater wegen ihres Zimmers gemacht hatte. Vielleicht war das Lächeln et was echter gewesen, aber das lag vermutlich daran, daß er Bull be sucht hatte, der in einer der teuren Suiten wohnte. Aber vielleicht auch nicht. Sie hatte gesagt, daß sie eine begeister te Leserin seiner Artikel war. Und dann ging Mickey O’Hara durch die Drehtür hinaus auf die South Broad Street, und da war Miss Travis. Sie kam aus Richtung City Hall und trüg Papiersäcke mit Papierhandtüchern. »Hallo!« sagte sie. »Ich dachte, Sie gehen ins Bett.« »Ich bin auf dem Weg«, sagte sie. »Kann ich Sie begleiten?« Verdammt, was rede ich da für einen Mist! »Ich meinte es nicht so, wie es klang«, sagte Mickey hastig. »Ich meine, ich habe meinen Wagen und könnte Sie mitnehmen…« »Ich muß vermutlich woanders hin als Sie«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Wohin?« »Roxborough.« »Das liegt praktisch auf meinem Weg.« »Tatsächlich?« »Tatsächlich.« Es würde auch auf meinem Weg liegen, wenn du nach Mexico maßtest. »Wo ist Ihr Wagen?« fragte sie. Er wies hin.
»Sie fahren wirklich in diese Richtung?« »Wirklich.« Miss Travis hatte anscheinend nichts an seinem Wagen auszuset zen, aber Mickey ließ in die Unterhaltung einfließen, daß er bald ei nen neuen bekommen würde, entweder einen Mercury oder Buick. Noch wichtiger, sie vertraute ihm an, daß ihr Vorname Mary war, und sie sagte, sie würde gern mit ihm zum Essen ausgehen, aber es wäre schwierig zu arrangieren, weil sie die Schicht von neunzehn bis drei Uhr hatte, was ein normales gesellschaftliches Leben nahezu unmöglich machte. »Ich weiß«, sagte Mickey. »Beim Bulletin kommt man erst um halb drei morgens ins Bett.« »Sie meinen, Sie haben erst um halb drei morgens frei?« Er nickte, und sie lächelte ihn an, und er dachte: Wir haben bereits etwas gemeinsam. Als Mickey vierzig Minuten später den verschrammten Chevrolet Impala auf den Parkplatz des Polizeireviers vom Fünfunddreißigsten Distrikt lenkte und bei dem Schild INSPECTOR PARKING ONLY parkte, konnte er immer noch nicht richtig glauben, was geschehen war. Ich habe eine Verabredung mit Mary Travis. Morgen früh. Um fünf nach drei am Eingang des Bellevue Stratford. Und das war noch nicht alles. Ich verdiene soviel Zaster wie der verdammte Polizeichef! Er blieb eine Weile im Wagen sitzen und rauchte eine Zigarette. Dann stieg er aus und betrat das Gebäude durch eine Tür mit der Aufschrift POLICE USE ONLY. Er winkte den uniformierten Polizisten im Großraumbüro im Erdgeschoß zu und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf, in dem sich die Kriminalabteilung befand. Auf dem Gang vor den Büros der Kripo gab es ein paar Ver kaufsautomaten, einen Mülleimer und zwei Stühle. Eine Wand mit Schalter und einer Tür war vor ihm. Dahinter befand sich das Groß raumbüro der Kripo. Ein Schild am Schalter wies darauf hin, daß das Betreten nur Polizeipersonal erlaubt war. Jenseits des Schalters saß ein Detective an einem Schreibtisch. Mickey ging durch die Tür, winkte dem Detective zu und grüßte ein halbes Dutzend Kriminalbeamte, die an ihren Schreibtischen saßen, mit einem Nicken oder einem Lächeln und warf einen schnellen, ge übten Blick auf die Liste des diensthabenden Polizisten am Empfang. Auf der Liste standen die Namen aller Personen, die während der Schicht zur ›Befragung‹ in das Großraumbüro der Kripo gebracht wurden. Die Liste war eine inoffizielle Aufzeichnung, die hauptsäch
lich als Gedankenstütze für den diensthabenden Polizisten gedacht war, der sich erinnern konnte, wer wen gebracht hatte und dafür ver antwortlich war. Wenn eine Person bis in den Raum der Kripo kam, war es fast so gut wie sicher, daß der »Befragung« eine Festnahme folgte. Mickey fand nichts, das besonders interessant aussah, und er durchquerte den Raum und ging in einen Alkoven, in dem eine Kaf feemaschine stand. Er nahm sich Kaffee und legte einen Dollar in die Kaffeekasse. Als er den Alkoven verließ, schaute er durch das Fenster in das kleinere Büro des Lieutenants der Kripo Nordwest. Lieutenant Teddy Spanner, der Schichtleiter, und Lieutenant Louis Natali von der Mord kommission waren darin. Das war ungewöhnlich; man sah selten einen Lieutenant der Mordkommission in einem der Büros der Kripo, es sei denn, es war etwas Wichtiges los. Lou Natali, ein schlanker Mann mit olivfarbener Haut und schütte rem Haar, lehnte an der Glaswand. Spanner saß hinter dem Schreib tisch. Der Lieutenant war ein sehr großer, hellhäutiger Mann. Er wink te Mickey zu und rief ihn herein. »Wie geht’s, Mickey?« fragte Spanner, als Mickey sich über den Schreibtisch neigte und ihm die Hand schüttelte. »Kann nicht klagen«, erwiderte Mickey und wandte sich Lou Natali zu. »Und wie geht’s Ihnen, Lou?« »Hab Sie lange nicht mehr gesehen, Mick«, sagte Natali. »Waren Sie krank oder was?« »Ich hab’ mir ein paar Wochen frei genommen«, sagte Mickey. »Waren Sie auf der Insel?« fragte Spanner. »Auf welcher Insel?« Mickey blickte ihn verständnislos an. »Als ich Sie vor ein paar Wochen sah, sagten Sie mir, Sie seien reif für die Insel.« »Ich gammelte nur zu Hause herum und schaute mir die Tapete an«, sagte Mickey. »Was gibt’s denn Neues, Mick?« fragte Natali. Was es Neues gibt? Ich verdiene jetzt tausend pro Woche, minus hundert für Bull, plus einen Buick Super, Mercury Monterey oder gleichwertiges Auto. Und ich habe soeben ein interessantes Mädchen kennengelernt. Das ist das Neue. »Nicht viel« sagte Mickey. »Habt ihr was Interessantes?« Beide Polizeibeamte zuckten mit den Schultern. Mickey war ent täuscht. Als er Lou Natali gesehen hatte, war er auf den Gedanken gekommen, daß irgend etwas Wichtiges im Gange war. Aber Mickey kannte die beiden gut genug, um zu wissen, daß er sie besser nicht
mit Fragen bedrängte. Vielleicht war nichts los. Wenn etwas im Gan ge war, hätten Spanner oder Natali es gesagt, vielleicht mit der Einlei tung Inoffiziell, Mick, aber sie hätten es ihm nicht verschwiegen. »Erzählen Sie von der nackten Frau im Fairmount Park«, bat Mi ckey. »Ich hörte gestern nacht davon.« »Jeder Wagen vom Distrikt plus die halbe Highway Patrol fuhr auf den Ruf hin los, Mick«, sagte Spanner. »Aber abgesehen davon ist die Sache nicht lustig. Lou und ich sprachen gerade darüber.« »Weihen Sie mich ein?« fragte Mickey. »Inoffiziell?« Verdammt, ich wußte doch, daß etwas los ist! »Klar.« »Ich nehme an, Sie haben von dem Kerl gehört, der in Manayunk und Roxborough Frauen vergewaltigte?« Mickey nickte. »Nach dem, was ich hörte, ist das derselbe Täter, der die Frau nackt im Fairmount Park aussetzte.« »Vorher hat er sie vergewaltigt?« »Nicht ganz«, sagte Spanner. »Das ist ein wirklich kranker Typ. Und er wird immer schlimmer.« »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Mickey. »Er vögelt sie nicht mehr«, erklärte Spanner. »Er geilt sich daran auf, sie zu demütigen. Pißt auf sie und Schlimmeres.« »Verdammt!« sagte Mickey. »Und Schlimmeres?« »Er hielt ihr ein Messer an die Kehle und zwang sie zu Oralverkehr. Als er keinen hochbekam, pinkelte er auf sie. Dann fesselte er ihr die Hände hinter dem Rücken und warf sie auf dem Forbidden Drive aus dem Wagen.« »Dieser Bastard l« »Und es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, daß er jemanden umbringen wird, wenn er nicht gefaßt wird. Vermutlich wird er seine Opfer mit dem Messer töten. Ich befürchte, er geht von jetzt an auf jüngere Mädchen los.« »Mein Gott!« In Mickey stieg ein übles Gefühl auf, als er sich vor stellte, daß der Dreckskerl so etwas einem Mädchen wie Mary Travis antat. »Habt ihr schon was herausgefunden?« »Nicht viel«, sagte Spanner. »Wir haben keine gute Beschreibung. Wir wissen nur, daß er ein Weißer ist, der einen Kleintransporter ge fahren hat. Und daß er eine Maske trägt.« »Sie haben das nicht von hier erfahren, Mickey«, sagte Natali. »Ich will den Hurensohn nicht auf irgendwelche Ideen bringen.« Mickey versicherte, daß er die Informationen nicht weitergeben
würde. »Wer hat diesen Fall?« erkundigte er sich dann. »Dick Hemmings«, sagte Spanner. Mickey wußte, daß Dick Hemmings fähiger als der Durchschnitt der Kripo Nordwest war, was schon etwas heißen sollte, weil die Abtei lung Nordwest außer wenigen Ausnahmen wirklich gute Kriminalbe amte hatte. »Welcher Cop war als erster bei der Frau?« fragte Mickey. »Bill Dohner«, sagte Spanner. »Ich weiß nicht, wo Sie ihn finden können, bis er heute abend auf seinem Revier eintrifft. Dick Hem mings ist im Gericht. Ich hab’ das Gefühl, daß er den ganzen Tag dort sein wird.« »Nun, dann sollte ich anfangen, mir meine Brötchen zu verdienen«, sagte Mickey. Er ging in den Alkoven, spülte seine Kaffeetasse und stellte sie in das Regal bei der Kaffeemaschine. Dann nahm er den Hörer eines Telefons auf einem der nicht benutzten Schreibtische ab und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte. »Lokalredaktion«, meldete sich eine Männerstimme. »Hier ist O’Hara«, sagte Mickey. »Mr. Michael J. O’Hara?« fragte Gerald F. Kennedy, der Lokalre dakteur des Bulletin, in gespielter Ehrfurcht. »Darf ich zu hoffen wa gen, Mr. O’Hara, daß ein Körnchen Wahrheit an den Gerüchten ist und Sie uns nicht länger Ihre kostbaren Dienste vorenthalten?« »Sie können mich mal, Kennedy.« »Was verschafft mir dann die Ehre dieses Anrufs, Mr. O’Hara?« »Wer beschäftigt sich mit den Vergewaltigungen in NordwestPhilly?« »Warum wollen Sie das wissen, Mickey?« »Ich glaube, ich hab’ da eine Fährte.« »Tatsächlich?« »Ja, tatsächlich.« »Sonderbar, aber ich kann mich nicht erinnern, Ihnen diese Story gegeben zu haben.« »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? In diesem Fall können Sie mich mal. Ich werde bezahlt, ob ich arbeite oder nicht.« »Ich habe die Story Cheryl Davies gegeben«, sagte Kennedy. »Es wird ihr nicht gefallen, wenn ich sie ihr wegnehme und Ihnen gebe.« »Sagen Sie Cheryl, daß sie Sie mal kann.« »Das würde ich liebend gern«, erwiderte Gerry Kennedy. »Aber ich bezweifle, daß sie das Angebot annehmen wird. Was wollen Sie von ihr, Mickey?«
»Nicht das geringste«, sagte Mickey. »Ich beschäftige mich selbst mit dieser Sache. Und Sie entscheiden dann, wessen Stoff Sie brin gen.« »Wie wäre es, mit ihr zusammenzuarbeiten, Mick?« fragte Gerry Kennedy. »Ich meine, sie ist schon drei Wochen lang damit im Gange und…« Er verstummte mitten im Satz, als ihm klarwurde, daß Mickey O’Hara den Hörer aufgelegt hatte.
6
»Guten Tag, Sir«, sagte Jesus Martinez zu dem Mann, der auf dem Parkplatz des Penrose Einkaufszentrums an der Lindberg Avenue in West Philadelphia zwei gefüllte Tragetaschen vom Rücksitz eines Buick genommen hatte. Jesus Martinez war puertorikanischer Ab stammung, einsdreiundsechzig, und er brachte siebzig Kilo auf die Waage. »Was soll der Scheiß?« erwiderte der Mann. Sein Name war Cla rence Sims, und er war über einsneunzig und wog neunzig Kilo. »Der Sir hat ein wenig eingekauft, nicht wahr?« »Geh mir aus den Augen, du Wichser«, erwiderte Clarence Sims. »Ich bin Polizist«, sagte Jesus Martinez und hob sein T-Shirt an, das er über seinen Bluejeans trug, so daß sein Abzeichen am Gürtel zu sehen war. »Darf ich bitte Ihren Führerschein und den Kfz-Schein sehen?« Clarence Sims wog kurz den Größenunterschied zwischen ihnen beiden und seine Möglichkeiten ab, und dann warf er die gefüllten Tragetaschen mit dem Aufdruck John Wanamaker & Sons auf Jesus Martinez und rannte los. Er kam bis zur Stoßstange des Buicks, dann stolperte er über et was. Im nächsten Augenblick lag Clarence Sims flach auf dem Bo den, und ein gewaltiger Weißer saß auf ihm und drehte ihm schmerz
haft die Arme auf den Rücken. Er spürte, daß sich eine stählerne Handschelle erst um das eine Handgelenk schloß, dann um das an dere. Und der kleine Puertorikaner war auf einmal über ihm und drückte ihm einen Revolver gegen die Nase. »Nenn mich nicht noch mal Wichser, du Wichser!« sagte Officer Jesus Martinez wütend. »Che-sus«, sagte der schwergewichtige Weiße. »Reg dich ab.« »Ich kann diesen Scheißer nicht ausstehen!« entgegnete Officer Martinez, immer noch wütend. Aber er zog den Revolver von Claren ce Sims’ Nase weg. Clarence Sims wurde abgetastet. Aus einer Gesäßtasche wurde ein Schnappmesser gezogen, aus der anderen seine Brieftasche. Seine Hosentaschen wurden geleert, und Geldmünzen und Kau gummi fielen auf den Parkplatz. Sein Schritt wurde routiniert abgeta stet, und dann spürte er, daß Hände an seinen Beinen hinabstrichen. Aus der rechten Socke wurden ein Marihuana-Joint, ein kleiner Pla stikbeutel mit Marihuana – auf der Straße als ›Nickel bag‹ bekannt, weil er für fünf Dollar verkauft wurde – und ein Streichholzbriefchen entfernt. »Mein Gott!« sagte eine weibliche Stimme schockiert. »Es ist alles in Ordnung, Ma’am«, hörte Clarence den Puerto rikaner sagen. »Wir sind Polizeibeamte. Ist dies Ihr Wagen, Ma’am?« »Ja, das ist meiner«, sagte die Frau, und dann entdeckte sie die Tragetaschen mit ihren Einkäufen, und ihre Stimme nahm einen em pörten Klang an. »Das sind meine Sachen!« »Das habe ich mir irgendwie gedacht«, sagte Martinez. Clarence spürte, daß das Gewicht des Mannes, der auf ihm ge hockt hatte, verschwand. »Sie heißen Clarence Sims?« fragte Martinez. »Leck mich am Arsch!« Clarence Sims’ Gesicht, das er vom Asphalt des Parkplatzes an gehoben hatte, bekam wieder ziemlich unangenehmen Kontakt mit dem Asphalt, als hätte sich etwas – vielleicht ein Fuß – auf seinen Nacken gestellt. »Sie sind festgenommen, Clarence«, sagte der weiße Hüne. »Was ist hier passiert?« fragte die Frau. »Ich sah, wie er diese Sachen vom Rücksitz Ihres Wagens nahm«, sagte Martinez. »Ma’am, können Sie mir sagen, wieviel die Sachen wert sind?« Das Opfer überlegte einen Moment. »Zweihundert Dollar«, sagte sie schließlich. »Vielleicht etwas mehr.« »Es würde uns helfen, wenn Sie uns sagen können, ob die Sachen
ganz bestimmt mehr als zweihundert Dollar wert sind«, sagte Jesus Martinez. Das Opfer dachte nach und sagte dann: »Wenn ich es mir genau überlege, ist alles mehr an die dreihundert Dollar wert als zweihun dert.« »Volltreffer«, sagte Charley McFadden, der gewaltige Weiße. »Meins.« Das Opfer schaute ihn sonderbar an. Die Straftat, die jetzt Clarence Sims zur Last gelegt wurde, Dieb stahl aus einem Auto, ist ein minderes Delikt. Es gibt drei Unterkate gorien: M-3, wenn der gestohlene Besitz unter fünfzig Dollar wert ist; M-2, wenn der Besitz zwischen fünfzig und zweihundert Dollar wert ist; und M-1, wenn der Besitz über zweihundert Dollar wert ist. Wie die meisten Polizeibeamten unter den gegebenen Umständen war Charley McFadden erfreut, daß der Kerl, den er festgenommen hatte, nicht so unbedeutend war, wie er hätte sein können; ein M-1 Dieb war eine bessere Verhaftung als ein M-3. Clarence Sims hatte einen schwachen, aber wachsenden Hoff nungsschimmer, daß er sich aus seiner mißlichen Lage herauswin den konnte. Die verdammten Bullen hatten ihm nicht seine Rechte aufgesagt. Wie die meisten Leute in seinem Gewerbe kann Clarence Sims sehr gut, was als das Miranda-Gesetz bekannt war. Wenn die verdammten Bullen nicht die Litanei herunterleierten, angefangen mit ›Sie haben das Recht, sich nicht zu äußern…‹, und wenn sie ihn nicht darauf hinwiesen, daß er einen Anwalt vom Staat erhielt, wenn er sich selbst keinen leisten konnte, und man war in der Lage, das zu beweisen, dann sagte man das dem Richter, und der ließ einen als freien Mann gehen. Clarence Sims irrte sich. Nach dem Gesetz muß ein Verdächtiger nur auf seine Rechte unter Miranda belehrt werden, wenn er bezüg lich eines Verbrechens befragt wird. Da die beiden Polizisten, die ihn festgenommen hatten, nicht vorhatten, ihm irgendwelche Fragen be züglich eines Verbrechens zu stellen, brauchten sie Mr. Sims nicht über seine Rechte nach dem Miranda-Gesetz zu informieren. Der große weiße Bulle, wie Clarence Sims ihn bezeichnete – der zweiundzwanzigjährige Polizeibeamte namens Charles McFadden – , öffnete die Tür eines verbeulten alten Volkswagens und nahm ein kleines tragbares Funkgerät heraus. Der verbeulte alte VW war sein Privatwagen. Er hatte die Erlaub nis, ihn dienstlich zu benutzen. Er durfte es, mußte es jedoch nicht. Als er sich entschlossen hatte, ihn dienstlich zu benutzen, hatte er eine Art Kreditkarte der Polizei erhalten, die ihn berechtigte, bei jeder
Tankstelle der Polizei zu tanken – es gab eine Zapfsäule bei jedem District Headquarters – , bis zu hundert Gallonen im Monat, und man stellte keine Fragen. Wenn er sich nicht entschieden hätte, seinen Privatwagen dienstlich zu benutzen, hätte er diesen Dienst zu Fuß ausüben können. »Zwölfter Distrikt – Diebstahl«, sagte Charley McFadden in das Funkgerät. »Zwölfter Distrikt Diebstahl«, meldete sich sofort jemand. »Zwölfter Distrikt Diebstahl«, sagte Charley McFadden. »Ich brau che einen Wagen für einen Gefangenentransport. Wir sind auf dem Parkplatz Penrose Plaza bei der Island Road und der Lindberg Ave nue.« Der Polizeifunk antwortete nicht direkt Officer McFadden, sondern der Beamte überprüfte, was verfügbar war, und rief sofort den Emer gency Patrol Wagon (EPW): »Zwölf -null-eins.« »Zwölf-null-eins«, meldete sich EPW 1201. »Holen Sie einen Gefangenen auf dem Parkplatz Penrose Plaza, Island und Lindberg ab.« »Zwölf-null-eins, verstanden«, antwortete EPW 1201. Charley McFadden legte das Funkgerät auf den Sitz seines Volks wagens. Als die beiden Polizisten von EPW 1201 eintrafen, stellten sie fest, daß die Cops, die den Mann festgenommen hatten, mehr Schwierig keiten mit dem Opfer als mit dem Gefangenen hatten. Der Gefangene, dessen Hände hinter dem Rücken mit Hand schellen gefesselt waren, lehnte am Wagen des Opfers und hatte sich anscheinend mit seinem Schicksal abgefunden. Er grinste sogar ein wenig hämisch. Das Opfer, das informiert worden war, daß die beiden Trage taschen samt Inhalt zu Beweismaterial geworden waren und erst nach der Freigabe zurückgegeben werden konnten, führte ein hitzi ges Gespräch mit Officer McFadden. Sie erklärte ihm, daß sie ihre Einkäufe haben mußte, zumindest eine der Taschen von John Wa namakers & Sons, die ein Smokinghemd für ihren Gatten enthielt, das er unbedingt für eine Dinnerparty an diesem Abend brauchte. »Ma’am, wenn Sie zur Kripo West, Fiftyfifth und Pine Street, gehen und die Empfangsbestätigung unterschreiben, erhalten Sie Ihre Sa chen sofort zurück.« »Ich verstehe nicht, warum ich nicht gleich hier unterschreiben und meine Sachen mitnehmen kann«, sagte sie. »Ich habe kein Formular, Ma’am. Sie müssen bei der Kripo West
unterschreiben«, sagte Charley McFadden. »Das sind die Vorschrif ten.« Das war nicht die reine Wahrheit. Aber Officer McFadden hatte die Erfahrung gemacht, wenn man dem Opfer an Ort und Stelle den Be sitz zurückgab, sah man es nie wieder. Das Interesse eines Durch schnittsbürgers an einer Strafverfolgung endete nach McFaddens Erfahrung, wenn er einen persönlichen Beitrag leisten mußte, wie zum Beispiel vor Gericht erscheinen und unter Eid aussagen mußte, daß die gestohlenen Dinge ihm gehört hatten. Die Aussichten, daß die Frau vor Gericht erschien und dadurch vielleicht half, daß Mr. Sims in den Knast wanderte, wurden vergrö ßert, wenn sie beim Unterschreiben der Empfangsbestätigung bei der Polizei den Eindruck gewann, daß sie bereits in die Sache hineinge zogen war und vor Gericht erscheinen mußte. »Und wenn ich mich weigere, Anklage zu erheben?« fragte das Opfer schließlich wütend. »Lady, ich erhebe Anklage«, sagte Charley McFadden ebenso hef tig. »Oder Che-sus. Die Stadt erhebt Anklage. Wir schnappten ihn, als er diese Sachen aus Ihrem Wagen stahl.« »Nun, das werden wir sehen, junger Mann«, sagte das Opfer. »Das werden wir sehen. Mein Schwager ist zufällig ein sehr promi nenter Anwalt.« »Ja, Ma’am«, sagte Charley McFadden. Er wandte sich an die bei den Cops. »Ihr könnt ihn übernehmen.« »Ich werde sofort mit meinem Schwager telefonieren und ihm von dieser Unverschämtheit erzählen«, sagte das Opfer. »Das ist einfach empörend!« »Ja, Ma’am«, sagte Charley McFadden. Clarence Sims wurde zum Wagen geführt, darin verfrachtet und zur Kripo West gebracht, wo seine Hoffnung, ungeschoren davonzu kommen, von einem Kriminalbeamten zerstört wurde, der das Ge spräch eröffnete, indem er ihm seine Rechte nach dem MirandaGesetz erklärte. Lieutenant Ed Michleson, der Chef des Zwölften Distrikts, war überhaupt nicht überrascht, als er aus dem Büro von Chief Inspector Coughlin telefonisch informiert wurde, daß er die Dienste von Officer Jesus Martinez und Officer Charles McFadden verlieren würde. Als sie dem Zwölften Distrikt zugeteilt worden waren, hatte man ihm klargemacht, daß es nur eine vorübergehende Verwendung war und sie versetzt würden, sobald man einen guten Job für sie gefun den hatte. Sie hatten zuvor in Zivil für das Rauschgiftdezernat gearbeitet, ein
guter, aber nicht ungewöhnlicher Dienst für junge Polizisten, die ge wisse Ansätze zeigten, deren Gesicht auf der Straße noch unbekannt war und die mit der Drogenszene verschmelzen konnten, wenn sie ihre Haare wachsen ließen und sich wie Gammler kleideten. Wenn ihr Gesicht bekannt wurde, was unvermeidlich war, mußten sie für gewöhnlich wieder in Uniform arbeiten. Aber McFadden und Martinez hatten auf eigene Faust eine U-Bahn-Station überwacht und den Komplizen des Junkies aufgespürt, der am Mord an Captain Dutch Moffitt von der Highway Patrol beteiligt gewesen war. McFad den hatte den Junkie namens Gerald Vincent Gallagher über die Gleise gejagt, und Gallagher war auf die Stromschiene gestürzt und von einer U-Bahn überfahren worden. In den Filmen oder in den Fernsehkrimis hätte ihnen der Poli zeichef mit dem Bürgermeister und einer Anzahl von anderen hohen Tieren im Hintergrund das Abzeichen von Detectives überreicht und ihnen für ihren Erfolg gratuliert. Aber dies war die Realität, und Beför derungen zum Detective der Polizei von Philadelphia gibt es nur nach einem Lehrgang und bestandener Prüfung. Martinez hatte an dem Lehrgang teilgenommen und war durchgerasselt, und McFadden war noch nicht lange genug Polizist, um überhaupt an dem Lehrgang teil nehmen zu dürfen. Aber sie hatten gute Polizeiarbeit geleistet, und Chief Inspector Coughlin war ein netter Kerl und wollte sie nicht wie der in Uniform stecken – was junge Cops, die in Zivil gearbeitet hat ten, als eine Degradierung betrachten -, obwohl ihre Fotos auf den Titelseiten jeder Zeitung von Philadelphia und im Fernsehen gezeigt worden waren, wodurch ihre Wirksamkeit als verdeckte Ermittler des Rauschgiftdezernats zerstört worden war. So hatte Coughlin sie an den Zwölften Distrikt ausgeliehen, der personell unterbesetzt war und Probleme mit Dieben auf Parkplätzen von Einkaufszentren hatte. Sie sollten dort arbeiten, bis Coughlin ei nen ständigen Posten für sie fand. Und den hatte er jetzt gefunden. Lieutenant Michleson stand auf, ging in den Einsatzraum und frag te den Corporal, wo Dick und Doof waren. Die beiden wirkten wie Dick und Doof. McFadden war groß und schwer, Martinez war klein und drahtig; er erfüllte so gerade das Minimum an Größe und Ge wicht für den Polizeidienst. »Sie sind auf dem Weg hierher«, sagte der Corporal. »Sie haben soeben einen Dieb auf frischer Tat ertappt und festgenommen. Das sind fünf Festnahmen, seit sie hier sind.« »Wenn sie den Papierkram erledigt haben, schicken Sie die beiden zu mir«, sagte Michleson. »Wir werden sie verlieren.« »Wohin gehen sie?«
»Zur Highway Patrol?« »Zur Highway?« Der Corporal lachte. »Diese beiden?« fragte er überrascht. »Das ist nicht nett, Steve«, sagte Michleson und lächelte, als er sich Dick und Doof in der Uniform und mit den Abzeichen der High way Patrol vorstellte. »Ich bezweifle, daß Che-sus groß genug ist, um auf einem Motor rad zu sitzen«, sagte der Corporal. »Vielleicht will jemand bei ihnen die Schulden bezahlen«, sagte Lieutenant Michleson. »Die Highway Patrol hat nicht den Bastard geschnappt, der Captain Moffitt erschoß. Sie haben das geschafft.« »Wann gehen sie?« »Sie sollen sich morgen früh bei der Highway-Patrol melden.«
Staff Inspector Peter Wohl, mit fünfunddreißig der jüngste der acht zehn Staff Inspectors der Polizei von Philadelphia, lag auf dem Rük ken unter seinem Jaguar. Er schaute von der Arbeit an dem Wagen auf und sah genau auf den Schlüpfer einer Frau. Das Höschen war lachsfarben, mehr oder weniger durchsichtig und befand sich unter einem weißen Mini-Minirock. Er schob sich ganz unter dem Jaguar XK-120 hervor und setzte sich auf. Sein Gesicht und sein nackter muskulöser Oberkörper wa ren mit Schmierfett bedeckt, aber es war immer noch etwas an ihm, was ihn nicht als Mechaniker, sondern eher als Börsenmakler oder Anwalt wirken ließ. Oder aber als Polizeibeamter. »Hi«, sagte die Trägerin des lachsfarbenen Höschens und des weißen Mini-Minirocks. »Hi«, erwiderte Peter Wohl, der jetzt bemerkte, daß sie ein weißes Männerhemd trug, das bis unter ihren Busen hochgerollt und verkno tet war, wodurch ihr überhaupt nicht unattraktiver Bauchnabel zu se hen war. »Ich sah Sie aus dem Fenster bei der Arbeit«, sagte die Frau, »und ich dachte, Sie können einen Schluck brauchen.« Sie hielt ihm eine Flasche Budweiser hin. Peter Wohl sah jetzt, daß an der Hand, mit der sie die Flasche hielt, ein Verlobungs- und ein Ehering steckten. Er nahm die kühle Flasche Bier, die schon geöffnet war. »Danke«, sagte er und trank aus der Flasche. »Ich bin Naomi«, sagte die Frau. »Naomi Schneider.« »Peter Wohl.« Naomi Schneider war, wie Peter mit Polizeiaugen registrierte, eine
weiße weibliche Person, ungefähr einssiebzig, ungefähr hundertdrei ßig Pfund, ungefähr fünfundzwanzig, ohne sichtbare besondere Merkmale oder Narben. »Wir wohnen in Zwei-B«, sagte Naomi Schneider. »Mein Mann und ich, meine ich. Wir zogen vorige Woche ein.« »Ich sah den Möbelwagen«, sagte Peter. Zwei-B war das Apartment in der hinteren Hälfte im zweiten Stock des Hauses, in dem Peter wohnte. Es gab sechs Apartments in dem Herrenhaus aus der Ära des Ersten Weltkrieges, das von der Besitze rin, einer Immobiliengesellschaft, in ›Luxusapartments‹ umgewandelt worden war. Die Apartments hinten im Gebäude blickten auf die Ga rage für vier Wagen und die ehemalige Chauffeurswohnung darüber. Peter wohnte in dem ehemaligen Chauffeursquartier und belegte zum oftmals unverhohlenen Ärger der anderen Mieter zwei der vier Gara gen. Er sagte sich, daß Mr. Schneider möglicherweise seiner Frau den Floh ins Ohr gesetzt hatte, ihm eine der beiden Garagen abzu schwatzen, indem sie Freundschaft mit dem Typ mit dem Jaguar und den zwei Garagen schloß. Er hatte vor kurzem bemerkt, daß ein Por sche Kabrio entweder auf der Straße oder hinter dem Haus parkte. Sie argumentierten vielleicht, daß ein Liebhaber von feinen Sportwa gen es gewiß für kriminell hielt, einen Porsche den Elementen auszu setzen. Aber er verwarf dieses mögliche Szenario. Es war weniger wahr scheinlich als die Möglichkeit, daß Mr. Schneider nichts von den freundlichen Gesten seiner Frau wußte und Naomi etwas im Sinn hatte, das nichts mit ihrem Porsche zu tun hatte. »Mein Mann reist viel«, sagte Naomi. »Er ist Vertreter für Fußbo denbeläge. Er reist bis Pittsburgh.« Volltreffer! »Oh, tatsächlich!« Er bemerkte jetzt, daß Naomi Schneiders Augen sehr dunkel wa ren. Glutvolles, tiefes Braun. Dunkeläugige Frauen haben kein blon des Haar. Naomis Haar war folglich gefärbt. Es war gut gefärbt, man sah keine dunklen Strähnchen oder so was, aber die Naturfarbe war offenbar schwarz oder fast schwarz. Peter hatte eine Theorie. Frauen mit dunklem Haar, die es blond färbten, sollten nicht beim hellen Sonnenschein ausgehen. Gefärbtes blondes Haar mochte seinen Reiz im Haus haben, besonders des Nachts, aber im Sonnenschein sah es – gefärbt aus. »Er ist für gewöhnlich zwei oder drei Nächte pro Woche weg«, sag te Naomi. »Was machen Sie?«
Peter mißverstand Sie absichtlich. »Ich hatte die Sitze ausgebaut. Ich ließ den Schaumstoff erneuern, und jetzt baue ich sie wieder ein.« Naomi ging zum Wagen und rieb über das weiche rote Leder. »Schön«, sagte sie. »Aber ich meinte, was machen Sie beruflich?« »Ich arbeite für die Stadt«, sagte Peter. »Ich sah neulich einen Porsche auf der Straße. Ist das Ihrer?« »Ja«, sagte Naomi. »Mel, mein Mann, fährt ihn manchmal ge schäftlich, aber es ist nicht viel Platz für Muster darin, und so nimmt er für gewöhnlich den Kombi und überläßt mir den Porsche.« »Ja, in einem Porsche ist bestimmt nicht viel Platz für Muster von Bodenbelägen«, stimmte Peter ihr freundlich zu. »Der ist schön«, sagte Naomi und strich jetzt mit den Fingerspitzen wie liebkosend über den glänzenden Kotflügel des Jaguars. »Neu, wie?« Peter Wohl lachte. »Er ist älter als Sie.« Sie blickte ihn verwirrt an. »Er sieht aber nagelneu aus.« »Danke, Ma’am«, sagte Peter. »Aber er verließ Coventry im Fe bruar 1950.« »Was verließ er?« »Coventry. England. Da werden sie hergestellt.« »Aber er sieht wie neu aus.« »Ich danke Ihnen noch einmal.« »Das ist ein Ding!« Naomi blickte auf Peter hinab und lächelte. »Haben Sie gehört, was gestern nacht los war?« »Nein.« »Das mit der Frau, die vergewaltigt wurde? Praktisch gleich um die Ecke?« »Nein«, erwiderte Peter Wohl wahrheitsgemäß. Er hatte gestern, vorgestern und das ganze Wochenende in Harrisburg, der Hauptstadt von Pennsylvania, in einem heißen und staubigen Archiv zugebracht. »Er zwang sie in seinen Wagen, tat es – Sie wissen was – mit ihr und warf sie dann im Fairmont Park aus dem Wagen. Es war im Ra dio, KYW.« »Ich habe nichts davon gehört.« »Ich habe Angst, wenn Mel so oft weg ist.« »Sagte man im Radio, daß man annimmt, es handelt sich um den selben Täter wie bei den bisherigen Vergewaltigungen?« »Sie sagten, sie denken es«, antwortete Naomi. Interessant, dachte Peter Wohl. Wenn es derselbe Täter ist, dann ist er zum ersten Mal so vorgegangen. »Nackt«, sagte Naomi. »Wie bitte?«
»Er warf sie nackt aus dem Wagen. Völlig nackt!« Nun, das würde zu den Demütigungen passen, die offenbar zum modus operandi dieses Irren zählen, dachte Peter Wohl. Er hörte Fahrgeräusch auf dem Kopfsteinpflaster der Zufahrtsstraße vor den Garagen. Ein Wagen näherte sich. Ein Polizeiwagen, wie Peter Wohl einen Augenblick später sah. Er stand auf. Ein Wagen der Highway Patrol stoppte. Die Tür wur de geöffnet, und ein Sergeant mit der besonderen Uniform der High way Patrol (Mütze mit eingedrückter Krone, Sam-Browne-Koppel, Lederjacke, Motorradfahrer-Kniehose und Stiefel) stieg aus. Wohl erkannte ihn. Es war Sergeant Alexander W. Dannelly. Wohl erinner te sich an den Namen, weil er den Mann an dem Tag kennengelernt hatte, an dem Captain Dutch Moffitt im Waikiki Diner am Roosevelt Boulevard erschossen worden war. Sergeant Dannelly war als erster am Tatort eingetroffen. Und Dannelly erkannte ihn ebenfalls wieder. Er lächelte und wollte winken, doch dann sah er den Ausdruck in Wohls Augen und sein kaum wahrnehmbares Kopf schütteln und ließ es sein. »Kann ich Ihnen helfen, Officer?« fragte Wohl. »Ich suche einen Mann namens Wohl«, sagte Sergeant Dannelly. »Ich bin Wohl.« »Darf ich einen Moment mit Ihnen sprechen, Sir?« »Klar«, sagte Wohl. »Entschuldigen Sie mich einen Moment, Nao mi.« Sie lächelte gezwungen. Wohl ging zur abgelegenen Seite des Streifenwagens der Highway Patrol. »Was ist los, Dannelly?« fragte er. »Sie melden sich nicht am Telefon, Inspector.« »Ich habe heute frei«, sagte Peter Wohl. »Wer sucht mich?« »Lieutenant Sabara«, sagte Dannelly. »Er schickte einen Wagen hier vorbei, um festzustellen, ob Sie daheim sind; ob vielleicht Ihr Telefon defekt ist.« »Das Telefon ist oben im Haus«, erwiderte Wohl. »Wenn es ge klingelt hat, habe ich es nicht gehört.« »Sind Sie einverstanden, daß ich ihm über Funk sage. Sie sind hier?« »Klar.« Wohl fragte sich, was Sabara von ihm wollte, das so wich tig war, daß er jemanden vorbeigeschickt hatte, der feststellen sollte, ob sein Telefon funktionierte. »Sagen Sie ihm, er soll mir eine Viertel stunde zum Duschen lassen, und dann werde ich auf seinen Anruf warten.«
»Wollen Sie warten, während ich ihn informiere?« »Nein«, sagte Wohl lächelnd. »Sie verschwinden von hier, und dann informieren Sie ihn über Funk.« »Ich verstehe, Sir«, sagte Dannelly und nickte kaum wahrnehmbar zu Naomi hin. »Nein, Sie verstehen nicht.« Wohl lachte. »Ich versuche nur zu verbergen, daß ich Polizist bin.« »Wie Sie meinen, Inspector«, sagte Dannelly unerschrocken und zwinkerte Wohl zu. Wohl wartete, bis Sergeant Dannelly fortfuhr. Dann ging er zu Naomi Schneider. Er sah ihr an, daß sie neugierig war. »Ich sah einen Unfall«, log Peter Wohl glatt. »Ich muß zum Polizei revier und eine Aussage machen.« Manchmal fragte sich Peter Wohl wie jetzt, ob es all die Mühe wert war, seinen Nachbarn zu verheimlichen, daß er Polizist war. Er brauchte es offiziell nicht zu verbergen, und er schämte sich bestimmt nicht, ein Cop zu sein, und zwar ein verdammt guter, der jüngste Staff Inspector der Polizei von Philadelphia, aber manchmal war es ihm peinlich bei Zivilisten, besonders bei seinen Nachbarn – kluge, junge, gut gebildete, gut verdienende Zivilisten. Bevor er in das Apartment über den Garagen eingezogen war, kurz nach seiner Beförderung zum Staff Inspector, hatte er in einer Woh nung in der Montgomery Street in West-Philadelphia gewohnt, in der Gartenstadt Wynnfield. Seine Nachbarn waren der gleiche Typ gewe sen wie die jetzigen, und er hatte die Erfahrung gemacht, daß ihre Reaktion auf einen Cop als Nachbar zweierlei war und manchmal beides. Was machte ein Angehöriger der Unterschicht wie ein Cop unter den gesellschaftlich Höherstehenden? Und was nutzte es schon, einen Bullen als Nachbarn zu haben, wenn er nicht einmal einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens verschwinden lassen konnte? Als er in das neue Apartment eingezogen war, hatte er sich entschieden, seinen Nachbarn zu verheimlichen, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Er trug fast nie Uniform, und mit seiner Beförderung zum Staff Inspector stand ihm ein Dienstwagen zu, der nicht wie ein Polizeifahrzeug aussah. Der Wagen war nicht nur neu tral, sondern auch neu (gegenwärtig ein Ford LTD in zwei Farbtönen), und er hatte keine verräterischen Merkmale; das Funkgerät war im Handschuhfach verborgen, und die Antenne sah aus wie eine norma le Radioantenne. Wenn ihn die Nachbarn fragten, was er beruflich machte, sagte er ihnen, daß er für die Stadt arbeite. Wenn man ihm auf den Kopf zu gesagt hätte, daß er Polizist war, hätte er es nicht geleugnet, aber er
schaffte es, den Eindruck zu erwecken, daß er Beamter im öffentli chen Dienst auf mittlerer Ebene war und in der City Hall arbeitete. Er wurde nicht plump-vertraulich mit seinen Nachbarn. Das hatte mehrere Gründe. Unter anderem fühlte er sich wie die meisten Polizi sten am wohlsten in Gesellschaft anderer Polizisten. Und wenn er von Nachbarn auf ein paar Bier eingeladen wurde, würde zumindest Marihuana oder vielleicht sogar noch Illegaleres ins Spiel kommen. Wenn er es nicht sah, brauchte er seine Nachbarn nicht auffliegen zu lassen. »Oh«, sagte Naomi Schneider, als er ihr von dem angeblichen Un fall erzählt hatte. »In Wirklichkeit«, sagte Peter lächelnd, »bin ich ein Verdächtiger in einem Bankraub.« Naomi lächelte entzückt, und ihr Busen wippte auf und ab. »Nun, es war schön, Sie kennenzulernen, Naomi«, sagte Peter. »Und ich danke Ihnen für das Bier…« »Gern geschehen«, unterbrach sie ihn. »Sie sahen so heiß aus!« »Und ich freue mich darauf, Mr. Schneider kennenzulernen!« »Mel«, erklärte sie. »Aber er wird erst am Donnerstag zurückkom men. Er ist diesmal in Pittsburgh.« »Aber jetzt muß ich duschen und zum Polizeirevier fahren.« »Klar, ich verstehe«, sagte Naomi. »Wie kommt es, daß Sie den ganzen Tag zu Hause sind, wenn Ihnen die Frage nichts ausmacht?« »Ich muß viel nachts arbeiten«, erklärte er. »Statt mir Überstunden zu bezahlen, gibt man mir Freizeit.« »Oh«, murmelte Naomi. Er gab ihr die noch halbvolle Flasche Budweiser, lächelte und ging die Treppe hinauf in sein Apartment. Das rote Licht des Anrufbeantworters im Schlafzimmer blinkte. Das war vermutlich Sabaras Anruf. Aber selbst wenn er es nicht war, wenn es ein anderer geschäftlicher Anruf oder wahrscheinlicher ein Anruf von seiner Mutter war, die noch nicht ganz davon überzeugt war, daß er richtig aß, seit er allein wohnte, mußte alles warten, bis er geduscht hatte. Er duschte und rasierte sich gleich unter der Dusche, ein Trick, den er bei der Army gelernt hatte, und kleidete sich an. Nachdem er eine Freizeithose angezogen hatte, stoppte er. Er kannte Mike Sabara – jetzt vorläufiger Chef der Highway Patrol, bis man ihn offiziell dazu ernannte – , aber sie waren keine Freunde. Folglich wollte Sabara etwas Offizielles; sie würden sich irgendwo treffen, und da waren eine gelbe Freizeithose und ein Polohemd nicht das Richtige. Barfuß, nur mit der Freizeithose bekleidet, drücke er auf die PLAY
Taste des Anrufbeantworters. Das Band lief zurück und spielte dann ab. Während er die Sitze in den Jaguar eingebaut hatte, war er von mehreren Leuten angerufen worden, aber die meisten Anrufer hatten entweder aufgelegt, als sie das Band gehört hatten, oder geflucht und dann aufgehängt. Schließlich hörte er Mike Sabaras Stimme. »Inspector, hier ist Mike Sabara. Ich möchte mit Ihnen reden. Ru fen Sie bitte in der Funkzentrale an und geben Sie mir eine Nummer, unter der Sie erreicht werden können? Danke.« Dann folgten die Stimme seiner Mutter (»ich weiß nicht, warum ich anrufe, du bist ja nie zu Hause«) und drei weitere Pieptöne und Klik ken, das verriet, daß der Anrufer oder die Anruferin nicht bereit war, auf ein Band zu sprechen. Er schaute auf seine Armbanduhr und sagte sich, daß er nicht her umgammeln wollte, bis Sabara anrief. Er wählte die Nummer der Funkzentrale aus dem Gedächtnis. »Hier ist Isaac siebzehn«, sagte er. »Würden Sie bitte Highway eins ausrichten, daß ich unter der Nummer 928-5923 auf seinen Anruf warte? Nein. Fünf-neun-zwei drei. Danke.« Er sagte sich, daß er noch einen Schluck vertragen konnte, ging zum Kühlschrank in der Küche und nahm eine Flasche Bier heraus. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf seine lange, niedrige weiße Ledercouch, legte die Füße auf den gläsernen Couchtisch und wartete auf Sabaras Anruf. Peter Wohl hatte mal eine Freundin gehabt, die jetzt mit einem Anwalt verheiratet war und in Swarthmore lebte. Sie war Innenarchi tektin und hatte ihre beruflichen Dienste der Einrichtung der Wohnung gewidmet, als noch wahrscheinlich war, daß sie heiraten würden. Von Zeit zu Zeit rief er sich in Erinnerung, was die Couch, die beiden dazu passenden Sessel und der Couchtisch mit Glasplatte ihn gekostet hatten, selbst mit Dorotheas Preisnachlaß. Dann zuckte er jedesmal zusammen. Die Türklingel schlug an. Das war eine andere Erinnerung an Doro thea. Wenn jemand klingelte, ertönten die ersten Takte des Lieds ›Trautes Heim, Glück allein‹. Das war laut Dorothea ›Spitze‹ und hat te entsprechend gekostet. Als er dann in der Zeit nach Dorothea ver sucht hatte, die Klingel durch eine vernünftige zu ersetzen, hatte er festgestellt, daß er das nur konnte, wenn er die gesamte Wand neu streichen würde. So hatte er darauf verzichtet. Peter Wohl öffnete die Tür und sah Naomi Schneider. Er war ein wenig ärgerlich, aber nicht überrascht. »Hi«, sagte sie, »alles sauber?« »Ich hoffe es«, erwiderte er. »Was kann ich für Sie tun?«
»Mel, mein Mann, bat mich, Sie etwas zu fragen«, sagte sie. Das Telefon klingelte. »Verzeihen Sie«, sagte er und ging zum Telefon. Als ihm klar wurde, daß Naomi Schneider sich selbst eingeladen hatte, ging er am Telefon im Wohnzimmer vorbei und in sein Schlafzimmer. Dort nahm er den Hörer vom Telefon auf dem Nachttisch ab. »Hallo?« »Tom Lenihan, Inspector«, sagte der Anrufer. Sergeant Tom Leni han arbeitete für Peters Chef, Chief Inspector Dennis V. Coughlin. Er war eine Kombination aus Fahrer und Assistent Coughlins. Peter Wohl fand, daß Lenihan ein netter Kerl und ein guter Cop war. »Was ist los, Tom?« »Der Chief sagt, er weiß, daß Sie am ganzen Wochenende gear beitet und heute frei haben, und er bedauert, Sie zu stören, aber es hat sich etwas ergeben, und er möchte Sie heute nachmittag sehen. Ich habe Sie für fünfzehn Uhr dreißig eingeplant. Ist das okay?« »Was würden Sie sagen, wenn ich verneinte?« »Ich nehme an, ich würde Sie mit dem Chef verbinden.« Lenihan lachte. »Ich werde dort sein.« »Ich dachte mir schon, Sie können den Chief vielleicht in Ihren ge füllten Terminplan einbauen«, sagte Lenihan und lachte. »Weil Sie doch so ein netter Mensch sind.« Wohl lachte ebenfalls und legte den Hörer auf. Der Chef bestellte ihn zu sich, und Lieutenant Mike Sabara wollte mit ihm reden. Ob es da irgendeinen Zusammenhang gab? Dann wurde ihm plötzlich bewußt, daß Naomi Schneider auf der Schwelle zum Schlafzimmer stand, am Türpfosten lehnte und aufs Bett schaute. Auf dem Bett lagen sein Taschentuch, seine Briefta sche, die Schlüssel, das Lederetui mit seiner Dienstmarke und dem Ausweis, sein Schulterholster mit einem Smith & Wessen ›Chief’s Special‹, dem fünfschüssigen .38 Special Revolver, und alles wartete darauf, in der Kleidung verstaut zu werden, welche auch immer er wählen würde. »Was sind Sie, ein Cop oder so was?« fragte Naomi. »Ein Cop.« »Vielleicht bei der Kripo?« fragte Naomi, sichtlich beeindruckt. »So was in der Art.« O Gott, morgen früh weiß es jeder im Haus und vielleicht das gan ze Viertel! »Was heißt das?« fragte Naomi. »So was in der Art?« »Ich bin Staff Inspector«, sagte er. »Und, Naomi, ich mag es nicht
besonders, wenn die Leute wissen, was ich bin.« »Was ist ein Staff Inspector?« »So was wie ein Kriminalbeamter.« »Und das ist ein Geheimnis?« Das Telefon klingelte wieder, und er nahm den Hörer ab. »Peter Wohl«, sagte er. »Inspector, hier spricht Mike Sabara.« Wohl hielt die Sprechmuschel mit der Hand zu. »Entschuldigen Sie mich bitte, Naomi?« »Oh. Selbstverständlich«, sagte sie und hielt einen Zeigefinger auf den Mund, um ihm anzuzeigen, daß sie das Geheimnis bewahren würde. Als sie sich umwandte, sah er, daß ihr lachsfarbenes Höschen of fenbar in die Spalte zwischen den Pobacken gerutscht war; die Bak ken ragten nackt unter dem weißen Minirock heraus, der wirbelte, als sie sich schnell umdrehte. »Was ist los, Mike?« fragte Wohl. »Ich möchte mit Ihnen reden, wenn Sie eine Viertelstunde Zeit für mich haben.« »Jederzeit. Wo sind Sie?« »Harbison und Levick«, sagte Sabara. »Kann ich zu Ihnen rüber kommen?« Das Hauptquartier des Zweiten und Fünften Distrikts und die Kripo Nordost an der Harbison und Levick Street befand sich in einem häß lichen zweigeschossigen Gebäude, das im Laufe der Jahre durch die Abgase des starken Verkehrs eine dunkle Farbe angenommen hatte. »Mike, ich muß in die Innenstadt«, sagte Wohl, nachdem er sich entschieden hatte, nicht dorthin zu fahren. »Wie wäre es, wenn wir uns im DaVinci-Restaurant treffen? An der Walnut Street? In unge fähr einer Viertelstunde?« »Ich werde dort sein«, sagte Lieutenant Sabara. »Danke.« »Ich bin gleich bei Ihnen, Naomi«, rief Wohl und schloß die Schlaf zimmertür. Er zog ein weißes Hemd an, eine quergestreifte Krawatte und die Hose eines blauen Kordanzugs. Dann schnallte er das Schul terholster mit dem Smith & Wesson um, zog das Jackett an und ver staute die Brieftasche und die anderen Dinge in verschiedene Ta schen. Er überprüfte sein Äußeres im Spiegel und ging ins Wohn zimmer, wo er Naomi beim Trinken aus der Bierflasche erwischte. »Sehr schön«, sagte Naomi. »Naomi, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muß fort.« »Ich verstehe.« »Was sollten Sie mich in Mr. Schneiders Auftrag fragen?«
»Er sagte, ich soll herausfinden, ob Sie vielleicht eine Ihrer Gara gen untervermieten.« »Ich bedaure, das kann ich nicht. Ich brauche eine für den Jaguar, und der andere Wagen gehört der Stadt und muß in einer Garage untergestellt werden.« »Warum?« Das war kein Widerspruch, sondern einfach Neugier. »Nun, es ist eine teure Funkanlage darin, und die Stadt will nicht, daß die geklemmt wird.« »Geklemmt? Sie meinen gestohlen?« »Richtig.« »Das leuchtet ein«, sagte sie. »Ich werde es Mel sagen.« Sie erhob sich von der Couch und zeigte dabei ein großes und äu ßerst interessantes Gebiet von inneren Oberschenkeln. »Nun«, sagte sie, »ich lasse Sie gehen.« Er folgte ihr zur Tür, und es wurde ihm klar, daß er als Gentleman ihren nackten gluteus maximus, die unter dem Saum des MiniMinirockes hervorlugten, nicht soviel Aufmerksamkeit widmen sollte, wie er es tat. »Naomi«, sagte er, als er die Tür öffnete, »wenn Sie bei Ihrem Mann über mich reden, würden Sie ihm bitte sagen, daß ich es sehr zu schätzen wüßte, wenn er nicht weitersagt, daß ich ein Cop bin?« »Ich werde es ihm nicht einmal sagen.« »Nun, so weit brauchen Sie nicht zu gehen.« »Es gibt vieles, was ich Mel nicht erzähle«, sagte Naomi leise. Und dann berührte sie seine Hose und rieb über seinen Schritt. Pe ter zog sich im Reflex zurück und sagte sich gerade, daß es ein zufäl liger Kontakt gewesen war, als diese Theorie widerlegt wurde. Nao mis Hand folgte seiner Rückwärtsbewegung, fand, was sie suchte, und drückte es leicht. »Wir sehen uns wieder, Peter«, sagte sie und schaute ihm in die Augen. Dann ließ sie ihn los, lachte und ging schnell die Treppe hin unter.
7
Als Peter Wohl auf dem Parkplatz beim DaVinci-Restaurant an der Walnut Street parkte, fiel sein Blick auf die Benzinanzeige. Die Nadel stand unter dem roten Strich der Reserve; er war fast mit dem letzten Tropfen gefahren. Da er nur die Strecke von seinem Apartment bis hier gefahren war, hatte die Anzeige schon bei seiner Ankunft zu Hause im Roten gestanden. Und das bedeutete, daß er nahe daran gewesen war, auf dem Pennsylvania Turnpike oder dem Schuylkill Expreßway ohne Sprit liegenzubleiben, was eine Katastrophe gewe sen wäre. Er hätte sich von einem Abschleppwagen der Polizei Ben zin bringen lassen müssen, was peinlich gewesen wäre, oder zu ei ner Tankstelle wandern müssen, wobei er in sintflutartigem Regen vielleicht ertrunken wäre. Ertrunken und/oder überfahren. Wohl fand, daß er von Zeit zu Zeit anscheinend am Rand einer steilen, bröckeligen Klippe wanderte, nur einen halben Schritt vom Verhängnis entfernt. Und jetzt war es offenbar so. Die Benzinanzeige schien das zu beweisen; ebenso Naomi mit dem reisenden Ehemann und den tastenden Fingern. Und es würde ihm vermutlich überhaupt nicht gefallen, was Mike Sabara im Sinn hatte. Er stieg aus dem Wagen, schloß ihn ab und dachte daran, daß es glühend heiß darin sein würde, wenn er wieder einsteigen würde; daß er schwitzen und den frisch gebügelten Anzug verknittern würde, be
vor er zu Chief Coughlin ging. Und er hatte das unangenehme Ge fühl, daß sein Besuch beim Chef ebenfalls zu einer Art Katastrophe führen würde. Es war unwahrscheinlich, daß Coughlin ihn an einem freien Tag zu sich bestellte, um ihm zu sagen, wie hervorragend er gearbeitet hatte und warum er sich nicht als Belohnung einen Tag frei nehmen würde. Ein schneller Blick über den Parkplatz verriet ihm, daß Sabara noch nicht eingetroffen war. Er hätte einen Wagen der Highway Pa trol sofort entdeckt, und selbst wenn Sabara in einem neutralen Fahr zeug hier war, hätte er die Funkantenne bemerkt. Als er das DaVinci betrat, sagte er sich, daß Coughlin von ihm hö ren wollte, wie es mit seinen gegenwärtigen Ermittlungen stand, de retwegen er in Harrisburg gewesen war. Und er konnte nicht mit Er folgen eines Sherlock Holmes aufwarten. In den Tagen, in denen er im Archiv gekramt hatte, war er auf ein paar schwache Hinweise ge stoßen, die sich höchstwahrscheinlich als wertlos erweisen würden. Das DaVinci-Restaurant, benannt nach dem Maler und Universalge nie der italienischen Hochrenaissance, nicht nach dem Besitzer, hatte sehr gutes Essen, obwohl es nach Peters Meinung nach kein typi sches Restaurant war. Als Faustregel hatte er festgestellt, daß in Re staurants, die auf exotisch mimten, mittelmäßiges bis mieses Essen serviert wurde. Das DaVinci war rustikal italienisch aufgemacht, ein wenig übertrieben, wie Peter fand. Die Tischdecken waren rotweißka riert; es gab allerhand falsches Brimborium, Plastikweintrauben und Plastikpflanzen und leere Chiantiflaschen mit Kerzen im Hals. Aber das Essen war gut, und das Personal war nett. Er fragte nach einem Tisch und erhielt ihn auf der unteren Ebene, was ihm einen Blick auf den oberen Teil des Lokals und die Bar ne ben dem Eingang erlaubte. Die Kellnerin war eine große, hübsche Brünette, die aussah, als sollte sie auf dem Campus eines College sein. Dann erinnerte er sich, daß die Kellnerinnen im DaVinci Schau spielschülerinnen sein sollen, die hofften, Leute vom Theater und Film kennenzulernen, die nach Philly kamen und das DaVinci regel mäßig besuchten. Ihr Lächeln verschwand, als er nur Kaffee bestellte. Oder hat sie erkannt, daß ich kein Filmproduzent bin? Als sie seinen Kaffee brachte, gab er ihr einen Dollar und überließ ihr das Wechselgeld. Das änderte überhaupt nichts an ihrem Verhal ten. Mike Sabara betrat das Restaurant ein paar Minuten später, kurz nachdem sich Peter am Kaffee, der anscheinend frisch aus den Feu ern der Hölle geliefert worden war, fast den Mund verbrannt hatte.
Mike war in Uniform, mit Mütze, Motorradfahrerhose und Stiefeln der Highway Patrol. Er trug ein Sam Brown Koppel mit Patronen in Schlaufen und schwarzen Lederfutteralen mit den Werkzeugen eines Polizisten – Taschenlampe, Handschellen und so weiter. Mike hatte ein am Kragen offenes weißes Hemd an, mit den Abzeichen eines Captains – zwei parallele silberne Balken – auf jeder Kragenspitze. Die Highway Patrol und ihre besondere Uniform war lange vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Sie war ursprünglich als Verkehrspoli zei organisiert worden und fast ausschließlich mit Motorrädern ausge rüstet worden. Es gab noch ein paar Motorräder bei der Highway Pa trol – Peter Wohl hatte irgendwo gehört, daß es vierundzwanzig sein sollten – , aber sie wurden nur selten benutzt, hauptsächlich bei feier lichen Anlässen oder zur Überwachung von Menschenmengen bei Großveranstaltungen. Die Highway Patrol patrouillierte immer noch auf den Highways – auf dem Schuylkill Expreßway und Interstate 95 – aber sie hatte sich im Laufe der Jahre und besonders unter der Führung vom jetzigen Bürgermeister Carlucci zu einer Art Spezialein heit entwickelt, die Gebiete mit hoher Kriminalität sauberhalten sollte. In Streifenwagen der Highway Patrol saßen zwei Beamte, während in allen anderen Wagen der Polizei von Philadelphia nur einer war. Wenn sie keinen besonders befohlenen Einsatz hatten, konnten die Beamten der Highway Patrol überall patrouillieren, wie es ihnen be liebte, ohne Rücksicht auf die Distriktgrenzen. Sie betrachteten sich und wurden von anderen Polizisten als Eliteeinheit angesehen, und es gab immer eine lange Warteliste mit den Namen von Beamten, die zur Highway Patrol versetzt werden wollten. Jeder, der ernste Ambitionen hatte, in der Polizeihierarchie aufzu steigen, wußte, daß der Weg über die Highway Patrol führte. Peter Wohl war ein Corporal der Highway Patrol gewesen, und ihm hatte der Dienst gefallen, obwohl er klug genug gewesen war, seine enor me Erleichterung für sich zu behalten, daß sein Dienst in die Zeit ge fallen war, nachdem die Motorräder kaum noch benutzt wurden und er sehr selten auf eines steigen mußte. Als er die Motorradausbildung absolviert hatte, die man für nötig hielt, damit man ›ein ganzer Mann‹ wurde, war er zu der Überzeugung gelangt, daß jeder, der freiwillig ein Motorrad fuhr, ganz zu schweigen auch noch mit Freude, ein paar Schrauben locker hatte. Peter Wohl gingen einige Gedanken durch den Kopf, als er Mike Sabara sah, der durch das Restaurant zu ihm kam und für seine Ver hältnisse herzlich lächelte. Er dachte, daß Mike nicht nur ein häßli cher Hurensohn war, sondern auch zum Fürchten aussah. Sabaras dunkelhäutiges Gesicht war voller Narben, die von Pocken stammen
konnten, aber wahrscheinlicher auf Akne in der Pubertät zurückzufüh ren waren. Er trug einen tadellos gestutzten, bleistiftdünnen Schnurr bart. Wenn der Oberlippenbart von der entstellten Haut ablenken soll te, so erreichte er nach Wohls Meinung genau das Gegenteil. Mike Sabara war ein kleiner, stämmiger Mann mit gewölbter Brust und aggressivem Gang. Er war auch stark behaart. Dichtes schwar zes Haar lugte unter dem offenen Hemdkragen hervor und bedeckte seine entblößten Arme. Alle diese äußerlichen Dinge waren irrefüh rend, wie Peter Wohl wußte. Mike Sabara war ein außerordentlich sanfter und ruhiger Mann, der Vater von vielen gut umsorgten Kin dern. Er war libanesischer Abstammung und aktiv in einer Art ortho doxen Kirche tätig – er lehrte an der Sonntagsschule. Peter Wohl hatte ihn bei Dutch Moffitts Beerdigung weinen sehen. Er hatte sich nicht der Tränen geschämt, die über seine Wangen gelaufen waren, als sie den Sarg mit Dutchs Leichnam zum Grab getragen hatten. Sabara reichte ihm die Hand und nahm gegenüber von Wohl Platz. Sabaras Händedruck war fest, aber keine Demonstration der Kraft, die in seiner großen Hand steckte. »Ich weiß zu schätzen, daß Sie sich mit mir treffen, Inspector«, sagte Sabara. »Ich weiß, warum Sie mich mit ›Inspector‹ anreden, Mike«, erwi derte Wohl lächelnd. »Und deshalb antworte ich, ›gern geschehen, Captain Sabara.‹ Glückwunsch, Mike, Sie haben die Beförderung verdient, und wie kommt es, daß ich nicht zu der Feier eingeladen war?« Peter Wohl spürte sofort, daß seine Bemerkung, die scherzhaft gemeint war, danebengegangen war. Sabara blickte ihn verwirrt und sogar argwöhnisch an. »Der Commissioner rief mich gestern abend zu Hause an«, sagte Sabara. »Er sagte, ich soll heute mit den Balken des Captains zur Arbeit kommen.« Die du rein zufällig herumliegen hattest, dachte Wohl, und er schämte sich gleich wegen des unfreundlichen Gedankens. Er selbst hatte sofort das Abzeichen eines Lieutenants gekauft, als das Ergeb nis der Prüfung festgestanden hatte, obwohl ihm klargewesen war, daß es noch Monate dauern würde, bis die Beförderung tatsächlich durchkam. »Es ist also offiziell?« sagte Wohl. »Meinen Glückwunsch. Ich kann mir keinen besser Qualifizierten vorstellen.« Wohl sah, daß auch diese Worte bei Sabara eine andere Reaktion hervorriefen, als er erwartet hatte. Weitere Verwirrung, weiterer Arg wohn.
