Barbara Hambly
Sonnenwolf
Zwei Abenteuer des Söldnerführers gegen
Macht und schwarze Magie
Ins Deutsche übertrag...
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Barbara Hambly
Sonnenwolf
Zwei Abenteuer des Söldnerführers gegen
Macht und schwarze Magie
Ins Deutsche übertragen von Andreas Brandhorst und Michael Nagula
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BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 20.194 Erste Auflage: November 1992 © Copyright 1984/1987 by Barbara Hambly Published by arrangement with Ballantine Books, a division of Random House Inc. All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1992 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: The Ladies of Mandrigyn/ The Witches of Wenshar Titelillustration: Hans Hauptmann Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Bad Iburg Druck und Verarbeitung: Cox & Wyman, Ltd. Printed in Great Britain ISBN 3-404-20.194-9 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
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Inhalt Die Frauen von Mandrigin Die Hexen von Wenshar
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Für meine Kameraden von der
West Coast-Karategruppe
BROAD SQUAD:
Anne Gayle Helen Sherrie Janet Georgia
In Liebe.
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DIE FRAUEN
VON MANDRIGIN
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1. Kapitel »Bei der kalten Hölle – was soll ich davon halten?« Mit zwei dicken Fingern, an denen sich noch immer einige Blutflecken zeig ten, hielt Sonnenwolf das entfaltete Pergament an der einen Ecke. Sternenfalke, seine hochgewachsene und hagere Stellvertreterin, die gerade damit beschäftigt war, ihr Schwert zu säubern, hob beim Klang seiner Stimme den Kopf und sah ihn aus ihren dunklen Augen fragend an. Draußen erfüllte unsteter Fackelschein die Nacht mit rötlichem Glanz. Im Lager herrschte die lärmende Ausgelassenheit des Sieges. Die Söldner von Wrynde und die Soldaten der Stadt Kedwyr feierten begeistert die endgültige Niederlage der feindlichen Truppen von Melplith. »Um was handelt es sich deiner Meinung nach?« fragte sie ruhig. »Vielleicht um einen Antrag, die Einladung zu einem Schäfer stündchen.« Er reichte ihr den Bogen. Im bernsteinfarbenen Licht der Öllampe glänzte sein gebräunter Leib. Sonnenwolf war bis zur Taille nackt, und die dünnen blonden Härchen auf seiner Brust sahen aus wie filigrane Patina aus Gold. Sternenfalke kannte den Kom mandeur lange genug, um zu wissen, daß er ein solches Pergament sofort ins Feuer geworfen hätte, wäre er wirklich davon überzeugt gewesen, es mit einer derart nebensächlichen Botschaft zu tun zu haben. An Sonnenwolf, den Kommandeur der Söldner, im Lager Kedwyr, an den Wällen von Melplith. Von Sheer a Galernas von Mandrigin. Ich übermittle dir meine Grüße. Heute abend komme ich zu dir in dein Zelt. Ich möchte dir etwas vortragen, was von großem Interesse für dich sein dürfte. Um meinetwillen und der Bedeutung der Sache: Bitte sei allein und sprich mit niemandem über diese Nachricht. Sheer a. »Die Handschrift einer Frau«, stellte Sternenfalke fest, und mit dem Daumen strich sie nachdenklich über den vergoldeten Rand des teuren Pergaments. Sonnenwolf runzelte die Stirn und musterte seine Stellvertreterin eingehend. »Wenn die Botschaft nicht von Mandrigin stammte, würde ich annehmen, die hiesige Gewerbedame wolle für sich die 7
Werbetrommel rühren.« Sternenfalke nickte geistesabwesend. Draußen nahm der Lärm immer mehr zu. Das Grölen der Betrun kenen wurde immer wieder von Jubelrufen und anderen Stimmen übertönt, die schrill verlangten: »Tötet ihn! Bringt den elenden Mist kerl um!« Zwischen den regulären Truppen der Stadt Kedwyr und der Allgemeinen Miliz existierte schon seit langem eine Rivalität, die manchmal in blanken Haß umschlug – einen Haß, der sogar stärker sein mochte als die Verachtung, die die Kämpfer beider Verbände den bedauernswerten Soldaten des belagerten Melplith entgegen brachten. Sonnenwolf und seine Söldner hatten sich aus diesem Konflikt herausgehalten: der Kommandeur, weil er großen Wert darauf legte, sich niemals in Fragen der lokalen Politik einzumi schen, und seine Männer, weil sie entsprechende Befehle von ihm bekommen hatten und harte Strafen fürchten mußten, wenn sie diese Anweisungen nicht beachteten. Das lärmende Chaos draußen, die Schreie derjenigen, die noch mehr Blut vergossen sehen wollten – all das brachte Sonnenwolf nicht aus der Ruhe, denn er wußte, daß er sich auf seine Leute verlassen konnte. »Mandrigin«, sagte Sternenfalke und dachte nach. »Altiokis hat diese Stadt im vergangenen Frühjahr erobert, nicht wahr?« Sonnenwolf nickte und ließ sich auf einem sehr eindrucksvollen Feldstuhl nieder, der aus mit Gold verziertem Hirschhorn bestand und von einem Stammeskönig im fernen Nordosten erbeutet worden war. Die meisten Einrichtungsgegenstände des Zeltes stammten aus fremdem Besitz. Der Vorhang aus Pfauenfedern, der das Innere des Unterstandes in zwei Räume teilte, hatte einst das Gemach eines Prinzen aus der K'Chin-Wüste geschmückt. Aus den durchsichtigen, jadegrünen, silberverzierten Tassen hatte ein reicher Handelsherr der Buchtenküste getrunken. Der prächtige Ebenholztisch – die jetzt darauf liegende blutbefleckte Rüstung verbarg einen Großteil des feinstrukturierten Furniers unter sich – war vor Jahren im Weinzim mer eines Edelmannes der Mittleren Königreiche bewundert worden – bevor der kostbare Inhalt seiner Flaschen durch die durstigen Keh len feindlicher Soldaten geflossen war und ihn stählerne Schwert klingen ins Jenseits geschickt hatten. »Die Stadt konnte sich nur kurze Zeit halten«, sagte Sonnenwolf, griff nach einem Tuch und machte sich daran, seine Waffen zu reini gen. »Eigentlich bestand damals eine ähnliche Lage wie hier in Melplith: ein in verschiedene Fraktionen aufgesplittertes Parlament, 8
eine königliche Familie – damals gab es dort eine, aber ich weiß nicht, was inzwischen aus ihr geworden ist – , die von immer neuen Skandalen heimgesucht wurde. Das Kräftepotential der Stadt war aufgrund innerer Streitigkeiten größtenteils blockiert, und das mach te Altiokis den Sieg leicht. Wie ich hörte, soll es sogar Bewohner Mandrigins gegeben haben, die ihn als Befreier willkommen hie ßen.« Sternenfalke zuckte mit den Schultern. »Kommt mir nicht selt samer vor als viele der Dinge, an die die trinitarischen Häretiker glauben«, erwiderte sie leichthin und mit völlig ausdruckslosem Gesicht, und Sonnenwolf lächelte. Wie die meisten aus dem Norden stammenden Leute vertrat Falke den Alten Glauben und hielt nichts von den neuen Lehren, die einen Trigott postulierten. »Die Zitadelle des Zauberkönigs befand sich hundertfünfzig Jah re lang direkt vor der Hintertür Mandrigins«, fuhr Wolf nach einigen Sekunden fort. »Letztes Jahr wurde ein Abkommen mit ihm getrof fen. Damals ahnte ich schon, was geschehen würde.« Sternenfalke schob ihr Schwert in die Scheide zurück, und mit einem Lappen säuberte sie sich die Hände. Sonnenwolfs Fähigkeit, immer an die neuesten Informationen zu kommen und aus ihnen die richtigen Schlüsse zu ziehen, war fast unheimlich, aber sie hatte ihm schon gute Dienste geleistet. Er verstand es, aus der großen Menge von Gerüchten das herauszufinden, was der Wahrheit entsprach; er war dazu in der Lage, den aktuellen Getreidepreis, Wertschwankun gen zwischen den einzelnen Währungen und vielen anderen Men schen unwichtig erscheinenden Neuigkeiten – von denen Reisende noch hoch im Norden erzählten, in der alten Verwaltungsstadt Wrynde, der Heimat des Kommandeurs – zu einem Mosaik zusam menzufügen. Und dieses Bild zeigte ihm deutlich die politischen Entwicklungsmöglichkeiten. Auf diese Weise waren er und seine Männer auf der Halbinsel von Gwarl zur Stelle gewesen, als zwi schen den Handelsrivalen von Kedwyr und Melplith der Krieg be gonnen hatte. Und Kedwyr hatte Wolf und seinen Truppen eine astronomische Summe für die angebotenen Söldnerdienste bezahlt. So gut klappte es nicht immer – während des achtjährigen Diens tes unter dem Kommando Sonnenwolfs hatte Sternenfalke zwei Fälle ausgesprochener Fehlplanung erlebt. Aber im großen und ganzen war es Wolf durch seine besondere Umsicht gelungen, eine recht gute Verfassung seiner Kämpfer zu gewährleisten: Im Sommer zog er mit ihnen in die Schlacht, und wenn der Winter seine eisige Herr 9
schaft antrat und die Kältestürme Land und Menschen heimsuchten, harrte er mit seinen Truppen in der vergleichsweisen Bequemlichkeit des Ruhelagers in der alten Stadt Wrynde aus. Wie bei allen Söldnerarmeen kam es auch bei der Streitmacht Sonnenwolfs praktisch in jedem Jahr zu Veränderungen in Hinsicht auf die Größe und Zusammensetzung der Truppen. Dabei blieb es jedoch immer bei einem harten Kern von Kämpfern, die dem Kom mandeur schon seit vielen Jahren dienten. Soweit Sternenfalke wuß te, war Sonnenwolf der einzige Söldner-Kommandeur, der seine Leute während der Wintermonate einer regulären Kampfausbildung unterzog. Die von ihm gegründete Schule genoß noch weit im Wes ten und Norden einen sehr guten Ruf, und die Söldner, die sich von Wolf in die Kunst des Krieges einweisen ließen, stießen landauf und landab auf besonderen Respekt. Jedes Jahr im Winter, wenn der große Regen kam und Schlachten unmöglich machte, unternahmen junge Männer und manchmal auch Frauen die beschwerliche Reise durch das nördliche Ödland, das einst die Kornkammer des alten Reiches von Gwenth gewesen war. Sie zogen nach der fernen Rui nenstadt Wrynde, und dort baten sie darum, in die Schule Sonnen wolfs aufgenommen zu werden. Irgendwo fand immer ein Krieg statt. Seit das ehemalige Reich von Gwenth durch den Glaubenskonflikt zwischen den Anhängern des Trigottes und der Einen Heiligkeit dem Untergang anheimgefal len war, wurde ständig gekämpft. Bei den Auseinandersetzungen ging es oftmals nur um einige Morgen fruchtbaren Landes – dessen Wert aufgrund der wachsenden Wüsten immer mehr zunahm – , um den Handel mit dem Osten, um Zwistigkeiten über den Wert von Seide, Bernstein und exotischen Gewürzen, um Religionen. Manch mal gab es nicht einmal einen direkten Grund dafür, daß Menschen in einer Schlacht ihr Leben ließen. Sternenfalke hatte sich schon in jungen Jahren mit den Hintergründen befaßt und Wolf einmal die theologischen Grundlagen der Kirchenspaltung erklärt. Als Barbar aus dem fernen Norden verehrte Sonnenwolf die Seelen seiner Vor fahren, und er fand nichts dabei, seine Dienste gegen bare Münze beiden religiösen Parteien anzubieten. Die Erläuterung der Ursachen des Konfliktes hatte ihn nur amüsiert – und Sternenfalke war von dieser Reaktion nicht überrascht gewesen. In letzter Zeit jedoch ging es bei den Kriegen weniger um religiöse Streitigkeiten, sondern eher um die Machtentfaltung des Zauberkönigs Altiokis, der ausgehend von der dunklen Zitadelle Grimm wall sein Reich immer weiter 10
vergrößerte, bereits Städte wie Mandrigin unter seine Herrschaft gebracht hatte und auch danach trachtete, sich das Land der Thanes zu unterwerfen. »Willst du die Frau von Mandrigin empfangen?« fragte Sternen falke. »Wahrscheinlich.« Draußen nahm der Lärm des Kampfes immer mehr zu, und Dutzende von Stimmen brüllten und gellten. Unmittel bar darauf war das Knallen der Peitschen zu hören, die von den Mili tärpolizisten der Kedwyr-Truppen zum Einsatz gebracht wurden. Seit der Plünderung der Stadt und der anschließenden Rückkehr ins Lager hatte es nun schon vier Kämpfe gegeben: Der Sieg machte manche Männer trunkener als ein hochprozentiges Getränk. Sternenfalke griff nach ihrer Ausrüstung – Schwert, Dolch und Kettenhemd – und machte Anstalten, in ihr eigenes Zelt zurückzu kehren. Die Stadt Melplith war auf einer Anhöhe erbaut worden, hoch über der geschützten Bucht. Es handelte sich um eine recht trockene Region, in der außer Zitrusfrüchten und Oliven kaum etwas anderes wuchs, wodurch die Bewohner gezwungen waren, sich mit dem Handel ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein kalter Wind wehte nun von der gischtenden See empor, und trotz der dicken und bestickten Wolljacke, die sie trug, fröstelte Sternenfalke ein wenig. »Glaubst du, sie will dir einen Vertrag anbieten?« »Ja, das könnte sein.« »Bist du bereit dazu, mit ihr eine Übereinkunft zu treffen?« Wolf warf ihr einen kurzen Blick zu. In dem gedämpften Licht glänzten seine Augen wie mattes Gold – im Farbton des Weines aus den Mittleren Königreichen. Der Söldner-Kommandeur war knapp vierzig Jahre alt, und sein lohfarbenes Haar lichtete sich bereits. In dem buschigen Oberlippenbart jedoch, der sich an beiden Seiten wie ein Strang aus gelbbraunem Winterkraut herabneigte, zeigte sich kein grauer Schimmer. Die Nase war lang und stark gekrümmt. Auf grund der besonders breiten und muskulösen Brust sah er größer aus, als er in Wirklichkeit war. Wenn er saß und sich entspannte, erinner te er Sternenfalke an einen großen und jederzeit zum Sprung bereiten Löwen. »Würdest du gegen Altiokis in den Kampf ziehen?« fragte er sie. Sternenfalke zögerte und gab dem Kommandeur nicht die ehrli che Antwort. Schon als kleines Kind hatte sie Geschichten über den Zauberkönig gehört – ausgefallene, wie Schreckensmärchen anmu tende Erzählungen von seinen Eroberungen, seinen Sünden, seiner 11
Machtgier. Man berichtete Entsetzliches darüber, was mit denjenigen geschah, die sich ihm während der vielen Jahres seines unheimlichen Lebens widersetzt hatten. Ihre ehrliche Antwort – diejenige, die sie Wolf nicht gab – laute te! Wenn du das von mir verlangtest: ja. Laut erwiderte sie: »Und du?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin Soldat«, sagte er knapp. »Kein Magier. Gegen einen Zauberer könnte ich nichts ausrichten, und ich schicke meine Leute nicht in den sicheren Tod. Mein Vater hat mich immer wieder auf zwei Dinge hingewiesen. Wenn ich alt werden wolle, so sagte er mir, so dürfe ich mich einerseits nicht verlieben und andererseits nichts mit Magie zu tun bekommen.« »Es gibt noch einen dritten wichtigen Punkt«, fügte Sternenfalke hinzu und bedachte den Kommandeur mit einem ihrer seltenen und flüchtigen Lächeln. »Man soll nicht mit Fanatikern streiten.« »Das fällt unter Magie. Vielleicht ist es auch ein Teil der Weis heit, sich nicht mit Betrunkenen auf eine Auseinandersetzung einzu lassen; ich bin mir da nicht ganz sicher. Es ist mir ein Rätsel, warum manche Menschen unbedingt an einen Gott oder drei oder fünf glau ben müssen. Ich weiß nur, daß ich Vorfahren hatte, Leute, die mit beiden Beinen fest auf dieser Welt standen und das Leben zu genie ßen wußten… Hallo Liebling.« Der Trennvorhang im Innern des Zeltes wurde zur Seite gescho ben, und Kitz kam herein und strich sich eine Strähne des feuchten und nerzbraunen Haares aus der Stirn. Der hellgrüne Flor des Ge wandes ließ ihre smaragdfarbenen Augen dunkler wirken. Kitz war die derzeitige Konkubine Sonnenwolfs, gerade erst achtzehn Jahre alt und wunderschön. »Dein Bad ist bereit«, sagte sie und trat hinter den Feldstuhl, auf dem Wolf saß. Sie hauchte ihm einen Kuß auf das lichte Haar. Er griff nach ihrer auf seiner Schulter ruhenden Hand, und mit einer für einen so barbarisch anmutenden Mann geradezu verblüf fenden Sanftmut berührten seine Lippen die weiße Haut des Unter arms. »Danke«, erwiderte er. »Falke, ich wäre dir dankbar, wenn du später noch einmal zurückkehren würdest. Die Frau will mich allein sprechen. Würdest du Kitz für eine Weile in deinem Zelt unterbrin gen?« Sternenfalke nickte. Kitz war nicht die einzige Konkubine Son nenwolfs, die sie bisher kennengelernt hatte. Auch ihre Vorgänge rinnen waren außerordentlich schön und sanftmütig und ein wenig 12
hilflos gewesen. Nach der Plünderung der Stadt stellte das Heeresla ger keinen geeigneten Aufenthaltsort für ein junges Mädchen dar, das nicht an die rauhen Gebaren von Soldaten gewöhnt war – nicht einmal dann, wenn es sich um die Partnerin eines Mannes wie Son nenwolf handelte. »Du willst also ungestört sein, wenn du hier andere Frauen emp fängst, wie?« zog ihn Kitz auf. Sonnenwolf bewegte sich so schnell, daß das junge Mädchen nicht einmal ansatzweise darauf zu reagieren vermochte. Mit einem Satz war er auf den Beinen, packte Kitz und hob sie hoch. »Halt!« rief sie. »Nein! Es tut mir leid!« Aber Wolf achtete gar nicht auf ihre Worte und trug sie rasch in das vom Vorhang abgetrennte zweite Zimmer des Zeltes. Das Schreien des jungen Mädchens wurde im mer lauter und flehentlicher, doch nach einigen Sekunden brach es mit einem abrupten Platschen ab. Das Gesicht Sternenfalkes blieb völlig ausdruckslos, als sie sich das Bündel mit der Ausrüstung über die Schulter warf und rief: »Ich hole dich in einer Stunde ab, Kitz.« Sie verließ das Zelt, und erst draußen erlaubte sie sich die Andeutung eines Lächelns. Später kehrte sie zusammen mit Ari zurück, einem jungen Mann, der als zweiter Leutnant Sonnenwolfs fungierte und trotz seines geringen Alters große Ähnlichkeit mit einem erwachsenen Schwarz bär hatte. Sie wünschten Wolf einen angenehmen und erfolgreichen Abend, holten die schwitzende, erschöpfte und rotwangige Kitz ab und wanderten durchs Lager. Der Wind war wieder stärker gewor den, wehte als eine steife Brise vom Meer her und kündete mit sei nen frostigen Böen die nahen Kältestürme des Winters an. Einzelne Rauchschwaden der hier und dort angezündeten Holzfeuer trieben ihnen entgegen. Weiter oben loderte es in der Stadt. Der Wind ent fachte die Glut neu, und hinter den dunklen Zinnen der Verteidi gungswälle ließ sich ein düsteres, schwefelgelbes Glühen beobach ten. Die Nacht hatte ein rauhes, wildes und gleichzeitig sonderbares Aroma. In der Luft lag noch immer der süßliche Geruch des auf dem Schlachtfeld vergossenen Blutes, und dann und wann ertönten die spitzen Schreie der während der Plünderung der Stadt geraubten Frauen. »Legt sich die Aufregung allmählich?« fragte Falke. Ari zuckte mit den Schultern. »Nach und nach. Die Männer der Milizeinheiten sind bereits vollkommen betrunken. Gradduck – dieser komische General, der die Stadttruppen befehligte – behaupte 13
te überall, allein seine Belagerungsstreitmacht sei es gewesen, die den Sieg ermöglicht habe.« Sternenfalke gab vor, nachdenken zu müssen. »Gradduck? Ach, der.« Sie verzog das Gesicht. »Ein Offizier, von dem der Anführer meinte, er könne nicht einmal eine Schenke richtig belagern.« »Nein, nein«, widersprach Ari. »Es war dabei nicht von einer Schenke die Rede, sondern von einem Klo… « Einige Leute riefen Aris Namen und forderten ihn auf, bei einem sportlichen Wettkampf, der mindestens ebenso obszön wie absurd war, als Schiedsrichter zu fungieren, und Ari lachte, winkte den Frauen zu und setzte zusammen mit Sternenfalke und Kitz den Weg fort. Die im Wind heftig flackernden Flammen der Fackeln ließen geisterhafte Lichtreflexe über ihre Züge tanzen. Sternenfalke ging mit langen und festen Schritten, und in der Kniehose und dem Wams hätte man sie von weitem für einen Mann halten können. Angesichts des lärmenden Durcheinanders im Lager verhielt sich Kitz ihrem Namen entsprechend scheu und wich nicht von der Seite Sternenfalkes. Als sie den besonders lauten Bereich an der Ausgabestelle des Weins hinter sich gelassen hatten, fragte das junge Mädchen: »Stimmt es, daß man Sonnenwolf dazu auffordern will, gegen Altiokis in den Krieg zu ziehen?« »Er wird sich nicht dazu bereit erklären«, erwiderte Sternenfalke. »Und ebensowenig würde er für den Zauberkönig Partei ergreifen. Vor einigen Jahren erhielt er ein solches Angebot. Aber er will nichts mit Magie zu tun haben, und ich kann ihm deswegen keinen Vorwurf machen. Doch wie dem auch sei: Alles, was mit Altiokis im Zusam menhang steht, gefällt mir ganz und gar nicht.« Kitz schauderte und zog sich die Jacke enger um die Schultern. Das eine Ende des seidenen Schals, den sie sich um den Hals ge schlungen hatte, flatterte wie ein helles Banner hinter ihr. »Waren sie alle so? Die Zauberer, meine ich. Ist das vielleicht der Grund, warum sie schließlich ausstarben?« In dem unsteten Schein der Fackeln und der in Zeltzugängen hängenden Öllampen wirkten ihre Augen groß und schienen von innen heraus zu leuchten. An ihren Wangen klebten feuchte Haar strähnen. Kitz strich sie zurück und sah Sternenfalke ein wenig unsi cher an. Wie auch die meisten Kämpfer der Truppe empfand sie der selbstsicheren und charismatischen Frau gegenüber eine gewisse Ehrfurcht. Sternenfalke duckte sich durch den Eingang ihres Zeltes und hielt 14
die Plane für Kitz beiseite. »Ich weiß nicht, ob das der Grund dafür ist, daß es bis heute kaum noch Zauberer gibt«, erwiderte sie. »Ich bin mir jedoch sicher, daß sie nicht alle so böse waren wie Altiokis. Als Kind lernte ich einmal eine Magierin kennen, und sie war… sehr nett.« Kitz starrte Falke verblüfft an, und ihre Überraschung gründete sich zum Teil auf das Erstaunen darüber, daß Sternenfalke einmal ein Kind gewesen war. Irgendwie gelang es dem jungen Mädchen nicht, sich diese Frau anders vorzustellen, als wie sie sich nun seinen Blicken darbot: als eine hochgewachsene und langbeinige Amazone, deren Haut dort, wo sie nicht von der Sonne zu einem goldfarbenen Ton gebräunt war, so weiß wie Elfenbein glänzte, als eine Kämpferin mit hellem Haar und zinngrauen Augen. Für eine Kriegerin war ihre Stimme sehr sanft und beherrscht – obgleich es hieß, daß sie manchmal Schimpfworte benutzte, die sogar den abgebrühtesten Soldaten erröten lassen konnten. Aus irgendeinem Grund fiel es Kitz leichter zu glauben, daß Falke einmal die Bekanntschaft einer Ma gierin gemacht hatte, als vor ihrem inneren Auge ein Bild von einer mädchenhaften Sternenfalke entstehen zu lassen. »Ich… ich dachte, sie seien schon vor deiner Geburt alle tot ge wesen.« »Nein«, widersprach Sternenfalke. Das Licht der Öllampe spie gelte sich auf den Messingspangen ihres Wamses aus Schaffelleder, als sie nach einem Beutel mit Wein und zwei Gläsern griff. Ihr Zelt war klein und so ordentlich wie sie selbst. Ihre Ausrüstung hatte sie schon zuvor verstaut. Auf dem polierten Falttisch befanden sich nur die kristallenen Weingläser und ein Paket abgegriffener Karten. Sternenfalke stand in dem Ruf, eine mit allen Wassern gewaschene Poker-Spielerin zu sein. Ihrem ausdruckslosen und maskenhaften Gesicht, so überlegte Kitz, ließ sich bestimmt nicht ansehen, wann sie bluffte. »Das dachte ich damals auch«, erklärte die Kriegerin und drehte sich um, als Kitz auf der Kante des schmalen Bettes Platz nahm. »Ich erfuhr erst Jahre später, daß Schwester Wellwa eine Magierin war.« »Sie war eine Nonne?« fragte Kitz überrascht. Sternenfalke dachte einige Sekunden lang über ihre Antwort nach, so als müsse sie sich jedes einzelne Wort genau überlegen. Dann nickte sie. »Das Dorf, in dem ich aufwuchs, befand sich in unmittelbarer Nähe des im Westen gelegenen Klosters von St. Che rybi. Schwester Wellwa war die älteste Nonne. Ich habe sie damals 15