Die Kellnerin trat an den Tisch. »Was möchten Sie?« »Eistee, bitte«, sagte Captain Sabara. Die Kellnerin blickte ihn sonderbar an. Sabara war einfach nicht der Typ, der Eistee trank. »Kann ich gleich zur Sache kommen, Inspector?« fragte Sabara, als die Kellnerin fort war. »Klar.« »Wenn das überhaupt möglich ist«, sagte Sabara, »dann mag ich die Highway Patrol.« Wohl spürte, daß Sabara diese Erklärung eingeübt hatte. »Ich bin mir nicht sicher, was Sie meinen, Mike.« »Ich meine, ich würde die Highway Patrol wirklich gern überneh men«, sagte Sabara, und seine Augen spiegelten noch mehr Unsi cherheit wider. »Ich meine, niemand kennt sie besser als ich. Und ich weiß, daß ich meine Sache gut machen würde.« Worauf, zum Teufel, will er hinaus? dachte Wohl. »Möchten Sie, daß ich ein gutes Wort für Sie einlege? Ist es das, Mike? Sagen Sie mir, bei wem, und ich werde es tun.« Es folgte eine lange Pause, bis Sabara antwortete. »Sie wissen es nicht, wie?« fragte er schließlich. »Was?« »Das über die Highway Patrol und Special Operations.« »Nein«, sagte Wohl und kramte in seiner Erinnerung. »Das letzte, was ich über Special Operations hörte, war die Erklärung, daß die Zeit noch nicht reif für diese Idee ist.« »Die Zeit ist gekommen«, sagte Sabara, »und die Highway Patrol wird Special Operations unterstellt.« »Und wer bekommt Special Operations?« »Sie«, sagte Sabara. Allmächtiger! »Woher haben Sie das?« fragte Wohl. Sabara fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Ich hörte es.« »Ich würde diese Quelle sehr genau überprüfen, Mike«, sagte Wohl. »Das ist das erste, was ich in dieser Art gehört habe.« »Sie bekommen Special Operations, und David Pekach wird Chef der Highway Patrol«, sagte Sabara. »Ich dachte, Pekach wäre Ihre Idee, und ich könnte sie Ihnen vielleicht ausreden.« »Sagte Ihre Quelle, was für Sie vorgesehen ist?« fragte Wohl. »Ihr Stellvertreter.« »Woher, zum Teufel, haben Sie das?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Sabara. »Aber ich
glaube es.« Und jetzt glaube ich es allmählich auch, dachte Peter Wohl. Sabara hat etwas gehört, das er für glaubwürdig hält. Hat Chief Coughlin mich deshalb zu sich bestellt? Warum ich? »Chief Coughlin will mich um fünfzehn Uhr dreißig sehen. Vielleicht deshalb.« »Jetzt bin ich in der Klemme«, sagte Sabara. »Ich wäre dankbar, wenn Sie ihm nicht sagen…« »Daß wir uns unterhalten haben? Natürlich sage ich das nicht, Mi ke. Und ich hoffe wirklich, daß Sie sich irren.« Am Ausdruck von Sabaras Augen sah Wohl, daß Sabara sehr be zweifelte, daß er sich irrte. Das bedeutete, daß seine Quelle so gut war, wie er behauptet hatte. Und das wiederum bedeutete, es mußte von hoch oben in der Hierarchie gekommen sein, von einem Chief Inspector oder einem der Deputy Commissioners. Von jemand Wichtigem, dem die Idee der Special Operations miß fiel und der nichts davon hielt, daß Peter Wohl der Chef der Special Operations und David Pekach der Chef der Highway Patrol über Mike Sabara hinweg wurde. Oder alles zusammen. »Peter«, sagte Mike Sabara. Zum ersten Mal sprach er Wohl mit Vornamen an. »Verstehen Sie – es ist nichts Persönliches bei der Sache. Sie sind ein verdammt guter Cop. Ich würde überall gern für Sie arbeiten. Aber…« »Sie meinen, Sie sind der richtige Mann für die Highway Patrol«, unterbrach Wohl. »Mensch, Mike, das meine ich auch. Und ich be zweifle, daß ich der richtige Mann für Special Operations bin. Ich weiß ja noch nicht mal, was diese Abteilung überhaupt tun soll.«
Da war etwas an Rekrut Matthew M. Payne, das Sergeant Richard B. Stennis, Ausbilder der Polizeiakademie in Philadelphia, gar nicht gefiel, obwohl er es nicht genau erklären konnte. Er wußte, wann das Gefühl angefangen hatte – als er Payne zum ersten Mal gesehen hatte. Dick Stennis, dessen Philosophie bezüg lich Feuerwaffen oder Polizeiwaffen oder sonstigen Waffen lautete: ›Du brauchst nie eine Waffe, bis du eine dringend brauchst.‹ nahm seine Verantwortung, Rekruten alles über Feuerwaffen beizubringen, sehr ernst. Sergeant Stennis – ein stämmiger, aber nicht fetter, fast kahlköpfi ger Mann Anfang Vierzig – war sich darüber im klaren, daß statistisch betrachtet die Chancen ungefähr zwanzig zu eins standen, daß seine
gegenwärtigen Rekruten in ihrer gesamten Laufbahn kein einziges Mal bei der Erfüllung ihrer Pflicht die Dienstwaffe ziehen und abfeu ern mußten. Er schätzte, daß sich bei der Entwicklung der Kriminalität die Chancen ein wenig änderten, vielleicht zehn zu eins, daß diese Jungs nie ihre Dienstrevolver benutzen mußten. Aber auch bei die sem Prozentsatz würde einer von zehn seine Dienstwaffe benutzen müssen, in einer Situation, in der sein Leben, das eines anderen Po lizeibeamten oder eines Zivilisten davon abhing, wie gut er sie benut zen konnte. Einiges von Dick Stennis’ Einstellung gegenüber Feuerwaffen kam vom U.S. Marine Corps, und das wußte er. Wie viele Polizeibeamte war Stennis nach einer Dienstzeit beim Militär zur Polizei gegangen. Er hatte sich mit achtzehn Jahren beim Marine-Corps gemeldet, eine Woche nach dem Abschluß der Frankford High School im Jahre 1950. Er war gerade so in Korea eingetroffen, daß er die InchonInvasion versäumte, früh genug, um an dem Rückzug von Hamhung am Heiligabend desselben Jahres teilzunehmen. In weniger als einem Jahr kehrte er mit den Winkeln eines Corpo rals aus Korea zurück, mit einem Silver Star und zwei Verwundeten abzeichen, und letztere waren der Grund dafür, daß er vier Monate lang im Navy Hospital in Philadelphia verbringen mußte. Als er wieder diensttauglich war, schickte ihn das Marine-Corps nach Parris Island und machte ihn zum Waffenausbilder. Nach seiner dreijährigen Dienstzeit kehrte er nach Philadelphia zu rück und ging zur Polizei. Zwei Jahre später, ungefähr zu der Zeit, als er der Polizeiakademie zugeteilt wurde, heiratete er und ging zur U.S. Marine Corps Reserve, weil er das Geld brauchte. An einem Wochenende pro Monat und zwei Wochen in jedem Sommer war Sergeant Stennis von der Polizei Master Gunnery Ser geant Stennis der U.S. Marine Corps Reserve. Er wurde während des Vietnamkrieges einberufen und rechnete damit, nach Südostasien geschickt zu werden, doch das Marine-Corps sagte sich, daß ein Cop aus Philadelphia, der aus der Reserve einberufen wurde, genau der richtige Junge für die Stelle des Unteroffiziers der Militärpolizei in Philadelphia war. Zwei Wochen, nachdem er sich im Camp LeJeune gemeldet hatte, schickte man ihn nach Philadelphia. Eigentlich war es eine gute Sache. Er hatte seine zwei Jahre akti ven Dienst zu Hause verbracht. Das Marine-Corps hatte ihm das Es sensgeld vergütet und Wohngeld ausgezahlt, das höher war als die Hypothekenraten auf sein Haus an der Leonard Street in Mayfair. Und er war schnell vorangekommen. Sein Dienstalter hatte sich wei ter gesteigert, während er beim Marine-Corps gewesen war, und er
hatte zwei zusätzliche Jahre aktiven Dienst beim Marine-Corps. Mit sechzig Jahren würde er zusätzlich zu seiner Pension von der Polizei eine Pension vom Marine-Corps erhalten. Als er wieder in inaktivem Dienst war, gab ihm die Reserve einen Posten in der Marinewerft, als Ermittler im Personal des Komman deurs der Militärpolizei. Er schaffte es im allgemeinen, zwei oder drei Tage ›aktiven Dienst‹ pro Monat zu leisten, manchmal mehr, zusätz lich zu dem einen Wochenende, was bedeutete, daß der Scheck der Reserve, den er alle drei Monate erhielt, viel höher war. Es bedeutete ebenfalls, daß die Pension des Marine-Corps später soviel höher sein würde. Er hatte sich daran erinnert, daß es ein gutes Geschäft für ihn war, als er zum zweitenmal bei der Polizei durch die Prüfung zum Lieute nant gerasselt war. Wenn er sie bestanden hätte, wäre er von der Polizei wer weiß wo verwendet worden, doch er hätte die Akademie verlassen müssen, die er mochte, und fast mit Sicherheit hätte er nicht die zusätzlichen zwei oder drei Tage Sold des Master Gunnery Sergeant und jeden Monat Wohn- und Essensgeld verdienen können. Auf der Akademie war die Arbeitszeit von acht bis siebzehn Uhr, montags bis freitags. Als neuer Lieutenant hätte er auch nachts und an den Wochenenden Dienst gehabt. Sein Job gefiel ihm, und er hielt ihn für wichtig. Manchmal sagte sich Dick Stennis, wenn seine Ausbildung an Feuerwaffen auf der Polizeiakademie nur einem Cop oder nur einem Zivilisten das Leben rettete, wog es auf, daß ihn ein Jahrgang von Rekruten nach dem anderen hinter vorgehaltener Hand als ›dieser kahlköpfige Scheiß kerl‹ bezeichnete. Sergeant Richard Stennis war zum erstenmal auf Polizeirekrut Mat thew M. Payne aufmerksam geworden, als er der Klasse den übli chen Vortrag zur Einführung in die Phase der Waffenausbildung in ihrer Ausbildungszeit gehalten hatte. Sergeant Stennis glaubte – , und zu Recht – daß er im Laufe der Jahre seinen einleitenden Vor trag verbessert und geschliffen hatte, so daß er jetztl beeindruckend und interessant war. Rekrut Matthew M. Payne war offenbar weder beeindruckt noch in teressiert. Er saß hinten im Klassenzimmer und gähnte. Er gähnte richtig und hielt eine Hand vor den weit aufklaffenden Mund. Sergeant Stennis verstummte mitten im Satz und stieß einen Fin ger in Paynes Richtung. »Sie!« sagte er scharf. »Wie heißen Sie?« Payne blickte ihn mit sichtlichem Unbehagen an. »Payne, Sir.« »Vielleicht ist es leichter für Sie, wachzubleiben, wenn Sie sich er
heben.« Payne stand hastig auf und nahm die Haltung ein, die beim Militär als ›stillgestanden!‹ bekannt ist. Es sah ziemlich komisch aus. Dieser kleine Scheißer macht sich über mich lustig, dachte Stennis, und dann korrigierte er das leicht. Payne war kein kleiner Scheißer. Er war nach Stennis’ Schätzung über einsachtzig groß. Und er war gut gebaut, ein muskulöser, gutaussehender junger Mann. Nun, dir werde ich’s zeigen, Sonny. Ich bin mein Leben lang mit Klugscheißern wie dir fertig geworden. Wenn du dort strammstehen willst, ist das prima. Dann wirst du bis zum Ende des Unterrichts strammstehen. Und Rekrut Matthew M. Payne tat genau das in den nächsten vier zig oder fünfundvierzig Minuten. Das gab Sergeant Stennis zu den ken. So ein Verhalten würde ein Soldat zeigen. Vielleicht hatte er den Jungen ein bißchen zu hart behandelt. Als er jedoch Paynes Personalakte überprüfte, fand er keinen Hin weis darauf, daß Payne jemals eine Uniform außer der jetzigen ge tragen hatte; er hatte nicht gedient. Seine Personalakte ließ erken nen, daß er die University of Pennsylvania besucht und mit dem Bak kalaureus der philosophischen Fakultät abgeschlossen hatte. Das war ungewöhnlich. Nur wenige Hochschulabsolventen ließen sich zum Polizisten ausbilden. Das Anfangsgehalt für einen Polizisten war niedrig (nach Dick Stennis’ Meinung eine Schande) und mit ei nem Hochschulabschluß und akademischem Grad konnte er fast überall mehr verdienen. Stennis erkundigte sich beiläufig bei den anderen Ausbildern, was sie von Payne hielten. Die Antworten waren ein Achselzucken, das entweder anzeigte, daß sie sich noch keine Meinung über ihn gebil det hatten oder daß er für sie nur einer von all den vielen Rekruten war. Nur sehr wenige Ausbilder erklärten, daß er anscheinend klug war. Kein Klugscheißer, aber klug. Ein heller Junge. Payne hatte of fenbar bei keinem sonst Probleme; wenn er schwierig gewesen wäre, hätte Stennis das gehört. Der erste Tag des Schießens auf dem Schießplatz der Polizei akademie war, wie Stennis gelernt hatte, oftmals ein Schock, ja sogar eine Demütigung für die Rekruten. Sehr wenige Rekruten, abgesehen natürlich von Ex-Soldaten, hatten viel Erfahrung mit Feuerwaffen und noch weniger mit Handfeuerwaffen. Was sie über Revolver und Pistolen wußten, hatten sie im Kino und Fernsehen gesehen, in Filmen, in denen Hollywood-Cops aus fünfzig Yard mit stupsnasigen Revolvern routiniert bösen Buben zwischen die Augen schössen.
Die Ziele auf dem Schießplatz der Polizeiakademie waren lebens große Scheiben, die Umrisse von Menschen mit konzentrierten ›KillRingen‹, die mit Trefferzahlen numeriert waren (K5, K4 und so wei ter). Im Idealfall trafen alle Kugeln einen K5-Kill-Ring. Zum ersten Schießen der Rekruten wurden die Ziele in einer Distanz von fünf zehn Yard aufgestellt. Die Waffe, die benutzt wurde, war der Stan dard-Dienstrevolver, das Smith & Wessen Modell 10 ›Military & Poli ce‹. Es war ein sechsschüssiger Revolver Kaliber .38 Special, der entweder in Single Action (der Hahn wurde mit dem Daumen ge spannt, bevor der Abzug betätigt wurde) oder in Double Action (ein faches Abdrücken spannte den Hahn und gab ihn frei) abgefeuert wurde. Bei der ersten Schießübung mußten die Rekruten die Waffe im Beidhandanschlag halten und in Single Action abfeuern, das heißt, sie mußten den Hammer spannen, bevor sie zielten und abdrückten. Es wirkte so leicht, wenn die Rekruten ihre Position zum Schießen einnahmen. Jeder traf doch ein manngroßes Ziel auf diese kurze Di stanz. Das Ziel war praktisch zum Greifen nahe. Das führte dazu, daß viele, sogar die meisten Rekruten sich ein bildeten, sie könnten ein wenig Schau machen und vielleicht sogar ein Lächeln von Sergeant Stennis ernten, wenn sie das Ziel in den Kopf trafen, in einen K5 Ring. Das führte oft dazu, daß überhaupt keine Löcher auf der Zielschei be waren, geschweige denn im Kopf, nachdem der Rekrut seine er sten sechs Patronen abgefeuert hatte. Das Schießen mit einer Hand feuerwaffe ist viel, viel schwerer, als es in den Filmen aussieht. Sergeant Stennis machte es nichts aus, wenn die ersten sechs Schüsse katastrophal für die Schützen waren. Es demütigte die Re kruten, und gedemütigt waren sie viel leichter auszubilden. Als Rekrut Matthew M. Payne an die Feuerlinie trat, wartete Ser geant Stennis, bis er in Position war, und stellte sich dann hinter ihn. Payne wirkte kein bißchen nervös, als er auf das Kommando hin auf den Revolver schaute. Er schob sechs Patronen in die Trommel, oh ne eine davon fallen zu lassen, was manchmal passierte, und er schob die Trommel langsam und sorgfältig in den Rahmen. Einige Rekruten ahmten trotz der Warnung, es nicht zu tun, Holly wood-Cops nach, indem sie den Revolver hart nach rechts schwenk ten, so daß die Trommel zuklappte. Dadurch stimmte die Trommel bald nicht mehr mit dem Lauf überein und mußte von einem Büch senmacher in Ordnung gebracht werden. Es hätte Sergeant Stennis nicht überrascht, wenn Rekrut Payne die Trommel mit einem lässigen Schlenkern der Waffe eingeklappt
hätte. Selbst als er das nicht tat, spürte Stennis, daß Payne irgend etwas Klugscheißerisches tun würde, zum Beispiel seine sechs Schüsse auf den Kopf der Scheibe abgeben, anstatt auf den Torso des Ziels. Und genau das tat Payne, als er den Befehl zum Schießen erhielt. Er traf in den Kopf, gerade oberhalb des rechten Auges. Anfängerglück, sagte sich Sergeant Stennis. Paynes zweite Kugel traf die Silhouette oben in den Kopf, wo die Stirn sein würde. Nicht zu glauben! Paynes dritte Kugel schlug in den Kopf, wo die Nase sein würde, ebenso die vierte. Die fünfte Kugel schlug nur am Rand des Kopfes ein, aber immer noch innerhalb des K5-Rings, was Payne wiedergutmachte, indem er mit der sechsten Kugel den Kopf traf, wo das linke Auge sein würde. Das kann doch nicht wahr sein! Als die Rekruten zu den Zielen gingen, um ihre Treffer zu begut achten und die Kugellöcher mit gummierter Pappe zuzukleben, folgte Sergeant Stennis Rekrut Payne. »Nicht schlecht«, sagte er und erschreckte Payne, der sein Nahen nicht gehört hatte. »Wo haben Sie das Schießen mit einem Revolver gelernt?« »In Quantico«, antwortete Payne. »Beim Marine-Corps.« »Warum steht nicht in Ihrer Personalakte, daß Sie beim MarineCorps waren?« »Ich war niemals im Corps«, erwiderte Payne. »Ich war in der Zug führer-Ausbildung. In zwei Sommern.« »Was passierte?« Payne verstand, was er wirklich fragte: Wenn du in der Zugführer ausbildung warst, wie kommt es dann, daß du hier bist und kein Se cond Lieutenant im Marine-Corps bist? »Ich bestand die ärztliche Untersuchung nicht«, sagte Payne. »Haben Sie das gesagt, als Sie zur Polizei gingen?« fragte Stennis scharf. »Jawohl, Sir.« Sie schauten sich einen Moment in die Augen, lange genug für Stennis, um zu erkennen, daß Payne die Wahrheit sagte. Ist er deshalb hier? dachte Stennis. Weil er bei der ärztlichen Un tersuchung beim Marine-Corps durchgerasselt ist und beweisen will, daß er trotzdem ein ganzer Mann ist? Aber was ist daran auszuset zen? »Nun, das war ziemlich gutes Schießen«, sagte Stennis. »Ich könnte besser schießen, wenn der Revolver eine bessere
Zieleinrichtung hätte«, sagte Payne. »Und am Abzug sollte auch ge arbeitet werden.« Stennis wurde wieder ärgerlich. »Nun, Payne«, entgegnete er sarkastisch, »ich befürchte, Sie wer den lernen müssen, sich mit dem abzufinden, was die Polizei Ihnen gibt.« Er machte kehrt und ging zur Feuerlinie zurück. Fast sofort fühlte er sich wie ein Scheinheiliger. Klugscheißer oder nicht, der Junge hatte recht. Mit dem Standard-Dienstrevolver konnte man nicht sehr gut zielen. Das Korn war einfach ein Stück gerundetes Metall, ein Teil des Laufs. Die Kimme war nur eine Kerbe im Rahmen. Stennis’ eigener Revolver hatte eine einstellbare Zielvorrichtung – ein scharf umrissenes Korn und eine Kimme, die nach Höhe und je nach Einfall des Windes eingestellt werden konnte. Das und ein sorgfältig eingestellter Abzug, der ein glattes Abdrücken erlaubte, führte zu einer Waffe von bedeutend größerer Treffsicherheit, als ein Revolver aus dem Regal hatte. Und Stennis war sich plötzlich bewußt, daß seine persönliche Waf fe nicht den Vorschriften entsprach und er sie nur ungestraft tragen konnte, weil niemand auf der Polizeiakademie sich den Revolver ih res Schießausbilders ansah. Als er bei der Feuerlinie war, sah er Chief Inspector Heinrich ›Heine‹ Matdorf, den Direktor der Akademie, am Ende der Linie stehen, wo ein Asphaltweg zum Hauptgebäude der Polizeiakademie führte. Matdorfs Auftauchen überraschte Stennis nicht sonderlich. Heine Matdorf, ein großer, korpulenter, fast kahlköpfiger Mann mit rötlichem Gesicht, warf gern ein Auge auf das, was sich in der Aka demie tat. Stennis mochte ihn, wenn man sie auch nicht als Freunde bezeichnen konnte. Als Matdorf vor zwei Jahren zur Akademie ge kommen war, hatte er jeden durch seine unangekündigten Besuche in Klassenzimmern und auf Ausbildungsplätzen nervös gemacht. Er war wortkarg, und seine blauen Augen wirkten kalt. Aber sie hatten schnell festgestellt, daß er kein überstrenger Kriti ker war, sondern eher lobte als tadelte. Der neue Besen hatte nur auf den Gebieten gekehrt, auf denen es nötig gewesen war. Wie üblich nickte Stennis Chief Matdorf zu und erwartete ein Nik ken als Antwort. Aber Matdorf überraschte ihn, indem er zu ihm ging. »Chief«, grüßte Stennis. »Sprachen Sie gerade mit Payne?« »Jawohl, Sir.« »Ich möchte mit ihm reden«, sagte Matdorf. »Bleiben Sie in der Nähe.«
»Er hat beim ersten Schießen sechsmal in den Kopf getroffen«, sagte Stennis anerkennend. Matdorf stieß einen Grunzlaut aus, äußerte sich sonst jedoch nicht. Matthew Payne hatte inzwischen das Überkleben der Kugellöcher beendet und ging zur Feuerlinie. Stennis sah, daß Paynes Augen Neugier widerspiegelten, aber kein Unbehagen, als er Chief Matdorf sah. »Sie wissen, wer ich bin?« fragte Matdorf, als Payne bei ihm war. »Ja, Sir.« »Wir lernten uns bei Captain Moffitts Beisetzung kennen«, sagte Chief Matdorf. »Chief Coughlin machte uns miteinander bekannt.« »Jawohl, Sir, ich erinnere mich.« Was hatte dieser Junge bei Dutch Moffitts Beisetzung zu suchen? dachte Sergeant Stennis verwundert. Und Chief Coughlin machte ihn mit Matdorf bekannt? »Chief Coughlin hat soeben Ihretwegen angerufen«, sagte Matdorf. »Ja, Sir?« »Liefern Sie Ihre Ausrüstung ab«, sagte Matdorf. »Räumen Sie Ih ren Spind aus. Wenn jemand Fragen stellt, sagen Sie, ›ich tue nur, was man mir gesagt hat‹. Morgen früh um halb neun melden Sie sich bei Captain Sabara bei der Highway Patrol. Sie wissen, wo das ist? Bustleton und Bowler?« »Ich verstehe nicht, Sir.« »Captain Sabara wird Ihnen morgen früh alles erklären«, sagte Matdorf. »Wenn ich das noch nicht klargemacht habe. Sie werden nicht hierher zurückkehren.« »Soll ich meinen Spind jetzt gleich ausräumen?« »Ja. Und erzählen Sie niemandem, wohin Sie gehen.« »Jawohl, Sir«, sagte Payne. Stennis sah, daß Payne nicht gefiel, was man ihm gesagt hatte, er jedoch klug genug war, um zu spüren, daß es sinnlos war, Chief Matdorf Fragen zu stellen. »Sie können jetzt gehen«, sagte Matdorf. »Jawohl, Sir.« Payne nahm seine Ohrenschützer und andere Aus rüstung und ging. »Sie sagen niemandem, daß er zur Highway Patrol geht, Dick«, sagte Matdorf. »Jawohl, Sir«, erwiderte Stennis. »Sie sind neugierig, wie?« Matdorf lächelte leicht, was bei ihm sel ten war. »Jawohl, Sir.« »Er war bei Dutch Moffitts Beerdigung, weil Dutch sein Onkel war.« »Das wußte ich nicht.«
»Sein Vater war ebenfalls Polizist. Sergeant John X. Moffitt«, fuhr Matdorf fort. »Er wurde erschossen, als er einen Einbrecher bei einer Tankstelle in West-Philadelphia stellen wollte.« »Das wußte ich ebenfalls nicht. Was macht man mit ihm bei der Highway Patrol?« fragte Stennis, und ohne Matdorf Zeit für eine Ant wort zu lassen, fügte er hinzu: »Wie kommt es, daß er Payne heißt?« »Seine Mutter hat wieder geheiratet; ihr zweiter Mann adoptierte ihn«, erklärte Matdorf. »Und ich weiß nicht, was man mit ihm bei der Highway Patrol vorhat. Ich glaube, ich sollte da nicht zu viele Fragen stellen.« »Coughlin hat das arrangiert?« fragte Stennis. Matdorf nickte. »Chief Coughlin und der Vater des Jungen waren zusammen auf der Akademie. Sie waren befreundet. Ich weiß das, weil ich im selben Jahrgang war.« Matdorf hielt Stennis’ Blick einen Moment lang mit ausdrucksloser Miene stand. Dann wandte er sich ab und ging davon.
8
Als Peter Wohl hinter dem Polizeipräsidium an der Eighth und Arch Street auf den Parkplatz fuhr, hielt er an der Benzinzapfsäule und tankte. Mit neunzehn komma sieben Gallonen war der Tank des Ford voll. Peter Wohl hatte irgendwo gehört, daß der Tank des LTD zweiund zwanzig Gallonen faßte. Das bedeutete, daß er noch Sprit gehabt hatte, obwohl die Anzeige unterhalb der Reserve gestanden hatte. Daraus läßt sich eine Lehre ziehen, dachte er, als er über den Parkplatz fuhr und einen freien Platz suchte. Obwohl ich am Rand einer bröckelnden Klippe spaziere, habe ich anscheinend das unge wöhnliche Glück, nicht hinunterzustürzen. Er parkte den Ford auf einem Parkplatz, der für Besucher reserviert war, und stieg aus. Die Fenster ließ er einen Spalt offen, um die Hitze hinauszulassen. Er sagte sich, daß selbst der fleißigste Dieb nicht versuchen würde, seinem Gewerbe auf einem Parkplatz der Polizei nachzugehen. Das Polizeipräsidium war allgemein als das ›Rundhaus‹ bekannt. Es war nicht wirklich rund, sondern gerundet. Das Gebäude und die Innenwände, einschließlich die der Aufzüge, waren gewölbt. Er sagte sich, daß es ›Rundhaus‹ hieß, weil das leichter auszusprechen war als »Gerundetes Haus«.
Peter Wohl betrat das Gebäude durch die Hintertür. Drinnen zur Rechten war eine Tür zum Vernehmungsraum. Das Rundhaus be herbergte zusätzlich zu den Büros der Verwaltung in den oberen Stockwerken ein Gefängnis. Gefangene aus den Stadtbezirken wur den in Räume im Kellergeschoß gebracht, wo ihnen die Fingerab drücke abgenommen und wo sie fotografiert wurden. Dann wurden sie in Zellen gesperrt, bis sie dem Richter vorgeführt wurden, der sich die Klage gegen sie anhörte und sie entweder freiließ oder die Kauti on festsetzte, sofern sie nicht in Haft genommen wurden. Es gab eine Art kleine Tribüne, von der aus Angehörige und Freunde des Angeklagten durch eine Glaswand zuschauen konnten, wenn der Angeklagte dem Polizeirichter vorgeführt wurde. Zur Linken befand sich eine Tür, die zur Halle des Rundhauses führte. Sie war geschlossen und abgeschlossen. Die Tür konnte nur von einem Polizeibeamten, der hinter einem Fenster aus Panzerglas direkt gegenüber der Tür saß, geöffnet und geschlossen werden. Die meisten ranghohen Beamten der Polizei von Philadelphia vom Deputy Commissioner abwärts bis zu den Captains, waren dem Poli zisten bekannt, der die Tür bewachte. Peter Wohl stand als Staff In spector ziemlich hoch in der Hierarchie der Polizei. Er war einer von siebzehn Staff Inspectors, ein Rang über Captain und unter Inspec tor. Bei den seltenen Anlässen, an denen Staff Inspector Wohl seine Uniform trug, hatte sie als Rangabzeichen ein goldenes Eichenblatt, identisch mit dem von Majors beim Militär. Inspectors trugen silberne Eichenblätter als Rangabzeichen und Chief Inspectors den Adler ei nes Colonels. Ranghohe Polizeibeamte waren es gewohnt, daß die Tür in der Halle sich mit einem Summton öffnete, wenn sie davorstanden. Als Peter Wohl vor der Tür eintraf, blieb sie verschlossen. Er blickte über die Schulter zu dem Polizisten hinter der Panzerglasscheibe, ein Corporal in mittlerem Alter. Der Corporal schaute ihn an, setzte ein Beamtenlächeln auf – im Gegensatz zu einem echten – und winkte Wohl mit dem Zeigefinger zu sich. Peter Wohl hatte mitgezählt. Jetzt stand es dreizehn zu sechs. Bei den neunzehn Malen, an denen er versucht hatte, durch die Tür zu gelangen, ohne sich bei dem Cop hinter der Panzerglasscheibe aus zuweisen, war er dreizehnmal gescheitert; nur sechsmal war er er kannt worden und hatte passieren dürfen. Er ging zu dem Fenster. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« fragte der Corporal. »Ich bin Inspector Wohl«, sagte Peter. Der Corporal schaute ihn überrascht an und fühlte sich dann sichtlich unbehaglich, als Wohl
ihm das Lederetui mit seinem Abzeichen (ein rundes silbernes Ding mit eingeprägtem, stilisiertem Bild der City Hall und dem Rang STAFF INSPECTOR) und Ausweis hinhielt. »Verzeihen Sie, Inspector«, sagte der Corporal. »Sie tun nur Ihre Pflicht.« Peter lächelte ihn an. Er ging zur Tür, die der Corporal per Knopfdruck öffnete, und durchquerte die Halle bis zu den Aufzügen. Dort verharrte er bei ei nem Glasschaukasten, der an der Wand neben den Aufzügen hing. Der Schaukasten enthielt die Fotos und Dienstmarken von Polizeibe amten, die in Ausübung ihrer Pflicht getötet worden waren. Es gab ein neues Foto, das eines Captains der Highway Patrol in Uniform: Richard C. Moffitt. Captain Dutch Moffit und Peter Wohl waren Freunde gewesen, soweit sich Peter zurückerinnern konnte. Keine engen Freunde – Dutch war zu extravagant dafür gewesen – , aber Freunde. Sie hatten gewußt, daß sie sich aufeinander verlassen konnten, wenn es nötig war. Jeder war für den anderen eingetreten. Wohl hatte Dutch den letzten Gefallen erwiesen, indem er Jeannie, die Witwe Moffitts, überzeugt hatte, daß Dutch nur geschäftlich mit der Blondine zu tun gehabt hatte, mit der er in einem Restaurant am Roosevelt Boulevard zusammengewesen war, als er bei dem Ver such, einen Raubüberfall zu verhindern, tödlich verletzt worden war. Wohl wandte sich ab, stieg in einen der Aufzüge und drückte den Knopf für den dritten Stock. Der rechte Flügel des Präsidiums war mehr oder weniger die Chefetage. Darin befanden sich die Büros des Commissioners, der Deputy Commissioners und der Chief Inspec tors, einschließlich des Büros von Chief Inspector Dennis V. Cough lin. Der Gang zu diesem Teil des Gebäudes wurde von einem schick angezogenen Mann Anfang Dreißig bewacht, entweder ein Polizist in Zivil oder ein Kriminalbeamter, der an einem Schreibtisch saß. Der Mann kannte Wohl. »Hallo, Inspector. Wie geht’s?« »Ich schmelze fast«, erwiderte Wohl und lächelte ihn an. »Ich hör te, daß einige der Cops in Florida Shorts tragen dürfen. Meinen Sie, ich kann Chief Coughlin überreden, uns das zu erlauben?« »Ich habe nicht die Beine für kurze Hosen«, rief der Polizist Wohl nach, der weiterging. Chief Inspector Dennis V. Coughlin teilte sich ein Vorzimmer mit Polizeichef Taddeus Czernick, an das sich der Konferenzraum des Polizeichefs anschloß. Sergeant Tom Lenihan saß an einem Schreibtisch zur Linken. Le nihan war ein sehr großer Mann mit freundlichem Gesicht und schüt
terem Haar. Er saß in Hemdsärmeln am Schreibtisch, und ein Revol ver war an seiner Hüfte zu sehen. »Nun, es freut mich, daß Sie den Chef in Ihren vollen Terminplan einbauen konnten«, sagte Lenihan lächelnd. »Das wird er zu schät zen wissen. Gehen Sie rein. Er erwartet Sie.« Wohl öffnete die Tür von Chief Inspector Coughlins Büro. Coughlin saß ebenfalls in Hemdsärmeln am Schreibtisch und tele fonierte. Er lächelte und forderte Wohl mit einer Geste auf, in einem der beiden Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Warten Sie einen Augenblick«, sagte er am Telefon. Er klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter ein und suchte in einem Körb chen auf seinem Schreibtisch. Er zog vier Telexblätter hervor und reichte sie Wohl. Dabei lächelte er – ziemlich selbstgefällig, wie Wohl fand – , und dann setzte er das Telefonat fort. Wohl las das erste Telex, das an alle Distrikte übermittelt worden war: ANWEISUNG: 0650 06/30/73 VOM COMMISSIONER
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CITY OF PHILADELPHIA
POLICE DEPARTMENT FOLGENDES IST BEIM ANWESENHEITSAPPELL BEKANNTZUGEBEN: MIT SOFORTIGER WIRKUNG IST CAPTAIN DAVID J. PEKACH VOM RAUSCHGIFTDEZERNAT VERSETZT ZUR HIGHWAY PATROL ALS DEREN LEITER. Nun, das macht jede kleine Chance zunichte, die ich hatte, um mich für Mike Sabara einzusetzen, dachte Peter Wohl. Jetzt ist es offiziell, und es ist zu spät, noch etwas zu versuchen. Er las das zweite Telex. ANWEISUNG 0651 06/30/73 VOM COMMISSIONER
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CTTY OF PHILADELPHIA
POLICE DEPARTMENT FOLGENDE NEUORDNUNG IST BEI ALLEN AN WESENHEITSAPPELLEN BEKANNTZUGEBEN: MIT SOFORTIGER WIRKUNG WIRD EINE SPECIAL OPERATIONS DIVISION GEBILDET MIT HEADQUARTERS IM SIEBTEN DISTRIKTGEBÄUDE DER HIGHWAY PATROL. LEITER DER SPECIAL OPERATIONS DIVISION UNTERSTEHT DIREKT DEM COMMISSIONER UND BERICHTET DURCH CHEF
INSPECTOR COUGHLIN. DIE SPECIAL OPERATIONS DIVISON BESTEHT AUS DER HIGHWAY PATROL, DEM ANTI CRIME TEAM (ACT) UND ANDEREN ABTEILUNGEN, DIE VIELLEICHT SPATER ZUGETEILT WERDEN. DIE SPECIAL OPERATIONS DIVISION HAT STADTWEITE ZUSTÄNDIGKEIT. KRAFTFAHRZEUGE DER SPECIAL OPERATIONS DIVISION (MIT AUSNAHME DER HIGHWAY PATROL) ERHALTEN DAS FUNKRUFZEICHEN S-100 bis S-200 UND WERDEN DIE PHONETISCHE AUSSPRACHE ›SAM‹ BENUTZEN. Der Funkname ›Sam‹ war bereits im Gebrauch, wie Wohl wußte. Die polizeiliche Überwachung und das Bombenräumkommando be nutzten ihn. Es war ›Sam‹ statt des ›Sugar‹ im militärischen Buchsta bieralphabet, weil ein Mann vom Bombenräumkommando, der sich zum erstenmal über Funk als ›S-Sugar Thirteen‹ gemeldet hatte, schallendes Gelächter von seinen Kollegen geerntet hatte, das bis nach Atlantic City zu hören gewesen war. Peter Wohl nahm an, daß man Special Operations den Funknamen ›Sam‹ wegen Special Operations gegeben hatte und ›S‹ größer sein würde als ›S‹ für Stakeout (polizeiliche Überwachung). Was würde man jetzt für die polizeiliche Überwachung und das Bombenräum kommando nehmen? Es würde nicht klappen, wenn sie denselben Funknamen hatten. Aber das war ein Problem, das warten konnte.
Er las das dritte und vierte Telex.
ANWEISUNG 0652 06/30/73 VOM COMMISSIONER
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CITY OF PHILADELPHIA
POLICE DEPARTMENT FOLGENDES IST BEI ALLEN ANWESENHEITSAPPELLEN BEKANNTZUMACHEN: MIT SOFORTIGER WIRKUNG IST STAFF INSPECTOR PETER F. WOHL VON DER ABTEILUNG INTERNE ANGELEGENHEITEN VERSETZT ZUR ABTEILUNG SPECIAL OPERATIONS ALS DEREN LEITER. ANWEISUNG 0653 06/30/73 VOM COMMISSIONER
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CITY OF PHILADELPHIA
POLICE DEPARTMENT
FOLGENDES IST BEI ALLEN ANWESENHEITSAPPELLEN
BEKANNTZUMACHEN: MIT SOFORTIGER WIRKUNG IST
CAPTAIN MICHAEL J. SABARA, BISHER (AMTIERENDER) LEITER DER HIGHWAY PATROL, ZUR SPECIAL OPERATIONS DIVISION VERSETZT ALS DEREN STELLVERTRETENDER LEITER. »Ich melde mich wieder«, sagte Chief Coughlin am Telefon und legte den Hörer auf. Er wandte sich lächelnd Wohl zu. »Sie wirken nicht sehr überrascht, Peter«, sagte Coughlin. »Ich hatte davon gehört.« »Tatsächlich?« Coughlins Miene spiegelte Überraschung wider. »Von wem?« »Das habe ich vergessen.« »Ja, das haben Sie vergessen«, sagte Coughlin sarkastisch. »Ich weiß nicht, warum mich das überrascht.« »Ich nehme an, ich kann mich nicht aus dieser Sache heraus winden?« fragte Wohl. »Sie werden ein großes Tier bei der Polizei werden, Peter«, sagte Coughlin. »Es würde mich nicht überraschen, wenn Sie es bis zum Commissioner schaffen.« »Das ist sehr schmeichelhaft, Chief«, sagte Wohl. »Aber das war nicht meine Frage.« »Danken Sie nicht mir«, sagte Coughlin. »Ich habe das nicht ver anlaßt. Der Bürgermeister sagte das dem Commissioner. Und als der Bürgermeister ihm das sagte, dachte er, Sie sollten Special Operati ons leiten.« Wohl schüttelte den Kopf. »Beantwortet das Ihre Frage, Inspector?« fragte Chief Inspector Coughlin. »Chief, ich weiß nicht mal, was, zum Teufel, Special Operations ist«, sagte Wohl, »geschweige denn, was diese Abteilung tun soll.« »Sie haben das Telex gelesen. Highway Patrol und Anti Crime Team. Sie sind der Leiter, und Sie haben Mike Sabara, der Ihnen mit der Highway Patrol helfen kann.« »Hat keiner Mike Sabara gefragt, ob er die Highway Patrol haben möchte?« fragte Wohl. »Der Bürgermeister sagt, Mike sieht wie ein Wächter in einem Konzentrationslager aus«, sagte Coughlin. »Ich nehme an, Dave Pe kach sieht eher aus, wie sich der Bürgermeister den Chef der High way Patrol vorstellt.« »Ist das eine Reaktion auf diesen Leitartikel ›Gestapo in Stiefeln?‹ Geht es bei alldem darum?«
»Das auch, sicher.« »Der Ledger schießt auf Carlucci, ganz gleich, was er tut«, sagte Wohl. »Auf den Ehrenwerten Bürgermeister«, korrigierte Coughlin. »Und auf mich auch«, sagte Wohl. »Der Besitzer Arthur J. Nelson gibt mir die Schuld, daß bekannt wurde, daß sein Sohn ein – äh – etwas mit Männern hatte.« Arthur J. Nelson war der Vorstand von Daye-Nelson-PublishingIncorporated, die den Ledger und zwölf andere Zeitungen besaß. »Mit schwarzen Homosexuellen«, sagte Coughlin. Es war ein schmutziger Fall gewesen. Jerome Nelson, der einzige Sohn von Arthur J. Nelson, war in seinem Luxusapartment ermordet, buchstäblich abgeschlachtet worden. Der Hauptverdächtige in dem Fall war sein Freund, ein bekannter Homosexueller, der sich ›Pierre St. Maury‹ nannte. Durch Fingerabdrücke war Pierre St. Maury als fünfundzwanzigjähriger Schwarzer namens Errol F. Watson identifi ziert worden, der wegen kleinerer Delikte wie Beischlafdiebstahl vor bestraft war. Watson selbst war ermordet worden; zwei andere Ho mosexuelle hatten ihm mit einer .32 Automatik in den Hinterkopf ge schossen. Wohl glaubte zu wissen, was geschehen war. Es hatte als Raub begonnen. Die mutmaßlichen Täter und folglich die wahrscheinlichen Mörder waren Watsons Freunde. Sie saßen seit kurzem im Ocean County Jail, New Jersey, und standen unter Mordanklage. Watsons Leiche war in der Nähe von Atlantic City gefunden worden, unweit von Jerome Nelsons gestohlenem Jaguar, der dort zurückgelassen worden war. Als die beiden festgenommen wurden, hatten sie Jero me Nelsons Kreditkarte, seine Armbanduhr und Ringe bei sich. Ande rer Besitz, der aus Nelsons Apartment verschwunden war, wurde entdeckt und mit ihnen in Verbindung gebracht, und ihre Fin gerabdrücke befanden sich im Jaguar. Wie Wohl den Fall sah, hatten die beiden Kerle die Schlüssel von Nelsons Apartment von Watson erhalten, vermutlich mit dem Ver sprechen auf einen Anteil der Beute. Als Jerome Nelson für sie über raschend in seiner Wohnung war, töteten sie ihn. Und dann brachten sie Watson um, damit er sie nicht belasten konnte, wenn die Polizei ihn fand. Aber die beiden Kerle machten von ihrem Recht Gebrauch und nahmen sich einen Anwalt. Der Anwalt wies sie darauf hin, daß sie wahrscheinlich wegen der Ermordung von Watson verurteilt wurden, die Behörden von Pennsylvania aber weder Zeugen noch viele Indi zienbeweise hatten, um sie vor Gericht zu stellen, wenn sie ihre Un
schuld an dem Raubmord an Nelson beteuerten. Es war eine Tatsache, daß eine Verurteilung von schwarzen Tä tern, die einen anderen Schwarzen ermordet hatten, weniger hoch ausfiel, als die von Schwarzen, die einen reichen und prominenten Weißen ermordet hatten. Und wenn die beiden Verbrecher im Ge fängnis des Ocean County das nicht gewußt hatten, bevor ihnen der Staat New Jersey kostenlosen Rechtsbeistand gegeben hatte, dann wußten sie es jetzt. Ihre Version der Geschichte war jetzt so: Sie trafen Watson, der in einem Jaguar herumfuhr, und kauften ihm gewisse Dinge ab, die er anbot. Sie sahen ihn putzmunter zum letztenmal an der Strandpro menade von Atlantic City. Sie hatten keine Ahnung, wer ihn umge bracht hatte, und sie kannten keinen Mann namens Jerome Nelson. Sie hatten den Namen nur auf der Kreditkarte gesehen, die sie Errol Watson alias Pierre St. Maury abgekauft hatten. Normalerweise hätte es nichts ausgemacht. Es wäre nur ein weite rer schmutziger Job in einer langen, langen Liste schmutziger Jobs gewesen. Die Kerle wären davongelaufen, selbst wenn der Ankläger Wat sons Ermordung durch eine inoffizielle Absprache (nach der ein An geklagter durch Schuldbekenntnis dem Gericht Prozeßzeit erspart und dafür eine milde Strafe zugesichert bekommt) auf Totschlag her abgehandelt hätte. Sie hätten zwanzig Jahre bis lebenslänglich be kommen, und die ganze Sache wäre binnen eines Monats vergessen gewesen. Aber Jerome Nelson war kein Opfer wie andere. Sein Vater war Ar thur J. Nelson, der Besitzer der Zeitung Ledger, der davon ausging, nachdem ihm Bürgermeister Carlucci und Polizeichef Czernick versi chert hatten, den Mörder seines Sohnes vor Gericht zu bringen, daß die Polizei alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um die Familie des Opfers zu schützen. Mit anderen Worten, Nelson war davon aus gegangen, daß die sexuellen Neigungen des Hauptverdächtigen, seine Hautfarbe und die Tatsache, daß er oft in Jeromes Wohnung geschlafen hatte, nicht bekannt werden würden. Bürgermeister Carlucci hatte Arthur J. Nelson das angedeihen las sen, was der Verleger einer bedeutenden Zeitung von ihm erwartete: eine Sonderbehandlung. Polizeichef Czernick sagte Nelson, daß er einen seiner fähigsten Polizeibeamten, Staff Inspector Peter Wohl, beauftragt hatte, die Kriminalbeamten der Mordkommission bei ihren Ermittlungen zu leiten und dafür zu sorgen, daß alles Menschenmög liche getan wurde, damit die Begleitumstände des Mordfalles nicht an die Öffentlichkeit drangen.
Es war jedoch anders gekommen. Mr. Michael J. O’Hara vom Bul letin brachte einen Lieutenant DelRaye von der Mordkommission durch Drinks und Schmeicheleien dazu, etwas auszuplaudern, was er vermutlich nicht gesagt hätte, wenn er nüchtern gewesen wäre. Das führte zu einem Artikel auf der Titelseite der Zeitung. Darin stand, daß ›laut eines ranghohen Beamten, der an den Ermittlungen beteiligt ist‹ die Polizei Jerome Nelsons Geliebten suchte, der ein schwarzer Ho mosexueller war. Als durch Mikey O’Haras Story erst einmal der Damm gebrochen war, hielten es zwei große Zeitungen von Philadelphia und alle Ra dio- und Fernsehsender für ihre heilige Journalistenpflicht, alle Tatsa chen an die Öffentlichkeit zu bringen. Arthur Nelsons Frau, die stets psychische Probleme gehabt hatte, mußte wieder ins Institute of Living in Hartford, Connecticut, das teu erste psychiatrische Institut des Landes, eingewiesen werden, nach dem in allen Medien – mit Ausnahme des Ledger – berichtet wurde, daß ihr einziges Kind mit einem schwarzen Homosexuellen zusam mengelebt und geschlafen hatte. Mr. Arthur Nelson fühlte sich verraten, nicht nur von den Kollegen seiner Branche, sondern auch vom Bürgermeister und besonders von der Polizei. Wenn dieser gottverdammte Cop keinen Dünnschiß aus dem Mund gehabt hätte, dann hätte Jerome würdevoll beerdigt wer den können, und Mrs. Nelson wäre nicht wieder in der Klapsmühle. Peter Wohl wurde ursprünglich sowohl von Arthur J. Nelson als auch vom Bürgermeister verdächtigt, der Polizist mit dem losen Mundwerk gewesen zu sein, aber Commissioner Czernick glaubte Peter Wohl, daß er nichts ausgeplaudert hatte, und er fand selbst heraus, durch Mickey O’Hara, daß der dumme Quatscher Lieutenant DelRaye gewesen war. Als Bürgermeister Carlucci Mr. Nelson anrief, um ihm das zu sagen und ihm mitzuteilen, daß Lieutenant DelRaye von der Mordkommissi on in Unehren verbannt worden war und wieder in Uniform arbeiten mußte, in einem abgelegenen Distrikt, und daß Peter Wohl bei der Festnahme der beiden Tatverdächtigen in Atlantic City beteiligt ge wesen war, wurde das, was als Friedensangebot gedacht war, zu einer Kriegserklärung. Beide Männer hatten ein hitziges Tempera ment, und es wurden Dinge gesagt, die nicht zurückgenommen wer den konnten. Und es wurde schnell klar, wie Arthur J. Nelson den Krieg führen wollte. Zwei Tage später stellte ein junger ziviler Cop des Rauschgift dezernats den Drogensüchtigen, der dabeigewesen war, als Captain Dutch Moffitt erschossen worden war. Es war eine Story auf der Titel
seite aller Zeitungen in Philadelphia, und die Artikel waren im allge meinen positiv für die Polizei und spiegelten Erleichterung darüber wider, daß ein drogensüchtiger Polizistenmörder zur Strecke ge bracht worden war. Der Ledger brachte zwar die Fakten, versteckte sie jedoch im Innenteil. Die Überschrift des Leitartikels lautete ›Selbstjustiz bei der Polizei?‹ und deutete an, daß Gerald Vincent Gallagher, der auf der Flucht vor dem Polizisten vom Rauschgiftde zernat unter die Räder einer U-Bahn geriet, von dem Cop vor die Bahn gestoßen worden war. Das jüngste Geschütz, das Arthur J. Nelson aufgefahren hatte, war der Leitartikel ›Gestiefelte Gestapo‹. Arthur J. Nelson wollte Rache und war offenbar der Ansicht, daß Bürgermeister Carlucci, der aus der Polizei zu politischer Prominenz aufgestiegen war, von jedem Schuß auf die Polizei ebenfalls getroffen wurde. »Will Carlucci mich zwischen sich und den Ledger schieben?« fragte Wohl. »Peter, ich finde, Sie sollten erst einmal abwarten, was auf Sie zu kommt«, sagte Coughlin. »Ich weiß nicht«, erwiderte Wohl. »Ich habe zehn Jahre lang keine Uniform getragen und nur im Hauptquartier gearbeitet und soll jetzt die Highway Patrol und etwas namens ACT leiten, über das ich nicht das geringste weiß. Ich weiß ja nicht einmal, was dieses sogenannte Anti Crime Team tun soll.« »Der Bürgermeister sagte dem Commissioner, er ist völlig zuver sichtlich, daß er binnen kurzer Zeit – ich nehme an, das bedeutet in ein paar Wochen – eine Pressekonferenz einberufen und erklären kann, daß seine Special Operations Division die Sexbestie festge nommen hat, von der die anständigen Frauen in NordwestPhiladelphia vergewaltigt wurden.« »Für die Aufklärung von Vergewaltigungsfällen ist die Kripo zu ständig«, wandte Wohl ein. »Stimmt«, sagte Coughlin. »Nur dieser Vergewaltiger von Nord west-Philly ist Ihre Sache.« »Es ist also Öffentlichkeitsarbeit.« »Es ist das, was der Bürgermeister wünscht«, erwiderte Coughlin. »Matt Lowenstein wird einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er erfährt, daß ich auf seinem Gebiet arbeite.« »Der Commissioner hat es ihm bereits gesagt«, sagte Coughlin. »Geben Sie auf, Peter. Sie können nicht dagegen ankämpfen.« »Wer ist im ACT? Welches Personal werde ich dort haben?« »Ich habe veranlaßt, daß Sie zum Start drei Leute bekommen. Die Officers Martinez und McFadden. Sie melden sich morgen früh um
acht Uhr bei Ihnen.« Officer Charley McFadden war der Beamte in Zivil vom Rauschgift dezernat, der vom Ledger beschuldigt wurde, Gerald Vincent Gallag her vor die U-Bahn gestoßen zu haben. Officer Jesus Martinez war sein Partner. Wohl dachte einen Moment darüber nach und sagte dann: »Sie sprachen von drei Leuten, oder?« »Und Officer Matthew Payne«, sagte Coughlin. »Dutch Moffitts Neffe. Sie haben ihn kennengelernt.« »Warum Payne?« fragte Wohl. »Hat er die Akademie schon hinter sich?« »Ich habe so ein Gefühl, daß Matthew Payne wertvoller für Sie und folglich für uns alle sein wird, als er sein würde, wenn wir ihn zu ei nem der Distrikt-Reviere schicken.« »Es überrascht mich, daß er es auf der Akademie aushielt«, sagte Wohl. »Mich nicht«, bemerkte Coughlin. »Wollen Sie ihn undercover einsetzen?« fragte Wohl. »Vielleicht«, antwortete Coughlin. »Wir haben nicht viele Anfänger wie ihn. Es wird sich etwas ergeben.« »Ich soll also nur etwas gegen diesen Vergewaltiger unterneh men?« fragte Wohl. »Sie sollen die Special Operations Division aufbauen und leiten. Das bedeutet, zu verhindern, daß die Highway Patrol dem Ledger einen Vorwand liefert, sie Gestapo zu nennen. Und Sie sollen das Anti-Crime-Team aufbauen und leiten. Da ist ein Sergeant, ein ge scheiter junger Mann namens Eddy Frizell in der Verwaltung, der allen bisherigen Papierkram für das ACT erledigt hat. Ich rief ihn vor hin an und sagte ihm, daß er mit seinen Akten zur Highway Patrol umziehen soll. Er wird vermutlich vor Ihrem Eintreffen dort sein. Czernick wies Whelan an, Ihnen an Ausrüstung und Geld zu geben, was Sie für nötig halten. Er soll es aus dem Fonds für unvorhergese hene Ausgaben nehmen und zurückzahlen, wenn die Gelder der Re gierung kommen. Frizell sollte in der Lage sein, Ihnen zu sagen, was Sie brauchen.« »Der Bürgermeister erwartet von mir, daß ich den Vergewaltiger schnappe«, sagte Wohl. »Das ist von größter Dringlichkeit.« »Und wen soll ich einsetzen, um das zu schaffen? Diese beiden Jungs vom Rauschgiftdezernat?« Er sah Unmut und sogar Ärger an Coughlins Miene. »Entschuldigung, Chief«, fügte er hastig hinzu. »Ich meinte es nicht so, wie es herauskam.«
»Das Personal für das ACT besteht für den Anfang aus vierzig Po lizisten, plus jeweils vier Corporals, Sergeants und Lieutenants; ein Captain, vier Detectives und natürlich Sie«, sagte Coughlin. »Ich ha be bereits per Telex um Freiwillige gebeten, die sich zum ACT ver setzen lassen. Sie können auswählen, wen immer Sie wollen.« »Und wenn sich niemand freiwillig meldet? Oder wenn alle Freiwil ligen Jungs sind, die nahe daran sind, in ihren Distrikten zum Gum miwaffen-Kommando oder zur Farm geschickt zu werden?« Coughlin lachte. ›Zur Farm geschickt werden‹ war eine beschöni gende Bezeichnung für eine Entziehungskur von Beamten, die Alko holprobleme hatten. Das ›Gummiwaffen-Kommando‹ war eine Um schreibung für Polizeibeamte, deren Vorgesetzte der Ansicht waren, daß man ihnen keine echte Waffe sicher anvertrauen konnte. »Dann können Sie, in vernünftigem Rahmen, jeden auswählen, den Sie wollen«, sagte Coughlin. »Es ist wichtig für den Bürgermei ster, daß diese neue Abteilung funktioniert; deshalb ist es auch für Czernick und mich wichtig. Sie werden mir doch keine Schwierigkei ten machen, Peter, oder?« »Nein, natürlich nicht, Chief«, sagte Wohl. »Es kam einfach aus heiterem Himmel, und ich muß mich erst daran gewöhnen.« Chief Coughlin erhob sich und reichte ihm die Hand. »Sie können das schaffen, Peter«, sagte Coughlin. »Glückwunsch und viel Glück.« Peter Wohl erkannte bei dem Händedruck und diesen Worten, daß er nicht nur verabschiedet wurde, sondern auch alle Anweisungen erhalten hatte, die vorgesehen waren. »Danke, Chief«, sagte er. Wohl ging zum Parkplatz, öffnete die Tür seines Wagens und kur belte die Fensterscheiben herunter. Dann wartete er draußen, bis etwas von der Hitze aus dem Wagen wich. Schließlich stieg er ein, ließ den Motor an und schaltete die Klimaanlage ein. Er kurbelte die Fensterscheiben hoch und legte den Rückwärtsgang ein. Dann besann er sich anders. Er neigte sich zum Handschuhfach und nahm das Mikrofon heraus. »Funkzentrale, S-Sam eins-null-eins«, sagte er. »S-Sam eins-null-eins, Funkzentrale«, meldete sich eine Män nerstimme. Man ist offenbar überhaupt nicht überrascht, den neuen Funkna men zu hören, dachte Wohl. »Haben Sie die Position von Highway eins?« fragte Wohl. Die Antwort kam sofort: »Außer Dienst bei der Highway Patrol.« »Was ist mit S-Sam eins-null-zwei?« fragte Wohl. Er nahm an, daß
Mike Sabara, der jetzt nach seiner Beförderung den zweithöchsten Rang bei der Special Operations Division hatte, diesen Funknamen benutzen würde. »Ebenfalls außer Dienst bei der Highway Patrol, S-Sam eins-null eins«, sagte der Mann in der Funkzentrale. »Wenn sich einer von ihnen wieder über Funk meldet, bitten Sie ihn, sich bei der Highway Patrol mit mir zu treffen. Danke, Funkzen trale.« Wohl legte das Mikrofon ins Handschuhfach zurück. Dann fuhr er vom Parkplatz und machte sich auf den Weg zum Hauptquartier der Highway Patrol.
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Elizabeth Joan Woodham mochte es nicht, wenn sie ›Woody‹ ge nannt wurde, wie es die meisten ihrer Freundinnen taten. Sie hielt sich für zu groß und dünn und etwas linkisch und folglich ›hölzern‹. Sie war einsachtzig und wog siebenundsechzig Kilo, und ihr Arzt hatte ihr gesagt, daß das genau das richtige Gewicht für sie war. Sie sagte sich, daß sie die Wahl hatte, weiterhin siebenundsechzig Kilo zu wiegen und mager auszusehen oder Gewicht zuzulegen und eine große stattliche Frau zu werden. Sie fand, daß sie eine bessere Chance hatte, den richtigen Typ Mann anzuziehen, wenn sie eine dünne Frau blieb. Große Frauen schüchterten ihrer Ansicht nach Männer ein. Elizabeth J. Woodham hatte mit dreiunddreißig Jahren noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben, daß sie schließlich einen passenden Mann finden würde, mit dem sie eine Beziehung aufbauen konnte. Aber sie hatte eine Statistik in dem Magazin Time gelesen, aus der hervorging, daß die Chancen gegen sie standen. Offenbar hatte sich jemand die Zeit genommen, statistisch zu ermitteln, daß eine Frau von dreißig Jahren an nur noch wenig Aussicht hatte, sich einen Mann zu angeln. Mit fünfunddreißig waren die Aussichten noch schlechter und mit vierzig praktisch gleich null. In jüngster Zeit hatte sie den Gedanken akzeptiert, daß sie in Wirk
lichkeit mehr ein Kind wünschte als einen Mann. Sie fragte sich, ob sie wirklich ihr Leben mit einem Mann teilen wollte. Manchmal stellte sie sich in ihrer Wohnung vor, daß ein Mann darin mit ihr wohnte und ihre Zeit, ihren Körper und ihren Raum beanspruchte. Der Mann war eine Mischung der drei Liebhaber, die sie in ihrem Leben gehabt hatte, und manchmal stellte sie sich ihn auf zweierlei Weise vor. Einer der beiden Typen Mann hatte alle attraktiven Attribu te ihrer drei Liebhaber, einschließlich der körperlichen Aspekte. Der andere Mann hatte all die unangenehmen Attribute ihrer Liebhaber, was schließlich dazu geführt hatte, daß sie die Beziehung abgebro chen hatte. Der gute Mann in ihrer Phantasie war oftmals der Liebhaber, den sie zweieinhalb Jahre lang gehabt hatte, ein freundlicher, sanfter Mann, bei dem die körperlichen Aspekte der Beziehung wirklich schön gewesen waren, der jedoch einen großen Fehler gehabt hatte: Er war verheiratet, und sie hatte allmählich erkannt, daß er niemals seine Frau und die Kinder verlassen würde; und in Wirklichkeit war seine Frau nicht die gefühllose und gierige Hexe, deren Bild er ge zeichnet hatte, sondern eher eine Frau wie sie selbst, die wußte, daß er fremdging, wenn er regelmäßig zu spät nach Hause kam, und die darunter litt, weil sie glaubte, es sei ihre Pflicht als Frau, das zu er dulden; oder es wegen der Kinder hinzunehmen, oder weil sie glaub te, daß jeder Mann besser war als überhaupt keiner. Elizabeth hatte sich gesagt, als sie die Beziehung beendet hatte, daß es besser war, überhaupt keinen Mann zu haben als einen, der mit vielen Frauen ins Bett ging. In den Wintern unterrichtete Elizabeth Woodham die sechste Klas se der Olney-Grundschule an der Taber Road und Water Street. In diesem Sommer hatte sie, mehr aus Spaß als wegen des Geldes, einen Job als Vorleserin bei der Stadtbücherei angenommen; man wollte die Kinder zum Lesen bringen, indem man sie überzeugte, daß etwas Interessantes in Büchern stand; und man versammelte sie um sich und las ihnen Geschichten aus Büchern vor. Wenn es auch dazu diente, die Kinder des Abends von den Stra ßen fernzuhalten, um so besser. Bürgermeister Carlucci hatte einen Zuschuß von der Regierung für dieses Programm erhalten, und Eli zabeth Woodham, hatte die Projektleiterin erklärt, als sie sich um den Job beworben hatte, war genau die Person, die sie sich vorgestellt hatte. Die Arbeitszeit war von fünfzehn bis einundzwanzig Uhr, mit einer Stunde Pause für das Abendessen. Elizabeth ging für gewöhnlich um vierzehn Uhr zu dem Spielplatz, der auf dem Gelände der Bücherei
eingerichtet worden war, um Dinge aufzubauen und eine Schar Kin der für die ›Geschichtenstunde‹ zu sammeln. Die ›Geschichtenstun de‹ dauerte fast immer länger als eine Stunde, für gewöhnlich zwei Stunden. Elizabeth las und erzählte weiter, bis sie spürte, daß ihre Schützlinge unruhig wurden. Und sie war stolz, wenn sie ihre Auf merksamkeit so lange wie möglich hatte, und hörte sofort auf, wenn die Kinder die ersten Anzeichen von Langeweile zeigten. Der Spielplatz befand sich an der East Godfrey Avenue in Olney. Die West Godfrey Avenue wird jenseits der Front Street zur East Godfrey. Sie ist nahe an der Stadtgrenze und der Cheltenham Ave nue. East Godfrey ist eine Sackgasse. Ein Spielplatz befindet sich zwei Blocks davon südlich bis zu der Stelle, an der die Champlost Avenue nach Norden abbiegt und zur Crescentville Avenue wird, der westlichen Begrenzung des Tacony Creek Park. Die abendliche Geschichte begann um 19 Uhr 30 und sollte um 20 Uhr 30 zu Ende sein, damit Elizabeth Zeit hatte, Dinge einzuschlie ßen, bevor der Park um einundzwanzig Uhr für die Nacht geschlos sen wurde. Aber sie hatte es geschafft, die Aufmerksamkeit der Kinder bis kurz vor neun zu erhalten, bevor sie ihnen die Geschichte von Der Hund von Baskerville erzählte und – wie sie hoffte – die Saat säte, daß es noch mehr Geschichten von Arthur Conan Doyle über Sherlock Hol mes und Dr. Watson in der Stadtbücherei gab. So war es ein paar Minuten nach einundzwanzig Uhr, als sie den Park verließ und die East Godfrey Avenue hinunter zu ihrem parken den Wagen ging, ein zweijähriges Plymouth Coupe. »Wenn du schreist, schneide ich dir gleich hier deine Titten ab«, sagte der Mann mit der schwarzen Maske, als er Elizabeth J. Wood ham in einen Van zerrte.
Barbara Crowley, eine große, schlanke Siebenundzwanzigjährige, betrat das Bookbinders Restaurant und schaute sich im Hauptraum um, bis sie Peter Wohl entdeckte, der bei einem älteren Paar an ei nem Tisch saß. Dann ging sie schnell durchs Restaurant zu dem Tisch. Peter Wohl sah sie und stand auf. »Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte Barbara Crowley. »Wir haben Verständnis dafür, meine Liebe«, sagte die ältere Frau und hielt ihr die Wange zum Kuß hin. Sie war eine schlanke, große Frau mit silbergrauem Haar, die ein Kleid mit Blumenmuster trug. Sie
war Mrs. Olga Wohl, Peter Wohls Mutter. Es war ihr Geburtstag. Der ältere Mann, größer und schwerer als Peter und mit rötlichem Ge sicht, war sein Vater, Chief Inspector im Ruhestand August Wohl. »Wie geht es dir, Barbara?« fragte August Wohl, erhob sich von seinem Stuhl, lächelte sie an und reichte ihr die Hand. »Ich bin ziemlich erledigt«, sagte Barbara Crowley. Sie setzte sich, legte ihre Handtasche auf den Schoß, öffnete sie und nahm ein klei nes, in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen heraus. Sie über reichte es Olga Wohl. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« »Oh, das war doch nicht nötig!« sagte Olga Wohl und strahlte, als sie das Geschenk öffnete. Unter dem Papier kam eine kleine Schatul le mit dem Firmenzeichen der Juweliere Bailey, Banks & Biddle zum Vorschein. Olga Wohl öffnete die Schatulle und nahm eine silberne Puderdose heraus. »Oh, das ist aber nicht nötig«, wiederholte Olga Wohl. »Du hättest nicht soviel ausgeben sollen, meine Liebe.« »Wenn du das ernst meinst, Mutter«, sagte Peter Wohl, »dann kannst du ihr das Geld vielleicht zurückgeben.« Sein Vater lachte; seine Mutter bedachte ihn mit einem ver nichtenden Blick. »Ein wunderschönes Geschenk«, sagte sie, neigte sich zu Barbara Crowley, und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Vielen Dank.« »Meine Mutter sieht nicht wie Siebzig aus, oder?« fragte Peter un schuldig. »Ich bin siebenundfünfzig«, sagte Olga Wohl, »und noch jung ge nug, um einen Frechdachs übers Knie zu legen, wenn es sein muß.« August Wohl lachte. »Sieh dich vor, Peter.« »Wie war dein Tag?« fragte Barbara und sah Peter an. »Du meinst abgesehen davon, daß mein Bild in den Zeitungen war?« fragte Peter. »Was?« Barbara sah ihn verwirrt an. Ein Kellner brachte einen Weinkühler an den Tisch. »Peter ist befördert worden«, sagte Olga Wohl. »Hast du es nicht in der Zeitung gesehen?« »Ich bezweifle, daß ›befördert‹ die richtige Bezeichnung ist«, sagte Peter. »Eher paßt ›versetzt‹.« Der Kellner veranstaltete nach Peters Meinung eine übertriebene Schau, als er das Tuch von der Weinflasche wickelte, Peter das Eti kett zeigte, die Flasche entkorkte und etwas Wein in ein Glas schenk te, damit Peter kostete. »Ich habe keine Zeitung gesehen«, sagte Barbara. »Mutter hat zufällig eine bei sich«, sagte Peter. Er nippte an dem
Wein und sagte zum Kellner: »Prima, danke.« Der Kellner schenkte allen am Tisch Wein ein, wickelte wieder das Tuch um die Flasche und stellte sie in den Weinkühler. Olga Wohl nahm eine gefaltete Zeitung aus ihrer Handtasche. Sie gab die Zei tung Barbara Crowley. Der Artikel stand auf der ersten Seite unten rechts neben einem älteren Foto von Peter Wohl. Die Bildunterschrift lautete schlicht ›P. Wohl‹. Umorganisation bei der Polizei von Cheryl Davies Polizeichef Taddeus Czernick kündigte heute die Bildung einer neuen Abteilung namens Special Operations im Philadelphia Po lice Department an. Obwohl Czernick bestritt, daß die Umorgani sation etwas mit der kürzlichen Kritik der Presse an einigen Ope rationen der Polizei zu tun hat, glauben gut unterrichtete Kreise, daß dies der Fall ist. Die Highway Patrol, die Eliteeinheit der Polizei, die manchmal als ›Carlucci’s Commandos‹ bezeichnet wird und das Thema vie ler Kritik in jüngster Zeit war, wurde der neuen Abteilung Special Operations unterstellt, die von Inspector Peter Wohl geleitet wird. Captain Michael J. Sabara, der seit Captain Richard C. Moffitts Tod den Posten des amtierenden Chefs der Highway Patrol aus geübt hatte, wurde zu Wohls Stellvertreter ernannt. Captain Da vid J. Pekach, bisher Rauschgiftdezernat, wurde zum Chef der Highway Patrol ernannt. Inspector Wohl, der zuvor der Abteilung besondere Ermittlun gen zugeteilt war, und Pekach sind außerhalb des Polizeipräsi diums wenig bekannt, werden aber von Insidern als korrekte Po lizeibeamte betrachtet, was der Theorie, daß die Umorganisation stattfindet, um die Highway Patrol zu zähmen und die Kritik der Presse an ihren angeblichen Ausschreitungen zu verringern, weitere Glaubwürdigkeit verleiht. Eine Zeitung von Philadelphia schrieb vor kurzem in einem Leitartikel, daß sich die Highway Patrol wie die Gestapo auffuhrt. Die neue Abteilung Special Operations wird ebenfalls für eine besondere, mit Bundesmitteln finanzierte, noch zu bildende Ein heit namens Anti Crime Team (ACT) zuständig sein. Laut Com missioner Czernick werden besonders ausgebildete und ausge rüstete Anti Crime Teams in Gebiete Philadelphias mit hoher Kriminalität geschickt werden, um die bereits vorhandenen Poli zeikräfte zu verstärken.
»Das ist sehr schön«, sagte Barbara. Peter Wohl schnaubte höhnisch. »Meinen Glückwunsch, Peter.« Peter schnaubte von neuem. »Ist mir da etwas entgangen?« fragte Barbara verwirrt. »Was ist daran auszusetzen?« »Erstens bin ich Staff Inspector«, sagte Peter. »Nicht Inspector.« »Na und? Das ist einfach ein Fehler. Die Journalistin wußte es nicht besser.« »Zweitens ist es eine ziemlich klare Andeutung, daß die Highway Patrol etwas falsch gemacht hat, und das stimmt nicht, und daß Sa bara, der ein wirklich guter Polizist ist, nicht Chef der Highway Patrol wird, weil er in das Falsche verwickelt ist.« »Warum wurde er nicht Chef?« »Weil der Bürgermeister meint, er sieht aus wie ein Wächter in ei nem Konzentrationslager«, sagte Peter. »Tatsächlich?« »Tatsächlich. Und ich wurde auch nicht darauf angesetzt, die Highway Patrol zu ›zähmen‹.« »Aber Carlucci wird sehr erfreut sein, wenn du verhindern kannst, daß die Zeitungen die Highway Patrol als Gestapo bezeichnen«, sag te August Wohl. »Nur eine Zeitung tut das, Dad«, entgegnete Peter, »und du weißt, warum.« »Ich weiß es nicht«, sagte Barbara. »Arthur J. Nelson, dem der Ledger gehört, ist wütend auf die Poli zei, weil herauskam, daß sein Sohn Jerome, der ermordet wurde, homosexuell war«, erklärte Peter. »Oh«, sagte Barbara. »Und wie kam es heraus?« »Ein Cop war so blöde, es dem Reporter Mickey O’Hara zu erzäh len«, sagte Peter. »Es wäre wahrscheinlich zwangsläufig publik ge worden, aber Nelson gibt der Polizei die Schuld.« Barbara dachte kurz darüber nach und entschied sich dann, das Thema zu wechseln. »Nun, wie sieht denn jetzt deine Arbeit aus?« »Er ist der Chef«, sagte Olga Wohl stolz. »Du fragtest mich, wie mein Tag war«, bemerkte Peter trocken. »Ja, das tat ich.« »Nun, ich übernahm gegen fünfzehn Uhr dreißig meinen neuen Kommandobereich. Special Operations wird aus dem Gebäude her aus operieren, das bis heute morgen das Hauptquartier der Highway Patrol war. Drei Leute warteten dort auf mich. Captain Mike Sabara, mit hängendem Kopf, weil er bis heute morgen dachte, er würde Chef
der Highway Patrol; Captain Dave Pekach, mit hängendem Kopf, weil er auf den Gedanken kam, daß jemand ihn nicht leiden kann, weil man ihn zum Chef der Highway Patrol machte – mit anderen Worten, er hat das Gefühl, man wirft ihn den Wölfen zum Fraß vor; und ein Sergeant namens Ed Frizell von der Verwaltung, mit hängendem Kopf, weil ihm bei der verwaltungstechnischen Planung und Vorberei tung der ACT nie in den Sinn kam, daß er darin verwickelt werden könnte – daß er sozusagen aus seinem Büro im Präsidium in die Provinz verbannt und gezwungen wird, eine Uniform zu tragen, sich mit ordinären Cops abzugeben und möglicherweise im Außendienst Leute festzunehmen.« August Wohl lachte. »Und dann ging ich zum Anwesenheitsappell bei der Highway Pa trol«, fuhr Peter fort. »Das war lustig.« »Ich verstehe nicht, Peter«, sagte seine Mutter. »Nun, ich wollte gute Führungsqualitäten zeigen«, erklärte Peter. »Ich hielt mich für äußerst clever. Ich hielt eine kleine Ansprache, in der ich erklärte, daß ich stolz sei, wieder bei der Highway Patrol zu sein, wie es Captain Pekach gewiß auch sei. Ich sagte, ich hätte die Highway Patrol stets für die wirkungsvollste Einheit der Polizei gehal ten, und ich hätte das sichere Gefühl, daß sie das bleiben würde. Ich benutzte sogar die Standardfloskeln, daß meine Tür für jeden immer offenstehe und ich mich auf die Zusammenarbeit freue.« »Was ist daran falsch?« fragte Barbara. »Nun, ich wußte nicht, daß sie dachten, ich nehme Sabara, der all seits beliebt ist, die Highway Patrol weg und gebe sie Pekach, den bei der Highway Patrol keiner mag.« »Warum mögen sie Pekach nicht?« fragte August Wohl. »Ich dach te, er ist ein ziemlich guter Polizist. Und nach dem, was ich hörte, machte er seine Sache beim Rauschgiftdezernat sehr gut. Und er kam von der Highway Patrol.« »Er leistete Großartiges beim Rauschgiftdezernat«, sagte Peter. »Aber ich wußte nicht – und es war mein Fehler, weil ich mich nicht informierte – , daß die einzige Verhaftung eines Cops der Highway Patrol wegen Drogenbesitz von Dave Pekach durchgeführt wurde.« »Die Sache mit dem Sergeant? Vor ungefähr einem Jahr?« fragte August Wohl, und Peter nickte. »Ich wußte davon«, sagte August Wohl, »aber ich wußte nicht, daß Pekach darin verwickelt war.« »Und ich hatte nicht Miss Cheryl Davies’ cleveren kleinen Zei tungsartikel gelesen, aber sie kannten ihn«, fuhr Peter fort. »So er weckte mein Versuch, Führungsqualitäten zu zeigen, den unaus
löschlichen Eindruck, daß ich ein Dummkopf oder ein Lügner oder beides bin.« »Oh, Peter, du weißt nicht, ob sie so denken!« wandte seine Mutter ein. »Ich kenne Cops, Mutter«, sagte Peter. »Ich weiß, was diese Jungs denken.« »Wenn sie das jetzt denken, werden sie eines Besseren belehrt werden«, sagte Barbara loyal. »Möchten Sie jetzt bestellen?« fragte der Kellner. »Ja, bitte«, sagte Peter. »Ich werde etwas Herzhaftes nehmen. Das ist Tradition bei Todeskandidaten.« August Wohl lachte wieder. Barbara neigte sich über den Tisch und legte eine Hand auf Peters Handrücken. Mrs. Wohl lächelte. Sie waren beim Dessert, als Peter ans Telefon gebeten wurde. »Inspector Wohl«, meldete er sich. »Lieutenant Jackson, Sir«, sag te der Anrufer. »Sie wollten informiert werden, wenn sich irgend et was tut.« Wohl ordnete den Namen ein und sah vor seinem geistigen Auge das Gesicht des Mannes. Der Anrufer war von der Highway Patrol. »Was ist los, Jackson?« »Wir haben einen ziemlich schlimmen Unfall. Highway sechzehn fuhr auf einen Notruf hin los und rammte einen zivilen Wagen von der Seite. An der Second und Olney Street.« »Jemand verletzt?« »Unsere beiden Jungs sind verletzt«, sagte Jackson zögernd. »Ei ner der Insassen des zivilen Wagens ist tot; zwei andere schwer ver letzt.« »Mein Gott!« »Der Tote ist ein kleiner Junge, Inspector«, sagte Jackson. Peter Wohl fluchte. »Ist Captain Pekach informiert?« »Jawohl, Sir.« »Sie sagten, die waren bei einem Notruf im Einsatz?« »Jawohl, Sir«, antwortete Jackson. »Sie fuhren nach einem Anruf zum Fünfunddreißigsten Distrikt. Jemand sah, wie eine Frau von ei nem Kerl mit einem Messer in einen Van gezwungen wurde. An der Front und Godfrey. Auf dem Parkplatz bei einem der Apartmenthäu ser.« »Wo sind Sie?« »Am Tatort, Sir.« »An welchem Tatort? Beim Unfall oder Kidnapping?« »Beim Unfall, Sir. Ich schickte Sergeant Paster zum Ort der Entfüh rung.«
»Sagen Sie Captain Pekach über Funk, daß er sich um den Unfall kümmert, und dann sagen Sie Sergeant Sowieso…« »Paster, Sir.« »Sagen Sie Sergeant Paster, daß er auf mich am Tatort der Ent führung warten soll«, fuhr Peter Wohl fort. »Jawohl, Sir.« Wohl legte den Hörer ohne ein weiteres Wort auf. Er fand den Kellner und beglich die Rechnung, bevor er zum Tisch zurückkehrte. »Ein Wagen der Highway Patrol rammte einen zivilen Wagen«, sagte Peter und schaute seinen Vater an. »Ein kleiner Junge ist tot.« »O Gott!« stieß Peters Vater hervor. »Sie fuhren nach einem Anruf zum Fünfunddreißigsten Distrikt«, sagte Peter. »Jemand meldete, daß eine Frau von einem Kerl mit Messer in einen Van gezwungen wurde. Ich muß hinfahren.« August Wohl nickte verständnisvoll. Peter schaute Barbara an. »Tut mir leid. Und ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.« »Ich verstehe das«, sagte Barbara. »Kein Problem. Ich habe ja meinen Wagen hier.« »Und es tut mir leid, daß ich deine Party verlassen muß, Mutter.« »Sei nicht albern, Peter. Wenigstens hattest du Zeit zum Abendes sen.« »Ich werde dich anrufen«, versprach er und verließ schnell das Restaurant. Du bist ein blöder Hund, Peter Wohl, dachte er, als er über den Parkplatz ging. Ein kleiner Junge ist ums Leben gekommen, und eine Frau wurde entführt, und deine Reaktion darauf ist Erleichterung dar über, daß dir wenigstens erspart bleibt, das Problem mit Barbara zu bewältigen. Bis Dutch Moffitt erschossen wurde, hatte jeder Eingeweihte den Eindruck gehabt, daß er und Barbara sich verstanden und nur noch einen halben Schritt vom Traualtar entfernt waren. Aber die Augen zeugin bei der Schießerei, bei der Captain Moffitt ums Leben kam, war eine tolle, langbeinige, fünfundzwanzigjährige Blondine namens Louise Dutton, eine Fernsehmoderatorin. Peter Wohl lernte Louise Dutton kennen, und keine vierundzwanzig Stunden später schliefen sie miteinander in seinem Apartment. Peter war überzeugt, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Und eine Weile hatte es den An schein, daß die große Leidenschaft auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber dann kam bei Louise die Ernüchterung. Sie stellte sich eine einfache Frage: Kann eine talentierte ehr
geizige Fernsehmoderatorin, deren Vater ein halbes Dutzend Fern sehsender besitzt, das Glück in den Armen eines unterbezahlten Po lizisten in Philadelphia finden? Die Antwort war nein. Louise Dutton arbeitete jetzt für einen Fern sehsender in Chicago, der nicht zufällig ihrem Vater gehörte, der Pe ter zwar mochte, ihn aber nicht als den Vater seiner Enkelkinder ha ben wollte. Es war für Peter keine Frage, daß Barbara von der Romanze mit Louise wußte, und nicht nur, weil er ein letztesmal Dutch Moffitt ge deckt hatte, indem er dessen Witwe gesagt hatte, Dutch konnte nichts mit Louise Dutton gehabt haben, weil er, Peter, etwas mit ihr hatte. Seine Affäre mit Louise Dutton hatte sich im Präsidium schnell herumgesprochen; sogar Chief Coughlin wußte davon. Zwei Onkel und zwei Brüder Barbaras waren bei der Polizei. Peter kannte sie lange, und es gibt fast nichts Empörteres als einen Bruder, der hört, daß der Mann, der mit seiner jüngeren Schwester geht, ein Huren sohn ist. Barbara wußte also Bescheid. Aber Barbara hatte sich entschlossen, ihm zu verzeihen. Ihre An wesenheit bei dem Geburtstagsessen seiner Mutter war ein Beweis dafür. Er hatte sie nach der Romanze mit Louise zweimal angerufen, und beide Male war sie ›nicht abkömmlich‹ gewesen und hatte seine Einladung zum Essen oder zu einem Kinobesuch abgelehnt. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie ›nicht abkömmlich‹ für das Essen mit ihm und seinen Eltern gewesen wäre, doch diese Einladung hatte sie angenommen. Und es war kein großes Geheimnis, wie sie das Pro blem bewältigen wollte: sie tat so, als gäbe es kein Problem, als hätte es nie eins gegeben. Und als er ihr Knie unter dem Tisch an seinem gespürt hatte, war ihm klargewesen, daß sie nach dem Abschied von seinen Eltern ent weder zu ihrem Apartment oder zu seinem fahren und miteinander ins Bett gehen würden. Und alles wäre wieder normal geworden. Das Problem war, daß Peter sich nicht sicher war, ob er die Dinge so fortsetzen wollte, wie sie vor Louise gewesen waren. Er sagte sich, daß er entweder ein Dummkopf war oder sich zum Narren hatte machen lassen oder beides; daß Barbara Crowley nicht nur eine pri ma Frau war, sondern genau das, was er brauchte; daß er dankbar für ihre Duldsamkeit und ihr Verständnis sein sollte, die Sie ihm bot, wenn er ein bißchen Verstand hatte; und daß er seine Dankbarkeit beweisen sollte, indem er sich insgeheim feierlich schwor, nie wieder die Grenzen vorehelicher Treue zu überschreiten. Als er Barbara angeschaut hatte, war vor seinem geistigen Auge Louise aufgetaucht, und das hatte neunzig Prozent seines Verlan
gens zerstört, mit Barbara zu schlafen. Er stieg in seinen Wagen und startete. Dann dachte er an Mike Sabara. »Verdammt!« Er griff ins Handschuhfach und nahm das Mikrofon heraus. »Funkzentrale, S-Sam eins-null-eins«, sagte er. »Haben Sie die Position von S-Sam eins-null-zwei?« Es folgte eine längere Pause als üblich. Dann antwortete die Funk zentrale, daß S-Sam eins-null-zwei nicht im Dienst war. Peter dachte einen Moment darüber nach. Wenn er und Pekach über den Unfall informiert worden waren, dann mußte Sabara eben falls davon gehört haben. Sabara benutzte vielleicht noch seinen alten Funknamen – Highway zwei, weil er zweiter Mann bei der High way Patrol gewesen war. »Funkzentrale, wie ist es mit Highway zwei?« »Highway zwei ist bei der Second und Olney Avenue.« »Funkzentrale, nehmen Sie bitte Kontakt mit Highway zwei auf und bitten Sie ihn, sich mit S-Sam eins-null-eins an der Front und Godfrey Avenue zu treffen. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie ihn erreicht haben.« »Jawohl, Sir. Bleiben Sie bitte dran.« Ich werde ein anderes Band im Wagen brauchen, dachte Peter, als er vom Parkplatz fuhr. Bänder. Ich muß die Highway Patrol und die Kripo ebenfalls erreichen. Jedes Polizeifahrzeug war mit einem Funkgerät ausgerüstet, das die Kommunikation auf zwei Frequenzbändern erlaubte, das J-Band und ein anderes, je nachdem, um welche Art Wagen es sich handel te. Die Wagen der Kripo konnten zum Beispiel über das J-Band und das H-Band, das der Kripo, Kommunikation haben, Wagen eines Di strikts über das J-Band und eine Frequenz, die diesem Distrikt zuge teilt war. Peters Wagen hatte das J-Band und das Kommando-Band, das auf den Commissioner, den Chief Inspector, die Inspectors und die Staff Inspectors beschränkt war. Er war sechs Blocks vom Bookbinder’s Restaurant entfernt, als ihn die Funkzentrale rief. »S-Sam eins-null-eins, Funkzentrale. Highway zwei möchte wis sen, ob Sie über den Verkehrsunfall bei der Second und Olney Ave nue informiert sind.« »Sagen Sie Highway zwei, daß ich Bescheid weiß, und bitten Sie ihn, sich mit mir bei der Front und Godfrey zu treffen.« »Jawohl, Sir«, sagte die Stimme aus der Funkzentrale. Peter legte das Mikrofon ins Handschuhfach und knallte es zu.
Jetzt würde Sabara, der ganz natürlich zu dem Verkehrsunfall ge fahren war, der ›seine‹ Highway Patrol betraf, sauer sein. Es läßt sich nicht ändern, dachte Peter. Mike Sabara wird sich dar an gewöhnen müssen, daß die Highway Patrol jetzt Pekach unter steht.
Als Matthew Payne die Küche des Hauses an der Providence Road in Wallingford betrat, stellte er überrascht fest, daß sein Vater am Herd stand und zuschaute, wie sich die Kanne der Kaffeemaschi ne langsam mit Kaffee füllte. »Guten Morgen«, sagte sein Adoptivvater. Er trug einen Bademan tel, der zu kurz für ihn war, und lederne Pantoffeln. »Ich hörte dich duschen und dachte mir, daß du vielleicht einen Kaffee brauchst.« »Und ob ich den brauche!« Matt trug ein weißes Hemd und eine graue Freizeithose. Seine Krawatte war gebunden, doch der Hemd kragen stand auf, und der Knoten der Krawatte hing ein Stück darun ter. Er hielt ein Leinenjackett über dem Arm, und als er es auf den Küchentisch legte, gab es einen dumpfen Laut. »Was hast du da drin?« fragte Brewster C. Payne überrascht. »Meine Waffe«, sagte Matt und hob das Jackett an, um einen Smith & Wesson Military & Police Modell .38er Special in einem Schulterholster zu zeigen. »Was jeder gutgekleidete junge Mann heutzutage trägt.« Brewster Payne lachte. »Ich stelle fest, daß du nicht deinen neuen blauen Anzug anhast«, bemerkte er. »Die Neugier dringt aus jeder Pore«, bemerkte Matt spöttisch. »Nun, ich hatte in letzter Zeit nicht das Vergnügen deiner Gesell schaft«, erwiderte sein Vater. »Ich war gestern abend mit John Barleycorn im Rose Tree«, sagte Matt, »und ich hielt es für besser, hier zu übernachten, anstatt zu versuchen, zum Apartment zu fahren. Besonders weil ein Scheinwer fer meines Käfers kaputt ist.« »Irgendwas Besonderes, oder hast du nur einen draufgemacht?« »Ich weiß es nicht, Dad.« Matt nahm zwei Tassen aus dem Kü chenschrank und stellte sie neben die Kaffeetasse. »Ich weiß nur, daß ich mehr getrunken habe, als ich hätte trinken sollen.« »Willst du etwas essen?« fragte Brewster Payne. »Wenn du ge trunken hast, solltest du etwas in den Magen bekommen. Hast du gestern wenigstens zu Abend gegessen?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Matt. »Ich erinnere mich nur klar,
daß ich Erdnüsse an der Bar aß.« Sein Vater ging zum Kühlschrank, öffnete ihn und schaute hinein. »Wie wäre es mit einem Schinkenbrötchen? Vielleicht mit einem Ei?« »Ich mache es mir«, sagte Matt. »Kein Ei.« »Du wolltest mir sagen, was du gefeiert hast«, sagte Brewster Payne. »Nein, das wollte ich nicht«, entgegnete Matt. »Du wärst ein ziem lich guter Vernehmungsbeamter. Hast du je daran gedacht, Anwalt zu werden? Oder vielleicht Cop?« »Touche«, sagte Brewster Payne. »Ich war gestern auf dem Schießplatz«, sagte Matt. »Chief Mat dorf, der Direktor der Polizeiakademie, kam heraus und wies mich an, meinen Spind zu räumen und mich am nächsten Morgen, also heute morgen, um acht Uhr beim Chef der Highway Patrol zu melden.« Er legte eine Pause ein und fügte hinzu: »In Zivil.« »Was hat das zu bedeuten?« fragte Brewster Payne. »John Barleycorn hat es mir nicht gesagt, obwohl ich sehr lange mit ihm geplaudert habe.« »Meinst du, daß Dennis Coughlin etwas damit zu tun hat?« »Onkel Dennis hat mit allem etwas zu tun«, sagte Matt und gab Butter in eine Bratpfanne. »Möchtest du auch Taylor-Schinken?« »Bitte«, sagte Brewster Payne. »Hattest du irgendein Problem auf der Akademie?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Die Highway Patrol gilt als Eliteeinheit der Polizei«, sagte Brew ster Payne. »Du meinst, du wirst besonders behandelt, ist es das?« »Besonders, ja, aber ich weiß nicht, wie diese besondere Behand lung aussieht«, erwiderte Matt. »Um in die Highway Patrol aufge nommen zu werden, muß man für gewöhnlich drei Jahre Polizeidienst haben, und dann gibt es eine lange Warteliste. Es sind alles Freiwilli ge, und ich habe mich nicht freiwillig gemeldet. Und warum in Zivil?« »Vielleicht hat das etwas mit ACT zu tun«, überlegte Brewster Payne laut. »Womit?« »ACT«, sagte Brewster Payne. »Das bedeutet Anti Crime Team oder so was. Es stand gestern in der Zeitung. Eine neue Einheit. Hast du das nicht gelesen?« »Habe ich nicht«, sagte Matt. »Ist die Zeitung noch da?« »Vermutlich im Müll«, sagte Brewster Payne. »Dann schaue ich mal in die Mülltonne«, sagte Matt und verließ die Küche. Sein Vater schüttelte den Kopf und übernahm es, den Taylor
Schinken zu braten. »Sie ist ein bißchen durchweicht«, rief Matt einen Augenblick spä ter, »aber man kann sie lesen.« Er betrat die Küche mit einer Zeitungsseite, die naß und voller Fett flecken war. Als er sie auf den Tisch legte, las sein Vater den Artikel noch einmal. »Darf ich das wieder wegwerfen?« fragte er und hielt die Seite an gewidert zwischen zwei Fingern. »Entschuldige«, sagte Matt. »Ja, ich habe es gelesen. Allerhand Nahrung zum Denken. Es ergibt mehr Sinn, mich zu diesem ACT zu stecken als in die Highway Patrol. Aber es wirkt immer noch wie eine Extrawurst.« »Ich nehme an, du wirst dich daran gewöhnen müssen.« »Wie meinst du das?« »Wie viele der anderen auf der Akademie haben studiert?« fragte Brewster Payne. »Nicht sehr viele.« »Und noch weniger haben graduiert, nicht wahr?« »Na und?« »Kann man davon ausgehen, daß du der einzige dort bist, der ei nen akademischen Grad hat? Einen cum laude?« »Du meinst, es liegt an dem Grad?« »Das ist ein Teil davon, nehme ich an«, sagte Brewster Payne. »Und dann ist da noch Dennis Coughlin.« »Ich denke, es hat mehr mit ihm als mit meinem akademischen Grad zu tun«, sagte Matt. »Dennis Coughlin war der beste Freund deines Vaters«, sagte Brewster Payne. »Und er hatte nie einen Sohn; ich bin überzeugt, er sieht in dir den Sohn, den er nie hatte.« »Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich frage mich, warum er nicht geheiratet hat.« »Ich dachte, du weißt das«, sagte Brewster Payne nach kurzem Zögern. »Er liebte deine Mutter.« »Und sie nahm dich anstatt ihn?« Matt war überrascht. »Davon wußte ich nichts.« »Er hat es ihr nie gesagt. Ich bezweifle, daß sie es wußte. Damals jedenfalls. Aber ich wußte Bescheid. Ich wußte es, als ich ihn zum erstenmal sah.« »Das ist ein Ding!« sagte Matt. »Möchtest du meine Theorie – Theorien – über diese geheimnis volle Verwendung hören?« »Klar.«
»Ich nehme an, Dennis Coughlin ist ungefähr so glücklich darüber, daß du Polizist bist, wie ich es bin; das heißt, es gefällt ihm kein biß chen. Er ist um dein Wohlergehen besorgt. Er will nicht deine Mutter telefonisch informieren, daß du verletzt bist oder Schlimmeres. Theo rie eins ist, daß du tatsächlich zur Highway Patrol kommst. Dennis hofft vielleicht, daß du den Job hassen wirst, erkennst, daß deine Entscheidung, Polizist zu werden, ein Fehler war, und deinen Ab schied nimmst. Theorie zwei, die vielleicht für sich allein steht, viel leicht auch eine Fortsetzung von Theorie eins ist: Du bestehst darauf, Polizist zu bleiben, und du kannst den Beruf am besten von den er fahrenen Praktikern lernen, von der Highway Patrol im allgemeinen und unter Staff Inspector Wohl im besonderen. Ich fand es interes sant, daß Wohl Chef dieser neuen Special Operations Division wur de. Obwohl ich weiß, daß er einer der gescheitesten Leute bei der Polizei ist, der kommende Mann.« »Ich lernte ihn am Abend vor der Beerdigung kennen«, sagte Matt. »In einer Hotelbar. Als ich ihm sagte, daß ich zur Polizei gehen will, riet er mir, besser am Morgen darüber nachzudenken; es war klar, daß er mich für betrunken hielt.« »Theorie drei«, sagte Brewster Payne, »daß Dennis dich zu Wohl mit dem Hinweis geschickt hat, daß es ihn freuen würde, wenn Wohl dir den Polizeidienst auf sanfte Weise madig macht, damit du ihn mit intaktem Ego aufgibst.« Matt dachte einen Moment darüber nach. Dann atmete er tief durch. »Nun, ich werde es erst erfahren, wenn ich dort bin.« Matt schlang den Taylor-Schinken auf Toast hinunter und schnallte dann sein Schulterholster um. »Wurde dieses Holster ausgegeben?« fragte Brewster Payne. »Nein, ich kaufte es vor einer Woche«, sagte Matt. »Wenn ich das Standardholster unter einem Jackett trage, wird es ausgebeult.« »Wie wäre es mit einer kleineren Waffe?« »Das geht nicht. Erst muß man eine Art Prüfung machen und sich damit qualifizieren«, erwiderte Matt. »Ich war noch nicht lange genug in der Akademie, als ich dort sozusagen ›graduierte‹.« »Es ist etwas Bedrohliches an der Waffe«, sagte Brewster Payne. »Sie ist auch schwer. Man sagte mir, daß man sich schließlich dran gewöhnt und sich nackt fühlt, wenn man sie nicht trägt.« Er zog das Leinenjackett an. »Jetzt ist sie nicht mehr bedrohlich.« »Unsichtbar, aber immer noch bedrohlich«, entgegnete sein Vater, und dann wechselte er das Thema. »Du sagtest, du hast Probleme mit dem Käfer?« Der Volkswagen, damals ein Jahr alt, war Matt Paynes Geschenk
zum sechzehnten Geburtstag gewesen. »Ich weiß nicht, was mit der Kiste los ist; irgendein Kurzschluß. Oder ein Wackelkontakt. Jedesmal wenn ich es reparieren will, funk tioniert das Ding prima. Ich habe nur Probleme bei Dunkelheit.« »Da steht, wie ich mich erinnere, ein anderer Wagen in der Gara ge«, sagte Brewster Payne, »bei dem vermutlich beide Scheinwerfer intakt sind.« Der andere Wagen war ein silberfarbener Porsche 911 T, nagel neu, ein Geschenk für Matthew Payne nach dem Abschluß seines Studiums auf der University of Pennsylvania. »Sehr taktvoll formuliert«, sagte der undankbare Beschenkte. Er war mit dem Porsche nicht nach Philadelphia gefahren und hat te ihn kaum benutzt, seit er Polizist geworden war. Sein Vater erriet, was Matt dachte: »Du befürchtest, daß es dich zu sehr von den anderen unterscheidet?« »Sonderbar, ich dachte gerade eben an den Porsche«, sagte Matt. »Sozusagen, um das Schaf von dem Löwen zu trennen.« »Ich glaube, du hast das falsch in Erinnerung. Es heißt in der Bibel, die Schafe von den Böcken trennen, nicht von den Löwen. Aber ich verstehe, was du meinst.« »Ich unterscheide mich ohnehin von den anderen«, sagte Matt. »Warum nicht?« »Ich verstehe dich wirklich, Matt.« »Wenn ich überfallen werde von einer mehr oder weniger geilen Lady, die in Ekstase gerät, wenn sie mich in diesem Wagen sieht…« »Hast du etwa Angst davor?« fragte sein Vater lachend. »… werde ich dir erzählen, wie es war.« Matt lächelte und wandte sich zum Gehen. Dann verharrte er noch einmal und legte einen Arm um Brewster Payne, seinen Adoptivvater, und drückte ihn liebevoll an sich. Brewster Payne nippte an seinem Kaffee, ging zum Küchenfenster und beobachtete, wie Matt eines der vier Garagentore öffnete und bald darauf mit dem Porsche davonfuhr. Er sollte kein Polizist sein, dachte er. Er sollte auf der Rechts akademie sein. Oder etwas anderes tun. Matt Payne hupte und fuhr über die Zufahrtsstraße davon.
10
Die Officers Jesus Martinez und Charles McFadden trafen in McFaddens Volkswagen um viertel vor acht beim Hauptquartier der Highway Patrol ein, entschlossen, pünktlich zu sein und auch sonst einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Beide trugen Anzüge mit Krawatte, McFadden einen braunen Einreiher mit dezentem Mu ster und Martinez einen tadellos sitzenden, zweireihigen blauen Na delstreifenanzug. McFadden warf Martinez vor, daß er fast wie ein erfolgreicher Zu hälter auf dem Weg zu einer Hochzeit aussah. Die Parkplätze rings um das relativ neue Gebäude waren allesamt besetzt. Eine Reihe von Motorrädern der Highway Patrol parkte, per fekt ausgerichtet wie Soldaten bei einer Militärparade, nahe beim Gebäude. Und eine Reihe von Streifenwagen parkte dort, einige blauweiß, andere neutral und nur an den Funkantennen und den schwarzrandigen Hochgeschwindigkeitsreifen zu erkennen. Da waren auch blauweiße Wagen vom Siebten Distrikt, die neutra len Wagen des Siebten Distrikts und einige neue Limousinen, die vermutlich irgendwelchen hochrangigen Polizeibeamten gehörten. Und da stand ein verschrammter Chevrolet mit Funkantenne. Er parkte auf einem Platz, der für die Wagen von Inspectors reserviert war, wie ein Schild verkündete.
»Das ist Mickey O’Haras Karre«, sagte Charley McFadden. »Was macht der hier?« »Es wurde gestern abend eine Frau gekidnappt«, sagte Che-sus. »Ich hörte es im Radio.« »Gekidnappt?« »Ein paar Leute sahen, wie sie von einem Kerl mit Messer in einen Van gezwungen wurde«, sagte Che-sus. Sie hatten immer noch keinen freien Platz zum Parken gefunden. McFadden fuhr den halben Block entlang, wendete und fand einen Parkplatz am Straßenrand. »Das war eine gewaltsame Entführung«, sagte McFadden. »Was?« »Was du sagtest, war eine Entführung«, erklärte McFadden. »Ein Kidnapping ist es, wenn Lösegeld verlangt wird.« »Klugscheißer«, sagte Che-sus freundlich. »He, sieh dir mal diesen Schlitten an!« Ein silberner Porsche fuhr vom Parkplatz. Offenbar hatte der Fah rer genauso vergebens nach einem freien Parkplatz gesucht wie sie. »Für einen solchen Wagen möchte ich nicht die Versicherung zah len«, sagte McFadden. »Wenn du soviel Mäuse hast, um einen solchen Wagen zu kaufen, dann juckt es dich nicht, wieviel die Versicherung kostet«, wandte Che-sus ein. Beide blickten dem Porsche nach, als er an ihnen vorbei die Bow ler Street entlangfuhr. »Ich kenne diesen Typen«, sagte Charley McFadden. »Ich habe ihn schon irgendwo gesehen.« »Tatsächlich? Wo?« »Ich kann mich nicht erinnern, aber ich kenne dieses Gesicht.« Jesus Martinez schaute auf seine Armbanduhr, eine Hamilton mit goldener Fassung, goldenem Armband und Diamanten als Ziffern. Er mußte noch achtzehn Raten (von vierundzwanzig) für diese Uhr ab stottern. »Gehen wir rein«, sagte er, »es ist zehn vor.« McFadden wuchtete nicht ohne Schwierigkeiten seine Massen hin ter dem Steuer des VW hervor und beeilte sich dann, Martinez einzu holen. Sie betraten das Gebäude durch eine Tür vom Parkplatz aus, durch die sie Polizisten der Highway Patrol eintreten sahen. Dann hielten sie Ausschau und fanden den Anmeldeschalter. Ein Corporal füllte dahinter ein Formular aus. Sie warteten, bis er fertig war und sie neugierig anschaute.
»Wir sollen uns um acht Uhr beim Chef der Highway Patrol mel den«, sagte Che-sus. »Sie sind Polizeibeamte?« fragte der Corporal zweifelnd. »Ja, wir sind Cops«, sagte Charley McFadden. »Sie kenne ich«, sagte der Corporal. »Sie haben den Scheißer zur Strecke gebracht, der Komplize des Weibsstücks war, das Captain Moffitt erschoß.« McFadden wurde fast rot. »Wir haben das«, sagte er und nickte zu Martinez hin. »Dies ist mein Partner Jesus Martinez.« »Weshalb wollen Sie zu dem Captain? Ich frage, weil er im Augen blick sehr beschäftigt ist. Ich weiß nicht, wann er zu sprechen ist.« »Das verstehe ich nicht«, sagte McFadden. »Wir sollen uns um acht Uhr bei ihm melden.« »Nun, nehmen Sie Platz. Wenn er frei ist, werde ich ihm sagen, daß Sie hier sind. Da sind ein Kaffeeautomat und ein Automat mit Snacks. Gleich um die Ecke.« Er wies hin. »Danke«, sagte Charley. Er ging zu den Automaten, ohne Che-sus zu fragen, ob er etwas haben wollte. Jesus war sehr pingelig in allem, was Essen und Trinken anbetraf. Er aß nichts mit Konservierungsmit teln und trank nichts, was Anregungsmittel enthielt, wie zum Beispiel Kaffee, in dem Koffein war, oder Cola, die Zucker ›und wer weiß welch anderes Gift für den Körper‹ enthielt, wie Che-sus sagte. Als Charley mit einem Schokoriegel in einer Hand und einer Dose Cola in der anderen zurückkehrte, nickte Che-sus zum Schalter hin. Dort sprach der Typ, den sie mit dem Porsche gesehen hatten, mit dem Corporal. Während Charley überlegte, wo er den Porschefahrer schon gesehen hatte, wandte sich der Typ ab und ging zu einem der Stühle in der Reihe, wo Che-sus saß. Charley nahm ebenfalls Platz, neigte sich dann an Che-sus vorbei und fragte den Porschefahrer: »Kenne ich Sie irgendwoher?« »Heißen Sie McFadden?« erwiderte Matt Payne. »Ja.« »Ich war in Ihrem Haus, nachdem sie Gerald Vincent Gallagher erwischt hatten.« »Daran erinnere ich mich nicht«, sagte Charley. »Ich war dort mit Chief Coughlin«, erklärte Matt. »Und mit Sergeant Lenihan.« »Ah, ja, jetzt fällt es mir ein«, behauptete Charley, obwohl er keine Ahnung hatte. »Wie geht es Ihnen?« »Prima«, sagte Matt. »Und Ihnen?« Jemand kam durch die Tür vom Parkplatz herein. Matt erkannte
Peter Wohl. Er fragte sich, ob Wohl ihn wiedererkennen würde. Wohl erkannte alle drei jungen Männer, die dort auf den Stühlen saßen und warteten. Er nickte ihnen zu und ging weiter auf sein Büro zu. Verdammt, du bist jetzt der Chef von diesem Laden, dachte Peter Wohl. Benimm dich dementsprechend. Er machte kehrt und ging zu den drei jungen Männern. Als erstem gab er Martinez die Hand. »Wie geht es Ihnen, Martinez?« fragte er und wandte sich dem nächsten zu, bevor Martinez, der sich nicht ganz sicher war, wer ihm da die Hand geschüttelt hatte, etwas sagen konnte. »Und McFadden. Wie geht es? Und Sie sind Payne, richtig?« »Jawohl, Sir.« »Ich stehe Ihnen zur Verfügung, sobald ich Zeit habe«, sagte Wohl. »Wie die Dinge liegen, wird das leider noch eine Weile dauern.« »Jawohl, Sir«, sagten McFadden und Martinez wie aus einem Munde. Wohl ging weiter und betrat das Vorzimmer seines Büros. Drei Personen hielten sich darin auf: ein Sergeant der Highway Patrol, der Dutch Moffitts und dann Mike Sabaras Sergeant gewesen war und nicht Dave Pekachs Sergeant war; Sergeant Eddy Frizell, in Uniform und ein wenig schlampig im Vergleich zu dem Sergeant, und Michael J. O’Hara vom Bulletin. Der Sergeant der Highway Patrol stand auf, als er Wohl sah, und einen Augenblick später folgte Frizell seinem Beispiel. »Guten Mor gen, Inspector«, sagte der Sergeant. »Guten Morgen«, erwiderte Wohl. »Was machen Sie hier, Mickey? Warten Sie auf jemanden?« »Auf Sie«, sagte O’Hara. »Nun, dann kommen Sie rein«, sagte Wohl. »Sie können mir beim Kaffeetrinken Gesellschaft leisten.« Er schaute den Sergeant an. »Es gibt doch Kaffee?« »Jawohl, Sir«, sagte der Sergeant. »Sir, Chief Coughlin möchte, daß Sie ihn anrufen, wenn Sie hier eintreffen.« »Besorgen Sie mir und Mickey Kaffee und verbinden sie mich dann mit dem Chief«, wies Wohl den Sergeant an. Die Captains Sabara und Pekach waren in dem Büro, das bis ge stern das Büro des Chefs der Highway Patrol gewesen und jetzt vo rübergehend, bis ein anderes gefunden werden konnte, das Büro des Chefs der Special Operations Division war. Sabara, mit schwarzer Hose, Hemd und Krawatte und Halbschuhen, nicht mit den Motorrad fahrerstiefeln der Highway Patrol, saß in einem Sessel. Pekach, mit
Stiefeln der Highway Patrol und Sam-Browne-Koppel, saß ihm ge genüber auf der Couch. Beide Captains erhoben sich, als Wohl eintrat. Er forderte sie mit einer Geste auf, wieder Platz zu nehmen. »Guten Morgen«, sagte Wohl. »Guten Morgen, Inspector«, erwiderten beide. Wohl fragte sich, ob das, zumindest von Mike Sabara, beabsichtigt war, um zu zeigen, daß er sauer war, oder ob sie ihn aus Höflichkeit in Mickey O’Haras Anwesenheit mit ›Inspector‹ anredeten. »Chief Coughlin möchte, daß Sie ihn anrufen, sobald Sie ein treffen«, sagte Sabara. »Der Sergeant sagte es mir«, erwiderte Wohl. »Gibt es was Neues?« »Kein Van und keine Frau«, sagte Sabara. »Verdammt!« »Ich rief soeben das Krankenhaus an«, sagte Pekach. »Wir haben noch zwei in kritischem Zustand, einer von uns und die Frau. Die Ver fassung der anderen beiden Unfallopfer, des Ehemanns und unseres Mannes, ist stabilisierte Sie sind offenbar über den Berg.« Der Sergeant der Highway Patrol kam herein und brachte Kaffee für Wohl und Mickey O’Hara. »Nichts in punkto Frau? Oder Van? Gar nichts?« fragte Wohl. »Wir haben als Beschreibung nur einen dunklen Van, entweder Ford oder Chevy«, sagte Sabara. »Das ist reichlich wenig.« Eines der beiden Telefone auf Wohls Schreibtisch klingelte. Er schaute hin, um zu sehen, welches Lämpchen leuchtete, drückte auf den Knopf und nahm den Hörer ab. »Inspector Wohl.« »Dennis Coughlin, Peter«, sagte Chief Coughlin. »Guten Morgen, Sir.« »Haben Sie etwas Neues?« »Nichts über den Van oder die Frau«, sagte Peter. »Pekach telefo nierte soeben mit dem Krankenhaus. Ein Zivilist, die Frau und ein Polizeibeamter sind in kritischer Verfassung. Der Ehemann und der andere Polizist sind offenbar außer Gefahr.« »Haben Sie die Zeitung gesehen? Besonders den Ledger?« »Nein, Sir.« »Sie sollten sich das ansehen«, sagte Coughlin. »Sie werden es in teressant finden. Halten Sie mich auf dem laufenden, Peter.« »Jawohl, Sir.« Peter Wohl hörte, daß Coughlin den Hörer auflegte. »Hat jemand den Ledger gelesen?« fragte Peter.
Pekach nahm eine gefaltete Zeitung, die neben ihm auf der Couch lag, ging zu Wohls Schreibtisch und legte sie vor ihn hin. Die Schlagzeile auf der Titelseite über einem Foto von den Auto wracks nahm drei Spalten ein. RASENDER WAGEN DER HIGHWAY PATROL TÖTET
VIERJÄHRIGEN
Unter dem Foto stand: Dieser Streifenwagen der Highway Patrol von Philadelphia ra ste zum Tatort einer gemeldeten Entführung, fuhr bei roter Am pel auf die Kreuzung Second Street und Olney Avenue, krachte in die Seite eines 1970er Chevrolet und tötete auf der Stelle Ste phen P. McAvoy junior, vier Jahre alt, aus der Garland Street 700. Sein Vater und seine Mutter, Stephen P. neunundzwanzig, und Mary Elizabeth McAvoy, vierundzwanzig, wurden ins Albert Einstein Northern Division Hospital gebracht, wo sie in kritischer Verfassung auf der Intensivstation liegen. Beide Polizisten des Streifenwagens wurden schwer verletzt. Die Tragödie geschah gestern abend um 20 Uhr 45, am Tag, nachdem Staff Inspector Peter Wohl das Kommando über die Highway Patrol erhielt, eine Maßnahme, die von vielen als ein Versuch von Polizeichef Taddeus Czernick gehalten wird, die Highway Patrol zu zähmen, die in den vergangenen Monaten von weiten Kreisen kritisiert wurde. (Weitere Fotos und die ganze Geschichte auf Seite 10. Die Tragödie ist auch das Thema des heutigen Leitartikels.) Peter Wohl schüttelte den Kopf. »Wir fuhren nicht bei Rot auf die Kreuzung«, sagte David Pekach. »Der Fahrer des Ford mißachtete die rote Ampel.« Peter schaute ihm in die Augen. »Hawkins sagte mir, daß die Ampel gerade auf Grün sprang, als er sich der Olney Avenue näherte«, sagte Pekach. »Ich glaube ihm. Er stand zu sehr unter Schock, um zu lügen.« »Er fuhr?« fragte Peter. »Keiner wird das glauben«, sagte Mickey O’Hara. »Ihr Jungs solltet besser einen Zeugen finden.« »Ich hoffe, wir arbeiten daran.« Peter schaute Pekach fragend an. »Ich lasse die Leute die Straßen abklappern und in den Häusern fragen, ob jemand etwas gesehen hat«, sagte Pekach. »Wie stand
die Story im Bulletin, Mickey?« erkundigte sich Wohl. »Nicht ganz so schlimm«, sagte Mickey O’Hara. »Cheryl Davies schrieb den Artikel. Aber ich möchte eine Stellungnahme der Polizei.« »Wir bedauern die Tragödie zutiefst«, sagte Wohl. »Es wird ermit telt.« O’Hara zuckte mit den Schultern. »Warum habe ich erwartet, so was zu hören?« »Es ist die Wahrheit«, sagte Wohl. »Mehr kann ich Ihnen nicht ge ben.« »Was ist mit der entführten Frau? Mit dem Vergewaltiger in Nord west-Philly? Offiziell oder inoffiziell«, sagte O’Hara. Wohls Telefon klingelte wieder, und er nahm den Hörer ab. »Inspector Wohl.« »Taddeus Czernick, Peter. Wie geht es Ihnen?« »Guten Morgen, Commissioner«, sagte Peter. Sowohl Pekach als auch Sabara standen auf, wie um zu gehen. Vielleicht, dachte Peter, sagen sie sich, wenn sie weggehen, ver steht Mickey O’Hara den Wink und geht ebenfalls. Er forderte sie mit einer Geste auf, wieder Platz zu nehmen. »Prima, Sir. Und Ihnen?« »Es sieht aus, als hätten wir Sie gerade zum richtigen Zeitpunkt dort rübergeschickt«, sagte Czernick. »Haben Sie die Zeitungen ge sehen?« »Jawohl, Sir. Ich habe soeben den Artikel im Ledger gelesen.« »Schreckliche Sache, dieser Unfall«, sagte Czernick. »In mehr als einer Hinsicht.« »Jawohl, Sir, das finde ich auch.« »Etwas Neues hinsichtlich der entführten Frau?« »Nein, Sir.« »Nun, ich habe volles Vertrauen in Ihre Fähigkeit, mit allem fertig zu werden. Sonst hätten wir Sie nicht dorthin geschickt. Aber lassen Sie mich wissen, wenn ich irgend etwas tun kann.« »Danke, Sir.« »Der Grund, weshalb ich anrufe, Peter…« »Ja, Sir?« »Colonel J. Dunlop Mawson rief mich gestern nachmittag an. Sie wissen, wen ich meine?« »Ja, Sir.« »Unter den gegebenen Umständen können wir Freunde brauchen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Jawohl, Sir.« »Er hat eine Mandantin namens Martha Peebles. Chestnut Hill.
Sehr reiche Frau. Sie wurde bestohlen. Wird immer noch bestohlen. Sie ist unzufrieden mit der polizeilichen Hilfe, die sie vom Vierzehnten Distrikt und/oder der Kripo Nordwest erhält. Sie beschwerte sich bei Colonel Mawson, und er rief mich an. Verstehen Sie?« »Ich bin nicht sicher«, antwortete Peter. »Ich halte es für eine sehr gute Idee, Peter, wenn Polizeibeamte von der Special Operations Division Miss Peebles besuchen und sie überzeugen, daß die Polizei – streichen Sie das – , das Special Ope rations großes Interesse an ihren Problemen hat und alles unter nimmt, was getan werden kann, um sie zu lösen.« »Commissioner, im Augenblick besteht Special Operations aus mir und Mike Sabara und Sergeant – wie heißt er noch? – Frizell.« »Es ist mir gleichgültig, wie Sie das schaffen, Peter«, sagte Poli zeichef Czernick kühl. »Tun Sie mir nur einen Gefallen und erledigen Sie es.« »Jawohl, Sir.« »Da fällt mir ein, daß Denny Coughlin mich bat, die sofortige Ver setzung von vierzig Freiwilligen zu Ihnen zu genehmigen. Für den Anfang.« »Jawohl, Sir.« »Nun, dann sollten Sie in Kürze etwas Personal haben«, sagte Czernick. »Jawohl, Sir.« »Halten Sie mich auf dem laufenden über die entführte Frau, Peter. Ich habe ein unangenehmes Gefühl bei dieser Sache.« »Jawohl, Sir, selbstverständlich halte ich Sie auf dem laufenden.« »Grüßen Sie Ihren Vater von mir, wenn Sie ihn sehen«, sagte Czernick und legte den Hörer auf. Peter legte ebenfalls auf und wandte sich an Mickey O’Hara. »Was kann ich noch für Sie tun, Mickey?« »Sie schmeißen mich nicht raus?« fragte O’Hara. »Nein. Ich fragte, ob ich etwas für Sie tun kann. Wenn ich Sie rausschmeiße, ist das nicht die feine Art. Gibt es etwas Besonderes, oder wollen Sie hier nur ein bißchen herumhängen?« »Ich bin interessiert an der entführten Frau«, sagte O’Hara. »Ich denke mir, wenn sich was ergibt, dann hier. Deshalb hänge ich hier einfach herum, wenn Sie damit einverstanden sind.« »Ich bin einverstanden«, sagte Wohl. Er wandte sich an Mike Sa bara. »Mike, telefonieren Sie mit dem Captain der Kripo Nordwest und dem Leiter des Vierzehnten Distrikts. Sagen Sie ihnen, daß ich soeben von Commissioner Czernick die Anweisung erhalten habe, eine Frau namens Peebles zu streicheln, und daß ich ein paar unse
rer Leute zu ihr schicke, die vor ihrem Besuch bei ihr die Akten ein sehen. Sie wurde und wird laut Commissioner bestohlen, ist unzufrie den mit den Diensten der Polizei und hat Freunde an hohen Stellen.« »Wen werden Sie ihr schicken?« »Die Officer Martinez und McFadden«, sagte Wohl. »Wer ist denn das?« fragte Sabara verwirrt. »Das sind zwei der drei Jungs, die in der Halle warten«, sagte Wohl. »Ich tue, was ich kann, mit dem, was ich habe. Dann der näch ste Punkt auf der Prioritätenliste. Wir brauchen Leute. Ich würde sie mir lieber sorgfältig aussuchen, aber wir haben keine Zeit. Gestern ging ein Telex raus, in dem um Freiwillige gebeten wurde. Ich weiß nicht, ob es schon irgendwelche Reaktionen darauf gegeben hat, aber stellen Sie das fest.« »McFadden und Martinez arbeiteten verdeckt für mich beim Rauschgiftdezernat«, sagte Pekach zu Sabara. »Das sind die beiden, die Gerald Vincent Gallagher aufspürten. Sie sind hier?« »Chief Coughlin schickte sie zu uns«, sagte Wohl. »Zur Special Operations Divison, David, nicht zur Highway Patrol.« »Es sind gute Cops, aber sie haben nicht viel Erfahrung in Chestnut Hill«, sagte Pekach. »Wie ich schon sagte, ich tue, was ich kann, mit dem, was ich ha be«, sagte Wohl. »Und wie ich schon sagte, Mike, besorgen Sie uns Leute. Wenn Ihnen und Dave jemand einfällt, der überredet werden kann, sich freiwillig zu melden, dann tun Sie das. Dann telefonieren Sie herum und stellen fest, ob es Freiwillige gibt. Überprüfen Sie die Leute. Lassen Sie sie heute herschicken. Fahren Sie zu den Distrik ten, wenn es nötig ist. Nur eines: Sagen Sie ihnen, wenn sie nicht im Außendienst arbeiten wollen, werden sie zu ihrer bisherigen Dienst stelle zurückgeschickt.« »Sie wollen mit ihnen reden?« fragte Sabara. »Bevor wir sie her schicken?« »Wenn Sie die Leute ausgewählt haben, möchte ich mit ihnen re den, das ist klar«, sagte Wohl. »Aber Sie wissen, was wir brauchen, Mike.« Peter nahm den Telefonhörer ab und drückte auf einen Knopf. »Sergeant, würden Sie bitte Sergeant Frizell zur mir bitten? Und schicken Sie mir die drei zivilen Beamten, die in der Halle warten?« Es folgte eine Pause. Dann sagte Wohl: »Ja, alle auf einmal.« »Dann werde ich mal höflich sein«, sagte Mickey O’Hara. »Störe ich?« »Überhaupt nicht«, sagte Peter. »Ich sage Ihnen schon, wenn Sie stören, Mickey.«
Sergeant Frizell, gefolgt von den Officers McFadden, Martinez und Payne, betrat das Büro. »Was wissen wir über Wagen?« fragte Wohl. »Im Augenblick«, antwortete Frizell, »haben wir die Genehmigung, Wagen, neutrale, vom Fuhrpark bei der Akademie abzuziehen, je weils im Verhältnis ein Wagen für drei Beamte.« »Und dann müssen sie mit der richtigen Funkausrüstung versehen werden, richtig?« »Richtig.« »Ich möchte, daß all unsere Wagen das J-Band haben, Kripo, Highway Patrol und unser Frequenzband, wenn wir ein eigenes erhal ten«, sagte Peter Wohl. »Ich bin mir nicht sicher, ob das in der Planung vorgesehen ist« wandte Frizell ein. »Die Planung juckt mich nicht«, erwiderte Peter. »Sie telefonieren mit den Leuten vom Funk und sagen ihnen, sie sollen sich darauf vorbereiten, die Funkausrüstung zu installieren. Und rufen Sie beim Fuhrpark an, daß wir heute anfangen, Wagen abzuholen. Sagen Sie den zuständigen Leuten, daß wir achtundfünfzig Beamte haben; mit anderen Worten, daß wir zwanzig Wagen haben wollen.« »Aber wir haben keine achtundfünfzig Beamte. Wir haben keine.« »Im Augenblick haben wir drei«, entgegnete Wohl. »Und Captain Sabara arbeitet hart daran, die anderen zu besorgen.« »Jawohl, Sir«, sagte Sergeant Frizell. »Aber, Inspector, ich bezwei fle, daß auch nur fünfzehn neutrale Wagen bei der Akademie verfüg bar sind.« »Dann nehmen wir blauweiße«, sagte Wohl. »Die können wir dann gegen neutrale der Highway Patrol tauschen, wenn es sein muß.« »Inspector«, sagte Frizell nervös, »ich bezweifle, daß Sie die Be fugnis haben, das zu tun.« »Nehmen Sie das bitte in Angriff, Sergeant«, sagte Wohl mit ge zwungener Ruhe. Er war wütend und nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. Das letzte, was ich hier brauche, ist dieser Bürokrat aus dem Prä sidium, der mir sagt, welche Befugnisse ich habe! Frizell spürte Wohls Unmut und verließ mit sichtlichem Unbehagen das Büro. Wohl schaute die drei jungen Polizisten an. »Ihr Jungs kennt euch, nehme ich an?« »Jawohl, Sir«, sagten sie im Chor. »Okay, ich möchte, daß Sie folgendes für mich tun.« Er warf Matt Payne Autoschlüssel zu, der überrascht wurde, es jedoch schaffte,
sie zu schnappen. »Nehmen Sie meinen Wagen und fahren Sie McFadden und Martinez zum Fuhrpark bei der Polizeiakademie. Dort wählen McFadden und Martinez zwei neutrale Wagen aus. Sie brin gen einen davon zur Funkabteilung und lassen ihn dort. Sie, Payne, fahren mit meinem Wagen zur Funkabteilung und warten dort in der Werkstatt, bis eine andere Funkausrüstung eingebaut ist. Dann fah ren Sie mit dem Wagen her. Hier nehmen Sie Captain Sabaras Wa gen und lassen die zusätzliche Funkausrüstung einbauen. Anschlie ßend bringen Sie diesen Wagen zurück. Alles klar?« »Jawohl, Sir«, sagte Matt Payne. »Martinez und McFadden, Sie bringen den anderen Wagen her. Ich habe einen Job für Sie beide, wenn Sie hier sind, und wenn Sie den erledigt haben, überführen Sie Wagen vom Fuhrpark über die Funkabteilung nach hier. Verstehen Sie, was ich meine.« »Jawohl, Sir.« Wohl dachte: Wagen und Funkausrüstung zu besorgen und neu eingetroffenem Personal Aufträge zu geben, ist ein Job für einen Sergeant, es sei denn, der Chef weiß nicht genau, was er tut. In die sem Fall darf er im Kreis herumlaufen, gestikulieren und brüllen und so tun, als ob er es weiß. Das ist bekanntlich ein Vorrecht des Chefs.
Lieutenant Spanner von der Kripo Nordwest stand auf, als Peter Wohl sein Büro betrat, und gab ihm die Hand. »Guten Tag, Inspector«, sagte er. »Ich nehme an, Glückwünsche sind angebracht.« »Na, ich weiß nicht recht«, erwiderte Wohl, »aber trotzdem danke.« »Was kann die Kripo Nordwest für Special Operations tun?« »Ich möchte die Akten über den Diebstahl – oder sind es Diebstäh le? – bei einer Frau namens Peebles aus Chestnut Hill sehen«, sagte Wohl. »Die habe ich gleich hier. Captain Sabara sagte, daß jemand rü berkommt. Aber er sagte nicht, daß Sie sich herbemühen.« »Die Lady hat Freunde an hohen Stellen, wie mir der Com missioner sagte.« Spänner lachte. »Trotzdem ist es nur ein weiterer Fall von Dieb stählen.« »Sagte Mike Sabara, daß wir auch an dem Fall Flannery interes siert sind?« »Da ist diese Akte.« Spanner wies auf einen anderen Aktenhefter. Wohl setzte sich auf den Besucherstuhl neben Spanners Schreib tisch und las die Akte über den Fall Peebles.
»Kann ich mir die für ein paar Stunden ausleihen?« fragte Wohl. »Ich gebe sie Ihnen noch heute zurück.« Spanner winkte abfällig ab, was bedeuten sollte: klar, kein Pro blem, ist doch eine Lappalie. Wohl nahm sich die Flannery-Akte vor. »Das gleiche«, sagte er dann. »Ich möchte die Akte für ein paar Stunden mitnehmen.« »Geht in Ordnung.« »Was halten Sie von dem Fall?« fragte Wohl. »Ich finde, wir haben es mit einem wirklich Kranken zu tun«, sagte Spanner. »Und ich wette, der Täter ist derselbe, der die Frau in den Van zwang. Haben Sie da schon was?« »Nicht das geringste«, sagte Wohl. »Darf ich mal telefonieren?« Spanner schob ihm das Telefon hin. Wohl wählte eine Nummer aus dem Gedächtnis. »Hier spricht Inspector Wohl«, sagte er. »Würden Sie bitte veran lassen, daß der Wagen der Highway Patrol, der sich am nächsten bei der Kripo Nordwest befindet, mich dort abholt?« Er legte den Hörer auf und schob das Telefon zu Spanner zurück. »Ich muß mich mit nehmen lassen«, erklärte Wohl. »Probleme mit Ihrem Wagen? Ich kann Sie fahren lassen, Inspec tor. Wollen Sie anrufen und absagen?« »Danke, nein.« Spanner lächelte. »Wie wäre es dann mit einer Tasse Kaffee?« »Danke, ja«, sagte Wohl. Bevor Wohl seinen Kaffee zu Ende getrunken hatte, meldete sich ein Beamter der Highway Patrol bei Wohl. Peter Wohl ließ den Rest Kaffee stehen und folgte ihm zum Wagen. »Ich muß zum Rundhaus«, sagte Wohl, als er neben dem Fahrer saß. »Sie können mich dort absetzen.« »Jawohl, Sir«, sagte der Fahrer. Sie fuhren über die North Broad Street in die Innenstadt. Wohl be merkte, daß sich der Fahrer strikt an die erlaubte Geschwindigkeit hielt. »Wenn Sie Gott wären«, sagte Wohl zum Fahrer, »oder ich, und Sie könnten alles tun, was Sie wollen, um den Kerl zu schnappen, der Frauen in Nordwest-Philly überfällt – und ich denke, der Typ, der ge stern abend die Frau in den Van zwang, ist derselbe Täter – , was würden Sie tun?« Der Fahrer blickte ihn überrascht an und überlegte lange. »Sir, ich weiß es wirklich nicht«, sagte er schließlich. Wohl drehte den Kopf und blickte den anderen Beamten der High
way Patrol an, der auf dem Rücksitz saß. »Und Sie?« Der Mann hob beide Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. »Soweit ich hörte, tun wir alles, was wir können.« »Meinen Sie, er wird die Frau freilassen?« fragte Wohl. »Keine Ahnung«, erwiderte der Fahrer. »Es wäre das erstemal, wenn er eine – behält.« »Wenn Ihnen etwas einfällt, behalten Sie es nicht für sich«, sagte Wohl. »Erzählen Sie es Captain Pekach oder Captain Sabara oder mir.« »Jawohl, Sir«, sagte der Fahrer. »Stimmt was nicht mit diesem Wagen?« fragte Wohl. »Sir?« »Fährt er nicht schneller?« Der Fahrer blickte ihn verwirrt an. »Officer Hawkins sagte, der Zivilist fuhr gestern abend bei Rot durch«, sagte Wohl. »Ich glaube ihm. Wir suchen Zeugen, die Haw kins’ Aussage bestätigen.« Der Fahrer reagierte einen Moment lang nicht. Dann gab er mehr Gas und fuhr schneller durch den Verkehr auf der North Broad Street. Mit etwas Glück, dachte Wohl, werden diese Jungs nach ihrem Dienst ein paar Bier mit ihren Kollegen trinken, und mit noch etwas mehr Glück wird sich bis morgen früh bei der Highway Patrol herum gesprochen haben, daß Inspector Wohl nicht der blöde Hund ist, für den ihn die Leute halten; daß er um Rat gebeten und gesagt hat, er glaubt Hawkins; und daß er sogar dem Jungen, der ihn zum Präsidi um fuhr, erlaubte, Gas zu geben.
11
Als sie die Delaware Avenue hinunterfuhren, stemmte sich Officer McFadden vom Rücksitz von Staff Inspector Wohls Wagen auf und legte die Ellenbogen auf die Kopfstütze des Vordersitzes. »Ich fuhr noch nie im Wagen eines Inspectors«, sagte er erfreut. »Schön.« »Er sieht nicht wie ein Polizeiwagen aus, wie?« sagte Matt Payne, der fuhr. McFadden schaute ihn neugierig an. »Das soll er auch nicht«, sagte Jesus Martinez und sprach dann aus, was ihm in den Sinn kam. »Woher kommen Sie, wenn ich das fragen darf?« »Von der Akademie«, sagte Matt. »Sie haben an der Akademie unterrichtet?« »Nein, ich war einer der Rekruten«, sagte Matt. »Als ich gestern auf dem Schießplatz war, kam Chief Matdorf raus und sagte mir, daß ich mich heute morgen in Zivil bei der Highway Patrol melden soll.« »Das ist ein dickes Ei«, sagte Charley McFadden. Dann fügte er hinzu: »Wir waren im Rauschgiftdezernat. Che-sus und ich. Wir wa ren Partner und arbeiteten undercover.« »In der vergangenen Woche waren wir noch im Zwölften Distrikt und schnappten Leute, die aus geparkten Autos klauten«, sagte Je
sus. »Ich frage mich, was das alles zu bedeuten hat.« Matt Payne und Charley McFadden zuckten mit den Schultern. »Wir werden es herausfinden, nehme ich an«, sagte Matt Payne. »Wir fahren zu dem Gebiet jenseits des Zauns auf dem Weg zur Akademie, richtig?« fragte Matt. »Ja«, sagte Martinez. »Ihr Wagen gefällt mir auch«, sagte Charley. »Porsche, wie?« »911 T«, sagte Matt. »Wieviel haben Sie dafür hingeblättert?« fragte Charley. »Mensch, Charley«, sagte Martinez. »Man fragt nicht die Leute, was ihre Sachen kosten.« »Ich war nur neugierig, Che-sus«, entgegnete Charley. »War nicht böse gemeint.« »Ich weiß nicht, was er kostet«, sagte Matt. »Es war ein Geschenk zum Abschluß meines Studiums.« »Schönes Geschenk!« sagte Charley. »Das fand ich auch«, sagte Matt. »Wie nennen Sie ihn? Che-sus?« »So heißt er«, sagte Charley. »Das ist die Torero-Aussprache von Jesus.« »Die spanische, du verdammter Schotte«, fuhr Jesus Martinez ihn an. »Meine Mutter findet es unmöglich, daß ein Cop Jesus heißt«, er klärte Charley. »Und so habe ich mir angewöhnt, ihn Che-sus zu nennen. Dagegen hat sie nichts. Das klingt für sie wie Juan oder Pe pino.« »Pepino heißt Gurke, du Arsch«, protestierte Jesus Martinez. »Ich weiß Ihren Namen nicht«, sagte Charley und ignorierte Che sus. »Matt Payne«, sagte Matt. Charley hielt die Hand über Matts Schulter. »Schön, Sie kennenzulernen, Matt«, sagte Charley, als Matt ihm die Hand gab. »Freut mich auch«, sagte Jesus und reichte ihm die Hand. Sie schafften es ohne Schwierigkeiten, zwei Wagen – beides neue Plymouth, einer blau, der andere dunkelbraun – vom Polizeifuhrpark loszueisen, aber als sie zur Funkabteilung an der South Delaware Avenue fuhren, liefen die Dinge nicht so glatt. Es begann sogar schlimm. Der Mann mit dem Coverall in der Ga rage musterte alle drei Wagen sorgfältig, als sie hereinfuhren, und dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder der Lektüre von Popu lär Electronics. Er blickte nicht auf, als Matt, Jesus und Charley, einer nach dem
anderen, vor seinem Schreibtisch stehenblieben. Matt Payne ergriff das Wort. »Verzeihung, ich habe Inspector Wohls Wagen.« »Gut für Sie«, sagte der Mann, ohne aufzublicken. »Sie sollen Funkausrüstung einbauen«, sagte Matt. »Davon habe ich noch nichts gesehen«, sagte der Mann. »Haben Sie die Papiere?« »Nein«, sagte Matt. »Ich habe keine.« »Nun dann«, sagte der Mann und widmete sich wieder der Zeit schrift Populär Electronics. »Ich habe Anweisungen, hier zu warten, während die Arbeit erle digt wird«, sagte Matt. »Und ich habe Anweisungen, ohne entsprechende Papiere nicht zu arbeiten«, sagte der Mann. »Und wir arbeiten nicht, während Leute warten. Für wen, zum Teufel, haltet ihr Jungs euch?« »Wir sind von Special Operations«, sagte Matt. »Ich bin beeindruckt«, erwiderte der Mann spöttisch. »Nun, es tut mir leid, wenn Sie heute morgen mit dem falschen Bein aufgestanden sind«, sagte Matt, »aber das hilft mir nicht bei meinem Problem. Wo finde ich Ihren Vorgesetzten?« »Ich bin hier verantwortlich«, sagte der Mann ärgerlich. »Gut, dann greifen Sie zum Telefon, rufen Inspector Wohl an und sagen ihm, was Sie mir gesagt haben.« »Was soll das, sind Sie ein Klugscheißer oder was?« Matt gab keine Antwort. »Sie können den Wagen hierlassen, und wenn der Papierkram ein trifft, werden wir sehen, was wir tun können«, sagte der Mann. »Darf ich bitte Ihr Telefon benutzen?« fragte Matt. »Warum?« »Damit ich Inspector Wohl anrufen und ihm sagen kann, daß Sie sich weigern, zu arbeiten, und sich ebenso weigern, ihm das telefo nisch zu sagen.« Der Mann bedachte ihn mit einem giftigen Blick und nahm den Te lefonhörer ab. Er wählte eine Nummer. »Sergeant, ich habe ein hohes Tier hier, das sagt, es ist von Spe cial Operations. Hat keine Papiere und verlangt, daß wir etwas tun – ich weiß nicht was. An drei neutralen Wagen.« Er hörte sich die Antwort an und gab Matt dann den Hörer. »Hier ist Sergeant Francis«, hörte Matt eine tiefe Stimme. »Was kann ich für Sie tun?« »Mein Name ist Payne. Ich bin von der Special Operations Divisi on, und es hat offenbar eine Panne in der Kommunikation gegeben.
Ich bin hier mit drei neutralen Wagen, einer davon ist der von Inspec tor Wohl. Jemand sollte hier anrufen und all das arrangieren.« »Ich weiß nichts davon«, sagte Sergeant Francis. »Warum fahren Sie nicht zurück und fragen dort jemanden?« »Nein, Sergeant, ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen. Können Sie mir bitte seine Telefonnummer geben?« »Das lasse ich lieber sein«, murmelte Sergeant Francis. Und dann hörte Matt schwach: »Lieutenant, wollen Sie das übernehmen?« »Lieutenant Warner.« »Sir, hier ist Officer Payne, Special Operations. Ich bin in der Werkstatt. Ich habe die Anweisung, Inspector Wohls Wagen hier…« »Menschenskind, Sie sind bereits da?« »Jawohl, Sir. Mit Inspector Wohls Wagen und zwei anderen.« »Als Ihr Sergeant anrief, dachte ich, er sprach von frühestens mor gen.« »Wir sind hier, Sir. Inspector Wohl schickte uns.« »Das sagten Sie schon. Ist dort irgendwo ein Mann namens Ernie?« Matt blickte den Mann am Schreibtisch an. »Ist hier jemand namens Ernie?« fragte Matt. »Ich bin Ernie.« »Jawohl, Sir, er ist hier«, sagte Matt. »Lassen Sie mich mit ihm sprechen«, verlangte Lieutenant Warner. Matt überreichte Ernie den Telefonhörer. Nach Ernies Miene zu schließen, gefiel ihm nicht, was ihm der Lieutenant sagte. »Jawohl, Sir, ich fange sofort an«, sagte Ernie schließlich und legte auf. Er schaute Matt an. »Vier Frequenzbänder in jeden Wagen? Was, zum Teufel, ist Special Operations überhaupt?« »Wir sind eine Art Super Highway Patrol«, sagte Matt mit todern ster Miene.
»Was hältst du von Payne?« fragte Charley McFadden, als Jesus Martinez mit dem neutralen Plymouth auf die Harbinson Avenue ab bog -und nordwärts zum Hauptquartier der Highway Patrol fuhr. »Ich glaube, er ist ein reicher Klugscheißer«, sagte Jesus. »Heißt das, du kannst ihn nicht leiden? Ich mag ihn irgendwie.« »Das heißt, daß er ein reicher Klugscheißer ist«, sagte Jesus. »Entweder das oder ein Schnüffler.« »Nun, er brachte diesen Scheißer in der Werkstatt auf Trab, nicht wahr? Ich finde, das hat er ziemlich gut gemacht.«
Jesus stieß einen Grunzlaut aus. »Das bringt mich auf den Gedan ken, daß er ein Schnüffler ist. Er verhielt sich nicht wie ein Rekrut. Er sagte diesem Sergeant am Telefon praktisch, daß er ihn mal kann. Rekruten tun so was nicht.« »Warum sollte die Abteilung Interne Angelegenheiten einen Schnüffler schicken? Mensch, Sie haben Special Operations erst heute gebildet. Die Abteilung Interne Angelegenheiten schickt jeman den als verdeckten Ermittler, wenn sie den Verdacht hat, daß irgendwas Schmutziges läuft. Es war keine Zeit für irgendwas Krummes.« »Es könnte sein, daß er die Highway Patrol beobachtet.« »Du spinnst«, sagte Charley nach kurzem Nachdenken. »Was auch immer er ist, er ist kein Schnüffler.« »Dann sag mir eines: Was macht ein reicher Typ, der studiert hat, bei der Polizei?« »Vielleicht will er Cop sein«, antwortete Charley. »Warum? Frag dich das mal, Charley.« »Keine Ahnung«, erwiderte Charley. »Warum willst du denn Cop sein?« »Weil es, was mich betrifft, ein guter Job ist, bei dem ich etwas aus mir machen kann. Aber ich habe nicht studiert, und keiner schenkte mir einen Porsche.« »Scheiß drauf, ich mag ihn. Mir gefiel, wie er diesen Blödmann zur Schnecke machte.«
Bei der Highway Patrol sagte ihnen der Corporal, daß Captain Sa bara sie sehen wollte. In der Halle waren viele Leute, und McFadden und Martinez nahmen an, daß sie lange warten mußten. Jesus mach te es sich auf einem Stuhl bequem, und Charley ging zu den Automa ten, um eine Coke und etwas zu essen zu holen. Als er mit einem Schinkenbrötchen und einer Cola zurückkehrte, wurde die Tür vom Vorzimmer des Captains geöffnet, und ein Polizist in mittleren Jahren, der die Mütze der Verkehrspolizei in der Hand hielt, kam heraus. »Ist jemand namens McFadden hier?« Charley konnte keine Antwort geben, weil er einen großen Bissen Schinkenbrötchen im Mund hatte, aber er winkte mit dem Rest des Schinkenbrötchens und machte den Verkehrspolizisten auf sich auf merksam. »Captain Sabara will Sie sehen«, sagte der Verkehrspolizist. »Sie und Gonzales, sagte er, glaube ich.« »Martinez?« fragte Jesus, peinlich berührt.
»Ja, ich glaube, das sagte er.« Charley legte das angebissen Schinkenbrötchen auf den Stuhl neben Jesus, kaute schnell und folgte ihm in das Büro. »Sie wollen uns sehen, Sir?« fragte Jesus höflich. »Ja«, sagte Sabara. »Haben Sie die Wagen gebracht?« »Jawohl, Sir, wir ließen den blauweißen in der Funkwerkstatt«, sagte Jesus. »Die folgende Sache ist Blödsinn«, sagte Sabara. »Aber von Zeit zu Zeit machen wir Blödsinn, wenn es der Commissioner verlangt. Es gab ein paar kleinere Diebstähle in Chestnut Hill. Bei einer Lady na mens Peebles. Sie ist reich, und sie hat prominente Freunde. Und sie meint, sie wird von der Polizei nicht so beachtet, wie es ihr gebührt. Sie sprach mit einem ihrer Freunde, und der sprach mit dem Com missioner, und der Commissioner rief Inspector Wohl an. Verstehen Sie?« »Jawohl, Sir«, sagte Jesus. Charley McFadden schluckte ein letztesmal hastig und fügte einen Moment später ›Jawohl, Sir‹, hinzu. »Hier ist die Akte. Inspector Wohl lieh sie sich von der Kripo Nord west aus. Lesen Sie die Akte. Dann besuchen Sie die Lady. Lassen Sie Ihren Charme spielen. Und geben Sie ihr das Gefühl, daß wir – und mit ›wir‹ meine ich besonders Special Operations, aber auch die gesamte Polizei – Mitgefühl mit ihr haben und alles tun, um den Dieb zu schnappen und sie und ihren Besitz zu schützen. Alles kapiert?« »Jawohl, Sir«, antworteten sie unisono. »Auf dem Rückweg liefern Sie die Akte bei der Kripo Nordwest ab«, sagte Sabara. »Und dann berichten Sie mir und Inspector Wohl, was Sie zu der Frau gesagt haben und wie sie reagierte.« »Jawohl, Sir.« »Okay, dann legen Sie los«, sagte Sabara, und sie machten sich mit einem »Jawohl, Sir«, auf den Weg. Jesus war auf der Türschwel le, als Sabara rief: »He!« Sie blieben stehen und wandten sich zu ihm um. »Ich weiß, welchen guten Job Ihr Jungs gemacht habt, als ihr den Komplizen der Frau aufgespürt habt, die Captain Moffitt erschoß«, sagte Sabara. »Und Captain Pekach sagte mir, daß Sie zuvor prima beim Rauschgiftdezernat gearbeitet haben. Aber Sie müssen sich vor Augen halten, daß Chestnut Hill nicht die Straße ist und daß Sie Leu te wie diese Miss Peebles mit Samthandschuhen anfassen müssen. Es ist Blödsinn, aber es ist wichtiger Blödsinn. Seien Sie also wirklich mitfühlend und höflich, okay?« »Jawohl, Sir«, sagten sie wie aus einem Mund.