jeden Tag gesehen, wenn sie den Weg vor dem Kloster mit ihrem aus einzelnen Zweigen bestehenden Besen fegte. Aber wie ich eben schon sagte: Zu jenem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, daß sie die magischen Künste kannte.« »Wie hast du das herausgefunden?« fragte Kitz. »Hat sie es dir gesagt?« »Nein.« Sternenfalke ließ sich auf einen Stuhl sinken. Wie alle anderen Einrichtungsgegenstände in dem Zelt war er recht einfach und schlicht und ließ sich rasch verstauen. »Das Land jenseits der Dorfgrenzen war ziemlich unwegsam… Ich weiß nicht, ob du den Westen kennst. Es ist ein recht felsiges und nur dünn bewachsenes Gebiet, das zu den Meeresklippen hin ansteigt. Ein Land, in dem das Leben ziemlich hart und voller Gefahren ist. Eines Tages ging ich in einen nahen Wald, um Beeren zu sammeln oder irgendeine andere Torheit zu begehen. Nun, jedenfalls verließ ich das Dorf ohne Er laubnis. Vielleicht wollte ich damals nur von meinen Brüdern in Ruhe gelassen werden – ich weiß es nicht mehr. Wie dem auch sei: Ich ging in den Wald – und dort begegnete ich einem Nuuwa.« Kitz schauderte. Sie hatte schon einige Nuuwa gesehen, tot oder aus der Ferne. Sternenfalke beobachtete das junge Mädchen und fragte sich, ob es auch schon einmal die Opfer eines Nuuwa betrach tet hatte. »Ich floh«, fuhr die Krieger in mit ruhiger Stimme fort. »Ich war damals noch sehr jung, und ich hatte noch nie einen Nuuwa gesehen. Ich dachte, daß er mir nicht folgen kann, weil er keine Augen hat. Vielleicht hielt ich ihn zunächst für einen blinden Mann. Aber der Nuuwa kam hinter mir her, und er grollte und knurrte und bahnte sich wie ein Berserker einen Weg durch das Unterholz. Ich sah mich nicht ein einziges Mal um, aber ich konnte ihn dicht hinter mir hö ren, und ich begriff, daß er immer näher herankam. Ich lief an den Felsen entlang, den Hügel hinauf in Richtung des Klosters. Und Schwester Wellwa war draußen und fegte wie üblich den Weg. Sie sah mich und den Nuuwa, und sie hob die eine Hand, und… Und es war, als ströme Feuer aus ihren Fingern – eine rotblaue Flammen zunge, die nach dem Kopf des Nuuwa leckte. Anschließend nahm sie mich in die Arme, und wir liefen durch die Tür und schlossen und verriegelten sie hinter uns. Später fanden wir einige Stellen, an denen der Nuuwa versucht hatte, sich durch das Holz zu nagen.« Die Kriegerin schwieg. Wenn sich bei diesen Erinnerungen das alte Entsetzen erneut in ihr rührte, so zeichnete sich nichts davon in 16
ihren feinen und charismatischen Zügen ab. Kitz hingegen zitterte vor Schrecken, und sie stöhnte leise. »Es war das einzige Mal, daß ich Zeuge wurde, wie sie Magie einsetzte«, fügte Sternenfalke kurz darauf hinzu. »Als ich sie später danach fragte, meinte sie, sie habe mich nur gepackt und ins Kloster gebracht.« Kitz hielt das Glas, aus dem sie noch keinen Schluck getrunken hatte, fest in der Hand, und über den Rand hinweg beobachtete sie die ältere Frau. Einige Gerüchte behaupteten, Falke sei selbst einmal eine Nonne gewesen, bevor sie sich dazu entschlossen habe, das Kloster zu verlassen und sich der Streitmacht Sonnenwolfs anzu schließen. Zwar hatte Kitz das bisher nicht für möglich gehalten, doch einige Aspekte der gerade gehörten Geschichte machten sie in dieser Hinsicht recht nachdenklich. Die Persönlichkeit Sternenfalkes wies sowohl einige asketische als auch mystische Elemente auf. Kitz wußte, daß die Kriegerin täglich meditierte, und ihr Zelt war ebenso karg eingerichtet wie ein Klosterzimmer. Sternenfalke hatte sich mehrmals als kaltblütige und gnadenlose Kämpferin bewiesen, hielt jedoch nichts von unsinnigen Brutalitäten. Letzteres, so überlegte das junge Mädchen, traf allerdings auf die meisten Frauen in der Streit macht des Wolfes zu. Kitz war sehr versucht, Sternenfalke eine entsprechende Frage zu stellen, doch die Kriegerin war keine Frau, die ohne Grund persönli che Geheimnisse preisgab. Außerdem fiel dem jungen Mädchen kein Grund dafür ein, warum jemand den Schutz und die Bequemlichkeit eines Klosters für das anstrengende und gefährliche Leben als Kämpferin aufgeben sollte. So fragte sie statt dessen: »Warum log sie?« »Das mag allein die Mutter wissen. Sie war damals schon sehr alt. Rund ein Jahr später starb sie, und ich glaube, die anderen Non nen im Kloster ahnten nichts von ihrer wahren Identität.« Die Finger des jungen Mädchens strichen über den Rand des Glases, und in dem matten und goldenen Licht blitzten die Diaman ten der Ringe wie kleine Tränen. Irgendwo ganz in der Nähe, in einem anderen Zelt, stimmten einige Betrunkene grölend ein Lied an: »In Kedwyr, tief in einem Keller, Vor mehr als hundert langen Jahren Da lebte ein Mädchen namens Sella… « 17
»Ich habe oft über Zauberer nachgedacht«, sagte Kitz leise. »Wa rum ist von allen Magiern nur Altiokis übriggeblieben? Warum ist er nicht längst gestorben? Was geschah mit all den anderen?« Sternenfalke zuckte mit den Schultern. »Das weiß nur die Mut ter«, wiederholte sie. Wie immer war ihr Gesicht bar jeden Aus drucks. Sie gab durch nichts zu erkennen, ob sie sich diese Frage ebenfalls schon einmal gestellt hatte. Sie klopfte auf das Paket Kar ten. »Wie wär's mit einem Spielchen?« Trotz ihrer überlangen und lackierten Fingernägel erwies sich Kitz beim Mischen der Karten als recht geschickt. Als sie vor zwei Jahren als erschrockene sechzehnjährige Jungfrau an Sonnenwolf verkauft worden war, hatte sie als eins der ersten Dinge den Umgang mit Karten gelernt. Es war ihr auch gar nichts anderes übriggeblie ben, denn Sonnenwolf und Sternenfalke zeichneten sich in dieser Hinsicht durch ein enormes Talent aus. Sternenfalke beobachtete das junge Mädchen und dachte daran, wie fehl am Platz es an einem solchen Ort war. Kitz – sie hatte die sen Namen sicher erst bekommen, nachdem sie in den Mittleren Königreichen auf dem Weg von dem Heim ihrer Familie nach einer Mädchenschule in Kwest Mralwe geraubt worden war – gehörte ganz offensichtlich zu einer anderen Welt, in der es auf Anmut und Eleganz ankam. Die Kleidung und der Schmuck, den sie bevorzugte, bewiesen einen erlesenen Geschmack. Sternenfalke hingegen war in einer sowohl ländlichen als auch asketisch-strengen Umgebung auf gewachsen. Während der letzten acht Jahre hatte sie an so vielen Schlachten und Plünderungen teilgenommen, daß sie sehr wohl um den Unterschied zwischen wirklicher Qualität und neureichem Flitter wußte. Alles an dem jungen Mädchen bewies eine anspruchsvolle und wählerische Natur, und gleichzeitig hatte es sich schon mehrfach als sehr anpassungsfähig herausgestellt: Kitz fühlte sich in dem klosterhaft bescheidenen Heim Sternenfalkes ebenso zu Hause wie in dem eher barbarischen Luxus des Anführers. Falke fragte sich, was Kitz gewesen sein mochte. Die Tochter ei nes Edelmannes? Die eines reichen Handelsherrn? Die weißen und so zarten Hände, nun von kostbaren Ringen geschmückt: Bestimmt hatten sie niemals harte Arbeit verrichten müssen. Das Lieblichste, was man sich mit Geld kaufen kann, dachte die Kriegerin und ver spürte eine gewisse mitleidige Verbitterung um des jungen Mäd 18
chens willen. Ob sie nun veräußert werden wollte oder nicht… Kitz teilte die Karten nicht aus, sondern ließ sie sinken. Ihr Ge sicht wirkte plötzlich sehr müde und besorgt. »Was wird aus ihm werden, Falke?« fragte sie leise. Die Kriegerin zuckte mit den Schultern und verstand die Worte des Mädchens absichtlich falsch. »Ich glaube, unser Anführer ist nicht so dumm, sich auf etwas einzulassen, was mit Magie zu tun hat«, entgegnete sie, und Kitz schüttelte den Kopf. »Das meinte ich nicht«, sagte sie. »Wenn er so weitermacht wie jetzt, wird er irgendwann einmal Pech haben. Es heißt, er sei der Beste – aber er ist auch schon rund vierzig Jahre alt. Wird er weiter hin jeden Sommer mit seiner Streitmacht in den Krieg ziehen und im Winter in Wrynde lagern – bis er eines Tages nicht mehr flink genug ist, der Streitaxt eines Feindes auszuweichen? Wenn der Feind, der sich irgendwann als stärker erweisen wird, nicht Altiokis heißt, wie dann?« Sternenfalke mied den Blick der plötzlich funkelnden Augen. Ziemlich barsch erwiderte sie: »Ach, er wird vermutlich eine Stadt erobern, ein Vermögen machen und im hohen Alter von neunzig Jahren als stinkreicher Greis das Zeitliche segnen. Um das Wohler gehen Sonnenwolfs brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu ma chen.« Kitz lachte unsicher bei diesen Worten, und anschließend spra chen sie über andere Dinge. Doch während des Kartenspiels wünsch te sich Sternenfalke, das junge Mädchen hätte sie nicht auf diese Weise an ihre eigenen dunklen Vorahnungen erinnert. Sonnenwolf fühlte die späte Besucherin schon kommen, noch bevor er ihre Schritte hörte. Er richtete den Blick auf die Zugangs plane des Zeltes, und kurz darauf wurde sie zur Seite geschoben. Die Frau trat ein, begleitet von dem herben Duft des nächtlichen Meeres. Die Öllampen befanden sich hinter ihm. Ihr Licht zerstob in sei nem dünner werdenden und staubfarbenen Haar und schien sein Gesicht mit einer goldenen Aureole zu umrahmen. Auf diese Weise sah er fast tatsächlich wie ein Sonnenwolf aus, wie einer der großen und sehr gefährlichen Jäger, die die Steppen im Osten durchstreiften. Die Frau schlug die Kapuze zurück. »Sheera Galernas?« fragte Wolf leise. »Kommandeur Sonnenwolf?« Er bedeutete ihr, ihm gegenüber auf einem Stuhl Platz zu neh men. Die Besucherin war jünger, als er gedacht hatte, höchstens 19
fünfundzwanzig. Das lockige schwarze Haar fiel ihr bis auf die Schultern, und ihr Gesicht kam einem gestreckten Oval gleich: oben breite und doch zarte Jochbeine, unten ein hervorspringendes Kinn. Die vollen Lippen, die nach den Mundwinkeln hin nur unwesentlich dünner wurden, erschienen ihm sinnlich und waren so dunkel wie der Bodensatz von Wein. Die tief in den Höhlen liegenden Augen schienen sich durch einen ähnlichen Farbton auszuzeichnen, und unter ihnen zeigten sich dunkle Ringe, die auf einige schlaflose Nächte hindeuteten. Für eine Frau war die Besucherin recht groß und ihre Statur – soweit Sonnenwolf sie aufgrund des weiten Umhangs beurteilen konnte – schien die Qualitäten aufzuweisen, die er bevor zugte. Eine Zeitlang schwiegen sie. Dann sagte Sheera: »Nach dem, was ich von dir hörte, habe ich mir dich anders vorgestellt.« »Das ist nicht meine Schuld.« Wolf trug eine Kniehose, einen braunen Samtwams und darüber eine leichte Jacke. Als er die Arme auf der Brust verschränkte, sahen die lohfarbenen Härchen auf sei nen Handrücken wie winzige Flammen aus. Sheera verlagerte ihr Gesicht ein wenig und beobachtete ihn aufmerksam. Sonnenwolf fragte sich, wie es sein mochte, mit dieser Frau das nächtliche Lager zu teilen – und ob es die Mühe wert war, in dieser Hinsicht einen Versuch zu wagen. »Ich habe einen Vor schlag zu machen«, sagte die Besucherin, und ihre Augen hielten seinen Blick fest, wollten ihn dazu zwingen, sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren und nicht auf den Körper. »Die meisten Frauen kommen mit ganz bestimmten Absichten zu mir.« Die sich über die Jochbeine spannende Haut der jungen Frau ver färbte sich etwas und nahm einen rötlichen Schimmer an. Sheera holte Luft, so als wolle sie zu einer längeren Ansprache ansetzen. Doch sie meinte nur: »Was würdest du sagen, wenn ich dir zehntau send Goldstücke dafür biete, daß du mit deinen Truppen nach Mandrigin kommst und dort einen Auftrag von mir durchführst?« Sonnenwolf zuckte mit den Schultern. »Nein.« Überrascht hob Sheera den Kopf. »Trotz einer so hohen Sum me?« Sie war tatsächlich astronomisch: Fünftausend Goldstücke hätten ausgereicht, um die Streitmacht des Wolfs einen Sommer lang zu bezahlen – und ein derartiges Angebot wäre noch immer recht großzügig gewesen. Er fragte sich, woher sie ein solches Vermögen nehmen wollte – vorausgesetzt, sie hatte wirklich die Absicht, ihn zu 20
bezahlen. Die Höhe der Summe weckte eine gewisse Skepsis in ihm. »Nicht einmal für fünfzigtausend wäre ich bereit, gegen Altiokis in den Kampf zu ziehen«, entgegnete Sonnenwolf ruhig. »Und au ßerdem: Ich würde in dieser Beziehung niemals etwas auf das Wort eines Weibsbildes geben, das zudem noch aus einer eroberten Stadt kommt – ganz gleich, ob ein Zauberer mit im Spiel ist oder nicht.« Seine Worte erzielten die beabsichtigte Wirkung: Sheera geriet aus der Fassung. Der rötliche Schimmer in ihrem Gesicht verstärkte sich: Sie war zornig, denn bisher hatten es nur sehr wenige Männer gewagt, so mit ihr zu sprechen. Ihre Stimme vibrierte ein wenig, als sie zurückgab: »Hast du Angst?« »Wenn die Gefahr besteht, daß mir jemand das Hirn durch die Augenhöhlen aus dem Schädel zieht, so mache ich mir tatsächlich Sorgen. Für keinen noch so hohen Sold wäre ich bereit, gegen Altio kis zu kämpfen.« »Ist der Grund für deine Weigerung vielleicht die Tatsache, daß du lieber mit einem Mann verhandelst?« Ihre Worte kamen einem scharfen und spitzen Vorwurf gleich, doch Sonnwolf dachte ernsthaft über diese Frage nach. Nach einigen Sekunden erwiderte er: »Ja, damit hast du tatsächlich recht.« Mit einer raschen Geste bedeutete er der Besucherin zu schweigen. »Ich weiß, welchen Rang Frauen in Mandrigin einnehmen. Ich weiß, daß man dort Frauen kein ordentliches Amt gibt und sie auch nicht mit einem solchen Auftrag auf die Reise schicken würde. Wenn du wirk lich aus Mandrigin kommst, so müßte dir das ebenfalls klar sein.« Sheera senkte den Kopf. Ihr Atem war ein gedämpftes und zorni ges Zischen, aber sie leugnete die Worte des Wolfs nicht. »Ich schließe also, daß du aus eigenem Antrieb gekommen bist«, fuhr er fort. »Zehntausend Goldstücke wären selbst für eine reiche Stadt eine enorme Summe, aber in diesem Fall müßte sie von Kauf leuten und Händlern aufgebracht werden, die nach der Eroberung Mandrigins durch Altiokis sicher viele Strafsteuern für den Wider stand bezahlen mußten – wenn sie ihre Habe nicht schon zuvor in Sicherheit brachten. Darüber hinaus weiß ich, daß Frauen in der Regel durchtrieben und heimtückisch sind…« Sheera konnte sich nicht länger beherrschen. »Man sollte dir die Augen auskratzen, du…« Sonnenwolf hob erneut die Hand und unterbrach sie. »Frauen haben gute Gründe dafür, nicht den offenen und direkten Kampf zu suchen, und dafür kann ich auch Verständnis aufbringen. 21
Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß ich nicht bereit bin, einer verzweifelten Frau, die zu allem fähig ist, zu vertrauen.« »Du hast recht«, erwiderte die Besucherin leise. Als sie ihn an sah, glitzerte es in ihren Augen, und der Blick schien mit einer gera dezu unheimlichen Intensität bis in das Innerste Sonnenwolfs zu reichen. Sheeras Stimme klang gefährlich ruhig, als sie fortfuhr: »Wir würden alles tun, um unsere Heimat zu retten. Aber ich glaube, du kannst dir nicht einmal vorstellen, was es bedeutet, die Stadt zu lieben, in der man zu Hause ist, stolz auf sie zu sein, die Bereitschaft mitzubringen, sie mit dem Leben zu verteidigen – und gleichzeitig nicht die Erlaubnis zu haben, eine aktive Rolle in der Regierung zu spielen. Nach den Verhaltensregeln ist es uns sogar verboten, nur über Politik zu sprechen. Bei allen Heiligen: Wir dürfen nicht einmal unverschleiert in den Straßen wandeln! Hilflos mußten wir mit anse hen, wie unsere prächtige Stadt durch die Intrigen zwischen den einzelnen Machtgruppen dem Feind ausgeliefert und schließlich von Altiokis erobert wurde. Alle Männer, die mutig und entschlossen genug waren, zu den Waffen zu greifen, wurden in Ketten gelegt und fortgeschafft, während die Schlauen, Käuflichen und Habsüchtigen noch fetter und reicher wurden… Willst du wissen, warum heute abend kein Mann kam, um mit dir zu verhandeln, Kommandeur? Seit Jahrhunderten schon hat es Altiokis auf Mandrigin abgese hen. Er hat sich das Thaneland unterworfen und beherrscht inzwi schen auch die Clans im Südosten. Wie eine Kröte sitzt er auf den großen, nach Osten führenden Handelsstraßen. Aber noch ist er vom Meer abgeschnitten. Mandrigin stellt für ihn einen Zugang zum Me gantischen Ozean dar. Wir haben ihm gegenüber Handelszugeständ nisse gemacht und wollten die Gefahr nicht sehen, die sich in Form von Übergriffen und Provokationen in den Grenzbereichen ankün digte. Du weißt sicher, daß Altiokis niemals genug hat. Seine Mittelsleute sorgten für Unruhen in der Stadt, für zuneh mende Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Machtgrup pen; sie erweckten Zweifel an der rechtmäßigen Thronfolge des Prinzen Tarrin. Sie schürten Zwistigkeiten im Parlament. Und als sich die Kräfte der Stadt infolge der inneren Kämpfe nahezu er schöpft hatten, marschierten Altiokis und seine Armeen durch den Eisernen Paß. Tarrin führte die Männer Mandrigins gegen den Feind in die Schlacht, tief in den Tchard-Bergen. Am nächsten Tag zogen Altiokis und seine Truppen in die Stadt.« 22
Sheeras Blick reichte kurz in die Ferne, und in den braunen Au gen der jungen Frau entstand ein seltsames, bernsteinfarbenes Leuchten. »Tarrin lebt noch. Ich weiß es.« »Wieso bist du dir da so sicher?« »Er ist mein Geliebter.« »In meinem Leben hatte ich mehr Frauen als Stiefelpaare«, sagte Sonnenwolf müde. »Aber ich könnte beim besten Willen nicht sa gen, was aus ihnen geworden ist.« »Das ist deine Sache«, gab Sheera kühl zurück. »Nun, Altiokis machte die Männer von Mandrigin zu Sklaven und läßt sie in den Minen unter den Tchard-Bergen für sich arbeiten. Die Stollen der Bergwerke Altiokis' sind viele Kilometer lang, und niemand weiß, wie tief sie in die Erde hineinreichen oder wie viele Sklaven dort unten für ihn Frondienste verrichten. Die… Mädchen aus der Stadt begeben sich manchmal an jenen Ort, um… Geschäfte mit den Auf sehern zu machen. Eine dieser jungen Frauen berichtete mir davon, Tarrin gesehen zu haben.« Die Züge Sheeras veränderten sich plötz lich, und das Gesicht drückte sowohl Sehnsucht als auch wütende Entschlossenheit aus. »Erlebt.« »Wir brauchen wohl nicht die Frage zu klären, unter welchen Umständen das betreffende Mädchen deinen Prinzen sah«, bemerkte Sonnenwolf, und zufrieden stellte er fest, wie Sheera darauf wieder mit direkt gegen ihn gerichtetem Zorn reagierte. »Ich möchte ganz sicher sein: Du bittest mich darum, ihn mit meiner Streitmacht aus den Bergwerken Altiokis' zu befreien?« Sheera zitterte fast vor Wut, und es fiel ihr offenbar schwer, nicht laut zu schreien. »Ja. Nicht nur Tarrin, sondern auch alle anderen Männer Mandrigins.« »Auf daß sie die Berge verlassen, in die Stadt zurückkehren und dort ein glückliches Leben führen können?« »Ja.« Die Besucherin beugte sich ein wenig vor. Ihre Augen blitzten, und der Umhang öffnete sich vorn und enthüllte die dunkle, purpurne Seide ihres teuren Gewandes, das mit Dutzenden von opalen Perlen verziert war, die wie Tautropfen wirkten. »Es kam deshalb kein Mann mit diesem Vorschlag zu dir, weil sie alle gefan gen sind. Die einzigen Bewohner männlichen Geschlechts, die es noch in Mandrigin gibt, sind entweder alte Krüppel oder kleine Jun gen und Sklaven. Und natürlich diejenigen, die ihr Fähnchen immer in den Wind halten, die Feiglinge, die jedem neuen Herrn nach dem Munde reden und ihre eigenen Kinder verkaufen würden, auf daß sie 23
den Hunden Altiokis' zum Fraß vorgeworfen werden – wäre der Lohn auch nur ein wenig mehr Macht. Wir haben das Geld gesam melt, das ich dir anbot, wir Frauen von Mandrigin. Wir bezahlen dir jede Summe, die du verlangst. Es ist die einzige Hoffnung für unsere Stadt.« Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme lauter und klang so drängend und eindrucksvoll wie die Musik eines Kriegstanzes. Son nenwolf lehnte sich zurück und musterte die Besucherin nachdenk lich. Er betrachtete das ganz offensichtlich sehr kostbare Gewand Sheeras, die schmalen und weißen Hände, die noch niemals harte Arbeit verrichtet hatten. Angenommen, nach der Eroberung der Stadt war es zu keinen Plünderungen und Brandschatzungen gekommen – was Altiokis den Vorteil gab, sie weiterhin als einen Stützpunkt und den Hafen als Zugang zu den Meeresstraßen zu benutzen. Der Kommandeur kannte die Art von Bürgern, die andere Leute bezahl ten, damit sie für ihre Interessen kämpften, aber bisher hatte er sich noch nie über die Stärke oder Beweggründe ihrer Frauen Gedanken gemacht. Vielleicht, so fuhr es ihm durch den Sinn, ist es ihnen tat sächlich gelungen, eine so große Summe aufzutreiben. Goldene Ohrringe, andere Schmuckteile aus den einzelnen Häusern und Fa milien, Geld, das sie ihren Ehemännern gestohlen hatten, die zu feige und zu ängstlich waren, um selbst in den Krieg zu ziehen. Möglich, ja. Aber wenig wahrscheinlich. »Zehntausend Goldstücke – das ist das Lösegeld für einen Kö nig«, meinte er. »Wir wollen damit die Freiheit unserer Heimatstadt kaufen!« er widerte Sheera leidenschaftlich. Sternenfalke hat recht, dachte Sonnenwolf. Man muß nicht unbe dingt religiös verklärt sein, um zu einem Fanatiker zu werden. »Es geht mir gar nicht in erster Linie um den Sold für mich und meine Leute«, gab der Kommandant ruhig zurück. »Ich würde sie nicht gegen Altiokis in die Schlacht – und damit in den sicheren Tod – schicken, und sie wären auch nicht dazu bereit, einen entsprechen den Befehl zu befolgen. Hinzu kommt: Es ist schon Herbst, und in einigen Tagen werden die Stürme beginnen. Über Land und durch die Berge ist es ein weiter Weg bis nach Mandrigin.« »Ich habe ein Schiff«, sagte Sheera rasch. »Um diese Jahreszeit wäre jede Reise übers Meer ein Abenteuer. Nein, ich bin mir zu schade, um als Futter für die Fische zu enden. Wir brauchen noch einige Tage, um hier Ordnung zu schaffen, und 24
dann dürften wir es mit den ersten Kältestürmen zu tun bekommen. Ich gehe nicht das Risiko eines Winterkrieges ein. Nicht gegen Alti okis. Nicht in den Tchard-Bergen.« »An Bord meines Schiffes wartet eine Frau, die über das Wetter zu gebieten vermag«, drängte Sheera. »Es wird kein Sturm aufkom men, bis wir in den Hafen einlaufen.« »Eine Magierin?« knurrte Sonnenwolf. »Mach dich doch nicht lächerlich. Abgesehen von Altiokis gibt es keine Zauberer mehr. Und selbst wenn du die Wahrheit sagst: Mit einer solchen Person will ich nichts zu tun haben. Ich werde mich auf keinen Fall in einen Krieg zwischen Magiern einlassen. Nun«, fügte Sonnenwolf hinzu, und seine Stimme klang dabei scharf und unnachgiebig, »wie dem auch sei: Ich bin an deinem Angebot nicht interessiert. Ich habe nicht die Absicht, mit zehntau send Goldstücken die Särge für meine Kämpfer zu bezahlen. Und auf ihren Tod liefe die ganze Sache hinaus, wenn wir gegen Altiokis anträten, ob im Sommer oder im Winter, ob in den Bergen oder in der Ebene. Das Mädchen, das du vorhin erwähntest, mag Tarrin wirklich lebend gesehen haben, aber ich wette deine zehntausend Goldstücke gegen eine Kupfermünze, daß seine Seele nicht mehr ihm selbst gehörte. Mehr als eine verdammte Kupfermünze wäre mein Leben auch nicht wert, wenn ich mich dazu überreden ließe, deine Goldstücke anzunehmen.« Sheera sprang auf, und rote Flecken der Entrüstung zeigten sich in ihrem Gesicht. »Was verlangst du dann?« fragte sie dumpf. »Nenn mir deinen Preis. Du kannst mich haben – oder jede andere Frau in der Stadt, nach der dir der Sinn steht. Wie wär's mit Traumzucker? Wir könnten dir einen ganzen Scheffel davon geben. Sklaven? Die Stadt ist voll davon. Diamanten? Zwanzigtausend Goldstücke… « »Eine solche Summe könntest du nicht zusammenbringen, Frau«, erwiderte Sonnenwolf scharf. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du die zehntausend hast. Von Traumzucker halte ich überhaupt nichts. Und was dich selbst angeht… Eher würde ich mit einer giftigen Schlange ins Bett gehen.« Damit berührte er den wunden Punkt Sheeras, denn Männer hat ten ihr schon im zarten Alter von nur zwölf Jahren den Hof gemacht. Der Zorn jedoch, der tief in ihr wie ein heißes Feuer brannte, ließ es dem Kommandanten als angeraten erscheinen, die Finger von ihr zu lassen. Diese ganz besondere Wut war es, die ihn dazu veranlaßt hatte, jene Worte zu formulieren, die wie eine Beleidigung klingen 25
mochten, tatsächlich aber der Wahrheit entsprachen. Sheera war eine sehr gefährliche, leidenschaftliche, intelligente und mitleidslose Frau – eine Frau, die Monate oder gar Jahre auf ihre Rache warten konnte. Sonnenwolf stand nicht auf, doch er schätzte rasch die Entfernung zwischen ihnen ab – für den Fall, daß sie sich zu einem Angriff auf ihn entschloß. Plötzlich seufzte ein kalter und rußiger Windhauch durch das Zelt, und Sheera wirbelte um die eigene Achse, als Sternenfalke in den Eingang trat. Einige Sekunden lang starrten sich die beiden Frauen stumm an – die eine in ein purpurnes und mit dunklen Opalen verziertes Gewand gekleidet, das Gesicht verzerrt und doch wunder bar schön und erhaben, die andere eine Kriegerin mit maskenhafter und völlig ausdrucksloser Miene, in einen Wams gehüllt, wie er sonst nur von Männern getragen wurde, einen Wams, der die breiten Schultern und schmalen Hüften betonte. Die Ärmel Sternfalkes wa ren hochgerollt und offenbarten Unterarme, die fast ebenso muskulös waren wie die eines Mannes und auf denen sich Dutzende von rosa farbenen Narben zeigten. Schweigend musterten sich die beiden so unterschiedlichen Ges talten. Dann schob sich Sheera ruckartig an Sternenfalke vorbei, duckte sich unter der Plane hinweg und verschwand in der Nacht. Falke sah ihr einige Momente lang ruhig nach. Anschließend wandte sie sich dem Kommandeur zu, der nach wie vor auf seinem Feldstuhl saß. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und der Blick seiner fuchsgelben Augen wirkte recht nachdenklich. Nach einer Weile seufzte er und entspannte sich. Die Plane raschelte er neut, und Kitz kam herein. Das dunkle Haar reichte ihr in langen Strähnen bis auf die Schultern und den schmalen Rücken. Sonnenwolf erhob sich und beantwortete die unausgesprochene Frage seines Leutnants, indem er den Kopf schüttelte. »Mögen die Geister der Vorfahren dem armen Kerl helfen«, sagte er leise, »der es mit ihr zu tun bekommt.«
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2. Kapitel Der Sonnenschein funkelte einer dicken und bernsteinfarbenen Harzschicht gleich auf der Fläche des Konferenztisches, schien an den dünnen Messingfäden der Verzierungen regelrecht zu entflam men. Draußen kündete der Herbst kalt und frostig seinen unerbittli chen Nachfolger, den Winter, an. Aber im Zimmer war es zu warm. Die Räte von Kedwyr – wegen des offiziellen Anlasses hatten sie die gepolsterten Jacken aus schwarzer und besonders dicker und dichter Wolle geschlossen – schwitzten in dem hellen Licht, das durch die großen Erkerfenster glänzte. Sonnenwolf saß am einen Ende des Tisches, zwischen dem Hauptmann der Miliz und dem Kommandeur der Stadthüter. Er hatte die Hände gefaltet, und das Sonnenlicht spiegelte sich gleißend auf den Messingspangen seines Wamses. Wolf wartete darauf, daß der Vorsitzende des Rates versuchte, sich irgendwie aus dem Vertrag herauszuwinden und eine Möglichkeit zu finden, seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen. Sowohl Hauptmann Gobaris als auch der Stadtkommandeur Breg hatten ihn gewarnt. Sie kämpften in erster Linie deshalb für Kedwyr, weil sie sich durch eine gewisse Tradition dazu verpflichtet fühlten, aber mit der Bezahlung ihrer Dienste hatten sie mehrfach Enttäu schungen erlebt. Der Vorsitzende des Rates eröffnete die Sitzung mit einer gut einstudierten Rede, die die Verdienste des Sonnenwolfs rühmte, und anschließend gab er, nur sehr knapp, seinem Bedauern darüber Aus druck, daß es überhaupt notwendig gewesen war, gegen einen so kleinen Nachbarn wie Melplith zu Felde zu ziehen. Er erwähnte die Mühsal, die sie alle hatten ertragen müssen, und Sonnenwolf, der die einzelnen Räte beobachtete, ihre rosafarbenen und schweißfeuchten Gesichter, die aufgedunsenen Wangen und die Bäuche, die sich unter den Jacken abzeichneten, fragte sich, ob diese Männer ebenfalls die stinkenden und halb verrotteten Rationen verspeist hatten, mit denen sich die Soldaten begnügen mußten. Der Vorsitzende war ein recht großer und eindrucksvoller Mann, der wie ein in die Jahre gekom mener und dick gewordener Athlet aussah. Er beendete die wortge waltige Einleitung und wandte sich dem neben ihm sitzenden Beam ten zu, der fast wie ein Frettchen aussah. »Kommen wir nun auf den Punkt der Bezahlung zu sprechen. Wenn ich mich recht erinnere, beläuft sich die Summe, die wir Kommandeur Sonnenwolf und sei 27
nen Männern versprachen, auf dreitausendfünfhundert Goldstücke oder den entsprechenden Gegenwert, nicht wahr?« Der Buchhalter nickte bestätigend und blickte auf das große ent rollte Pergament, das er mit seinen weißlichen Händen festhielt. »In der Währung von Kedwyr… « setzte der Vorsitzende an, doch Sonnenwolf unterbrach ihn mit dumpfer und ganz ruhiger Stimme. »Das Wort ›Gegenwert‹ ist in meiner Vertragskopie nicht enthal ten.« Er griff in den an seinem Gürtel hängenden Beutel und holte ei nen mehrmals gefalteten Bogen hervor. Er breitete das Dokument langsam auf dem Tisch aus, und aus den Augenwinkeln sah er, wie die Räte betretene Blicke wechselten. Offenbar hatten sie nicht ge wußt, daß er lesen konnte. Das Lächeln des Vorsitzenden wuchs in die Breite. »Nun, natür lich wissen wir beide, wie… « »Ich weiß nur, was hier geschrieben steht«, sagte Sonnenwolf, und nach wie vor sprach er in einem gelassenen Tonfall. »Wenn ich ›Gold oder Gegenwert‹ gemeint hätte, so wäre das auch in den Ver tragstext aufgenommen worden. Hier steht aber eindeutig ›Gold‹. Und nach den allgemeinen Gesetzen wird der Goldwert nach dem Metallgewicht bestimmt und nicht auf der Grundlage einer speziellen Währung.« Peinliches Schweigen trat ein, und Hauptmann Gobaris von der Miliz stützte das Kinn auf die Hand, so daß die Finger das Grinsen in seinem rundlichen und grobknochigen Gesicht verbargen. Der Vorsitzende gab sich alle Mühe, möglichst freundlich und gewinnend zu lächeln. »Es ist mir ein Vergnügen, mit einem wirk lich gebildeten Mann zu verhandeln, Kommandeur Sonnenwolf«, sagte er und erweckte dabei den Eindruck, als würde er sich noch weitaus mehr freuen, wenn er dafür sorgen könnte, daß der Anführer der Söldner im nächsten Augenblick vom Schlag getroffen werde. »Doch als der gebildete Mann, der Ihr seid, solltet Ihr auch einsehen, daß aufgrund der derzeit auf der Halbinsel herrschenden Lage ein gewisser Mangel an direkten Goldgewichten besteht. Bevor wir unsere Vorräte an von Euch gewünschten Goldstücken auf das eben erwähnte Maß aufstocken können, müssen wir zunächst einmal das Gleichgewicht zwischen Import und Export wiederherstellen.« »Der Vertrag«, erinnerte ihn Sonnenwolf höflich, »wurde vor sechs Monaten abgeschlossen, bevor es zu der gegenwärtigen Beein 28
trächtigung des Handels kam.« »Da habt Ihr völlig recht, und ich versichere Euch, daß unter normalen Umständen unsere finanziellen Mittel an Goldgewichten völlig ausreichen würden, um Euch den Sold zukommen zu lassen. Leider jedoch ist es zu einigen Zwischenfällen gekommen, die wir nicht vorhersehen konnten. Infolge des Brandes der Lagergebäude am Seidenpier und der Tatsache, daß aufgrund der zurückliegenden Unwetter ein großer Teil der Zitronenschößlinge eingingen, mußten wir Geld freimachen, das zuvor für den Krieg eingeplant war.« Sonnenwolf hob den Kopf. Die Decke des Ratssaales war gerade neu vergoldet worden. Er hatte die Arbeiter selbst dabei beobachtet, an einem Nachmittag, als er an diesem Ort anderthalb Stunden ver geblich auf den Vorsitzenden gewartet hatte, um ihn wegen der ver dorbenen Rationen für die Soldaten zur Rede zu stellen. Eine derartige Vergoldung war alles andere als billig. Der Vorsitzende beugte sich ein wenig nach vorn, und als er fort fuhr, sprach er in dem gedämpften und optimistischen Tonfall, von dem der Hauptmann der Miliz behauptet hatte, er leite das letzte Stadium ein: »Wir sollten trotzdem dazu in der Lage sein, die ver einbarte Summe in Goldmünzen zu bezahlen, in vier Wochen, wenn die Bernsteinkarawanen aus den Bergen zurückkommen. Wenn Ihr bereit seid, Euch bis dahin zu gedulden, so können wir alles zu Eurer vollsten Zufriedenheit regeln.« Allerdings kann es nicht in unserer Absicht liegen, den ganzen Winter über hier auf dieser Halbinsel festzusitzen, dachte Sonnen wolf. Wenn man sie sofort bezahlte und sie gegen Ende der Woche aufbrachen, schafften sie es vielleicht noch über den Gniss-Strom, der die Halbinsel von dem bergigen Ödland weiter im Norden trenn te, bevor er durch die starken Regenfälle anschwoll und damit un passierbar wurde. Wenn sie vier Wochen warteten, mochte der Was serstand des Flusses in der Schlucht zehn Meter höher sein als der zeit, und dann erwarteten sie in den Silberbergen Schnee und Eis – ganz zu schweigen von den Stürmen. Wenn sie vier Wochen an diesem Ort festsaßen, weil sie auf die Bezahlung warten mußten, würden einige Söldner den Rückweg ins Winterlager von Wrynde vermutlich nicht überleben. Der Kommandeur faltete die Hände und musterte den Vorsitzen den schweigend. Die Stille dauerte an, und es verstrich erst eine Minute, dann eine weitere. Natürlich würde man ihnen als nächstes anbieten, sich mit der lokalen Währung zufriedenzugeben – die be 29
stimmt zu einem überhöhten Wechselkurs mit dem Wert von Gold in Verbindung gebracht wurde. Mit Silbermünzen ließen sich nicht immer gute Geschäfte machen, und außerdem hieß es, daß der Ge halt an Silber derzeit nicht besonders hoch war. Sonnenwolf entschloß sich dazu, auch weiterhin zu schweigen, um die Räte ner vös zu machen und ihnen Gelegenheit zu geben, über die Gefähr lichkeit der Streitmacht nachzudenken, die an den Wällen Melpliths lagerte. Es war General Gradduck, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Kedwyrs – der Offizier, der behauptete, der Sieg über Melplith sei größtenteils sein Verdienst – , der schließlich das Wort ergriff. »Aber wenn Ihr Euch dazu entschließen könntet, die hiesige Währung an zunehmen… « setzte er an und sprach den Satz nicht zu Ende. Vielleicht erwarteten sie jetzt, daß der Wolf den Silbergehalt der Münzen zur Sprache brachte, der sich nur dann garantieren ließ, wenn jedes einzelne Metallstück überprüft wurde. Statt dessen je doch erwiderte er: »Ihr meint, Ihr wollt über die Vertragsbedingun gen neu verhandeln?« »Nun…« sagte der Vorsitzende und unterbrach sich verwirrt. »Der Vertrag verpflichtet Euch zur Zahlung von Gold«, fuhr Sonnenwolf fort. »Aber wenn Ihr mit neuen Verhandlungen begin nen wollt, so bin ich damit einverstanden. Soweit ich weiß, ist es auf dieser Halbinsel Brauch, in Fragen bezüglich des allgemeinen Han delns ein Konzil aus Repräsentanten der einzelnen Stadtstaaten ein zuberufen, das dann über den Gegenwert hiesiger Währungseinhei ten zu Goldgewichten entscheidet.« Der Vorsitzende wurde ein wenig blasser bei der Vorstellung, Abgesandte anderer Städte der Halbinsel könnten bestimmen, wie viel Geld er den Söldnern bezahlen mußte. In den anderen Siedlun gen herrschte infolge des Angriffs Kedwyrs auf Melplith bereits Krisenstimmung, und es gab dort sicher viele Leute, die sehr gern die Gelegenheit genutzt hätten, der Wirtschaft Kedwyrs auf diese Weise zu schaden. Außerdem wäre es möglich gewesen, daß sie Sonnenwolf einen Gefallen erwiesen, der als Teil der Bezahlung für spätere Dienste der Söldnerarmee aufgefaßt werden mochte. Ganz offensichtlich bedauerte der Vorsitzende, einen solchen Vorschlag gemacht zu haben. »Lieber Himmel!« stöhnte einer der Beiräte am Tisch. Der Vorsitzende mühte sich erneut ein Lächeln ab. »Solche Ver handlungen, Kommandeur, können natürlich einige Zeit dauern.« 30
Sonnenwolf nickte gelassen. »Ich weiß, was Ihr meint. Der Un terhalt meiner Truppen kostet Euch bereits eine Menge Geld. Natür lich könnte ich meine Leute in eine andere Stadt verlegen, zum Bei spiel nach Ciselfarge.« Während dieser letzten Auseinandersetzung, in der es in erster Linie um Bernsteinvorkommen und den Handel mit Seide ging, war es nicht ganz sicher gewesen, ob sich Kedwyr für einen Angriff auf Melplith oder aber Ciselfarge entscheiden würde. Sonnenwolf wußte in dieser Hinsicht Bescheid. Der Präsident war gerade von einem Besuch in der Nachbarstadt zurückgekehrt und hatte dem Prinzen von Ciselfarge ewigen Frieden und Freundschaft geschworen. An dernfalls hätte dieser Vorschlag des Kommandeurs eine unverblümte Drohung dargestellt. Der Vorsitzende verzog das Gesicht und meinte: »Ich bin sicher, es wird zu keiner längeren Verzögerung kommen.« Die Sonne glitt langsam übers Firmament, und ihr Licht wanderte über den Tisch, blitzte kurz in den Augen Sonnenwolfs, glänzte dann an der Wand hinter ihm. Die Verhandlungen zogen sich in die Län ge. Später eilten Bedienstete herbei und entzündeten Öllampen. Einmal verließ Sonnenwolf den Saal, trat auf den Platz vor dem Rathaus und sprach mit den Männern, die ihn in die Stadt begleitet hatten. Er gab vor, sich vergewissern zu wollen, daß sich die Söldner nicht in den nahen Schenken und Tavernen betranken, aber in Wirk lichkeit wollte er ihnen nur beweisen, daß er noch am Leben war. Fast alle Kämpfer Sonnenwolfs tranken nicht annähernd so viel, wie Uneingeweihte glauben mochten. Der Aufenthalt in der Stadt war ein Teil des Feldzuges und kein Vergnügen. Als der Wolf zum zweitenmal die breite Treppe hinabging, wur de er sowohl von dem dicken Hauptmann Gobaris von der Miliz als auch dem hageren und verbitterten Kommandeur Breg von den Stadthütern Kedwyrs begleitet. Der Hauptmann kicherte angesichts des ausgeprägten Unbehagens, mit dem die Räte auf die Hinweise des Söldnerführers reagiert hatten. »Als du meintest, das Geld müsse dir morgen zur Verfügung gestellt werden«, wandte er sich an Son nenwolf, »war ich ziemlich sicher, unser Vorsitzender würde einen Schlaganfall erleiden.« »Wenn ich seiner Bitte nachgeben und ihm eine Woche Zeit ge lassen hätte, wäre er dazu in der Lage gewesen, die Arbeiter in der Stadtmünze zu bestechen oder sonstwie unter Druck zu setzen«, erwiderte Wolf. »Er hätte den Silbergehalt der Münzen reduziert und 31
mich mit der Hälfte der versprochenen Summe bezahlt.« Der Befehlshaber der Stadthüter drehte kurz den Kopf und sah ihn aus seinen dunklen und glitzernden Augen an. »Auf diese Weise hat er uns im letzten Jahr betrogen, als der Stadtvertrag abgeschlos sen wurde«, sagte er. »Wir verpflichteten uns auf fünf Jahre für je weils sechzig Taler – als der Taler noch dem Vierzigstel eines Gold stücks entsprach. Innerhalb von zwei Monaten sank der Wert auf ein Fündundsechzigstel.« »Himmel, es gibt kaum eine Schandtat, die ich dem eingebildeten Mistkerl nicht zutrauen würde.« Gobaris lachte leise, als sie durch die große Doppeltür traten. Vor ihnen erstreckte sich der Rathaus platz als ein Mosaik aus Licht – inzwischen war der Mond aufge gangen – und Schatten. Am Rande glomm der goldene Schein der vielen Schenken. Der Wind trug den salzigen Duft des Meeres heran, und irgendwo erklang leise Musik. Das stimmt vermutlich, dachte Sonnenwolf und winkte seinen Männern zu. Das ist genau der Grund, warum ich nicht allein in die Stadt gekommen bin. Die anderen Söldner hatten vor den Eingängen der Tavernen auf ihn gewartet, und nun kamen sie heran. Gobaris strich sich über den vorwölbenden Bauch und schnupperte. »Der Winterregen läßt noch auf sich warten«, stellte er fest. »Eigentlich hätte es schon längst zu den ersten Wolkenbrüchen kommen müssen.« »Seltsam«, sagte Breg. »Am Meereshorizont waren jeden Tag hohe Wolkenberge zu sehen.« Undeutlich erinnerte sich Sonnenwolf daran, daß Sheera eine Person an Bord ihres Schiffes erwähnt hatte, die angeblich dazu in der Lage war, über das Wetter zu gebieten. Jemand, der mit Magie umzugehen versteht? fragte er sich. Unmöglich. Dann waren seine Männer um ihn und lächelten. Er hob den Daumen, um ihnen mitzu teilen, daß er einen Verhandlungserfolg errungen hatte. Einige der Söldner gratulierten ihm, andere machten ironische Bemerkungen und verspotteten die Räte Kedwyrs und ihren Vorsitzenden. Son nenwolf vergaß Sheera wieder, als Gobaris sagte: »Nun, diese Sache ist vorbei, ihr habt eure Arbeit verdammt gut gemacht. Der Feind hat kein besseres Schicksal verdient. Komm, Breg«, fügte er hinzu und stieß seinen nicht ganz so gut gelaunten Kollegen in die Seite. »Gibt es in dieser Stadt nicht irgendwo einen Ort, an dem man sich den fauligen Geschmack des Krieges mit süßem Wein aus dem Mund spülen kann?« 32
Es lief schließlich darauf hinaus, daß sie eine ganze Runde um den Platz machten: Sonnenwolf, Gobaris und Kommandeur Breg – zusammen mit den Leibwächtern des Söldnerführers und denjenigen Milizionären, die noch in der Stadt weilten. Während sie scherzten und lachten und mit den Mädchen der lokalen Schwesternschaft anbändelten, die sich an diesem Abend besonders hübsch gemacht hatten, gelang es Sonnenwolf, von Kommandeur Breg viele Informa tionen über Kedwyr und die Bündnispartner der Stadt zu erhalten und sich ein umfassendes Bild von der allgemeinen politischen Lage im Gebiet der Halbinsel zu machen. Eine kleine kalte Hand schob sich ihm über die Schulter, und ei ne junge Frau setzte sich zu ihnen auf die Bank. In ihren Augen funkelte ein berufsmäßiges Versprechen. Erstaunliche Augen, dachte Sonnenwolf, so braun wie ein köstlicher, aus Pfirsichen hergestellter Branntwein, dominierend in einem sehr jungen und außergewöhnlich anmutigen Gesicht. Das Haar schimmerte in dem weichen, hellen Gold einer reifen Aprikose, war dicht und geschmeidig wie Seide und fiel ihr in langen Wellen bis auf die bloßen Schultern. Wolf dachte kurz an Kitz, die im Lager zurückgeblieben war – auch dieses Mädchen konnte nicht viel älter sein als achtzehn Jahre. An seinem Gaumen vermischte sich der Geschmack des Weines mit dem des Sieges. »Ich komme bald zurück«, wandte er sich an die Männer in seiner Begleitung. Die Söldner und Milizionäre riefen ihm noch einige gutmütige und anzügliche Bemerkungen nach, als Son nenwolf aufstand. Zusammen mit dem Mädchen verließ er die Schenke und folgte ihr durch eine Gasse in das nach Rosen duftende Zimmer. Er kehrte später auf den Platz zurück, als er sich vorgenommen hatte. Die weiße Sichel des Mondes hing über den Dächern der dicht an dicht stehenden Häuser der Gasse, und ihr perlmuttener Schein spiegelte sich matt auf dem Wasser wider, das leise im Rinnstein plätscherte. Auf dem Platz war es inzwischen still geworden. Es erklang keine Musik mehr, und die Männer, trunken vom Wein, mochten jetzt irgendwo die Leidenschaften der käuflichen Liebe genießen oder schon schlafen. Seinen Leuten, dachte Sonnenwolf und verzog dabei das Gesicht, hatte es bestimmt nicht gefallen, so lange auf ihn warten zu müssen, und er bereitete sich innerlich auf ihre bissigen Kommentare vor. Der Platz war leer. Ein Blick genügte dem Söldnerführer, um festzustellen, daß alle 33
Schenken und Tavernen geschlossen hatten – und das wäre von sei nen Männern bestimmt nicht so ohne weiteres hingenommen wor den, hätten sie sich noch an diesem Ort aufgehalten. Sonnenwolf wich in die schützende Dunkelheit der Gasse zurück und ließ seinen Blick erneut über den leeren Platz schweifen: graugelbe Muster, dort, wo der Mondschein auf das Pflaster fiel, ein schwarzer Fries an jener Stelle, wo sich der kantige Schatten des Rathausdaches auf die Steine stülpte. Hinter keinem Fenster des großen Gebäudes und der anderen Häuser schimmerte Licht. Hatte der Ratsvorsitzende die Söldner verhaften lassen? Nein, vermutlich nicht. Der von Kerzenlicht erhellte Raum, in den ihn das Mädchen geführt hatte, war nicht allzu weit vom Platz entfernt. Bei dem Versuch einer Verhaftung wäre es sicher zu einem Kampf gekommen, und den dabei entstehenden Lärm hätte er nicht überhören können. Außerdem: Wenn der Vorsitzende tatsächlich einen Haftbefehl erlassen hatte, so wäre man dem Sonnenwolf ins Labyrinth der schmalen Gassen gefolgt, um ihn fern von seinen Männern zu über wältigen. In der Ferne erklang die Stimme eines Stadtrufers, der den Be ginn der zweiten Wache dieser Nacht verkündete und meinte, es sei alles in Ordnung. Also hatte Sonnenwolf sehr viel mehr Zeit bei dem jungen Mäd chen verbracht, als es seine Absicht gewesen war, und er verfluchte das einerseits spöttische und andererseits verlokkende Lachen, das ihn ins Bett zurückgeholt hatte. Er erwog die Möglichkeit, ins Rat haus zu gehen und den Zellentrakt zu durchsuchen, der sich zweifel los im Keller befand. Aber er widerstand dieser Versuchung. Aus langer Erfahrung mit der Politik des Krieges wußte er, wie töricht und fatal sich eine solche Aktion erweisen konnte. Wenn die Männer aufgrund betrunkener Rüpelhaftigkeit verhaftet worden waren – eigentlich hielt Sonnenwolf diese Möglichkeit für ausgeschlossen – , so drohte ihnen keine Gefahr. Wenn sie aber in Gefahr waren, so hatte ihre Verhaftung eine andere Bedeutung, und er konnte ihnen weitaus besser helfen, wenn er die Stadt verließ, ins Lager zurück kehrte und dort seine alte Position der Stärke einnahm. Machte er sich nicht auf den Rückweg, so würde Sternenfalke sich erst am kommenden Morgen Sorgen machen und etwas unternehmen – und bis dahin war es vielleicht schon zu spät. Seine weichen Stiefel verursachten keine Geräusche auf dem 34
Kopf Steinpflaster der Straßen. In den dunklen Passagen des Armen viertels war es fast völlig still, und es gab keine Anzeichen dafür, daß man ihm nachstellte. Irgendwo vernahm er die klagende Stimme eines Wasserverkäufers, der selbst um diese späte Stunde noch un terwegs war. Aus einer düsteren Diebestaverne, die teilweise unter halb des Straßenniveaus lag, wehte rauchige und stickige Luft her vor, und Sonnenwolf hörte rauhes Gelächter und die hohen, fast schrillen Stimmen billiger Huren. In der Ferne läuteten die Glocken des Klosters – Kedwyr war schon immer eine Glaubensburg der Anhänger der Mutter gewesen – und riefen zur Mitternachtsmesse. Am Hafenzugang erhob sich ein breiter runder Turm. Er sah fast aus wie ein monströser Frosch, der vor dem Hintergrund des ster nenbesetzten Himmels auf dem Pflaster hockte. Sonnenwolf überleg te: Wenn er die Nähe dieses Turms mied, so war er zu einem Umweg von fast zwei Kilometern gezwungen und mußte zum gefährlichen Klippenpfad emporklettern. Doch andererseits: Wenn der Rats vor sitzende wirklich jemanden auf ihn angesetzt hatte, so würden die betreffenden Männer sicher in erster Linie die Hauptverbindungswe ge überwachen. Sonnenwolf war ziemlich sicher, daß ihm hier keine Gefahr droh te. Zwei Männer und eine dickliche, schlicht aussehende Frau – sie alle trugen die Uniformen von Stadthütern – saßen in dem kleinen Wächterhaus neben dem geschlossenen Tor und spielten Karten. Auf dem Tisch zwischen ihnen stand eine Flasche Wein. Sonnenwolf glitt vorsichtig durch die Schatten auf die verriegelte Hintertür zu, die in das größere Tor eingelassen war. Viele Stadttore wiesen eine solche Einrichtung auf, und der Söldnerführer hatte immer Gelegen heiten genutzt, sich näher damit zu befassen. Sonnenwolf schätzte die Entfernung ab: Wenn er durch die klei nere Tür schlüpfte, würden ihn die Stadthüter in dem Wächterhaus für eine Zeitspanne, in der man bis etwa sechzig zählen konnte, deut lich sehen können. Wenn die Uniformierten nicht damit rechneten, daß zu dieser späten Stunde jemand die Stadt unkontrolliert verlas sen wollte, so mochte es ihm mit ein wenig Glück gelingen, unbe merkt zu entkommen. Trotz seiner Größe hatte sich der Söldnerfüh rer von Kindesbeinen an immer so verhalten können, daß er kaum Aufmerksamkeit erregte, fast unsichtbar wurde – so wie ein Wolf, der im Wald nach Beute sucht und bis auf wenige Meter an das nichtsahnende Opfer herankommt. Sein Vater – ein ebenso großer Mann, der von der Statur her jedoch eher einem Bär ähnelte – hatte 35