Peter Wohl mußte dem Beamten vom Dienst im Präsidium seinen Ausweis zeigen, bevor der Mann per Knopfdruck die Tür öffnete und Wohl passieren durfte. Jetzt stand es vierzehn zu sechs. Er fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock zur Mordkommission. Als er die Tür zum Hauptraum öffnete, sah er, daß sich Captain Hen ry C. Quaire in seinem kleinen Büro aufhielt, dessen Front aus Glas bestand. Die Glastür war geschlossen, und Quaire, ein stämmiger, muskulöser Mann Anfang Vierzig telefonierte, aber als er Wohl sah, forderte er ihn mit einem Wink auf, einzutreten. »Wir bleiben in Verbindung«, sagte er und legte den Hörer auf. Dann erhob er sich halb aus seinem Schreibtischsessel und gab Wohl die Hand. »Glückwunsch zu Ihrem neuen Posten«, sagte Captain Quaire. »Danke, Henry«, erwiderte Wohl. »Ich weiß nicht, was Special Operations ist«, sagte Quaire, »aber es klingt beeindruckend.« »Das trifft den Nagel auf den Kopf«, sagte Wohl. »Ich habe schon Schwierigkeiten, und ich habe gerade erst dort angefangen.« »Ich hörte das mit dem kleinen Jungen. Verdammte Sache.« »Der Fahrer des anderen Wagens fuhr bei Rot auf die Kreuzung, nicht unser Junge«, sagte Peter Wohl. »Ich hoffe, Sie können das beweisen.« »Das sagte auch Mickey O’Hara. Ich lasse nach Zeugen suchen. Hoffentlich treiben wir jemanden auf. Aber deshalb bin ich nicht hier, Henry.« »Warum habe ich das Gefühl, daß mir nicht gefallen wird, was jetzt folgt?« fragte Quaire trocken. »Weil es Ihnen nicht gefallen wird«, erwiderte Wohl. »Ich möchte zwei Ihrer Leute haben, Henry.« »Welche?« »Washington und Harris«, sagte Wohl. »Kann ich ablehnen, höflich oder sonstwie?« »Das bezweifle ich«, sagte Wohl. »Chief Coughlin sagte mir, ich kann jeden kriegen, den ich haben will. Ich werde ihn darauf festna geln.« »Darf ich dann fragen, warum Sie die beiden haben wollen?« Wohl legte die Akte, die er sich von Lieutenant Spanner von der Kripo Nordwest ausgeliehen hatte, auf Captain Quaires Schreibtisch. »Das hat die Kripo Nordwest über den Vergewaltiger in NordwestPhilly«, sagte Wohl.
»Die Frau, die in den Van gezwungen wurde, ist gefunden wor den?« »Nein, noch nicht.« Quaire tippte auf den Aktenhefter, öffnete ihn jedoch nicht. »Dann liegt auf der Hand, daß Vergewaltigung, Sittlichkeitsvergehen und so weiter kein Fall für die Mordkommission ist. Weshalb zeigen Sie mir diese Akte?« »Der Vergewaltiger in Nordwest-Philly ist jetzt mein Fall, Henry«, erklärte Wohl. »Okay. Aber ich frage mich immer noch, warum zeigen Sie mir die Akte?« »Ich bezweifle, daß wir die Frau lebend finden werden«, sagte Wohl. »Dann ist es meine Sache«, erwiderte Quaire. »Aber erst dann.« »Nein. Es wird immer noch mein Fall sein«, widersprach Wohl. Quaires Augenbrauen ruckten hoch. »Es geht mich zwar nichts an, aber wie hat Chief Lowenstein das aufgenommen, als er es erfahren hat? Oder weiß er noch nichts da von?« Chief Inspector Matt Lowenstein, der Chef der Kripo, dem die Mordkommission unterstand, war bekannt dafür, daß er in die Luft ging, wenn jemand sich in seinen Kompetenzbereich einmischte. »Ich hoffe, er weiß, daß es nicht meine Idee war«, sagte Wohl. »Aber man hat ihn informiert.« »Was verlangen Sie von mir, Inspector?« fragte Quaire. »Daß ich Ihnen Washington und Harris zuteile, wenn aus dieser Entführung ein Mordfall wird? Ehrlich gesagt, ich mag nicht, wenn man mir sagt, wie ich meinen Laden zu führen habe.« »Nein, ich möchte, daß sie jetzt zur Abteilung Special Operations versetzt werden«, sagte Peter Wohl. Quaire dachte einen Moment darüber nach. »Ich wollte schon ablehnen«, sagte er schließlich, »aber Sie haben ja schon erklärt, daß ich das nicht kann, nicht wahr?« »Warum rufen Sie nicht Lowenstein an«, schlug Wohl vor. »Ich glaube Ihnen, Peter.« »Danke«, sagte Wohl. »Aber vielleicht würde sich Lowenstein freu en, wenn er hört, daß er nicht der einzige ist, der wegen dieser Sache sauer ist.« Quaire schaute ihn einen Augenblick lang an und nickte dann. Er wählte eine Nummer und sagte Chief Inspector Lowenstein, daß Staff Inspector Wohl in seinem Büro war und die Kriminalbeamten Washington und Harris zur Special Operations Division versetzt ha
ben wollte. Die Antwort war kurz, und dann legte Captain Quaire den Hörer auf, ohne sich zu verabschieden. »Das ging aber schnell«, sagte Peter und lächelte. »Was sagte er?« »Das wollen Sie bestimmt nicht hören«, meinte Quaire. »Doch ich möchte es hören.« »Okay«, sagte Quaire und grinste. »›Geben Sie dem verdammten Bastard, was immer er will, und sagen Sie ihm, ich hoffe, er erhängt sich.‹ Ende des Zitats.« »Das war alles? Dann muß er heute in sehr guter Stimmung sein«, sagte Wohl lächelnd. Aber das ist nicht lustig, dachte er. Lowenstein ist verständlicherweise wütend, und wenn er denkt, ich mißbrauche die Befugnis, die Czernick und Coughlin mir gaben, dann werde ich dafür bezahlen müssen. Vielleicht morgen, vielleicht im nächsten Jahr, aber irgendwann. »Wann möchten Sie Washington und Harris haben?« fragte Quai re. »Gleich.« »Sie meinen heute?« fragte Quaire ungläubig. »Ja, und wenn sie ihre Wagen für ein paar Tage behalten dürfen, bis ich welche für sie habe, wüßte ich das zu schätzen.« Quaire dachte darüber nach. »Inspector, ich bin knapp an Wagen. Wenn Sie verlangen, daß sie ihre Wagen behalten, werde ich sie ihnen lassen, aber…« »Okay. Ich werde mir bezüglich der Wagen etwas einfallen las sen«, sagte Wohl. »Aber ich möchte Washington und Harris heute haben.« »Sie arbeiten draußen«, sagte Quaire. »Ich informiere Sie bei ih rem Eintreffen. Und dann schicke ich sie zu Ihnen. Wo sind Sie, im Hauptquartier der Highway Patrol?« »Ja. Henry, es gibt vielleicht eine Chance, daß wir etwas für diese Frau tun können – bevor die Entführung zu einem Mordfall wird. Des halb brauche ich Ihre beiden Männer jetzt.« »Das klingt, als gefällt Ihnen nicht, wie die Kripo Nordwest den Fall bearbeitet«, sagte Quaire. Jetzt mußte Wohl über seine Antwort nachdenken. »Ich dachte bisher nicht ganz so darüber, Henry. Aber, ja, ich nehme an, Sie haben recht. Der Vergewaltiger treibt sich dort irgendwo im Nordwesten herum. Die Kripo Nordwest hat ihn nicht schnap pen können. Sehen Sie sich die Akte an – nichts.« Quaire schob die Akte zu Wohl hin.
»Ich will mir die Akte nicht ansehen, Inspector. Das ist nicht mein Bier.« Wohl enthielt sich der ärgerlichen Erwiderung, die ihm in den Sinn kam. Er nahm den Aktenhefter und erhob sich. »Danke, Captain.« »Jawohl, Sir«, sagte Quaire. Im Aufzug, auf der Fahrt hinab, knurrte Peters Magen, und dann schmerzte er. Ich habe nicht gefrühstückt, daran liegt es, dachte er. Und dann wurde ihm klar, daß der Verzicht auf das Frühstück – weil er an dem ersten Morgen in seiner neuen Abteilung nicht zu spät kommen wollte – nichts damit zu tun hatte. Er dachte an einen Imbiß nicht weit vom Präsidium, wo er ein Eier brötchen oder etwas anderes und ein Glas Milch zu sich nehmen konnte. Aber als er das ›Rundhaus‹ durch die Hintertür verließ, sah er einen Wagen der Highway Patrol die Rampe des Zentralgefängnisses herabfahren. Er ging zu dem Wagen, klopfte an das Fenster und wies den über raschten Fahrer an, ihn zur Highway Patrol zu fahren. Als Peter Wohl aus dem Wagen der Highway Patrol stieg, sah er aus dem Augenwinkel ein anderes neutrales Auto, Sabaras Wagen, auf den Parkplatz fahren. Der Fahrer war Matt Payne. Wohl schaute sich auf dem Parkplatz um und sah, daß sein Wagen, jetzt mit einer anderen Antenne, auf dem Parkplatz mit dem Schild INSPECTOR stand. Er wartete, bis Payne einen Parkplatz für Sabaras Wagen gefun den hatte und zum Gebäude ging. »Payne!« Payne schaute sich um, sah ihn und ging zu ihm. »Ja, Sir?« »Sie haben die Funkausrüstung in den Wagen?« »Jawohl, Sir.« »Das ging schnell«, dachte Wohl laut. »Das war eigentlich nicht viel Arbeit«, sagte Payne. »Es brauchten nur die Antenne eingebaut, ein paar Verbindungen hergestellt und ein Zusatzgerät montiert zu werden.« »Kommen Sie ins Büro«, sagte Wohl. »Ich möchte mit Ihnen re den.« »Jawohl, Sir.« Wohl wollte ein kurzes Gespräch mit Payne führen, um sich ein Bild über den jungen Mann zu machen, damit er wußte, was er mit ihm anfangen konnte.
Als er das Gebäude betrat, sah er, daß dieses Gespräch un möglich stattfinden konnte. Alle Stühle waren besetzt. Einige der Wartenden waren in Uniform, und er brauchte nicht Sherlock Holmes zu sein, um zu wissen, daß diejenigen in Zivilkleidung ebenfalls Poli zisten waren. Sabara hatte sich offenbar sofort an die Arbeit gemacht. Diese Leute hatten sich wahrscheinlich freiwillig gemeldet. Sergeant Frizell bestätigte das sofort. »Captain Sabara spricht im Büro mit Bewerbern, Sir.« »Warten Sie einen Augenblick hier, Payne«, sagte Wohl. »Inspector«, sagte Payne, als Wohl die Hand auf den Türgriff des Büros legte. Wohl wandte sich um. »Captain Sabaras Schlüssel«, sagte Payne und überreichte sie ihm. »Danke.« Wohl öffnete die Tür und trat ein. Sabara saß hinter seinem Schreibtisch und hatte eine Per sonalakte vor sich liegen. Ein uniformierter Polizist saß nervös auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch. Sabara wollte bei Wohls Eintreten aufstehen, doch Wohl forderte ihn mit einem Wink auf, sitzenzublei ben. Da war etwas an dem uniformierten Polizisten, das Wohl sofort mißfiel. Er hat das Gesicht eines labilen Schwächlings, sagte sich Wohl. Er fragte sich, wie er das wissen konnte. Oder ob er es tat sächlich wußte. »Das ist Inspector Wohl«, sagte Sabara, und der Polizist sprang auf und streckte ihm die Hand hin. »Guten Tag, Sir«, sagte der Polizist. Sabara verzog hinter ihm das Gesicht und schüttelte den Kopf. Damit bestätigte er Wohls erste schnelle Einschätzung, daß dieser Bewerber nicht dem entsprach, was sie wünschten. Warum über rascht mich das? dachte Wohl. Wenn Freiwillige gesucht werden, sind neunzig Prozent der Bewerber Leute, die in ihrem Dienst unzu frieden sind und sich im allgemeinen unglücklich fühlen, weil sie ent weder faul oder unfähig sind. »Hier sind Ihre Schlüssel, Mike«, sagte Wohl. »So schnell?« fragte Sabara. Bevor Wohl etwas erwidern konnte, klingelte eines der Telefone, und Sabara nahm den Hörer ab. »Ja?« Er hörte kurz zu und sagte dann: »Detective Washington für Sie, Sir.« Wohl nahm den Telefonhörer. »Hallo, Jason«, sagte er. »Sir, ich soll mich bei Ihnen melden«, sagte Washington, und sein
Tonfall ließ erkennen, daß er alles andere als begeistert darüber war. »Wo sind Sie, Jason?« erkundigte sich Wohl. »Im Rundhaus, Sir.« »Müssen Sie abgeholt werden?« »Sir, ich rief an, um zu fragen, ob ich mit meinem Privatwagen zu Ihnen fahren soll.« »Warten Sie hinter dem Rundhaus, Jason«, sagte Wohl. »Ich lasse Sie in ein paar Minuten abholen.« »Jawohl, Sir«, sagte Jason Washington. »Ist Tony Harris auch dort?« »Nein, Sir«, antwortete Jason Washington, und dann platzte er heraus: »Der auch?« »Ich versuche, die besten Leute zu bekommen, Jason«, sagte Wohl. »Jawohl, Sir.« Washingtons Tonfall war anzuhören, daß er nicht in der Stimmung für Schmeicheleien war. »Ich lasse Sie gleich von jemandem abholen, Jason«, sagte Wohl und legte den Hörer auf. Er schaute Mike Sabara an. »Die Detectives Washington und Har ris kommen zu uns, Captain. Das war Washington. Ich lasse ihn ab holen und herbringen.« »Soll ich mich darum kümmern, Inspector?« fragte Sabara. »Das kann ich selbst erledigen«, sagte Wohl. Er lächelte den Cop an. »War nett, Sie kennenzulernen. Auf Wiedersehen l« Und er dach te: Hoffentlich nimmt Sabara den nicht. Matt Payne lehnte an der Wand in der Halle, als Wohl dorthin zu rückkehrte. Als Payne ihn sah, stieß er sich von der Wand ab. »Payne, nehmen Sie wieder meinen Wagen…«, begann Wohl, und dann unterbrach er sich. Payne sah ihn fragend an. »Wie lange brauchten Sie, um einen Wagen aus dem Fuhrpark zu erhalten?« »Nur ein paar Minuten«, sagte Payne. »Die haben dort ein Formu lar; man muß den Wagen besichtigen und dann unterschreiben, daß er keine Beschädigungen hat.« »Okay, holen wir uns den nächsten«, sagte Wohl. Als sie zum Wagen gingen, fragte Payne: »Möchten Sie, daß ich fahre, Sir?« Wohl überlegte. Mir gefiel es als Beifahrer auf der fahrt in die Innenstadt; da kann ich mich umschauen. Für gewöhnlich sehe ich nur die Stopplichter des Wagens vor mir.
»Bitte«, sagte er und gab Payne die Wagenschlüssel. Drei Blocks weiter schaute Payne zu Wohl. »Ich kenne nicht die Grundregel, Sir. Muß ich mich an das Tempolimit halten?« »Menschenskind«, sagte Wohl ärgerlich und sah ihn an. Es war ei ne ehrliche Frage, sagte er sich dann, und sie verdient eine ehrliche Antwort. »Wenn Sie meinen, Sie können fahren, was das Zeug hält – nein. Andererseits benutzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand, Pay ne.« Und dann fügte er hinzu: »Das ist alles, was die Polizeiarbeit im Grunde ausmacht, Payne, den gesunden Menschenverstand benut zen und nach bestem Ermessen handeln.« »Jawohl, Sir«, sagte Payne. Nun, das klang nach Sokrates junior, nicht wahr, Peter Wohl? Doch dann führte er seine Gedanken weiter aus: »Die Polizeiarbeit ist nicht so, wie Sie vielleicht denken, Payne. Brillante Detektivarbeit und rotierendes Rotlicht. Gegenwärtig sucht jeder Cop in Philadelphia und in dieser Gegend nach einer Frau, die von irgendeinem Wahnsinnigen mit Sexualproblemen mit dem Messer an der Kehle gezwungen wurde, in seinen Van einzusteigen. Da wir keine gute Beschreibung von dem Van haben und nicht das Kennzeichen wis sen – und selbst wenn wir das Personal hätten, was nicht der Fall ist – , können wir nicht jeden Van stoppen und überprüfen. So warten wir einfach, daß etwas geschieht. Ich mag gar nicht daran denken, was geschehen wird.« »Meine Schwester sagt, Vergewaltiger sind mehr daran inter essiert, ihre Macht über die Opfer auszukosten, als sexuelle Befriedi gung zu finden«, sagte Payne. »Ihre Schwester ist zweifellos eine Expertin in punkto Verge waltigung und Vergewaltiger«, bemerkte Wohl sarkastisch. »Sie ist Psychiaterin«, sagte Payne. »Ich weiß nicht, ob sie Exper tin ist. Im Gegensatz zu ihr, denn sie hält sich für eine große.« Wohl lachte. »Nun, vielleicht sollte ich mal mit ihr reden. Ich brau che alle Hilfe, die ich bekommen kann.« »Das würde ihr gefallen«, sagte Payne. »Danach würde sie uner träglich eingebildet sein, weil die Polizei sie zu Rate gezogen hat, aber wenn Sie es ernst meinen, kann ich das leicht arrangieren.« »Betrachten wir das als zweitrangig«, sagte Wohl. »Anderes ist im Augenblick wichtiger – Chief Coughlin gab mir die Befugnis, jeden für die Special Operations auszuwählen, den ich haben will. Ich riß mir soeben zwei der besten Kriminalbeamten der Mordkommission unter den Nagel, was deren Chef, Chief Lowenstein, und mindestens einen der beiden Beamten sehr verärgerte; mit dem anderen habe ich noch
nicht gesprochen. Wenn wir den Wagen abgeholt haben, fahren wir zum Präsidium und holen einen Detective namens Jason Washington junior ab. Ich halte ihn für den besten Beamten der Mordkommission. Der Wagen, den wir abholen, ist für ihn bestimmt. Ich will, daß Wa shington alle bisherigen Opfer befragt. Er ist verdammt gut darin. Vielleicht kann er etwas aus ihnen herausholen, das den anderen Jungs entgangen ist. Vielleicht finden wir den Vergewaltiger auf diese Weise. Und vielleicht möchte Jason Washington mit Ihrer Schwester reden.« Payne schwieg. Fünfunddreißig Minuten später folgte Matt Payne am Steuer eines hellgrünen Ford LTD Peter Wohls hellblauem LTD auf den Parkplatz hinter dem Polizeipräsidium. Wohl stoppte in der Nähe des Hinterein gangs und stieg aus. »Bleiben Sie im Wagen«, sagte Wohl. »Ich bin gleich zurück.« Er betrat das Gebäude, wartete in der Schlange hinter den Zivili sten, die mit dem Corporal sprachen, der hinter dem Schalter mit dem Panzerglas saß, und zeigte seinen Ausweis, als er an der Reihe war. »Oh, Inspector, ich kenne Sie«, sagte der Corporal, ohne den Ausweis anzusehen. Jetzt steht es vierzehn zu sieben, dachte Peter. Als sich die Tür mit einem Summton öffnete, schob er sie auf und betrat die Halle. Zwei Männer erhoben sich von Stühlen. Einer war schwarz, sehr groß, schwer und gut gekleidet. Man hätte ihn eher für einen erfolg reichen Geschäftsmann gehalten als für einen Polizisten. Oder für einen schwarzen Leichenbestatter, dachte Peter, und er fragte sich, ob ihn das zu einem Rassisten machte. Nein, sagte er sich dann. Jason Washington war tief schwarz, und in seinem teuren, gutsitzenden Anzug wirkte er wie ein Leichenbestatter. Der andere Mann war weiß, schmächtig, und er sah müde und mit genommen aus. Seine Kleidung war verknittert und anscheinend vor langer, langer Zeit bei einem Schlußverkauf erworben worden. Sein Name war Anthony C. ›Tony‹ Harris, und er war nach Wohls Ein schätzung der zweitbeste Detective der Mordkommission. Keiner der beiden lächelte, als Wohl zu ihnen ging. »Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, sagte Wohl. »Ich machte einen Abstecher, um Ihnen einen Wagen zu besorgen.« »Inspector«, sagte Tony Harris, »bevor dies zu weit geht, können wir darüber reden?« »Haben Sie schon zu Mittag gegessen?« fragte Peter. Beide schüttelten den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagte Peter. »Ja, Tony, wir können darüber beim Mittagessen reden. Ich gebe es sogar aus.« »Das wüßte ich zu schätzen, Inspector«, sagte Tony Harris. »Wo möchten Sie essen? Ist das Melrose Diner okay?« Keiner der beiden antwortete. »Jason, ich weiß nicht, ob der Junge, der Ihren Wagen fährt, weiß, wo das Melrose ist«, sagte Wohl. »Möchten Sie mit ihm fahren und ihm den Weg zeigen? Ich nehme Tony mit.« »Wo ist der Wagen?« fragte Jason Washington. Es waren seine ersten Worte bei dieser Begegnung. »Hinter meinem«, sagte Wohl. »Am Bordstein hinter dem Präsidi um.« Jason Washington marschierte wortlos aus der Halle. Der ist wirklich sauer, dachte Peter und fragte sich wieder, ob er das Richtige tat. Und dann stieg Zorn in ihm auf. Zum Teufel mit ihm! Er ist ein Cop. Cops tun, was man ihnen sagt! Mich hat auch keiner gefragt, ob ich diesen gottverdammten Job haben will! »Tony«, sagte Peter Wohl, »abgesehen davon, daß Sie soviel Überstunden bei der Special Operations Division machen können wie bei der Mordkommission, werden wir beim Mittagessen nur bespre chen, wie ich Ihre Arbeit haben will, nicht ob Sie Ihnen gefällt oder nicht.« Tony Harris schaute ihn an, als wollte er etwas erwidern, aber er sagte nichts.
12
Officer Matt Payne hatte große Schwierigkeiten, Staff Inspector Pe ter Wohls Anweisungen auszuführen: »Rufen Sie im Büro an, Payne; sagen Sie, wo wir sind. Und fragen Sie, ob sich irgend etwas bei der Entführung ergeben hat.« Als er in der Halle des Melrose Diner das dicke Telefonbuch von Philadelphia unter dem Münzfernsprecher zu Rate zog, sagte er sich, daß er zum ersten Mal bei der Polizei anrief. Und das Telefonbuch war nicht sehr hilfreich. Unter POLICE fand er POLICE ATHLETIC LEAGUE. Ein Dutzend Adressen und Telefonnummern folgten, aber keine hatte etwas mit dem zu tun, was er finden wollte. Unter POLICE DEPARTMENT war aufgeführt: Stoppe ein Verbrechen 911 Oder rette ein Leben 911 und beides war nicht das, was er suchte. Weiter unten war aufgeführt: Andere polizeiliche Hilfe Verwaltungsbüros 7 & Race Polizeiakademie
231-3131 686-1776 686-1776
Matt versuchte es zuerst mit der Nummer ›Andere polizeiliche Hil fe‹. »Polizeinotruf«, meldete sich eine männliche Stimme nach dem fünften Klingeln. »Kann ich Ihnen helfen?« »Verzeihung, falsch verbunden«, sagte Matt und hängte den Hörer ein. Er fluchte leise und fuhr mit dem Finger wieder an den Telefon nummern entlang. Mit ›Verwaltungsbüros 7 & Race‹ war offenbar das Rundhaus gemeint. Aber die Nummer war dieselbe wie die für die Polizeiakademie, die sich auf der anderen Seite der Stadt befand. Er warf einen Dime in den Schlitz und wählte 686-1776. »City of Philadelphia«, meldete sich eine gelangweilt klingende weibliche Stimme nach dem neunten Klingeln. »Darf ich bitte mit der Special Operations Division sprechen?« »Was?« »Special Operations der Polizei, bitte.« »Einen Moment, bitte«, erwiderte die Frau, und Matt atmete er leichtert auf. Aber er hörte kein Klingeln, und nach einer langen Pause meldete sich die Frau wieder. »Ich habe so was nicht auf der Liste, Sir«, sagte sie, und die Leitung war tot. Er suchte bei seinem Münzgeld nach einem weiteren Dime, fand jedoch keinen. Aber er hatte einen Quarter, und den warf er in den Schlitz und wählte wieder 686-1776. »City of Philadelphia«, meldete sich eine andere gelangweilt klin gende Frauenstimme nach dem elften Klingeln. »Bitte Highway Patrol Headquarters«, sagte Matt. »Ist dies ein Notfall, Sir?« »Nein.« »Einen Augenblick, bitte.« Jetzt ertönte ein Besetztzeichen. »Die Nummer ist besetzt«, sagte die Telefonistin. »Möchten Sie dranbleiben?« »Bitte.« »Was?« »Ich bleibe dran.« »Danke, Sir«, sagte sie, und die Leitung war tot. Er warf seine letz te Fünfundzwanzig-Cent-Münze in den Schlitz, wählte wieder 686 1776 und fragte eine dritte Frau, die sich mit gelangweilt klingender Stimme meldete, nach der Highway Patrol. »Special Operations, Sergeant Frizell.« »Hier spricht Officer Payne, Sergeant«, sagt Matt. Es wurde ihm klar, daß er sich zum erstenmal als ›Officer Payne‹ bezeichnete. Er fand, daß es ziemlich gut klang.
»Wollen Sie sich freiwillig melden, Payne?« »Wie bitte?« »Ich fragte, ob Sie sich freiwillig melden wollen.« »Nein, das will ich nicht«, sagte Matt. »Was kann ich dann für Sie tun?« »Inspector Wohl beauftragte mich, anzurufen«, sagte Matt. »Wir sind im Melrose Diner.« »Oh, Sie sind sein Fahrer. Verzeihung, ich hatte den Namen ver gessen.« »Die Nummer hier ist 670-5656«, sagte Matt. »Habe ich notiert. Sagte er, wann er zurückkommt?« »Nein. Aber ich soll fragen, ob sich etwas im Fall der entführten Frau ergeben hat.« »Nicht das geringste.« »Danke«, sagte Matt. »Auf Wiedersehen.« »Was?« »Ich sagte auf Wiedersehen.« »Ja«, erwiderte Sergeant Frizell, und die Leitung war tot. Als Matt in den Speiseraum des Melrose Diner ging, schaute er sich um, bis er Staff Inspector Wohl und die anderen entdeckte. Sie saßen an einem Tisch in einer Nische, und eine Kellnerin servierte Getränke. »Hat sich was getan?« fragte Inspector Wohl. »Nein, Sir.« »Verdammt«, sagte Wohl. »Was trinken Sie?« Das Trinken von Alkoholischem im Dienst war offenbar nicht abso lut verboten, wie Matt geglaubt hatte, nachdem er Fernsehkrimis ge sehen hatte. Vor Wohl und Washington standen Gläser mit Whisky on the rocks, und Harris hatte ein höheres Glas mit klarer Flüssigkeit und einer Zitronenscheibe auf dem Rand vor sich stehen; vermutlich ein Wodka tonic. »Haben Sie Ale?« fragte Matt die Kellnerin. Sie zählte auf, welches Ale das Restaurant führte, und Matt wählte eines aus. »Möchten Sie auch essen?« fragte die Kellnerin. »Ich habe bereits die Bestellungen aufgenommen.« Matt nahm eine Speisekarte, warf einen schnellen Blick darauf und wählte einen Krabbensalat. Aus dem Blick von Detective Washington – eine Mischung aus Neugier und milder Verachtung – schloß Matt, daß Ale und Krabben salat nicht die richtige Bestellung waren. Als die Kellnerin fort war, hob Wohl sein Glas und sagte mit ge
spielter Feierlichkeit: »Ich möchte diesen freudigen Anlaß nutzen, um Sie an Bord willkommen zu heißen, Männer.« »Scheiße«, sagte Jason Washington, ohne zu lächeln. »Jason, ich brauche Sie«, sagte Wohl ernst. »Oh, ich weiß, warum Sie das getan haben«, sagte Washington. »Aber das heißt nicht, daß ich es wie Sie für nötig halte oder daß es mir gefällt.« Wohl setzte zu einer Erwiderung an, doch er besann sich anders. »Ich sagte Tony im Präsidium, Jason, daß Sie soviel bezahlte Überstunden machen können, wie Sie wünschen.« »Ich hätte Sie ersäufen sollen, als Sie Sergeant in der Mord kommission waren«, sagte Washington. »Inspector, Sie wissen, was die Mordkommission ist.« »Ja, und ich weiß, daß Sie beide die besten Kriminalbeamten der Mordkommission sind. Die besten waren.« »Wenn er damit fertig ist, die Scheiße zu schaufeln, Tony«, sagte Washington, »dann geben Sie mir die Schaufel. Die Scheiße steht mir fast bis zum Hals, und ich möchte nicht ersticken.« Harris stieß einen Grunzlaut aus. »Inspector, Sie wollen Ihren Arsch schützen, und Sie benutzen To ny und mich dafür«, sagte Washington. »Schuldig, okay?« erwiderte Wohl. »Können wir jetzt zur Sache kommen?« »Warum nicht, nachdem sozusagen die Luft zwischen uns gerei nigt ist?« sagte Washington. »Special Operations hat die Aufgabe, den Vergewaltiger von Nordwest-Philadelphia zu schnappen«, sagte Wohl. »Das kam vom Commissioner, und ich denke, er befolgte Anweisungen von oben.« Jason Washington hob die Augenbrauen. »Dies ist die Akte«, sagte Wohl. »Ich habe sie mir von der Kripo Nordwest ausgeliehen.« Sie wurden unterbrochen durch die Kellnerin, die eine Flasche Ale und ein Glas vor Matt hinstellte, und dann Shrimpscocktail für die drei anderen, die am Tisch saßen. »Ich will, daß der Job wie ein Mordfall behandelt wird«, sagte Wohl. »Es ist kein Mordfall«, wandte Washington ein. »Noch nicht. Oder?« »Noch nicht«, sagte Wohl. Tony Harris, der zusammengesunken dagesessen hatte, neigte sich nun vor und zog den Aktenhefter an sich. Er legte ihn neben sei nen Teller. Dann spießte er einen Shrimp mit der Gabel auf, tauchte ihn in die Cocktailsoße und aß. Dabei begann er die Akte zu lesen.
»Wer hatte den Job bei der Kripo Nordwest?« fragte Jason Wa shington. »Wer gerade auf der Liste dran war«, sagte Wohl. »Aber angefan gen hat es mit dem Fall Flannery…« »Ist das die Frau, die entführt wurde?« unterbrach Washington. »Die davor. Die mit gefesselten Händen nackt im Fairmount Park ausgesetzt wurde.« Washington nickte, kaute einen Shrimp und wartete darauf, daß Wohl weitersprach. »Dick Hemmings erhielt den Fall Flannery«, sagte Wohl. »Dann übertrug Teddy Spanner ihm den ganzen Job, als ziemlich sicher war, daß es sich um ein und denselben Täter handelt.« »Dick Hemmings ist ein guter Cop«, sagte Washington. »Was kön nen wir Ihrer Meinung nach tun, was er nicht bereits getan hat?« Dann hob er sein jetzt leeres Whiskyglas hoch über den Kopf. Als er die Aufmerksamkeit der Kellnerin gewonnen hatte, machte er mit der anderen Hand eine kreisende Bewegung und bestellte eine Run de. Matt trank von seinem Ale. Er verfolgte gespannt das Gespräch, das er faszinierend fand. Er verstand nicht alles, aber er sagte sich, daß er besser keine Fragen stellte. Washington hatte ihn bereits spü ren lassen, daß er nicht viel von ihm hielt, und ein weiterer Beweis von Unwissenheit würde die Dinge nur verschlimmern. »Wir brauchen folgendes: als erstes eine gute Beschreibung des Täters. Wenn wir die nicht haben, brauchen wir ein Profil. Ich habe daran gedacht, mit einem Psychiater zu sprechen…« »Sparen Sie sich die Zeit«, sagte Tony Harris. »Ich kann Ihnen sa gen, was ein Psychiater Ihnen erzählen wird. Wir haben es hier mit einem Kranken zu tun. Es befriedigt ihn, Frauen zu demütigen. Er haßt seine Mutter. Vielleicht trieb er es mit seiner Mutter, oder sie brachte Kerle nach Hause und schlief mit ihnen. Irgendwas in dieser Art. Jedenfalls haßt er sie und will es ihr heimzahlen, indem er sich an diesen Frauen vergeht. Keine Nutten, wohlgemerkt. Nette, hüb sche Frauen der Mittelschicht. Das würden Sie von einem Psychiater zu hören bekommen.« Er schloß den Aktenhefter und schob ihn über den Tisch zu Jason Washington. »Jason kann sehr gut mit Leuten umgehen«, sagte Wohl. »Ich hal te es für eine gute Idee, daß er noch einmal alle Opfer befragt.« Wenn Jason Washington das gehört hatte, so zeigte er keine Anzei chen darauf. Er vertiefte sich in die Akte. »Ich wette zehn zu eins, wenn wir diesen Dreckskerl schließlich
schnappen, stellt sich heraus, daß er bei einem Ihrer Psychiater in Behandlung war, Inspector«, sagte Tony Harris, »und daß dieser Dreckskerl die Zeitungen gelesen hat und verdammt genau weiß, daß sein Hundert-Dollar-pro-Stunde-Patient der Scheißer ist, der das ge tan hat. Aber er ruft uns nicht an. Die Schweigepflicht ist ihm heilig. Besonders wenn der Patient hundert Dollar pro Stunde ausspuckt, und das dreimal pro Woche.« »Ich weiß nicht, wie weit Hemmings oder sonst jemand aktenkun dige Sittlichkeitsverbrecher überprüft hat«, sagte Wohl. »Da werde ich anfangen«, sagte Harris. »Diese Scheißkerle begin nen nicht gleich in großem Stil. Irgendwo gibt es eine Akte über sie und Vorstrafen. Und wenn sie nur mal von ‘ner Nutte angezeigt wur de, weil sie perverse Spiele wollten oder nicht zahlten.« Das sagte er, als die Kellnerin die bestellte Runde brachte. Sie schaute ihn sonderbar an. »Ich werde die meiste Zeit dieser Woche und der nächsten vor Ge richt aussagen müssen«, sagte Washington, ohne von der Akte auf zublicken. »Das dachte ich mir«, sagte Wohl. »Wie wäre es, wenn Sie die Schicht von sechzehn Uhr bis Mitternacht übernehmen? Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Leute, die man befragen will, in den Abendstunden leichter zu erreichen sind.« Washington schnaubte, aber die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Lippen. Er wußte, daß Wohls Vorschlag nichts mit leichter erreichbaren Zeugen zu tun hatte. Alle Zeit, die er im Gericht ver brachte, würde so zu Überstunden werden. »Ich muß auch oft im Gericht sein«, sagte Tony Harris. »Bekomme ich auch diese Schicht?« »Ja. Ich bin der festen Überzeugung, daß Sie während der Abend stunden ihre Aufgaben leichter bewältigen können.« Peter Wohl war in der Mordkommission gewesen und wußte, daß die Kriminalbeamten der Mordkommission wegen der bezahlten Überstunden die am besten bezahlten Beamten der Polizei waren. Washington und Harris verdienten mit dem Geld für die Überstunden mehr als ein Chief Inspector. Das war der hauptsächliche, aber nicht der einzige Grund, weshalb sie so unglücklich über ihre Versetzung zur Special Operations Division waren; sie dachten, sie würden finan zielle Einbußen erleiden. Das führte für ihn zu dem, was Sergeant Frizell als ›Motiva tionsproblem des Personals‹ bezeichnen würde: Wenn Washington und Harris nicht für ihn arbeiten wollten, dann brauchten sie das nicht zu tun. Die einzige Waffe, die er als Vorgesetzter hatte – kurz vor
einer Disziplinarstrafe, und Washington und Harris waren zu schlau, um ihm die Munition dafür zu liefern – , bestand darin, die Männer dorthin zurückzuschicken, woher sie gekommen waren. Worüber Washington oder Harris überhaupt nicht unglücklich sein würden. Er hatte einen etwas unbescheidenen Gedanken: Wenn sie mich nicht gut leiden würden, daß sie bereit sind, mir und Special Operati ons eine Chance zu geben, dann hätten sie mir schon zwanzig Grün de liefern können, damit sie zurückversetzt werden. »Ist die Flannery noch im Krankenhaus?« fragte Jason Washing ton. »Ich weiß es nicht«, antwortete Wohl. »Sie sah mehr von dem Kerl als alle anderen«, sagte Washington und schlug den Aktenhefter zu. »Kann ich die Akte behalten?« »Nein«, sagte Wohl. »Aber ich besorge Ihnen beiden eine Kopie. Payne, wenn wir ins Büro zurückkehren, machen Sie vier Kopien.« »Jawohl, Sir.« »Aah, da kommt mein Essen!« sagte Washington. Die Kellnerin servierte zwei Steaks, ein Filet Mignon (für Washing ton) und den Krabbensalat für Payne. Wenn ich ein Steak bestellt hätte, dachte Matt, dann hätten sie viel leicht Toast mit Schinken, Salatblatt und Tomate bestellt. Während des Essens sprach keiner ein Wort, bis Washington Mes ser und Gabel auf den leeren Teller legte und sich den Mund mit der Serviette abtupfte. »Wir arbeiten für Sie, richtig?«, fragte er. »Ich brauche nicht je desmal mit Sabara zu sprechen, wenn ich einen Bleistift anspitzen will, oder?« »Mike Sabara ist der stellvertretende Chef«, sagte Wohl. »Aber wir arbeiten für Sie, oder?« »Mike ist der stellvertretende Chef«, wiederholte Wohl, »aber ich werde ihm sagen, daß Sie beide nur für den Fall Vergewaltiger zu ständig sind, für nichts anderes. Was haben Sie gegen Sabara?« »Er ist einer, der sich ständig Sorgen macht«, sagte Washington. »Ein Pessimist und Zweifler. Solche Leute machen mich nervös.« Wohl lachte. Washington schaute Matt Payne an. »Sind Sie empfänglich für ei nen kleinen Rat, Sohn?« »Jawohl, Sir«, sagte Payne. »›Jawohl, Sir‹«, ahmte Harris ihn spöttisch nach. »Sie haben ein schönes Jackett«, sagte Washington, bedachte Harris mit einem bösen Blick und wandte sich wieder Matt zu. »Von Tripler?«
»Ja«, sage Matt überrascht. »Das ist tatsächlich von Tripler.« »Wenn Sie ein Schulterholster tragen, werden Sie das Jackett ab ändern lassen müssen«, sagte Washington. »Es muß unter dem lin ken Arm weiter sein. Jetzt spannt sich der Stoff, und Sie sehen aus wie ein Mann, der ein Schulterholster mit Waffe trägt.« Matt lächelte unsicher und blickte zu Peter Wohl, der ihn angrinste. »Hören Sie auf ihn, Payne«, sagte Wohl. »Er ist der anerkannte Bekleidungsexperte der Polizei von Philly.« »Die Zivilkleidung dient dem Zweck, nicht wie ein Cop aus zusehen«, sagte Washington. »Im Sommer sollten Sie sich einen stupsnasigen Revolver kaufen und in einem Wadenholster tragen. Nur wenige Leute schauen sich Ihre Waden an, um zu sehen, ob Sie eine Waffe tragen, und selbst wenn sie das tun, sehen sie herzlich wenig unter dem Hosenbein, es sei denn, Sie tragen eine komische Röhrenhose wie Harris.« Wohl lachte. Washington stand auf und reichte Wohl die Hand. »Danke für das Mittagessen. Ich melde mich sofort, wenn ich et was herausfinde.« »Es war mir ein Vergnügen«, sagte Wohl. »Jason, Sie haben im Wagen das J-Band, und ich weiß nicht, was noch. Es ist mit der Funkabteilung abgesprochen, daß Sie ebenfalls das Frequenzband von Kripo und Highway Patrol erhalten. Ich meine, wenn Sie den Wa gen zur Werkstatt fahren, wird man die Arbeit sofort erledigen. Tony, haben Sie das auch gehört?« »Wann bekomme ich einen Wagen?« fragte Harris. »Sobald Jason Sie zum Fuhrpark fährt und Sie sich einen abho len.« Harris stieß einen Grunzlaut aus. »Sabara wird sich keine Sorgen machen, wenn ich den Wagen über Nacht mit nach Hause nehme?« fragte Washington. »Bestimmt nicht«, sagte Wohl, »und jetzt hören Sie auf, sich Sor gen zu machen. Sie und Harris werden die Stars unserer kleinen Operation sein.« »Da kommt wieder ‘ne Ladung Pferdemist«, sagte Washington und ging. »War nett, Sie kennenzulernen, Payne«, sagte Harris und gab ihm die Hand. »Wiedersehen.« Als sie das Restaurant verlassen hatten, hob Wohl seine Kaf feetasse, um die Kellnerin auf sich aufmerksam zu machen, und als sie die Tasse aus einer Kanne noch einmal gefüllt hatte, wandte er sich an Matt.
»Kommen wir jetzt zu Ihnen, Officer Payne.« »Sir?« »Es ist eine allgemein bekannte Tatsache bei der Polizei, daß ein Neuling ein paar Jahre lang in einem Revier arbeitet, bevor er sonst etwas macht. Bei Ihre Körpergröße werden Sie im allgemeinen zu Dienst mit einem Wagon eingeteilt. Sie wissen, was ein Wagon ist?« »Jawohl, Sir, ein paddy wagon.« »Passen Sie auf, was Sie sagen«, mahnte Wohl. »Für einige Ihrer Kollegen irischer Abstammung ist ein Paddy Wagon eine abschätzige Bezeichnung, die auf die Zeit zurückgeht, in der Iren, als ›Paddys‹ bezeichnet, mit einem von Pferden gezogenen Wagen ins Kittchen gebracht wurden.« »Sir, ich bin ein halber Ire.« »Halb gibt es nicht. Man kann auch nicht halb schwanger sein.« »Jawohl, Sir«, sagte Matt lächelnd. »Ich werde daran denken.« »Wie ich schon sagte, breitschultrige junge Neulinge wie Sie fan gen Ihre Laufbahn im allgemeinen in einem Distrikt an und fahren ein paar Jahre einen Gefangenenwagen. So gewinnen Sie praktische Erfahrung, und man kann diesen Job nur durch seine Ausübung rich tig lernen. Nach ein paar Jahren werden die Anfänger dann auf Strei fe geschickt. Es gibt natürlich Ausnahmen. Charley McFadden und Jesus Martinez gingen gleich von der Akademie zum Rauschgiftde zernat und arbeiteten in Zivil undercover. Ihre Gesichter waren in der Drogenszene unbekannt, und so konnten sie in entsprechender Auf machung als Dealer oder Junkies durchgehen. Aber das ist die Aus nahme, nicht die Regel.« »Jawohl, Sir.« »Da wir von unseren irisch-amerikanischen Freunden sprachen, wann haben Sie Chief Coughlin zum letztenmal gesehen?« »Ich aß mit ihm in der vergangenen Woche zu Abend«, sagte Matt. »Würde es Sie überraschen, zu erfahren, daß Chief Coughlin Sie zur Special Operations Division geschickt hat?« »Chief Matdorf sagte mir, Chief Coughlin hat arrangiert, daß ich zur Highway Patrol komme«, sagte Matt, »aber Chief Coughlin erwähnte bei mir nichts davon.« »Er informierte mich, daß er Sie zu mir schickt«, sagte Wohl, »sag te mir jedoch nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll.« Die Frage überraschte Matt; er zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich bezweifle, daß Chief Coughlin Sie auf ein Motorrad setzen will«, sagte Wohl. »Und da ich, jedenfalls im Moment, nicht an irgendwel che Undercover-Operationen denke, weiß ich wirklich nicht, was ich mit Ihnen machen soll. Können Sie Schreibmaschine schreiben?«
»Jawohl, Sir, das kann ich.« »Nun, ich bezweifle auch, daß Chief Coughlin Sie zu einem Schreiber machen will«, sagte Wohl, »aber wir müssen eine Menge Papierkram bewältigen, um Special Operations schnell in Gang zu bringen. Mehr, als Sergeant Frizell schaffen kann. Jedenfalls solange er auch Dinge für mich erledigt. Mir kam in den Sinn, daß Sie für mich arbeiten könnten, sozusagen als Ordonnanz, bis ich dies klären kann. Wie klingt das für Sie?« »Das klingt prima, Sir.« »Und ich denke, in Zivil, jedenfalls fürs erste.« Er hielt nach der Kellnerin Ausschau, fand Ihre Aufmerksamkeit und bat mit einer Geste um die Rechnung. Dann wandte er sich wieder Matt zu. »Jason Washington hat recht. Sie sollten sich einen stupsnasigen Revolver und ein Wadenholster besorgen. Sie werden das selbst bezahlen müssen, aber in Colosi mo’s Gun Store erhalten Sie als Polizist Rabatt. Wissen Sie, wo der Laden ist?« »Nein, Sir.« »Spring Garden 900«, erklärte Wohl. »Sir, ich dachte, man muß sich für einen stupsnasigen Revolver qualifizieren«, sagte Matt. »Wie waren Sie auf der Akademie beim Schießen?« »Nicht schlecht, denke ich«, sagte Matt. »Sogar gut. Und in Quan tico war ich mit dem .45er sehr gut.« »Ja. Sie erzählten mir, daß Sie in Quantico waren, als wir uns am Abend vor Dutch Moffitts Beerdigung sahen. Sie wollten Marineinfan terist werden, nicht wahr? Und dann bestanden Sie nicht die ärztliche Untersuchung.« »Ja, Sir.« »Wurden Sie deshalb Polizist? Um zu beweisen, daß Sie ein gan zer Mann sind?« »Das sagt meine Schwester. Sie meint, ich war psychologisch ka striert, als ich bei der ärztlichen Untersuchung durchrasselte, und will meine Männlichkeit beweisen.« »Ihre Schwester, die Psychiaterin?« »Ja, Sir.« »Hatten Sie den Eindruck, daß Tony Harris nicht besonders viel von Psychiatern hält?« fragte Wohl. »Jawohl, Sir, das war ziemlich deutlich.« »Oder wurden Sie Polizist, weil das mit Dutch passierte? Und/oder Ihrem Vater?« »Es hat vielleicht etwas damit zu tun«, sagte Matt. »Es war vermut
lich impulsiv. Aber was ich bis jetzt gesehen habe…« »Was?« »Es wird faszinierend sein«, sagte Matt. »Sie haben noch nicht genug gesehen, um dieses Urteil fällen zu können«, sagte Wohl. »Sie haben nur die Polizeiakademie gesehen.« »Und Washington und Harris«, wandte Matt ein. »Sie sind noch weit davon entfernt, auch nur annähernd an diese beiden heranzukommen. Es heißt, daß Kriminalbeamte die besten bei der Polizei und Kriminalbeamte der Mordkommission die besten der Kriminalbeamten sind. Nach meiner Einschätzung sind Washing ton und Harris die beiden besten Detectives der Mordkommission. Aber das löst einen Gedanken aus: Es wäre eine gute Idee, wenn Sie sich mit jemandem herumtreiben, der seinen Job versteht. Ich werde mit McFadden und Martinez reden und ihnen sagen, sie sollen Ihnen die Kniffe beibringen. Das würde allerdings eine Menge Nachtarbeit und Überstunden bedeuten. Was halten Sie von Überstunden?« »Ich habe wirklich nichts Besseres zu tun«, sagte Matt ehrlich. »Es würde mir gefallen.« »In den Augen des durchschnittlichen Polizisten leuchtet es auf, wenn ein Vorgesetzter eine Menge Überstunden erwähnt«, sagte Wohl. »Sir?« Matt blickte ihn verwirrt an. Die Kellnerin brachte die Rechnung auf einem kleinen Pla stiktablett. Matt mußte mit der Antwort warten, bis Wohl die Rech nung um das Trinkgeld erhöhte und der Kellnerin dann seine Kredit karte gab. »Überstunden bedeuten zusätzliches Geld«, sagte Wohl. »Wa shington und Harris verdienen soviel Geld wie ich. Vermutlich mehr. Leitende Beamte im Polizeidienst werden für Überstunden nicht be zahlt, erhalten aber immerhin als Ausgleich freie Zeit. Für die meisten Polizisten sind bezahlte Überstunden sehr wichtig.« »Ich wunderte mich, als Sie sagten, sie könnten soviel Über stunden machen, wie sie wollen«, sagte Matt. »Sie dachten nicht an das Geld, oder? Geld ist nicht aus schlaggebend für Sie, nicht wahr? Das sagten Sie an dem Abend, an dem wir uns in der Hotelbar unterhielten.« »Aber das hält mich nicht davon ab, meine Arbeit zu tun«, sagte Matt. »Das glaube ich«, sagte Wohl. »Sie sollten sich diesen Punkt je doch merken.« »Jawohl, Sir.« »Was den stupsnasigen Revolver anbetrifft«, sagte Wohl, »bezwei
fle ich, daß Ihnen jemand Schwierigkeiten machen wird, aber wenn, kommt der Papierkram zu mir, und ich werde das regeln. Aber kaufen Sie keinen Smith & Wesson Undercover und keinen Colt mit einer Hülle über dem Hahn.« »Sir?« »Ein Undercover hat eine integrierte Hülle über dem Hahn; das soll verhindern, daß die Waffe sich an Ihrer Kleidung verhakt, sollten Sie sie jemals schnell ziehen müssen. Und es werden auch Hüllen für Colts verkauft. Das Problem ist, daß man keine Waffe mit Hülle in einem Wadenholster tragen kann.« »Ich verstehe, Sir.« »Die Chancen, daß Sie jemals Ihren Revolver benutzen müssen, und ich hoffe, das hat man Ihnen auf der Akademie gesagt, stehen ungefähr eins zu tausend.« Peter Wohl lächelte Matt Payne an. »Aber wie heißt es bei den Pfadfindern: Allzeit bereit!«
Als Peter Wohl das ehemalige Büro von Mike Sabara betrat, das jetzt seines war, fand er es verwaist vor. Alle Fotos und Gedenktafeln waren von den Wänden verschwunden wie die Pokale von Schießund Bowlingwettbewerben, die Sabara auf Aktenschränken ausge stellt hatte. Wohl ging zum Schreibtisch und zog die Schubladen auf. Sie waren leer. Er ging ins Vorzimmer. »Was ist mit Captain Sabara los?« fragte er Sergeant Frizell. »Er und Captain Pekach sind dort eingezogen«, sagte Frizell und wies auf eine Tür. Wohl ging zu der Tür und öffnete sie. Er hatte bis jetzt nichts von diesem Raum gewußt, und als er ihn jetzt sah, erkannte er, daß er zu klein für zwei Captains war. Einen Augenblick lang fühlte er sich un behaglich, weil er das relativ große Büro für sich allein hatte. Er hatte kein Büro gehabt, als er einfach einer der Staff Inspectors gewesen war. Er hatte ein Großraumbüro mit all den anderen geteilt, und er hatte keinen Sergeant für seine Schreibarbeiten gehabt. In meinem neuen Job steht mir das wohl zu, dachte er. Aber es mißfiel ihm, daß die beiden Captains ein so kleines Büro teilen muß ten. »Wir werden eine bessere Lösung finden müssen«, sagte er zu Sergeant Frizell. »Haben Sie bei Ihren Planungen das Thema Räum lichkeiten in Betracht gezogen?« »Raum ist knapp, Inspector.« »Das ist nicht meine Frage.«
»Es gibt ein Gebäude einer Grundschule an der Frankford und Ca stor«, sagte Frizell. »Wird nicht benutzt. Unsere Verwaltung hat mit der Schulbehörde gesprochen.« »Und?« »Es ist ein Schulgebäude«, sagte Frizell. »Es gibt keine Arrest zellen, nur Klassenzimmer. Nicht mal genug Parkplätze.« »Und hier ist kein Platz für fünfzig, vielleicht hundert oder vielleicht zweihundert Cops«, sagte Wohl. »Finden Sie heraus, was gesagt wurde und von wem, wie wir all die Leute unterbringen.« »Jawohl, Sir«, sagte Frizell. »Es wurde darüber diskutiert, Special Operations – wenn sie mit den Anti Crime Teams so groß wird – in der Memorial Hall unterzubringen.« »Das wäre schön. Halten Sie die Ohren offen, und informieren Sie mich, wenn Sie etwas in dieser Sache hören.« »Jawohl, Sir«, sagte Frizell. »Inspector, was soll ich damit ma chen?« Er hielt die Akten der Vergewaltigungsfälle hoch, die Wohl von der Kripo Nordwest ausgeliehen hatte. »Ich habe Payne den Auftrag gegeben, vier Kopien zu machen.« »Unser Kopiergerät ist kaputt.« »Wie wäre es mit dem des Distrikts?« »Die sind nicht sehr erfreut, wenn wir ihres benutzen«, sagte Fri zell. »Sie genehmigen es, aber sie lassen uns warten.« Ich will verdammt sein, wenn ich den Captain des Distrikts aufsu che und mit ihm darüber diskutiere, welche Kopien Vorrang haben. »Sergeant«, sagte Wohl, und der Arger war ihm anzuhören, »ganz oben auf der Liste Ihrer Prioritäten steht die Beschaffung eines neuen Kopiergeräts. Rufen Sie Deputy Commissioner Whelan an und erklä ren Sie ihm, ich habe gesagt, daß wir dringend eins brauchen.« »Jawohl, Sir«, sagte Sergeant Frizell. »Und was mache ich unter dessen mit diesen Akten?« »Payne, kopieren Sie das irgendwo. Sie sind ein heller junger Mann und werden schon irgendwo ein Kopiergerät finden.« »Jawohl, Sir«, sagte Matt. »Da ist noch etwas, Inspector.« Sergeant Frizell überreichte Wohl ein Telex. ANWEISUNG 0698 06/30/73 VOM COMMISSIONER
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- CITY OF PHILADELPHIA –
- POLICE DEPARTMENT -
FOLGENDES IST BEI ANWESENHEITSAPPELL
BEKANNTZUMACHEN: MIT SOFORTIGER WIRKUNG
ERHALTEN ALLE FAHRZEUGE DER SPECIAL OPERATIONS DIVISION (MIT AUSNAHME DER HIGHWAY PATROL) DIE FUNKRUFZEICHEN W-l BIS W-200 UND WERDEN DEN FUNKNAMEN ›WILLIAM‹ BENUTZEN Allmächtiger! Ich bin gerade erst hier, und man verändert schon Dinge. ›William‹? Das ist blöde. Warum nicht ›Whiskey‹? ›Whiskey‹ würde offenbar nicht gehen. Und ›Wein‹ und ›Weiber‹ paßt wohl auch nicht. Aber ›William‹? In zwei oder drei Tagen wird es ›Willy‹ sein, und ich erhalte eine Akten notiz, in der ich scharf darauf hingewiesen werde, daß meine Männer sich an den offiziellen Funknamen und an die Funkdisziplin zu halten haben. »Haben Sie das bekanntgemacht« fragte Wohl Sergeant Frizell. »Jawohl, Sir.« Wohl gab das Telex in Gedanken Matt Payne. Dann sah er Charley McFadden und Jesus Martinez ins Vorzimmer kommen. »Warten Sie eine Minute, Payne«, sagte er und ging ins Vor zimmer. »Guten Tag, Sir«, sagte Martinez. »Ich hoffe, Sie sind hier, um zu melden, daß Sie Miss Peebles be sucht haben und die Lady jetzt die Polizei und alles, was wir für sie tun, liebt«, sagte Wohl. »Ich weiß nicht, ob sie uns liebt oder nicht«, sagte McFadden lä chelnd. »Aber sie servierte uns Kaffee.« »Was war dort los?« Wohl forderte die beiden mit einer Geste auf, in sein Büro zu gehen, und dann fügte er hinzu: »Sie auch, Matt. Ich möchte Sie dabeihaben.« Wohl setzte sich in den Sessel und forderte Martinez, McFadden und Payne auf, sich auf die Couch zu setzen. »Also, wie lief es? Wie steht es mit Miss Peebles?« »Sie ist in Ordnung«, sagte McFadden. »Ein bißchen merkwürdig. Reich. Und sie hat Angst.« »Erklären Sie mir all das«, sagte Wohl. »Hat Ihnen Captain Sabara gesagt, daß sie Freunde an hohen Stellen hat?« »Jawohl, Sir«, sagte Martinez. »Nun – möchten Sie hören, was ich denke, Inspector?« »Das wäre schön«, sagte Wohl trocken. »Sie ist eine nette Lady, die einen schwulen Bruder hat«, sagte Martinez. »Ich bin mir nicht darüber im klaren, ob sie weiß, daß ihr Bruder schwul ist, sie ist so naiv. Nett, aber naiv, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich bin überzeugt, daß Sie mir sagen werden, was die Homose xualität Ihres Bruders mit dem Diebstahl zu tun hat. Mit den Diebstäh len.« »Ihr Bruder brachte einen Freund mit ins Haus«, sagte Martinez. »Einen Schauspielschüler.« »Namens Walton Williams«, ergänzte McFadden. »Keine Vorstra fen unter diesem Namen im Register.« »Das stand in dem Bericht, den Sie lesen sollten«, sagte Wohl. »Wie wir das sehen«, fuhr Martinez fort, »schaute sich der Junge um, sah all das teure Zeug, wie nennt man das, Nippes…?« »Wenn es mehr als fünfzig Dollar wert ist, sagen wir für gewöhnlich ›Kunstobjekte‹«, warf Wohl ein. »Teure Nippessachen«, meinte McFadden. »… und sagte sich, daß er in einen Spielwarenladen mit Selbstbe dienung geraten ist«, sprach Martinez weiter. »Besonders als ihr Bru der nach Frankreich reiste. So riß er sich Sachen unter den Nagel.« »Wie würden Sie in dieser Welle von Verbrechen vorgehen?« »Den Schwulen suchen«, sagte McFadden. »Cherchez la pouf«, fügte Wohl hinzu. Matt Payne lachte. »Weiter«, sagte Wohl. »Und wie wollen Sie das anstellen?« »Geben Sie uns ein paar Tage Zeit«, sagte McFadden. »Wir wer den ihn finden.« »Sie wissen, wo Sie suchen müssen?« »Es laufen ein paar Homos herum, die mir einen Gefallen schul den«, sagte Martinez. »Nur mal so dahergesagt, halten Sie es für möglich, dieser Mr. Wil liams könnte der Vergewaltiger sein?« »Ich rief Detective Hemmings von der Kripo Nordwest an«, sagte McFadden. »Die beste Beschreibung von diesem Täter ist, daß er behaart ist. Schwarz behaart. Miss Peebles beschrieb den Freund ihres Bruders als blond.« »Und ›hart‹«, fügte Martinez hinzu. Nun, die beiden denken, sagte sich Wohl. »Was ist mit dem Diebstahl ihrer Unterwäsche?« »Das ist ein Rätsel«, sagte Martinez. »Wenn ich ihn schnappe, werde ich ihn fragen.« »Wir könnten das Haus überwachen, Inspector«, sagte McFadden. »Bis er es wieder versucht. Ich bin überzeugt, daß er irgendwann wiederkommt. Aber ich glaube, das einfachste und billigste für Sie wäre, wenn Sie uns nach ihm suchen lassen.« »Was meinen Sie mit ›billigste‹?« fragte Wohl.
»Ich gewann den Eindruck, daß Miss Peebles nicht gegen den Kerl aussagen will, wenn wir ihn schnappen«, sagte McFadden. »Wegen ihres Bruders. Dann würde bekannt werden, daß er homosexuell ist. Und der Bruder will vielleicht nicht, daß sein Freund eingesperrt wird.« »Ich verstehe.« »Aber wenn wir ihn finden, läßt er vielleicht mit sich reden«, sagte Martinez. »Vielleicht rückt er sogar etwas von dem geklauten Zeug heraus. Und ich denke, wir können ihm klarmachen, daß er sich bes ser nie wieder dort blicken läßt.« »Sie denken doch nicht daran, irgend etwas zu tun, das Mr. Willi ams’ Bürgerrechte verletzen würde, Martinez?« »Bestimmt nicht, Sir«, antwortete Martinez mit unbewegtem Ge sicht. »Ich bin selbst Mitglied einer Minderheit und sehr empfindlich in punkto Bürgerrechte.« »Freut mich, das zu hören«, sagte Wohl. »Es würde mich sehr ver ärgern, wenn ich erfahre, daß einer meiner Männer sich an einem Verdächtigen vergreift. Ist das klar?« »Jawohl, Sir.« »Ihnen auch, McFadden?« »Jawohl, Sir.« »Okay, suchen Sie ihn«, sagte Wohl. »Jawohl, Sir«, sagten sie unisono erfreut. »Sir, die beste Zeit, um solche Leute aufzuspüren, ist die Nacht, sagen wir von einundzwanzig Uhr bis in die frühen Morgenstunden«, sagte McFadden. »Sie reden von Überstunden?« fragte Wohl und schaute kurz zu Matt Payne. »Jawohl, Sir«, sagte McFadden. »Machen Sie soviel Überstunden, wie Sie für nötig halten«, sagte Wohl. »Ich möchte, daß Sie Officer Payne mitnehmen, damit er sieht, wie Sie arbeiten.« »Jawohl, Sir«, sagte McFadden sofort. »Inspector, das könnte ein bißchen schwierig sein«, wandte Marti nez ein. »Es war kein Vorschlag, sondern eine Anweisung«, sagte Wohl. »Jawohl, Sir.« »Können wir den Wagen behalten, den wir gefahren haben, Sir?« fragte McFadden. »Wenn Sie meinen, ob Sie ihn nach dem Dienst abliefern müssen, ist die Antwort nein, jedenfalls fürs erste. Es ist mir gleichgültig, wer von Ihnen ihn über Nacht bei sich behält, aber ich will nicht hören,
daß jemand die Funkgeräte oder die Reifen geklaut oder mit einem Schlüssel über die Türen und Kotflügel geratscht hat, um zu zeigen, wie sehr er die Polizei liebt.« »Ich werde gut darauf aufpassen, Sir«, sagte Martinez. »Den Rest des Nachmittags holen Sie Wagen vom Fuhrpark ab, lassen sie in der Funkwerkstatt ausrüsten und fahren sie her. Neh men Sie Payne mit. Er führt einen Auftrag für mich aus und wird dafür einen Wagen brauchen.« »Jawohl, Sir«, sagte McFadden. »Das ist alles.« Wohl schaute Payne an. »Sorgen Sie für die Kopi en und kommen Sie dann zurück.« »Jawohl, Sir«, sagte Payne. »Ich bin voller Zuversicht, daß morgen früh Mr. Williams in den Händen des Gesetzes ist und ich dem Commissioner telefonisch mit teilen kann, daß nicht nur der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, sondern Miss Peebles auch mehr als zufrieden mit der Arbeit der Polizei ist.« Martinez und McFadden lächelten nicht sehr zuversichtlich. Als Payne ihnen aus dem Büro folgte, sagte Wohl leise: »Halten Sie heu te nacht die Augen offen und den Mund geschlossen, Matt.«
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Matt Payne bog von der Seventh Street auf den Parkplatz hinter dem Polizeipräsidium ab. Er fuhr einen fast neuen Plymouth Fury. Vor einer Dreiviertelstunde hatte er den Wagen aus der Funkwerk statt abgeholt, und der Plymouth war jetzt mit Funk ausgerüstet, wie Staff Inspector Wohl es für Special Operations vorgeschrieben hatte. Er wußte, daß die Funkanlage funktionierte, weil er sie ausprobiert hatte. »W-William zwei-null-neun«, hatte er über das Frequenzband der Highway Patrol gesprochen. »Außer Dienst bei Colosimo’s Gun Sto re, Spring Garden neunhundert.« Und die Funkzentrale hatte zurückgerufen: »W-William zwei-null neun, sagten Sie Spring Garden neunhundert?« Die Frau in der Funkzentrale war Catherine Wosniski, eine dralle, grauhaarige Zweiundsechzigjährige. Es hieß – ein wenig übertrieben – , sie war schon in diesem Job, als die Polizisten noch mit Pfeifen vom Rathausturm her eingesetzt wurden, lange bevor Marconi auch nur an Funkübertragung gedacht hatte. Aber Mrs. Wosniski war tatsächlich lange genug in der Funk zentrale, um zum Beispiel folgendes zu wissen: Spezialeinheiten – und Special Operations war zweifellos eine Spezialeinheit – brauchten sich nicht abzumelden wie die Funkstrei
fenwagen in den Distrikten. Man mußte sich aus dem Dienst ab- und wieder zurückmelden, damit die Einsatzleitung wußte, welche Wagen verfügbar waren oder nicht, um über die Funkzentrale irgendwohin geschickt zu werden. Spezialeinheiten wurden nicht über die Funk zentrale eingesetzt. Catherine Wosniski wußte auch über das Waffengeschäft Colosi mo’s Gun Store Bescheid. Drei von vier Polizisten in Philadelphia, vielleicht sogar mehr, kauften dort ihre Waffen. Und sie wußte auch, daß viele bei Colosimo’s Gun Store aus privaten Gründen stoppten, wenn sie offiziell zum Präsidium geschickt worden waren; daß sie dort sozusagen während der Dienstzeit einkauften und ›vergaßen‹, sich bei der Funkzentrale abzumelden. Sie hatte es hier also mit einem Polizisten zu tun, der sich nicht ab zumelden brauchte und genau das tat, und zwar bei einer Position, an der sich äußerst selten jemand abmeldete, weil Vorgesetzte, die auch Funk hörten, sauer auf Beamte waren, die während der Dienst zeit einkauften. Obwohl Mrs. Catherine Wosniski ein frommes und lebenslanges Mitglied der römisch-katholischen Kirche war, hatte sie auch Kenntnis von Formulierungen des jüdischen Glaubens, und sie dachte: Da ist etwas nicht koscher. »W-William zwei-null-neun«, funkte sie zurück. »Wollen Sie die Nummer für diesen Einsatz?« Ihre Frage bezog sich darauf, ob der Beamte die Kontrollnummer des Distriktes haben wollte, in dem sich bei Colosimo’s Gun Store irgendein Zwischenfall ereignet hatte, in dem er eingreifen wollte. Eine Distrikt-Kontrollnummer ist für den Vorfall mit polizeilicher Betei ligung erforderlich. Officer Matthew Payne hatte keine Ahnung, wovon Sie sprach. »W-William zwei-null-neun. Nein, danke, Ma’am, ich brauche keine Nummer.« Es war mindestens zwei Jahre her, seit sich jemand bei Catherine Wosniski über den Polizeifunk bedankt hatte; und sie konnte sich nicht erinnern, daß jemand sie über den Polizeifunk mit ›Ma’am‹ an gesprochen hatte. »W-William zwei-null-neun«, fragte sie mit einer Spur Besorgnis, »ist alles in Ordnung?« »W-William zwei-null-neun«, erwiderte Officer Payne, »alles prima hier. Ich gehe nur rein, um mir eine Waffe zu kaufen.« Es folgte eine Pause, bevor Mrs. Wosniski antwortete. Dann sagte sie sehr langsam: »Oooooo-kaaaaay, W-William zwei-null-neun.« Jeder auf dieser Frequenz wußte folglich, daß Mrs. Wosniski es mit
einem unglaublichen Blödmann zu tun gehabt hatte, der nicht die geringste Ahnung hatte, wie man vertuschte, daß man während der Dienstzeit persönliche Dinge erledigte. Völlig ahnungslos, was dieser Wortwechsel zu bedeuten hatte, und stolz darauf, wie profihaft er die Situation gemeistert hatte, stieg Matt Payne aus dem Wagen und ging in das Waffengeschäft. Eine halbe Stunde später, nachdem er sich mit einem Smith & Wesson Modell 37 Chief’s Special .38er Special und einem Waden holster ausgerüstet hatte, meldete sich William zwei-null-neun über Funk zum Dienst zurück. Der Kauf des Revolvers war viel komplizierter, als er sich das vor gestellt hatte. Er hatte – naiv, das war ihm jetzt klar – angenommen, da er jetzt vereidigter Polizeibeamter war und das mit einem Abzei chen und einem Ausweis mit Foto beweisen konnte, würde der Kauf eines Revolvers nicht schwieriger sein als der von Schuhen. Das war jedoch nicht der Fall. Zuerst mußte er ein langes Formular der Regierung ausfüllen, auf dem er beeidlich erklären mußte – unter Androhung einer Strafe von zehntausend Dollar und zehn Jahren Gefängnis im Falle eines Meineids – , daß er weder Verbrecher noch Alkoholiker noch Drogensüchtiger war, nicht in psychiatrischer Be handlung war und keine Anklage gegen ihn erhoben war. Und als das erledigt war, ging der Verkäufer mit seinem Ausweis zu einem Tele fon und rief bei der Polizei an, um zu überprüfen, ob tatsächlich ein Polizeibeamter namens Matthew Payne auf ihrer Personalliste stand. Aber schließlich hatte er den Revolver. Er nahm ihn mit in den Wagen und schaffte es – mit mehr Mühe, als er gedacht hatte – , das Wa denholster an seine rechte Wade zu schnallen. Dann gelang es ihm unter einigen Verrenkungen, im Wagen sitzend das Jackett auszu ziehen und sich des Schulterholsters zu entledigen. Er nahm den Revolver aus dem Holster, öffnete die Trommel und entfernte die sechs glänzenden Patronen, die irgendwie bedrohlich auf ihn wirkten. Er lud fünf davon in den fünfschüssigen UndercoverRevolver und steckte ihn wieder in das Wadenholster. Die übrigge bliebene Patrone schob er in seine Hosentasche. Als er den Dienstrevolver und das Schulterholster im Hand schuhfach verstauen wollte, stellte er fest, daß es voller Funk ausrüstung war. Schließlich gelang es ihm, den Dienstrevolver mit Holster unter dem Beifahrersitz verschwinden zu lassen. Auf der Fahrt zum Polizeipräsidium fühlte er sich sonderbar mit dem Holster an der Wade und befürchtete, daß es nicht richtig fest geschnallt war. Bei der Suche nach einem Parkplatz stiegen andere Zweifel und
Ängste in ihm auf. Er war noch nie im Präsidium gewesen. Er hatte nur einmal draußen gewartet, während Inspector Wohl hineingegan gen war, um die Kriminalbeamten Washington und Harris zu holen. Er hatte keine Ahnung, wo er drinnen Zugang zu einem Kopierge rät finden konnte. Und er sagte sich, daß sich auf der Suche danach auf irgendeinem Gang das Wadenholster lösen konnte. Dann würde sein neuer Revolver vielleicht vor den Augen von unzähligen Polizei beamten, die meisten im Rang Sergeant oder höher, über den Gang schlittern. Er fand einen Parkplatz, doch er setzte im nächsten Augenblick wieder zurück und verließ den Parkplatz des Polizeipräsidiums. Er wußte plötzlich, wo es ein Kopiergerät gab und wo er parken mußte, um dorthin zu gelangen. Er nahm das Mikrofon. »W-William zwei-null-neun«, meldete er der Funkzentrale, »außer Dienst bei der Twelfth und Market.«
»Guten Tag, Matt«, sagte Mrs. Irene Craig, Chefsekretärin der Se niorpartner der Anwaltskanzlei Mawson, Payne, Stockton, McAdoo & Lester. »Wie geht es Ihnen?« »Einfach prima, Mrs. Craig«, erwiderte Matt. »Und Ihnen?« Sein Vertrauen in sein Wadenholster war wiederhergestellt. Er war – zuerst sehr vorsichtig und dann mit wachsendem Selbstvertrauen – durch das Parkhaus und zum Aufzug gegangen, und das Holster war nicht von der Wade abgefallen. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich möchte das Kopiergerät benutzen.« »Klar«, sagte Mrs. Craig. »Es steht nebenan. Können Sie damit umgehen?« »Ich denke, ja«, erwiderte er. »Kommen Sie. Ich zeige es Ihnen.« Als das fünfte Blatt aus dem Kopiergerät kam, wandte sich Mrs. Craig zu ihm um. »Was ist das?« »Das sind die Ermittlungsberichte über die Fälle von Ver gewaltigungen in Nordwest-Philadelphia«, sagte Matt. »Was machen Sie damit? Oder darf ich das nicht fragen?« »Ich arbeite daran«, sagte Matt, und dann fühlte er sich wegen der Lüge unbehaglich. »Mein Boß beauftragte mich; sie zu kopieren.« »Hat die Polizei kein Kopiergerät?« »Unseres ist defekt. So schickte man mich zum Präsidium, um die Kopien dort zu machen. Aber ich war noch nie dort, und so fand ich
es leichter, hierhin zu fahren.« »Wir werden der Stadt eine Rechnung schicken.« Mrs. Craig lach te. Und dann fragte sie nach kurzem Zögern: »Haben Sie das bisher gemacht? Verwaltungsarbeit?« »Sozusagen.« »Ich dachte mir schon, daß Sie mit Ihrer Bildung nicht in einem Streifenwagen fahren und Strafzettel für Temposünder schreiben.« »Sie hätten mich am liebsten in einen Paddy Wagon – äh – Emer gency Police Wagon gesteckt, das sind die Kleintransporter, aber Denny Coughlin legte ein Wort für mich ein.« »Sie sind anscheinend nicht sehr glücklich darüber.« Irene Craig kannte Matthew Payne praktisch seit seiner Geburt an, mochte ihn sehr und teilte die Ansicht seines Vaters, daß es von Matt die dümm ste Idee aller Zeiten gewesen war, Polizist zu werden. »Ich habe zwiespältige Gefühle«, sagte Matt und begann die Kopi en zu stapeln. »Einerseits bin ich, zumindest theoretisch, gegen eine Extrawurst. Andererseits – und ich nehme an, das ist ein Beweis, daß ich nicht annähernd so edel bin, wie ich es gern sein möchte – gefällt mir meine Arbeit.« »Und das ist?« »Ich bin der Laufbursche eines sehr netten und fähigen Cops. Staff Inspector Peter Wohl.« »Ist das der, dessen Foto in der Zeitung war? Der Chef dieser neuen Abteilung…« »Special Operations«, ergänzte Matt. »Das klingt interessant.« »Es ist faszinierend.« »Das freut mich für Sie«, sagte Mrs. Craig. Das stimmt nicht, dachte sie. Es würde mich mehr freuen, wenn er als Polizist unglücklich wäre, dann käme er vielleicht zu Vernunft und würde den Dienst aufgeben. Aber immerhin hält Denny Coughlin ein Auge auf ihn; das ist schon mal etwas. »Möchten Sie Ihren Vater sprechen?« fragte sie. »Nein.« Und als er ihre Miene sah, fügte er hastig hinzu: »Ich muß zurück. Mein Vater ist vermutlich beschäftigt, und wir haben heute morgen zusammen gefrühstückt.« »Nun, ich werde ihm sagen, daß Sie hier waren.« »Wenn Sie meinen, daß Sie das tun müssen.« »Sie sind ein Spitzbube. Aber okay. Ich werde es ihm nicht sagen. Wie gefällt Ihnen das Apartment?« »Ich kann mich nicht an die Stille gewöhnen.« Er war vor zwei Wochen in eine Mansardenwohnung in einem mo
dernisierten Gebäude am Rittenhouse Square eingezogen. Zuvor hatte er im Studentenwohnheim nahe beim Campus gewohnt. Irene Craig wußte, daß sein Vater das Apartment für ihn ›gefunden‹ hatte. Das Gebäude gehörte der Rittenhouse Properties Incorporated, und die ersten drei Stockwerke waren langfristig an eine Krebsfor schungsgesellschaft vermietet. Sie fragte sich, ob Matt wußte, daß Brewster Payne achtzig Prozent der Aktien von Rittenhouse Proper ties Incorporated besaß. Vermutlich hatte er keine Ahnung davon. »Vielleicht könnte Ihnen ein wenig weibliche Gesellschaft helfen, mit der Stille fertig zu werden«, sagte Irene Craig. »So etwas sollten Sie nicht mal denken!« protestierte Matt. Sie gab ihm Gummibänder, um die vier kopierten Akten zusam menzubinden. Und dann drückte sie ihm einen mütterlichen Kuß auf die Wange. »Passen Sie auf sich auf, Matt«, sagte sie. Als Matt zum Gebäude der Highway Patrol zurückkehrte, hielt er zuerst bei seinem Porsche und legte seinen Dienstrevolver und das Schulterholster unter dessen Fahrersitz. Dann parkte er den Ply mouth Fury. Er gab die Schlüssel Sergeant Frizell, der offenbar mit Staff Inspector Wohl über Officer Paynes Platz in der Hackordnung bei der Abteilung Special Operations gesprochen hatte. Frizell gab ihm einen Plastikkorb voller vielteiliger Formulare. »Der Inspector sagte. Sie sollen so viele davon ausfüllen, wie Sie heute schaffen«, sagte Frizell. »Eine Schreibmaschine steht neben an.« »Was ist das?« fragte Matt. »Die Anforderungs- und Überführungsformulare für die Wagen und die zusätzliche Funkausrüstung«, erklärte Frizell. »Obendrauf liegt ein bereits ausgefülltes Formular; füllen Sie die anderen auf die glei che Art und Weise aus.« Matt erkannte bald, daß dies die Papiere waren, ohne die der gute Ernie in der Funkwerkstatt nicht hatte arbeiten wollen. Die Schreibmaschine konnte er nur als ›Wrack‹ bezeichnen. Es war eine alte Underwood. Die Tasten hakten. Die Walze war so ab genutzt, daß sich tiefe Dellen gebildet hatten, und die Buchstaben hackten förmlich ins obere Blatt der Formulare und durchs Durch schlagpapier. Der Mechanismus des Papiereinzugs war defekt, und Matt mußte die Formulare bei jeder Zeile mit der Hand zurechtrücken. Nachdem er zwei Formulare mühsam getippt hatte, sagte er sich, daß sie Sache absurd war. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war 16 Uhr 45. Er ging in das andere Büro.
»Sergeant«, sagte er, »ich glaube, ich weiß, wo eine bessere Schreibmaschine steht. Kann ich jetzt gehen und die Formulare dort ausfüllen?« »Sie meinen zu Hause?« »Jawohl, Sir.« »Mich juckt es nicht, wo Sie die Sachen tippen, Payne. Mich inter essiert nur, daß sie getippt werden.« »Dann guten Abend.« »Ja.« Matt nahm das Körbchen mit den unausgefüllten Formularen und ging damit zu seinem Porsche. Er sagte sich, daß er zu dieser Ta geszeit besser über den Highway in die Innenstadt fuhr als über den Roosevelt Boulevard zur North Broad Street. Er war überzeugt, daß er über den Highway schneller vorankam. Es machte keinen Spaß, mit einem schnellen Porsche gerade mal fünfunddreißig Meilen pro Stunde zu fahren. Als er zwei Meilen auf dem Highway gefahren war, blickte er in den Rückspiegel, um zu sehen, ob er einen Caravan überholen konnte. Nein, das ging nicht. Auf der Spur neben ihm nahte ein blauweißer Streifenwagen, dessen Fahrer in diesem Augenblick das Rotlicht ein schaltete. Er blickte auf das Tachometer und sah, daß er fünfzehn Stun denmeilen zu schnell fuhr. Der Streifenwagen, einer der Highway Patrol, wie Matt jetzt entsetzt erkannte, fuhr an ihm vorbei, und der Cop auf dem Beifahrersitz winkte ihn zum Seitenstreifen. »O Gott«, murmelte Matt. Dann kam ihm eine Erleuchtung. Gut, er war ein Verkehrssünder. Aber er würde die bittere Pille schlucken. Er würde nicht erwähnen, daß er ein Kollege war, obwohl man ihm dann vielleicht keinen Strafzettel verpaßt hätte. So würde Staff Inspector Wohl nicht erfahren, daß sein Officer Matt Payne am ersten Tag seines Dienstes als ›Raser‹ gestoppt worden war. Er hielt auf dem Seitenstreifen an und wollte den Fahrzeugschein aus dem Handschuhfach nehmen. Das Handschuhfach war völlig leer. Matt sah plötzlich vor seinem geistigen Auge, wo der Fahrzeug schein lag: im Schrank in seinem Zimmer im Haus in Wallingford. Er blickte in den Rückspiegel und sah, daß beide Polizisten der Highway Patrol ausgestiegen waren und sich seinem Wagen näher ten. Er zog schnell seine Brieftasche aus der Gesäßtasche und stieg aus dem Porsche. Zuerst brauste ein Auto und dann zischten drei weitere Wagen auf der rechten Spur so nahe und schnell an ihm vorbei, daß er Angst
bekam. Er wich um das Heck des Porsche zurück und hielt einem der Polizisten seinen Führerschein hin. »Den Fahrzeugschein habe ich leider nicht dabei«, sagte Matt. »Sie fuhren mindestens achtzig, wenn nicht gar fünfundachtzig«, sagte der Polizist. »Schuldig«, sagte Matt. »Was dagegen, wenn wir uns in Ihrem Wagen umsehen, Sir?« fragte der andere Cop der Highway Patrol. Matt blickte zu ihm; er stand am Fenster auf der Beifahrerseite des Porsche und schaute hinein. »Nein, überhaupt nicht«, sagte Matt. Er schaute wieder den anderen Polizisten an, der seinen Füh rerschein hatte. »Meine Zulassung ist zu Hause«, sagte Matt. »Ihre Adresse ist Walnut 3906?« Der Polizist tippte auf den Füh rerschein. »Nein, Sir«, sagte Matt. »Ich bin vor kurzem umgezogen. Ich woh ne jetzt am Rittenhouse Square.« »Sieh mal, was wir da haben«, sagte der andere Polizist. Matt schaute hin. Der andere Polizist hielt Matts Dienstrevolver und das Holster in der Hand. Matt sah das nur kurz. Er wurde plötzlich herumgewirbelt, die Beine wurden unter ihm weggetreten, und er erhielt einen Stoß in den Rücken. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, die Arme auszustrek ken und sich am Porsche abzustützen; fast wäre er gefallen. »Keine Bewegung!« sagte der Polizist hinter ihm. Er spürte Hände an seinem Körper, die ihn abtasteten, um die Brust, die Hüften, zwischen den Beinen und dann am linken und rechten Bein hinab. »Er hat noch eine!« sagte der Polizist hinter ihm, zog Matts rechtes Hosenbein hoch und riß den Chief Special aus dem Wadenholster. »Ich kann das erklären«, sagte Matt. »Gut«, brummte der Polizist. Matt wurde herumgerissen. Eine Hand packte ihn am Gürtel und richtete ihn auf. Eine Handschelle schloß sich um sein rechtes Hand gelenk, dann wurde der rechte Arm hinter seinen Rücken gezerrt. Der linke Arm wurde hinter seinen Rücken gezogen, und die andere Handschelle schnappte zu. Dann riß ihn der Cop herum. »Haben Sie einen Waffenschein, Sir?« fragte der Mann der High way Patrol. »Ich bin Polizist«, sagte Matt.
»Diese Kanone ist nagelneu«, sagte der andere Polizist. »Ich habe sie erst heute gekauft«, erklärte Matt. »Sie sagen, Sie sind Polizist?« »So ist es«, erwiderte Matt. »Wo arbeiten Sie? Wie heißt Ihr Lieutenant?« »Special Operations. Ich arbeite für Staff Inspector Peter Wohl.« »Wo ist das?« fragte der Beamte der Highway Patrol mit nur einer Spur von Zweifel. »Bustleton und Bowler«, sagte Matt. »Wo ist Ihr Ausweis?« »In meinem Jackett.« Der Beamte der Highway Patrol griff in die Innentasche des Jak ketts und zog den Ausweis hervor. »Ach du dickes Ei!« murmelte er. Dann sagte er: »Drehen Sie sich um, Sir.« Er befreite Matt von den Handschellen. »Was ist los?« fragte der andere Beamte der Highway Patrol. »Er ist ein Cop«, sagte sein Kollege. »Er sagt, er arbeitet für In spector Wohl.« »Warum haben Sie uns den Ausweis nicht gezeigt, als wir uns ne ben Sie setzten?« fragte der andere Cop mehr verwundert als ärger lich. Matt zuckte hilflos mit den Schultern. »Haben Sie etwas an unserem Vorgehen auszusetzen?« fragte der Beamte, der ihm die Handschellen angelegt hatte. »Wie bitte?« fragte Matt verwirrt. »Wir stoppten einen Temposünder und fanden eine Waffe ver steckt unter seinem Sitz. Wir fragten um Erlaubnis, den Wagen zu untersuchen. Wir ergriffen notwendige und vernünftige Maßnahmen zur Überprüfung eines Mannes, den wir im Besitz von zwei versteck ten Feuerwaffen fanden. Ist irgend etwas daran auszusetzen?« Matt zuckte wieder verständnislos mit den Schultern. »Das wollten Sie doch feststellen, oder? Sie haben uns überprüft, nicht wahr?« Plötzlich verstand Matt. »Dies ist mein erster Tag im Dienst«, sagte Matt. »Und ich wollte lieber die Strafe zahlen, als riskieren, daß Inspector Wohl davon er fährt.« Sie starrten ihn an. Beide Gesichter mit erhobenen Brauen spiegel ten Ungläubigkeit wider. Und dann brach der größere von beiden, der den Revolver unter dem Sitz gefunden hatte, in Gelächter aus, und der andere fiel ein.
Der größere Cop der Highway Police schüttelte den Kopf und be dachte Matt mit einem Lächeln, das voller Verachtung war, wie er fand. Der Cop überreichte ihm den Chief’s Special und die Patronen. Der andere hängte ihm das Schulterholster über die Schulter. Dann gingen die beiden lachend zu ihrem Streifenwagen und stiegen ein. Als Matt in seinem Porsche war, fuhren sie bereits fort. Den Rest des Weges hielt sich Officer Matt Payne peinlich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzung.
Peter Wohl kehrte nach dem Schichtwechsel in sein Büro zurück. Die Sergeants der Tagesschicht hatten Feierabend gemacht; ein ihm unbekannter Sergeant der Highway Patrol saß hinter dem Schreibtisch. »Ich bin Peter Wohl«, sagte Peter und reichte ihm die Hand. »Jawohl, Sir, Inspector.« Der Sergeant lächelte ihn an. »Ich weiß, wer Sie sind. Wir waren zusammen in der Fahrschule.« Wohl erinnerte sich immer noch nicht an ihn, und das war ihm an zusehen. »Ich hatte damals noch Haare und war viel schlanker«, sagte der Sergeant. »Ich bin Jack Kelvin.« »Ah ja«, sagte Wohl. »Tut mir leid, Jack. Ich hätte mich gleich an Sie erinnern sollen.« »Sie machten damals einen großen Eindruck auf mich.« »Einen guten oder schlechten?« fragte Wohl. »Zu dieser Zeit hielt ich das für Verrat.« Jack Kelvin lächelte. »Sie stürzten mit Ihrem Motorrad, und ich half Ihnen, es aufzuheben, und Sie sagten: ›Jeder, der so eine Kiste fährt und das mag, muß be scheuert sein‹.« »Das habe ich gesagt?« »Ja, das haben Sie gesagt.« Kelvin lachte. »Und das war Ihnen ernst.« »Nun, unter den gegebenen Umständen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie die Geschichte nicht herumerzählen.« »Wie ich schon sagte, das war vor langer Zeit, und Sie sehen ja, daß ich jetzt am Schreibtisch sitze, statt auf einem Motorrad. An Schreibtischen stürzt man nicht so leicht.« »Ich habe festgestellt, daß man am Schreibtisch mehr Probleme haben kann als auf einem Motorrad«, entgegnete Wohl. »Hat sich was in der Entführung ergeben?« »Nein, Sir«, sagte Kelvin. »Chief Coughlin rief vor ein paar Minuten an und fragte das gleiche.«
»Wollte er, daß ich zurückrufe?« »Nein, Sir. Er bat um einen Anruf morgen früh.« »Sonst noch etwas?« »Sergeant Frizell sagte, daß Ihr Fahrer die Formulare für die Wa gen und die Funkausrüstung mitnahm und zu Hause ausfüllt«, sagte Kelvin. Als Wohl ihn fragend ansah, erklärte Kelvin: »Frizell sagte, Ihr Fahrer mochte unsere Schreibmaschine nicht.« Wohl nickte. Er wußte über die Schreibmaschinen Bescheid. Es war allgemein bekannt, daß bei der Polizei die einzigen tauglichen Schreibmaschi nen in den Büros von Inspectors, Voll-Inspectors und darüber stan den. »Er ist ein netter Junge«, sagte Wohl. »Kommt gerade von der Akademie. Dutch Moffitt war sein Onkel.« »Oh«, sagte Kelvin. »Ich hörte, daß Chief Coughlin ihn zu uns schickte, aber ich wußte nichts von den Verbindungen.« »Chief Coughlin schickte uns auch die beiden Jungs vom Rausch giftdezernat, die Gerald Vincent Gallagher aufspürten«, sagte Wohl. »Bis ich entscheide, was ich mit Payne mache, soll er ein bißchen von ihnen lernen, wenn sie draußen sind, und sich hier nützlich ma chen. Er ist nicht mein Fahrer.« »Sie haben ein Recht auf einen Fahrer«, sagte Kelvin. »Captain Moffitt hatte einen Fahrer. Vielleicht stand ihm keiner zu, aber nie mand hat jemals etwas eingewandt.« »Hat Captain Sabara einen Fahrer?« »Nein, Sir«, sagte Kelvin. »Nach Captain Moffitts Tod und Sabaras Übernahme des Amts fuhr er selbst.« »Jeder Cop, der einen Vorgesetzten herumfährt, könnte auf den Straßen sein«, sagte Wohl. »Matt Payne ist noch nicht annähernd bereit für den Dienst auf den Straßen.« Kelvin nickte verständnisvoll. »Jason Washington rief an. Von der Mordkommission. Sie kennen ihn?« »Von Special Operations«, korrigierte Wohl. »Er wurde heute zu uns versetzt.« »Davon erwähnte er nichts«, sagte Kelvin. »Er rief an und bat, daß Sie Kontakt zu ihm aufnehmen, wenn Sie Zeit für ihn haben.« »Wo ist er?« »Er sagte, er ißt im Old Ale House zu Abend.« »Rufen sie ihn bitte an, Jack, und sagen Sie ihm, daß ich in der nächsten Stunde hier zu erreichen bin, wenn er mit dem Essen fertig ist.«
»Jawohl, Sir«, sagte Kelvin. »Captain Sabara hinterließ eine Nach richt, daß er beim Ersten und Zweiten Distrikt um Freiwillige wirbt und dann nach Hause fährt. Captain Pekach sagte, daß er zu Abend ißt und dann herumfährt und höchstwahrscheinlich am späten Abend hier sein wird.« Wohl nickte. »Payne sollte Akten für mich kopieren. Wissen Sie etwas darüber?« »Jawohl, Sir. Die Akten habe ich auf Ihren Schreibtisch gelegt. Ich möchte wissen, wo er dieses Kopiergerät gefunden hat. Die Kopien sind Spitze.« »Wie ich Payne kenne, spazierte er vermutlich ins Büro des Com missioners und benutzte dessen Kopiergerät«, sagte Wohl. Er gab Kelvin die Hand. »Schön, Sie wiederzusehen, Jack. Und besonders hinter diesem Schreibtisch.« »Es freut mich auch, Sie hinter Ihrem Schreibtisch wiederzusehen, Inspector.« Das meint er ernst, dachte Wohl geschmeichelt. Das war kein Schmus. Wohl ging in sein Büro und schaute sich die Kopien an. Kelvin hat te recht. Es waren ausgezeichnete Kopien, wie die in Werbespots von Xerox im Fernsehen, nicht wie Kopien, die man von Geräten bei der Polizei erwarten konnte. Er brachte die Originalakten zu Sergeant Kelvin und bat ihn, sie mit einem Streifenwagen der Highway Patrol zur Kripo Nordwest zu schicken und dafür zu sorgen, daß Lieutenant Spanner sie persönlich erhielt. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch, nahm eine der Ko pien und las sie sehr sorgfältig. Eine Viertelstunde später spürte er eine Bewegung und blickte auf. Jason Washington stand auf der Türschwelle und fragte mit einer Geste und erhobener Augenbraue, ob er eintreten durfte. Wohl winkte ihn herein. Washington trat ein und schloß die Tür hin ter sich. »Wie war das Abendessen?« erkundigte sich Wohl. »Ich hatte nur einen Salat«, sagte Washington. »Ich muß auf mein Gewicht aufpassen.« »Was haben Sie auf dem Herzen, Jason?« »Sind das die Kopien, die Sir mir geben wollten?« Wohl nickte und wies darauf. Washington nahm eine der kopierten Akten und nahm Platz. »Ich besuchte Mary Elizabeth Flannery«, sagte er. »Wie lief das?«
»Nicht sehr gut. Sie war nicht gerade erpicht darauf, wieder dar über zu reden. Mit niemandem, aber besonders mit keinem Mann und vielleicht erst recht nicht mit einem schwarzen Mann.« »Aber?« »Und«, sagte Washington, »ich sagte Ihnen schon, daß Hemmings ein guter Cop ist. Mein Besuch bei der Flannery war Zeit verschwendung. Ich brachte nicht mehr aus ihr heraus als er. Und dann sprach ich mit ihm. Er ist stinksauer, Peter, und das kann ich ihm nicht verdenken. Mich auf seinen Job anzusetzen ist das gleiche, wie ihm zu sagen, daß er keine gute Arbeit geleistet hat oder unfähig ist.« »Das stimmt nicht, und es tut mir leid, daß er das so sieht.« »Wie würde es für Sie aussehen, wenn Sie an seiner Stelle wä ren?« fragte Washington. »Als ich ein neuer Sergeant bei der Mordkommission war, nahm mir Matt Lowenstein einen Fall ab, weil ich damit nicht vorankam. Die Frau in Roxborough, die sich selbst mit ihrem eigenen Wagen über fuhr. Er gab den Fall dem besten Mann, den er hatte, einem Typ na mens Jason Washington.« »Ich erzählte Hemmings diese Geschichte«, sagte Washington. »Aber ich bezweifle, daß es viel half.« Nach einer Weile sagte Wohl: »Danke, Jason.« Washington ignorierte das. »Sie haben die Akte gelesen?« »Ich war gerade mit dem dritten Lesen fertig.« »Als ich sie das eine Mal las, glaubte ich ein Verhaltensmuster zu erkennen. Unser Täter wird immer dreister. Haben Sie auch so etwas gesehen?« »Ja, das fiel mir ebenfalls auf.« »Es würde mich überraschen, wenn wir die entführte Frau lebend wiederfinden.« »Warum?« »Ist Ihnen das nicht klargeworden?« fragte Washington. »Doch, aber ich möchte wissen, ob wir aus den gleichen Gründen zum gleichen Schluß gelangt sind.« »Wir haben keine Spur, keinen verdammten Hinweis auf den Täter, weil wir keine gute Beschreibung von ihm oder seinem Van haben. Und die haben wir nicht, weil er bis zu dem Fall Flannery nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Minuten mit den Opfern zusammen war und sich an ihnen verging, wo wir sie fanden. Im Fall Flannery steckte er sie in seinen Van, aber auf eine Art und Weise, daß wir kein besseres Bild von ihm gewannen als zuvor. Er nahm nie diese Maske ab – es
ist übrigens keine Lone-Ranger-Maske; der Lone Ranger trug eine Maske, die nur seine Augenpartie bedeckte.« »Das fiel mir auch auf«, sagte Wohl. »Das war der einzige kleine Fehler von Dick Hemmings, und als ich das ihm gegenüber erwähnte, gab er es sofort zu. Er sagte, daß ihm das auch klar war und er nicht weiß, warum er es falsch in den Bericht schrieb.« »Weiter, Jason.« »Im Fall Flannery fuhr der Täter mit ihr im Van fort. Ich nehme an, das überzeugte ihn, daß er seine Opfer fortbringen und länger bei sich behalten kann. Darauf ist er meiner Ansicht nach wirklich scharf: sie in seiner Gewalt zu haben. Das ist wichtiger für ihn als sexuelle Befriedigung; es gibt kein Anzeichen darauf, daß er zu einem Orgas mus kam, es sei denn durch Masturbieren.« »Ja, er will seine Macht auskosten, und die Demütigung gehört da zu.« »Er weiß also jetzt, daß er die Frauen von ihren Wohnungen oder Häusern fortbringen kann; das hat er bewiesen, indem er die Flanne ry zum Forbidden Drive brachte. Und weil das so gut klappte, brachte er das nächste Opfer ebenfalls fort. Vielleicht zu seinem Haus, viel leicht sonstwohin, möglicherweise aufs Land.« »Und je länger er die Opfer bei sich behält, desto größer ist die Möglichkeit, daß seine Maske herunterfällt oder…« »Oder daß sich das Opfer genau umschaut und Dinge sieht, die uns helfen, herauszufinden, wohin es gebracht wurde«, ergänzte Washington. »Und dieser Kerl ist gerissen. Früher oder später wird ihm auffallen, wenn er es nicht schon weiß, daß er jemanden bei sich hat, der die Polizei zu ihm führen kann; und das würde für ihn das Ende seiner perversen Freude sein.« Nicht dramatisch, sondern nüchtern fuhr sich Jason Washington mit dem Zeigefinger über die Kehle. »Und er könnte sich sagen, daß es ihm noch mehr Spaß bereitet, sie umzubringen, anstatt im Adamskostüm herumzulaufen, eine Mas ke zu tragen und seihen Pimmel herumzuschwenken«, fügte Wa shington hinzu. »So sehe ich das auch«, sagte Wohl. »Deshalb wollte ich Sie für den Fall haben, Jason. Ich will diesen Bastard schnappen, bevor das geschieht.« »Wenn Sie Dick Hemmings gefragt hätten, dann hätte er Ihnen das gleiche sagen können.« »Es ist müßig, darüber zu reden, Jason. Sie sind hier. Sagen Sie mir, was wir als nächstes tun sollen.«
»Tony Harris hat eine lange Liste von Tätern angelegt, die kleinere Sittlichkeitsverbrechen begangen haben«, sagte Washington. »An Ihrer Stelle, Peter, würde ich ihm alle Hilfe geben, damit er die Leute abklappern kann.« »Ich weiß nicht, wo ich jemanden finden kann«, dachte Wohl laut. »Sie sollten sich etwas einfallen lassen«, sagte Washington. »Das ist alles, was wir im Augenblick haben. Tony Harris versucht zwi schen den Namen, die er hat, und Leuten, die irgendeinen Van besit zen, eine Verbindung herzustellen. Bis jetzt ist nichts dabei heraus gekommen.« »Sabara hat ein paar Leute besorgt«, sagte Peter Wohl. »Ver mutlich werden einige davon morgen früh hier sein. Ich werde sie darauf ansetzen. Und vielleicht kann ich etwas Hilfe von der Kripo Nordwest erhalten, vielleicht sogar schon heute nacht.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte Washington. »Ich habe den Eindruck, die freuen sich, weil Sie ihnen den Job wegge nommen haben.« »Ich habe ihnen nichts weggenommen«, entgegnete Wohl heftig. »Man hat mir den Job praktisch aufgezwungen.« »Wie Sie meinen.« »Jason, man hat mir vorgeschlagen, daß ein psychiatrisches Tä terprofil von Nutzen wäre.« »Meinen Sie, wir haben keines?« Washington erhob sich. »Wer hat das vorgeschlagen? Denny Coughlin? Oder Czernick persönlich?« Wohl gab keine Antwort. »Ich gehe nach Hause«, sagte Washington. »Es war ein langer Tag.« »Gute Nacht, Jason. Und danke.« »Wofür, Peter?« sagte Washington und verließ das Büro. Wohl empfand eine Spur von Ärger, weil Washington nach Hause ging. Solange Elizabeth J. Woodham, weiß, dreiunddreißig, wohnhaft East Mermaid Lane 300 in Roxborough, vermißt wurde und vermut lich von einem Sexualverbrecher entführt worden war, war es nur logisch, daß die Polizei etwas tun sollte, um sie aufzuspüren und le bend zurückzuholen. Und dann erkannte er, daß seine Gedanken unfair waren. Wenn Jason Washington noch etwas eingefallen wäre, das getan werden konnte, dann würde es es tun. Sie konnten nur abwarten, was geschehen würde. Und dann kam Wohl ein Gedanke, und er griff zum Telefonbuch.
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Das Apartment unter dem Dach des Gebäudes, das jetzt die Dela ware Valley Krebsforschungsgesellschaft beherbergte, war ein nach träglicher Einfall, nachdem das Gebäude fast fertig renoviert worden war. C. Kenneth Warble, der Architekt, hatte sich mit Brewster C. Payne II. von Rittenhouse Properties zum Mittagessen im Union League Club in der South Broad Street getroffen, um ihn über den Verlauf des Projekts zu unterrichten und um zu erklären, warum ein paar Dinge – besonders die Installation eines Aufzugs – ein wenig über das Budget hinausgingen. Fast zufällig hatte C. Kenneth Warble erwähnt, daß er sich bei der Nutzung des Dachgeschosses, das er als ›Lagerraum‹ geplant hatte, ein wenig schlecht fühle. »Ich war vorhin dort, Brewster«, sagte er. »Es ist eine Schande.« »Warum?« »Sie kennen die Geschichte über den Mann mit lichter werdendem Haar, der sagt, er hat zu viele Haare zum Schneiden und zu wenige zum Kämmen? So ähnlich ist das mit dem Dachgeschoß. Es eignet sich eigentlich nicht für ein Apartment, für ein anständiges – womit ich teuer meine -, und es ist zu schön für einen Lagerraum.« »Warum eignet es sich nicht?«
»Nun, die Decken sind sehr tief und können nicht erhöht werden. Wenn ich dort eine Küche einbaue und ein Bad, was natürlich sein müßte, bleibt nicht mehr viel Platz übrig. Gerade genug für ein Schlafzimmer und ein schönes, wenn auch ziemlich langes und schmales Wohnzimmer mit stehenden Dachfenstern, die auf den Rit tenhouse Square hinausblicken. Das wäre möglich.« »Und Sie meinen, das kann vermietet werden?« »Wenn Sie einen nicht zu großen Junggesellen finden«, sagte Warble. »So schlimm?« Brewster Payne lachte. »Eigentlich nicht. Die Decke ist nur drei Zoll niedriger, als es das Gesetz jetzt vorschreibt. Aber wir kämen damit durch, weil es eine historische Renovierung ist.« »Über wieviel Kosten reden wir?« »Dann gibt es die Frage des Zugangs«, sagte Warble, der sich so eben entschieden hatte, eine Umwandlung des Dachgeschosses in eine Mansardenwohnung als Brewster C. Paynes Wunsch, nicht als eigene Empfehlung auszugeben. »Ich würde für den nicht zu großen Junggesellen eine Möglichkeit schaffen müssen, wie er vom dritten Stock – so weit geht der Aufzug – zum Apartment gelangt, und ich müßte die Aufzugmotoren, die sich im Dachgeschoß befinden, besser gegen Schall isolieren.« »Über wieviel Kosten reden wir?« wiederholte Payne. »Der Fußboden dort oben ist der originale«, fuhr Warble fort. »Kie fernholz. Das müßte versiegelt werden.« »Wieviel, Kenneth?« fragte Payne leicht ärgerlich. »Für zwölf- bis fünfzehntausend könnte ich etwas wirklich Schönes daraus machen«, sagte Warble. »Und wieviel Miete können wir dafür einnehmen?« »Vielleicht dreihundertfünfzig, vierhundert pro Monat«, sagte War ble. »Es gibt viele Leute, die bereit sind, für das Privileg zu zahlen, daß sie bei einer Unterhaltung beiläufig erwähnen können, sie woh nen am Rittenhouse Square.« »Ich sehe eine Reihe gutgekleideter, nicht zu großer Männer in der Stadt herumspazieren«, sagte Brewster Payne nach einer Weile. »Statistisch gesehen müssen viele davon Junggesellen sein. Ziehen Sie das durch, Kenneth.« Die Vermietung der Wohnung wurde einem Immobilienmakler übertragen, und die letzte Billigung des Mieters lag bei Mrs. Irene Craig. Es hatte eine Reihe von Bewerbern gegeben, männliche und weibliche, die Irene Craig abgelehnt hatte. Es mußte auf die Empfind lichkeit der Krebsforschungsgesellschaft Rücksicht genommen wer
den, die das Gebäude nicht gern mit warmen Gentlemen oder mit Ladys teilen würde, die ziemlich vage Angaben über ihre Beschäfti gung machten und möglicherweise das älteste Gewerbe der Welt ausübten. Irene Craig sagte sich, daß es in Brewster C. Paynes Interesse war, abzuwarten, bis der ideale Mieter – nach Irenes Vorstellung eine ungefähr sechzigjährige Witwe, die im Franklin Institut arbeitete – gefunden war. Und sie wartete. Und dann brauchte Matt Payne eine Wohnung innerhalb der Stadt grenze, wie es für einen Polizisten in Philadelphia vorgeschrieben war, und er mußte aus dem Studentenwohnheim ausziehen. Irene Craig rief den Direktor der Krebsforschungsgesellschaft an und sagte ihm, daß das Apartment vermietet worden war und ihm, wie zuvor angekündigt, die beiden Stellplätze in der Garage hinter dem Gebäu de, die er vorübergehend hatte nutzen können, nicht mehr zur Verfü gung standen. Sie versicherte ihm, daß der neue Mieter ein Gentleman war, des sen Anwesenheit im Gebäude kaum bemerkt werden würde, und sie hoffte sehnlich, daß dies tatsächlich der Fall sein würde. Die Installation einer Klimaanlage war ebenfalls ein nachträglicher Einfall, oder genauer gesagt ein nach-nachträglicher. Die Leistungs fähigkeit der bereits installierten Anlage reichte nicht aus, und es war kein Platz für die notwendigen Leitungen. So waren zwei Fensterkli maanlagen installiert worden, eine in der Seitenwand, die zweite hin ten im Schlafzimmer. Eine Woge warmer, muffiger Luft schlug Matt Payne entgegen, als er die schmale Treppe vom dritten Stock aus hinaufstieg und die Tür des Apartments aufschloß und öffnete. Jetzt fiel ihm ein, daß er ver gessen hatte, die beiden Klimaaggregate einzuschalten, als er zum letztenmal zu Hause gewesen war. Er stellte den Korb mit den Formularen auf den Schreibtisch im Wohnzimmer und schaltete beide Anlagen ein. Der Schreibtisch war wie die IBM-Schreibmaschine darauf ›ausgemustert‹ aus der An waltskanzlei Mawson, Payne, Stockton, McAdoo & Lester. Vier stämmige Möbelpacker hatten große Schwierigkeiten gehabt, den schweren Mahagoni-Schreibtisch über die schmale Treppe vom drit ten Stock aus hinaufzubugsieren, und es war nicht möglich gewesen, ihn ins Schlafzimmer zu schaffen, wie es ursprünglich geplant war. Matt zog sich aus und duschte. Als er sich abtrocknete, war es im Apartment trotz der Klimaanlage immer noch warm. Wenn er sich anzog, würde er wieder schwitzen. Officer Charley McFadden hatte ihm auf die Frage, wie er sich für die Suche nach Mr. Walton Williams
kleiden sollte, gesagt: »Schick. Wie Sie es jetzt sind. Er ist ein adret ter Schwuler, nicht der Typ, der Leder und Ketten bevorzugt.« Matt tat dann, was er unter den gegebenen Umständen für völlig logisch hielt. Er ging im Adamskostüm ins Wohnzimmer, setzte sich an die Schreibmaschine und begann die Arbeit mit den Formularen. Er hatte über eine Stunde lang getippt, als seine Aufmerksamkeit durch den Zwei-Ton-Gong abgelenkt wurde, der seine Türklingel war, wie er erst nach einem weiteren Gongen erkannte. Er sagte sich, daß es sein Vater war, der zwar Schlüssel für die Haus- und Wohnungstür hatte, aber ein Gentleman war, der klingeln würde, anstatt einfach aufzuschließen und einzutreten. Er ging nackt zur Tür und öffnete sie. Es war nicht sein Vater. Es war Amelia Alice Payne, Doktor med. Mitglied des ›American College of Psychiatrists‹, seine große Schwe ster. »Mensch, Amy! Warte, bis ich meine Hose angezogen habe.« »Ich hoffe wirklich, daß ich bei etwas störe«, sagte Amy, als sie das Apartment betrat. Sie lächelte beim Anblick ihres nackten Bru ders, der in sein Schlafzimmer ging, und schaute sich dann in der Wohnung um. Amy Payne war siebenundzwanzig, klein und zierlich, eine attrakti ve Frau, aber keine strahlende Schönheit, deren Gesichtszüge denen ihres Vaters ähnelten. Sie war nicht verwandt mit Matt, nur vor dem Gesetz. Ihre Mutter war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein halbes Jahr später hatte ihr Vater Matts verwitwete Mutter gehei ratet und dann Matthew Mark Moffitt, ihren Sohn, adoptiert. Patricia Moffitt Payne und Matt gehörten zur Familie, soweit Amy sich zurück erinnern konnte. Patricia Moffitt war für Amy die Mutter, und Matt war ihr kleiner Bruder. Matt kehrte mit nacktem Oberkörper ins Wohnzimmer zurück und zog den Reißverschluß einer Khakihose zu. »Wie bist du ins Haus gekommen?« erkundigte er sich. »Dad gab mir einen Schlüssel, damit ich die Garage benutzen kann«, erklärte Amy. »Er paßt auch für die Tür unten, wie ich soeben festgestellt habe.« »Nicht für die Wohnungstür?« fragte Matt. »Nicht für die Wohnungstür«, bestätigte Amy. »Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?« fragte Matt. »Möchtest du ein Bier oder eine Cola oder sonst was?« »Ich möchte mit dir reden, Matt.« »Warum habe ich das Gefühl, daß mir das nicht gefallen wird? Vielleicht wegen deines Tonfalls?«
»Es ist mir gleichgültig, ob dir gefällt oder nicht, was ich dir zu sa gen habe«, erwiderte Amy. »Aber du wirst mir zuhören.« »Was, zum Teufel, ist mit dir los?« Er schaute auf den Schreibtisch, dann auf die Uhr, und dann sagte er sich, daß er für heute abend genug Formulare ausgefüllt hatte und sich ein Bier gönnen konnte. Er ging zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Heineken her aus. Er hielt die Flasche hoch. »Möchtest du?« »Du hast vermutlich keinen Weißwein?« »Doch, habe ich.« Er nahm eine angebrochene Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. »Wie lange ist die schon da drin?« fragte Amy. »Willst du sie oder nicht?« Sie nickte. »Bitte.« Matt nahm ein Weinglas, schenkte Wein ein und gab es ihr. »Was immer du loswerden willst, beeil dich«, sagte er. »Ich muß heute abend arbeiten, und bis neun muß ich noch etwas essen.« Sie erwiderte nichts darauf. Statt dessen deutete sie mit dem Glas zum Kamin. »Was ist das?« fragte sie. »Dein Tempel für Phallussymbole?« »Was?« »Feuerwaffen sind Ersatzpenisse«, sagte sie. Jetzt sah er, daß sie seine Revolver meinte, die er auf den Kamin sims gelegt hatte. »Nur für Leute mit Potenzschwierigkeiten«, schnaubte Matt. »Die ses Problem habe ich nicht. Ich hatte nicht nur Psychologieunterricht wie du, Amy, sondern ich blieb auch wach bei den Lektionen, die dir entgangen sind.« »Deshalb hast du zwei davon, wie?« erwiderte sie. »Ich hoffe, sie sind nicht geladen.« »Einer ist geladen«, sagte Matt. »Laß die Finger davon.« »Warum zwei?« »Den kleinen kaufte ich heute; er ist leichter zu verstecken. Ist das der Zweck deines Besuchs, Amy? Bist du gekommen, um mich mit deinem psychiatrischen Scheiß zu behelligen?« Sie schaute ihn an. »Ich habe heute mit Mutter zu Mittag gegessen. Sie macht mir Sorgen.« »Was ist mit Mutter los?« fragte er besorgt. »Sie ist natürlich deinetwegen beunruhigt«, sagte Amy. »Sag mir nicht, das ist dir noch nicht in den Sinn gekommen.«
»Oh, nicht schon wieder!« »Ja, schon wieder. Und sie hat allen Grund zur Sorge. Ihr Mann und ein Schwager kamen ums Leben, und sie wäre töricht, wenn sie nicht mit der Möglichkeit rechnet, daß es auch ihren Sohn erwischen könnte.« »Hat sie etwas gesagt?« »Natürlich nicht. Mutter ist nicht der Typ, der jammert.« »Wir haben, wie ich mich erinnere, dieses Thema schon durchge kaut. Meine Position ist, wie ich mich erinnere, daß ich eine geringere Lebenserwartung hätte, wenn ich zum Marine-Corps gegangen wäre. Ich hörte, wie ich mich erinnere, keine Klagen von dir, als ich zu den Marines gehen wollte.« »Da hattest du keine Wahl«, entgegnete sie. »Aber du hast die Wahl, Polizist zu sein oder nicht.« »Oh, Scheiße. Wenn du wirklich Klagen über mich von Mutter hörst, dann besuch mich, Amy. Aber jetzt laß mich damit zufrieden.« »Du willst einfach nicht einsehen, daß deine verrückte Idee, Polizist zu sein, nur ein Versuch ist, deine psychische Kastration zu überwin den, die dir widerfuhr, als du nicht die ärztliche Untersuchung für das Marine-Corps bestanden hast.« »Ich erinnere mich, daß ich diese Leier schon des öfteren von dir gehört habe, Frau Doktor.« »Ich brauche keine Psychiaterin zu sein, um zu wissen, wie sehr Mutter darunter leidet, daß du Polizist geworden bist!« »Daß du Klapsdoktor geworden bist, ist leichter für sie, wie?« Das Telefon klingelte. Matt nahm den Hörer ab. »Dr. Payne, Klapsmühle. Matt der Kastrierte am Apparat.« »Peter Wohl, Matt«, sagte der Anrufer. Oh, verdammt! Diese beiden Bastarde von der Highway Patrol ha ben keine Zeit verloren, um mich zu verpetzen! Und wie habe ich mich soeben gemeldet? O Gott! »Ja, Sir?« Amy schaute ihn neugierig an. Das höfliche ›Ja, Sir?‹ gehörte nor malerweise nicht zu seinem Vokabular. »Das war eine interessante Art, sich am Telefon zu melden«, sagte Peter Wohl. »Sir«, sagte Matt lahm, »meine Schwester ist hier. Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung.« »Eigentlich rufe ich deswegen an. Sie meinen doch Ihre Schwe ster, die Psychiaterin?« »Jawohl, Sir.« »Jason Washington besuchte mich soeben. Die Befragung von
Miss Flannery hat nichts Brauchbares ergeben. Ich klammere mich praktisch an einen Strohhahn. Mit anderen Worten, ich hatte gehofft, daß Ihr Angebot eines Gespräches mit Ihrer Schwester noch gültig ist.« »Jawohl, Sir, selbstverständlich. Ich bin überzeugt, daß sie gerne mit Ihnen reden wird.« »Wer ist das?« fragte Amy im Flüsterton. Matt hob die Hand, um Amy zum Schweigen zu bringen, doch er erreichte genau das Gegen teil. »Wer ist das?« wiederholte Amy lauter. »Ich rede von jetzt, Matt«, sagte Wohl. »Jawohl, Sir. Jetzt wäre prima.« »Ich nehme an, Sie haben gegessen?« »Sir?« »Haben Sie zu Abend gegessen?« »Nein, Sir.« »Nun, dann könnte ich Sie abholen, und wir essen irgendwo, und ich kann mit ihr reden. Wäre das so kurzfristig eine zu große Zumu tung?« »Überhaupt nicht, Sir.« »Sie wohnen Walnut 3800, richtig?« »Nein, Sir. Ich bin umgezogen. Ich wohne jetzt am Rittenhouse Square, im Gebäude der Delaware Valley Krebsfor schungsgesellschaft…« »Ich weiß, wo das ist.« »In der Mansardenwohnung, Sir. Klingeln Sie in der Halle bei der Hausverwaltung.« »Ich bin in einer Viertelstunde dort«, sagte Wohl. »Danke.« »Was hatte das zu bedeuten?« fragte Amy, als Matt den Hörer auf legte. »Mit wem hast du gesprochen?« »Das war mein Boß«, sagte Matt. »Er will mit dir reden. Ich habe ihm von dir erzählt.« »Sag ihm, er soll bei mir im Büro anrufen und einen Termin verein baren«, fuhr Amy ihn an. »Mein Gott, du hast vielleicht Nerven, Matt!« »Es ist wichtig«, sagte Matt. »Vielleicht für dich, um dich bei deinem Boß lieb Kind zu machen, aber nicht für mich. Hat man da noch Töne! Du kannst doch nicht wirklich erwarten, daß ich da mitspiele!« »Ein Irrer, der bereits ein halbes Dutzend Frauen sozusagen ver gewaltigte, schnappte sich gestern abend eine weitere Frau, hielt ihr ein Messer an die Kehle, zwang sie in einen Wagen und ist seither verschwunden«, erklärte Matt ruhig. »Inspector Wohl meint, du könn test vielleicht ein Persönlichkeitsprofil von diesem Kerl erstellen, was
uns eventuell hilft, ihn aufzuspüren.« »Hat die Polizei keine eigenen Psychologen und Psychiater?« »Bestimmt hat sie das«, sagte Matt. »Aber er möchte mit dir spre chen. Bitte, Amy.« Sie schaute ihn lange an und zuckte dann mit den Schultern. »Warum sagtest du ›sozusagen‹ vergewaltigt?« »Weil der Täter bis jetzt bei den Frauen weder vaginal noch anal eindrang und die erzwungene Fellatio nicht zu einer Ejakulation führ te.« »Du solltest dich hören«, sagte Amy. »Wie kaltherzig und zynisch du klingst. O Matt!« Es wurde ihr klar, daß sie den Verlust der Unschuld ihres kleinen Bruders beklagte. »Unter diesen Umständen«, fügte sie so sachlich hinzu, wie sie konnte, »habe ich wohl keine Wahl, wie?« »Eigentlich nicht«, sagte Matt. »Er geht mit uns zum Abendessen.« »So kann ich nirgendwohin gehen«, wandte Amy ein. »Ich komme direkt von der Arbeit.« »Nun, dann essen wir irgendwo, wo du nicht auffällst«, sagte Matt. »Das Badezimmer ist vermutlich dort nebenan?« fragte Amy und wies zum Schlafzimmer. »Eitelkeit, dein Name ist Weib«, sagte Matt sonor. »Leck mich, Matt«, erwiderte Dr. Amelia Alice Payne.
Staff Inspector Peter Wohl war nicht das, was Amy Payne erwartet hatte. Sie war sich nicht sicher, was genau sie erwartet hatte – viel leicht eine jüngere Version von Matts ›Onkel‹ Denny Coughlin – aber sie hatte nicht gedacht, daß er ein netter, gutgekleideter junger Mann war (sie schätzte ihn auf Anfang Dreißig). »Amy«, sagte Matt, »dies ist Inspector Wohl. Amy Payne, Doktor der Medizin.« Wohl lächelte sie an. »Doktor, ich weiß sehr zu schätzen, daß Sie einem Gespräch zu gestimmt haben«, sagte er. »Ich weiß, welche Zumutung das ist.« »Es ist überhaupt keine«, sagte Amy und ärgerte sich über ihre überschwengliche Antwort. »Ich habe überlegt, wie wir am besten vorgehen«, sagte Wohl. »Ich schlage vor – wenn Sie so freundlich sind – , daß Sie die Akte lesen, die wir über diesen Mann haben, und mir dann sagen, was für ein Typ er ist.« »Ich verstehe«, sagte Amy.
Sein Blick spiegelte Überraschung und sogar Unmut darüber wider, daß sie ihm ins Wort gefallen war. Er lächelte. »Aber das ist wirklich kein Thema, über das wir beim Abendessen sprechen sollten. Und das Abendessen ist gewiß nötig. Wir müssen auch an Matt denken.« »Sir?« fragte Matt. Wieder dieses ›Sir‹-Getue, dachte Amy. Für wen hält er diesen Po lizisten? »Wann treffen Sie sich mit McFadden und Martinez?« »Um einundzwanzig Uhr in der FOP«, sagte Matt. Was, zum Teufel, ist Eff Oh Pee? dachte Amy. »So hatte ich es in Erinnerung«, sagte Wohl. »Ich schlage vor, wir essen in einem italienischen Restaurant in der Tenth Street. Dann setze ich Sie bei der FOP ab, Matt, und bringe Dr. Payne zum Präsi dium, wo ich in einem nicht benutzten Büro das Gespräch mit ihr füh re.« Ich verabscheue Spaghetti und das italienische Zeug, dachte Amy. Aber was habe ich erwartet? »Sir«, sagte Matt, »warum fahren Sie nicht hierher zurück? Ich meine, meine Schwester hat ihren Wagen hier in der Garage.« »Nun, ich weiß nicht…« »Wie würdest du reinkommen, wenn du uns deinen Schlüssel gibst?« fragte Amy. »Ich würde dir nicht meinen Schlüssel geben«, erklärte Matt gedul dig. »Ich würde die Tür zum Apartment offenlassen, und du benutzt deinen Schlüssel für die Haustür.« »Doktor?« fragte Peter höflich. »Was auch immer Sie für das beste halten«, hörte Amy sich sagen. Es ist völlig absurd von mir, daran zu denken, daß ich allein in ei nem Apartment mit einem Mann sein werde, den ich kaum kenne. Dies ist eine rein berufliche Sache. Er ist Polizist, und ich bin Ärztin. Ich werde meine berufliche Pflicht erfüllen, selbst wenn ich so tun muß, als wären Spaghetti und Fleischklößchen mein Leibgericht. Und außerdem ist es wichtig für Matt.
Der befrackte Kellner im Ristorante Alfredo neigte sich über den Tisch und hielt Peter Wohl mit einer Serviette eine Flasche Wein zur Begutachtung hin. »Es ist dem Haus eine Ehre, Sir«, sagte der Kellner mit leichtem italienischem Akzent. »Wird dies Ihren Ansprüchen genügen?«
Wohl blickte auf das Etikett der Weinflasche und wandte sich an Amy. »Ich bin damit einverstanden. Wie ist es mit Ihnen, Doktor? Es ist ein italienischer Pinot Noir.« »In Ordnung.« Amy schaute zu, während der Kellner die Flasche entkorkte, Wohl den Korken zeigte und dann etwas Wein zum Kosten in sein Glas einschenkte. »Prima, danke«, sagte Wohl. Dann füllte der Kellner alle drei Glä ser. »Ich denke, der Wein paßt gut zu den Tournedos Alfredo«, sagte der Kellner. »Danke, Sir.« Peter Wohl hatte den beiden erklärt, daß die Tornedos Alfredo, die er sehr empfahl, eine Art italienische Version von Steak mit einer marchand de vin Sauce war, die jedoch eine Spur mehr Knoblauch enthielt. »Sie müssen hier ein ziemlich guter Gast sein, Inspector«, sagte Amy, und es wurde ihr bewußt, daß ihr Tonfall leicht spöttisch war. »Ich bin oft hier«, erwiderte Wohl. »Ich versuche, es nicht übermä ßig zu beanspruchen und für einen passenden Anlaß zu bewahren.« »Wie bitte?« »Nun, man nimmt hier kein Geld von mir«, sagte Wohl. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Amy. »Dieses Restaurant gehört der Mafia«, erklärte Wohl sachlich. »Genauer gesagt einem Mann namens Vincenzo Savarese – die Li zenz läuft unter einem anderen Namen, aber Savarese steht dahinter – , und er hat angeordnet, daß man mir nichts in Rechnung stellt.« »Verzeihen Sie, aber nennt man das nicht ›schmieren‹?« sagte Amy bissig. »Mein Gott, Amy!« Matt sah sie ärgerlich an. »Nein«, antwortete Wohl. »›Schmieren‹ läßt man sich, wenn man Waren oder Leistungen oder Geld annimmt und als Gegenleistung kriminelle Aktivität ignoriert. Vincenzo Savarese weiß, daß ich ihn liebend gern hinter Gitter bringen möchte; und daß ich genau das mit allen Mitteln versucht habe, bevor man mir diesen neuen Job gab.« »Warum bezahlt er dann Ihre Restaurant-Rechnungen?« fragte Amy. »Wer weiß? Der Mob ist merkwürdig. Das organisierte Verbrechen operiert, als wäre es immer noch auf Sizilien oder in Neapel, mit ei nem pervertierten Ehrenkodex. Savarese hält sich für einen ›Mann von Ehre‹ und meint, ich sei ebenfalls einer. Er hielt Dutch Moffitt für einen Ehrenmann. Mrs. Savarese und deren Schwester gingen zu Dutch Moffitts Beerdigung. Und bevor Dutch zur Highway Patrol ging, war er in der Abteilung Organisiertes Verbrechen und setzte alles
daran, Savarese in den Knast zu bringen.« Amy sagte sich, daß sie zuviel redete und Zeit brauchte, um zu verarbeiten, was sie soeben gehört hatte. Der Kellner und zwei Pikkolos servierten die Tournedos Alfredo und die Beilagen. Nachdem Amy zwei Bissen gegessen hatte, konnte sie ihre Neugier nicht mehr zügeln. »Und geht es nicht gegen Ihren Sinn für Recht und Unrecht, wenn Sie sich von einem Gangster freihalten lassen?« fragte sie. »Mensch, Amy!« mahnte Matt wieder. »Nein«, sagte Wohl und zeigte Matt mit einer Geste, daß ihm die Frage nichts ausmachte und er sich nicht aufregen sollte. »Morgen früh schicke ich der Abteilung Interne Angelegenheiten eine Aktenno tiz, in der ich melde, daß ich hier kostenlos gegessen habe. Warum sollte ich das Essen nicht annehmen? Savarese weiß, daß er keine Gegenleistung erhält, und es ist erstklassiges Essen.« »Aber Sie wissen, daß er ein Gangster ist«, sagte Amy. »Und er weiß, daß ich ein Cop bin, ein ehrbarer Cop«, konterte Wohl. »Was ist unter diesen Umständen, wenn es uns beiden Spaß macht, daran auszusetzen?« Amy Payne fand kein triftiges Gegenargument und ärgerte sich. Dann sah sie, daß Matt grinste, und sie ärgerte sich noch mehr. Matt blickte auf seine Armbanduhr, als der Servierwagen mit den Desserts an den Tisch gerollt wurde. Dann sprang er auf. »Ich muß zum FOP«, sagte er. »Eßt zu Ende. Ich nehme mir ein Taxi. Oder laufe.« Als er fort war, sagte Wohl: »Er ist ein sehr netter junger Mann, noch feucht hinter den Ohren, aber sehr nett.« »Ich glaube, ich sollte ihnen sagen, daß ich alles andere als begei stert über seine Berufswahl bin, Inspector.« »Es hätte mich sehr überrascht, wenn Sie begeistert wären«, erwi derte Wohl. »Ihre Mutter muß sehr bestürzt sein.« Verdammt, du solltest mir nicht zustimmen! dachte Amy. »Das ist sie«, sagte sie. »Ich aß heute mittag mit ihr. Sie war sehr besorgt.« »Ich bemitleide mich selbst ein bißchen«, sagte Wohl. »Dennis Coughlin schickte ihn zu mir, mit der unausgesprochenen, aber sehr offenkundigen Anweisung, daß ich mich um ihn kümmern soll. Ich nehme an, er ist vermutlich so unglücklich wie Sie und Ihre Familie über seinen Job.« Peter Wohl schaute sie an, und als sie schwieg, fügte er hinzu: »Er ist einundzwanzig, Dr. Payne. Vermutlich hat es ihn sehr gedemütigt, daß er nicht die ärztliche Untersuchung für die Aufnahme ins Marine
Corps bestanden hat. Er hat sich entschieden, Polizist zu werden, und ich bezweifle, daß irgend jemand ihm das hätte ausreden kön nen.« Das brauchst du mir nicht zu erklären, du verdammter Kerl! dachte Amy. »Sind Sie anderer Meinung?« fragte Wohl. »Ich nehme an, das stimmt«, sagte Amy. »Wohin geht er heute nacht? Was ist Eff Oh Pee?« »Fraternal Order of Police«, erklärte Wohl. »Eine Art Club der Poli zei bei der Spring Garden und Broad Street. Er trifft dort zwei meiner Männer. Sie machen sich dann auf die Suche nach einem Mann, den wir einer Diebstahlserie in Chestnut Hill verdächtigen. Ich habe sie angewiesen, Matt mitzunehmen, damit er lernt, wie die Dinge auf der Straße ablaufen.« »Oh«, murmelte Amy. »Diese Schokoladenpastete – oder was immer das ist – sieht gut aus«, sagte Wohl. »Möchten Sie ein Stück?« »Nein, danke«, sagte Amy. »Nichts für mich, danke.« »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir etwas nehme?« »Nein, natürlich nicht« sagte Amy. Zum Teufel mit diesem Mann, er hat eine Haut wie ein Elefant, die ser selbstgefällige Hurensohn!
Matt stieg vor dem FOP-Gebäude in der Spring Garden Street aus dem Taxi und blickte auf seine Armbanduhr. Er war fünf Minuten zu spät. Verdammt! dachte er. Und dann: Zweimal verdammt, entweder bin ich an der falschen Adresse, oder es ist geschlossen! Dann sah er Bewegung an der rechten Ecke des Gebäudes; zwei Personen verschwanden durch eine Tür. Matt ging zu der Tür, sah, daß eine Treppe hinabführte, und stieg sie hinab. Er entspannte sich gerade, als er erkannte, daß er die Bar der FOP gefunden hatte, wenn auch fünf Minuten zu spät, als ihm ein großer Mann in den Weg trat. »Dies ist ein Privatklub, Freundchen«, sagte der Mann. »Ich treffe mich mit jemandem«, erwiderte Matt. »Mit Officer McFadden.« Der Mann musterte ihn zweifelnd, doch dann trat er zur Seite und wies in die Bar. Matt fragte sich, wie man Mitglied im FOP werden konnte; er würde sich erkundigen müssen.
In der Bar war es schummrig und laut. Es gab eine Tanzfläche vol ler Leute, und was er zuerst für die Musik einer Band gehalten hatte, war Schallplattenmusik, die sehr laut aus gewaltigen Lautsprecherbo xen erklang. Am fernen Ende des Raums sah er eine Bar, und er ging hin. Die Officers McFadden und Martinez standen an der Bar. »Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte Matt. »Wir fragten uns gerade, wo Sie bleiben«, sagte Charley McFad den. »Sie müssen lernen, pünktlich zu sein«, fügte Jesus Martinez hin zu. »Er sagte doch, daß es ihm leid tut, Che-sus«, wandte McFadden zu Matts Verteidigung ein. Matt sah, daß McFadden Ortleib’s Bier aus der Flasche trank. Mar tinez hatte ein Glas mit einer Flüssigkeit, die wie Wasser aussah. »Möchten Sie ein Bier, Matt?« fragte McFadden. »Bitte«, sagte Matt. »Ortleib’s.« »He, Charley«, rief McFadden seinem Namensvetter hinter der Bar zu. »Noch eine Runde für uns!« »Zwei Bier und ein Glas Wasser?« fragte der Barkeeper. »Oder nuckelt Jesus immer noch an seinem Wasser?« »Nenn ihn Che-sus«, sagte McFadden. »Das gefällt ihm besser. Charley, das hier ist Matt Payne.« Matt wurde abgelenkt von etwas zu seiner Rechten. Eine Frau neigte sich von ihrem Barhocker und warf eine leere Ziga rettenschachtel in einen Mülleimer. Als sie sich vorneigte, erhaschte Matt einen Blick auf ihren BH im Ausschnitt des Kleides. Ihr BH war ein Exemplar, das Matt noch nicht in natura, jedoch in Playboy, Pent house und anderen Magazinen gesehen hatte, die von jungen Män nern wegen des hohen literarischen Gehalts ihrer Artikel und Essays gekauft wurden. Der BH war schwarz, aus Spitze, und anstatt der Stoffhalbkugeln eines normalen Büstenhalters hatte dieser nur halbe Halbkugeln, so der obere Teil der Brüste, einschließlich der Kronen, Matts Blick preisgegeben war. Matt fand das sehr interessant, und es war ihm äußerst peinlich, als die Frau zu ihm blickte, ihn starren sah, »Hi!« sagte und sich wie der gerade auf den Barhocker setzte. Sie war alt, fand er, mindestens fünfunddreißig, und sie hatte ihn dabei ertappt, wie er auf ihre Brüste gestarrt hatte. Verdammt! Wenn sie, etwas sagt… »Matt, begrüßen Sie Charley Castel!« wiederholte Charley McFad
den. Matt reichte Charley Castel die Hand. »Guten Tag.« »Matt ist mit uns im Dienst für die Special Operations«, sagte Char ley McFadden. »Tatsächlich?« Charley Castel musterte Matt. »Er kommt gerade erst von der Akademie«, warf Jesus Martinez ein. Vielen Dank, Kumpel, dachte Matt. »Tatsächlich?« wiederholte Charley Castel. »Nun, willkommen im Job, Matt.« »Wollt ihr mich nicht mit eurem Freund bekannt machen?« hörte Matt eine weibliche Stimme. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, daß es die Frau war, die ihn ertappt hatte, als er auf ihren Busen ge starrt hatte. »Ja, warum nicht?« Charley McFadden lachte. »Lorraine, das ist Matt Payne. Matt, die Lady ist Lorraine Witzell.« »Guten Abend, Matt Payne«, sagte Lorraine und schob sich zwi schen Matt und Charley, um Matt die Hand zu geben. Dabei drückte ihre Brust gegen Matts Arm. »Matt ist die Kurzform von Matthew, oder?« »Ja, Ma’am«, sagte Matt. »Ja, Ma’am«, plapperte Jesus Martinez spöttisch nach. »Sie sind süß«, sagte Lorraine Witzell zu Matt, schaute ihm in die Augen und ließ seine Hand nicht los. »Hörte ich richtig, daß Sie bei Special Operations sind?« »Das ist richtig«, sagte Matt. Für eine ältere Frau sieht sie wirklich nicht schlecht aus, dachte er. Und sie hat mich gar nicht beim Peilen in Ihren Ausschnitt ertappt. Oder es macht ihr nichts aus. »Das sollte ein interessanter Job sein«, sagte Lorraine. Erst jetzt ließ sie Matts Hand los. »Wir sind jetzt im Dienst, Lorraine«, sagte Charley McFadden. »Wir sprechen gerade darüber.« »Ihr arbeitet in Zivil?« fragte Lorraine. Matt spürte, daß die Frage an ihn gerichtet war, doch Charley beantwortete sie. »Wir suchen einen schwulen Dieb«, sagte Charley. »Hat eine rei che Frau in Chestnut Hill beklaut.« »Nun, wenn Sie die Schwulenkneipen abklappern«, sagte Lorraine, jetzt direkt an Matt gerichtet, »dann halten Sie besser die Hand auf dem Sie wissen schon wo, und ich meine nicht Ihre Waffe. Die war men Jungs werden Sie lieben!« »Wir überlegten gerade, Matt, daß wir uns vielleicht trennen«, sag
te Charley McFadden. »Che-sus nimmt den neutralen Wagen – er trinkt nichts Alkoholisches, und es ist so besser – , und Sie und ich fahren zusammen.« »Wie Sie meinen, Charley«, sagte Matt. »Sie haben Ihren Wagen dabei? Meiner ist ‘ne alte Karre.« »Ich bin mit einem Taxi gekommen«, sagte Matt. »Oh.« McFadden konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Aber ich wohne nicht weit von hier. Es ist kein Problem, den Wa gen zu holen«, sagte Matt. McFaddens Miene hellte sich auf. »Ich dachte mir, daß wir mit einem Wagen wie Ihrem in diesen Kreisen besser ankommen«, sagte McFadden. »Ich verstehe«, erwiderte Matt. »Sie meinen, das ist die Art Wa gen, die ein Schwuler fährt?« »Das habe ich nicht gesagt.« McFadden war sichtlich verlegen. »Aber – nichts für ungut – ja.« »Was für einen Wagen haben Sie?« fragte Lorraine. »Einen Porsche 911 T«, antwortete Charley für Matt. »Oh, wie toll!« sagte Lorraine und drückte Charleys Arm. Dabei schob sie sich an ihn, und er spürte wieder den Kontakt mit ihrem Busen. Das verursachte bei Matt Payne eine körperliche Reaktion, die er unter den gegebenen Umständen, an diesem Ort und in diesem Mo ment lieber nicht gehabt hätte. »Wo wohnen Sie, Payne?« fragte Jesus Martinez. »Am Rittenhouse Square«, sagte Matt. »Das paßt«, sagte Martinez. »Dann laßt uns von hier ver schwinden. Jemand könnte unseren Wagen auf dem Parkplatz sehen und Fragen stellen.« »Auf die wir antworten werden, wir holten Payne ab und du trankst Wasser«, entgegnete McFadden. Er nahm seine Flasche Ortleib’s und trank ausgiebig. »Che-sus macht sich ständig Sorgen«, sagte Charley zu Matt. »Darüber solltest du dich freuen«, erwiderte Martinez. Lorraine Witzeil schob sich zwischen Charley und Matt hindurch, um ihr Glas auf die Bar zu stellen, wobei ihr Po gegen Matts Leisten gegend und das physiologische Phänomen drückte, das ihm in die sem Moment ziemlich peinlich war. Es störte Lorraine anscheinend überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Sie drängte sich noch fester an ihn. Matt trank einen Schluck Bier aus der Flasche. »Ich bin bereit«, sagte er zum Zeichen seiner Bereitschaft zum
Aufbruch. »Jederzeit.« Lorraine Witzeil lachte tief und kehlig. »Nun«, sagte sie, »wenn es eine langweilige Nacht für Sie wird, kommen Sie doch zurück. Ich werde vermutlich hier sein.«
15
Um viertel vor eins stoppte Officer Charley McFadden Matt Paynes Porsche vor einem Reihenhaus in der Fitzgerald Street, nicht weit entfernt vom Methodist Hospital in South Philadelphia. »So geht es manchmal«, sagte Charley zu Matt. »Manchmal zieht man los und findet den Gesuchten ohne die geringsten Schwierigkei ten. Und manchmal wird es eine Pleite wie diesmal. Aber wir werden den Bastard schnappen. Che-sus wird etwas herausfinden.« »Ja«, sagte Matt. »Und Sie haben die Schwulenlokale gesehen«, sagte Charley. »Also war es keine völlige Zeitverschwendung, oder?« »Es war – lehrreich«, sagte Matt mit ein wenig schwerer Zunge. »Dabei waren wir nicht mal in allen.« McFadden lachte. »Vielleicht in der Hälfte.« »Es gibt anscheinend mehr solcher Lokale, als ich für möglich gehalten habe«, sagte Matt und bemühte sich, jede Silbe deutlich auszusprechen. »Können Sie noch fahren?« »Na klar«, sagte Matt. »Sie können bei mir auf der Couch schlafen«, bot Charley an. »Danke, aber ich kann fahren.« »Seien Sie vorsichtig, ja? Sie wollen doch nicht diesen tollen Wa
gen verbeulen.« »Ich werde aufpassen«, sagte Matt, stieg aus und ging um das Heck herum. »Wir werden den Bastard schnappen«, wiederholte Charley McFadden. »Und was soll’s, wir bekommen die Überstunden bezahlt, richtig?« »Richtig«, sagte Matt und setzte sich hinters Steuer. »Gute Nacht, Charley. Bis morgen früh.« Er fuhr zur South Broad Street zurück und dann in Richtung Willy Penn, der die Stadt oben von der City Hall aus überblickte. Matt hatte Charley McFadden nach ›dieser Frau, mit der Sie mich in der FOP-Bar bekannt gemacht habe‹, befragt, nachdem sie den Porsche abgeholt hatten und auf dem Weg nach West Philadelphia gewesen waren. »Sie arbeitet für den District Attorney«, hatte Charley gesagt. »Man nennt sie ›Die Scharfe‹.« »Warum?« »Nun, sie ist scharf auf Cops«, sagte Charley. »Besonders auf jun ge Cops. Hat sie Ihnen zwischen die Beine gefaßt?« »Nein. Nichts dergleichen«, sagte Matt. »Ich war nur neugierig, das ist alles.« »Das überrascht mich«, sagte Charley. »Ich hatte den Eindruck, daß sie sehr an Ihnen interessiert war.« »Sie weiß anscheinend allerhand über die Polizei und die Polizei arbeit.« »Soviel wie jeder Cop«, hatte Charley gesagt. Matt gelangte zur City Hall, fuhr darum herum die North Broad Street hinauf zur Spring Garden Street und auf den Parkplatz der Fraternal Order of Police. In dem Club war immer noch viel Betrieb. Matt ging zur Bar und bestellte Scotch und Soda. Er hatte viel getrunken, und einiges davon war von den Besitzern der Etablissements spendiert oder einfach vom Barkeeper vor ihn hingestellt worden, der dann gesagt hatte: »Von dem großen Typ am Ende der Bar« oder etwas in dieser Art. Er sah Lorraine Witzell am fernen Ende der Bar in der Gesellschaft dreier Männer. Es war blöde von mir, überhaupt hierher zu fahren, dachte Matt. Ein paar Minuten später spürte er plötzlich eine Hand, die über sei nen Nacken streichelte. »Ich dachte schon, Sie haben etwas Interessanteres gefunden«, sagte Lorraine Witzell, als sie auf den Barhocker neben ihm glitt und sich damit zu ihm drehte, wobei erst eines ihrer Knie ihn berührte,
dann das andere. »Darf ich Ihnen einen ausgeben?« fragte Matt langsam und um deutliche Aussprache bemüht. Lorraine Witzell schaute ihn an und lächelte. »Das dürfen Sie, aber ich halte es für sinnvoller, Sie mit zu mir nach Hause zu nehmen und mit etwas Kaffee zu füllen. Sie können mich ein anderes Mal zu einer Fahrt in Ihrem Porsche einladen. Er wird hier auf dem Parkplatz sicher sein.« »Ich kann noch fahren«, protestierte Matt ein wenig trotzig, als Lor raine sich bei ihm einhakte und ihn aus der Bar führte.