ihm deswegen des öfteren vorgeworfen, er schliche wie jemand, der etwas zu verbergen habe. Doch er hatte auch zugeben müssen, daß sich ein solches Talent gerade für einen Krieger als sehr nützlich erweisen konnte. Und das war auch jetzt der Fall. Keiner der Kartenspieler hob auch nur den Kopf, als Sonnenwolf den Riegel aus der Einfassung löste und sich durch die Tür schob. Nach dem Fackelschein in der Nähe des Tores wirkte die Nacht jenseits davon um so finsterer. Die Flut kam, leckte bereits schäu mend über die granitenen Zähne der Felsen unterhalb der Klippen im Südwesten, und das Sternenlicht zauberte geisterhafte Reflexe auf die feuchten Panzer der über die Steine kriechenden Krabben. Als Sonnenwolf in Richtung des Klippenweges emporkletterte, sah er einige Ketten, die in die algenbedeckten Felsen ganz unten eingelas sen waren und im Takt der heranrollenden Wellen leise klirrten. Der Söldnerführer schauderte voll Abscheu. Die Kampfausbil dung durch seinen Vater und die Traditionen des Heimatstammes waren sehr hart gewesen, sowohl in körperlicher als auch geistiger Hinsicht. Er hatte schon früh lernen müssen, daß eine lebhafte Phan tasie für einen Krieger einem Fluch gleichkam. Viele Jahre hatte es gedauert, damit fertig zu werden. Der Klippenpfad war sehr schmal und abschüssig, jedoch nicht unpassierbar. Er diente vor allen Dingen Holzsammlern und Seeleu ten, die auf diese Weise bei Beginn der Flut den unmittelbaren Ufer bereich verlassen konnten. Vermutlich stellte er nur für feindliche Soldaten ein Problem dar, die den Hafen vom Meer her angriffen. Als Sonnenwolf oben anlangte, hatte ihn die Gischt durchnäßt, und der Wind blies kalt durch das feuchte Schafsfell seines Wamses. Während des Winters, so fuhr es ihm durch den Sinn, als er sich umsah, mochten die Stürme diesen Ort in eine tödliche Falle ver wandeln. Nur ein paar Hecken und Baumreihen boten einigermaßen Schutz vor den Böen. Wenige Meter vom Rande der Klippen ent fernt entdeckte der Söldnerführer eine recht niedrige Mauer, die an einigen Stellen bereits eingestürzt und von Unkraut überwuchert war. Sie mochte eine letzte Warnung für Wanderer darstellen, die sich in einer stürmischen Nacht hierher verirrten. Nicht weit entfernt verkündeten die Wellen mit tosendem Grollen ihr Regiment. Sonnenwolf wandte sich wieder dem Meer zu, und der Wind fuhr ihm frostig über die Wangen. Über dem dunklen Indigo des Ozeans konnte er deutlich eine große Wolkenmasse erkennen, in der es dann 36
und wann blitzte. Es konnte jederzeit zu den ersten großen Winter stürmen kommen. Bei dieser Überlegung sah Sonnenwolf vor sei nem inneren Auge das unwegsame Ödland jenseits des GnissStroms. Wenn es zu Verzögerungen in Hinblick auf die Befreiung der Söldner kam… Er verfluchte seine Leibwächter und schritt in Richtung der Stra ße, die Kedwyr mit Melplith verband. Als er mit dem jungen Mäd chen fortgegangen war, hatte er dem Kleinen Thurg die Verantwor tung für die Gruppe übertragen. Man sollte meinen, der kleine Mist kerl wüßte jetzt endlich, wie man Schwierigkeiten aus dem Weg geht, dachte er, zuerst mit ein wenig Verbitterung, dann nicht ohne eine gewisse Besorgnis. Tatsächlich erwies sich der Kleine Thurg in der Regel als klug genug, Probleme zu vermeiden. Und trotz seiner ge ringen Größe, die ihm den Spitznamen eingebracht hatte, verstand er es auch, auf die anderen Männer so einzuwirken, daß sie sich eben falls aus Schwierigkeiten heraushielten. Genau dieser Punkt war es, der Sonnenwolf von Anfang an nachdenklich gemacht hatte. Dann plötzlich, wie ein vom Nachtwind geflüsterter Hinweis, vernahm er das leise Surren einer Bogensehne, und unmittelbar dar auf empfand er dicht oberhalb des einen Knies einen kurzen und heftigen Schmerz, fast so, als hätte eine Schlange zugebissen. Son nenwolf reagierte aus einem Reflex heraus, noch ehe er begriff, was eigentlich geschehen war: Er ließ sich fallen und rollte in die Boden vertiefung neben der Straße, suchte in der Finsternis Schutz. Eine Zeitlang blieb er reglos liegen und lauschte. Doch er hörte nur den Wind, der über die Steine hinwegseufzte und die Blätter der nahen Bäume rascheln ließ. Der Bogenschütze muß sich hinter einem Windschild befinden, dachte Sonnenwolf und tastete mit einer Hand nach dem aus dem Bein ragenden Schaft. Als er den Pfeil berührte, erwartete ihn eine Überraschung. Er hatte eigentlich einen Kriegspfeil erwartet, ein höchst gefährliches Geschoß. Dieser Schaft aber war leicht und kurz und am Ende mit schmalen grauen Flugfedern versehen. Mit solchen Pfeilen schossen Kinder und Zerstreuung suchende Hofdamen auf Spatzen. Die Spitze, die er einige Zentimeter tief in seinem Bein spüren konnte, war recht glatt. Nach all den bösen Widerhaken, die er sich nach vielen ausgefochtenen Schlachten aus dem eigenen Fleisch geschnitten hatte, handelte es sich bei diesem Ding um kaum mehr als ein Spielzeug. Er zog den Schaft mit einem Ruck aus dem Bein, so als sei er 37
nichts weiter als ein lästiger Dorn, und dunkles Blut rann ihm über die Haut. Die Sache war ihm ein einziges Rätsel. Mit einem solchen Pfeil konnte man einen Menschen nur töten, wenn man ihn direkt durchs Auge trieb. Es sei denn, die Spitze war vergiftet. Langsam hob Sonnenwolf den Kopf und beobachtete die halb dunkle Landschaft, in der das Sternenlicht Dutzende von diffusen Schatten entstehen ließ. Er konnte nichts sehen, keine noch so gerin ge Bewegung irgendwo inmitten der Bäume oder hinter einer Hecke. Aber er war sich ganz sicher, daß der Feind dort noch immer auf ihn lauerte. Sie hatten ihn erwischt, er saß in der Falle. – Sie? Wenn man es auf ihn abgesehen hatte, warum war er dann nicht schon mitten in der Stadt überfallen worden? Konnte sich der Rats vorsitzende vielleicht nicht auf die Loyalität der Hüter und Milizio näre verlassen? Wären Gobaris' Männer bei einer Verhaftung Son nenwolfs möglicherweise rebellisch geworden? Wenn sie der Meinung gewesen wären, es nur mit einem Auftakt zu tun zu haben, mit einem Vorspiel dessen, was sie selbst am Tage der Bezahlung erwartet, so hätte es sicher eine Revolte gegeben. Sonnenwolf verlor keine Zeit. Mit seinem Messer schnitt er die Wunde auf und saugte und spuckte Blut, wieder und immer wieder, und währenddessen horchte er weiterhin nach Geräuschen, die nicht vom Wind verursacht sein konnten. Er schnallte den feuchten Wams auf und benutzte den Gürtel als Aderpresse. Anschließend brach er die Spitze des Pfeils ab und steckte sie sich in die Tasche – in der Hoffnung, daß der Fleischer feststellen konnte, welches Gift ver wendet worden war. Vorausgesetzt natürlich, Sonnenwolf schaffte es überhaupt bis ins Lager zurück. Er richtete den Blick auf die Straße, die er in den vergangenen Wochen der Belagerung so oft beobachtet hatte, und er erinnerte sich an alle Einzelheiten, an jede Besonderheit des Terrains, die ihm Deckung geben konnte. Ein rund einstündiger Marsch zum Lager… Vorsichtig stand er auf – obgleich er sicher war, keinen zweiten Pfeil befürchten zu müssen – , und er ging los. Einmal glaubte er, hinter sich eine Bewegung gespürt zu haben, einen hinter einem Windschutz dahinhuschenden Schemen, aber er drehte sich nicht um. Er wußte genau, daß man ihn verfolgte. Kurz darauf fühlte er die erste Wirkung des Giftes: zuerst eine jähe Taubheit, der das sich rasch ausbreitende Feuer eines Fieber schmerzes folgte. Als sich das Gelände vor ihm absenkte und die 38
Straße durch einen kleinen Wald aus hohen und dunklen Bäumen führte, sah sich Sonnenwolf um und erblickte die Verfolger. Vier oder fünf mußten es sein, und ihre Mäntel wehten wie finstere Fah nen in der Nacht. Der Söldnerführer begann zu zittern, sein Atem schmerzte in den Lungen. Als er das schwarze Dickicht des Gehölzes verließ, erschien ihm das Sternenlicht auf der sich an den kleinen Wald anschließen den freien Fläche als weniger hell, und es war, als vergrößerte sich die Entfernung zwischen den einzelnen Wegsteinen. Ein Teil seines Geistes – der Faktor, der selbst dann zu ruhigen und gelassenen Überlegungen imstande war, wenn er in der Schlacht um sein Leben kämpfte – kam zu dem Schluß, daß das Gift sehr rasch wirkte. Nach den Symptomen zu urteilen mochte es sich um Krötenwurz handeln. Wenn schon Gift, so fügte er in Gedanken hinzu, dann besser dieses als Quecksilber, das wesentlich heftigere Schmerzen hervorrief und selbst den stärksten Mann in ein Häufchen Elend verwandeln konnte. Als Söldner stand er nicht nur mit dem Krieg auf vertrautem Fuße, sondern auch mit der Politik. Er hatte immer wieder Menschen an Vergiftungen sterben sehen, und er wußte deshalb, worum es ging. Aber er wollte eher in der ewigen Hölle enden, als den betrügeri schen und arroganten Ratsvorsitzenden ungestraft davonkommen zu lassen. Er bemerkte, daß er schwankte und taumelte. Die sich hinter sei ner Stirn verdichtende Benommenheit schien die Finsternis der Nacht weiter zu verdunkeln. Es war, als wüchsen winzige Steine auf der Straße zu großen Monolithen, die ihm immer wieder den Weg versperrten. Es fiel Sonnenwolf auch auf, daß seine Verfolger immer unvorsichtiger wurden. Er konnte zwei von ihnen deutlich sehen, als dunklere Schatten inmitten der Schwärze zwischen den Bäumen. Sie hielten es nicht einmal mehr für nötig, sich vor ihm zu verstecken. Weiter! trieb er sich selbst an. Du hast nicht aufgegeben, als du im hohen Norden fast zu Tode gefroren bist. Es geht dir nicht schlechter als damals. Wenn du es bis zu den nächsten Felsen schaffst, gelingt es dir vielleicht, einige der Mistkerle zu erledigen. Es war nicht wahrscheinlich, daß sich der Ratsvorsitzende bei den Verfolgern befand, aber dieser Gedanke verlieh Sonnenwolf neue Kraft. Er taumelte eine Steigung hoch und wankte in Richtung des dunkelgrauen Fleckenmusters, das sich dort erstreckte, wo das Terrain wieder eben wurde. Die Verfolger waren ihm inzwischen so nah, daß er ihre Nähe spürte, wie Schatten von ganz besonderer Art. 39
Sie schlichen sich immer weiter an ihn heran, wie Wölfe, die es auf ein verletztes Karibu abgesehen hatten. Die Felsen vor ihm schienen von ihm fortzugleiten, und Sonnenwolf fürchtete plötzlich, er könne das Bewußtsein verlieren und zusammenbrechen, bevor er jenen Ort erreichte. Du schaffst es, wiederholte er in Gedanken immer wieder. Der immerzu lächelnde Hurensohn hat ihnen wahrscheinlich gesagt, es sei ein Kinderspiel, mir den Garaus zu machen. Ich werde ihnen beweisen, wie sehr sie sich irren. Er schob sich an den Felsen vorbei, und hinter ihnen beugte er die Knie und ließ sich zu Boden sinken. Er gab sich den Anschein, als habe er Schwierigkeiten, sich weiterhin auf den Beinen zu halten, doch heimlich zog er das Schwert und verdeckte es mit seinem Leib, als er das Geräusch leiser und rascher Schritte hörte, die sich ihm näherten. Der Boden unter ihm fühlte sich einfach wunderbar an, so wie ein weiches Bett, das nach hartem Kampf Ruhe und Entspannung verhieß. Verzweifelt kämpfte Sonnenwolf gegen das Verlangen an, die Augen zu schließen und zu schlafen, und er gab sich alle Mühe, sich an der Kraft festzuklammern, die wie aus einer klaffenden Wunde seinem Leib entströmte. Er roch den Staub der Straße, das salzige Aroma des Meeres, tausendmal intensiver als sonst, und diese Sinneswahrnehmungen wirkten wie hochprozentiger Brannt wein auf seinen bereits vernebelten Verstand. Er hörte die Schritte, das gedämpfte Knistern des herbstlich-trockenen Grases, und er fragte sich, ob er lange genug bei Bewußtsein bleiben konnte. Vielleicht gehe ich geradewegs in die Kalte Hölle ein, überlegte er bitter. Aber bei den Seelen meines Urvaters – ich werde die Reise nicht allein machen. Nur undeutlich war er sich der unmittelbaren Nähe der Verfolger bewußt. Der Saum seines Mantels berührte ihn am einen Arm, und jemand stützte einen schlichten Bogen auf die Steine neben ihm. Eine Hand berührte ihn an der Schulter und drehte ihn herum. Er bewegte sich so ruckartig wie eine zubeißende Schlange: Er griff nach der sich über ihn beugenden dunklen Gestalt, schob die linke Hand hinter den Nacken der Person und machte Anstalten, ihr mit der rechten das Schwert in die Brust zu rammen. Dann plötzlich erhellte das Sternenlicht die Züge ihres Gesichts, und Sonnenwolf erstarrte, als die Spitze des Schwertes die Haut berührte und ein gedämpfter Schrei entsetzter Überraschung ertönte. Einige Sekunden 40
lang konnte der Söldnerführer nur in das Gesicht der jungen Frau mit den bernsteinfarbenen Augen blicken, jenes Mädchens, das er in der Taverne kennengelernt hatte. Das weiche lange Haar fiel ihm wie ein Schleier aus Seide über die Hand. Der Hals fühlte sich unter seinen Fingern an wie der zerbrechli che Stiel einer zarten Blume. Sonnenwolf konnte fühlen, wie die junge Frau rascher atmete. Ich kann sie nicht umbringen, dachte er verzweifelt. Ich kann kein Mädchen töten, das gerade so alt ist wie Kitz – und vor Angst wie gelähmt. Dann wogten Finsternis und Kälte heran, und der Söldnerführer sank auf den Boden zurück. Er spürte nur noch, wie ihm jemand das Schwert aus der Hand riß, dann war nichts mehr.
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3. Kapitel »Ari hat dich fortgeschickt?« Sternenfalke bedachte den Klei nen Thurg mit einem durchdringenden Blick und sah dann den neben ihr stehenden Ari an. Thurg nickte, und sein rundliches und ziemlich glattes Gesicht wirkte ausgesprochen verwirrt. »Ich fand es selbst recht seltsam«, erwiderte er, und aus seinen hellblauen Augen musterte er Ari kurz. »Ich fragte dich nach dem Grund, und du sagtest mir…« »Ich war gar nicht da«, widersprach Ari kurz. »Ich befand mich überhaupt nicht in der Stadt.« Er sah Sternenfalke an und schien von ihr eine Bestätigung zu erwarten. Sie hatten den Abend mit den an deren Offizieren Sonnenwolfs beim Pokerspiel im Zelt des Schrei bers verbracht und auf eine Nachricht des Söldnerführers gewartet. »Das weißt du doch…« Sternenfalke nickte. »Ja«, sagte sie und richtete ihren Blick wie der auf Thurg, der ganz offensichtlich nicht wußte, was er von der Sache halten sollte und auch ein wenig Furcht empfand. »Du kannst die anderen fragen«, meinte er, und in seiner Stimme ließ sich ein flehentlicher Unterton vernehmen. »Wir alle haben ihn gesehen, so deutlich wie bei hellichtem Tag. Und nachdem der An führer mit dem Mädchen fortgegangen war, dachte ich, er hätte eben falls mit Ari gesprochen. Gott soll mich mit Blindheit schlagen, wenn das nicht die Wahrheit ist.« Von Gott mit Blindheit geschlagen zu werden, dachte Sternenfal ke, war ein recht harmloses Schicksal im Vergleich zu der Strafe, die jemanden erwarten würde, der seinen Kommandeur wissentlich allein in einer feindlichen Stadt verlassen hatte. Die Tatsache, daß sie vom Rat Kedwyrs für ihre Dienste bezahlt wurden, bedeutete nicht, daß es sich bei der Ortschaft um sicheres Territorium handelte – tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Man kann die Frau eines Mannes schänden, sein Vieh töten und sein Hab und Gut plündern, hatte Sonnenwolf einmal gesagt, und er mag doch rascher zu einem guten Freund werden als irgendeine Regierungskörperschaft, die einem Geld für erwiesene Kriegsdienste schuldet. Sternenfalke saß auf einem Feldstuhl unter dem Vordach des Zel tes Sonnenwolfs. Sie lehnte sich nun zurück und musterte die vor ihr stehenden Männer. Der Wind fuhr ihr ins offene Haar und ließ die Plane über ihr leise knarren. Vor einer Weile hatte er sich gedreht 42
und blies nun als steife Brise nach Osten. Die am Firmament rasch dahingleitenden Wolken ließen in den trockenen wolfsfarbenen Hü geln ein seltsames und unstetes Muster aus Licht und Schatten ent stehen. Die Anhöhen umgaben die eroberten Verteidigungswälle Melpliths auf drei Seiten, und das Seufzen und Zischen der über sie hinwegstreichenden Böen war wie eine mahnende Stimme, die Ster nenfalke immer neue Warnungen zuflüsterte. Ihr Schweigen verstärkte Thurgs Gewissensbisse. »Ich schwöre, daß ich Ari wirklich gesehen habe«, wiederholte er. »Ich weiß nicht, wie das möglich war, aber ich hätte den Anführer sonst niemals allein zurückgelassen. Ich diene ihm schon seit Jahren.« Das entsprach der Wahrheit, wie Sternenfalke wußte. Sie erinner te sich daran, daß Frauen, die sie aufgrund ihrer Soldatenkleidung für einen Mann hielten, ihr mehrmals junge Töchter als Konkubinen zum Kauf angeboten hatten, und das Wissen um die Tatsache, daß es kaum etwas gab, was Menschen nicht zu verkaufen bereit waren, mußte in ihren Zügen einen mimischen Ausdruck gefunden haben. Der kleine Mann vor ihr begann zu schwitzen, und sein ängstlicher und zunehmend besorgter Blick huschte zwischen ihr und Ari hin und her. Sternenfalkes gnadenlose Kaltblütigkeit war gefürchteter als der Zorn Sonnenwolfs. Jemand, der den Söldnerführer aufgrund eines Bestechungsgeldes im Stich gelassen hatte, durfte von ihr keine Nachsicht erwarten und mußte als Straße mit einem langsamen und qualvollen Tod rechnen. Sternenfalke sah zu Ari auf, der seitlich hinter ihrem Stuhl stand. Er schien nicht genau zu wissen, zu welchem Schluß er gelangen sollte. Thurg hatte sich bisher immer als vertrauenswürdig erwiesen. Sternenfalkes Verwirrung nahm zu. Die Geschichte Thurgs klang völlig absurd und schien eher auf einen Verrat hinzudeuten. Wäre sie an der Stelle des kleinen Mannes gewesen, hätte sie sich eine andere Ausrede einfallen lassen – und sie glaubte, daß Thurg ebenfalls intel ligent genug war. »Wo hast du mit Ari gesprochen?« fragte sie schließlich. »Auf dem Platz«, erwiderte Thurg, schluckte und richtete den Blick kurz auf den anderen Mann. »Er… er kam aus der Gasse, in der der Anführer mit dem Mädchen verschwunden war, und er… er kam zu uns in die Taverne. Es war schon recht spät, und ich hatte den Wirt bereits gebeten, seine Schenke nicht wie sonst üblich zu jener Stunde zu schließen.« »Er kam also zu dir – oder hast du ihn gerufen?« 43
»Er kam von selbst, und er meinte: ›Ihr könnt jetzt ins Lager zu rückkehren. Der Anführer und ich kommen später nach.‹ Und er lächelte mehrdeutig, und wir alle lachten und scherzten. Ich fragte ihn, ob es nicht besser sei, wenn einige von uns sicherheitshalber zurückblieben. Und er antwortete: ›Glaubst du etwa, wir würden mit den Stadtsoldaten nicht allein fertig? Du hast doch gesehen, wie sie kämpfen!‹ Und… Nun, wir kamen seiner Aufforderung nach und brachen auf. Ich dachte, wenn Ari bei Sonnenwolf bleibt, so… « Thurg brach ab und suchte nach den richtigen Worten. Er hob die Arme. »Ich weiß, das alles hört sich vollkommen verrückt an, aber es ist die reine Wahrheit! Frag die anderen.« Verzweiflung zeichnete sich in dem sonnengebräunten kleinen Gesicht ab. »Du mußt mir glauben!« Doch genau das schien er zu bezweifeln. Es hieß im Lager, Sternenfalke sei nicht geboren, sondern aus ei nem Granitblock gemeißelt worden. Sie musterte Thurg noch einige Sekunden lang und fragte dann: »Er kam aus der Gasse, trat in die Taverne und sprach mit dir?« »Ja.« »Stand er dabei im Lichtschein der Lampen?« »Ja. Sie hingen hinter mir an der Wand. Die Schenke war nach vorn hin offen, und ich saß an einem Tisch, der direkt am Rande des Platzes stand.« »Und du hast ihn ganz deutlich gesehen?« »Ja, das schwöre ich!« Thurg zitterte, und kleine Schweißperlen rannen ihm über die narbigen Wangen. Hinter ihm, gerade außerhalb des schwankenden Schattens des Vordaches, standen zwei Wächter. Sie spürten die zunehmende Anspannung und wandten den Blick ab. Sie wollten nicht miterleben, wie ein Mann, den sie respektierten, offene Angst zeigte. Hastig fügte Thurg hinzu: »Glaubst du etwa, ich wäre ins Lager zurückgekehrt, wenn ich Sonnenwolf an den Ratsvor sitzenden verkauft hätte?« Sternenfalke zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du ge hofft, ich würde dir diese sonderbare Geschichte glauben und dich nicht bestrafen. Ich habe zu oft erlebt, wie Männer ihre besten Freunde verrieten… Aber wie dem auch sei: In deinem Fall kommt es mir komisch vor, daß du dich so dumm verhalten haben solltest. Du hast dein Quartier nicht zu verlassen, bis wir feststellen, ob das Konzil das Geld schickt, das es dir versprochen haben mag.« Als die Wächter den Kleinen Thurg fortgeführt hatten, schüttelte 44
Ari den Kopf und seufzte. »Mir sind schon viele verrückte Geschich ten zu Ohren gekommen, aber diese… Warum sollte er gerade zu einer solchen Ausrede Zuflucht nehmen? Er muß doch wissen, daß ich den Abend nicht allein verbrachte und es Zeugen für meine An wesenheit hier im Lager gibt.« Sternenfalke sah erneut zu ihm auf. Ari stand wie ein unerschüt terlicher Muskelberg neben ihr, ragte wie ein fleischgewordenes Monument in die Höhe. Er wußte nicht so recht, was er von all dem halten sollte, und in seinen nußfarbenen Augen glitzerten sowohl Zorn als auch Betroffenheit. »Gerade dieser Umstand ist es, der mich dazu neigen läßt, ihm zu glauben«, erwiderte sie und stand auf. »Er ist davon überzeugt, die Wahrheit zu sagen. Wenn ich in drei Stun den nicht aus Kedwyr zurück bin, so bereite einen Angriff auf die Stadt vor und schicke eine Nachricht nach Ciself arge… « »Du willst dich selbst auf den Weg machen?« »Wenn die Räte Wert darauf legen, ihren Verrat geheimzuhalten, droht mir keine Gefahr«, gab sie knapp zurück. Sie blickte kurz zum scheckigen Himmel empor und griff dann nach ihrer Schafslederja cke. »Ich komme auch allein zurecht und bin nicht unbedingt auf die Hilfe von Leibwächtern angewiesen. Wenn das Konzil nichts davon weiß, daß wir Sonnenwolf vermissen, so sollten wir ihm auch nicht einen Hinweis darauf zukommen lassen, indem wir gleich mit einer Streitmacht einrücken.« Auf der Straße, die vom Lager an die Tore Kedwyrs führte, traf sie auf eine kleine Karawane aus Packeseln, die von einigen Stadt wächtern begleitet wurden. Ihre Aufgabe war es, den Kämpfern den versprochenen Sold zu bringen. Hohlwangig und griesgrämig hockte Kommandeur Breg wie ein Schatten seiner selbst auf dem Rücken einer kräftig gebauten kurzbeinigen Halbinsel-Stute, und er winkte Sternenfalke zu. Sie zügelte ihr Roß neben seinem Pferd. »Irgend welche Schwierigkeiten?« fragte sie und nickte in Richtung der schwer beladenen Packesel und der schwarzgekleideten Wächter, die sie führten. Der Kommandeur gab ein kurzes, keuchendes Geräusch von sich, das für ihn schon fast einem Lachanfall gleichkam. Es war ziemlich kalt an diesem Tag, und der Wind wurde stärker. Über dem Ketten hemd aus glänzenden Stahlfacetten, die ihn sowohl auf der Brust als auch auf dem Rücken schützten, trug er einen schwarzen Mantel samt Überwurf. Auf dem Kopf schimmerte das polierte Metall eines Helms, und die beiden Ausläufer, die ihm an den Wangen herab 45
reichten, rahmten sein schmales Gesicht, in dem sich zinnoberrote Kälteflecke zeigten. »Unseren Ratsvorsitzenden hätte fast der Schlag getroffen, und sicher hat er die ganze Nacht nicht geschlafen und den Verlust einer großen Summe bedauert«, wandte er sich an Sternen falke. »Es wurde sogar ein Arzt herbeigerufen, der aber meinte, daß er sich bald von dem Schock erholen würde.« Sternenfalke lachte. »Ari und Schreiber warten bereits auf dich.« »Schreiber«, sagte der Kommandeur nachdenklich. »Ist das der Bursche im Kettenhemd, der den Hauptmann der Verteidigungs streitkräfte bei der Erstürmung der Tore Melpliths vom Turm warf?« »Ja, genau«, bestätigte Sternenfalke. »Allerdings ist er nur in der Schlacht ein wirklicher Krieger. In erster Linie fühlt er sich zum Schatzmeister berufen.« »Als Kämpfer«, meinte der Kommandeur, »weist er ebenfalls ausgezeichnete Qualitäten auf.« Eine jähe Bö zerrte an seinem Man tel, zerzauste die Mähne der Stute und heulte wie die Stimme eines Dämonen über die Steine am Wegesrand. Breg blickte an Sternen falke vorbei auf das Grau des Ozeans jenseits der Klippen. Der Himmel war nun völlig bedeckt, und die Wolken sahen düster und bedrohlich aus. Über das Zischen des Windes hinweg konnte man dann und wann das Tosen hören, mit dem die Wellen brachen und über die Uferfelsen gischteten. »Schafft ihr es über den Gniss, bevor der Strom anschwillt?« fragte der Kommandeur. »Wenn wir morgen aufbrechen, ja.« Es entsprach ganz der We sensart Sternenfalkes, niemals ihre wahren Gedanken zu verraten. Sie war nicht dazu bereit, jemandem, der ihr fast noch ein Fremder war, ihre Sorge zu offenbaren, es könne ihnen möglicherweise nicht gelingen, den Fluß noch rechtzeitig genug für eine sichere Überque rung zu erreichen. Der neue Tag hatte schon vor einigen Stunden begonnen, und wenn Sonnenwolf nicht vermißt würde, wären sie bereits damit beschäftigt gewesen, das Lager abzubrechen und sich sofort nach der Zählung des Geldes auf den Weg nach Norden zu machen. Der Gniss trat jedes Jahr im Winter sehr rasch über seine Ufer, und selbst einige wenige Stunden konnten den Ausschlag ge ben. Die Kälte des Windes durchdrang das Schafsleder ihrer Jacke und machte ihre Wangen taub, und sie fragte sich, ob sich die Worte des Kommandeurs als eine indirekte Warnung und als Aufforderung dazu verstehen ließen, sich auf die Reise ins Winterlager zu machen, bevor es zu spät war. 46
»Übrigens… « sagte sie und zog an den Zügeln. »Wo hält sich Gobaris auf, wenn er sich in der Stadt befindet? Oder hat er Kedwyr schon verlassen?« Breg schüttelte den Kopf. »Nein, er ist noch da, in den Baracken auf der anderen Seite des Rathausplatzes. Allerdings will er bis mor gen aufgebrochen sein. Er macht sich dazu bereit, nach seinem An wesen und zu jener Frau zurückzukehren, von der er uns während des ganzen Feldzuges immerzu erzählt hat.« »Danke.« Sternenfalke deutete ein dünnes Lächeln an und hob die Hand zum Gruß. Dann zwang sie das Pferd herum, gab dem Roß die Sporen und ritt in Richtung der Stadt, während der kalte Wind sie umheulte und die Winterstürme ankündigte. Sie fand den dicklichen und trägen Gobaris in dem Teil der Bara cken, den der Rat der Stadt den Milizionären während ihres Dienstes in Kedwyr zugewiesen hatte. Er war gerade damit beschäftigt, seine geringe Habe zu packen und auch das Kettenhemd zu verstauen, das ihm inzwischen zu eng geworden war. Nur noch einige wenige Kämpfer hielten sich hier auf. Die meisten Liegen waren leer. Man hatte schon das Stroh aus den Betten geholt und es auf dem steinernen Boden zu großen Hau fen zusammengeschoben, die bald fortgeschafft werden sollten. Der Wind pfiff durch die Spalten zwischen den Holzlatten des Daches. An den Wänden zeigten sich hier und dort vulgäre Sprüche, die ein mal mehr auf die Rivalität zwischen den Milizionären und den Stadt truppen hindeuteten. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist«, murmelte Sternenfalke und schnalzte nachdenklich mit der Zunge. »Der Mangel an Phantasie oder die offensichtliche Unfähigkeit, ein einfaches und aus sieben Buchstaben bestehendes Wort richtig zu schreiben, das die Leute die ganze Zeit über benutzen.« »Fehlende Einbildungskraft«, entschied Gobaris sofort und rich tete sich so langsam auf, als plage ihn ein Rückenleiden. »Wenn mir noch jemand anders erneut die Geschichte von dem Stadtsoldaten und der kleinen Ziege erzählt hätte, wäre ich dazu bereit gewesen, dem Betreffenden den Hals umzudrehen, bevor er noch mehr hätte sagen können als nur ›Es war einmal‹. Was kann ich für dich tun, Falke?« Sie berichtete ihm von einem angeblich vermißten Soldaten und beobachtete dabei das rundliche und unrasierte Gesicht Gobaris'. Sie konnte in seinen Zügen nichts entdecken, was ihren Argwohn er 47
weckt hätte – abgesehen von einer gewissen Verärgerung in den großen blauen Augen des Mannes, der Besorgnis, daß der entspre chende Kämpfer allein zurückbleiben mochte, während seine Kame raden aufbrachen. Gobaris ließ seine Sachen liegen, suchte zusam men mit ihr das Rathaus auf, schnauzte die dortigen Wächter an und öffnete ohne zu zögern jede Tür, auf die Sternenfalke zeigte. Nach einer Weile schüttelte sie gespielt verächtlich den Kopf und seufzte. »Nun, er ist also nicht verhaftet worden. Entweder er schläft irgendwo seinen Rausch aus oder vergnügt sich mit einer Gewerbedame.« Sternenfalke brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung und all die in langen Jahren des Pokerspiels mit Männern erworbene ausdruckslose Ruhe, um die nervöse Unruhe zu verbergen, die in ihr immer mehr zunahm. Widerstrebend nahm sie die Einladung des Milizhauptman nes an, und sie suchten die nächste Taverne auf und tranken dort ein Bier. In Gedanken befaßte sie sich mit anderen möglichen Erklärungen für das Verschwinden Sonnenwolfs, als Gobaris fragte: »Ist der Söldnerführer gestern abend mit heiler Haut ins Lager zurückge kehrt?« Sternenfalke runzelte die Stirn und nahm den Krug in beide Hän de. »Warum fragst du das?« Gobaris seufzte, schüttelte den Kopf und rieb sich das stoppelige rosafarbene Mehrfachkinn. »Mir gefiel die ganze Sache nicht – ob wohl Ari natürlich ein sehr fähiger Kämpfer ist. Wenn der Ratsvor sitzende auf Stunk ausgewesen wäre, hätte er die beiden Männer in der Stadt überwältigen und festhalten können. Die Lage war nicht ungefährlich.« Sternenfalke lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und musterte den dicklichen Mann im kühlen und hellen Licht, das durch die offene Vorderfront der Schenke fiel. »Du meinst, er hatte nur Ari bei sich?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen. »Jedenfalls habe ich keinen weiteren Söldner bei ihm gesehen.« Er beugte den Kopf zurück und offenbarte eine gräulichschmutzige Kragensichel oberhalb des rosafarbenen Wamses. Er nahm einen großen Schluck und wischte sich umständlich mit dem Ärmel den Schaum von den Lippen. »Vielleicht hatte er noch andere Begleiter in der Gasse, die ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen konn te.« »In welcher Gasse?« fragte Sternenfalke im Tonfall gelinder Neugier, drehte den Kopf und beobachtete den Platz. Heute morgen 48
hatten nur sehr wenige Schenken am Rande des schachbrettartigen, aus schwarzen und weißen Steinen bestehenden Platzpflasters geöff net. Es hatte bereits geregnet, und die Nässe glitzerte noch immer in einigen Pfützen. Das blauweiße Fleckenmuster am Himmel wurde immer mehr von bedrohlicher Graue vereinnahmt. »Die dort.« Gobaris deutete in die entsprechende Richtung. Von der Taverne aus gesehen handelte es sich bei der Gasse um nicht viel mehr als einen schmalen Einschnitt zwischen den beiden verzierten Säulen einer Schenke. »Wir saßen dort im Biergarten, im ›Lederho senhahn‹, und wir warteten auf die Rückkehr des Söldnerführers. Dann kam Ari aus der Gasse, trat an die Leibwächter heran und schickte sie ins Lager zurück. Eine derartige Unvorsichtigkeit des Wolfes überraschte mich, aber es fragte mich niemand nach meiner Meinung.« »Und du weißt genau, daß es Ari war?« Gobaris hob die Augenbrauen. »Natürlich«, bestätigte er. »Er stand nur einen Meter von mir entfernt, und sein Gesicht wurde von den Lampen an der Wand hinter uns erhellt. Ich habe mich bestimmt nicht getäuscht.« Als Sternenfalke aus der Stadt zurückkehrte, erwartete Ari sie vor dem Zelt Sonnenwolfs. Im Lager herrschte inzwischen Aufbruch stimmung. Krieger murmelten Flüche und scherzten miteinander, als sie Packtiere mit ihrer Habe und Beute aus Melplith beluden. Ster nenfalke kam es bei errungenen Siegen nicht unbedingt auf die Ver mehrung ihrer Besitztümer an, und ihre Sachen ließen sich innerhalb weniger Minuten packen. Wenn es nötig war, konnte sie in rund einer halben Stunde mitsamt dem Zelt und allen Einrichtungsgegens tänden reisefertig sein. Irgend jemand – vermutlich Kitz – hatte da mit begonnen, die Sachen Sonnenwolfs zu verstauen, und in dem großen Zelt herrschte ein Durcheinander aus Vorhängen und Tü chern – die Stickmuster aus Gold und Platin und Silber schienen von innen heraus zu leuchten –, aus Kissen und Stühlen und kleinen Tischen, aus Kettenpanzern und Waffen. Auf dem verzierten Eben holztisch – dort, wo am Abend zuvor ihre blutigen Rüstungen gele gen hatten – stand eine kostbare Karaffe aus Rosenporzellan, in die einzelne Regenbogenlinien eingelassen waren. Daneben lag ein Beu tel aus Leder. Sternenfalke ergriff den Beutel und wog ihn neugierig in einer Hand. Sie öffnete ihn, sah hinein und richtete ihren Blick dann auf Ari. In dem Leder klirrten leise die Goldstücke. 49
»Er hat die Summe bekommen, für die er den Verrat beging«, sagte Ari ernst. Falke streifte sich den regennassen Überwurf von den Schultern und legte ihn über die Rückenlehne des Hirschhornstuhles. »Ich bin nicht überrascht«, sagte sie. »Gobaris meinte, er hätte dich gestern abend ebenfalls gesehen. Ich glaube, die ganze Sache ist eine Falle… « Ari nickte. »Ich habe die anderen Männer befragt. Der Kleine Thurg war nicht der einzige, der behauptet, ich sei gestern abend in der Stadt gewesen…« Er trat kurz vor das Zelt und rief: »Thurg!« Der Eingang verdunkelte sich, und der Große Thurg kam heran. Angesichts der Masse schien der Raum plötzlich zu schrumpfen. Der Große Thurg war der größte Mann in der Streitmacht Son nenwolfs, machte den Söldnerführer, Ari und Schreiber im Vergleich zu seiner Statur zu Winzlingen. Das Verrückte an ihm war folgendes: Der Kleine Thurg und er kamen aus weit entfernten Teilen des Landes und waren vermutlich auch nicht miteinander verwandt, aber von den Gesichtszügen und dem eigentlichen Körperbau her hätte man sie für Zwillinge halten können. Sie erweckten den Eindruck, als sei der Kleine Thurg irgendwie aus den Resten geformt worden, die nach der Schaffung seines wesentlich größeren und breiteren Ebenbildes übriggeblieben waren. »Es stimmt«, nahm der Große Thurg die Frage Sternenfalkes vorweg, blickte auf sie herab und kratzte sich am Kopf. »Wir haben ihn alle gesehen. Ich selbst, der Lange Mat, Snarky – alle.« »Ein Doppelgänger? Jemand, der wie Ari zurechtgemacht war?« fragte Sternenfalke. »Aber warum?« Ari hob in einer Geste ärgerlicher Verwirrung die Arme. »Sie haben uns doch bezahlt!« Draußen führte jemand ein beladenes Maultier am Zelt vorbei, und das Knarren der Riemen erinnerte sie daran, daß es an der Zeit war, das Lager abzubrechen und die Reise nach Norden anzutreten. Der Große Thurg verschränkte seine muskulösen Arme vor der brei ten Brust, und in seinen hellen und ernst blickenden Augen schim merte ein Hauch von Furcht. »Ich glaube, hier ist Magie im Spiel.« Weder Sternenfalke noch Ari gaben eine Antwort darauf. In dem ausdruckslosen Gesicht Falkes rührte sich nichts, doch Ari runzelte andeutungsweise die Stirn. Der Große Thurg fuhr fort. »Ich habe schon von solchen Dingen gehört. Davon, wie ein Zauberer die Gestalt eines anderen Mannes 50
annehmen kann, um einer Frau eine Nacht zu stehlen und ihr die ganze Zeit vorzumachen, sie schliefe mit ihrem Gatten. Es soll auch vorgekommen sein, daß sich Magier in eine Frau verwandelten und Kinder raubten. Ja, ein Zauberer hätte sich unbemerkt in dieses La ger begeben und dich genau studieren können, Ari.« »Aber es gibt keine Zauberer mehr«, erwiderte Ari, und Sternen falke hörte, wie seine Stimme vibrierte. Ari genoß selbst bei den Söldnern den Ruf, ein besonders tapferer Mann zu sein, trotz seiner jungen Jahre. Er zeichnete sich durch den Mut eines Kriegers aus, der sich nicht in jeder Schlacht neu beweisen mußte. Aber es gab nur wenige Männer, die nicht zumindest schauderten bei der Vorstel lung, es mit den dunklen Künsten der Magie zu tun zu bekommen. Außerdem wußte er ebensogut wie Sternenfalke, daß es in der gan zen Welt nur noch einen lebenden Zauberer gab: Altiokis. »Vielen Dank, Thurg«, sagte Falke. »Wir werden uns bei dem Kleinen Thurg entschuldigen und die Wächter anweisen, ihn freizu lassen.« Der Hüne salutierte und verließ das Zelt. Als Sternenfalke wieder mit Ari allein war, sagte sie leise: »Sonnenwolf hat gestern abend das Angebot erhalten, gegen Altiokis in Mandrigin anzutre ten.« Mit gedämpfter Stimme fluchte Ari leidenschaftlich und nicht ohne eine gewisse Verzweiflung. »Nein. Nein, bitte das nicht, Fal ke.« Um sie herum ertönten die vielfältigen Geräusche, die den Ab bruch eines Feldlagers begleiteten. Es hatte zu regnen begonnen, und die Tropfen trommelten in einem gleichmäßigen Rhythmus auf die Zeltplanen. Es schien, als flüstere ihnen dieser monotone Takt eine Warnung zu. Die Reise nach Norden war lang und anstrengend. Sie durften nicht länger zögern, sich endlich auf den Weg zu machen. Ari sah Sternenfalke an, und in seinen Augen erblickte sie den na menlosen Kummer eines Mannes, der fürchtete, er könne in den sicheren Tod geschickt werden. In einem ruhigen und gelassenen Tonfall fuhr Falke fort: »Das erklärt auch, warum der Ratsvorsitzende uns den Sold hat zukommen lassen. Er ahnt nichts davon. Die Frau, die Sonnenwolf gestern a bend besuchte, stammte aus Mandrigin.« Eine ganze Zeitlang schwieg Ari, stand reglos und mit geneigtem Kopf und lauschte dem Treiben im Lager, dem Regen und dem nur für ihn hörbaren Echo der unheilschwangeren Worte Sternenfalkes. Das sich trübende Licht des späten Nachmittags ließ das cremige Braun seiner Arme in einem Ton wie Zinn glänzen. Es zauberte 51
eigentümliche Reflexe auf die verblichenen Farben seiner einstmals bunten Tunika und erschimmerte in den Edelsteinen der geflochte nen Kordeln, die seine Schultern schmückten. Die goldenen Ohrrin ge blitzten und stellten damit einen auffallenden Kontrast zu seinem dunklen Haar dar, als er den Kopf drehte. »Was sollen wir jetzt ma chen?« Sternenfalke erwog verschiedene Möglichkeiten. Nur eine einzi ge von ihnen hielt sie für ratsam, aber sie wagte nicht, über die Gründe ihrer Entscheidung nachzudenken. »Ich glaube«, gab sie nach einer Weile zurück, »du solltest vor allen Dingen die Truppen nach Wrynde zurückführen. Wenn Altiokis auf den Tod Sonnen wolfs ausgewesen wäre, hätte er ihn schon hier umgebracht. Statt dessen hat es ganz den Anschein, als habe er ihn entführt.« Bei die sen Worten mußte sie an die vielen Berichte über die schlichtweg unfaßbare Grausamkeit des Magischen Königs denken, doch sie gab Ari keine Gelegenheit zu einer entsprechenden Bemerkung. Wenn sie diese Erklärung akzeptierte, so begriff sie, blieb ihr nichts ande res übrig, als vom Tode Sonnenwolfs auszugehen. Sie fuhr fort: »Ich habe keine Ahnung, welche Gründe Altiokis dazu veranlaßten, und ich weiß auch nicht, wohin er unseren Anführer verschleppte. Viel leicht befindet sich der Wolf jetzt in der Zitadelle Grimmwall im Osten. Ich kenne den Söldnerführer gut, Ari. Wenn er glaubt, in der Falle zu sitzen, wird er versuchen, Zeit zu gewinnen.« Ari hob den Kopf und starrte sie gleichzeitig entsetzt und un gläubig an. »Du willst versuchen, ihn zu befreien?« Ganz ruhig erwiderte sie seinen Blick. »Wir können entweder annehmen, daß er noch lebt und gerettet werden kann – oder davon ausgehen, daß er tot ist und wir somit ohnehin nichts mehr machen können.« Ari zwinkerte verwirrt, als er auf diese Weise mit ihrer kalten Logik konfrontiert wurde, und Falke fügte in einem etwas sanfteren Tonfall hinzu: »Ich glaube, derzeit ist keiner von uns bei den dazu bereit, letztere Möglichkeit als Wahrheit zu akzeptieren.« Ari drehte sich um und ging unruhig im Zelt auf und ab. Sternen falke hörte, wie Kitz auf der anderen Seite des aus Pfauenfedern bestehenden Vorhangs damit fortfuhr, die Sachen Sonnenwolfs zu sammenzupacken. Sowohl der Kettenpanzer als auch die Waffen des Söldnerführers hingen nach wie vor in dem Gerüst auf der anderen Seite des Raumes, und es schien, als stellten sie einen geisterhaften Schatten seiner nach wie vor andauernden Präsenz dar. Die Federn auf den beiden seitlichen Flügeln des Helms wirkten in dem durch 52
den Eingang fallenden blassen Licht so, als seien sie durchsichtig geworden. »Er könnte sich auch an einem anderen Ort befinden«, sagte Ari schließlich. Falke zuckte mit den Schultern. »In dem Fall kann er sich viel leicht selbst helfen. Aber wenn er sich in der Gewalt Altiokis' befin det – was ich vermute – , so braucht er Hilfe. Ich bin dazu bereit, das Risiko einer entsprechenden Reise einzugehen.« Sie hakte den Dau men hinter den Schwertgürtel, beobachtete Ari und wartete. »Über Land?« »Durch die Kanwed-Berge, ja. Ich nehme einen Esel mit – ein Pferd wäre mir in der Nähe von Wölfen und Räubern kaum von Nutzen, und ich käme damit auch nicht schneller voran. Wenn ich das Hochland erreiche, habe ich immer noch die Möglichkeit, mir ein Roß zu kaufen.« In Gedanken eilte sie bereits voraus und über legte, mit welchen Schwierigkeiten und Gefahren sie unterwegs rechnen mußte. Sie wagte es nicht, sich das vorzustellen, was sie am Ende der Reise erwarten mochte. Es gibt keine Möglichkeit, ihm jetzt sofort zu helfen, erinnerte sie sich mit kühler Vernunft. Du kannst nur langfristig planen. Und wenn du dir Sorgen um ihn machst, so hilfst du weder ihm noch dir selbst. Doch die Furcht um Sonnenwolf rumorte weiterhin tief in ihrem Inneren, brodelte wie der Magmakern im Herzen eines Vul kans. »Wen willst du mitnehmen?« fragte Ari. Sternenfalke hob die Augenbrauen, und ihre Stimme klang nach wie vor unbewegt und sachlich, als sie entgegnete: »Wem könnte man deiner Meinung nach das Wissen anvertrauen, daß wir es viel leicht mit Altiokis zu tun bekommen? Mir fällt niemand ein.« Als Ari wieder auf sie zukam, konnte sie die Sorgenfalten sehen, die sich bereits in sein Gesicht einfraßen – jene tiefen Furchen, die sich während des Winters noch verstärken mochten, die er vielleicht sein ganzes Leben lang mit sich tragen würde. Schon allein durch das Verschwinden Sonnenwolfs mußten sie mit Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung der Truppenmoral rechnen – und sie beide wußten, daß die Erwähnung des Namens Altiokis eine Panik herauf beschwören konnte. »Eine einzelne Reisende dürfte weniger Verdacht erregen als ei ne Gruppe von Kriegern, insbesondere im Winter«, sagte Falke. »Und ich komme gut allein zurecht.« 53
Der Schrecken von hundert Entsetzensgeschichten über Altiokis klang in der Stimme Aris mit, als er fragte: »Wie willst du unbe merkt in die Zitadelle gelangen?« Sternenfalke zuckte mit den Schultern. »Um das Problem küm mere ich mich dann, wenn ich die Mauern der Festung vor mir se he.« Nur Ari war an jenem Abend zugegen, als Sternenfalke aufbrach. Sie hatte mit der Abreise bis zur Dunkelheit gewartet, weil sie einer seits nicht von möglichen Spionen beobachtet werden wollte und es andererseits vorzog, keine Fragen von Söldnern beantworten zu müssen. Ihren guten Freunden – Schreiber, Schlachter (der Heilkun dige der Truppen), Feuerkatze und Hundehauch – sagte sie nur, sie wolle Sonnenwolf helfen und sie würden beide bis zum Frühjahr nach Wrynde zurückkehren. Sie packte die meisten Dinge zusam men, die ins Winterlager gebracht werden sollten. Den Rest des Nachmittags meditierte sie und bereitete ihren Geist auf die Reise vor, im Schweigen des Unsichtbaren Kreises, so wie man es sie im Kloster von St. Cherby gelehrt hatte. Ari schwieg, als er sie über die Straße in Richtung der dunklen Hügel begleitete. Im Lichte der Fackel, die er trug, sah er älter aus als am vergangenen Morgen. Sternenfalke wußte, daß ihm ein sehr schwieriger Winter bevorstand, und sie fragte sich noch einmal, ob es nicht doch besser war, wenn sie bei der Truppe blieb. Nach Son nenwolf war sie die erfahrenste Kriegerin der Söldner-Streitmacht, und darüber hinaus wußte sie, wie man mit dem Stadtrat von Wrynde verhandelte. Doch Falke verdrängte diesen Gedanken wieder. Sie hatte sich für die Reise entschieden, und nun gab es kein Zurück mehr, eben sowenig wie in einer bereits begonnenen Schlacht. In gewisser Wei se hatte sie sich schon von Ari und den anderen Söldnern getrennt. Und ganz abgesehen davon war sie sich überhaupt nicht sicher, ob sie einen leichteren Weg beschritt als ihre Kameraden. »Gib auf dich acht«, sagte Ari. Im schwefelgelben Glanz der Fa ckel wirkte er in seinem Mantel aus schwarzem Bärenfell noch mehr wie ein zwar junges, aber sehr gefährliches Raubtier. Vor ihnen erhoben sich die Hügel, und ihre finsteren Silhouetten zeichneten sich vor dem Himmel ab. Hinter ihnen, über dem Meer, bildeten die Wolken dunkle Massen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Winter stürme losbrachen. »Du ebenfalls.« Mit der linken Hand griff sie nach dem Stirnrie 54
men des Eselhalfters. Die rechte legte sie Ari auf die Schulter, und sie hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Ich weiß nicht, wer von uns beiden besser auf sich aufpassen sollte.« »Sternenfalke«, sagte Ari leise. Der Wind zerzauste sein langes, schwarzes Haar, und trotz der Dunkelheit konnte Falke sehen, wie die Muskeln im Gesicht des jungen Mannes zuckten. »Was soll ich machen?« fragte er, »wenn im Laufe des Winters jemand kommt und von sich behauptet, er sei Sonnenwolf? Wie soll ich herausfinden, ob das stimmt oder nicht?« Sternenfalke gab nicht sofort Antwort. Sie erinnerten sich beide an den Kleinen Thurg, der auf dem Platz Kedwyrs mit dem Ebenbild Aris gesprochen hatte. Heilige Mutter, dachte sie, woher soll ich wissen, es wirklich mit ihm zu tun zu haben, wenn ich Sonnenwolf tatsächlich finde? Sie schauderte kurz, und für einen Sekundenbruchteil bildete sich tief in ihr so etwas wie gelinde Panik. Die Furcht vor Magie, vor Zauberern, vor dem Bösen und Unheimlichen drohte sie zu überwäl tigen. Dann zeichnete sich vor ihrem inneren Auge das Gesicht Schwester Wellwas ab, ihre hinter einem dunklen Schleier fast ver borgenen Züge. Falke sah den vom Altar gekrümmten Rücken, die schmalen faltigen Hände – und sich selbst, als ein neugieriges Kind, das der Nonne in ihrem kleinen schlichten Zimmer half, getrocknete Kräuter zu sortieren und sich die ganze Zeit über fragte, warum aus gerechnet Schwester Wellwa von allen Nonnen des Klosters in die Kunst der Magie eingeweiht war… »Ein Spiegel«, sagte sie. Ari zwinkerte überrascht. »Ein was?« »Stell irgendwo einen Spiegel auf, in einer Ecke des Zimmers, dort, wo du ihn jederzeit sehen kannst. Ein Spiegel reflektiert die wirkliche Gestalt und nicht die Illusion.« »Bist du sicher?« »Ich denke schon«, erwiderte Sternenfalke nachdenklich. »Wenn es nicht klappen sollte, so geh mit ihm in einer dunklen Nacht ins Moor, dann, wenn dort die Dämonen tanzen. Soweit ich weiß, ist Sonnenwolf der einzige Mann, der Dämonen sehen kann.« Sie hatten ihn beide dabei erlebt, in den feuchten Mooren nörd lich von Wrynde. Später hatte er ihnen von den grauenhaften und kichernden Stimmen jener Wesen berichtet. »Vielleicht ist auch ein Zauberer dazu in der Lage, mit Hilfe der Magie«, gab Ari zu bedenken. »Es heißt, sie konnten früher über 55