Peter Wohl ging zu seinem Wagen und wartete, bis er Dr. Amelia Paynes Buick Kombi aus der Gasse neben dem Gebäude der Dela ware Valley Krebsforschungsgesellschaft kommen und vorbeifahren sah. Er winkte ihr, aber Dr. Payne sah es entweder nicht oder ignorierte es. Er zuckte mit den Schultern und stieg in seinen Wagen. Er starte te und griff nach dem Mikrofon im Handschuhfach. Erst dann erkann te er, daß das der falsche Funk war. Er legte das Mikrofon ins Hand schuhfach zurück und nahm das Mikrofon neben dem Sitz aus der Halterung, das ihm Zugang zu der Frequenz der Highway Patrol er laubte. Es wurde ihm bewußt, daß ein Wagen neben ihm angehalten hat te. Er wandte den Kopf und sah zwei Polizisten der Highway Patrol, die ihn von den vorderen Sitzen eines neutralen Wagens anschauten. Er winkte und lächelte. Keiner der beiden Polizisten reagierte auf die Geste, aber sie fuhren weiter. Entweder haben sie mich nicht erkannt, oder sie haben mich er kannt und sind nicht in besonders freundlicher Stimmung gegenüber dem Hundesohn, der dem guten Mike Sabara die Highway Patrol wegnahm und Dave Pekach gab. Er hob das Mikrofon an und lächelte. »Highway eins, hier ist W-William eins.« »Highway eins«, meldete sich Pekach sofort. Es überraschte Wohl nicht, daß Pekach auf war und herumfuhr. Er war nicht nur neu in dieser Position und äußerst gewissenhaft, sondern er war es auch gewohnt, nachts zu arbeiten. Es würde eine Woche oder vielleicht länger dauern, bis er sich daran gewöhnte, daß der Chef der Highway Patrol in der Tagesschicht arbeitete. »Ich bin auf dem Rittenhouse Square, David. Wo sind Sie? Wo können wir uns treffen?«
Wohl lachte. Die Bremslichter des neutralen Wagens der Highway Patrol leuchteten auf, und der Wagen fuhr einen Augenblick langsa mer. Der Fahrer hatte offenbar im Reflex auf die Bremse getreten, als er gehört hatte, daß der neue Boß Highway eins gerufen hatte. Wohl konnte sich vorstellen, was der Fahrer gedacht hatte: Ich wußte doch, daß er das war. Was führt der Bastard im Schilde? »Ich bin auf dem Expreßway, ungefähr eine Meile von Manayunk Bridge entfernt«, sagte Pekach. »Nennen Sie den Treffpunkt.« »Sie wissen, wo ich wohne?« »Ja, das weiß ich.« »Ich treffe Sie dort«, sagte Wohl und hakte das Mikrofon ein. Als Wohl eintraf, lehnte Pekach in voller Uniform, komplett mit Mo torradfahrerstiefeln und Sam-Browne-Koppel mit glänzenden Patro nen in den Schlaufen am blauweißen Streifenwagen der Highway Patrol. Es würde mich nicht überraschen, wenn er auf dem Expreß way mit Radar auf Temposünder gelauert hat, dachte Wohl, und dann bedauerte er es sofort. Der Gedanke war unfreundlich und stimmte nicht. David Pekach tat, was er, Wohl, unter den gegebenen Umstän den ebenfalls getan hätte: er machte klar, daß die Highway Patrol erwarten konnte, daß der Boß des Nachts herumfuhr, und – ebenso wichtig – , daß er nicht in einem neutralen Wagen herumschnüffelte, sondern in Uniform und in einem blauweißen Streifenwagen. Wohl stoppte den LTD vor der Garage und stieg aus. »Lassen sie mich den Wagen in die Garage fahren, David«, rief er. »Und dann gebe ich Ihnen ein Bier aus. Lange Nacht?« »Ich hielt es für eine gute Idee, herumzufahren«, sagte Pekach. »Das finde ich auch.« Wohl öffnete das Garagentor. »Aber es ist nach Mitternacht.« Er fuhr den Wagen in die Garage und führte Pekach dann die Treppe hinauf zu seinem Apartment. »Haben Sie die Zeitungen gelesen?« fragte Pekach. »Nein, hätte ich das tun sollen?« »Ich glaube, ja. Ich habe Ihnen Bulletin und Ledger mitgebracht.« »Danke«, sagte Wohl. »Ich werde schnell die Kaffeemaschine an werfen.« »Ich habe zuviel Kaffee getrunken. Ein Bier wäre prima.« »Nehmen Sie Platz.« Wohl wies auf die Couch unter dem Ölge mälde, das eine wollüstige Nackte zeigte. Dann ging er zum Kühl schrank und kehrte mit zwei Flaschen Bier zurück. »Glas?« »Nein, ich trinke gern aus der Flasche. Danke.« »Nichts im Fall Elizabeth Woodham?« fragte Wohl. »Ich hoffte, zu hören …«
David Pekach schüttelte den Kopf. »Nicht das geringste. Ich war so frustriert, daß ich einem Tempo sünder einen Strafzettel verpaßte.« »Tatsächlich?« Wohl lachte. »Der Kerl schoß mit über achtzig Stundenmeilen an mir vorbei, als wäre ich nicht da. Ich dachte, er wäre betrunken, und so stoppte ich ihn. Er war nüchtern. Hatte es nur eilig.« »Es ist lange her, seit ich den letzten Strafzettel ausschrieb«, sagte Wohl. »Der Kerl wurde dann frech. Er sagte, es überrasche ihn, daß ein Captain Strafzettel für zu schnelles Fahren verteile, während ein Ver gewaltiger und Frauenentführer frei herumläuft.« »Autsch«, sagte Wohl. »Ich hätte den Hurensohn am liebsten verprügelt«, sagte Pekach. »Das war kurz vor Ihrem Funkruf.« »Ich hatte eine beunruhigende Sitzung, bevor ich Sie über Funk rief«, sagte Wohl. »Mit einer Psychiaterin. Haben Sie den Jungen im Hauptquartier gesehen? Payne?« »Er ist Dutchs Neffe?« »Ja. Nun, die Psychiaterin ist seine Schwester. Ich ließ sie die Ak ten lesen und fragte sie nach einem Persönlichkeitsprofil des Täters.« »Und?« »Es kam nicht viel dabei heraus, was uns helfen wird, ihn zu fin den, befürchte ich. Aber sie sagte, wenn jemand wie dieser Täter anfängt, seine Phantasien auszuleben, dann rutscht er immer weiter den Abhang hinab.« »Hm«, murmelte Pekach. »Das heißt, er ist nicht zu stoppen und hält sich für unbesiegbar. Er meint, er kann mit allem ungestraft davonkommen. Schlimmer noch, um den gleichen Kitzel, die gleiche Befriedigung zu finden, muß er seine Phantasien immer schlimmer austoben.« »Die Psychiaterin glaubt nicht, daß wir die Woodham lebend finden werden?« »Nein, sie bezweifelt das sehr. Und weil der Täter sich für unbe siegbar hält und überzeugt ist, nicht geschnappt zu werden, wird er sich neue Opfer suchen, in immer schnelleren Abständen.« »Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Pekach. »Sie sagte, beim erstenmal schämte er sich vielleicht nach der Tat und befürchtete, erwischt zu werden. Und als er ungestraft davon kam, verlor er die Furcht. Er erinnerte sich, welchen Kitzel er gehabt hatte. So tat er es wieder, setzte noch schlimmere Phantasien in die Tat um, hatte etwas weniger Angst und schämte sich viel weniger.«
»Jesus!« »Doktor Payne sagte, er steigerte sich in Ekstase.« »Sie meint, er verliert die Kontrolle über sich?« »Ja.« »Versteht die Frau ihr Metier?« »Ich befürchte, ja«, sagte Wohl. »Was können wir tun, das wir nicht getan haben?« fragte Pekach. »Tony Harris überprüft die kleineren Fälle von Sextätern«, sagte Wohl. »Er meint, dieser Kerl wurde vielleicht mal wegen minderer Delikte festgenommen, wegen Exhibitionismus oder auf Grund einer Anzeige von Nutten. Mike Sabara rekrutiert Leute, und sobald sie eintreffen, lasse ich sie für Harris diese Typen abklappern.« »Es würde mich sehr überraschen, wenn heute nacht nicht jeder Van, der auch nur irgendwie auffällt, gestoppt werden würde«, sagte Pekach. »Aber wir können nicht jeden verdammten Van in der Stadt stoppen und nach einem behaarten Weißen suchen, von dem es kei ne weitere Beschreibung gibt.« »Ich weiß«, sagte Wohl. »Ich war heute abend beim Anwesenheitsappell«, sagte Pekach, »und ich erinnerte die Highway Patrol daran, daß wir die gottver dammte Presse, besonders den gottverdammten Ledger vom Hals haben, wenn wir diesen Dreckskerl fassen. Natürlich versuchen die Jungs ohnehin, den Bastard zu schnappen.« Wohl nickte. »Sitzt Ihnen Czernick im Nacken, Peter? Coughlin? Der Bür germeister?« »Noch nicht«, sagte Peter Wohl. »Aber sie werden mich unter Druck setzen.« »Was erwarten die denn?« »Resultate«, sagte Wohl. »Ich bin weit offen für Vorschläge, Da vid.« »Ich habe keine, tut mir leid«, sagte Pekach. »Welchen Eindruck hatten Sie heute nacht?« fragte Wohl. »Wie meinen Sie das?« »In welcher Verfassung ist die Highway Patrol? Sind Sie nicht des halb herumgefahren?« Pekach hielt Wohls Blick einen Moment lang stand, bevor er ant wortete. »Ich fuhr zu sechs Einsätzen«, sagte er. »Einer auf Highway fünf undneunzig, einer auf dem Expressway, beides Verkehrs übertretungen, und die anderen waren ein Überfall, zwei Einbruch diebstähle, eine bewaffnete Person, solche Dinge. Ich fand nicht das
geringste an der Arbeit der Highway Patrol auszusetzen.« »Hat die AID irgendwelche Zeugen bei dem Unfall aufgetrieben?« Bei jedem Unfall, bei dem Fahrzeuge der Stadt verwickelt sind, er mittelt die Accident Investigation Division der Polizei. »Keinen einzigen.« »Nun, ich werde das überprüfen und dafür sorgen, daß sie es wei terhin versuchen«, sagte Wohl. »Das wollte ich tun, Inspector«, sagte Pekach kühl. »Ich meinte es nicht so, David, wie Sie es offenbar aufgefaßt ha ben«, sagte Wohl ruhig. »Ich habe auch verbreitet, daß die AID vielleicht ein wenig Hilfe brauchen könnte«, sagte Pekach. »Was heißt das genau, David?« fragte Wohl, und seine Stimme klang jetzt eisig. Pekach antwortete nicht; es war offenkundig, daß er nichts sagen wollte. »Heraus mit der Sprache«, verlangte Wohl. Pekach zuckte mit den Schultern. »Es würde mich nicht überraschen, wenn ein paar Leute in Zivil kleidung und mit Krawatte an Haustüren in dieser Gegend klingeln. Und wenn einer von ihnen einen Zeugen findet und dann anonym, als pflichtbewußter Bürger die AID anruft und den Namen des Zeugen nennt, ist doch nichts daran auszusetzen, oder?« »Sie meinen natürlich dienstfreie Leute mit Zivilkleidung und Kra watte? Leute, die man leicht für Zeitungsreporter oder Ver sicherungsermittler halten könnte, weil sie nicht einmal andeuten, daß sie von der Polizei sind?« »So ist es«, sagte Pekach. »In diesem Fall, David«, sagte Wohl lächelnd, »finde ich, daß der neue Chef der Highway Patrol bereits gelernt hat, daß einige Dinge, die ein Chef tun muß, nicht in den Lehrbüchern stehen.« »Es tut mir leid, daß ich Sie vorhin angeschnauzt habe«, sagte Pe kach. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Entschuldigung.« »Vielleicht sind wir beide ein wenig nervös in unseren neuen Jobs.« »Da haben Sie verdammt recht«, stimmte Pekach zu und lachte. »Möchten Sie noch ein Bier, David?« »Nein. Das eine reicht. Jetzt fühle ich mich schläfrig.« Er stand auf. »Irgend etwas wird sich in dem Fall Woodham ergeben, Peter. So ist es immer.« »Ich befürchte, es wird nichts Gutes sein«, sagte Wohl. Und dann wechselte er das Thema. »Was glauben Sie, wie lange es dauert, bis Ihre Frau dahinterkommt, daß der Chef der Highway Patrol keine
achtzehn Stunden pro Tag arbeiten muß?« »Das wird ewig dauern, denn ich habe keine Frau«, sagte Pekach. »Oder war das eine höfliche Anweisung, daß ich nicht herumfahren soll?« »Es war eine höfliche Anweisung, mit dem Achtzehnstundentag aufzuhören«, sagte Wohl. Pekach schaute ihn lange an, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß dies eine ehrliche Antwort war, und er entschloß sich, ebenfalls ehrlich zu sein. »Ich betrachte mein Amt bei der Highway Patrol als eine Art Ehre, Peter. Ich will meine Sache richtig machen.« »Sie können sie richtig machen, wenn Sie, sagen wir mal, zwölf Stunden pro Tag arbeiten«, erwiderte Wohl lächelnd. ›Schilt da nicht ein Esel einen anderen Langohr?‹ »Der Unterschied ist, daß Sie einen freundlichen, verständnisvollen Vorgesetzten haben«, sagte Wohl. »Ich hingegen habe Coughlin, Czernick und Carlucci als Vorgesetzte.« »Eins zu null für Sie.« Pekach lachte. »Gute Nacht, Peter. Danke für das Bier.« »Danke für das Gespräch«, sagte Wohl. »Ich wollte bei jemandem Gescheitem loswerden, was Dr. Payne sagte.« »Ich befürchte sehr, daß sie recht hat«, sagte Pekach. Dann fügte er hinzu: »Lesen Sie die Zeitungen nicht heute nacht. Lassen Sie sich lieber das Frühstück als den Schlaf verderben.« »So schlimm?« »Der Ledger will uns wirklich fertigmachen, besonders Sie«, sagte Pekach. »Nun, ich werde es lesen müssen«, sagte Wohl, während er Pe kach zur Tür begleitete. Als Pekach fort war, trug Wohl die Bierflaschen zur Spüle, leerte den Rest Bier aus seiner Flasche aus und legte beide Flaschen in den Mülleimer unter der Spüle. Wohl ging in sein Schlafzimmer und zog sich aus. Dann überwältig te ihn die Neugier. Er ging nackt ins Wohnzimmer und holte die Zeitungen. Er breitete sie auf dem Bett aus und setzte sich hin, um zu lesen. Auf der Titelseite des Ledger war ein Foto von Elizabeth J. Wood ham unter der Schlagzeile: ENTFÜHRTE LEHRERIN. Unter dem Foto stand eine lange Bildunterschrift. Elizabeth J. Woodham, 33, von der E. Mermaid Lane 300 in
Chestnut Hill, wird immer noch vermißt, nachdem sie vor zwei
Tagen mit einem Messer an der Kehle in einen Van gezwungen und entführt wurde. Es herrscht die allgemeine Ansicht, daß der Entführer der Vergewaltiger ist, der in Chestnut Hill sein Unwe sen treibt. Inspector Peter Wohl, der vor kurzem Chef einer neuen Spe cial Operations Division wurde, die für die Ermittlungen in dem Entführungsfall verantwortlich ist, war ›nicht erreichbar für die Presse‹ und eine Erklärung, und Captain Michael J. Sabara, vor kurzem als Chef der Highway Patrol abgelöst, um Wohls Stell vertreter zu werden, lehnte es ab, Fragen bezüglich Miss Wood ham zu beantworten, die ihm von einem Reporter des Ledger gestellt wurden. Aus zuverlässigen Quellen hieß es jedoch, daß die Polizei keinerlei Hinweise hat, die zu dem Täter führen könnten, und keine Beschreibung, außer daß es sich um eine ›behaarte, rede gewandte, weiße, männliche Person‹ handelt. (Weitere Einzel heiten und Fotos auf Seite 3. Die Bearbeitung dieses Falles ist auch das Thema des heutigen Leitartikels). Peter las den Artikel auf Seite drei, der nichts enthielt, was er nicht schon gesehen hatte, und dann widmete er sich dem Leitartikel. SÄUBERUNGSAKTION NÖTIG,
KEIN REINWASCHEN
Es ist empörend angesichts der Millionen Dollar, die Philadel phias Steuerzahler in blindem Vertrauen in ihre Polizei stecken, daß überhaupt eine Frau mit einem Messer an der Kehle entfuhrt werden kann. Und es ist noch ungeheuerlicher, daß die Polizei vierundzwanzig Stunden nach der Entführung, statt all ihre Zeit und Mühe aufzuwenden, um den Täter zu fassen und die ent führte Lehrerin zu retten, viele Mitglieder der sogenannten Elite einheit Highway Patrol damit beschäftigt, Zeugen zu suchen, die bereit zu der Aussage sind, daß der Vater des vierjährigen Jun gen, der ums Leben kam, als ein Streifenwagen der Highway Pa trol bei Rot über eine Kreuzung fuhr und seinen Wagen rammte, die Schuld hat und nicht die Polizei. Es ist unglaublich, daß Inspector Peter Wohl, ein Spezi von Polizeichef Czernick und der Verantwortliche in dieser Sache, ›nicht erreichbar‹ für die Presse war. Die Leute haben ein Recht, zu erfahren, wie gut – oder wie schlecht – ihre Polizei sie schützt.
Bürgermeister Carlucci sollte Czernick und Wohl ablösen und durch Polizeibeamte ersetzen, die pflichtbewußt die Öffentlich keit schützen, anstatt die häufigen und gut belegten Exzesse und Fehler der Highway Patrol zu vertuschen. Alles andere ist Amts vergehen. »O Scheiße«, sagte Peter Wohl müde und schlug die Zeitung zu. Dann nahm er den Bulletin. Da waren zwei Artikel über die Wood ham-Entführung. Einer war eine Schnulze, die auf die Tränendrüse drückte und von einer Frau namens Cheryl Davies geschrieben wor den war. Sie zeichnete die Seelenqualen und Ängste von Elizabeth J. Woodhams Familie und Freunden auf. Cheryl Davies hatte ihre Hausaufgaben gemacht, das mußte Peter widerwillig zugeben. Da war ein Foto von zwei Sechstkläßlern, die in Elizabeth Woodhams Klasse gewesen waren, und es wurden ihre Reaktionen geschildert. Mickey O’Haras Artikel war mehr oder weniger optimistisch. Er schrieb unter anderem: … hat Commissioner Czernick zugestimmt, zu Staff Inspector Peter Wohls vor kurzem neu gebildeter Special Operations Divi sion zwei der angesehensten Kriminalbeamten der Mordkom mission zu versetzen – Jason Washington und Anthony Harris. Wohl, der selbst einen hervorragenden Ruf als Ermittler genießt, hat den Entführungsfall Woodham Washington und Harris über tragen, und wie verlautet, arbeitet er selbst rund um die Uhr an den Ermittlungen… Er las Mickeys Artikel zu Ende und atmete tief durch. Dann erhob er sich und ging mit den Zeitungen in die Küche, um sie in den Müll eimer zu werfen. Doch dann entschied er sich anders und legte sie auf die Arbeitsplatte neben der Spüle. Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, schlug er die zur Faust ge ballte rechte Hand in die linke Handfläche. Er spielte für einen Mo ment mit dem Gedanken, sich zu betrinken, und in seinem Zorn drückte er den Kopf gegen das geschlossene Rollo des Schlafzim merfensters neben dem Bett. Ohne zu wissen, warum er es tat, zog er an der Kordel, und das Rollo rollte hoch, und er konnte das Haus sehen, zu dem sein Apart ment über den Garagen gehörte. Einige der Fenster waren beleuchtet, und er war gerade zu dem Schluß gelangt, daß es die Fenster von Zwei B, bei Schneider, wa ren, als der den Beweis erhielt. Naomi Schneider, nur im Unterhö
schen, stolzierte in Sicht, lächelte kokett jemanden im Zimmer an, der nicht zu sehen war, und überreichte ihm ein gefülltes Glas. Ohne zu denken, schaltete Peter das Licht in seinem Schlafzimmer aus. »Zieh dich für ihn ganz aus, Naomi«, murmelte Peter. Und dann fragte er sich, ob Mr. Schneider unerwartet heimgekehrt war, oder ob Naomi am Glied eines anderen Mannes gezupft hatte, um ihn in ihr Schlafzimmer zu locken. Schöne Titten! Und dann wallte Ärger in ihm auf. Er fluchte, ließ schnell das Rollo herunter, schaltete das Licht an und setzte sich auf das Bett. Du bist ein verdammter Voyeur, du Perverser! Es macht dich tat sächlich an, zu beobachten, wie ihre Bobbys wippen! Du solltest dich schämen! Dann hatte er einen anderen, nicht ganz so selbstkritischen Ge danken: Oder du brauchst mal wieder ‘ne Nummer, damit du nicht geil wirst, wenn du in anderer Leute Schlafzimmer schaust. Und dann kam ihm ein anderer Gedanke. Er dachte einen Moment lang darüber nach und griff schließlich zum Telefonbuch.
Amelia Alice Payne, Doktor der Medizin, wohnte im zehnten Stock des großen, luxuriösen Miethauses Parkway 2600. Sie stieg aus dem Aufzug, ging über den Flur, schloß die Tür ihrer Wohnung auf und trat ein. Sie schob die Tür mit dem Po zu, wandte sich um und legte die Si cherheitskette vor. Dann knöpfte sie ihre Bluse auf. Amelia war müde nach einem langen Tag und nach ihrer langen Sitzung mit Staff In spector Peter Wohl. Amelia ging in ihr Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel neben dem Telefontisch sinken, auf dem der Anrufbeantworter stand. Sie schaltete ihn ein und zog ihre Schuhe aus. Es gab eine Reihe von Nachrichten, aber keine war wichtig oder erforderte heute abend noch Handeln ihrerseits. Sie hatte keine Lust, eine Patientin anzurufen, die erklärte, daß sie so bald wie möglich mit ihr sprechen müsse. Sie würde sich erst morgen eine weitere Litanei über die Fehler des Ehemannes der Lady anhören. Amelia schaltete den Anrufbeantworter aus, nahm die Schuhe, ging ins Schlafzimmer und zog die Vorhänge an den Fenstern zu. Die Fenster blickten zur Innenstadt und rechts zum Schuylkill Expreßway. Amy überlegte, ob sie duschen sollte, und entschied sich dagegen.
Niemand würde sie heute nacht riechen, und es würde besser sein, die Dusche am Morgen als Säuberungs- und Weckmittel zugleich zu nutzen. Sie zog Bluse und Rock aus und schlug die Bettdecke zurück. In Ihrem Leben hatte sie vermutlich widerwärtigere Männer als Pe ter Wohl kennengelernt, aber sie konnte sich im Augenblick an keinen erinnern. Er verkörperte alles, was sie bei Männern abstoßend fand, abgesehen von einem bleistiftdünnen Schnurrbart oder einem Ring am kleinen Finger. Aber alles sonst, was sie verabscheute, war da, angefangen von dem fortgeschrittensten (regressiven?) Fall von Ma cho-Syndrom, den sie je erlebt hatte. Es lag vermutlich an seiner kulturellen Vorgeschichte. Wohl war bestimmt deutscher Abstammung. Es hieß, daß die Deutschen die richtige Rolle der Frau in der Gesellschaft mit der Zuständigkeit für die drei Ks definierten: Kinder, Küche, Kirche. Peter Wohl dachte of fenbar, Moses hätte das mit den anderen Geboten vom Berg Sinai heruntergebracht. Und er war Polizist, der Sohn eines Cops. Hatte er gesagt, daß er auch der Enkel eines Cops war? Das hatte offenbar viel mit seinem Verhalten und seiner Macho-Denkweise zu tun. Nicht, daß er sie wie eine dumme Gans behandelt hätte. Er war völlig bereit gewesen, ihre Meinung über diesen kranken Mann anzu erkennen, der die Frauen in Nordwest-Philadelphia vergewaltigt hat te. Peter Wohl war bereit, wie er bei seiner dreistündigen Befragung in Matts Apartment bewiesen hatte, ihre Sachkenntnis zu akzeptieren und zu nutzen. Männer, die kein Spiegelei braten konnten, waren immer völlig bereit, sich von dem Frauchen füttern zu lassen. Peter Wohl hatte ihre Ankündigung geglaubt, daß der Mann, den er suchte, rapide den letzten Rest Selbstkontrolle verlor. Er war alar miert gewesen und hatte gefragt, warum sie das annehme, und sie hatte es erklärt, und dann hatte er um eine Erklärung ihrer Erklärun gen gebeten. Und sie war überzeugt, daß er am Ende alles akzeptiert hatte, was sie ihm gesagt hatte. Aber er hatte sie keinen Moment lang vergessen lassen, daß er ein großartiger Polizist war, von Gott und der Stadt Philadelphia beauf tragt, die Schwachen und nicht allzu Klugen – wie sie – zu beschüt zen. Amy fand, daß er ihre Kenntnisse und Fähigkeiten bewunderte, wie er einen Hund bewundern würde, der dressiert war, auf den Hin terbeinen zu gehen. Ist das nicht toll? Er hatte tatsächlich darauf bestanden, sie zu ihrem Wagen zu be gleiten, und dann hatte er sie ermahnt, die Türen von innen zu verrie geln, denn alle möglichen üblen Leute laufen des Nachts herum.
Und wenn er ein einziges Mal ›Gutes Mädchen‹ gesagt hätte, dann hätte sie ihm irgend etwas an den Kopf geworfen. Was ihn natürlich in seiner festen Ansicht bestätigt hätte, daß Frauen labile Wesen sind, die einen großen, starken Mann brauchen, der sie vor der Welt und vor sich selbst beschützt. Sie zog das Unterhemd über den Kopf, hakte den BH auf und be trachtete die Male, die der Büstenhalter an der Unterseite ihrer Brüste hinterlassen hatte. Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte. Sie nahm den Hörer ab. Wenn es wieder diese hysterische Ziege ist, die mir die Ohren voll jammert, schreie ich! »Ja?« »Dr. Payne?« »Ja.« Nicht zu glauben, er ist das! »Peter Wohl, Doktor.« »Wie nett von Ihnen, anzurufen«, sagte Amy sarkastisch. »Es freut mich, daß ich Sie erreiche, bevor Sie zu Bett gehen«, sagte er. »Bloß – so gerade«, erwiderte sie. »Was ist, Inspector?« War das ein Freudscher Versprecher? dachte Amy. Sie hatte un gewollt ihr Spiegelbild im dreifachen Spiegel auf ihrem Toilettentisch gesehen. Sie war bis auf das Höschen nackt. Bloß. »Ich wollte Ihnen sagen, wie dankbar ich für all die Hilfe bin und für die Zeit, die Sie für mich opferten«, sagte Peter Wohl. Das ist absurd! Warum halte ich verschämt eine Hand vor die nackten Brüste? Vor wem verberge ich sie? Mister Macho, der Su permann, ist nur am Telefon; er kann mich nicht sehen. »Das sagten Sie schon, als wir uns verabschiedeten«, erwiderte sie. Sie zog das Höschen aus, betrachtete wieder ihr Spiegelbild, stemmte die freie Hand auf die Hüfte und reckte sie vor. Ich habe nichts an mir, das mir peinlich sein müßte. »Und ich habe noch eine Frage«, sagte er. »Welche?« »Welche Wirkung würde eine nackte Frau auf unseren Täter ha ben? Ich meine, wenn er eine durch ihr Schlafzimmerfenster sehen würde.« Sie spürte, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. Warum, zum Teufel, fragt er das? Sie vergewisserte sich schnell, daß die Vorhänge vor ihrem Fen ster zugezogen waren. »Im Gegensatz zu einer voll bekleideten
Frau«, fuhr Wohl fort. »Was ist los, Inspector, haben Sie so eine nackte Frau gesehen?« fragte Amy sarkastisch. »In der Tat«, sagte er. »Ganz unabsichtlich.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Amy. »Aber es hatte keine Wir kung auf Sie, richtig, aber Sie fragen sich, welche Wirkung es auf – einen geisteskranken Mann haben würde?« »Nein«, sagte er. »Eigentlich hatte es eine recht starke Wirkung auf mich. Es war ziemlich peinlich.« Die meisten Männer würden das abstreiten, dachte Amy. Wie in teressant! »Die nackte Frau, wenigstens eine einigermaßen attraktive«, sagte Amy ernst, und dann sah sie ihr Spiegelbild und kicherte fast bei dem Gedanken eine wie ich, zum Beispiel, »hat eine gewisse Wirkung auf den Mann. Auf den normalen Mann. Auf einen geistig kranken Mann? Lassen Sie mich nachdenken.« Das tat sie, und dann sprach sie wei ter. »Vermutlich hat sie bei einem Mann mit geistigen Problemen eine tiefere Wirkung. Ich bin mir nicht sicher, was das bewirkt. Wenn er Frauen haßt, könnte der Anblick einer nackten Frau Ekel auslösen. Er wird vielleicht hochgradig erregt. Der Abscheu führt vielleicht zu Zorn, zu dem Gefühl, daß er danach das Recht hat, zu strafen. Unschuldi ge Nacktheit, das Umkleiden oder Baden einer Frau, bringt ihn viel leicht auf den Gedanken, wie hilflos die Frau ist.« Peter Wohl stieß einen Grunzlaut aus. »Hilft Ihnen diese Einschätzung etwas?« »Mary Elizabeth Flannery trug nur ein Höschen, als dieser Huren sohn – Verzeihung – der Täter auftauchte.« »Das las ich in der Akte«, sagte Amy. »Vielleicht fährt er herum und späht durch Fenster«, dachte Wohl laut, »und wenn er eine nackte oder fast nackte Frau sieht, macht ihn das an.« »Das mag früher der Auslöser gewesen sein«, sagte Amy. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Aber ich bin fast überzeugt, daß dieser Mann jetzt keine Kontrolle mehr über sich hat, und ich weiß nicht, welche Wirkung, wenn überhaupt, jetzt der Anblick einer nack ten Frau auf ihn hat.« »Hm«, murmelte Peter Wohl nachdenklich. »Wenn das alles ist, Inspector, es ist sehr spät.« »Eigentlich hatte ich noch etwas im Sinn«, platzte Peter heraus. Es war ihm in Wirklichkeit vor zwei Sekunden eingefallen. »Ja?« sagte Amy ungeduldig. »Unser Zusammensein gefiel mir wirklich«, fuhr Wohl fort, »und ich
hoffte, daß Sie vielleicht mal mit mir zu Abend essen. Auf nichtberufli cher Basis.« »Oh, ich verstehe«, hörte Amy sich sagen. »Wir könnten durch viele Restaurants von Gangstern ziehen, wo Ehrenmänner kostenlos speisen, nicht wahr?« Es folgte eine lange Pause, in der Amy sich verwundert fragte: was ist los mit mir? Warum habe ich das gesagt? »Ich bitte um Verzeihung, Doktor. Ich werde Sie nicht mehr belästi gen.« O Gott, er wird auflegen! »Peter…« Er erwiderte lange nichts, und dann sagte er: »Ich höre.« »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Es tut mir leid.« Er schwieg. »Ich würde gern mit Ihnen zu Abend essen«, hörte Amy sich hastig sagen. »Rufen Sie mich an. Morgen. Es freut mich, daß Sie angeru fen haben.« »Mich auch«, sagte Peter Wohl. »Gute Nacht, Amy.« Dann klickte es, und die Leitung war tot. Amy betrachtete sich wieder im Spiegel. O Gott, dachte sie. Es war eine freudianische Reaktion. Es ging al les um Sex!
16
Um fünf Minuten vor acht waren die neunzehn Polizeibeamten der Tagesschicht des Vierzehnten Polizeidistrikts zum Ritual des Anwe senheitsappells versammelt, das unter den Augen des Distriktchefs Captain Charles D. Emerson, eines schwergewichtigen, grauhaarigen Mannes Anfang Fünfzig, stattfand. Die Beamten traten in Reihen an und ließen das Ritual über sich ergehen, das ähnlich wie das beim Militär war. Begleitet von dem Sergeant marschierte Captain Emerson an den drei Reihen von Männern entlang, blieb bei jedem stehen, um sein Äußeres zu mu stern, die Länge seines Haars, die Rasur, die Sauberkeit seiner Dienstwaffe, die jeder Beamte vor sich hielt. Ein paarmal hatte Cap tain Emerson einem Beamten etwas zu sagen: einen Vorschlag, daß er ein neues Hemd brauchte oder die Schuhe putzen mußte oder einen Tadel, daß er ein wenig zu dick wurde. Als die Inspektion vorüber war, verlas der Sergeant laut vor den Männern verschiedene Punkte von einem Blatt auf einem Klemm brett. Einige der Punkte waren rein administrativer Art, wie zum Beispiel, ob Urlaubstermine genehmigt worden waren; und einige waren per Telex vom Polizeipräsidium gekommen mit der Anweisung, sie beim Anwesenheitsappell zu verlesen. Heute ging es zum Beispiel um den
Tod und die Beerdigungszeremonien von zwei pensionierten Polizei beamten und einem, der noch in aktivem Dienst gewesen war. Es gab einige Punkte lokaler Art, insbesondere der Bericht von ei nem weiteren Diebstahl im Haus einer Miss Martha Peebles, Glenga ry Lane 606 in Chestnut Hill, verbunden mit der Anweisung, daß Streifenwagenbesatzungen aller Schichten so oft wie möglich die Gegend um Miss Peebles’ Haus anfahren sollten. »Und wir suchen immer noch Miss Elizabeth Woodham«, endete der Sergeant. »Das steht ganz oben auf der Liste. Sie haben ihre Beschreibung und die Beschreibung, die wir von dem mutmaßlichen Täter und seinem Van haben. Wir müssen die Frau finden. Melden Sie sofort, wenn Sie irgend etwas beobachten.« Die Männer der Tagesschicht des Vierzehnten Distrikts erhielten den Befehl ›stillgestanden!‹, wurden entlassen und begannen ihren Dienst. Captain Charles D. Emerson ging zu Staff Inspector Wohl, der den Raum zu Beginn des Anwesenheitsappells betreten und an der Tür gewartet hatte. »Wie geht es Ihnen, Peter?« fragte Emerson und reichte Wohl die Hand. »Oder ist das ein Anlaß, bei dem ich Sie mit Inspector anreden sollte?« Staff Inspector Wohl hatte keinerlei Amtsgewalt über den Vierzehn ten Polizeidistrikt, und sie beide wußten das. Aber er war Staff In spector, und er war der neue Chef der neuen Special Operations Di vision, und niemand, auch nicht Captain Emerson, hatte eine Ah nung, welche Befugnisse mit dem Titel verbunden waren. »Ich hoffe, ich störe nicht, Charley«, sagte Wohl. »Seien Sie nicht albern. Berühmte Besucher sind stets bei meinen Anwesenheitsappellen willkommen.« Wohl lachte. Er wußte, daß das Ritual des Anwesenheitsappells ein bißchen förmlicher als sonst gewesen war – wegen seiner Anwe senheit. »Blödsinn, Charley«, sagte Wohl und lächelte ihn an. »Was kann ich für Sie tun, Peter?« Emerson erwiderte das Lä cheln. »Wollen Sie die Wahrheit hören?« »Wenn alles sonst scheitert, hilft das manchmal.« »Ich will mich absichern, Charley. Diese Martha Peebles hat Freunde an hohen Stellen.« »Das hat Commissioner Czernick bei mir angedeutet«, sagte Cap tain Emerson trocken. »Er hat mich angerufen.« »So können wir beide ihm sagen, wenn er fragt, und ich nehme an,
das wird er, daß wir unsere Bemühungen koordinieren, um den Mann, der Mrs. Peebles bestiehlt, zu fassen, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Emerson lachte. »Das ist alles, Peter?« »Ich habe den Fall Woodham. Der Vergewaltiger in NordwestPhilly. Haben Sie das gehört?« »Czernick muß Sie lieben.« »Czernick? Carlucci.« »Auweia.« »Ich hatte gehofft – hat sich vielleicht hier etwas ergeben?« »Nicht daß ich wüßte, Peter. Aber kommen Sie in mein Büro, und wir erkundigen uns telefonisch und trinken eine Tasse Kaffee.« »Danke, aber das geht nicht. Ich muß einen anderen An wesenheitsappell abhalten. Der erste von Special Operations. Aber rufen Sie mich an, oder besser Jason Washington oder Tony Harris – benutzen Sie die Nummer des Chefs der Highway Patrol, um sie zu erreichen – , wenn sich etwas getan hat, ja?« »Die arbeiten für Sie?« fragte Emerson überrascht. »Ein wenig widerstrebend.« »Sie müssen aber einige Macht haben, wenn es Ihnen gelungen ist, Sie zu sich versetzen zu lassen.« »Ich denke, das Wort ist nicht ›Macht‹, sondern ›Strick‹, Charley. Wie in ›jetzt hat er einen Strick, der lang genug ist, um sich damit aufzuhängen‹.« Captain Emerson hob nachdenklich die Augenbrauen. Er Wider sprach nicht einmal pro forma. »Grüßen Sie Ihren Vater, wenn Sie ihn sehen, Peter«, sagte er.
Eine Viertelstunde später traf Staff Inspector Wohl gerade rechtzei tig zum Anwesenheitsappell im Gebäude bei der Bustleton und Bow ler Street ein. Die Captains Pekach und Sabara und die Detectives Washington und Harris waren bereits im Appellraum, und schließlich betraten sechzehn andere Polizeibeamte den Raum und formierten sich zu zwei Reihen. Die sechzehn Neuankömmlinge waren ein Sergeant, ein Corporal, ein Detective und dreizehn Officers, die sich an diesem Morgen zum Dienst bei der Special Operations Division gemeldet hatten und von Sergeant Frizell zum Anwesenheitsappell geschickt worden waren. »Formieren!« rief Captain Sabara, was unnötig war, denn die letz ten der Neuankömmlinge taten genau das. Dann wandte sich Sabara an Wohl und fragte ziemlich förmlich: »Möchten Sie übernehmen,
Inspector?« »Machen Sie nur weiter, Mike«, sagte Wohl. Sabara nickte und trat vor die Formation der Polizisten. »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, sagte Sabara. »Sie alle ken nen mich, und Sie kennen vermutlich auch Inspector Wohl und Cap tain Pekach, aber wenn sie Ihnen noch unbekannt sind, das ist Cap tain Pekach, der Chef der Highway Patrol, und das ist Inspector Wohl, der Boß. Die Highway Patrol untersteht jetzt der Special Ope rations Division, falls das nicht jedem klar war.« »Willkommen bei Special Operations«, sagte Peter. »Ich denke, Sie werden feststellen, daß Sie hier einen guten und interessanten Job haben. Und wir werden Sie gleich an die Arbeit schicken.« »Sie alle haben die Zeitungen gelesen«, fuhr Sabara fort, »und wissen, daß eine Frau namens Elizabeth J. Woodham entführt wurde. Der Täter, der ihr ein Messer an die Kehle hielt und die Frau in einen Van zerrte, ist vermutlich der Mann, der Frauen in NordwestPhiladelphia vergewaltigte. Ich muß leider sagen, daß wir verdammt wenig Anhaltspunkte haben. Miss Woodham lebend aus der Gewalt dieses Verbrechers zu befreien, hat oberste Priorität für Special Ope rations. Die beiden Gentlemen, die neben dem Inspector stehen, sind die Detectives Washington und Harris – das für diejenigen, die sie nicht kennen. Sie kamen von der Mordkommission zur Special Ope rations Division, und der Inspector hat ihnen die Ermittlungen im Fall Woodham übertragen. Sie unterstehen ihnen direkt, und wenn sie von Ihnen etwas in Zusammenhang mit diesen Ermittlungen verlan gen, können Sie es als eine Anweisung entweder von mir oder dem Inspector persönlich betrachten. Wir haben einige Wagen, und wir bekommen mehr. Sie haben natürlich, das J-Frequenzband, und Sie haben – oder werden haben, Sergeant Frizell wird mit Ihnen darüber sprechen – das Frequenzband der Highway Patrol und das der Kri minalpolizei, und wenn das Präsidium uns eines zuteilt, werden wir ein Frequenzband für die Special Operations Division haben. Verges sen Sie von jetzt an Acht-Stunden-Schichten, bis wir die Lady wieder haben.« Er legte eine Pause ein, blickte einen Moment lang nachdenklich drein und wies dann auf Jason Washington. »Detective Washington wird Ihnen jetzt sagen, was wir in dem Fall haben und was wir suchen.« Wohl sah den meisten Männern jetzt Interesse, vielleicht sogar Aufregung an. Er dachte: Da ist, abgesehen von abgestumpften, zynischen Cops, bei den Männern so etwas wie bei kleinen Jungen, die Räuber und
Gendarm spielen, der Wunsch, an richtiger Polizistenarbeit beteiligt zu sein, anstatt Strafzettel zu schreiben oder bei häuslichen Streiten zu schlichten. Sie lassen sich lieber losschicken, um einen wirklich bösen Buben zu fassen, um die arme Maid aus der Gewalt des Dra chen zu befreien. Und Mike Sabara hat ihnen soeben gesagt, was wir von ihnen erwarten, und der Beweis steht dort in der Person von Jason Washington. Es ist immer noch etwas von Romantik in dem Titel ›Detective‹ und ein noch größeres Element der Romantik in der Per son eines Kriminalbeamten der Mordkommission, und Washington ist so etwas wie eine Legende unter den Beamten der Mordkommission; eine Art Sherlock Holmes. Sie sehen in ihm das, was sie für sich selbst erträumt haben oder vielleicht immer noch erträumen, und das wissen sie. Washington sprach ungefähr fünf Minuten lang, führte die Aktivitä ten des Serientäters vom ersten Fall an auf. Er verschwendete keine Worte, aber Wohl fand, daß er auch nichts möglicherweise Wichtiges ausließ. »Und weil wir eigentlich nichts haben, wo wir ansetzen könnten«, schloß Washington, »müssen wir es auf die Ochsentour machen, an Türen klingeln, in Mülleimern wühlen, immer wieder die gleichen Fra gen stellen. Tony Harris hat eine Vorstellung, wie etwas ausgegraben werden kann, die ich nicht ganz mit ihm teile, und so gebe ich jetzt das Wort an ihn.« Tony Harris, dachte Wohl, verkörpert nichts, was auch nur annä hernd an das selbstbewußte, beeindruckende Auftreten Jason Wa shingtons heranreicht. Er ist ein Wiesel im Vergleich zu einem Elefan ten. Nein. Das ist zu stark. Ein räudiger Löwe, die Art, die man im Käfig eines billigen Dorfzirkus sieht, im Vergleich zu einem Elefanten. Woher, zum Teufel, hat er seine Kleidung? Geklaut aus dem Lager der Heilsarmee? Gab der Richter beim Scheidungsprozeß wirklich alles seiner Ex-Frau? Oder versucht Tony zwei Frauen zu unterstüt zen, auf Kosten seines Budgets für Kleidung? Aber als Tony seine Ansprache begann, sah Wohl, daß das Inter esse der Neuen – die sich gefragt hatten, Wer, zum Teufel, ist denn dieser komische Typ? – sofort wuchs. Binnen einer Minute hörten sie ihm so gespannt und aufmerksam zu wie zuvor Jason Washington. Und Wohl sah ihnen förmlich an, daß sie jetzt dachten: Dieser Kerl weiß wirklich, wovon er redet! Tony Harris hielt einen kurzen, prägnanten Vortrag über sexuelle Abarten und Perversität, ging zum Täterprofil des Exhibitionisten, Frauenbelästigers, Voyeurs und Vergewaltigers über und zeichnete
dann ein Täterprofil von dem Mann, den sie suchten, das nur von dem abwich, das Wohl von Dr. Amelia Alice Payne erhalten hatte, indem er nichts von ›glitschigem Hang‹ und ›Unbesiegbarkeit‹ er wähnte. Und dann sagte er ihnen, wonach sie suchten und wie sie danach suchen sollten: »Ich habe eine Liste von Sexualtätern, die leichtere Vergehen begangen haben, eine Liste von weißen Männern, die we gen minderer Sexualdelikte festgenommen wurden. Ich arbeite immer noch an der Liste, füge Namen hinzu…« Er unterbrach sich und schaute Wohl an. »Inspector, ich arbeite zusammen mit Bart Cumings bei der Kripo Süd«, sagte er und wies auf den Sergeant unter den Neuen. »Kann ich ihn haben, damit er mit mir die Akten durchforstet?« »Sie haben ihn«, sagte Wohl und lächelte Sergeant Cumings an. Er sah, daß Officer Matt Payne den Raum betrat, sich umschaute und dann zu ihm ging. Ich wette, ich weiß, was Payne will, dachte Wohl. Und ich wette, Sergeant Cumings wird morgen früh nicht mehr diese Uniform tragen. Wenn er so lange damit wartet, sie auszuziehen. Bei der Rangordnung der Polizei war der Schritt vom Officer ent weder zum Detective oder Corporal, der das gleiche Gehalt erhielt. Es gab keinen Rang wie ›Detective Sergeant‹. Folglich ging ein De tective, der die Prüfung zum Sergeant machte und bestand, das Risi ko ein, irgendwo verwendet zu werden, wo ein Sergeant gebraucht wurde, und das bedeutete meistens Dienst in Uniform. Wenn ein De tective eine Weile im Dienst war, war die Aussicht, wieder in Uniform zu arbeiten, selbst als Sergeant, nicht attraktiv. Sehr wenige unifor mierte Sergeants konnten viele bezahlte Überstunden machen. De tectives der Kripo verdienten zusammen mit dem Geld für Überstun den mehr als Captains. Detectives der Mordkommission wie Tony Harris und Jason Washington zum Beispiel, für die Tage mit Vierund zwanzig-Stunden-Dienst nichts Ungewöhnliches waren, brachten mehr Geld, heim als ein Chief Inspector. Einige der Detectives, die an ihre Pension dachten, die auf dem Dienstrang basierte, machten die Prüfung zum Sergeant in der Hoff nung, daß sie nach einer Beförderung Glück hatten und bei der Kripo blieben. Wohl war überzeugt, daß Sergeant Cumings einer derjeni gen war, die das Glücksspiel versucht und verloren hatten und ir gendwo als uniformierter Sergeant landeten, wo sie keinen annä hernd so interessanten Job hatten, wie sie ihn als Detective gehabt hatten. Das erklärte, daß sich Cumings freiwillig für die Special Ope rations Division gemeldet hatte. Wenn er bei der Kripo Süd ein Spezi
von Harris gewesen war, dann mußte er ein ziemlich guter Kriminal beamter sein. Und wenn er hier arbeiten konnte, in Zivil, würde er sehr erfreut sein. Wohl fragte sich, ob Cumings um die Genehmigung bitten wür de, Zivilkleidung zu tragen, und er gelangte zu dem Schluß, daß er das vermutlich nicht tun würde. Cumings war ein erfahrener Polizei beamter, der gelernt hatte, daß man oftmals ein Nein als Antwort er hielt, wenn man um Erlaubnis für etwas fragte. Aber wenn man es einfach tat, zum Beispiel bei einer Ermittlung in Zivilkleidung arbeite te, stellte vielleicht niemand Fragen. Wohl sagte sich, daß die Sache in Ordnung war, ob Cumings nun um Genehmigung fragte oder nicht. »Sie müssen diese Leute überprüfen«, fuhr Tony Harris fort. »Ich will nicht, daß jemand zur Arbeitsstelle dieser Leute geht und ihre Chefs fragt, ob sie glauben, der Mann könnte der Vergewaltiger sein. Sie gehen davon aus, daß die Leute unschuldig sind. Sie suchen den Mann, ob er nun zu der groben Beschreibung, die wir haben, paßt oder nicht – behaart und redegewandt. Und wir suchen den Van. Wir haben diese Leute bereits durch Harrisburg hinsichtlich des Besitzes eines Van überprüft, und es kam nichts dabei heraus. Aber vielleicht besitzt sein Nachbar einen Van oder sein Schwager, oder vielleicht fährt er von der Arbeitsstelle aus mit einem Van der Firma nach Hau se. Und das ist alles, was Sie tun! Sie konzentrieren sich ganz darauf. Und wenn Sie auf etwas stoßen, melden Sie es Mr. Washington oder mir und jetzt auch Sergeant Cumings. Ich möchte nicht, daß Sie mit diesen Leuten reden, es sei denn, es läßt sich nicht vermeiden. Sie dünnen nur die Liste für uns aus. Hat jemand irgendwelche Fragen?« »Sie meinen, wir nehmen diesen Kerl nicht fest, wenn wir ihn fin den?« rief jemand. »Es sei denn, er hat die Lehrerin bei sich im Van, und ihr Leben ist eindeutig in Gefahr. Andernfalls machen Sie nur Meldung, das ist alles. Wir haben es hier mit einem wirklich Kranken zu tun, und wir können nicht wissen, was er tun wird, wenn er begreift, daß sein Spiel aus ist.« »Was kann er denn zum Beispiel noch tun, was er nicht schon ge tan hat?« rief jemand sarkastisch. Wohl hielt nach dem Sprecher Ausschau, entdeckte ihn jedoch nicht. Harris’ Miene spiegelte Verachtung wider, keinen Ärger, aber Wohl nahm an, daß beides im Spiel war, und Harris bestätigte es sofort. »Okay«, sagte Harris, »Sie können es sich anscheinend nicht selbst ausrechnen. Wir schnappen diesen Kerl, einen behaarten Typ,
der spricht, als hätte er studiert, und einen Van hat. Wir lassen ihn sogar von einem oder mehreren der Opfer identifizieren. Aber wir haben nicht Miss Woodham, richtig? Und wenn er sich das nicht selbst zusammenreimt und sich einen Anwalt nimmt, sagt ihm der: ›Streiten Sie einfach alles ab. Niemand sah Sie ohne Maske, und ich werde die Zeuginnen verwirren, wenn ich sie im Zeugenstand habe – Sie aus einer Reihe nackter, behaarter Männer mit Masken aussu chen lassen oder so was!‹ So würde er einer Strafe für die ersten Vergewaltigungen entgehen, es sei denn, wir können mit etwas auf warten, das wir Kriminalbeamten ›Beweise‹ nennen.« Jetzt war die Identität des Klugscheißers klar. Mindestens vier der Neuen wandten den Kopf zu ihm und starrten ihn geringschätzig an. »Und wir haben anscheinend Miss Woodham vergessen, nicht wahr?« fuhr Harris fort. »Die der Grund ist, weshalb wir diesen Kerl in erster Linie suchen. Nehmen wir mal an, er hält sie irgendwo gefes selt gefangen, in einem Lagerhaus oder sonstwo. An einem Ort, mit dem wir ihn nicht in Verbindung bringen können. So sagt unser Cow boy, ›Wo ist die Dame?‹, und unser Täter sagt, ›Welche Dame?‹, und unser Cowboy sagt, ›Sie wissen, welche Dame – Miss Woodham‹, und unser Kranker sagt: ›Über diese Dame habe ich nicht gepißt, und ich habe den Namen Woodham nie gehört. Haben Sie Zeugen?‹ Und so, Cowboy, wird sein letztes Opfer, das wir suchen, verdursten oder verhungern oder ersticken oder den Verstand verlieren, wo auch im mer der Kerl es gefesselt gefangengehalten hat. Weil unser Kranker weiß, daß wir über ihn im Bilde sind, wird er sich nicht in die Nähe des Opfers wagen. Beantwortet das Ihre Frage, Klugscheißer?« Harris hat das perfekt erledigt, dachte Wohl. »Sie meinen, sie lebt noch?« fragte ein anderer Neuling leise. »Das werden wir erst wissen, wenn wir sie finden«, sagte Harris. Er wandte sich an Sabara. »Das war alles, Captain.« Sabara blickte Wohl an. »Haben Sie noch etwas, Inspector?« »Ich stimme dem zu, was Harris vortrug, Captain«, sagte Wohl. »Der Mann, den wir suchen, darf nicht aufgeschreckt werden. Was halten Sie davon, so viele dieser Beamten wie nötig in Zivil einzuset zen? Und mit neutralen Wagen?« »Ich werde feststellen, wie viele neutrale Wagen uns zur Verfügung stehen, und das arrangieren, Sir«, sagte Sabara. »Wenn nötig, Mike, nehmen Sie neutrale Wagen von der Highway Patrol.« »Jawohl, Sir. Sonst noch etwas, Sir?« Wohl schüttelte den Kopf und wandte sich Matt Payne zu, der ne
ben ihm stand. »Inspector, Chief Coughlin rief an«, sagte Matt und überraschte damit Peter Wohl überhaupt nicht. »Er möchte, daß Sie gleich zu rückrufen.« »Okay«, sagte Wohl und machte sich auf den Weg zu seinem Bü ro. Als er an Sergeant Frizells Schreibtisch vorbeiging, sagte Wohl: »Verbinden Sie mich bitte mit Chief Coughlin.« »Inspector, der Commissioner rief soeben ebenfalls an und möch te, daß Sie ihn sofort anrufen.« »Verbinden Sie mich zuerst mit Chief Coughlin.« Wohl ging in sein Büro, setzte sich und schaute auf die Telefone, bis eines der Lämp chen aufleuchtete. Er drückte den Knopf und nahm den Hörer. »Inspector Wohl.« »Ich verbinde mit dem Chief«, sagte Sergeant Tom Lenihan am anderen Ende der Leitung. »Haben Sie die Zeitungen gesehen, Peter?« begann Chief Inspec tor Coughlin ohne irgendeine Einleitung. »Jawohl, Sir.« »Was heißt das, daß Sie sich weigerten, mit der Presse zu re den?« »Ich war nicht da«, sagte Wohl. »Jemand muß dem Anrufer gesagt haben, daß ich nicht erreichbar war.« »Im Ledger klingt das aber ganz anders«, sagte Coughlin. »Da steht auch, daß Sie und ich ›Spezis‹ sind.« »Der Commissioner ist verärgert«, sagte Coughlin. »Er rief soeben hier an«, sagte Wohl. »Wenn Sie mit mir fertig sind, rufe ich ihn an.« »Was ist an der Sache dran, daß Sie Beamte einsetzen, um Zeu gen zu suchen, die den Cop der Highway Patrol entlasten?« »Schuldig«, sagte Peter Wohl. »Aber ich habe sie nicht eingesetzt. Sie haben sich freiwillig gemeldet. Sie tun es außer Dienst, in Zivil kleidung. Wenn Sie einen Zeugen finden, werden sie anonym als pflichtbewußte Bürger bei der AID anrufen. Es war eigentlich Dave Pekachs Idee, aber ich will ihm keineswegs den schwarzen Peter zuschieben. Ganz im Gegenteil. Wenn ich auf die Idee gekommen wäre, hätte ich sie selbst in die Tat umgesetzt. Und ich übernehme die volle Verantwortung dafür.« Er hörte Coughlin schnauben, und dann folgte eine lange Pause, bis Coughlin fragte: »War das unter den gegebenen Umständen klug?« »Wenn ich die Männer auf die Suche nach Miss Woodham hätte
schicken können, hätte ich das getan«, sagte Wohl. Matt Payne tauchte auf der Türschwelle des Büros auf. Wohl scheuchte ihn mit einer Geste fort und nahm sich vor, ihn darauf hin zuweisen, daß er demnächst anklopfen sollte, bevor er das Büro betrat. »Wie läuft diese Sache?« fragte Chief Coughlin. »Die ersten sechzehn Freiwilligen haben soeben den Dienst ange treten. Ich habe sie alle Washington und Harris überlassen, um Adressen abzuklappern. Da war ich, als Sie anriefen.« »Bis Sie die Woodham finden, sollten Sie vielleicht die Leute, die nach Zeugen für den Autounfall suchen, ebenfalls Adressen abklap pern lassen.« »Das werde ich tun, wenn Sie mir die Anweisung geben, Chief«, erwiderte Wohl, »aber ich würde es lieber nicht tun.« »Wollen Sie mir das erklären?« »Nun, zum einen denke ich, daß sie alles daransetzen, jemanden zu finden, der sah, daß Mr. McAvoy bei Rot auf die Kreuzung fuhr und kein Glück hatte.« »Verdammt!« sagte Coughlin. »Und zum anderen bezweifle ich, daß es eine gute Idee ist, Beam te der Highway Patrol an Haustüren klingeln zu lassen. Der Kerl, den wir suchen, ist bereits übernervös. Ich möchte ihn nicht in Panik ver setzen.« »Können Sie mir das näher erklären?« fragte Coughlin. Wohl hielt die Sprechmuschel mit der Hand zu und fragte Matt Payne, der – wieder ohne anzuklopfen – das Büro betreten hatte: »Was, zum Teufel, wollen Sie?« »Sir, der Commissioner ist auf zwei-sechs und wartet darauf, daß Sie sich melden«, sagte Matt. »Okay«, sagte Wohl, und Matt zog sich aus dem Büro zurück und schloß die Tür hinter sich. »Chief, der Commissioner ist auf einer anderen Leitung. Darf ich zurückrufen?« »Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Neues haben«, sagte Cough lin ungeduldig, und dann fügte er hinzu: »Peter, ehrlich gesagt, ich hätte viel mehr Vertrauen in die Art, wie Sie die Ding anpacken, wenn Sie es wenigstens schafften, zu verhindern, daß diese Miss Peebles wieder bestohlen wird.« »Ich sprach vorhin mit Charley Emerson darüber…«, begann Wohl, und dann verstummte er, weil Chief Inspector Dennis V. Coughlin aufgelegt hatte. Wohl drückte auf den leuchtenden Knopf des Telefons.