derartige Barrieren hinausblicken.« »Möglicherweise«, gestand Sternenfalke ein. »Aber der Spiegel sollte dir zeigen, ob du einen Schwindler vor dir hast oder den echten Sonnenwolf.« Zum erstenmal mußte sie daran denken, warum es Schwester Wellwa für nötig gehalten hatte, in der einen Ecke ihres Zimmers ein geschwärztes Glas aufzubewahren. War sie damals der Meinung gewesen, jemand anders könne ihre Unterkunft betreten, in der Maske einer Person, die sie gut kannte? »Und was dann?« fragte Ari. Sie blickten sich offen an, und Falke schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, flüsterte sie. »Darauf kann ich dir keine Antwort ge ben.« Sie wandte sich von ihm ab und schritt über die Straße, in Rich tung der dunklen Hügel. Links hinter ihr schimmerten einige Lichter in der Nacht. Sie funkelten durch die teilweise eingestürzten Wälle Melpliths. Etwas weiter entfernt konnte Sternenfalke auch das rötli che Glühen der Lagerfeuer sehen. Bis zum nächsten Morgengrauen wollten ihre Kameraden die Zelte abgebaut haben und aufgebrochen sein. Mit Hilfe der Söldner hatte der Rat Kedwyrs eine dominierende Stellung errungen und die anderen Konkurrenten entmachtet, und es würde nicht mehr lange dauern, bis der allgemeine Handel mit Pel zen und Onyx wieder aufblühte. Aus Melplith wurde in naher Zu kunft vermutlich eine langweilige und unwichtige Ortschaft, in der das Leben im normalen Trott verlief – so wie in den kleinen Sied lungen weiter in den Bergen. Was hatte der Krieg überhaupt für einen Sinn gehabt? Viele Menschen waren tot, auch ein Bruder Go baris'. Viele Söldner waren reicher geworden. Viele Frauen hatte man geschändet, Männer zu Krüppeln und Kinder zu Waisen ge macht. Das weite Land nördlich des Gniss-Stromes war noch immer eine Öde, in der Nuuwa und Wölfe umher streif ten. In den kalten Mooren hausten nach wie vor ganze Horden von Dämonen. Scheusa le und Ungeheuer machten die südlichen Wüsten unsicher – während die Städte der Halbinsel um Geld und Macht kämpften und die der mittleren Königreiche sich um religiöse Fragen stritten. Die kalte Feuchtigkeit des steifen Windes peitschte Sternenfalke mitten ins Gesicht und ließ nasse Haarsträhnen an den fast tauben Wangen festkleben. Sie hatte ihr Haar zu einem Knoten zusammen binden wollen, wie vor dem Beginn der sommerlichen Feldzüge, später jedoch nicht mehr daran gedacht. Sternenfalke fragte sich, aus welchem Grund Altiokis den Söld 56
nerkommandeur entführt hatte. Das Angebot der Besucherin aus Mandrigin war von Sonnenwolf ganz offensichtlich zurückgewiesen worden – und doch hatte ihn Stunden später die Nacht verschluckt. Rache? Falke schauderte innerlich, als sie daran dachte, was man sich von der Rache des Magischen Königs erzählte. Oder gibt es andere Gründe? Wird Ari im Laufe des Winters auf einen Mann treffen, der behauptet, Sonnenwolf zu sein? Der Wind strich durch das Farnkraut am Hügelhang links von ihr, doch plötzlich vernahm Sternenfalke auch noch ein anderes Ge räusch… Die Kriegerin zögerte nicht im Schritt, und es entging ihr nicht, daß der Esel, den sie führte, nervös die Ohren zurückstülpte. Man mußte schon sehr geschickt sein, wenn man in einem solchen Terrain selbst in einer windigen Nacht jemanden verfolgen wollte, ohne dabei irgendwelche Geräusche zu verursachen. Die Gräben zu bei den Seiten der aus festem Boden bestehenden Straße waren mit Kies gefüllt, und an vielen Stellen wuchsen dichte Sommerbüsche, die inzwischen bereits ihr Blattwerk abgeworfen hatten. Sternenfalke hätte es sofort hören können, wäre jemand so dumm gewesen, sich in unmittelbarer Nähe der Straße einen Weg durch die Finsternis der Nacht zu bahnen. Als der Weg sich weiter in die hügelige Region hineinwand, waren die Gräben nicht mehr ganz so tief. Dafür jedoch nahm das Dickicht zu. Die Kriegerin ging ruhig weiter, und nach einer Weile fand sie heraus, wo sich der Verfolger befinden mußte: etwa zehn Meter seitlich hinter ihr. Und er kam näher. Ein Mensch. Ein Wolf wäre leiser gewesen, und ein Nuuwa – wenn sich solche Ungeheuer überhaupt in der Nähe von Städten aufhielten – hätte gar nicht erst versucht, sich zu verbergen. Sternen falkes Unruhe nahm zu, als sie an mögliche Spione Altiokis' dachte. Zur Hölle damit, fuhr es ihr durch den Sinn, sie gab vor zu stol pern und fluchte. Das Knacken und Knarren in den Büschen und Sträuchern verstummte. Sternenfalke hinkte übertrieben, wankte an den Straßenrand her an und ließ sich dort nieder. Während sie den Anschein erweckte, sich die Stiefel aufschnüren zu wollen, band sie den Führungsriemen des Esels an einem Zweig fest. Anschließend schob sie sich leise ins Dickicht, glitt durch den nicht sonderlich tiefen und überwucherten Graben und kletterte auf der anderen Seite am Hügelhang empor. Der Himmel bewölkte sich wieder, aber noch reichte das Ster nenlicht aus, um sich einigermaßen zu orientieren. Der Verfolger 57
bewegte sich vorsichtig in den Büschen, und die Kriegerin konzent rierte sich auf die Richtung, aus der sie das leise Knacken der Zwei ge gehört hatte. Geduckt verharrte sie, ließ ihren Blick über die fins tere Landschaft schweifen und beobachtete dunkle Baumstämme und das Fleckenmuster welker Blätter. Nichts. Der Verfolger wartete ab und rührte sich nicht. Behutsam tastete Sternenfalke mit einer Hand über den weichen sandigen Boden, bis ihre Finger das Gesuchte ertasteten: einen mit telgroßen Stein, der von den Fluten vieler Winterregen glattgeschlif fen worden war. Die Kriegerin gab sich die größte Mühe, keine Ge räusche zu verursachen, als sie den Stein aus dem Boden zerrte. Und dann, mit einem jähen Ruck, schleuderte sie ihn in einen nahen Busch. Zufrieden vernahm Sternenfalke ein deutliches Rascheln, und ein Teil des sich ihren Blicken darbietenden Musters aus Schwärze und Graue veränderte sich auf eine Weise, für die nicht allein der Wind verantwortlich sein konnte. Für einen Sekundenbruchteil erhellte das matte Sternenlicht ein blasses Gesicht. Ausgezeichnet, dachte Falke und zog lautlos den Dolch aus der Scheide. Dann drehte sich der Wind, und überraschenderweise roch die Kriegerin den herben Duft von Wacholder, den süßen Hauch von Patchouli. Sternenfalke bereitete sich darauf vor, rasch zur Seite auszuwei chen, für den Fall, daß sie sich irrte, und mit gedämpfter Stimme rief sie: »Kitz!« In der ineinander verwobenen Struktur aus Zwielicht und Fins ternis zeigte sich eine jähe Bewegung. Unter den weiten Falten eines gemusterten Überwurfs zeichnete sich die schlanke und zerbrechli che Gestalt des jungen Mädchens ab. Kitz hatte einen Mantel ge wählt, dessen lehmbraune und olivgrüne Karoverzierungen fast mit der Umgebung verschmolzen. Kitz' Stimme klang unsicher und furchtsam, als sie leise erwiderte: »Sternenfalke?« Falke stand auf, und Kitz bekam einen gehörigen Schrecken, da es für sie den Anschein haben mußte, als wüchse die Kriegerin direkt neben ihr aus dem Boden. Während der Wind sie umheulte und das Farnkraut am Hügelhang wie Wellen bewegte, starrten sie sich eine Zeitlang schweigend an. Sie waren Frauen, und deshalb verstanden sie sich auch, ohne große Worte zu wechseln. Sternenfalke erinnerte sich daran, daß das Gespräch mit Ari im Zelt Sonnenwolfs stattge 58
funden hatte. Kitz mußte sie gehört haben und wußte sicher, wie die Lage war. Kitz sprach zuerst: »Schick mich nicht fort«, sagte sie. »Sei nicht dumm«, erwiderte Sternenfalke barsch. »Ich verspreche, daß ich dir keine Last sein werde.« »Ein solches Versprechen dürftest du kaum halten können, und das weißt du auch«, entgegnete die Kriegerin. »Ich muß die Zitadelle Grimmwall so rasch wie möglich erreichen, und mein Weg führt durch ein recht schwieriges und gefährliches Land. Stell dir die Rei se nicht so vor, als seist du zusammen mit den Truppen von Wrynde nach der Halbinsel und den Mittleren Königreichen unterwegs.« Kitz' Stimme klang verzweifelt, und das Zischen und Seufzen des Windes machte sie zu einem schmerzerfüllten Ächzen. »Weis mich nicht zurück.« Sternenfalke gab zunächst keine Antwort darauf. Sie war zwar eine Kriegerin, doch als Frau entging ihr nicht die große Sorge, die in den wenigen Worten des jungen Mädchens zum Ausdruck kam. Ihre eigene Stimme klang sanfter, als sie erwiderte: »Ari wird dafür sorgen, daß dir nichts zustößt.« »Und was dann?« fragte Kitz leise. »Soll ich den Winter in Wrynde verbringen und dauernd darüber nachgrübeln, wer mich bekommen wird, wenn Sonnenwolf nicht zurückkehrt?« »Das ist besser, als zwischen den Räubern einer Bande hin und her gereicht zu werden und schließlich mit aufgeschnittener Kehle in irgendeinem Graben zu enden.« »Du scheust dieses Risiko, nicht?« Und als Sternenfalke darauf schwieg und nur die Daumen hinter den Schwertgürtel hakte, fügte Kitz hinzu: »Ich schwöre dir: Wenn du mich nicht nach Grimmwall mitnimmst, folge ich dir auf eigene Faust.« Das junge Mädchen beugte sich, und die Böen des steifen Win des blähten den gemusterten Mantel auf; es griff nach einer Tasche, die im Heidekraut zu seinen Füßen lag. Kitz warf sie sich über die Schulter und kam den Hang herab, ging auf die Stelle zu, an der Sternenfalke stand. Dann und wann hielt sie sich an einem Zweig fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und sie hob den lan gen Rock, damit sich der Saum nicht in den Dornen verfing. Sternen falke streckte den Arm aus, um dem jungen Mädchen zu helfen. Der Griff der Kriegerin war so fest wie der eines Mannes. Als sie den Weg erreichte, sah Kitz zu Falke auf und suchte in dem verschlosse nen und maskenhaften Gesicht mit den kalt blickenden grauen Au 59
gen nach irgendeinem Hinweis darauf, was in der größeren Frau vor sich ging. »Ich liebe ihn, Sternenfalke«, sagte Kitz. »Weißt du denn nicht, wie es ist, jemanden zu lieben?« »Ich weiß nur«, antwortete die Kriegerin in einem beabsichtigt kühlen Tonfall, »daß diese Liebe nicht deine sichere Ankunft an der Zitadelle Grimmwall zu garantieren vermag. Ich habe mich deshalb auf die Suche gemacht, weil ich auf einige wenige – nur wenige – Erfahrung im Umgang mit Zauberern zurückgreifen kann und ich davon überzeugt bin, daß es nicht unmöglich ist, Sonnenwolf zu finden und zu retten. Diese Aufgabe hätte ebensogut irgendein uner schrockener Mann aus der Streitmacht unseres Anführers überneh men können. Tatsache ist darüber hinaus, daß ich mich zu wehren verstehe und deshalb keine Angst vor einem Überfall haben muß.« »Und das ist alles?« platzte es aus Kitz heraus. »Nur eine weitere Aufgabe, weiter nichts? Sternenfalke, Sonnengott hat… mich vor einer Gefahr gerettet, die so grauenhaft war, daß ich sie nicht einmal in Worte fassen kann. Ich… ich habe gesehen, wie mein Vater starb…« Die Stimme des jungen Mädchens brach ab, und Falke kam zu dem Schluß, daß der Tod des Vaters Kitz' nicht sehr schnell und schmerzlos gewesen sein konnte. »Eine Bande von stinkenden, lüs ternen und grausamen Banditen hat mich viele hundert Kilometer weit verschleppt. Ich mußte zusehen, wie sie meine Zofe vergewal tigten und umbrachten, und ich wußte damals, daß ich einem solchen Schicksal nur deshalb entging, weil sie glaubten, ich würde als Jung frau einen besonders hohen Preis erzielen. Aber sie erwogen es, über mich herzufallen.« Das Gesicht Kitz' war ein weißes Oval im matten Sternenlicht, und das junge Mädchen zitterte am ganzen Leib, als es sich an die vergangenen Schrecken erinnerte. »Der Gedanke, an einen Söldner führer verkauft zu werden, entsetzte mich so sehr, daß ich den Frei tod gewählt hätte, wäre ich nicht die ganze Zeit über streng bewacht worden. Und dann kaufte mich Sonnenwolf, und er war so gut zu mir, so sanft und zärtlich… « Der Wind hatte die Kapuze des Mantels des jungen Mädchens zurückgeweht, und das Glimmern der Sterne ließ die Tränen glitzern. Falke empfand Kummer und Mitleid – für das ängstliche Kind, das damals verschleppt worden war, für das junge Mädchen vor ihr. Trotzdem ließ sie ihre Worte unbewegt klingen, als sie entgegnete: »Das alles bedeutet nicht, daß du in der Lage bist, den gegenwärti 60
gen Aufenthaltsort des Wolfes sicher zu erreichen.« »Mir kommt es auch gar nicht auf Sicherheit an!« schluchzte Kitz. »Ich möchte ihn nur finden – auch wenn ich mich letztendlich mit seinem Tod abfinden muß.« Verärgert wandte Sternenfalke den Blick von dem jungen Mäd chen ab. Für sie selbst war es keine Frage gewesen, sich auf den Weg zu machen und nach dem Söldnerführer zu suchen. Sie war Sonnenwolf treu ergeben, und sie hätte die Reise in jedem Fall ange treten, auch wenn Ari dagegen gewesen wäre. Ihr Stolz als Kriegerin spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Doch Falke war ehrlich genug, um sich selber einzugestehen, daß die unerschütterliche Ent schlossenheit Kitz' eine Entsprechung ihrer eigenen darstellte. Es kam in dieser Hinsicht gar nicht darauf an, auf welche Gefahren sie unterwegs stoßen mochten. Sternenfalke seufzte und entspannte sich. »Vermutlich«, sagte sie nach einer Weile, »könnte ich dich nur dann abhalten, mir zu folgen, wenn ich dich fessele, ins Lager zurückbringe und dort unter Arrest stelle. Aber abgesehen davon, daß ich dadurch nur kostbare Zeit verlöre: Wir würden uns beide ziemlich lächerlich machen.« Bei dieser Vorstellung kicherte Kitz leise, und Falke beobachtete sie mit einem durchdringenden Blick. »Du weißt doch, daß sich durch deine Schuld der Aufbruch der Truppen verzögern könnte, wenn sich Ari dazu entschließt, in der Stadt nach dir zu suchen?« Seltsamerweise deutete Kitz ein dünnes Lächeln an! Dann beugte sie sich erneut nach ihrer Tasche und schritt auf den Esel zu, der geduldig auf sie wartete. »Ari wird mich nicht suchen«, sagte Kitz. »Er ist gewiß nicht dazu bereit, den Aufbruch erneut zu verschieben. Und außerdem…« Ihre Stimme klang ein wenig verlegen. »Ich habe alle Dinge mitgenommen, die einen gewissen Wert haben: teure Gewänder, Juwelen und andere Sachen. Es muß ganz den Anschein haben, als sei ich mit einem anderen Mann auf und davon. Zu diesem Schluß wird Ari gelangen.« Plötzlich grinste Sternenfalke. Kitz mochte sich noch immer nicht darüber klar sein, auf was sie sich eigentlich einließ, aber sie hatte an die Möglichkeit einer Suche nach ihr gedacht und dafür gesorgt, daß Ari nur mit den Schultern zucken würde. »Willst du etwa behaupten, du hättest alles in der kleinen Tasche bei dir?« Der lockere Klang Falkes' Stimme entging Kitz nicht, und das junge Mädchen sah rasch auf und begegnete dem Blick der Kriege rin. Ein wenig unsicher erwiderte sie das Lächeln der größeren Frau. 61
»Nur die Juwelen. Ich dachte, wir könnten uns damit unterwegs Proviant kaufen. Die anderen Sachen habe ich zusammengeschnürt und über den Rand der Klippen ins Meer geworfen.« »Gut.« Sternenfalke nickte anerkennend. Ganz offensichtlich war sie nicht die einzige Frau, der nicht sonderlich viel an Besitztümern lag. »Du scheinst zu wissen, worauf es ankommt. Vielleicht wirst du doch noch zu einer richtigen Kriegerin.«
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4. Kapitel Als Junge hatte Sonnenwolf einmal an einem heftigen Fieber ge litten. Er hatte die Krankheit so lange wie möglich vor seinem Vater verborgen und war mit den Männern des Stammes in den dunklen und halb gefrorenen Mooren auf Jagd gegangen, dort, wo Dämonen von Baum zu Baum huschten. Nach der Rückkehr versteckte er sich auf dem Dachboden des Stalles. Dort fand ihn seine Mutter, während er im Delirium leise stöhnte, und sie bestand darauf, den Schamanen herbeizurufen. Sonnenwolf erinnerte sich jetzt wieder daran, entsann sich an den brennenden Durst und die feurige Pein, an die niedrigen Dachsparren, an die roten und blauen Drachendarstellungen, die infolge des Rußes nur noch undeutlich zu erkennen waren, an die schrille Stimme des flinken und nervösen kleinen Scharlatans mit seinen heiligen Knochen und den Locken der Vorfahren, auch an seinen Vater, der wie ein großer und zorniger Schatten neben dem rötlich-flackernden Glühen des Feuers in die Höhe ragte. »Wenn er nicht einmal allein damit fertig wird«, so vernahm Sonnenwolf noch einmal die verächtliche Stimme des hünenhaften Mannes, »so sollte er besser sterben. Verschwinde mit deinen stinkenden Kräutern und den schmutzigen Knochen von hier. Selbst Ziegenmilch kann eine bessere Magie bewirken.« Wolf entsann sich auch an das entrüstete Schnauben des Schamanen. Der Heilkundige hatte natürlich gewußt, daß die Worte des Vaters Wolfs der Wahrheit entsprachen. Und der Söldnerführer erinnerte sich an die gräßliche Qual des Durstes, die er damals ausgestanden hatte. Der Traum veränderte sich. Kühle Hände berührten sein Gesicht und führten ihm den Rand des Bechers an die Lippen. Das Metall war eiskalt, ebenso wie das Wasser. Als er trank, öffnete er die ge schwollenen Lider und blickte in die bernsteinfarbenen Augen eines jungen Mädchens. Die sich darin abzeichnende Furcht erachtete er als einen Beweis dafür, daß er wirklich aufgewacht war. Ich hätte diese Frau fast umgebracht, dachte er benommen. Aber sie hat doch auch versucht, mich zu töten, oder? Es fiel ihm schwer, sich zu erinnern. Außer dem Duft des jungen Körpers roch Wolf auch das salzige Aroma des Meeres. Aus dem leisen Knarren von hölzernen Planken, dem Knirschen von Tauen und der Tatsache, daß sich das Bett sanft hin und her neigte, schloß er, sich an Bord eines Schiffes zu befinden. Noch immer glomm Furcht in den großen 63
Augen der jungen Frau, aber sie zog den weichen Arm, der seinen Kopf stützte, nicht zurück. Erneut hielt sie ihm den Becher an die Lippen, und er trank ihn aus. Er versuchte, der Frau zu danken, brachte jedoch kein Wort hervor. Er gab sich vergeblich Mühe, seine Begleiterin zu fragen, warum sie auf seinen Tod aus gewesen war. Von einem Augenblick zum anderen schlief Sonnenwolf wieder ein. Der nächste Traum war schlimmer, eine Schreckensvision aus ihn erneut heimsuchender heißer Qual. Wie durch einen Nebel der Pein sah er Dunkelheit und Fels, spürte schneidenden Wind, hatte das Gefühl, gefangen zu sein und unheilvollen Mächten als hilfloses Opfer angeboten zu werden. Es war, als hinge er über einer bodenlo sen Schlucht der Veränderungen, des Verlustes und tiefer Einsam keit. Aus der Finsternis schienen sich ihm Dämonen zu nähern – Dämonen, die nur er sehen konnte, obgleich andere Menschen (sein Vater zum Beispiel, die anderen Angehörigen seines Heimatstam mes, selbst der Schamane) nur undeutliches Knurren vernahmen und ein Gefühl des Grauens verspürten. Einmal gewann Wolf den Ein druck, die Schule von Wrynde zu erkennen, klein und fern, armselig und verlassen wirkend in dem strömenden Regen; und nur der alte Krieger, der sich während der Abwesenheit der Streitmacht um die Gebäude kümmerte, war zugegen und fegte braune Blätter vom Bo den der Ausbildungshalle. Der besondere Geruch dieses Ortes und die vertraute Atmosphäre waren wie Stimmen, die laut in dem Kran ken widerhallten, und er hatte das Gefühl, als brauche er nur die Hand auszustrecken, um das abgenutzte Holz der Zedernsäulen zu berühren und den Wind zwischen den nahen Felsen flüstern zu hö ren. Dann löste sich diese Vision in einem Sturm aus Feuer auf, und Sonnenwolf verlor sich in wirbelnder Dunkelheit, in der sich immer wieder Lanzen aus Schmerz bildeten, die sich tief in seinen Leib bohrten. Nach einer Weile schließlich ließ auch diese Pein nach, und die Finsternis erhellte sich allmählich. Sonnenwolf erwachte und fühlte sich ausgezehrt. Er kam sich vor wie eine aufgebrochene Muschel, die von einer Welle an den Strand geworfen worden war, verbrannt von Sonne und Salz, bis nichts mehr von ihr übrigblieb. Der Söldner führer fror, und er war so müde, daß er bezweifelte, die Kraft zu haben, auch nur die Hand zu heben. Er starrte an die Deckenbalken, lauschte dem Knarren der Planken und spürte das Schlingern des Schiffes. Das Wasser des Ozeans rauschte am Rumpf entlang, und 64
irgendwo glänzte helles Sonnenlicht. Sie befanden sich auf dem offenen Meer, schloß der Söldnerfüh rer, und mit recht großer Geschwindigkeit segelten sie vor dem Wind. Wenn jetzt ein Sturm losbrach und das Schiff zerschmetterte – Sonnenwolf hätte nicht die Kraft gehabt, zu schwimmen und sich selbst zu retten. Also würde ich als Fischfutter enden. Doch der kühle und gelassene Teil seines Geistes – jener Faktor seiner Seele, der immer nur ein ruhiger Beobachter war – gab des wegen keinen Alarm. Es spielte keine Rolle. Nichts war mehr wich tig. Während sich das Schiff in einem langsamen Rhythmus hin und her neigte, wanderte das Sonnenlicht immer wieder über das Gesicht des Söldnerkommandeurs, und er mußte sich eingestehen, daß es ihn nicht einmal interessierte, wo er lag. Eine Stunde verstrich. Das Sonnenlicht kroch langsam über die Decke, die seinem Leib Wärme schenkte und sich wie ein ausgebli chener Schal über das Fußende der Koje stülpte. Der vergoldete Rand des leeren Bechers auf dem kleinen Tisch neben der Liege schimmerte dann und wann in den unsteten Schatten. Kurz darauf vernahm Sonnenwolf das Geräusch von Schritten, die sich ihm von einer nahen Treppe her näherten. Die Tür dem Fußende des Bettes gegenüber öffnete sich, und Sheera Galernas trat ein. Also steckt nicht der Ratsvorsitzende von Kedwyr dahinter, dach te Sonnenwolf, und seltsamerweise hatte er noch immer das Gefühl, als ginge ihn das alles nichts an. Sheera blieb einige Sekunden lang in der Tür stehen und beo bachtete ihn leidenschaftslos, dann trat sie ein. Schweigend folgten ihr vier weitere Frauen, die wie sie für die Reise in praktische lange Röcke und gefütterte Leibchen gekleidet waren und leichte Stiefel trugen. Eine Zeitlang sprach niemand ein Wort. Die Frauen beobach teten ihn nur stumm und bezogen hinter Sheera Aufstellung – wie Ministranten hinter einer Priesterin, die ein dunkles Ritual vorberei tete. Zu ihnen gehörte auch die Frau mit den bernsteinfarbenen Au gen, das Mädchen, dem er in die Gasse gefolgt war. Ihr schmales Gesicht schien nun sonderbar verschlossen zu sein, und sie hatte den Kopf gesenkt und wirkte… wie? Beschämt? Warum ausgerechnet beschämt? Sonnenwolf erinnerte sich wieder an den Rosenduft im Zimmer der jungen Frau, an die Wärme ihres zärtlichen Körpers. 65
Trotz ihrer Jugend war sie eine professionelle Gewerbedame, daran konnte kaum ein Zweifel bestehen… Warum beschämt? Aber der Söldnerführer war viel zu müde, um sich länger Gedanken darüber zu machen. Die Frau neben dem jungen Mädchen mit den Bernstein-Augen war ebenso hübsch, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Sie schien keine berufsmäßige Freudenspenderin zu sein. Sie war so zart und fragil wie eine Puppe aus Porzellan, und sie hatte sich das mondhelle Haar im Nacken lose zusammengebunden. Unter den seeblauen Augen zeigten sich winzige Falten, die auf Kummer und ein hartes Leben hindeuteten. Sonnenwolf fragte sich, warum sie zur Begleitung einer so gefährlichen Frau wie Sheera gehöre, was sie überhaupt hier zu suchen habe. Keine der beiden anderen Frauen zeichnete sich durch ein beson ders attraktives Äußeres aus. Sie waren hochgewachsen, und die jüngere von ihnen kam fast an die Größe des Söldnerführers heran: ein breitschultriges, muskulöses Mädchen, das Sonnenwolf an die Kriegerinnen seiner Streitmacht erinnerte. Wie ein Mann trug es Kniehosen aus Leder und ein besticktes Hemd, und die Bräunung des glattrasierten Schädels wies darauf hin, daß sich diese Frau oft im Freien aufhielt. Auch ihr Gesicht war dunkel, und auf den Wan gen zeigten sich Dutzende von Narben. Man hätte sie für einen Gla diatoren halten können. Sonnenwolf dachte kurz nach und kam dann zu dem Schluß, daß diese Vermutung sehr wahrscheinlich der Wahr heit entsprach. Die letzte Frau hielt sich aus irgendeinem Grund im Schatten. Das Zwielicht konnte jedoch nicht die Tatsache verbergen, daß sie die häßlichste der Besucherinnen war. Sie mochte mittleren Alters sein und hatte eine stark gekrümmte Nase. Am breiten Mund zeigte sich ein Muttermal, dessen lehmbraunes Band bis hin zu dem vorste henden Kinn reichte. Die Brauen vereinten sich über dem Nasenrü cken zu einem buschigen Riegel, und die Augen glitzerten im kalten Grün von Jade. Ihr starrer Blick machte eine unbestimmte Verbitte rung deutlich; vielleicht war sie schon von Kindesbeinen an wegen ihrer Häßlichkeit verspottet worden. Die Frauen sahen von ihm zu Sheera, und schließlich blieb ihre Aufmerksamkeit auf letztere gerichtet. Zwar fühlte sich Sonnenwolf fast zu müde, um zu sprechen, aber nach einer Weile fragte er: »Sind auch meine Männer entführt wor den?« Seine Stimme klang ganz leise und monoton, und er sah, wie 66
die Frauen die Köpfe ein wenig zur Seite neigten, um ihn zu verste hen. Außerdem hörten sich die Worte ein wenig kratzig an, so als riebe man zwei rostige Eisenstücke übereinander. Vielleicht, so über legte er, eine Auswirkung des Giftes. Sheera erkannte den Sarkasmus der Frage nicht, und sie versteifte sich leicht und erwiderte ruhig: »Nein. Nur du.« Sonnenwolf nickte, und diese Bewegung erforderte seine ganze Kraft. »Willst du mir noch immer die zehntausend Goldstücke zah len?« »Ja, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast.« »Hmm.« Langsam ließ er seinen Blick über die anderen Frauen schweifen. Ein Teil seines Geistes kämpfte gegen die Lähmung an, die seinen Körper erfaßt hatte, gegen die damit einhergehende Hilf losigkeit. Irgendeine Stimme in ihm wies ihn immer wieder darauf hin, daß er einen Ausweg finden mußte, aber ihr warnender Klang verlor sich erneut im Nebel der Gleichgültigkeit, der fast sein ganzes Selbst ausfüllte. »Ganz allein werde ich ein wenig länger brauchen, um die Männer Mandrigins aus den Bergwerken Altiokis' zu befrei en.« Diese Bemerkung blieb nicht ohne Wirkung auf Sheera, und er sah, wie sie die vollen roten Lippen zusammenpreßte. Die Frau, die er zuvor mit einer Puppe aus Porzellan verglichen hatte, lächelte dünn. »Du wirst nicht ganz alleine sein«, sagte Sheera leise und den noch nachdrücklich. »Wir bringen dich als einen Lehrer nach Mandrigin – einen Lehrer, der uns in den Künsten des Krieges un terweisen soll. Anschließend stellen wir unsere eigene Streitmacht zusammen und befreien die Stadt.« Aus halb geschlossenen Augen beobachtete Sonnenwolf die Frau eine Zeitlang, und er begriff, daß Sheera eine wirkliche Fanatikerin war, tollkühn und gefährlich und auch stark. »Und wer, wenn ich fragen darf«, entgegnete er erschöpft, »soll gegen Altiokis in den Kampf ziehen, wenn alle Männer in den Minen für ihn Frondienste verrichten?« »Wir«, antwortete Sheera. »Die Frauen von Mandrigin.« Sonnenwolf seufzte und schloß die Augen. »Sei doch nicht dumm.« »Was soll denn daran dumm sein?« gab Sheera scharf zurück. »Du bist doch ganz offensichtlich nicht dazu bereit, das ach so kost bare Leben deiner Männer zu riskieren, nicht einmal für einen au 67
ßergewöhnlich hohen Sold. Wir werden nicht einfach die Hände in den Schoß legen und ruhig zusehen, wie Altiokis die miesesten Mistkerle in der Stadt als Bürgermeister einsetzt, die uns anschlie ßend mit immer neuen Steuern traktieren und jeden nach Belieben verschleppen und zur Arbeit in den Bergwerken des Zauberers oder seiner Armee zwingen können. Es ist unsere Stadt! Und selbst in Mandrigin, wo Frauen nur verschleiert die Häuser verlassen dürfen und keine politischen Rechte haben, gibt es Gladiatorinnen wie Den ga Rey. In anderen Städten können Frauen in der Bürgerwache die nen oder Kriegerinnen werden. Auch in deiner Streitmacht gibt es Frauen, die für dich kämpfen. Als ich dich besuchte, habe ich eine von ihnen in deinem Zelt gesehen.« Während der scharfe Klang der Stimme Sheeras verhallte, erlebte Sonnenwolf vor seinem inneren Auge erneut die kurze Begegnung Sternenfalkes und Sheeras, beobachtete, wie sie sich anstarrten, wie zwei zum Sprungbereite Raubkatzen, vom Rauch der nahen Feuer umwallt. Müde erwiderte er: »Das war keine Frau, sondern meine Stellvertreterin, eine der besten Kriegerinnen, die ich kenne.« »Aber eben weiblichen Geschlechts«, beharrte Sheera. »Und sie ist nicht die einzige Kriegerin in deiner Truppe. In der Stadt sagte man, du hättest schon einmal Frauen zum Kampf ausgebildet.« »Ich habe Soldaten gezeigt, wie man eine Schlacht gewinnt«, sagte Sonnenwolf, ohne die Augen zu öffnen. Das Gespräch ermüde te ihn so sehr, daß er gegen das Dunkel des Erschöpfungsschlafes ankämpfen mußte. »Wenn einige von ihnen später Säuglinge stillen, so geht mich das nichts an – solange sie nicht ausgerechnet während der Ausbildung schwanger werden. Ich halte es allerdings für völlig zwecklos, eine ganze Armee allein aus Frauen zusammenzustellen, von denen die meisten nicht die geringste Kampferfahrung haben.« »Das wirst du aber«, entgegnete Sheera leise. »Es bleibt dir keine andere Wahl.« »Frau«, sagte Sonnenwolf, und der ruhige und beobachtende Teil seines Geistes wies ihn darauf hin, daß ein Streitgespräch mit einer Fanatikerin ebenso viel Sinn hatte wie mit einem Betrunkenen, je doch weitaus gefährlicher war, »das, was ich über Altiokis sagte, gilt noch immer. Es liegt mir fern, gegen ihn Partei zu ergreifen, und ganz sicher werde ich keine Armee aus Weibsbildern zusammenstel len, die dann von einer Wahnsinnigen wie dir befehligt wird. Ganz gleich, was du mir auch bietest, ob nun zehn- oder zwanzigtausend Goldstücke: Du kannst mir nichts anbieten, was geeignet wäre, mei 68
ne Meinung zu ändern.« »Und was ist mit deinem Leben?« fragte Sheera, und ihre Stim me klang ganz ruhig, fast unbeteiligt. »Ist dieser Preis hoch genug?« Sonnenwolf seufzte. »Derzeit ist mein Leben nicht einmal mehr eine Kupfermünze wert. Wenn du mich über Bord und den Fischen zum Fraß vorwerfen willst, so habe ich keine Möglichkeit, dich daran zu hindern.« Das war eine ziemlich törichte Bemerkung, was Sonnenwolf auch wußte. Sheera würde sich davon kaum beeindrucken lassen, und der Söldnerführer bezweifelte, ob sie sich in der derzeitigen Situation irgendwie unter Druck setzen ließ. Ganz offensichtlich war sie die vorherrschende Autorität auf diesem Schiff, denn immerhin hatte sie den Kapitän dazu bewegt, um diese Jahreszeit den sicheren Hafen zu verlassen und das Risiko einzugehen, daß das Schiff von den Gewalten eines Wintersturms an ein Riff geschmettert wurde. Erneut begriff Sonnenwolf, wie hilflos er den Launen dieser Frau ausgeliefert war. Er hatte mit einem Wutanfall Sheeras gerechnet, ähnlich dem an jenem Abend in seinem Zelt. Aber sie verschränkte nur die Arme und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Die schimmernden Locken ihres Haars strichen über den steifen bestickten Kragen. Im Plauder ton sagte sie: »Das Wasser, das du eben getrunken hast, enthielt Anzid.« Der Schock, der mit diesen Worten einherging, schnürte dem Söldnerführer jäh die Luft ab, so als habe sich ihm eine Garrotte um den Hals gelegt. Er schlug die Augen auf, und die Furcht umklam merte mit Klauen aus Eis sein Herz. »Ich habe nichts getrunken«, sagte er, und sein Gaumen war so trocken wie Staub. Er hatte Men schen durch Anzid sterben sehen. Bei einigen von ihnen waren die Schmerzen zwei Tage lang mit jeder verstreichenden Sekunde hefti ger geworden, und sie hatten bis zum Tode geschrien. Zum erstenmal ergriff die häßliche Frau das Wort, und der Klang ihrer leisen Stimme war so lieblich wie die Melodie einer Flöte aus Rosenholz. »Du hast dich im durch das Pfeilgift hervorgerufenen Fieberwahn hin und her gewälzt, und als du wieder zu dir kamst, warst du durstig«, sagte sie. »Bernsteinauge gab dir Wasser zu trin ken.« Mit ihrer langen und schmalen Hand deutete sie auf den leeren Becher auf dem kleinen Tisch neben dem Bett. »Und damit hast du auch eine Dosis Anzid zu dir genommen.« Entsetzen stieg in dem Söldnerführer empor. Sheeras Gesicht war 69
völlig starr und ausdruckslos. Bernsteinauge wandte den Blick von ihm ab, und die Wangen des jungen Mädchens waren vor Scham gerötet. »Du lügst«, hauchte Sonnenwolf, wußte aber, daß er sich selbst etwas vorzumachen versuchte. »Glaubst du wirklich? Yirth war lange genug Hebamme, Heilerin und Abtreiberin, um sich mit Giften aller Art auszukennen. Sie dürf te wohl kaum einen Fehler gemacht haben. Wenn du aus Angst vor Altiokis davor zurückschreckst, uns zu helfen, so darf ich dir versi chern, daß nichts, was der Zauberkönig dir im Falle unserer Nieder lage anzutun vermag, so schlimm sein kann wie ein langsamer und qualvoller Tod durch Anzid. Es gibt somit keinen Grund mehr für dich, uns deine Dienste nicht zur Verfügung zu stellen. Du hast nichts mehr zu verlieren.« Sonnenwolf fühlte sich zwar so schwach, daß er die ganze Zeit über geglaubt hatte, keinen Muskel rühren zu können, aber jetzt begann er am ganzen Leib zu zittern. Er fragte sich, wie lange es dauern mochte, bis er die ersten Symptome der Anzid-Vergiftung zu spüren bekam. Er dachte kurz daran, sich auf Sheera zu stürzen, sie an ihrem dünnen Hals zu packen und sie einfach zu erwürgen. Doch nach wie vor war er ein Gefangener der Erschöpfung – und außer dem hätte er sich dadurch nicht retten können. Es hatte nicht einmal Zweck, Sheera zu verfluchen. Als er eine Zeitlang geschwiegen hatte, erklang erneut die Stim me der Frau namens Yirth. Aus dem Schatten heraus richtete sich der kühle Blick ihrer jadegrünen Augen auf den Söldnerführer und mus terte ihn abschätzend. »Ich bin zwar keine so gute Magierin wie meine Lehrmeisterin, bevor sie von Altiokis umgebracht wurde«, sagte sie, »aber ich kann die Wirkung des Giftes trotzdem von Tag zu Tag mit Hilfe von Zauberformeln neutralisieren. Wenn wir Mandrigin erreichen, werde ich dich mit einem besonderen Bann belegen, der dafür sorgt, daß du nur dann vor einem schrecklichen Anzid-Tod sicher bist, wenn du einen Teil jeder Nacht in der Stadt verbringst. Das tatsächliche Gegenmittel«, fuhr Yirth fort, und in ihrer sonderbar melodischen Stimme ließ sich ein gewisser boshafter Unterton vernehmen, »erhältst du zusammen mit den Goldstücken, wenn du uns nach der Befreiung Mandrigins verläßt.« Sonnenwolf konnte das Zittern nicht mehr länger unterdrücken. Er gab sich alle Mühe, sich die Panik nicht anmerken zu lassen, als er erwiderte: »Also bist du auch eine Magierin. Die Frau, die über 70
das Wetter zu gebieten vermag.« »Natürlich«, gab Sheera verächtlich zurück. »Glaubst du etwa, wir würden einen Angriff auf die Zitadelle Altiokis' erwägen, ohne auf magische Hilfe zurückgreifen zu können?« »Ich glaube, du bist verrückt genug, alles zu wagen!« Er war nahe daran, Sheera zu verfluchen und sich mit seinem Ende abzufinden – aber nicht ausgerechnet mit diesem Tod. Son nenwolf ließ den Kopf auf das dünne Kissen zurücksinken und schloß die Augen. Das Zittern, das zuvor seinen ganzen Körper er faßt hatte, ließ allmählich nach. Er fühlte sich völlig ausgezehrt, und selbst die Furcht schien mehr Kraft zu erfordern, als er erübrigen konnte. In der Stille hörte er, wie das Wasser des Ozeans am Rumpf des Schiffes entlanggurgelte, und er vernahm auch das gedämpfte Atmen der Frauen. Das Schweigen war wie eine Medizin, die seinem Leib neue Ru he bescherte und ihm die Gelegenheit gab, sich Kraftreserven zu erschließen. Eine sonderbare Gelassenheit überkam ihn. Sonnenwolf wußte plötzlich, daß er einen grauenhaften Tod erleiden würde, auf die eine oder andere Weise. Als er dies als eine Tatsache akzeptiert hatte, begann er konzentriert damit, nach Möglichkeiten zu suchen, Zeit zu gewinnen, der gegenwärtigen und unmittelbaren Gefahr zu entkommen und – irgendwie – zu überleben. Allerdings gab es dafür wohl kaum noch eine Chance, dachte er mit einer gewissen Verbitte rung. Doch alte Gewohnheiten kann man nicht so schnell loswerden. Bei den Geistern meiner Vorfahren, die in den kalten Fluten der Hölle frieren: Ich habe mich von verdammten Frauen hereinlegen lassen! Er holte tief Luft und ließ den Atem langsam entweichen. Irgend etwas rührte sich in ihm, zeigte eine zögernde Bereitschaft, ins Le ben zurückzukehren, und Sonnenwolf öffnete die Augen und muster te die wartenden Frauen. Er beobachtete sie nacheinander, nahm alle Einzelheiten in sich auf, studierte sie so, als seien sie gemeinsam in Wrynde erschienen, um ihn um eine Ausbildung zu bitten. Er fragte sich, ob der nachtblaue Überwurf Sheeras nicht nur weibliche Wöl bungen verbarg, sondern auch geübte Muskeln. Er fragte sich, wer von ihnen ein so guter Schütze war, um ihn in dunkler und stürmi scher Nacht über eine Entfernung von rund fünfzig Metern hinweg mit einem schlichten Pfeil zu treffen. »Verdammt!« Sonnenwolf seufzte und richtete den Blick wieder auf Sheera. »Was also erwartest du von mir?« 71
Sie zwinkerte, offenbar überrascht darüber, daß er sich so rasch geschlagen gab. »Wie?« »Welche Rolle soll ich übernehmen?« fragte Sonnenwolf. Die Müdigkeit machte seine Stimme undeutlich. Er versuchte, sich auf den Rest seiner Kraft zu besinnen, und er spürte deutlich, wie sie ihm wie feiner Sand durch die Finger rann. Er wollte sich räuspern und lauter sprechen, brachte jedoch nur ein unartikuliertes Krächzen hervor. Als sei plötzlich irgendein Bann gebrochen, der die Frauen auf Distanz hielt, kamen sie näher an die Koje heran. Bernsteinauge und die Frau, die so sehr einer zerbrechlichen Porzellanpuppe ähnel te, ließen sich sogar auf der Kante der Liege nieder. Sheera traute dem Frieden noch nicht ganz. Sie hatte die Arme nach wie vor ver schränkt und musterte ihn aufmerksam. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. »Wenn Altiokis alle kampffähigen Männer in Ketten gelegt und in die Bergwerke verschleppt hat«, fuhr der Söldnerführer fort, »muß ein Fremder, der von einem Tag zum anderen in deinem Haus auf taucht, Verdacht erwecken. Als was willst du mich ausgeben? Als deinen lang vermißten Bruder? Einen Liebhaber, den du in Kedwyr kennenlerntest? Einen Leibwächter?« Die Frau, die wie eine Porzellanpuppe aussah, schüttelte den Kopf. »Wir müssen dich als Sklaven darstellen«, sagte sie mit dump fer und heiserer Stimme. »Das sind die einzigen Männer, die um diese Jahreszeit in der Stadt anzutreffen sind. Im Winter kommen keine Händler oder andere Reisende nach Mandrigin.« Als sie das zornige Blitzen in den Augen Sonnenwolfs bemerkte, fügte sie im Tonfall kühler Vernunft hinzu: »Du weißt, ich habe recht.« »Und obgleich du es demütigend finden magst, als Sklave einer Frau zu gelten«, sagte Sheera spöttisch, »spielt es jetzt eigentlich keine Rolle mehr, was du davon hältst, nicht wahr, Kommandeur?« Sie sah ihre Begleiterinnen an. »Güldene Shorad hat recht«, sagte sie. »Niemand wird aufgrund des Aufenthaltes eines weiteren Skla ven in der Stadt Verdacht schöpfen. Der Schiffsschmied kann ihm sicher einen Eisenkragen anfertigen, bevor wir den Hafen erreichen.« »Was ist mit Derroug Dru?« fragte Bernsteinauge besorgt. Sie wandte sich an Sonnenwolf und erklärte: »Das ist der neue Bürger meister, der von Altiokis eingesetzt wurde. Es heißt, er würde dann und wann Sklaven beschlagnahmen.« »Was sollte er mit einem weiteren Diener anfangen?« fragte die 72
Gladiatorin Denga Rey und hakte die Daumen hinter den Schwert gürtel. Güldene Shorad runzelte die Stirn. »Und welchen Grund sollte Sheera haben, sich einen Sklaven zuzulegen?« fragte sie nachdenk lich. Aus der Nähe konnte Sonnenwolf nun feststellen, daß sie älter war, als er zunächst angenommen hatte. Sie mochte im Alter Ster nenfalkes sein, also rund siebenundzwanzig. Zumindest älter als die anderen Frauen, mit Ausnahme der Hexe Yirth, die nach wie vor im Schatten in der Nähe der Tür verweilte und sie alle aus ihren kühl blickenden, jadegrünen Augen beobachtete. »Wir können ihn nicht einfach als Sklaven präsentieren, ohne ei ne Erklärung dafür zu haben, zu welchem Zweck du ihn gekauft hast«, gab die zarte Frau zu bedenken und zupfte dabei mit den dün nen Fingern ihrer schmalen Hand an einer Strähne ihres elfenbein farbenen Haars. »Könntest du einen Stallburschen gebrauchen?« fragte Bern steinauge. »Ich habe bereits einen, und der würde sicher mißtrauisch, wenn ich plötzlich behauptete, die Hilfe eines zweiten zu benötigen«, sagte Sheera. Sie wirkte so verwirrt, daß Sonnenwolf der Versuchung nachgab, den Spieß umzudrehen. »Die Lösung dieses Problems ist nicht ganz so einfach wie meine Vergiftung, nicht wahr? Bist du verheiratet?« Ein rötlicher Schimmer entstand auf den Wangen der Frau: »Mein Gemahl ist tot.« Der Söldnerführer betrachtete sie mit einem durchdringenden Blick und knurrte: »Kinder?« Weitere rote Flecken entstanden, als der Ärger Sheeras zunahm. »Meine Tochter ist sechs, mein Sohn vier Jahre alt.« »Also zu jung, als daß sie einen Waffenmeister gebrauchen könn ten.« Denga Rey fügte boshaft hinzu: »Es wäre ohnehin nicht sinnvoll, dich in der Stadt mit einem Schwert herumlaufen zu lassen, Söldner. Der alte Derroug Dru verdächtigt jeden, der geschickt genug ist, sich beim Schneiden des Fleisches nicht die Finger abzuhacken. Außer dem argwöhnt er insbesondere großen und athletischen Burschen, so wie du einer bist.« »Prächtig«, kommentierte Wolf ohne große Begeisterung. »Ein mal abgesehen davon, wo ich die Streitmacht ausbilden soll, die ihr zusammenstellen wollt, und woher ihr das Geld für die Bezahlung 73
der Waffen zu nehmen gedenkt… « »Wir haben Geld genug!« erwiderte Sheera rasch. »Es würde mich ziemlich überraschen, wenn in einer Stadt, die gerade von Altiokis erobert wurde, jemand Waffen zum Verkauf anböte. Wie groß ist Mandrigin überhaupt? Und wie verdiente sich dein verstorbener Gemahl seinen Lebensunterhalt?« Nach den wenigen Silberstreifen zu urteilen, die deine Hand schuhe verzieren, kann der arme Kerl nicht mehr als fünf tausend im Jahr nach Hause gebracht haben, dachte Sonnenwolf. »Er war Kaufherr«, erwiderte Sheera, und ihr Atem beschleunig te sich, während sie versuchte, sich zu beherrschen. »Export. Dies ist eins seiner Schiffe. Allerdings geht dich das kaum etwas an… « »Und ob mich das etwas angeht!« hielt ihr Sonnenwolf scharf entgegen. »Schließlich soll ich das, was von meinem Leben übrig geblieben ist, riskieren, um euch Weibsbildern beizubringen, wie man kämpft. Verdammt, ich möchte ganz sicher sein, daß ihr euch nicht auf den Weg macht, um die Männer aus den Bergwerken zu befreien, bevor ich sowohl das Geld als auch das Gegenmittel be kommen habe und aus dem stinkenden Misthaufen, den ihr eure Heimatstadt nennt, verschwunden bin. Gibt es in Mandrigin auch Gärten? Zum Beispiel eine Orangerie?« »Ja, die haben wir«, antwortete Sheera mürrisch. »Sie ist schon seit einigen Jahren geschlossen. Ich habe sofort daran gedacht, als wir den Plan faßten, dich nach Mandrigin zu bringen. Dort könnten wir die Übungen veranstalten.« Der Söldnerführer nickte. Es gab nur sehr wenige Regionen, wo Orangenbäumchen selbst während des Winters im Freien wachsen konnten, aber in fast allen Städten – soweit das Klima es erlaubte – gab es kleinere Anpflanzungen. Oftmals handelte es sich bei Orange rien um große und schuppenartige Gebäude, die meistens nicht be sonders dazu geeignet waren, Obstbäume vor den Unbilden des Win ters zu schützen, die sich jedoch gut als Ausbildungshallen verwen den ließen. »Was ist mit Gärtnern?« »Es gab zwei von Ihnen, Freigelassene«, sagte Sheera und fügte ein wenig leiser hinzu: »Sie schlossen sich der Armee Tarrins an und marschierten mit den anderen Soldaten nach dem Eisernen Paß. Sie waren zwar nicht in Mandrigin geboren, aber sie hielten ihre Freiheit für kostbar genug, um sie zu verteidigen…« »Was ziemlich dumm ist«, unterbrach Sonnenwolf sie und beo 74
bachtete, wie es in ihren Augen wütend blitzte. »Könnte jene Oran gerie auch als Unterkunft dienen?« »Ja«, sagte Sheera, und es fiel ihr sichtlich schwer, ihren Zorn im Zaum zu halten. »Gut.« Erneut nagte die Müdigkeit an seinen Gedanken, und diesmal konnte er die Erschöpfung nicht wieder zurückdrängen. Es war, als hätten das Gespräch, das konzentrierte Nachdenken und der innere Widerstand gegen das, was ein Teil seines Ichs als unaus weichliches Schicksal interpretierte, den Rest der ihm noch verblie benen Kraft aufgezehrt. Das trübe Sonnenlicht, die Gesichter der Frauen, ihre leisen und gedämpften Stimmen – das alles schien im mer weiter vor ihm zurückzuweichen, und es fiel ihm schwer, die Züge Sheeras und ihrer Begleiterinnen weiterhin deutlich zu erken nen. »Du… wie lautet dein Name? Denga Rey… ich brauche dich als meine Stellvertreterin. Kämpft ihr während des Winters?« »In Mandrigin?« erwiderte sie spöttisch. »Wenn es nicht gerade abwechselnd regnet und hagelt, können höchstens Boots-Wettfahrten veranstaltet werden. Nein, die letzten Kämpfe fanden vor drei Wo chen statt.« »Ich hoffe, du bist dabei gründlich in die Mangel genommen worden«, sagte Sonnenwolf leidenschaftslos. »Mach dir keine falschen Hoffnungen, Söldner.« Sie stemmte die Hände in die muskulösen Hüften, und in ihren dunklen Augen leuch tete es verächtlich. »Ich frage mich, wer sich um all die kleinen Bäumchen kümmern soll, so daß es den Eindruck hat, als sei wirk lich ein Gärtner am Werk. Wenn Sheera jemand anders damit beauf tragt, muß das Verdacht erwecken.« Sonnenwolf hob den Kopf. »Diese Aufgabe muß ich wohl über nehmen«, sagte er. »Und ich bin auch dazu geeignet: Von Berufs wegen bin ich zwar Söldner, aber in meiner Freizeit beschäftige ich mich gern mit Gartenarbeit.« Er sah Sheera an. »Allerdings verlange ich, daß ich dafür ein zusätzliches Entgelt bekomme.« Zum erstenmal lächelte Sheera, und dadurch wirkte sie fast freundlich. In diesen Augenblicken konnte sich Sonnenwolf vorstel len, daß Männer um sie gekämpft hatten, um sie für sich zu gewin nen. Sie war sicher nicht ohne Grund so arrogant und eingebildet. »Einverstanden«, entgegnete sie. »Außer den zehntausend Goldstü cken sollst du auch noch einen Gärtnerlohn bekommen.« Der Söldnerführer seufzte, schloß die Augen und fragte sich, ob es klug sei, ihr zu sagen, was sie seiner Meinung nach mit den 75
Goldstücken machen sollte. Als er jedoch wieder aufsah, war es dunkel. Der Nachmittag hatte längst der Nacht Platz gemacht, und die Frauen waren schon vor Stunden gegangen.