»Guten Morgen, Commissioner«, sagte er. »Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten. Ich telefonierte mit Chief Coughlin.« »Ich verbinde mit Commissioner Czernick, bleiben Sie bitte dran, Inspector Wohl«, sagte eine weibliche Stimme, die Peter nicht ver traut war. »Czernick«, schnarrte der Polizeichef einen Augenblick später. »Ich habe Inspector Wohl für Sie, Commissioner«, sagte die Frau. »Wird auch Zeit«, sagte Czernick. »Peter?« »Jawohl, Sir. Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten, Sir. Ich tele fonierte mit Chief Coughlin.« »Haben Sie die Zeitungen gesehen? Sie weigerten sich, mit der Presse zu reden?« »Sir«, sagte Wohl, »es war nicht ganz so. Ich war nicht hier, und…« »Geben Sie her«, sagte jemand schwach im Hintergrund, und dann ertönte die Stimme in voller Lautstärke. »Hier spricht Jerry Carlucci, Peter.« »Guten Morgen, Sir«, sagte Wohl. »Wir beide wissen, daß uns dieser Hurensohn abschießen will, Pe ter«, sagte der Bürgermeister der Stadt der brüderlichen Liebe, »und wir kennen den Grund und wissen, daß er versucht, uns fertigzuma chen, ganz gleich, was wir tun. Aber wir können es uns nicht erlau ben, dem Bastard Munition zu liefern. Sie können der Presse einfach nicht sagen, daß sie Ihnen den Buckel runterrutschen kann. Ich habe Sie für klüger gehalten.« »Sir, so ist das nicht abgelaufen«, wandte Peter ein. »Wie dann?« fragte Bürgermeister Carlucci. »Sir, ich war nicht im Büro. Jemand sagte, daß ich ›unerreichbar‹ bin. Das war alles.« »Verdammte Kiste«, sagte der Bürgermeister. »Was ist daran, daß Sie Leute der Highway Patrol einsetzen, um Zeugen zu suchen, die unseren Jungen reinwaschen? Stimmt das?« »Jawohl, Sir, das habe ich getan. Aber in Zivil mit Krawatte. Außer Dienst. Freiwillige.« »Ich kann verstehen, warum Sie das machten«, sagte Bürger meister Carlucci. »Aber war das unter den gegebenen Umständen eine kluge Entscheidung?« »Sir, ich hielt sie zu diesem Zeitpunkt für richtig. Es konnte nichts getan werden, um Miss Woodham zu finden, was nicht bereits getan worden war, und ich hoffte, die betroffenen Beamten der Highway Patrol von einer Anschuldigung zu entlasten, die ich für ungerecht hielt – halte.«
»Wollen Sie damit sagen, Sie würden das gleiche wieder tun?« fragte Carlucci kalt. »Jawohl, Sir.« »Haben sie irgendwelche Zeugen für uns gefunden?« »Nein, Sir.« »Die Männer suchen noch?« »Sir, ich habe nicht vor, ohne gegensätzliche Anweisungen, mei nen Männern vorzuschreiben was sie außer Dienst und in Zivilklei dung tun dürfen und was nicht.« »Mit anderen Worten, Arthur Nelson und sein gottverdammtes Schmierblatt Ledger kann Sie am Arsch lecken?« »Nein, Sir. Ehrlich gesagt, ich denke, wenn es einen Zeugen gibt, hätten wir ihn inzwischen gefunden. Aber ich finde, es ist für die Mo ral der Highway Patrol wichtig, daß wir weiterhin suchen. Vielleicht will ich auch nicht, daß die Highway Patrol denkt, ich werfe Officer Hawkins wegen des Leitartikels im Ledger den Wölfen zum Fraß vor.« »Hawkins war der Fahrer?« »Jawohl, Sir. Er sagt, Mr. McAvoy fuhr bei Rot auf die Kreuzung, und ich glaube Hawkins.« »Verdammt, ich hatte recht«, sagte Bürgermeister Carlucci. »Sir?« »Als ich Sie zum Chef der Special Operations machte«, sagte Car lucci. Peter Wohl fand keine passende Erwiderung darauf, und so ver zichtete er auf eine. »Ich wollte fast fragen, wie weit Sie in dem Fall Woodham sind«, sagte Bürgermeister Carlucci. »Sir, ich habe die Ermittlungen…« »Ich sagte, ich wollte fast fragen«, fiel ihm der Bürgermeister ins Wort. »Unterbrechen Sie mich nicht, Peter.« »Verzeihung, Sir.« »Ich war bei dem Laden«, sagte der Bürgermeister. »Und ich weiß, daß der Chef einer Polizeiabteilung es nicht mag, wenn ihm jemand über die Schulter sieht und ihm sagt, wie er die Sache seiner Mei nung nach hätte anpacken sollen. So werde ich das nicht tun. Aber ich sage Ihnen, was ich statt dessen tun werde, Peter. Ich gebe eine Erklärung ab, in der ich Ihnen mein volles Vertrauen in Ihre Arbeit ausspreche.« »Jawohl, Sir«, sagte Peter. »Aber Sie sollten diesen Hurensohn schnappen, Peter. Ist Ihnen das klar?«
»Jawohl, Sir.« »Dieser Bastard narrt die Polizei, und wenn wir ihn nicht fassen, hält man sie für unfähig. Das kann sich die Polizei nicht erlauben. Das kann ich mir nicht erlauben. Und Sie ganz besonders nicht.« »Ich verstehe, Sir«, sagte Peter. »Ich möchte nicht Tad Czernick sagen müssen, er soll Sie ablösen. Dann würde es aussehen, als hätte Arthur Nelson und sein verdamm ter Ledger die ganze Zeit recht gehabt.« »Ich hoffe, das wird nicht nötig sein, Sir.« »Brauchen Sie etwas, Peter, irgend etwas?« »Nein, Sir, ich glaube, ich brauche nichts.« »Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es. Tad Czernick wird es Ihnen besorgen.« »Danke, Sir.« »Grüßen Sie Ihren Vater von mir, wenn Sie ihn sehen«, sagte der Bürgermeister. »Bleiben Sie dran, Tad will Ihnen noch etwas sagen.« »Peter«, sagte der Polizeichef Taddeus Czernick. »Ich hörte, daß Miss Peebles gestern nacht wieder bestohlen wurde.« »Jawohl, Sir«, sagte Peter. »Ich arbeite an dem Fall.« »Gut«, sagte Commissioner Czernick. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Dann legte er auf. Peter Wohl ließ nachdenklich den Hörer auf die Gabel sinken. Dann stand er auf, ging zur Tür und öffnete sie. Matt Payne war damit beschäftigt, irgendwelche Formulare zu ver gleichen. »Payne?« »Ja, Sir?« »Sie sehen wie der aufgewärmte Tod aus«, sagte Wohl. »Sind Sie krank?« Payne fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Sir, ich glaube, ich habe gestern nacht etwas zuviel getrunken.« Das ist klar, dachte Wohl. McFadden und Martinez nahmen ihn mit zur FOP und führten ihn in den Job ein. »Wo sind Sherlock Holmes und der getreue Dr. Watson?« Matt begriff schließlich, daß Wohl damit McFadden und Martinez meinte. »Sir, ich weiß es nicht.« »Suchen Sie die beiden«, sagte Wohl. »Sagen Sie ihnen, wenn es ihr voller Terminkalender zuläßt, will ich sie sehen. Und suchen Sie auch Captain Pekach und bitten Sie ihn, mich zu besuchen.« »Jawohl, Sir.«
David Pekach war noch im Gebäude des Siebten Distrikts. Zwei Minuten später stand er auf der Türschwelle von Wohls Büro und wartete darauf, daß der Staff Inspector von den Papieren auf seinem Schreibtisch aufblickte. Schließlich tat er das. »Kommen Sie bitte herein, David«, sagte er. »Möchten Sie Kaf fee?« Pekach schüttelte den Kopf und deutete mit erhobenen Augen brauen und einem Blick zur Tür die Frage an, ob er die Tür schließen sollte. Wohl nickte. »Ich telefonierte soeben mit Chief Coughlin und dem Com missioner«, sagte Wohl und entschied sich, noch nichts vom Bürger meister Jerry Carlucci zu erwähnen. »Ich dachte mir, daß die vielleicht anrufen«, sagte David Pekach trocken. »Zusätzlich zu allem sonst sind beide bestürzt und unzufrieden mit mir wegen der Ereignisse mit dieser Miss Peebles. Sie wurde gestern nacht wieder bestohlen.« »Das hörte ich.« »Ich setzte Ihre beiden Asse, McFadden und Martinez, auf die Sa che an. Sie suchen nach…« Pekachs Nicken verriet Wohl, daß er im Bilde war, und so verzich tete er darauf, das weiter auszuführen. »Wenn ich mich nicht sehr irre, dann nahmen sie den Job in Angriff, indem sie den jungen Payne in die FOP mitnahmen und ihn besoffen machten.« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Pekach loyal. »Sie sind immer sehr zuverlässig.« »Sie fanden nicht diesen Typ, den Schauspieler und Freund von Miss Peebles’ Bruder«, sagte Wohl. »Möchten Sie, daß ich mit ihnen rede?« »Nein. Ich rede mit ihnen. Ich möchte, daß Sie Miss Peebles besu chen und mit ihr sprechen.« »Was?« »Sie fahren jetzt gleich hin«, sagte Wohl. »Und Sie zeigen Mitge fühl und tun, was auch immer nötig ist, um die Lady zu überzeugen, wie peinlich es uns ist, daß sie wieder bestohlen wurde, und daß wir gewisse Schritte unternehmen, um absolut sicherzustellen, daß so was nicht noch einmal passiert.« »Welche gewissen Schritte?« »Wir werden von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang ein Über wachungsteam auf ihrem Grundstück postieren.« »Das begreife ich nicht«, bekannte Pekach. »Woher wollen Sie ein Überwachungsteam nehmen? Ich meine, mein Gott, wenn in die Zei
tung kommt, daß Sie Personal einsetzen, um den Tatort popeliger Diebstähle zu überwachen…« »Martinez, McFadden und Payne, der Verkaterte, werden das Überwachungsteam sein«, sagte Wohl. »Der Sünde Sold ist der Tod, David. Es überrascht mich, daß Sie das nicht gelernt haben.« Pekach lachte. »Okay«, sagte er. »Und Sie werden Miss Peebles sagen, daß ein Streifenwagen der Highway Patrol von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang minde stens jede halbe Stunde einmal an ihrem Haus vorbeifahren wird. Dann sagen Sie Ihrem Schichtführer, daß er das arrangiert. Die Jungs sollen nicht nur vorbeifahren, sondern auch auf den Zufahrts weg fahren, viel Krach machen und die Wagentüren zuknallen, wenn sie aussteigen, damit Miss Peebles, wenn sie neugierig aus dem Fenster schaut, zwei uniformierte Beamte sieht, die mit ihren Ta schenlampen die Büsche absuchen.« »Das wird den Dieb abschrecken«, wandte Pekach ein. »Ich hoffe es«, sagte Wohl. »Ich will nicht, daß morgen früh ein weiterer Bericht über einen Diebstahl bei dieser Adresse auf dem Schreibtisch des Commissioners liegt.« »Okay«, sagte Pekach zweifelnd. »Sie sind der Boß.« »Ich werde es Sherlock Holmes und Dr. Watson nicht sagen, Da vid, aber ich denke, die beiden haben recht. Ich glaube auch, daß der Täter der Freund ihres Bruders ist. Wenn sie nicht auf Miss Peebles’ Grundstück herumlungern, sollen sie weiterhin nach ihm suchen. Verstehen Sie, was ich meine?« »Wie ich schon sagte, Sie sind der Boß. Sie sind verschlagener, als ich dachte…« »Ich werte das als Kompliment«, sagte Wohl. »Und verschlagen, wie ich bin, will ich Ihnen offen sagen, daß der Erfolg dieser Operati on davon abhängt, wie gut Sie die Lady mit Ihrem Charme bezaubern können.« »Warum bezaubern Sie die Lady nicht mit Ihrem Charme?« »Weil ich der Boß bin und so etwas unter meiner Würde ist«, sagte Wohl feierlich. Pekach lächelte. »Ich werde alles daransetzen, daß die Lady meinem Charme er liegt, Boß.« »›Erliegt‹ war natürlich im übertragenen Sinne gesprochen, oder, Captain?« »Ich weiß nicht. Wie sieht sie denn aus?« »Keine Ahnung«, sagte Wohl. »Dann will ich mich mal nicht festlegen«, sagte Pekach. »Ich werde
Sie wissen lassen, wie gut ich war.« »Bitte nur die Höhepunkte, Captain. Nichts von den frivolen Einzel heiten.«
17
Captain David Pekach war versucht, den Captain der Kripo Nord west und den Leiter des Vierzehnten Distrikts aufzusuchen, bevor er Miss Peebles besuchte, doch schließlich entschied er sich dagegen. Er wußte, daß sein Erfolg als neuer Chef der Highway Patrol in gro ßem Maße davon abhing, wie gut die Highway Patrol mit der Kripo und den einzelnen Distrikten auskam. Und es war ihm klar, daß es eine gewisse Abneigung seitens der übrigen Polizei gegen die High way Patrol gab, und besonders seitens der Kriminalbeamten und uni formierten Cops der Distrikte. Er hatte mehrfach und erst vor einer Stunde eine falsche Reaktion auf den Leitartikel des Ledger erlebt, in dem die Highway Patrol als ›Gestapo‹ bezeichnet wurde. Heute morgen hatte im Siebten Distrikt ein uniformierter Cop ›Ach-tung!‹ gebrüllt, als zwei Cops der Highway Patrol das Gebäude betreten hatten. Und zweimal hatte er gesehen, daß uniformierte Polizisten der Highway Patrol spöttisch den Hitler gruß entboten hatten. Das war natürlich scherzhaft gemeint gewesen, aber David Pekach war genug Amateurpsychologe, um zu wissen, daß fast immer ein Körnchen echter Groll dabei ist, wenn eine Frau ihren Ehemann auf zieht oder ein Cop sich über einen anderen Cop lustig macht. Er hatte sich den Polizisten vorgeknöpft, der ›Ach-tung!‹ gebrüllt hatte, und mit
den beiden Cops gesprochen, die den Nazigruß entboten hatten, und er war jetzt überzeugt, daß sie es nicht wieder tun würden. Mit ein wenig Glück würde sich schnell herumsprechen, daß der neue Chef der Highway Patrol ein Temperament hatte, das man besser nicht herausforderte. Er verstand die Abneigung gegen die Highway Patrol. Einiges war wirklich unberechtigt und auf Neid zurückzuführen. Die Highway Pa trol hatte besondere Uniformen, stadtweite Zuständigkeit und den wohlverdienten Ruf, die weniger angenehmen Aufgaben der Polizei arbeit, besonders die Schlichtung häuslichen Streits, den Cops der Distrikte zu überlassen. Die Streifenwagen der Highway Patrol hatten wie alle anderen Streifenwagen Schraubenschlüssel für Hydranten in ihren Kofferräumen. Wenn der Wasservorrat knapp wurde oder der Wasserdruck sank, wie es der Fall war, wenn Kids die Hydranten als Springbrunnen mißbrauchten, um sich in der Sommerhitze abzuküh len, wurde die Anweisung erteilt, die Hydranten abzustellen. David Pekach konnte sich nicht erinnern, jemals einen Cop der Highway Patrol mit einem Schraubenschlüssel für Hydranten in der Hand gesehen zu haben, und er hatte Dutzende von Streifenwagen der Highway Patrol gesehen, die vergnügt an Hydranten vorbeigefah ren waren, aus denen Wasser auf die Straßen strömte, lange nach dem die Jugendlichen, die sie aufgedreht hatten, nach Hause gegan gen waren. Solch eine Arbeit wurde wie vieles andere – zum Beispiel das Retten einer Katze von einem Baum oder das Ermitteln in Fällen von Vandalismus und so weiter – von der Eliteeinheit Highway Patrol als zu niedrig betrachtet, um ihre Aufmerksamkeit zu verdienen. Die Polizisten, die diese Aufgaben erfüllen mußten, hatten natürlich eine Abneigung gegen die Cops der Highway Patrol, die nicht ihren fairen Anteil leisteten, und die Cops der Highway Patrol schafften es regelmäßig, die Kollegen von den Distrikten wissen zu lassen, daß sie etwas Besonderes waren und richtige Polizeiarbeit leisteten, wäh rend ihre zurückgebliebenen, nicht zur Elite zählenden Brüder zornige Ehefrauen und Randalierer beruhigen mußten und sich nasse Uni formen holten, wenn sie Hydranten abstellten. Was die Kriminalbeamten anbetraf, war es fast die Heilige Schrift bei ihnen, daß die Cops der Highway Patrol mit ihren Motorradfahrer stiefeln Spuren zertrampelten, wenn sie vor der Kripo an einem Tatort eintrafen. Als David Pekach Lieutenant beim Rauschgiftdezernat ge wesen war, hatte er diese Meinung geteilt. Jetzt, als Chef der Highway Patrol, war eines seiner Ziele, die Be ziehung zwischen ihr und allen sonst zu verbessern, und er hielt es für schlecht, wenn er die Kripo Nordwest und den Vierzehnten Distrikt
besuchen und über die Diebstähle bei Miss Peebles Fragen stellen würde. Sie würden sich verständlicherweise darüber ärgern. Es wäre gleichbedeutend mit den unverblümten Worten: ›Weil ihr gewöhnli chen Cops nicht in der Lage seid, den Täter in einem popeligen Fall von Diebstahl zu fassen, ist die Highway Patrol hier, um euch zu zei gen, wie richtige Cops das machen!‹. Und David Pekach wußte, daß Peter Wohl bereits mit dem Leiter des Vierzehnten Distrikts und mit der Kripo Nordwest gesprochen hatte. Wohl konnte sich das erlauben, allein schon weil er einen hö heren Rang als die Captains hatte. Und Wohl war nach Pekachs Ein schätzung ein guter Cop; wenn irgend etwas Interessantes in den Berichten gestanden hätte, dann wäre es ihm aufgefallen, und er hät te etwas gesagt. Aber Pekach studierte die Akten, die er bereits gelesen hatte, noch einmal, bevor er nach Chestnut Hill fuhr. Glengary Lane 606 war ein sehr großes Haus in viktorianischem Stil, vielleicht sogar ein Herrenhaus, das auf einem kleinen Hügel thronte und von Rasen umgeben war. Das Grundstück, das Pekach auf drei, vielleicht sogar vier Morgen schätzte, war ganz von einem hohen Eisenzaun umgeben, dessen Spitzen wie vergoldete Speer spitzen wirkten. Das Haus auf dem Nachbargrundstück zur Linken war gerade noch zu erkennen und das zur Rechten überhaupt nicht zu sehen. Hinter dem Haus befand sich eine Garage für drei Wagen. Pekach nahm an, daß sie ursprünglich das Kutscherhaus gewesen war. Die Gebäude ähnelten sehr denen, wo Peter Wohl wohnte, abgesehen davon, daß das große Haus hinter Wohls Apartment über der Garage in sechs Luxuswohnungen umgewandelt worden war. In diesem gro ßen Haus hier wohnten nur zwei Leute, Miss Peebles und ihr Bruder, und der Bruder sollte zur Zeit in Frankreich sein. Alle drei Garagentore standen offen, als Pekach über den Zu fahrtsweg fuhr und unter einem Eingangsportal hielt. Er konnte sich vorstellen, wie eine Kutsche, gezogen von zwei Pferden, hielt, wo jetzt sein blauweißer, Streifenwagen stand, und ein Diener herbeieilte und seinem Herrn und seiner Herrin aus der Kutsche half. Jetzt erschien kein Diener. Pekach sah einen grauhaarigen Schwarzen mit schwarzer Gummischürze und schwarzen Gum mistiefeln, der einen Buick Kombi wusch. In der Garage standen ein neues Mercedes Coupe und ein Cadillac Coupe de Ville, und neben der Garage parkte ein älterer Ford, der vermutlich dem Schwarzen gehörte, der den Buick wusch. Pekach ging die Treppe zur Haustür hinauf und klingelte. Er hörte
ein dumpfes Gongen im Haus, und einen Augenblick später wurde der Spitzenvorhang vor dem Fensterchen in der Tür zur Seite gezo gen, und eine grauhaarige Schwarze spähte heraus. Dann wurde die Tür geöffnet. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Schwarze. Sie trug schwarze Dienstkleidung, und Pekach nahm an, daß die Frau mit dem Mann verheiratet war, der den Buick wusch. »Ich bin Captain Pekach von der Highway Patrol«, sagte David. »Ich möchte bitte mit Miss Peebles sprechen.« »Einen Augenblick, bitte«, sagte die Schwarze. »Ich werde feststel len, ob Miss Peebles zu Hause ist.« Sie schloß die Tür. Pekach blickte sich um. Die Örtlichkeit und die Lage des Hauses sind fast eine Einladung für einen Einbrecher, einzusteigen und sich zu bedienen, dachte er. Eine Minute später wurde die Tür wieder geöffnet. »Miss Peebles ist bereit, Sie zu empfangen«, sagte die Schwarze. »Folgen Sie mir bitte.« Pekach nahm die Uniformmütze ab und tastete unwillkürlich zum Nacken, wo er sonst den Pferdeschwanz gehabt hatte, der natürlich nicht mehr da war. Er betrat eine große Halle, in deren Mitte ein achteckiger marmor ner Springbrunnen stand. Zu beiden Seiten der Halle sah Pekach doppelflügelige Türen und voraus eine breite Treppe. Auf einem Buntglasfenster war irgendein Heiliger oder eine Sagengestalt im Kampf mit einem Drachen zu sehen. Hier sieht es aus wie in einem Museum, dachte Pekach. Oder viel leicht wie in einer Leichenhalle. Die Schwarze öffnete eine der doppelflügeligen Türen. »Hier ist der Polizist, Miss Martha«, sagte sie und forderte ihn mit einer Geste zum Eintreten auf. David Pekach betrat einen Raum mit hoher Decke, an dessen Wänden Regale voller Bücher standen. Die Bibliothek. »Guten Tag«, sagte Martha Peebles. Alte Jungfer, vielleicht fünfzig, dachte Pekach beim Anblick von Martha Peebles. Sie trug eine weiße Bluse mit Spitzen an den langen Ärmeln und am Kragen und einen schwarzen Rock. »Miss Peebles, ich bin Captain Pekach, der Chef der Highway Pa trol«, sagte David. »Inspector Wohl bat mich, Sie zu besuchen und Ihnen zu sagen, wie sehr wir die Probleme bedauern, die Sie hatten. Wir werden alles Menschenmögliche tun, um zu verhindern, daß so etwas noch einmal passiert.«
Martha Peebles reichte ihm die Hand. Der Polizist – im Gegensatz zu dem Mann – in Pekach gewann die Oberhand. Der Polizist, der geübte Beobachter, sah jetzt, das Martha Peebles keineswegs fünfzig war. Sie hatte nicht die Hände, Augen und Zähne einer Fünfzigjährigen. Es waren noch ihre eigenen Zähne, kein Ersatz, und das Zahnfleisch war gesund. Es gab keine Alters flecken auf ihren Händen, und die Haut war straff und glatt. Auch ihr Hals war glatt und faltenlos. Es war sogar möglich, daß die Konturen ihres Busens noch von festen Brüsten stammten, nicht von einem gut sitzenden Büstenhalter. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Captain – Pekach, sagten Sie?« »Ja, Ma’am.« Ihre Hand war warm und weich, was ihn in seiner korrigierten Mei nung über ihr Alter bestätigte. Er schätzte sie jetzt auf vielleicht fünf unddreißig, nicht älter. Sie war nur wie eine ältere Frau gekleidet; das hatte ihn getäuscht. Er fragte sich, warum sie sich wie eine ältere Frau kleidete. »Sie werden verzeihen, aber das habe ich schon gehört, Captain«, sagte Martha Peebles, entzog ihm die Hand und verschränkte sie mit der anderen vor ihrem Leib. »Gerade erst gestern.« »Ja, Ma’am, ich weiß«, sagte David Pekach. Er fühlte sich unbe haglich. »Ich bin wirklich keine neurotische alte Jungfer, die sich all das einbildet«, sagte Martha Peebles. »Niemand denkt so etwas, Miss Peebles«, sagte Pekach. O Scheiße! McFadden und Martinez! »Miss Peebles, sagten die beiden Polizeibeamten, die gestern hier waren, irgend etwas in dieser Art? Deuteten sie so etwas Empörendes an?« »Nein«, sagte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, daß sie so etwas sagten. Aber darf ich offen sprechen?« »Bitte.« »Sie waren ein bißchen jung für Kriminalbeamte«, sagte sie, »und ich gewann den Eindruck – wie soll ich es in Worte fassen? –, daß sie von dem Haus ziemlich überwältigt waren.« »Ich bin ebenfalls überwältigt«, sagte David. »Es ist prächtig.« »Mein Vater liebte dieses Haus«, sagte Martha. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Welche Frage war das, Miss Peebles?« fragte Pekach verwirrt. »Sind diese beiden nicht zu jung für Kriminalbeamte? Haben sie die nötige Erfahrung?« »Nun, Miss Peebles, eigentlich sind sie keine Kriminalbeamten«,
sagte David Pekach. »Sie waren in Zivilkleidung«, wandte sie ein. »Ich dachte, daß bei der Polizei nur Kriminalbeamte Zivil tragen dürfen.« »Nein, Ma’am«, sagte Pekach. »Auch andere Beamte arbeiten in Zivilkleidung.« »Das wußte ich nicht.« »Wenn es angemessen ist, dann ist das erlaubt, Ma’am.« »Ich finde, je mehr Polizisten in Uniform auftreten, desto besser ist das. Das schreckt Kriminelle ab.« »Eins zu null für Sie«, sagte Pekach. »Dem kann ich nichts entge gensetzen. Aber darf ich erklären, was es mit den Beamten auf sich hat, die gestern hier waren?« »Wir reden über den kleinen Mexikaner, oder was immer er ist, und den großen irischen Jungen?« »Ja, Ma’am. Miss Peebles, erinnern Sie sich zufällig an die Sache mit Captain Moffitt, der vor kurzem erschossen wurde?« »Ja, natürlich. Im Fernsehen sagte man, wenn ich das nicht miß verstanden habe, daß er der Chef der Highway Patrol war.« »Ja, Ma’am, das war er«, sagte Pekach. »Oh, ich verstehe. Und Sie sind sein Nachfolger…« »Ja, Ma’am, aber darauf wollte ich nicht hinaus.« »Sondern?« »Wir wußten binnen Minuten, wer Captain Moffitt erschossen hat te«, sagte Pekach. »Was bedeutete, daß achttausend Polizisten – die gesamte Polizei von Philadelphia – den Komplicen der Täterin such ten.« »Das kann ich verstehen.« »Zwei Undercoveragenten des Rauschgiftdezernats spürten ihn auf…« »Sie warfen ihn vor eine U-Bahn«, sagte Martha Peebles. »Ich las das im Ledger. Gut für sie!« »Diese Geschichte stimmt nicht, Miss Peebles«, sagte Pekach, überrascht über ihre Reaktion. »In Wirklichkeit setzte der betreffende Beamte alles daran, ihn lebend zu fassen. Er machte nicht einmal von seiner Schußwaffe Gebrauch, aus Furcht, eine Kugel könnte Un beteiligte treffen.« »Er hätte ihn auf der Stelle abknallen sollen«, sagte Miss Peebles. David schaute sie überrascht an. »Ich las in Time, daß wir für die Summe, die es kostet, einen Ver brecher in Haft zu halten, vier Leute in Harvard studieren lassen könnten.« »Jawohl, Ma’am. Ich bin überzeugt, daß das stimmt.«
»Und das ist kriminell«, sagte sie. »Gutes Geld für die Schlechten aufzuwenden. Geld, das zum Nutzen der Gesellschaft benutzt wer den könnte, wegzuwerfen, um Verbrecher in Country Clubs mit Bars gefangenzuhalten.« »Ja, Ma’am, da muß ich Ihnen zustimmen.« »Leute wie Sie müssen das bestimmt sehr frustrierend finden«, sagte Martha Peebles. »Ja, Ma’am, manchmal«, pflichtete Pekach ihr bei. »Ich werde die Jalousie herunterlassen«, kündigte Martha Peebles an. »Der Sonnenschein bleicht die Teppiche aus.« Sie ging zum Fenster, und bevor sie die Jalousien herunterließ, hob sich ihr Körper vor dem Sonnenschein ab, und ihre Bluse war auf einmal praktisch durchsichtig. David Pekach wandte den Blick ab. Nur ein BH. Aber ich hätte gedacht, daß sie einen Unterrock anhat. Aah, was soll’s, es ist heiß. Aber wirklich schöner Vorbau! Sie kehrte zu ihm zurück. »Was sagten Sie?« fragte sie. »Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Sie sprachen über den Mann, der Ihren Vorgänger erschoß.« »Ah, ja, Ma’am. Miss Peebles, der Beamte, der den Komplizen der Täterin, Gerald Vincent Gallagher, fand, war Officer Charles McFad den.« »Wer?« »Officer McFadden, Miss Peebles. Der Beamte, den Inspector Wohl gestern zu Ihnen schickte. Und Officer Martinez ist sein Part ner.« »Tatsächlich?« Sie war wirklich überrascht: »Dann habe ich sie gewiß falsch eingeschätzt, nicht wahr?« »Ich brachte das zur Sprache, Miss Peebles, um Sie zu über zeugen, daß wir Ihnen die beiden besten verfügbaren Männer schick ten.« »Hm. Das mag ja sein, aber sie sind anscheinend ebenso erfolglos wie die anderen, die hier waren.« »Sie arbeiteten gestern bis lange nach Mitternacht, Miss Peebles. Sie suchten Walton Williams…« »Dann haben sie am falschen Ort gesucht«, sagte Martha Peebles. »Sie hätten hier suchen sollen. Er war hier.« Scheiße, da hat sie recht! »Nun, eigentlich wissen wir das nicht«, sagte David. »Wir wissen nicht, ob derjenige, der gestern nacht hier war, Mr. Williams war. Und was das anbetrifft, wissen wir nicht mal, ob Mr. Williams und der Tä ter identisch sind…«
»Seien Sie nicht albern«, sagte Martha Peebles. »Wer sonst könn te es sein?« »Eigentlich jeder.« »Captain, ich mag gar nicht an die Gesamtsumme für all die Dinge denken, die von Stevens ›Freunden‹ aus diesem Haus gestohlen wurden. Ich weiß nicht, ob er sie tatsächlich bezahlt für das – was immer sie miteinander treiben, aber ich weiß, daß sie sich selbst ein Trinkgeld geben, indem sie Sachen in ihre Taschen stecken, bevor sie dorthin zurückkehren, wo Stephen sie aufgabelt.« »Davon stand nichts in den Berichten, die vor diesem letzten Er eignis geschrieben wurden«, sagte Pekach. »Aus dem guten Grund, weil ich es nie gesagt habe. Ich finde es sehr schmerzlich, öffentlich bekannt machen zu müssen, daß mein Bruder, der letzte des Geschlechts, sozusagen der letzte des Ge schlechts sein wird; und daß er nicht mal sehr gut darin ist und sich Prostituierte suchen muß.« »Ja, Ma’am«, sagte David mit echtem Mitgefühl. »Ist ›Prostituierte‹ das richtige Wort? Oder gibt es eine andere Be zeichnung bei Männern?« »Die juristische Bezeichnung ist dieselbe, Ma’am.« »Ich nehme an, ich hätte die Dinge weiterlaufen lassen, die Augen verschlossen und so getan, als mache ich mir nichts aus den ver schwundenen Dingen – aber dieser Williams hört einfach nicht auf mit seinen Belästigungen – und das ist es, mehr als der Wert der gestoh lenen Dinge – , und das beweist mir, daß er der Dieb ist und kein anderer, der soviel nimmt, wie er nur wegschleppen kann…« »Da haben Sie vielleicht recht, Miss Peebles«, sagte Pekach. »Aber ich befürchte ebenfalls, daß er Vaters Waffensammlung entweder stehlen oder vielleicht einfach aus irgendwelchen perversen Gründen mutwillig zerstören wird. Es würde mir das Herz brechen, wenn etwas von den Waffen gestohlen oder zerstört werden würde.« In Pekachs Augen leuchtete es bei dem Wort Waffen auf. Was, zum Teufel, geht hier vor? dachte er. In allen Berichten und Protokollen, die ich gelesen habe, steht nicht ein Wort von Waffen. »Eine Waffensammlung?« fragte Pekach. »Wären Sie so freund lich, sie mir zu zeigen?« »Wenn Sie das möchten«, sagte Martha Peebles. »Unter der Be dingung, daß Sie die Waffen nur anschauen, sie aber nicht berüh ren.« »Jawohl, Ma’am.« »Nun, dann kommen Sie mit.« Sie führte ihn aus der Bibliothek und die Treppe hinauf, vorbei an dem Typ, der mit dem Drachen kämpfte.
»Einige Stücke sind scharf«, sagte Martha Peebles. »Wie bitte?« Pekach war durch den Anblick von Miss Peebles’ Hintern abge lenkt, als sie vor ihm die Treppe hinaufstieg. Der dünne Stoff ihres Rocks spannte sich um ihren Po. Der Umriß ihres Unterhöschens zeichnete sich deutlich ab. Und das Höschen war… Pekach suchte in seinem begrenzten Vokabular auf diesem Gebiet und kam triumphierend und zugleich überrascht auf ›Bikinihöschen‹. Oder die untere Hälfte eines Bikinis, oder wie die Dinger heißen. Dann fiel es ihm ein. Tanga! Ein winziges Ding, das kaum etwas be deckt. Schöner Hintern. »Schwerter, Hellebarden, einige arabische Dolche, diese Art Din ge«, sagte Martha Peebles. »Aber es war schwierig und zeitraubend, sie zu pflegen, und Colonel Mawson – Sie kennen Colonel Mawson, Captain?« »Ich weiß, wer das ist, Miss Peebles«, sagte Pekach, als sie auf dem Treppenabsatz stehenblieb und darauf wartete, daß er sie ein holte. »Colonel Mawson arbeitete eine steuerliche Vereinbarung mit der Regierung für mich aus, und ich gab diese Waffen der Smithsonian Institution«, schloß sie. »Ich verstehe.« Sie führte ihn über einen mit Teppich ausgelegten Flur und blieb dann so plötzlich stehen, daß David Pekach gegen sie prallte. »Verzeihung«, sagte er. Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln und nickte nach oben zu der Wand hinter ihm. »Das ist mein Daddy«, sagte sie. David Pekach sah ein Ölgemälde, das einen großen, finster drein blickenden, stämmigen Mann mit buschigem Schnurrbart zeigte. Er war in Jagdkleidung, und eine Hand ruhte auf dem Geweih eines Hir sches. Ein miserables Gemälde, fand Pekach. Es wirkte mehr wie ein dile tantischer Schnappschuß. »Ich ließ das Bild nach Daddys Tod malen«, erklärte Martha Pee bles. »Der Künstler mußte nach einem Foto arbeiten.« »Ich verstehe«, sagte Pekach. »Sehr schön.« »Auf dem Foto war Stephen dabei, aber ich wies den Maler an, ihn wegzulassen. Stephen haßt die Jagd, und mein Vater wußte das. Ich nehme an, er nahm ihn vielleicht mit, damit er – männlicher wird. Je denfalls fand ich, daß Stephen nicht auf Daddys Bild gehört, und so
ließ der Maler ihn weg.« »Ich verstehe.« Martha Peebles steckte den rechten Arm tief in eine Bodenvase und holte zwei Schlüssel hervor. Sie schob erst einen Schlüssel und dann den anderen in Schlösser einer Tür neben dem Porträt ihres Vaters. Dann schloß sie die Tür auf, öffnete sie und betätigte drinnen einen Schalter. Leuchtstofflampen gingen flackernd an. Der Raum war an zwei Wänden von verglasten Waffenständern gesäumt. Vor der hinteren Wand standen ein mit Filz bezogener Tisch und ein Bücherregal. Mitten in dem Raum gab es zwei große Glasvitrinen, einen Ledersessel mit dazu passender Fußbank und einen Tisch mit einem alten Zenith-Trans-Oceanic-Kofferradio. »Es ist hier fast so, wie es an dem Tag war, an dem mein Vater starb«, sagte Martha Peebles. »Ich habe nur seinen Whisky her ausgenommen.« »Wie lange ist Ihr Vater tot, Miss Peebles?« fragte Pekach, wäh rend er zu der ersten Glasvitrine ging. »Daddy starb vor drei Jahren, zwei Monaten und neun Tagen«, sagte sie ohne zu überlegen. Pekach neigte sich über den ersten Schaukasten. Mein Gott, das ist ein 1819er J. H. Hall Hinterlader! Tadellos erhal ten! »Wissen Sie etwas über diese Waffen, Miss Peebles?« fragte Pe kach. Martha Peebles ging zu ihm. »Welche?« fragte sie, und er wies hin. Sie neigte sich vor, um hin zuschauen, wodurch sich ihre Bluse um ihren Busen spannte und David Pekach einen schnellen Blick auf ihren BH erhaschte. Obwohl Captain David Pekach sich wirklich für die Bestätigung in teressierte, daß er den Hinterlader richtig identifiziert hatte, wurde er zu einem gewissen Grade abgelenkt durch den Anblick, den er unab sichtlich und in völliger Unschuld erhascht hatte. O Mann! Schwarze Spitze! Wer hätte das gedacht! Ob ihr Höschen auch schwarz ist? Ein schwarzer Spitzen-Tanga. O Mann! »Das ist ein Gewehr der Army«, sagte Martha Peebles. »Von 1819. Dieser besondere Verschluß stammt von 1821. Es ist interessant, weil…« »… er ein J. H. Hall ist«, ergänzte Pekach. »Ja«, sagte sie. »Ich habe noch nie ein solches Gewehr in so gutem Zustand gese hen«, sagte David Pekach. »Das sieht wie neu aus.« »Es wurde nur eingeschossen«, sagte Martha. »Es sind die Buch
staben Z. E. H. eingeprägt. Das sind fast mit Sicherheit die Initialen von Captain Zachary Ellsworth Hampden. Aber ich bezweifle, daß die Waffe jemals die Waffenfabrik Harper verlassen hat.« »Es ist ein schönes Stück«, sagte Pekach. »Sie sind interessiert an – ich hätte beinahe gefragt ›an Hin terladern‹, aber ich nehme an, die erste Frage sollte lauten, sind Sie interessiert an Feuerwaffen?« »Meine Mutter sagte, deshalb hätte ich nie geheiratet«, platzte Pe kach heraus. »Ich gab all mein Geld für Waffen aus.« »Welche Sorte?« »Hauptsächlich Remington Jagdgewehre«, sagte Pekach. »Mein Vater liebte Jagdgewehre«, sagte Martha Peebles. »Der ganze Schaukasten links ist voller Jagdwaffen.« »Tatsächlich?« Er ging zu dem Schaukasten. Sie folgte ihm. »Ich habe keine, die so gut sind wie diese«, sagte Pekach. »Von diesem Modell dort…«, er wies hin, »… habe ich eins, aber es ist abgenutzt und verschrammt. Das da ist tadellos erhalten. Alle sehen fast wie neu aus.« »Daddy sagte, daß er sich als ihr Bewahrer betrachtete«, sagte Martha Peebles. »Er hielt sich nicht für einen Weltverbesserer, aber es bereitete ihm große Freude, diese Symbole unseres Erbes für spätere Generationen zu bewahren.« »Das ist schön ausgedrückt«, sagte Pekach, und er meinte es ehr lich. »Oh, es tut mir so leid, daß Daddy jetzt nicht hier sein kann«, sagte Martha. »Er liebte es so, seine Waffen Leuten zu zeigen, die das Wissen und das Feingefühl haben, sie zu schätzen.« Ihre Blicke trafen sich. Martha Peebles errötete leicht und schaute fort. »Das war sein Lieblingsstück«, sagte sie nach einer Weile und wies darauf. »Was ist das? Sieht deutsch aus.« Sie schauten auf ein stark ziseliertes Gewehr mit zwei Abzügen und kunstvoll geformtem, mit Schnitzereien verziertem Kolben aus Kirschbaumholz. »Deutsch-amerikanisch«, sagte Martha. »Es wurde 1883 von Lud wig Hammer in Milwaukee hergestellt, der 1849 aus Bayern auswan derte. Der Kolben ist aus dem Holz einer Wildkirsche.« »Ich weiß«, sagte Pekach. »Ein wunderschönes Stück.« Miss Peebles wandte sich ab und ging von ihm fort. Er sah, daß sie sich bückte und eine Ecke des Teppichs bei der Tür anhob. Sie kehr
te mit einem Schlüssel zurück und schloß damit den Schaukasten auf. Fast ehrfürchtig nahm sie das Gewehr heraus und hielt es Pe kach hin. »Ich sollte es nicht berühren«, sagte er. »Es könnte Säure von Schweiß an meinen Fingern sein.« »Ich werde es abwischen, bevor ich es zurücklege«, sagte Martha Peebles. Als er immer noch zweifelnd dreinblickte, fügte sie hinzu: »Ich weiß, daß mein Vater es Ihnen ebenfalls gegeben hätte.« Er nahm die Waffe, und dabei berührte er Marthas Hand, und sie zog sie zurück, als hätte sie sich verbrannt, und er ließ das Gewehr beinahe fallen. Aber das tat er nicht, und als er es ihr nach sorgfältiger und aner kennender Betrachtung zurückgab, berührten sich ihre Hände wieder, und diesmal zuckte sie nicht vor seiner Berührung zurück. Ganz im Gegenteil.
»Was hat Mr. Walton Williams zu den Diebstählen in Miss Peebles’ Haus zu sagen?« fragte Staff Inspector Peter Wohl. »Wir hatten einige Schwierigkeiten, ihn zu finden, Inspector«, be kannte Officer Charley McFadden. »Aber Sie haben ihn gefunden?« »Nein, Sir«, sagte McFadden. »Eigentlich nicht.« »Sie haben ihn nicht gefunden?« »Nein, Sir, ich meine, jawohl, Sir, wir haben ihn nicht gefunden. In spector, wir haben gestern nacht fast alle Schwulenkneipen in Phil adelphia besucht.« »Einschließlich der Bar in der FOP?« fragte Wohl. »Wir trafen uns dort mit Payne, Inspector«, sagte McFadden. »Oh, ich dachte, Sie hatten gehofft, Mr. Williams dort in der Bar zu finden.« »Nein, Sir. Das war nur ein Treffpunkt mit Payne.« »Sie haben also nichts in der FOP-Bar getrunken?« »Che-sus hat nichts getrunken«, sagte Charley. »Heißt das, Sie und Payne haben getrunken? Ein paar Hoch prozentige?« »Wir haben ein paar Bier getrunken, Sir.« »Payne kann nicht viel vertragen, wie?« »Er hielt sich gestern nacht sehr wacker, wie ich fand«, sagte McFadden. »In der FOP-Bar oder sonstwo?« »Wir mußten etwas außer einem Wasser trinken, als wir auf der
Suche nach Williams waren, Sir.« »Che-sus auch?« »Che-sus trinkt nichts Alkoholisches«, sagte McFadden. »Sagten Sie nicht soeben oder deuteten an, daß Sie etwas ande res als Mineralwasser trinken mußten, um in den verschiedenen Bars und Clubs glaubwürdig zu wirken, in denen Sie Mr. Williams such ten?« »Ich weiß nicht, wie Che-sus damit zurechtkam, Sir.« »Waren Sie nicht mit ihm zusammen?« »Wir trennten uns, Sir. Che-sus nahm den neutralen Wagen, und ich nahm Payne mit, und wir suchten in anderen Lokalen.« »Sie benutzten einen Privatwagen?« »Jawohl, Sir.« »Das muß lustig gewesen sein, nach Paynes Aussehen und Duft heute morgen zu schließen«, sagte Wohl. »Er machte einen ordentlichen Eindruck auf mich, als wir heimfuh ren«, sagte Charley. »Ich glaube Ihnen das, Officer McFadden«, sagte Inspector Wohl. »Es liegt mir fern, anzunehmen, daß Sie mit dem Bauch voll Schnaps und mit eingeschränktem Urteilsvermögen im Dienst waren.« »Jawohl, Sir«, sagte McFadden. »Ich habe eine Theorie, warum Sie Mr. Williams gestern nacht nicht finden konnten«, sagte Wohl. »Möchten Sie die hören?« »Jawohl, Sir«, sagte McFadden. Wohl starrte Jesus Martinez finster an. »Darf ich aus Ihrem Schweigen folgern, daß Sie nicht an meiner Theorie interessiert sind, Officer Martinez?« »Jawohl, Sir. Nein, Sir. Ich meine, ja, Sir, ich würde gern Ihre Theo rie hören.« »Danke«, sagte Wohl. »Meine Theorie ist folgende. Während Sie, McFadden, und Payne in der Stadt herumsoffen, in der irrtümlichen Annahme, es gehe auf Kosten des Steuerzahlers, und Sie, Martinez, wer weiß was taten – ich weiß es nicht – , kehrte Mr. Williams zurück zur Glengary Lane und bestahl die arme Miss Peebles ein weiteres Mal. Haben Sie davon gehört?« »Jawohl, Sir«, sagte Martinez. »Kurz bevor wir hier eintrafen.« »Miss Peebles wird nicht noch einmal bestohlen werden«, sagte Peter Wohl. »Jawohl, Sir«, sagten sie wie aus einem Munde. »Würde einer von Ihnen oder Sie beide daran interessiert sein, warum ich mir dessen so sicher bin?« »Jawohl, Sir.«
»Weil von jetzt an, bis wir den Dieb schnappen oder die Hölle zu friert – was auch immer zuerst der Fall sein wird – zwischen Sonnen untergang und Sonnenaufgang einer von euch dreien in Sicht- und Hörweite des Hauses von Miss Peebles parken wird.« »Sir«, wandte Jesus Martinez ein, »wenn er jemanden in einem Wagen sieht, wird er ihr Haus nicht betreten.« »Richtig«, sagte Wohl. »Das ist der springende Punkt der Übung.« »Und wie sollen wir ihn dann schnappen?« fragte Martinez. »Das überlasse ich Ihnen«, sagte Wohl. »Mit dem freundlichen Hinweis, daß es klug wäre, etwas anderes zu versuchen, nachdem Ihr Vorgehen gestern nacht offenkundig nicht von Erfolg gekrönt war. Noch irgendwelche Fragen?« Beide schüttelten den Kopf. Wohl machte eine Geste, als wolle er eine Fliege verscheuchen. Die Officers McFadden und Martinez deuteten das richtig als Verab schiedung und als Aufforderung, zu verschwinden. Als sie fort waren und die Tür hinter ihnen geschlossen war, ap plaudierte Captain Michael J. Sabara leise, der schweigend auf der Couch dabeigesessen hatte. »Sehr gut, Inspector«, sagte er. »Ich war mal Corporal bei der Highway Patrol«, sagte Wohl. »Mei nen Sie, ich hätte vergessen, wie man Leute zur Schnecke macht?« »Es sind gute Jungs«, sagte Sabara. »Ja, das sind sie«, pflichtete Wohl ihm bei. »Und ich will nur, daß sie das bleiben. Wenn ich gleich zu Anfang ein bißchen die Zügel anziehe, ist das vermutlich besser, als die Pferde galoppieren zu las sen und sie irgendwann später mit schmerzhaftem Ruck zügeln zu müssen.«
18
»Wir werden folgendes machen«, sagte Officer Jesus Martinez zu Officer Charles McFadden, während sie auf der Toilette im Siebten Distrikt vor den Urinbecken standen. »Wir geben deinem reichen Liebling die Schicht von Mitternacht bis Sonnenaufgang.« »Warum bist du so sauer auf ihn?« fragte Charley McFadden und korrigierte die Richtung seines Urinstrahls. »Bist du blöde oder was? Woher hat Wohl denn erfahren, daß ihr beide gestern nacht gesoffen habt?« »Wir haben gestern nacht nicht gesoffen«, widersprach McFadden. »Sag das Wohl«, bemerkte Martinez sarkastisch. »Wenn wir ihn von Mitternacht an arbeiten lassen, wer überwacht dann das Haus von Sonnenuntergang bis Mitternacht? Jemand muß dort sein.« McFaddens Logik war unwiderlegbar, was Martinez noch mehr är gerte. »Mit diesem Hurensohn wird es Ärger geben, Charley«, sagte er heftig. »Und er wird nie ein Cop werden.« »Ich finde ihn in Ordnung«, sagte McFadden. »Er weiß einfach noch nicht, wie der Hase läuft. Er ist neu in dem Job, das ist alles.« »Denk, was du willst«, sagte Martinez und zog den Reißverschluß seiner Hose zu. »Bleib ein Arschloch. Wir machen folgendes. Wir
parken den reichen Jungen von Sonnenuntergang bis Mitternacht bei dem Haus. Dann machen wir uns auf die Suche nach Walton Willi ams. Von Mitternacht bis Sonnenaufgang trennen wir uns. Ob du ihn als erster ablöst oder als zweiter, ist mir gleichgültig.« »Dann müßte er – wann ist Sonnenaufgang? Sagen wir mal um sechs – also sechs Stunden arbeiten und wir jeder nur drei.« »Scheißegal«, sagte Martinez. »Sieh mal, du Arsch, Wohl hat ge sagt, bis wir diesen Williams schnappen, müssen wir das Haus von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang überwachen. Es kommt also darauf an, Williams zu schnappen, richtig? Wer kann das besser, du und ich oder unser Anfänger? Mann, der weiß ja nicht mal, wo er su chen muß, geschweige denn, was er tun soll, wenn er das Glück hat, über ihn zu stolpern.« Sergeant Ed Frizell stellte die gleiche Frage über die faire Auf teilung der Dienststunden, als er die Überwachung des PeeblesHauses offiziell machte, aber er beugte sich der Logik, daß Officer Payne einfach nicht qualifiziert war, einen Verdächtigen auf eigene Faust zu suchen. Und er genehmigte drei Wagen. Einen für jeden der drei, die er inzwischen als Sherlock Holmes, Dr. Watson und Der Junge bezeichnete. Unabhängig von Sherlock Holmes und Dr. Wat son gelangte er zu dem Schluß, daß Walter Williams den Wagen bei dem Haus als Polizeiwagen erkannte und sich hüten würde, Miss Peebles’ Haus zu betreten – wenn er nicht wirklich blöde oder high war. Und das löste das Problem, wie ein fast völlig unerfahrener Matt Payne mit dem Verdächtigen zurechtkommen würde, wenn er ihm begegnete; es würde keine Begegnung geben.
Als Staff Inspector Peter Wohl nach einem Mittagessen mit Detec tive Jason Washington im D’Allesandros Steak Shop in der Henry Avenue um 14 Uhr 15 ins Büro zurückkehrte, informierte ihn Sergeant Frizell, daß Captain Henry C. Quaire, der Leiter der Mordkommission, angerufen hatte. Es sei wichtig, und Wohl möchte bitte so bald wie möglich zurückrufen. »Verbinden Sie mich bitte mit ihm«, sagte Wohl. Er forderte Wa shington auf, mitzukommen, und betrat sein Büro. Wohl hatte kaum hinter dem Schreibtisch Platz genommen, als ei nes der Lämpchen des Telefons aufleuchtete. »Peter Wohl, Henry«, sagte er. »Was ist los?« »Ich erhielt soeben einen Anruf von den State Troopers in Quaker town«, sagte Quaire. »Ich glaube, sie haben Miss Woodham gefun den.«
»Bleiben Sie dran, Henry«, sagte Wohl und schnickte mit den Fin gern. Als Jason Washington ihn anschaute, forderte Wohl ihn mit einer Geste auf, über den Nebenanschluß mitzuhören. »Jason kommt in die Leitung.« »Ich bin dran, Captain«, sagte Washington. Er nahm ein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus seinem Jackett. »Sie haben die verstümmelte Leiche einer weiblichen Person, auf die Miss Woodhams Beschreibung paßt. Der Tod trat vor vierund zwanzig bis sechsunddreißig Stunden ein. Sie gaben es ins NCIC (Nation Crime Information Center) und landeten einen Volltreffer.« »Verdammter Mist«, sagte Jason Washington bitter. »Wo wurde sie gefunden?« fragte Wohl und nahm einen Bleistift. »In einem Ferienhäuschen in der Nähe einer Kleinstadt namens Durhain«, sagte Quaire und beschrieb den Weg. Jason Washington notierte die Angaben. »Sie haben nichts über den Täter, nehme ich an?« fragte Wohl. »Sie sagten, das ist bis jetzt alles«, erwiderte Quaire. »Wenn sie wieder anrufen, informieren Sie mich bitte gleich, ja?« »Jawohl, Sir«, sagte Quaire, und sein Tonfall verriet Ärger. Das war blöde von mir, dachte Wohl. Ich hätte Quaire nicht sagen sollen, wie er seinen Job machen soll. »Ich meinte es nicht so, wie es klang, Henry«, sagte Wohl. »Tut mir leid.« Es folgte eine Pause. Henry Quaire überlegte anscheinend, ob er die Entschuldigung annehmen sollte oder nicht. »Als wir beim letztenmal mit Quakertown zu tun hatten, gab es ziemliche Reibereien, Inspector«, sagte Quaire schließlich. »Sie meinten, daß wir uns in ihren Job einmischen. Aber ich kenne einen Trooper Captain in Harrisburg…« Wohl überlegte kurz. »Lassen Sie uns den aufsparen, bis wir ihn brauchen, Henry«, sag te er. »Vielleicht haben wir diesmal Glück.« »Rufen Sie mich an, wenn Sie meinen, ich kann helfen«, sagte Quaire. »Vielen Dank, Henry«, sagte Wohl. »Ich werde Sie auf dem lau fenden halten.« »Viel Glück«, sagte Quaire und legte auf. Wohl schaute Jason Washington an. »Ich fahre sofort dorthin«, sagte Washington. »Ob ich Tony Harris dort auch brauche?« »Tun Sie, was Sie für richtig halten«, sagte Wohl. »Haben Sie was dagegen, wenn ich den Jungen mitnehme?« frag
te Washington. Wohl brauchte einen Moment, bis er verstand. »Sie meinen Payne? Klar. Nehmen Sie ihn mit, wenn Sie das wol len.« »Es ist in der finstersten Provinz«, erklärte Washington. »Payne ist vielleicht nützlich, wenn wir telefonieren müssen…« »Sie können haben, was Sie wollen«, sagte Wohl. »Möchten Sie einen Streifenwagen der Highway Patrol als Begleitung?« »Nein, der Junge sollte reichen«, sagte Washington. »Die Highway Patrol und die Troopers haben sich nie gemocht. Würden Sie Kontakt mit Tony aufnehmen und ihm sagen, daß ich ihn entscheiden lasse, ob er ebenfalls mitfahren will?« »Mach ich.« »Vielleicht kann ich eine Beschreibung von diesem Hurensohn be kommen«, sagte Washington. »Oder von dem Van.« »Ich hatte befürchtet, daß wir solch eine Nachricht erhalten«, sagte Wohl. »Ja, es ist keine freudige Weihnachtsbotschaft«, sagte Washington und verließ Wohls Büro. Matt Payne saß an einem alten, schiefen Tisch neben Sergeant Ed Frizells Schreibtisch und füllte mit der betagten und halb defekten Underwood-Schreibmaschine Formulare aus. »Kommen Sie mit, Payne«, sagte Washington. Matt schaute ihn überrascht an. Auch Sergeant Ed Frizell war über rascht. »Wohin wollen Sie ihn mitnehmen?« fragte Frizell. »Er kommt mit, klar?« Washington ergriff Matt am Arm und zog ihn zur Tür. »Ich brauche ihn hier!« protestierte Frizell. »Erzählen Sie Wohl ihr Problem«, sagte Washington und folgte Matt nach draußen. »Sie kennen Route 611? Nach Doylestown und dann am Fluß ent lang nach Easton?« fragte Washington. »Jawohl, Sir«, sagte Matt. »Dann fahren Sie«, sagte Washington. Matt setzte sich hinter das Steuer. »Rechts abbiegen«, wies Washington ihn an, »und dann nach links auf die Red Lion.« »Jawohl, Sir«, sagte Matt und fuhr an. Eine Autoschlange stand vor einer roten Ampel auf der Red Lion Road. Matt bremste. »Fahren Sie links vorbei«, wies Washington ihn an. »Vorsichtig!«
Und dann schaltete er die Sirene ein. »Versuchen Sie, uns nicht umzubringen«, sagte Washington. »Aber je eher wir am Ziel sind, desto besser. Vielleicht können wir den Kerl finden, bevor er wieder zuschlägt.« »Wohin fahren wir?« »Miss Woodham ist gefunden worden«, erklärte Washington. »Verstümmelt. Tot, natürlich. Auf dem Land.« Matt fuhr auf eine Kreuzung zu. Er sah, daß sie frei war, und igno rierte das Stoppschild. Mein Gott, ich fahre tatsächlich einen Polizeiwagen mit Sirene und bin auf dem Weg zum Tatort eines Mordes! »Möchten Sie nicht lieber fahren, Mr. Washington?« fragte Matt. »Sie müssen irgendwo anfangen, Payne. Als ich zum erstenmal fuhr und mein Vorgesetzter Rotlicht und Sirene einschaltete, fand ich das ziemlich aufregend. Ich fühlte mich wie ein Star aus diesen Fern sehkrimis.« »Ja«, murmelte Matt Payne, als er auf die Gegenspur ausscherte und einen UPS-Truck und zwei Pkws überholte.
Sergeant Ed Frizell wartete auf der Türschwelle von Inspector Wohls Büro, bis Wohl zu Ende telefoniert hatte. »Sir, ich brauche Payne dringend! Detective Washington nahm ihn soeben irgendwohin mit, und ich muß all diese…« »Sie kriegen ihn wieder, wenn Washington ihn nicht mehr braucht. Sie spüren jetzt Sherlock Holmes und Dr. Watson auf und sagen ih nen, daß Payne vermutlich nicht zu der Zeit zurück ist, an der er beim Haus der Peebles sein soll.« »Jawohl, Sir«, sagte Frizell enttäuscht und wollte gehen. »Warten Sie«, sagte Wohl. »Da ist noch etwas.« Das war ihm ge rade erst eingefallen. »Jawohl, Sir.« »Rufen Sie jemanden über das Band der Highway Patrol und las sen Sie sich die Position von Mickey O’Hara geben.« »Der wird schwer zu finden sein, Sir. Wäre es nicht besser, wenn ich es über das J-Band versuche? Und nach ihm Ausschau halten lasse?« »Ich nehme an, Mickey hört die Frequenz der Highway Patrol ab«, sagte Wohl. »Darf ich fragen, was das alles zu bedeuten hat, Inspector?« »Bezähmen Sie einfach Ihre Neugier«, erwiderte Wohl. »Danke, Sergeant.«
Als Frizell die Tür hinter sich geschlossen hatte, fiel Wohl noch et was ein, und er griff zum Telefonbuch und telefonierte. »Dr. Payne«, tönte Amelia Alice Paynes Stimme aus der Leitung. »Peter Wohl.« »Oh«, sagte sie und er erkannte, daß ihre Stimme jetzt nicht mehr geschäftsmäßig klang, sondern mehr – mädchenhaft? »Ich rufe an, um unsere Verabredung abzusagen«, sagte Wohl. »Ich wußte gar nicht, daß wir eine hatten«, erwiderte Amy spröde. »Wir hatten eine zum Abendessen«, sagte er. »Ich habe das nicht vergessen.« »Ich auch nicht«, bekannte sie. »Ich wartete auf Ihren Anruf.« »Die Staatspolizei rief an«, sagte er. »Hat man Miss Woodham gefunden? O Gott!« »Man hat die verstümmelte Leiche einer Frau gefunden, die viel leicht Miss Woodham war«, sagte er. »Wo?« »Im Bucks County. In der Nähe des Delaware River. Weit oben.« »Verstümmelt? Wie?« Jetzt klingt sie wieder wie Frau Doktor. »Ich weiß noch nicht«, sagte Wohl. »Ich schickte soeben einen De tective dort rauf.« Ich erwähne nicht, daß Matt Payne mitgefahren ist, sagte er sich, denn ihre nächste Frage würde vermutlich ›warum?‹ lauten. »Ich hasse es, wieder einmal darauf hinzuweisen. ›Ich habe es vorausgesagt‹« sagte Amy. »Er wird ungefähr anderthalb Stunden brauchen, bis er dort ist und sich einen schnellen Überblick verschaffen kann. Man hat mich daran erinnert, daß die State Troopers nicht immer so kooperativ sind, wie sie sein könnten. Ich werde vielleicht selbst dort rauf fahren und mei nen Dienstrang ausspielen müssen. Ich befürchte, es wird nichts aus unserem Abendessen.« »Ich möchte die Leiche sehen«, sagte Amy. Ich wußte, daß sie Doktor ist, Klapsdoktor, aber warum schockiert mich das so? »Wie wurde sie umgebracht?« fuhr Amy fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Das weiß ich auch nicht«, sagte Wohl. »Ich weiß nur, was ich Ih nen gesagt habe.« »Wo fand man die Leiche?« »In einem Ferienhäuschen.« »Vielleicht könnte ich mir das ansehen«, sagte Amy. »Oh, ich weiß es nicht. Ich würde wohl nur im Weg sein. Aber Sie müssen diesen
Mann finden, Peter.« »Wenn diese Leiche die von Miss Woodham ist«, sagte er. »Was meinen Sie denn?« fragte sie scharf. »Ich meine, sie muß eindeutig identifiziert werden«, sagte Wohl. »Ich habe natürlich nichts, das dieses Gefühl untermauert, aber es könnte auch jemand anders sein.« »Danke, Ma’am, aber der Rest hat Sie nicht mehr zu interessieren, wie? Peter, Sie kamen zu mir! Ich habe mich nicht aufgedrängt, in diesen Fall verwickelt zu werden.« »Könnten Sie sich frei nehmen und mit mir dort rauf fahren? Vor ausgesetzt, ich muß hin? Sagen wir, in anderthalb Stunden?« »Ich möchte nicht stören.« »Ich bitte um Ihre Hilfe«, sagte Wohl. »Wieder einmal.« »Ja, ich könnte mir frei nehmen«, sagte Amy. »Ich werde einfach meine Termine absagen.« »Ich rufe wieder an, sobald ich etwas von Washington höre.« »Von Washington?« »So heißt der Kriminalbeamte«, erklärte Wohl. »Oh.« Amy lachte. »Es gibt ein paar gute Restaurants dort oben. Wir könnten auf dem Land zu Abend essen, wenn Sie möchten.« »Gehören die Restaurants ehrenwerten Gangstern, oder würden Sie tatsächlich für das Essen bezahlen müssen?« »Sie sind mir eine, Amy!« sagte Wohl. »Da ist ein Anruf auf der anderen Leitung. Ich rufe Sie an, Amy.« Der Anrufer war ein empörter Inspector von der Verkehrspolizei, der seinen Wagen zu Schrott gefahren, jemanden losgeschickt hatte, ihm einen anderen von der Fahrbereitschaft zu besorgen, und die Information erhalten hatte, daß Peter Wohls Special Operations Divi sion in den vergangenen Tagen alle verfügbaren Wagen abgezogen hatte. Peter Wohls Erklärung, daß sie nur diejenigen Wagen genom men hatten, die ihnen die Fahrbereitschaft zugebilligt hatte, besänftig te den Inspector der Verkehrspolizei kein bißchen. Während er sich immer noch beschwerte, kam der nächste Anruf. Mickey O’Hara war am Apparat. »Ich hörte, daß Sie mich suchen«, sagte Mickey. »Was ist los, Pe ter?« »Nichts.« »Quatsch, ich hörte den Funkruf.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte Wohl. »Ich dachte, Sie rufen an, um zu fragen, ob sich etwas Neues im Entfüh rungsfall Woodham ergeben hat.«
Es folgte eine Pause. »Okay«, sagte Mickey O’Hara dann. »Hat sich etwas Neues im Entführungsfall Woodham ergeben?« »Nun, da Sie mir diese Frage gezielt gestellt haben, was nicht das gleiche ist, als wenn ich freiwillig eine Information an einen bevorzug ten Vertreter der Presse gebe, bin ich anscheinend zu einer Antwort verpflichtet. Die State Troopers haben eine Leiche in der Nähe von Durham, Bucks County, gefunden und meinen, es könnte die von Miss Woodham sein.« »Wann wurde sie gefunden?« »Die Meldung traf vor weniger als einer Stunde bei der Polizei von Philadelphia ein.« »Weiß sonst noch jemand davon, von der Presse, meine ich?« »Da keiner mich angerufen hat, Mr. O’Hara, und mir eine präzise Frage gestellt hat, die ich beantworten muß, habe ich dies bei nie mandem außerhalb der Polizei erwähnt.« »Danke, Peter«, sagte Mickey O’Hara. »Ich stehe in Ihrer Schuld.« Dann war die Leitung tot. Wohl tippte auf die Gabel und wählte zuerst Chief Inspector Coughlins Nummer. Er berichtete ihm, was geschehen war und was er unternommen hatte (von Mickey O’Hara erwähnte er nichts). Und dann telefonierte er mit Polizeichef Czernick und berichtete ihm das gleiche. Danach rief er Sergeant Frizell in sein Büro und beauftragte ihn, einen der neuen Wagen zu Inspector Paul McGhee von der Ver kehrspolizei zu bringen und ihm zu sagen, daß er ihn benutzen konn te, bis ein Wagen von der Fahrbereitschaft für ihn zur Verfügung ste hen würde. Anschließend beschäftigte er sich mit Papierkram und wartete auf Jason Washingtons Anruf.
Eine Meile außerhalb von Willow Grove schaltete Jason Washing ton die Sirene aus. »Wenn es sich um die Leiche von Miss Woodham handelt«, sagte er, »und das wissen wir erst, wenn wir sie gesehen haben – vielleicht nicht mal dann, sondern erst nach eingehenden Untersuchungen des Labors, denn man sagte nicht, wie schlimm sie verstümmelt ist – , ist dies für uns vielleicht der erste Durchbruch in diesem Fall.« »Ich verstehe nicht«, sagte Matt. Nachdem die Sirene ausge schaltet war, fand er es plötzlich sehr ruhig im Wagen, obwohl er über achtzig Stundenmeilen fuhr.
»Nun, vielleicht hat jemand den Van gesehen. Der Fundort soll ein Sommerhäuschen an einer unbefestigten Straße sein, mit anderen Worten, nicht an einer verkehrsreichen Straße. Da fällt ein Van auf. Leute haben ihn vielleicht gesehen. Vielleicht erfahren wir den ge nauen Wagentyp oder wenigstens die Farbe und Marke. Wenn es eine unbefestigte Straße oder eine Wiese oder Erdreich bei dem Häuschen gibt, können wir vielleicht Reifenspuren oder andere Spu ren finden und mit denen vom Forbidden Drive vergleichen – Sie wis sen, wovon ich rede?« »Jawohl, Sir«, sagte Matt. »Als ich die Akten kopierte, las ich sie.« »Wenn wir eine Übereinstimmung der Reifenspuren haben, heißt das, es handelt sich um dasselbe Fahrzeug. Und es würde helfen, wenn wir eine Beschreibung des Van erhalten. Wenn er sie mit einem Van hier hinausbrachte, und wenn es die Leiche von Miss Woodham ist. Und möglicherweise hat er irgendeine Verbindung zu dem Feri enhäuschen. Ich meine, er wird wohl kaum durch die Gegend gefah ren sein und einen Platz gesucht haben, wo er sie hinbringt; wahr scheinlicher ist meiner Ansicht nach, daß er das Ziel kannte. So fan gen wir hier an. Wer ist der Besitzer des Ferienhäuschens? Unser Kerl? Oder wenn nicht, an wen hat er es vermietet? Kennt er einen großen, behaarten, redegewandten weißen Mann? Erinnern sich die Nachbarn, daß sie irgend jemanden oder irgend etwas gesehen ha ben? Hölle, wir können sogar Glück haben und einen Namen erfah ren.« Matt fragte sich, ob Jason Washington nur laut dachte oder ihn gnädig einweihte, wie die Dinge angepackt wurden. Das erste war wahrscheinlicher; das letztere hätte ihm geschmeichelt. »Ich sehe, Sie tragen nicht mehr den Revolver im Schulterholster«, sagte Washington. »Jawohl, Sir, ich kaufte mir einen Chief’s Special.« »Nachdem ich Ihnen das riet, fielen mir noch einige andere Dinge ein«, sagte Washington. »Sir?« »Wie sind Sie im Schießen?« fragte Washington. »Eigentlich bin ich nicht schlecht.« »Das befürchtete ich ebenfalls«, sagte Washington. »Hören Sie, vielleicht könnte ich mir das schenken, denn die Aussicht, daß Sie diesen Revolver aus dem Holster ziehen müssen – ein Wadenhol ster?« »Jawohl, Sir.« »Die Aussicht, daß Sie diesen Stupsnasigen aus dem Holster zie hen müssen, reicht von gering bis null, aber es gibt immer eine Aus
nahme, und so möchte ich Ihnen folgendes klarmachen. Die wirksa me Schußweite dieses Revolvers ist, wenn Sie Glück haben, unge fähr so weit wie dieser Wagen. Wenn Sie – aufgeregt wie Sie sein werden, wenn Sie ziehen müssen – es schaffen, ein mannsgroßes Ziel aus mehr als sieben Yard zu treffen, grenzt das an ein Wunder.« »Jawohl, Sir«, sagte Matt. »Ich bezweifle, daß Sie mir das glauben«, sagte Washington. »Ich glaube Ihnen«, bekräftigte Matt. »Sie glauben, was der alte Washington sagt, trifft vielleicht auf an dere Leute zu, aber nicht auf Sie. Sie sagen sich, ich bin ein echter Pistolero. Ich war beim Militär ein As mit einem 45er.« »Ich schaffte es nicht, zum Marine-Corps zu gehen, aber ich schoß sehr gut mit einem 45er, als ich im Ausbildungsprogramm war.« »Tun Sie mir einen Gefallen, Junge?« »Selbstverständlich.« »Gehen Sie zu einem Schießstand, wenn Sie mal ein paar Stun den Freizeit haben. Nicht zum Schießstand der Polizeiakademie, sondern zu einem zivilen. Colosimo’s hat einen guten. Nehmen Sie diesen Chief’s Special mit, und kaufen Sie ein paar Schachteln Pa tronen dafür. Und dann schießen Sie auf eine mannsgroße Scheibe. Und dann zählen Sie die Löcher in der Scheibe. Wenn Sie sie ir gendwo mit der Hälfte der Schüsse getroffen haben, nicht nur in den Kopf oder in die Brust, sondern irgendwo, würde mich das überra schen.« »Sie meinen, ich sollte üben, bis ich das richtig kann?« fragte Matt. »Nein. Das meine ich nicht. Ich versuche Ihnen klarzumachen, daß Wyatt Earp und John Wayne nicht mit einem Stupsnasigen aus sie ben Yard Distanz schießen und erwarten können, das Ziel zu treffen – keiner kann das. Ich will Sie davon überzeugen, und Sie sollen sich daran erinnern, wenn – und ich wiederhole mich – der sehr unwahr scheinliche Fall eintritt, daß Sie jemals diese Waffe benutzen müs sen.« »Oh, ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Matt. »Ich hoffe es«, sagte Washington. »Wir sollten jetzt in Canada sein. Halten Sie an der nächsten Tankstelle und fragen Sie nach dem Weg.« Die Route 212, eine zweispurige, gewundene Straße, war fünfzehn Meilen von der Tankstelle entfernt. Sie fanden mühelos die unbefe stigte Straße, die etwa vier Meilen von der Kreuzung der Straßen 611 und 212 entfernt war. Ein Dutzend Fahrzeuge parkte am Straßen rand. Einige trugen die Aufschriften und Abzeichen der Staatspolizei und des Sheriff’s Office des Bucks County, andere die Firmenzeichen
von Rundfunk- und Fernsehsendern. Ein Deputy Sheriff winkte sie auf der 212 weiter und näherte sich ärgerlich dem Wagen, als Matt nicht darauf reagierte. »Tatort«, sagte der Deputy, als Matt die Fensterscheibe herun terkurbelte. »Polizei von Philadelphia«, sagte Washington und zeigte seine Dienstmarke. »Wir werden erwartet.« »Warten Sie einen Augenblick«, sagte der Deputy. Er ging zu ei nem Wagen der State Troopers. Ein hünenhafter Corporal stolzierte zum Wagen aus Philadelphia. »Kann ich Ihnen helfen?« »Das hoffe ich.« Washington lächelte. »Wir sind von der Mord kommission Philadelphia. Wir glauben, wir können helfen, das Opfer zu identifizieren.« »Der Lieutenant hat nichts davon gesagt«, meinte der Corporal zweifelnd. »Nun, dann fragen Sie am besten Major Fisher«, sagte Wash ington. »Er bat uns, hier rauf zu kommen.« Der Corporal blickte noch zweifelnder drein. »Können Sie ihn nicht über Funk erreichen?« fragte Washington. »Er sagte, wenn er nicht vor unserer Ankunft hier ist, würde er bald hier sein. Er sollte in Funkreichweite sein.« Der Corporal winkte sie weiter. Als Matt die Fensterscheibe hochgekurbelt hatte, sagte Washing ton: »Ich nehme an, es gibt einen Major namens Fisher. Oder der Corporal hielt es für besser, nicht nachzufragen, ob sie einen haben.« Matt schaute Washington an und lachte. »Sie sind raffiniert, Mr. Washington«, sagte er anerkennend. »Ein guter Kriminalbeamter muß als erstes ein Bluffer sein«, sagte Washington. »Ein guter Bluffer.« Die unbefestigte Straße wand sich durch einen Waldstreifen und um einen Hügel, und dann gelangten sie zu dem Ferienhäuschen. Es war ein einfaches kleines Fachwerkhaus mit Veranda, das auf einem Stück Land stand, das nicht viel größer als das Haus und in die Seite eines kleinen Hügels gegraben war. Das Gebiet ungefähr fünfzig Yard bis zum Haus war mit gelbem Band mit der Aufschrift TATORT, BETRETEN VERBOTEN umgeben. Auf beiden Seiten der Straße parkten Fahrzeuge, Wagen der State Troopers und vom Sheriff’s Department; ein großer Transporter, des sen Aufschrift verriet, daß es sich um ein mobiles Labor der Polizei des Staates Pennsylvanien handelte; einige neutrale Polizeiwagen und ein glänzender schwarzer Leichenwagen.
»Parken Sie irgendwo«, wies Washington Matt Payne an. »Wir ha ben soeben Major Fisher gefunden.« Matt war verwirrt, sagte jedoch nichts. Er parkte und folgte Wa shington zu dem Trassierband, mit dem der Tatort abgesichert war, und duckte sich wie Washington darunter hinweg. Washington ging zu einem gewaltigen Mann, der die Uniform eines Lieutenants der Staatspolizei trug. Der Lieutenant schaute zu Washington und lächelte breit. »Sieh mal, wer da aus Philadelphia entsprungen ist!« sagte er. »Wie geht es Ihnen, Jason?« Er schüttelte Washington überschwenglich die Hand. »Lieutenant«, sagte Washington, »dies ist Matt Payne.« »Junger Mann, konnten Sie sich keinen besseren Begleiter aussu chen«, sagte der Lieutenant. »Ich hoffe, Sie wissen, in welch schlech ter Gesellschaft Sie sich befinden.« »Guten Tag, Sir«, sagte Matt höflich. »Es überrascht mich, daß Sie hier sind«, sagte der Lieutenant. »Als ich eintraf, waren überall Leute. Die gottverdammte Presse. Cops aus jedem Kaff im Umkreis von fünfzig Meilen. Leute, die Reali ty-Shows im Fernsehen anschauen. Zum Kotzen! Ich verscheuchte sie schließlich und befahl dem Corporal, niemanden hierher zu las sen.« »Ich sagte ihm, ich bin ein Freund des legendären Lieutenant Ward«, sagte Washington und zwinkerte Matt Payne zu. »Nun, es freut mich, daß Sie das taten und er Sie durchließ, aber ich weiß nicht, weshalb Sie hier sind«, sagte Ward. »Wenn das Opfer eine Miss Elizabeth Woodham ist, was ich an nehme, dann wurde es aus Philadelphia entführt.« »Ich hörte, daß man einen Treffer beim NCIC gelandet hat«, sagte Lieutenant Ward. »Aber ich hörte nicht, was für einen. Ich bearbeitete einen Fall von Brandstiftung oben im Kohlengebiet. Können Sie die Frau identifizieren?« »Nach einem Foto«, sagte Washington und gab Lieutenant Ward eine Fotografie. »Das könnte sie sein«, sagte Ward. »Wollen Sie sich die Leiche ansehen?« Washington nickte. Ward ging voraus, stieg die wacklige kurze Treppe zum Haus hin auf und führte sie hinein. Fliegen summten, und ein süßer, Übelkeit erregender Geruch schlug Matt entgegen, den er noch nie wahrge nommen hatte. Er hatte auch noch nie so viele Fliegen an einem Ort auf einmal gesehen. Sie bedeckten praktisch alles, was wie Schmier
fett auf dem Boden aussah. O verdammt, das ist kein Fett. Das ist Blut. Aber das ist zuviel Blut, woher kam das alles? Zwei Männer in Zivilkleidung neigten sich über einen großen schwarzen Gummibehälter, der an den Seiten Griffe hatte. »Detective Washington möchte einen Blick auf die Leiche werfen«, sagte Lieutenant Ward zu den beiden Männern. Einer der Männer zog einen Reißverschluß an der Seite des Behäl ters auf und schlug die Gummiklappe zurück, um Kopf und Hals der Leiche zu entblößen. »Mein Gott«, sagte Washington leise, und dann forderte er den Mann mit einer Geste auf, die Leiche ganz aufzudecken. Der Mann tat es. Officer Matt Payne warf einen Blick auf die verstümmelte Leiche von Miss Elizabeth Woodham und wurde ohnmächtig.
19
Officer Matt Payne kam zu sich und erkannte, daß er halb getra gen, halb gestützt wurde. Detective Washington und Lieutenant Ward hatten ihn zwischen sich genommen, seine Arme auf ihre Schultern gelegt, hielten ihn um die Hüfte fest und führten ihn die Holztreppe des Ferienhäuschens hinab. »Alles okay«, sagte Matt, als er versuchte, aus eigener Kraft zu gehen. Er fühlte sich benommen, war schweißnaß und schämte sich wie noch nie in seinem Leben. »Ja, klar ist alles okay«, brummte Lieutenant Ward sarkastisch. Sie trugen und stützten ihn weiter zum Wagen und setzten ihn be hutsam auf dem Beifahrersitz ab. »Vielleicht sollten Sie den Kopf zwischen die Knie stecken«, sagte Jason Washington. »Es geht schon«, sagte Matt. »Tun Sie, was er sagt, Sohn«, sagte Lieutenant Ward. »Sie sind ohnmächtig geworden, weil das Blut aus Ihrem Gehirn gewichen ist.« Matt spürte Jason Washingtons Hand auf seinem Kopf. Washing ton drückte seinen Kopf sanft hinab. »Das machte ich mal auf der zweihundertzwei in der Nähe von Harrisburg«, sagte Lieutenant Ward im Plauderton. »Ein Sattel schlepper stellte sich quer, und ein junger Kerl in einem Sportwagen
fuhr darunter. Als ich dort eintraf, lag sein abgetrennter Kopf auf dem Asphalt und schaute mich an. Ich klappte zusammen und schlug mir die Stirn am Tank des Sattelschleppers ein. Wer weiß, was passiert wäre, wenn mein Sergeant nicht bei mir gewesen wäre. Man fuhr mich im Ambulanzwagen zusammen mit der Leiche fort.« »Geht’s so besser, Matt?« fragte Washington. »Ja«, sagte Matt, bewegte den Kopf ein paarmal hin und her und setzte sich auf. Sein Hemd klebte jetzt schweißnaß an seinem Rük ken. »Er kriegt wieder etwas Farbe«, sagte Lieutenant Ward. »Er hatte Glück, daß er sich bei dem Sturz nichts brach.« Matt sah, daß die beiden Männer den schwarzen Behälter mit dem grauenvollen Anblick darin die Treppe hinabtrugen. Er wandte den Blick ab, zwang sich jedoch, wieder hinzuschauen. »Habt ihr Abdrücke von irgendwelchen Reifenspuren gemacht?« fragte Washington, »oder ist die hiesige Polizei über alle Spuren ge fahren?« »Wir haben drei gute Abdrücke«, sagte Ward. »Das Fahrzeug ist ein 69er Ford Van, braunrot mit Schiebetür an der Seite. Er hat All wetterreifen.« »Woher wissen Sie das?« »Ich sagte Ihnen, ich habe Abdrücke.« »Ich meine, woher wissen Sie, daß es ein 69er Ford war?« »Der Briefträger sah ihn«, erklärte Ward. »Weiter straßenaufwärts gibt es noch ein paar Häuser.« »Volltreffer«, sagte Washington. »Ich nehme an, er hat nicht gese hen, wer den Wagen fuhr?« »Nein, den Fahrer hat er nicht gesehen«, sagte Ward. »Aber er sah einen großen weißen Mann hinten im Wagen.« »Das ist alles, ›groß und weiß‹?« »Er hatte Haare, sagte der Briefträger.« »Hatte Haare oder war behaart?« »Er hatte keine Glatze«, sagte Ward. »Ende Zwanzig, Anfang Dreißig. Der Briefträger wohnt in dem Dorf dort unten«, fügte er hinzu und wies in Richtung Highway. »Wollen Sie mit ihm reden?« »Ja, aber vor allem will ich einen Reifenabdruck sehen. Gibt es in dem Dorf ein Telefon?« »Klar, dort gibt es einen Krämerladen und eine Post.« »Sind Sie wieder bei uns, Matt?« fragte Washington. »Fühlen Sie sich stark genug, zu dem Dorf zu fahren und den Boß anzurufen?« »Jawohl, Sir«, sagte Matt. »Nun, dann rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, was wir haben – Sie
haben doch mitbekommen, welche Beschreibung des Fahrzeugs uns Lieutenant Ward gab?« Er wandte sich an Ward. »Die Kfz-Nummer haben wir vermutlich nicht?« »Wir wissen nur, daß es ein Kennzeichen von Pennsylvania war«, sagte Ward. »Aber der Briefträger sah, daß der Kühler an der rechten Seite eingebeult war. Dem Briefträger fiel auf, daß der Van direkt vor der Treppe parkte. Er dachte, daß vielleicht jemand einzieht.« »Ich habe gehört, was Lieutenant Ward gesagt hat«, bestätigte Matt. »Ein 69er dunkelroter Ford mit einer Schiebetür an der Seite.« »Braunrot, Junge«, korrigierte Lieutenant Ward. »Nicht dunkelrot. Braunrot.« »Jawohl, Sir«, sagte Matt beschämt. »Braunrot.« »Und eine Beule rechts im Kühlergrill«, fügte Washington hinzu. »Jawohl, Sir.« »Kennzeichen von Pennsylvania. Sagen Sie das Inspector Wohl. Stellen Sie fest, ob Harris sich entschieden hat, herzukommen. Wenn ja, sagen Sie Wohl, daß Sie die Gipsabdrücke von den Reifenspuren so bald wie möglich bringen und daß ich mit Tony Harris zurückfahre. Wenn Harris nicht kommt, dann erledige ich hier, was ich kann, und fahre mit Ihnen zurück. Oder Sie können die Abdrücke abliefern und mich dann hier abholen. Fragen Sie Inspector Wohl, wie er es haben will.«
Eine Dreiviertelstunde später, fünf Meilen nördlich von Doylestown auf dem Highway 611, schaltete ein Pennsylvania State Trooper sein Rotlicht ein und ließ die Sirene gerade lange genug aufheulen, um den Fahrer eines Ford LTD auf sich aufmerksam zu machen, der ungefähr dreißig Stundenmeilen zu schnell fuhr und vielleicht ein neu traler Polizeiwagen war, vielleicht auch nicht. Matt erschrak beim Aufheulen der Sirene und als er den Wagen des State Troopers im Rückspiegel sah. Er fuhr langsamer, und der Staatspolizist fuhr neben ihn und signalisierte ihm, rechts ranzufah ren. Matt hielt seine Dienstmarke ans Fenster, doch der Staatspolizist forderte ihn erneut auf, rechts anzuhalten. Matt fuhr auf den Seitenstreifen und stoppte. Er war noch vor dem Staatspolizisten aus dem Wagen und erwartete ihn mit seiner Dienstmarke und dem Ausweis mit Foto in der Hand. Der Staatspolizist schaute sich Dienstmarke und Ausweis an und sah dann Matt zweifelnd an. »Was soll die große Eile?«
»Ich bringe Reifenabdrücke vom Tatort in Durham nach Philadel phia«, sagte Matt. Als das den Staatspolizisten anscheinend nicht sehr beeindruckte, fügte er hinzu: »Wir versuchen eine Übereinstim mung festzustellen. Wir nehmen an, der Täter ist ein Sexualverbre cher, den wir suchen.« Der Staatspolizist ging zu dem Ford LTD und schaute auf den Rücksitz, wo die Gipsabdrücke eingewickelt in Zeitungspapier lagen und mit den Sicherheitsgurten gesichert waren. »Ich wußte nicht, daß die Polizei von Philadelphia an diesem Fall interessiert ist«, sagte der Staatspolizist. »Und ich war mir nicht si cher, ob Sie wirklich ein Cop sind. Vor ein paar Tagen stoppte ich zwei irre Typen mit Funkantennen, die überhaupt keinen Funk im Wagen hatten. Und Sie fuhren höllisch schnell.« »Kann ich jetzt weiterfahren?« »Ich fahre voran durch Doylestown bis zur Kreuzung Willow Gro ve«, sagte der Staatspolizist. Er ging zu seinem Wagen und stieg ein. Bei der Kreuzung in Willow Grove war ein Stoppschild mit Ampel. Als Matt hielt – der Staatspolizist hatte ihn inzwischen verlassen –, fiel sein Blick auf die Reihe der Wagen, die aus der Gegenrichtung kamen. Das Gesicht des Fahrers im ersten Wagen kam ihm bekannt vor. Es war das von Inspector Wohl. Matt winkte grüßend. Er war überzeugt, daß Wohl ihn sah, der genau zu ihm schaute, aber Wohl reagierte nicht auf den Gruß. Und dann sah Matt ein anderes bekann tes Gesicht in Wohls Wagen – das von seiner Schwester Amy. Was, zum Teufel, macht Amy in Inspector Wohls Wagen? Die Ampel sprang um. Die beiden Wagen fuhren aneinander vor bei. Die Fahrer schauten sich an. Matt sah Wohl mit unverhohlener Neugier an. Wohls Miene war ausdruckslos. Und Amy Payne schaute ihn überhaupt nicht an. Als Matt mit Wohl über das Münztelefon in dem kleinen Krämerla den in Durham gesprochen hatte, war er von Wohl angewiesen wor den, die Reifenabdrücke nach Philadelphia zu bringen, sobald sie sicher transportiert werden konnten. »Harris ist auf dem Weg dorthin, und ich fahre selbst raus. Einer von uns beiden wird Washington mit nehmen.« Er erwähnte nichts davon, daß Amy mit ihm fährt. Was hat das al les zu bedeuten? Und Harris? Ich muß ihm unterwegs begegnet sein, ohne ihn zu bemerken. Bei meinem Pech bestimmt, als ich von dem Trooper eskortiert wurde. Was würde Harris denken? Oder vielleicht fuhr er vorbei, als ich wegen zu schnellen Fahrens gestoppt wurde! O Mann, welch einen Narren mache ich aus mir! Er hatte gerade die Scham über die Ohnmacht beim Anblick des
Mordopfers überwunden, als ihm bewußt wurde, daß sich im Funk etwas tat. Zunächst stellte er fest, daß W-William eins W-William zwei-null-eins rief; dann wurde ihm klar, daß W-William eins Inspector Wohl war und W-William zwei-null-eins Jason Washingtons Rufzei chen – und im Augenblick seins. Er nahm das Mikrofon und schaltete es ein. »W-William zwei-null-eins.« »Das Labor der Kripo wartet auf diese Gipsabdrücke«, ertönte In spector Wohls Stimme. »Bringen Sie sie also gleich zum Präsidium. Machen Sie nicht den Umweg über die Bustleton und Bowler.« »Jawohl, Sir«, sagte Matt. Er überlegte, wie er auf dem schnellsten Weg zum Präsidium kommen konnte und drehte die Lautstärke des J-Bandes höher. Die drei Pieptöne eines Notrufs ertönten und kündigten an, daß die folgende Botschaft an alle mit Funk ausgerüsteten Fahrzeuge der Polizei von Philadelphia gerichtet war: Piep, piep, piep. »Alle Wagen in Bereitschaft halten, es sei denn, Sie haben einen Einsatz. Gesucht wird in einer Ermittlung in einem Fall von Mord und Vergewaltigung der Fahrer eines 1969er Ford Van, Farbe rotbraun, Beschädigung rechts am Kühlergrill, Allwetterreifen hinten. Der Fah rer ist weiße männliche Person, Alter fünfundzwanzig bis dreißig Jah re, vielleicht bewaffnet mit einem Messer. Der Verdächtige wird we gen Befragung in einem Fall von Sexualmord gesucht und sollte als gefährlich betrachtet werden.« Es folgten eine kurze Pause, drei Pieptöne und die Wiederholung der Durchsage. O Mann, dachte Matt, diesen Hurensohn möchte ich entdecken! Das gelang ihm jedoch nicht, obwohl er sorgfältig den Verkehr auf der Broad Street beobachtete, dann auf der Verlängerung des Roo sevelt Boulevard und auf der Fahrt in die Innenstadt Philadelphias. Er sah keinen rotbraunen Van. Matt hatte Mühe, einen Parkplatz beim Präsidium zu finden, aber schließlich hatte er Glück. Er parkte, löste die Sicherheitsgurte von den Gipsabdrücken und trug die Abdrücke ins Präsidium. Eine dicke Frau mit orangefarbenem Haar stürmte mit wabbelnden Massen aus dem Aufzug, als er hineingehen wollte, und stieß ihm fast die Gipsabdrücke aus den Händen. Matt sagte sich, daß ihn solch ein Malheur überhaupt nicht über rascht hätte. Das wäre das Tüpfelchen auf dem I gewesen. Wenn er die Abdrücke fallen gelassen und zerstört hätte, würde er den Rest seines Lebens für Sergeant Frizell verdammte Formulare tippen
müssen. Nein, dachte er, das stimmt nicht. Wenn die Gipsabdrücke durch meine Dusseligkeit zu Bruch gegangen wären, hätte ich mich der Frage stellen müssen, die ich immer wieder verdrängt habe: ob ich, wie Amy meint, tatsächlich nur mit Waffe und Dienstmarke herumlau fe und Polizist spiele, weil ich vom Marine-Corps abgelehnt wurde. Ich bin kein Polizist. Das habe ich heute bewiesen. Durch das kin dische Vergnügen, das ich hatte, als ich mit heulender Sirene durch den Verkehr raste, und dann, als ich beim Anblick der verstümmelten Frauenleiche wie eine Memme in Ohnmacht fiel. Und jetzt wieder, als ich nach einem rotbraunen Van Ausschau hielt, damit ich den Böse wicht schnappen und das Lob und die Anerkennung meiner Kollegen einheimsen kann. Welch ein Blödsinn! Was hätte ich denn getan, wenn ich ihn gefun den hätte? Vielleicht wäre ich auf lange Sicht gesehen besser dran, wenn die se fette Alte mir die Gipsabdrücke aus den Händen gestoßen hätte: die Cops, die richtigen Cops, werden diesen Psychopathen ohnehin schnappen, und wenn ich die verdammten Abdrücke fallen gelassen hätte, dann würde man mich morgen früh feuern, und ich wäre folg lich, wie mir die Logik sagt, besser dran. Es überraschte Officer Matt Payne überhaupt nicht, daß er von den Leuten im forensischen Labor wie ein Botenjunge behandelt wurde, als er die Gipsabdrücke ablieferte. Ebensowenig überraschte ihn im Gebäude bei der Bustleton und Bowler, daß er von einem Corporal, den er noch nie gesehen hatte, den knappen Befehl erhielt, ›seinen Arsch zum Haus von Miss Peebles zu bewegen‹. »Sie sind spät dran«, sagte der Corporal. »Wo, zum Teufel, waren Sie?« »Im Präsidium«, erwiderte Matt. »Ah, ja«, sagte der Corporal, »Sie haben hohe Tiere als Freunde, nicht wahr, Payne?« Matt machte sich nicht die Mühe, zu erklären, daß er von Inspector Wohl zum Präsidium geschickt worden war, und zwar im Zusammen hang mit Polizeiarbeit. Der Corporal hatte soeben das letzte Argu ment zugunsten eines Abschieds von der Polizei hinzugefügt: er, Matt Payne, hatte hohe Tiere als Freunde. Selbst wenn ich es wollte, selbst wenn ich die für einen Poli zeibeamten nötigen Fähigkeiten hätte – die ich nicht habe, wie ich heute bewiesen habe – , wäre es mir unmöglich, mich als ganzen Mann zu beweisen, mich sozusagen zu entkastrieren, weil Onkel Denny Coughlin wie eine nervöse Tante über mich wacht und dafür
sorgt, daß ich nicht zu tun brauche, was jeder andere Anfänger ma chen muß. Statt dessen sorgt er dafür, daß ich geschützt und auf einen sicheren Ruheposten geschickt werde, was mir zu Recht die Verachtung meiner Kollegen einbringt. Ich werde diese Dienststunden vollenden, weil es unfair McFadden und Martinez gegenüber wäre, wenn sie meinen Dienst zusätzlich übernehmen müßten, aber morgen früh werde ich ein kurzes Kündi gungsschreiben tippen und per Boten zustellen lassen. Er nahm die Schlüssel von dem Corporal entgegen, gab ihm die Schlüssel von Jason Washingtons Wagen und fuhr nach Chestnut Hill.
Charley McFadden hatte seinen Wagen ungefähr fünfzig Yard vom Tor zum Anwesen von Miss Peebles geparkt, auf der anderen Stra ßenseite. Matt stoppte hinter McFaddens Wagen, stieg aus und ging zu ihm. »Ich fragte mich schon, ob Sie überhaupt noch aufkreuzen, Matt«, sagte Charley McFadden nicht tadelnd. »Wo waren Sie mit Washing ton?« »Er fuhr hinaus ins Bucks County, wo die Leiche von Miss Wood ham gefunden wurde«, sagte Matt. »Er brauchte einen Botenjungen.« »Nun, all diese Typen von der Mordkommission halten sich für große Tiere«, sagte McFadden. »Nehmen Sie sich das nicht so zu Herzen.« »Was soll ich hier machen, Charley?« »Dies ist im Grunde Blödsinn«, sagte McFadden. »Wir sollen dem Scheißer Angst einjagen. Wohl will verhindern, daß es in dieser Nacht einen Diebstahl bei Miss Peebles gibt. Und es ist auch ein we nig Schikane dabei, weil er sauer auf mich ist.« »Weshalb?« »Er glaubt, daß ich Sie gestern nacht besoffen machte.« Charley musterte Matts Gesicht, um seine Reaktion zu sehen, und fügte hin zu: »Che-sus denkt, Sie haben Wohl das gesagt.« »Nein«, sagte Matt. »Und wenn Wohl diesen Eindruck hat, werde ich das richtigstellen.« »Quatsch, vergessen Sie das«, sagte Charley. »Nun zu dieser Sa che hier. Ich bezweifle, daß dieses Arschloch sich wieder hier blicken läßt. Wenn doch, dann wird er Ihren Wagen entdecken und ver schwinden, wenn er nicht blöde ist. Aber wenn er auftaucht und blöde ist – mit anderen Worten, wenn Sie jemanden hier herumschleichen sehen -, fordern Sie Unterstützung an. Versuchen Sie nicht, ihn selbst
zu schnappen. Wagen der Highway Patrol werden alle halbe Stunde hier vorbeifahren. Sie bleiben hier im Wagen sitzen und versuchen wach zu bleiben, bis Che-sus Sie um Mitternacht ablöst.« »Und wie bleibe ich wach?« »Haben Sie keine Thermoskanne mit Kaffee mitgebracht?« Matt schüttelte den Kopf. »Ich hätte etwas sagen sollen«, meinte Charley. »Ich werde ein paar Dosen schwarzen Kaffee für Sie besorgen, bevor ich abhaue. Sogar kalter Kaffee ist besser als gar keiner. Steigen Sie immer mal wieder aus dem Wagen und gehen Sie ein bißchen herum. Schwen ken Sie die Arme, machen Sie ein paar Lockerungsübungen, damit der Kreislauf…« »Schon klar«, sagte Matt. »Jeder Vorgesetzte wird heute nacht hier vorbeifahren«, sagte McFadden. »Es würde mich nicht überraschen, wenn Peter Wohl per sönlich vorbeikäme. Pennen Sie also um Himmels willen nicht ein, Matt, denn dann würde Ihnen der Arsch aufgerissen.« »Okay«, sagte Matt. »Danke, Charley.« »Ah, ist doch klar.« McFadden ließ den Motor an. »Wollen Sie noch etwas außer Kaffee? Eierbrötchen, Hamburger, irgendwas?« »Hamburger mit Zwiebeln. Zwei Stück.« Matt holte Geld hervor und gab es McFadden. »Von Hamburgern mit Zwiebeln muß ich furzen. Vielleicht hält mich das wach.«
Zwei Hamburger mit viel gebratenen und rohen Zwiebeln (Charley McFadden kannte nicht Matts Vorliebe und brachte ihm deshalb bei de Versionen) und zwei Dosen Kaffee sorgten zwar für Gase, konn ten Officer Matt Payne jedoch nicht wach halten. Ebensowenig hielt ihn wach, daß er mehrmals aus dem Wagen stieg, Lockerungsübungen machte und über die Straße und den Zu fahrtsweg des Anwesens von Miss Peebles ging. Auch Kniebeugen halfen nicht. Um 23 Uhr 05, als er im Geiste zum fünfzehntenmal sein Kündi gungsschreiben formulierte, das er am Morgen schreiben würde, sank sein Kopf auf die Brust, und Matt entschlummerte. Fünf Minuten später fuhr ein Vorgesetzter am Anwesen von Miss Peebles vorbei, wie Officer McFadden es vorausgesagt hatte. Er ent deckte den Wagen, widmete ihm jedoch nur flüchtige Aufmerksam keit, weil er in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt war. Captain David Pekach sagte sich, daß er sich höchstwahr
scheinlich zum Narren machen würde. Er bildete sich ein, daß Miss Martha Peebles ihre Hand zärtlich und vielleicht sogar vielsagend auf seiner hatte verweilen lassen, als er verdammt nahe daran gewesen war, das kostbare Jagdgewehr fallen zu lassen. Er hielt es für absurd, daß er tatsächlich in ihren Augen gesehen hatte, was er zu sehen geglaubt hatte, als sie mit ihm zur Tür gegangen war. Als David Pekach auf den Zufahrtsweg zum Haus von Miss Pee bles einbog, sagte er sich, daß er einfach seine Pflicht erfüllen würde, den Auftrag, den ihm Peter Wohl gegeben hatte: der Lady zu versi chern, daß die Polizei von Philadelphia im allgemeinen und die High way Patrol, deren Chef er war, im besonderen alles tun würden, um ihren Besitz vor dem Zugriff von Walton Williams zu schützen und besagten Mr. Williams festzunehmen. Seine Anwesenheit würde das beweisen. Er sagte sich, daß sie vermutlich ohnehin bereits zu Bett gegangen war. Aber es war Licht in der Bibliothek, und die Lampe über der Haus tür brannte, und so meldete er über Funk, daß Highway eins im Dienst bei Glengary Lane 606 war und das Haus von Miss Peebles überprüfte. Er stieg die Treppe zur Haustür hinauf und wollte klingeln, als die Tür geöffnet wurde. »Ich sah Sie über den Zufahrtsweg fahren«, sagte Martha Peebles. »Ich war mir aber nicht sicher, ob Sie vorbeischauen würden.« »Guten Abend«, sagte David Pekach, der sich nicht zwischen ›Miss Peebles‹ und ›Martha‹ entscheiden konnte und sich schnell entschloß, auf beides zu verzichten. »Kommen Sie bitte herein«, sagte Martha. Sie trug ein Neglige. Nicht sexy oder verführerisch oder so, dachte David Pekach. Es reicht vom Hals bis zu den Waden. Genau das, was eine feine Dame trägt, bevor sie zu Bett geht. »Ich sagte heute nachmittag, ich komme vorbei und vergewissere mich, daß alles bei Ihnen in Ordnung ist«, sagte David Pekach. »Ich weiß«, erwiderte sie. Sie wollte die Treppe hinaufgehen, blieb jedoch stehen und schau te über die Schulter, um zu sehen, ob er ihr folgte. Wohin will sie? dachte er. »Und ich habe dafür gesorgt, daß regelmäßig Streifenwagen vor beifahren«, sagte er. »Ich habe sie gesehen«, erwiderte sie. »Deshalb dachte ich, Sie kommen vielleicht nicht her, Sie haben statt dessen die anderen vor
beigeschickt.« »Wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es«, erwiderte David Pekach. »Dessen war ich fast sicher, und jetzt, da Sie hier sind, bin ich völ lig überzeugt, daß Sie ein Mann sind, der sein Wort hält«, sagte Martha Peebles. Sie waren auf dem Treppenabsatz vor dem Buntglasfenster mit dem Heiligen Sowieso oder dem Sagenhelden, der mit dem Drachen kämpfte. »Ich habe einen kleinen Mitternachts-Snack gemacht«, sagte Martha Peebles. »Das war nicht nötig.« »Ich wollte es«, sagte sie und hakte sich bei ihm ein. »Und da ist ein Beamter in Zivil in einem neutralen Wagen, der auf der Straße vor dem Zufahrtsweg parkt«, sagte David Pekach. Das nehme ich jedenfalls an, dachte er. Ich hab’ keinen gesehen, wenn ich’s mir recht überlege. »Den habe ich auch gesehen«, sagte Martha. »Er war viermal auf dem Zufahrtsweg und hat mit seiner Taschenlampe herum geleuchtet.« »Wir kümmern uns nach besten Kräften um Sie.« »Ich war mir nicht sicher, ob Sie – wenn Sie kommen, meine ich – im Dienst trinken dürfen, und so kochte ich Kaffee. Aber es ist auch Wein da. Oder Whisky, wenn Sie den lieber trinken.« Sie waren jetzt im Obergeschoß und gingen über den Flur, fort vom Waffenzimmer. »Oh, ich bezweifle, daß Recht und Gesetz zusammenbrechen, wenn ich ein Glas Wein trinke«, sagte David. »Das freut mich. Ich habe einen Portwein bereitgestellt, einen ziemlich guten, den mein Vater immer gern trank.« Eine Tür stand offen. Drinnen sah David einen kleinen runden Tisch mit einer Decke, die bis zum Boden reichte. Ein Tablett mit Schnittchen, ein silbernes Kaffeeservice und ein Weinkühler, aus dem der Hals einer Weinflasche ragte, standen auf dem Tisch. Allmächtiger! Und als er eintrat, sah er ein großes Bett mit kunstvoll geschnitz tem Kopfbrett. Die Bettdecke war aufgeschlagen. Allmächtiger! »Das Bett der Jungfer«, sagte Martha Peebles. »Wie bitte?« David war sich nicht sicher, ob er das richtig gehört hatte. »Das Bett der Jungfer«, sagte Martha. »Mein Bett. Ich nehme an,
Sie finden heutzutage und in diesem Zeitalter eine Jungfer in meinem Alter ein bißchen absurd.« »Überhaupt nicht.« Seine Stimme versagte fast. »Ich bin fünfunddreißig«, sagte Martha. »Ich bin siebenunddreißig.« »Meinen Sie, daß es lächerlich ist? Daß ich lächerlich bin?« fragte Martha Peebles. »Nein«, sagte er entschieden. »Warum sollte ich das meinen?« »Sie hier so raufzulocken und zu versuchen, Sie zu verführen?« »Allmächtiger!« »Dann denken Sie es«, sagte sie. »Ich – ich wollte Sie nicht in Ver legenheit bringen, David.« »Das haben Sie auch nicht getan.« »Ich sage Ihnen, was absurd ist. Ich habe nie daran gedacht, so etwas zu tun – bis Sie heute nachmittag hierherkamen.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, bekannte David. »Himmel, ich habe den ganzen Tag an Sie gedacht – seit ich fast das Jagdgewehr fallen ließ.« »Als sich unsere Hände berührten?« »Ja, und als Sie mich so anschauten.« »Ich dachte, Sie blicken in meine Seele«, sagte Martha. »Allmächtiger!« »Das ist Ihnen peinlich, nicht wahr?« fragte Martha. »Daß ich das sage?« »Ich empfand das gleiche!« »Oh, David!« Er nahm sie in die Arme. Zuerst war es eine linkische Umarmung, doch dann schienen sich ihre Körper anzupassen und zu verschmel zen, und er küßte Marthas Haar, ihre Stirn und schließlich ihren Mund. »David«, sagte Martha nach einer Weile. »Deine – Ausrüstung, der Gurt und was immer es ist und dein Abzeichen tun mir weh. Wenn wir – sollten wir uns nicht ausziehen?« David wich von ihr zurück, schaute auf sein Abzeichen hinab und begann das Sam-Browne-Koppel abzulegen. Als er zu Martha blickte, sah er, daß sie das Neglige abgestreift hatte. Darunter war sie nackt gewesen. »Bist du enttäuscht?« fragte sie. »Du bist schön!« »Oh, es freut mich so, daß du das findest!«
Eine Viertelstunde vor Mitternacht fuhr Officer Jesus Martinez über die Glengary Lane in Chestnut Hill, sah den neutralen Wagen neben dem Haus von Miss Peebles, erkannte ihn als einen der Wagen, die er von der Akademie überführt hatte, und fragte sich, wer der Fahrer sein mochte. Offenbar eines der hohen Tiere, das die Lady streichel te. Wenn dort irgend etwas passiert wäre, hätte er es über Funk er fahren. Er sah Matt Paynes neutralen Wagen und fuhr daran vorbei, wen dete und stoppte daneben. Payne war nicht im Wagen. Vielleicht war er mit dem Vorgesetzten im Haus. Jesus Martinez schaltete den Motor aus, ließ sich bequem auf dem Sitz zurücksinken und wartete darauf, daß Payne auftauchte. Als zehn Minuten vergangen waren und Payne sich immer noch nicht blicken ließ, stieg Jesus Martinez aus und schlenderte zu Pay nes Wagen. Payne wußte, daß er kam. Vielleicht hatte er eine Nach richt auf dem Armaturenbrett oder sonst etwas hinterlassen, das dar auf hinwies, wo er war. Dann sah er Matt Payne auf dem Sitz. Sofort dachte er, daß etwas Schlimmes passiert war, daß Payne vielleicht mit Walton Williams zusammengestoßen war. Er wollte gerade die Tür aufreißen, als Matt laut schnarchte. Der Kerl pennt! Dieser Bastard ist doch tatsächlich eingepennt! Es folgte eine Woge der Empörung, die in wilden Zorn überging. Der Hurensohn schläft, während ich mir die Nacht mit der Suche nach dem verdammten Dieb um die Ohren schlage! Bevor ich bei diesem verdammten Haus Wache schieben muß! Officer Matt Payne war nahe daran, an den Füßen aus dem Wagen gerissen zu werden, als Jesus Martinez weitere Gedanken hatte, die ihn noch mehr erzürnten. Der Hurensohn ist damit ungestraft davongekommen! Während ich Schwülenkneipen in Philadelphia abgeklappert habe, schlummerte er behaglich, und niemand erwischte ihn! Alle halbe Stunde fuhren Wa gen der Highway Patrol hier vorbei, und keiner erwischte ihn – oder machte sich was daraus, wenn er ihn pennen sah! Leute vom Distrikt, von der Highway Patrol, der Kripo Nordwest und vielleicht sogar Wohl und Sabara und dieser neue Sergeant fuhren hier vorbei, und keiner bemerkte, daß Payne pennt! Officer Jesus Martinez stand einen Moment lang neben Matts Wa gen, die Arme ärgerlich über der Brust verschränkt, und überlegte die verschiedenen Möglichkeiten, die er hatte, um es dem reichen Pen ner ein für allemal zu besorgen. Dann fiel ihm die Lösung ein, und er lächelte.
Er klappte sein Taschenmesser auf, prüfte mit dem Daumen die Schärfe der Klinge und ging neben dem linken Vorderreifen in die Hocke. Er schnitt in den Gummi um das Ventil, wo es in den Reifen mün dete. Pfeifend entwich Luft, und Martinez dämpfte das Pfeifen schnell mit der Hand. Beim rechten Vorderreifen und bei den Hinterreifen benutzte er ein Taschentuch, um das Pfeifen beim Entweichen der Luft zu dämpfen. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr mit einem zufriedenen Lä cheln davon. Das Lächeln wurde noch breiter, als er seiner Aktion den letzten Schliff gab. Er griff zum Mikrofon. »W-William zwei-elf, W-William zwei-zwölf«, sagte er. »W-William zwei-zwölf«, meldete sich Charley McFadden sofort. »Ich bin an der Broad und Olney und arbeite an etwas«, sagte Je sus Martinez. »Ich kann unseren Freund nicht rechtzeitig ablösen. Was soll ich tun?« »Ich werde ihn ablösen«, sagte Charley. »Kommst du, wenn du frei bist, oder soll ich deine Schicht übernehmen?« »Ich werde dich um drei Uhr ablösen, wenn du einverstanden bist«, sagte Martinez. »Ja, prima«, antwortete McFadden. Das bedeutet, daß ich bis drei Uhr herumgammeln muß, dachte Jesus Martinez. Aber was soll’s. Das ist mir die Sache wert! Und dann dachte er, daß der Penner vermutlich immer noch schla fen würde, wenn Charley ihn ablösen wollte. Gut, laß Charley selbst sehen, was für ein nutzloses Arschloch der reiche Junge ist.
20
Officer Charles McFadden versuchte mit Officer Matthew Payne über Funk Kontakt aufzunehmen, als er nach Chestnut Hill fuhr. Er erhielt keine Antwort und sagte sich, daß Payne vermutlich herum spazierte, um wach zu bleiben, wie er es ihm empfohlen hatte. Aber er spürte, daß etwas nicht in Ordnung war, als er hinter Matts Wagen hielt und nichts von Matt sah. Seit dem Funkruf hatte Matt jede Menge Zeit gehabt, sich die Beine zu vertreten, er sollte jetzt zurück sein. McFadden stieg mit einem unbehaglichen Gefühl aus und ging vorsichtig zu Matts Wagen. Dann spürte er, daß etwas mit dem Wagen nicht stimmte. Er schaute ihn genauer an und sah die platten Reifen. McFadden bückte sich, zog den Revolver aus dem Wadenholster und näherte sich an gespannt der Wagentür. Dann sah er Matt zusammengesunken auf dem Sitz. »Matt!« rief er. Und dann lauter: »Payne!« Matt setzte sich schläfrig auf. »Verdammter Scheißer!« rief Charley McFadden wütend. »Was ist los mit Ihnen? Wenn einer der Vorgesetzten Sie erwischt hätte, wä ren Sie dran!« »Ich nehme an, ich bin eingeschlafen«, sagte Matt. Er stemmte sich aus dem Sitz auf, stieg aus und räkelte sich.
»Was ist mit Ihren Reifen passiert?« fragte McFadden.
»Mit meinen Reifen? Was ist mit meinen Reifen?«
»Sie sind platt«, sagte McFadden. Und dann wallte Zorn in ihm auf.
Der verdammte Che-sus hat das gemacht! Deshalb dieser Blöd sinn, daß er etwas bei der Broad und Olney zu arbeiten hat! Er fuhr hierher und ließ die Luft aus den Reifen! »Reifen?« fragte Matt. »Mehrzahl?« Er ging neben Charley in die Hocke, der an einem Ventil zog und feststellte, daß jemand es am Schaft aufgeschnitten hatte. Jemand? Che-sus war das! »Alle vier, Mann!« sagte Charley. »Jemand hat Sie beim Pennen erwischt und die Ventilschäfte aufgeschnitten. Und ich habe eine ver dammte Ahnung, wer das war.« »Es macht nichts, Charley.« »Und ob es was macht!« entgegnete McFadden. »Wie wollen Sie das erklären, wenn ein Abschleppwagen der Polizei kommt? Vanda lismus? Sie sollten im Wagen sitzen oder nahe genug sein, damit Sie den Funk hören konnten. Die Jungs vom Abschleppwagen werden wissen, was los war, Sie Penner. Es wird sich bei der Highway Patrol und Special Operations und im Distrikt herumsprechen: ›Habt ihr schon die Sache mit dem Arschloch gehört, das bei einer Überwa chung pennte? Jemand hat ihm die Luft aus den Reifen gelassen‹.« Matt war gerührt von Charleys Besorgnis. Dies war nicht der richti ge Zeitpunkt, ihm zu sagen, daß er am Morgen kündigen würde. Es wurde ihm bewußt, daß er Charley McFadden sehr mochte, und er fragte sich, ob sich vielleicht eine Freundschaft entwickeln konnte, auch wenn er nicht mehr bei der Polizei sein würde. »Was kann jetzt getan werden, nachdem ich mich zum Narren ge macht habe?« fragte Matt. »Ich denke«, sagte Charley, »da gibt es eine Tankstelle an der Summit Avenue, die nachts geöffnet hat, wenn ich mich richtig erin nere. Ich nehme an, die flicken Reifen.« »Warum rufen wir nicht einfach den Abschleppwagen der Polizei an?« »Seien Sie nicht noch blöder, als Sie es schon sind«, sagte Char ley. »Wir bocken Ihren Wagen auf, montieren zwei Reifen ab, legen sie in meinen Wagen, fahren zur Tankstelle und lassen sie flicken. Dann die beiden anderen.« Ich bin Mitglied im Automobilklub, dachte Matt, aber das nutzt mir jetzt anscheinend nichts. »Los, beeilen wir uns! Ich möchte das nicht einem Vorgesetzten erklären müssen.«
Ein Vorgesetzter tauchte eine halbe Stunde später auf, als Matt mit zwei instand gesetzten Reifen von der Tankstelle zurückkehrte und mit den beiden anderen losfahren wollte. »Was ist hier los?« fragte Captain David Pekach. »Brauchen Sie Hilfe?« »Nein, Sir, ein anderer Officer hilft mir«, erwiderte Charley. »Pay ne.« »Was ist denn passiert?« »Hier lagen einige Nägel herum, Captain. Zwei Reifen sind platt.« »Sie hätten einen unserer Abschleppwagen rufen sollen«, sagte David Pekach. »Dafür sind sie da.« »Ich hielt das so für die einfachste Lösung, Sir«, sagte Charley. »Nun, wenn Sie meinen«, sagte David Pekach. »Gute Nacht, Char ley – oder sollte ich besser sagen, guten Morgen?« »Gute Nacht, Sir.« »Charley, ich werde am Morgen mit Inspector Wohl sprechen und ihn fragen, ob er es sich mit dieser blöden Überwachung nicht noch mals überlegt.« »Das wäre schön, Sir.« »Also noch mal gute Nacht, Charley.« Captain Pekach war in prächtiger Stimmung. Er würde bei der Highway Patrol vor beischauen, dann heimfahren, sich umziehen und hierher zurückkeh ren. Martha hatte gesagt, daß sie völliges Verständnis dafür hatte, wenn ein Mann wie er einen großen Teil seiner Zeit dem Dienst wid men mußte. Bis zu seiner Rückkehr wollte sie ein gemeinsames Frühstück vorbereiten – vielleicht etwas, das sie im Bett essen konn ten, wie Erdbeeren mit Sahne. Es sei denn, er möchte etwas Kräftige res.
Matt Payne betrat eine halbe Stunde später das Gebäude an der Bustleton und Bowler Street und überreichte demselben Corporal die Wagenschlüssel, der ihn angeschnauzt hatte, weil er verspätet gewe sen war, bevor er zu der Überwachung gefahren war. »Wo, zur Hölle, waren Sie mit diesem Wagen? Es ist nach eins.« »Leck mich am Arsch«, sagte Matt. »So können Sie nicht mit mir reden!« protestierte der Corporal. »Payne, sind Sie das?« rief jemand. »Ja, und wer sind Sie?« »Jason«, rief Washington. »Ich bin hier.« ›Hier‹ war Wohls Büro. Washington saß auf der Couch und tippte auf einer kleinen Reiseschreibmaschine, die auf dem Couchtisch
stand. »Tun Sie mir einen Gefallen?« fragte Washington und zog ein Blatt Papier aus der Schreibmaschine. »Klar«, sagte Matt. »Ich bin hundemüde«, sagte Washington, »und Sie sehen wenig stens relativ ausgeschlafen und munter aus.« Er schob das Blatt Papier, das er soeben aus der Schreibmaschine gezogen hatte, in ein Kuvert, leckte über die Gummierung der Klappe und klebte sie zu. »Wohl möchte das noch heute nacht in sein Apartment gebracht haben«, sagte Washington. »Es ist ein Bericht über unsere Arbeit im Bucks County und über die dortigen Ereignisse. Man sollte denken, daß ein braunroter Ford Van gefunden wird, nicht wahr? Aber Schei ße. Wir werden Adressen für jeden braunroten Ford Van im Umkreis von hundert Meilen bekommen, sobald am Morgen die Kfz-Stelle in Harrisburg öffnet, aber im Augenblick haben wir nichts. Nun, das steht jedenfalls in dem Bericht in dem Umschlag. Wenn kein Licht mehr an ist, schieben Sie den Umschlag unter der Tür durch.« »Ich weiß nicht, wo Inspector Wohl wohnt«, sagte Matt. »Chestnut Hill«, erklärte Washington. »Norwood Street. In einem Apartment über Garagen hinter einem großen Apartmenthaus. Sie können es nicht verfehlen. Ich zeige es Ihnen auf der Karte.« »Nicht nötig«, sagte Matt. »Das kann ich finden.« »Danke, Matt, ich weiß das zu schätzen«, sagte Washington. »Und ich – weiß den heutigen Tag zu schätzen, Mr. Washington«, sagte Matt. »Ich werde ihn nie vergessen.« »He, sagen Sie nicht Mr. Washington, sondern Jason. Ich bin ein Detective, das ist alles.« »Jedenfalls vielen Dank«, sagte Matt. Als er mit dem Porsche nach Chestnut Hill fuhr, war er froh dar über, daß er sich bei Jason Washington bedankt hatte. Er würde ihn vermutlich nie Wiedersehen, und der Dank war in Ordnung. Ein ande rer hätte sich auf Kosten des Anfängers, der in Ohnmacht gefallen war, vielleicht amüsiert. Aber Jason Washington war ein feiner Kerl. Matt fand die Norwood Street mühelos. An dem Apartmenthaus war ein reflektierendes Schild mit der Hausnummer, und Matt fand auf Anhieb das Apartment über den Garagen hinter dem Hauptge bäude. Und da stand der braunrote Ford Van, den jeder suchte. Er parkte direkt unter Staff Inspector Wohls Fenster. Matt kicherte, als er den Van sah. Der arme Kerl wird höllisch überrascht sein, wenn er am Morgen
auf die Straße geht und plötzlich von achttausend Cops umzingelt ist, die ihre Waffen auf ihn richten und überzeugt sind, daß sie den Lust mörder geschnappt haben. Matts Aufmerksamkeit galt nicht lange dem Ford Van. Einen ande ren Wagen, der auf dem Kopfsteinpflaster parkte, fand er wirklich faszinierend. Es war ein Buick Kombi, und wenn der Aufkleber auf der Windschutzscheibe das war, für das er ihn hielt – die Parkerlaub nis vom Rose Tree Hunt Club – , dann war die Besitzerin des Buick Amelia Alice Payne, Doktor med. und die heilige Amelia und der eh renwerte Peter Wohl trieben etwas in Wohls Apartment, das sie ihn lieber nicht wissen lassen wollten. Matt ging zu dem Buick Kombi und beleuchtete mit seiner Ta schenlampe den Aufkleber. Es war der Aufkleber vom Rose Tree Hunt Club. Im Apartment über den Garagen brannte kein Licht. Wohl und Amy hielten entweder eine spiritistische Sitzung ab, oder sie machten et was anderes. Wohl hatte keine Ahnung, daß ich ihm den Bericht bringe, dachte Matt. Er nahm an, daß Jason Washington oder jemand von der Highway Patrol ihn bringt, der Amys Wagen nicht die geringste Auf merksamkeit schenken würde. Ich sollte raufgehen und an die Tür klopfen, um ihn aus dem Schlaf oder Beischlaf zu reißen. »Hallo, Inspector, ich bin’s nur, Officer Pay ne auf einem weiteren sicheren Botengang. Oh, diese Lady kommt mir aber bekannt vor!« Er verwarf die Idee so schnell, wie sie ihm gekommen war. Wohl war ein netter Kerl, und Amy war auch prima, wenn er sie das auch nicht hören lassen wollte. Matt begann die Treppe hinaufzusteigen, um das Kuvert unter Wohls Tür hindurchzuschieben. Vielleicht würde er später Amy mit dieser Sache aufziehen. Das würde bestimmt lustig sein. Plötzlich verharrte er auf der Treppe. In diesem Van war Bewegung. Schon zwei Dinge, die mit diesem Wagen nicht in Ordnung sind: der Kühlergrill war beschädigt. Auf der rechten Seite? Scheiße, ich weiß es nicht. Das Herz klopfte Matt bis zum Hals, und er fühlte sich etwas schwach. O verdammt, die Phantasie geht mit dir durch. Der Van gehört viel leicht dem Hausverwalter. Wohl weiß bestimmt davon, und er hat ihn sicherlich schon überprüft, bevor wir überhaupt nach einem braunro ten Ford suchten.
Matt verharrte einen Augenblick lang, und dann hörte er, daß der Motor angelassen wurde. Wenn er die ganze Zeit hier stand, warum startet er dann aus gerechnet jetzt? Matt machte kehrt, lief die Treppe hinunter und kramte in seiner Tasche nach der Dienstmarke. Was sage ich diesem Typ? »Verzeihen Sie, Sir, ich bin Polizeibeamter. Wir suchen einen Mör der und Sexualverbrecher. Sind Sie das vielleicht, Sir?« Nein. Ich werde folgendes sagen: »Verzeihen Sie die Störung, Sir. Wir hatten in dieser Gegend Probleme, und wir überprüfen Leute, nur um sicher zugehen. Danke für Ihre Kooperation.« Er erhielt keine Gelegenheit, irgend etwas zu sagen. Als er zwi schen dem Porsche und dem Van war, gingen die Scheinwerfer des Van an, und er schoß auf ihn zu. Übelkeit stieg in Matt auf, als er erkannte, daß der Fahrer des Van ihn über den Haufen fahren wollte. Er wich zurück, stieß gegen das Heck des Porsche und kletterte verzweifelt hinauf wie eine Krabbe, voller Angst, daß sein Bein erfaßt werden würde, wenn der Van den Porsche rammte. Der Aufprall warf ihn vom Porsche. Er fiel rechts hinunter, zwischen Wagen und Garagentor, landete schmerzhaft auf dem Hintern und rang um Atem. Er dachte: Ich lebe noch. Er dachte: Warum habe ich Wohl nicht geweckt? Er würde wissen, was zu tun ist. Der Van fuhr schlingernd in eine Kurve, schaffte es nicht, zu dre hen, stoppte, setzte ein Stück zurück und fuhr auf den Zufahrtsweg. Matt dachte: Gott sei Dank, er fährt fort und versucht nicht noch einmal, mich über den Haufen zu fahren. Er dachte: Ich bin ein Cop. Er dachte: Ich habe Angst. Matt zog den Chief’s Special aus dem Wadenholster, sprang auf und rannte zur Ecke des Garagengebäudes. Sein rechtes Bein schmerzte; er hatte sich irgendwie verletzt. Der Van war schon fast auf dem Zufahrtsweg. Matt wurde plötzlich bewußt, daß er breitbeinig dastand, den Chief’s Special mit beiden Händen hielt und feuerte, bis die Trommel leergeschossen war. Der Van war auf Höhe des Hauptgebäudes und schien zu be schleunigen. Jason Washington sagte es mir: Wenn man sie mit einem Stups
nasigen nicht in den Kopf treffen kann, dann erwischt man sie nicht mehr. Verdammt, verdammt, verdammt, auch das habe ich versaut! Der Van erreichte die Norwood Street, fuhr über den Bürgersteig auf die Straße, schoß weiter und knallte gegen einen Kastanienbaum. Eine Frau begann grauenhaft zu schreien. Matt rannte über den Zufahrtsweg. In seinem Bein waren jetzt klop fende Schmerzen. Und was mache ich jetzt? Der Revolver ist leergeschossen, und ich habe keine Patronen mehr. Er erreichte den Van. Er rang um Atem, und seine Brust brannte und schmerzte fast so sehr wie sein verletztes Pein. Der Van beweg te sich vorwärts, als versuche er den Baumstamm wegzuschieben. Gummi qualmte. Der Geruch von Frostschutzmittel, das auf heißes Metall tropfte, hing in der Luft. Matt hetzte zur vorderen Tür und riß sie auf. Der Fahrer war über dem Lenkrad zusammengesunken. Auf der Innenseite der Windschutzscheibe war eine Übelkeit erre gende blutige und weiße Masse. Ein 168-Gran-Bleiprojektil hatte das Heckfenster des Van durchschlagen und dann den Hinterkopf des Fahrers, und es war genug Energie übriggeblieben, um das meiste seines Gehirns durch die Ausschußwunde in seiner Stirn zu schleu dern. Matt griff in den Wagen und schaltete die Zündung aus. Dann rann te er vorne um den Wagen herum zur Seitentür und zog sie auf. Da war etwas auf dem Boden des Van unter einer Segeltuchplane. Matt riß die Plane fort. Mrs. Naomi Schneider, nackt, mit hinter dem Rücken gefesselten Händen, starrte aus weit aufgerissenen Augen zu ihm empor. »Ich bin Polizeibeamter«, sagte Matt. »Sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Es ist alles vorüber.« Naomi begann wieder zu schreien.
Piep piep piep Foster H. Lewis, der ›Kleine‹, schaltete sein Mikrofon ein und sag te: »Officer braucht Unterstützung. Schußwaffengebrauch. Norwood Street Block 8800. Ambulanz erforderlich…« Die erste Antwort auf den Funkruf kam von einem Streifenwagen des Vierzehnten Distrikts. Der zweite lautete: »M-Mary eins fährt zu Schußwaffengebrauch.« Der Ehrenwerte Jerry Carlucci, Bürgermeister der Stadt Phil
adelphia, kehrte von einem späten Abendessen mit Freunden zu sei nem Haus in Chestnut Hill zurück. M-Mary eins war der erste Wagen am Tatort.
Staff Inspector Peter Wohl, gefolgt von Dr. Amelia Alice Payne, betrat Officer Matthew Paynes Apartment am Rittenhouse Square. Chief Inspector Dennis V. Coughlin war bereits dort. »Hier sind die Zeitungen. Ledger und Bulletin«, sagte Wohl. »Ich habe fünf Exemplare von beiden gekauft.« »Vom Ledger? Warum haben Sie dieses gottverdammte Schmier blatt gekauft?« fragte Coughlin überrascht und ärgerlich. »Ich denke, ich werde mir die Ledger-Story einrahmen lassen«, erwiderte Wohl. »Wovon, zum Teufel, reden Sie?« fragte Coughlin, als Wohl ihm ein Exemplar des Ledger überreichte. Auf der Titelseite war ein Foto von Miss Elizabeth Woodham, drei Spalten groß und mit der Bildunterschrift: ›Das neueste Opfer des Sex-Gangsters‹. LEHRERIN-MÖRDER
NOCH AUF FREIEM FUSS
ÖFFENTLICHE KRITIK AN POLIZEI KOCHT ÜBER
Von Charles E. Whaley
Polizeichef Taddeus Czernick bekannte heute abend, daß zwar ›alles getan wurde, was getan werden kann‹, die Polizei je doch den Sexualverbrecher und Mörder von NordwestPhiladelphia, dessen letztes Opfer tot und verstümmelt im Bucks County gefunden wurde, weder festnehmen noch identifizieren konnte. »Unsere Polizei ist eine Schande, und wir werden den Bür germeister zwingen, etwas dagegen zu unternehmen«, sagte Dr. C. Charles Fortner, Soziologieprofessor der University of Penn sylvania, bei einer Pressekonferenz, bei der er die Gründung ei nes ›Bürgerkomitees für wirksame Verbrechensbekämpfung‹ an kündigte. »Eine Abwahl wäre der letzte Schritt«, sagte Dr. Fortner, »aber nicht undenkbar, wenn sich der Bürgermeister außerstan de oder nicht willens zeigt, die Polizei von oben bis unten umzu krempeln. Die Bürger von Philadelphia haben ein Recht auf bes seren Polizeischutz als den derzeitigen. Wir werden alles daran
setzen, dafür zu sorgen, daß sie ihn bekommen. Die Entführung und brutale Ermordung von Miss Woodham und das fast un glaubliche Versagen der Polizei in der Handhabung dieses Fal les erfordern sofortiges Handeln. Wir werden nicht zulassen, daß die Polizei Miss Woodham vergißt, wie sie die anderen Opfer dieses Psychopathen vergessen hat.« Dr. Fortner sagte, daß Arthur J. Nelson, der Verleger des Led ger, sich bereiterklärt hat, Vizepräsident des Komitees zu wer den, und daß Nelson und ›eine Reihe anderer prominenter Bür ger‹ heute an dem ersten öffentlichen Protest der neuen Organi sation teilnehmen werden. Fortner sagte, das Komitee werde sich heute mittag um zwölf Uhr vor dem Polizeipräsidium formie ren und dann zur City Hall marschieren, wo es seine Forderun gen Bürgermeister Jerry Carlucci unterbreiten werde. (Ein diesbezüglicher Kommentar auf Seite sieben.) »Wenn sie marschieren«, sagte Chief Coughlin, »hole ich mir eine große Trommel und marschiere mit ihnen.« Matt lehnte an seinem Schreibtisch, nippte an einem Whisky und schaute auf die Titelseite des Bulletin. Sie zeigte ein Foto von Officer Matthew Payne und Bürgermeister Jerry Carlucci über vier Spalten. Carlucci hatte einen Arm um Matts Schulter gelegt und stand mit weit offenem Jackett da, so daß zu sehen war, daß er immer noch seinen Polizeirevolver trug, obwohl er jetzt Bürgermeister war. Die Bildunter schrift lautete: ›Bürgermeister Carlucci umarmt Helden-Cop‹. Als er Coughlin reden hörte, blickte Matt zu ihm hin. »Was?« »Lies erst, was im Bulletin steht, Matt«, sagte Coughlin. »Dann kannst du den Artikel im Ledger erst richtig genießen.« Matt zuckte mit den Schultern und widmete sich der Lektüre des Bulletin. »Mickey O’Hara wird gut über dich geschrieben haben«, sagte Denny Coughlin. »Er sagte mir, du hast seiner Ansicht nach deine Sache höllisch gut gemacht. Ich wette, das ist eine sehr nette Story.« »Bis jetzt ist es Scheiß«, erwiderte Matt. SEX-GANGSTER GETÖTET!
Junger Cop der Special Operations Division verhindert
Entführung eines weiteren Opfers!
Von Michael O’Hara
Officer Matt Payne, zweiundzwanzig, rettete in einem ›Hel
denhaften Einsatz‹, wie Bürgermeister Jerry Carlucci die Aktion bezeichnete, Mrs. Naomi Schneider, vierunddreißig, Norwood Street in Chestnut Hill, Minuten nachdem sie mit einem Messer an der Kehle aus ihrer Wohnung entführt worden war. Der Täter ist laut Bürgermeister Carlucci der Mann, der als ›Die Sexbestie von Nordwest-Philadelphia‹ bezeichnet wird. Der Mann, identifiziert als Warren K. Fletcher, einunddreißig, aus Germantown, war laut Mrs. Schneider in ihr Luxusapartment eingebrochen, als sie zu Bett gehen wollte. Mrs. Schneider sag te, er war maskiert und mit einem großen Schlachtmesser be waffnet. Sie sagte, er zwang sie, sich zu entkleiden, fesselte ihre Hände, wickelte sie in eine Decke, zwang sie in seinen Ford Van und bedeckte sie mit einer Plane. »Dann hörte ich auf einmal Schüsse«, sagte Mrs. Schneider. »Glas splitterte, und der Wagen knallte gegen etwas. Und dann schaute dieser gutaussehende junge Cop auf mich herab. Er lä chelte und sagte mir, daß er Polizeibeamter sei und ich keine Angst mehr zu haben brauche.« Bevor Officer Payne den Entführer und mutmaßlichen Mörder und Sexualverbrecher erschoß, versuchte dieser laut Bürgermei ster Carlucci, Payne mit dem Van zu überfahren. Er verletzte Payne am Bein und richtete einen Schaden von mehreren tau send Dollar an Paynes Privatwagen an. Payne sagte sich dann widerstrebend, wie Bürgermeister Car lucci erklärte, daß ihm keine Wahl blieb und er von der Schuß waffe Gebrauch machen mußte. »Mrs. Schneider war in größter Gefahr, und er wußte es und handelte. Ich bin stolz auf ihn.« Bürgermeister Carlucci, dessen Limousine mit Polizeifunk ausgerüstet ist, war nach einem Abendessen der ›Söhne Itali ens‹ in South Philadelphia auf dem Weg nach Chestnut Hill zu seinem Haus, als Officer Payne Mrs. Schneider rettete. »Wir waren der erste Wagen, der auf den Funkruf ›Schußwaf fengebrauch‹ reagierte«, sagte der Bürgermeister. »Officer Pay ne half noch Mrs. Schneider aus dem Wrack des Van, als wir dort eintrafen.« Payne, besonderer Assistent von Staff Inspector Peter Wohl, dem Chef der neu gebildeten Special Operations Division, hatte die meiste Zeit des Tages im Bucks County verbracht, wo die verstümmelte Leiche von Miss Elizabeth Woodham, dreiunddrei ßig, East Mermaid Lane 300 in Roxborough, von der State Police in einem Ferienhäuschen entdeckt worden war. Miss Woodham war vor drei Tagen von dem maskierten, mit
einem Messer bewaffneten Mann entführt worden. Ein Briefträ ger aus dem Bucks County hatte einen Mann beschrieben, auf den Mr. Warren K. Fletchers Beschreibung zutraf und der einen Ford Van fuhr, der identisch mit dem war, in dem Mrs. Schneider entführt wurde und der bei dem Ferienhäuschen stand, in dem Miss Woodhams Leiche entdeckt wurde. Die Polizei im gesam ten Delaware Valley suchte nach diesem Van. Payne, der als Verbindungsmann zwischen den Assen der Mordkommission, den Kriminalbeamten Jason Washington und Anthony Harris, fungierte, war mit Detective Washington zum Tatort der grausamen Ermordung ins Bucks County gefahren. Er entdeckte den Van in den frühen Morgenstunden, als er nach Chestnut Hill zur Wohnung von Staff Inspector Wohl fuhr, um seinen Bericht abzugeben, bevor er seinen Dienst beendete. »Er wog die Situation sorgfältig ab, bevor er handelte, und er erkannte, daß Mrs. Schneiders Leben von seinem sofortigen und alleinigen Handeln abhing«, sagte Bürgermeister Carlucci. »Er hat ihr eindeutig das Leben gerettet. Ich meine, daß Officer Pay ne ein typisches Beispiel für die intelligenten, gut ausgebildeten jungen Polizeibeamten ist, mit denen Polizeichef Czernick die Special Operations Division personell besetzen will.« Payne, der Junggeselle ist, graduierte vor kurzem an der Uni versity of Pennsylvania. Er lehnte es ab, der Presse Fragen zu beantworten. »Das wird meine Familie in Wallingford begeistern, wenn sie die Morgenzeitung liest«, sagte Payne, als er den Artikel zu Ende gele sen hatte. »Daddy weiß es bereits«, sagte Amy. »Ich rief ihn an und erzählte es ihm.« »Das war blöde!« fuhr Matt sie an. »Ich wollte, daß Vater es vor Mutter erfährt«, sagte Amy unbeein druckt. »Matt, willst du, daß ich dir ein Beruhigungsmittel gebe…« »Ich habe schon eins, danke«, sagte Matt und nahm sein Whisky glas. Dann schaute er in die Runde. »Interessiert es denn keinen, daß der ganze Artikel Schwachsinn ist?« »Du hast ein ernstes emotionales Trauma erlitten«, sagte Amy. »Erzähl mir davon«, sagte Matt. »Aber wir sprachen über den Scheißartikel – beziehungsweise ich sprach darüber.« »Ich kann dir etwas geben, das dir hilft, damit fertig zu werden«, beharrte Amy. »Alkohol wird nicht helfen.« »Das meinst du«, sagte Matt. »Redest du über den Scheißartikel?«
»Ich rede über den Schock, den du erlitten hast«, sagte Amy. »Ich rede über den Scheiß«, sagte Matt. »Ich hätte verdammt fast diese wasserstoffblonde Frau erschossen. Ich wußte nicht, daß sie in dem Wagen war. Das wurde mir erst klar, als sie schrie. Ich schoß auf diesen Hurensohn, weil er versucht hatte, mich über den Haufen zu fahren. Ich war nicht der kaltblütige heldenhafte Polizeibeamte. Ich war ein verängstigtes und zorniges Kind, das eine Waffe hatte.« »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Amy. »Du hattest recht, Amy, ich eigne mich nicht zum Cop.« »Du solltest jetzt keine voreilige Entscheidung treffen, Matt«, sagte Dennis Coughlin. »Niemand hört mir zu«, sagte Matt. »Wenn ich etwas aus dieser Sache gelernt habe, dann die Tatsache, daß ich nicht auf meinen Vater – auf meinen leiblichen Vater – komme.« »Matt!« sagte Dennis Coughlin. »Ich hatte Angst«, sagte Matt. »Schreckliche Angst. Und ich war verrückt.« »Das ist unter den gegebenen Umständen völlig verständlich«, sagte Dennis Coughlin. »Ich hätte fast diese Frau umgebracht!« sagte Matt ärgerlich. »Versteht das keiner?« »Sie haben sie nicht umgebracht«, sagte Peter Wohl. »Das ist eine Tatsache. Sie haben sie gerettet.« »Wußten Sie, daß ich in der Nacht im Dienst einschlief?« »Nein.« »Hat Washington Ihnen erzählt, daß ich ohnmächtig wurde, als ich die Woodham-Leiche sah?« »Na und?« fragte Wohl. »Matt, hör mich an«, sagte Dennis Coughlin. Matt schaute ihn an. »Ich gebe zu, daß Mickey O’Hara und der Bürgermeister ein biß chen dick aufgetragen haben«, sagte Coughlin. »Daß es – Amy ent schuldige – Scheiß ist. Aber das ist der Artikel im Ledger auch. Du bist also kein Held. Aber die Polizei ist auch nicht so unfähig, wie Ar thur Nelson es den Leuten einreden will. Was er uns anzuhängen versucht, hat nichts zu tun mit der Wahrheit über die Polizei. Das ist eine gemeine und üble Kampagne. Bleibt also die Tatsache, daß du diesen Verbrecher erschossen hast. Er wird keine Sexualverbrechen und keinen Mord mehr begehen. Viele alleinstehende junge Frauen in der Stadt werden heute nacht ruhig schlafen. Das ist alles, was wir als Polizisten tun, Matt: Wir versuchen, dafür zu sorgen, daß die Leu te des Nachts schlafen können. Und wenn sie in Medien lesen und
hören, daß wir alle blöde oder unfähig sind, oder auch nur den Ein druck gewinnen, daß man auf uns nicht vertrauen kann – verstehst du, was ich dir klarmachen will?« »Ich weiß nicht«, sagte Matt. »Was deinen Vater anbetrifft – deinen leiblichen Vater, wie du ihn nennst – , er war mein bester Freund. Und ich weiß, daß er stolz auf dich sein würde. Ich bin stolz auf dich. Du hattest Angst, aber du ta test, was getan werden mußte. Und da ist noch etwas anderes im Zusammenhang mit deinem Vater, Matt. Sein Foto und seine Dienstmarke hängen in der Halle des Polizeipräsidiums. Er ist ein Held, ein Polizeibeamter, der in Erfüllung seiner Pflicht erschossen wurde. Aber – ich war sein bester Freund, und so kann ich das sagen – er erfüllte nicht seine Pflicht. Er ließ sich erschießen. Du hast dich nicht erschießen lassen. Dieser Psychopath wird niemandem mehr etwas antun. Für mich macht dich das zu einem besseren Polizisten, als es dein Vater war. Das ist das Entscheidende, Matt: die Bürger schützen. Denk darüber nach.« Matt schaute Coughlin eine Zeitlang an, dann Wohl, der ihm zu nickte, und schließlich seine Schwester. »Matt«, sagte Amy. »Vielleicht solltest du kein Cop sein. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, diese Entscheidung zu treffen.« »O Mann!« sagte Matt. »Das sagst ausgerechnet du?« Es klopfte an der Tür. Wohl ging hin und öffnete. Charley McFadden stand dort mit einer braunen Tragetasche in der Hand. »Was wollen Sie, McFadden?« fragte Wohl. »Es ist schon in Ordnung, Peter«, sagte Chief Coughlin. »Ich habe ihn kommen lassen.« »Ich kam so schnell, wie ich konnte«, sagte McFadden. »Und ich dachte mir, er kann einen guten Schluck gebrauchen. Ich wußte nicht, ob er einen hat, und so brachte ich einen mit.« »Kommen Sie rein, McFadden«, sagte Dennis Coughlin. »Wir woll ten gerade gehen.« Er schaute Amy Payne in die Augen. »Officer McFadden, Amy, ist der Mann, der Gerald Vincent Gallagher fest nehmen wollte, bevor er unter die U-Bahn fiel.« »Ich fragte mich schon, wer er ist«, sagte Amy. »Er ist ein Freund von mir Amy, klar?« fuhr Matt seine Schwester an. »War nicht böse gemeint«, sagte Amy. Sie sah Chief Inspector Coughlin an. »Ich denke, Sie haben recht, Onkel Denny«, sagte sie. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Sie so nenne, oder?«
»Es schmeichelt mir, meine Liebe.« »Sie kümmern sich um Matt, Mr. McFadden«, sagte Amy. »Ja, klar«, sagte Charley McFadden. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
EPILOG
Walton Williams wurde drei Wochen später von Beamten der Ein wanderungsbehörde der Polizei übergeben, als er versuchte, nach einem Urlaub in Frankreich wieder in die Vereinigten Staaten einzu reisen. Er wurde trotz der hysterischen Proteste seines Reisegefähr ten festgenommen, eines gewissen Stephen Peebles, der beteuerte, daß Mr. Williams in den vergangenen fünf Wochen stets in seiner Nähe gewesen war und deshalb unmöglich der Mann sein konnte, der Dinge aus dem Haus gestohlen hatte, das er mit seiner Schwe ster teilte. Seit Captain David Pekachs Besuch bei Miss Martha Peebles, um ihr zu versichern, daß die Polizei alles ihr Mögliche tun werde, um ihren Besitz vor weiteren Diebstählen zu schützen, wurden keine Diebstähle mehr gemeldet. Als Staff Inspector Peter Wohl diesen glücklichen Umstand Chief Inspector Dennis V. Coughlin berichtete, fügte Wohl mit einem wis senden Lächeln hinzu, das könnte vielleicht auch etwas mit der Tat sache zu tun haben, daß sich zwischen Captain Pekach und Miss Peebles eine Freundschaft entwickelt hatte. Wohl sagte, er habe aus zuverlässiger Quelle erfahren – genauer gesagt von Lieutenant Bob McGrory von der New Jersey State Police –, daß man Captain Pe kach und Miss Peebles Händchen haltend und voneinander bezau
bert auf der Strandpromenade in Atlantic City gesehen hatte. Chief Inspector Coughlin erwiderte das Lächeln, ebenso wissend. »Wer im Glashaus wohnt, Peter, mein Junge, sollte nicht mit Stei nen werfen. Ich hörte aus zuverlässiger Quelle – genauer gesagt von Bürgermeister Carlucci – , daß ein gewisser Staff Inspector gesehen wurde, als er Händchen haltend mit einer gewissen Ärztin über die Peacock Alley in New York ins Waldorf Astoria Hotel zu den Aufzü gen und in ein Doppelzimmer ging.« Matthew Payne blieb bei der Polizei.
ENDE