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5. Kapitel Als sie in den Hafen von Mandrigin einliefen, folgten ihnen die Winterstürme dichtauf, und man hätte die Regenwolken für sonder bare Schatten des Schiffes selbst halten können. Während des Vormittages hatte sich Sonnenwolf im mittleren Teil des Seglers aufgehalten und die Wolken beobachtet, die ihnen wie ein dunkler Wall durch das Inselgewirr folgten, ein Wall, in dem es dann und wann bedrohlich flackerte und blitzte. Er fragte sich bei dieser Gelegenheit, ob – wenn das Schiff auf den dem Hafen vorge lagerten Felsenriffen zerschellte – er dazu in der Lage sein mochte, in das ruhige Wasser zu schwimmen, bevor die hohen Brecher ihn zerschmetterten. Eine Zeitlang gab er sich der Hoffnung hin, daß es tatsächlich zu einem solchen Unglück kam, daß das Schiff mit allen Seelen an Bord – insbesondere mit Sheera und ihren kampflüsternen Begleiterinnen – ein Opfer der Winde und der See wurden. Diese Vorstellung, so fand er, war nicht ohne einen gewissen Reiz. Bis ihm einfiel, daß er, wenn ihn das Meer nicht umbrachte, durch das Anzid in seinem Leib sterben würde. Als der Segler durch den schmalen und zu beiden Seiten von Wachtürmen gesäumten Zugang in den eigentlichen Hafen glitt, wandte Sonnenwolf den Blick von der düster und einsam wirkenden Gestalt Yirths ab, die auf dem Achtersteven des Schiffes stand und Ausschau hielt, so wie auch während der vergangenen drei Tage. Er sah über die schaumigen grauen Fluten des Hafens hinweg und beo bachtete die Stadt Mandrigin, die sich wie ein buntes Juwel auf Hun derten von Inseln erstreckte. Mandrigin war die Königin aller Städte an den Küsten des Me gantischen Ozeans, ein Zentrum des Handelns. Selbst im trüben Licht des Wintertages glitzerte sie in allen Regenbogenfarben, wie ein Juwel aus Türkis, Gold und Kristall. Sonnenwolf betrachtete die Stadt und schauderte. Jenseits Mandrigins erhoben sich die dunklen Massive der Tchard-Berge, und die riesigen Mauern des Grimmwalls zeigten sich undeutlich hinter einem diffusen Schleier aus purpurnen Wolken – so als käme es dem Magischen König darauf an, seine Zitadelle vor neugierigen Blicken zu verbergen. Als sie näher herankamen, konnte der Söldnerführer das Durcheinander von Marktplätzen und Schau buden und Bordellen der Ostküste sehen – jenen Vorort, von dem 77
ihm Güldene Shorad bereits berichtet hatte, der am östlichen Ufer des Arrak erbaut worden war und nicht der Autorität der städtischen Rechtsprechung unterlag. Die Farben unbearbeiteten Holzes und billiger Tünche zeichneten sich deutlich von der dahinter beginnen den ginsterbraunen Hügelregion ab. Im Südosten erstreckte sich das Thaneland, in dem die alten Gutsbesitzer nach wie vor an ihrer tradi tionellen Macht festhielten. Der Wind trieb Regen heran, und Sonnenwolf spürte die Kälte durch das grobe Kanevas seiner Jacke. Als er in einer instinktiven Reaktion auf das Naß die Schultern hob, fühlte er die ungewohnte Härte von Metall an seinem Hals: den gewöhnlichen Sklavenkragen, den der geschickte Schiffsschmied für ihn hergestellt hatte. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück, und in sei nen Augen funkelte Haß. Doch Yirth hatte den Achtersteven bereits wieder verlassen. Matrosen kletterten in der Takelage, die meisten von ihnen entweder Frauen oder Knaben, und sie bereiteten alles dafür vor, von dem großen Segler ans lange Kai zu steuern. Im Hafen herrschte so gut wie keine Betriebsamkeit. Vor einer Woche waren in Erwartung der Winterstürme die meisten Arbeiten eingestellt worden. Die Seeleute und Stauer, die Sonnenwolf am Pier oder in den Docks sehen konnte, waren ältere Männer, Knaben oder Frauen. Die Stadt, so fuhr es ihm durch den Sinn, war wirklich schwer heimgesucht worden. Als der Segler von den Regenböen weiter in Richtung des Piers getrieben wurde, vernahm der Söldner führer Jubelrufe von einer großen Gruppe unverschleierter und far benprächtig gekleideter Frauen, die sich auf der mit Säulen bestan denen Promenade der langen Terrasse zusammendrängten, deren Front dem Hafenbecken zugeneigt war. Vermutlich Freunde von Denga Rey, dachte Sonnenwolf und erkannte zwei muskulöse Frauen mit narbigen Gesichtern, die offenbar ebenfalls Gladiatorinnen waren. Nun, warum nicht? Derzeit dürften die Geschäfte in dieser Stadt ziemlich schlecht gehen. In einem gewissen Abstand von der ersten und lärmenden Grup pe erkannte er weitere Begrüßungskomitees. Ein hochgewachsenes Mädchen fiel ihm auf, das neben einer noch etwas größeren Frau stand. Beide hatten elfenbeinfarbenes Haar, dessen Strähnen vom Wind immer wieder unter den kobaltblauen Schleiern hervorgezerrt wurden. Vielleicht Verwandte der Güldenen Shorad. In ihrer Nähe stand eine ebenso zart gebaute und elegant gekleidete Dame, die 78
ganz sicher zur Familie gehörte. Noch etwas weiter entfernt, zwischen den Säulen der Promenade, über die heulend der Wind hinwegstrich, sah Sonnenwolf in schlich ten Amtstrachten gekleidete Diener, die das Haupt einer weiteren sehr zart aussehenden Frau mit einem Öltuch vor der Regennässe schützten. Diese Dame trug ein amethystfarbenes Moiré-Kleid, verbarg ihr Antlitz hinter einem wehenden Schleier aus violetter Seide und hatte sich mit Gold und Diamanten geschmückt. Diese Art von protzigem Prunk, dachte der Söldnerkommandeur, kann nur auf eine Freundin Sheeras hindeuten. Auf Yirth wartete ganz offensichtlich niemand. Direkt neben Sonnenwolf sagte eine Stimme: »Wir sind gerade noch rechtzeitig in den Hafen eingelaufen.« Er drehte den Kopf und sah Sheera. Wie es sich in Mandrigin für eine Frau gehörte, hatte sie sich vom Scheitel bis zur Sohle bedeckt, und ihre Hände steckten in goldbestickten Handschuhen aus zartem Ziegenleder. Ihr Haar bot sich seinen Blicken als eine Masse aus sorgfältig frisierten Locken und Juwelensplittern dar, die in einem farbenprächtigen Kontrast zu den Spangen standen, an denen sie den pflaumenblauen Schleier befestigt hatte. Sie trug einen pelzbesetzten und feuchtigkeitsabweisenden Mantel. Sonnenwolf hingegen war nur in die schäbige und abgenutzte Jacke und die verblichene Hose eines Sklaven gekleidet, und er musterte die Frau an seiner Seite eine Zeit lang und tastete unwillkürlich nach der Kette an seinem Hals. Dann wandte er den Blick von Sheera ab und starrte auf das aufgewühlte Meer jenseits der Schutzriffe des Hafenbeckens. Selbst im Hafen schien das Wasser zu brodeln, und dort, wo die Wellen auf die Ufer steine einschlugen, sprühte zischend weiße Gischt in die Höhe. Jetzt konnte es kein Schiff mehr durch den Zugang ins Becken schaffen. »Meiner Ansicht nach sind wir dem Sturm ein wenig zu knapp ent ronnen«, knurrte Sonnenwolf. Unter der wallenden Seide des Schleiers preßte Sheera die Lip pen zusammen. »Niemand fragt dich nach deiner Meinung«, erwi derte sie spitz. »Du solltest Yirth dafür danken, daß wir alle über haupt noch am Leben sind. Sie hat sich während der letzten drei Tage praktisch völlig erschöpft, um die Unwetter von uns fernzuhal ten.« »Zuerst einmal habe ich es Yirth zu verdanken, daß ich mich ü berhaupt auf diesem verdammten Seelenverkäufer befinde«, entgeg nete Sonnenwolf grimmig. 79
Kurzes Schweigen schloß sich an, und als Sheera zu ihm aufsah, zeigten sich unter den irrlichternden Augen dunkle Ringe. Es hatte ganz den Anschein, als sei sie in den vergangenen Tagen ebensowe nig wie Yirth zur Ruhe gekommen. Sonnenwolf erwiderte ihren Blick ruhig und gelassen, fast spöttisch – und forderte damit einen neuerlichen Wutanfall Sheeras heraus. Als sie sprach, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern: »Denk daran«, zischte sie, »daß ich mit Yirth reden und dich zu einem sehr langsamen und qualvollen Tod verurteilen könnte.« Ebenso leise gab Sonnenwolf zurück: »Aber dann müßtest du jemand anderen finden, der euch Weibsbildern das Kämpfen bei bringt, nicht wahr?« Sheera wollte etwas erwidern, unterbrach sich jedoch, als Gülde ne Shorad eintraf. Sie trug einen durchsichtigen Schleier, und hinter ihr folgten Bedienstete, die eine Menge an Gepäck schleppten, das für einen einjährigen Aufenthalt in der Wildnis ausgereicht hätte. Mit gedämpfter Stimme sagte sie zu Sheera: »Yirth ist in ihrer Kabine. Sie will warten, bis die Leute am Kai nach Hause zurückgekehrt sind, um dann unbemerkt das Schiff zu verlassen. Die Tatsache, daß der Segler so knapp dem Sturm entron nen ist, dürfte schon genug Aufmerksamkeit erweckt haben. Und wir sollten vermeiden, daß die Spione Derrougs Altiokis von der Anwe senheit Yirths an Bord des Schiffes berichten.« Sheera nickte. »Du hast recht«, pflichtete sie ihr bei, und Gülden ging weiter, schlüpfte mühelos zurück in die Rolle einer unermüdli chen, immer interessierten und abenteuerlustigen Reisenden, die während ihrer Ausflüge jedoch nicht auf all die Annehmlichkeiten verzichten wollte, an die sie gewöhnt war – wie ihr enorm umfang reiches Gepäck bewies. Inzwischen hatten sie den Kai erreicht, und die Mannschaft machte den Segler am langen steinernen Pier fest. Der Wind wirbelte Befehle, Flüche und laute Rufe dahin. Etwas weiter entfernt an der Reling standen Denga Rey und Bernsteinauge und winkten ihren Freundinnen auf der Promenade zu. Die Nässe der in unregelmäßi gen Abständen heranheulenden Regenböen spiegelte sich auf dem glattgeschorenen Kopf der Gladiatorin und teilte die unverschleierte und aprikosenfarbene Mähne der jungen Kurtisane in einzelne Sträh nen. Gülden und Sheera schenkten ihnen nicht die geringste Beach tung, so wie es sich für Frauen ihres Standes geziemte. Der Laufsteg wurde heruntergelassen. Zwei Seeleute – eine Frau 80
und ein Knabe – trugen Sheeras Koffer herbei. Nachdem Sheera den Söldnerführer mit einem durchdringenden und warnenden Blick bedacht hatte, hob sich Sonnenwolf die Kiste auf die Schulter und folgte seiner Gebieterin – er galt ja als Sklave – über den Steg. An die Kaianlagen Mandrigins, das hatte Wolf schon vom Deck des Schiffes aus gesehen, schloß sich landwärts eine lange mit Säu len versehene Promenade an, auf der während der Hitze des Som mers sicher die Reichen der Stadt spazierengingen und sich gegen seitig zur Schau stellten. Zu Beginn des Winters jedoch raubte der böige Wind den Bäumen und Zierbüschen rasch die Blätter und machte sie nackt und trostlos, und auf den marmornen Säulen und Statuen zeigten sich dunkle Regenflecken; das alles verlieh der Pro menade während dieser Jahreszeit ein eher schwermütig stimmendes Erscheinungsbild. In gewissen Abständen konnte man über mit aus bunten Steinen errichteten schmalen Brücken auf die andere Seite der Kanäle gelangen, für die Mandrigin so berühmt war. Als Son nenwolf durch das geteilte Achteck des Bogenzugangs der nächsten Brücke nach unten blickte, erkannte er eine Art geschützte Lagune, wo einige Gondeln an ihren Ankerplätzen dümpelten. Hinter diesen winzigen, zerbrechlich wirkenden und regenbogenfarbenen Booten wand sich der Kanal tiefer in die Stadt hinein, und sein Wasser gur gelte an hohen Hauswänden entlang und bildete ein seltsames Pi ckelmuster dort, wo der Regen auf die grauen Fluten traf. Alles schien dunkel und feucht und von Moosen bewachsen zu sein. Vor diesem Hintergrund sah die kleine und zarte Frau, die nun unter der von ihren Dienern gehaltenen Ölhaut hervortrat, um Sheera zu be grüßen, auffallend und geradezu geschmacklos protzig aus. »Sheera, ich hatte schon Angst, du würdest es nicht mehr recht zeitig in den Hafen schaffen!« entfuhr es ihr in einer hohen und fast schrillen Stimme, und sie streckte die schmalen Hände aus, die in weißer und lavendelfarbener und mit Diamantenstaub glitzernder Spitze steckten. Sheera ergriff die ihr zum Gruß dargebotenen Hände, und inmit ten eines für Sonnenwolf unentwirrbar erscheinenden Durcheinan ders aus der vom Wind hin und her gezerrten Schleierseide tauschten die beiden Frauen einen Kuß aus. »Um ganz ehrlich zu sein: Diese Befürchtung hatte ich ebenfalls«, gestand Sheera ein und deutete dabei ein Lächeln an, das fast schon Herzlichkeit gleichkam und den Söldnerführer entsprechend verblüffte. Ganz offensichtlich fühlte sich Sheera zu der anderen Frau hingezogen – und wie die nächsten 81
Worte bewiesen, vertraute sie ihr auch. »Hast du jemanden gefunden?« fragte die kleine zarte Dame und sah zu Sheera auf. Ihr Gesicht wirkte dabei sehr angespannt, und man hätte fast den Eindruck gewinnen können, als gäbe es in diesen Sekunden nur Sheera für sie und sonst niemanden. »Hattest du Er folg?« »Nun«, erwiderte Sheera, und ihr Blick richtete sich kurz auf Sonnenwolf, der wie unbeteiligt in der Nähe stand und den Koffer auf einer Schulter balancierte, »es hat eine kleine Änderung im Plan gegeben.« Die kleine Frau runzelte die Stirn, fast empört, so als handele es sich um einen persönlichen Affront. »Was für eine Änderung? Wie so?« Der Wind zerrte an ihrem violetten Schleier, blies ihn kurz beiseite und enthüllte ein blasses und feinknochiges Gesicht mit wunderschönen braunen Augen und geschwungenen Brauen. Zwar war sie noch herausgeputzter als ein Priester in einer trinitarischen Kathedrale, aber es handelte sich bei ihr um eine Frau, die Männer herzen höher schlagen lassen konnte, zart zwar, aber mit vollen Brüsten. Kein Mädchen, sondern eine Frau im Alter Sheeras. Sheera stellte sie leise vor. »Drypettis Dru, Schwester des Bür germeisters von Mandrigin. Sonnenwolf, Kommandeur der Söldner von Wrynde.« Dryprettis' Augen funkelten zunächst vor Empörung darüber, ei nem Sklaven vorgestellt zu werden, aber dann weiteten sie sich über rascht, und sie sah erneut Sheera an. »Du hast den Kommandeur hierher gebracht?« Aus der Richtung des Schiffes tollte die ganze lärmende und of fenbar aus Prostituierten und Gladiatorinnen bestehende Gruppe, die auf Denga Rey gewartet hatte, scherzend und lachend an ihnen vor bei. Als die Frauen Sonnenwolf erblickten, gaben sie lautstark und mit derart deftigen Bemerkungen ihrer Bewunderung Ausdruck, daß Drypettis Dru sich empört versteifte und sich auf ihren hellen Wan gen rote Flecken der Entrüstung bildeten. »Wirklich, Sheera«, flüsterte sie scharf, »wenn du schon solche Leute in deiner Gruppe haben mußt, so könntest du sie wenigstens dazu auffordern, sich in der Öffentlichkeit ein wenig… gesitteter aufzuführen.« »Wir können von Glück sagen, daß sie zu uns gehören, Dru«, erwiderte Sheera ruhig. »Sie können jeden Ort aufsuchen und wissen alles – und wir brauchen sie jetzt noch dringender als zuvor.« 82
Der Blick der hellen braunen Augen richtete sich wieder auf Sheera. »Soll das heißen, man verlangte mehr Geld von dir, als du anbieten konntest?« »Nein«, erwiderte Sheera leise. »Ich kann es dir nicht erklären. Ich habe Gülden dazu aufgefordert, den anderen Bescheid zu geben. Heute um Mitternacht treffen wir uns in der alten Orangerie in mei nem Park. Dort erläutere ich euch dann die Situation.« »Aber…« Sheera hob den Zeigefinger vor den Mund und bedeutete ihrer Begleiterin, still zu sein. Von der nächsten Lagune her näherten sich zwei ältere Bedienstete, verneigten sich vor Sheera und entschuldig ten sich weitschweifig und übertrieben für die Verspätung. In aller Förmlichkeit verabschiedete sie sich von Drypettis und ging. Ohne sich zu vergewissern, ob Sonnenwolf ihr folgte, schritt sie auf eine Gondel zu, die neben den algenbewachsenen Ufersteinen festge macht war. Nach einer Sekunde des Zögerns setzte sich Sonnenwolf ebenfalls in Bewegung, und die ganze Zeit über spürte er den Blick Drypettis' auf sich ruhen. Einer der Bediensteten half Sheera dabei, es sich unter dem Ü berdach im mittleren Teil der Gondel bequem zu machen. Sonnen wolf nahm den Koffer von der Schulter und reichte ihn dem anderen Mann, der am Ende der kurzen und schmalen Treppe auf ihn wartete. Bevor der ebenfalls das Boot betrat, drehte er sich noch einmal um und blickte über den leeren Kai. Die Masten der Schiffe neigten sich im steifen Wind immer wieder stark zur Seite, so als würden sie nicht müde zu versuchen, den Böen zu entgehen. Der Söldnerführer sah kurz die Frau namens Yirth, kaum mehr als einen Schatten in dem grauen und nassen Heulen. Sie setzte mit einigen Schritten über den Laufsteg hinweg, verharrte am Pier und lehnte sich auf den bronzenen Poller, so als brauche sie Halt, um vor Müdigkeit nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nach einigen Sekunden richtete sie sich wieder auf, zog sich den einfachen Mantel enger um die Schul tern und wanderte allein in die Stadt, über die sich nun rasch die Dunkelheit der Nacht senkte. Sonnenwolf befand sich in der Dachkammer, oberhalb der Oran gerie, und er konnte hören, wie die Frauen eintrafen. Die erste kam ganz leise, das Geräusch ihrer Schritte nicht mehr als ein leises Knar ren auf dem hölzernen Boden der großen Halle. Als sich die zweite zu ihr gesellte, vernahm der Söldnerführer ihre gedämpften Stim men. Durch das hohe Fenster der Dachkammer sah er, wie sie das 83
Gebäude durch die Hintertür betraten, mit der Geschwindigkeit und Eleganz von Katzen. Dort, an der untersten Stelle der an den LeamKanal grenzenden Gartenanlagen, befanden sich die Ställe, und von dort aus wiederum, so hatte Sheera ihm gesagt, konnte man in einen alten Schmugglertunnel gelangen, der in den Keller eines Gebäudes an der Leam-Lagune führte. Sonnenwolf beobachtete die Frauen, als sie durch die Schatten des naßkalten und an einigen Stellen bereits unkrautüberwucherten Gartens schlichen, vorbei an den nur als Sil houetten erkennbaren Filigranarbeiten des Badepavillons. Mit unge übter Heimlichkeit schließlich erreichten sie die eigentliche Orange rie. Sonnenwolf mußte sich eingestehen, daß Sheera in Hinsicht auf diesen Ort eine gute Wahl getroffen hatte. Die Orangerie gehörte zu einem viereckigen Gebäudekomplex und lag an dessen südlicher Peripherie. Ein trockener Vorplatz, die Grundstücksmauer und das schlammige und grünliche Wasser eines Kanals, der allgemein als Muttergraben bezeichnet wurde, trennten sie von den nächsten Häu sern, den Wäschereien von St. Quillan, die in der dritten Stunde des Abends schlossen. Wenn die Kampfausbildung hier durchgeführt wurde, war es praktisch ausgeschlossen, daß sie jemand hörte. Der Söldnerkommandeur blieb auf einer schmalen Koje in der Dunkelheit liegen, lauschte dem gedämpften Murmeln in der Halle unter ihm und dachte über Frauen nach. Frauen. Menschliche Wesen, die keine Männer sind. Wer hatte sich einst mit diesen Worten an ihn gewandt? Sternen falke – im letzten Winter oder während des Winters davor, als sie aus irgendeinem Grund über ihren ausgesprochen individuellen Kampfstil gesprochen hatten… Sonnenwolf fragte sich, warum ihm diese Bemerkung ausgerechnet jetzt wieder einfiel. Er erinnerte sich nun ganz deutlich daran, entsann sich auch an den kühlen Blick der grauen Augen Sternenfalkes. Menschliche Wesen, die keine Männer sind. Schon als Kind hatte er begriffen, daß die Dämonen, die in den kalten und feuchten Mooren in der Nähe des Dorfes ihr Unwesen trieben, auf ihre eigene Art und Weise intelligent, aber nicht mensch lich waren. Wenn man versuchte, sie anzugreifen, reagierten sie nicht wie Menschen. Er hatte Männer kennengelernt, die Frauen fürchteten, und er verstand ihre Beweggründe. Es war keine unmittelbare Angst, nicht die Sorge, während einer Schlacht körperliche Verletzungen davon 84
zutragen. Und sonderbarerweise empfanden gerade jene Männer eine solche Furcht, die sich während der Plünderung einer besiegten Stadt hemmungslos zeigten und alles niedermachten, was sich ihnen in den Weg stellte. Es handelte sich um eine tief in ihrer Natur verwurzelte Angst. Und doch ging damit gleichzeitig das Verlangen einher, zu berühren, zu besitzen – der Wunsch nach einem warmen und wei chen und zärtlichen Leib. Mit Logik allein ließ sich das nicht erklären. Sonnenwolf mußte daran denken, daß er die Ausbildung einer nur aus Frauen bestehen den Streitmacht nicht mit der Unterweisung einer Kampfgruppe vergleichen konnte, die sich aus unerfahrenen Knaben oder selbst erwachsenen Männern zusammensetzte, von denen niemand mehr als hundertdreißig Pfund wog. Nach dem Sonnenuntergang hatte es aufgehört zu regnen. An der schrägen Decke über dem Söldnerführer spiegelte sich der feuchte Glanz des Mondscheins wider. Der kalte Wind trug die Stimmen aus dem Garten zu ihm heran. Sheera unterhielt sich mit den reicheren Frauen, die zu der Versammlung gekommen waren, als handele es sich dabei um einen Ball, um irgendein Fest ganz besonderer Art: Sie hatten ihre Gondeln an der großen und mit Marmorfresken verzierten Tür des Stadthauses festgemacht. In der naßkalten Nacht klangen die Stimmen der Frauen fast wie melodische Musik. War es ihre spezielle Lage, die Mißtrauen unter Frauen säte? Die Tatsache, daß man ihnen so vieles vorenthielt? Vielleicht, insbesondere in einer Stadt wie Mandrigin, in der die Frauen in erster Linie als Besitzstand der Männer galten und man ihnen all das ver bot, womit sich die männliche Vormundschaft hätte überwinden lassen können. Sonnenwolf erlebte so etwas nicht zum erstenmal: die Treibhausatmosphäre aus Klatsch und nur unzureichend verschleier ten Eifersüchteleien, aus Ungerechtigkeiten, die selbst im Verlaufe vieler Jahre nicht vergessen wurden, an die man immer wieder erin nerte, gerade bei Gelegenheiten wie dieser. Konnten Frauen anders sein, wenn man sie anders erzog? Traf das auch auf Männer zu? Sonnenwolf glaubte, das bittere und spöttische Lachen seines Va ters zu hören. Dann bemerkte er, daß jemand am Fußende des Bettes stand. Er hatte die Frau weder kommen sehen noch auf dem hölzernen Boden ihre Schritte gehört. Er betrachtete nun ihr Gesicht, kaum mehr als eine Fratze über dem dunklen Striemen des Muttermals, 85
gesäumt von den langen Strähnen silbrigen Haars. Der Söldnerführer begriff, daß die Besucherin ihn schon eine ganze Weile beobachtet hatte. »Was zum…« setzte er an und stemmte sich in die Höhe. Rasch hob die Frau die eine Hand. »Ich bin nur gekommen, um dich mit dem bereits erwähnten Bann zu belegen, auf daß dir das Gift in deinem Leib nicht schaden kann, solange du in Mandrigin bleibst«, sagte sie. »Da ich keine echte Magierin bin und nicht die Gelegenheit hatte, meine Kräfte voll zu entwickeln, vermag ich die Wirkung solcher Zauberformeln nicht mit Hilfe allein des Geistes über weite Entfernungen hinweg zu entfalten.« Ihre weißlichen Finger bewegten sich wie lebendige Knochen, als sie ein Zeichen in die Luft malten, und kurz darauf fügte sie hinzu: »Es ist vollbracht.« »Die Sache mit dem Wetter war nicht schlecht«, knurrte Son nenwolf mürrisch und fügte ein wenig leiser hinzu: »Dein Kommen hat mich überrascht.« Yirth hob andeutungsweise eine der buschigen Augenbrauen. »Tatsächlich? Es ist eine der ersten Fähigkeiten, die man als Magie rin erlernt: wie man unbemerkt kommt und geht, ohne von jeman dem entdeckt zu werden, der einen direkt ansieht.« Ein leises Ra scheln ertönte, als sie sich den weiten Mantel enger um die Schultern zog. Die Frau machte Anstalten zu gehen. »Sie sind jetzt alle unten. Möchtest du dich nicht zu ihnen gesellen?« »Warum sollte ich?« lautete die Gegenfrage Sonnenwolfs, und er lehnte sich an die Wand unmittelbar hinter dem Kopfende des Bet tes. »Ich bin doch nichts weiter als ein bezahlter Helfer.« Ihre Rosenholzstimme klang monoton, als Yirth erwiderte: »Vielleicht solltest du dich nach unten begeben, um dir anzusehen, mit was du dich begnügen mußt. Oder um dich selbst zu zeigen.« Nach einigen Sekunden des Zögerns stand Sonnenwolf auf, und als er die Schultern bewegte, ließ der unangenehme Druck der un gewohnten Sklavenkette an seinem Hals ein wenig nach. Als er sich Yirth näherte, sah er in ihrem Gesicht, wie erschöpft sie war. Die dunklen Ringe unter den Augen, die tiefen Falten in der Haut – das alles trug nicht gerade dazu bei, sie attraktiver wirken zu lassen. In ihren Zügen zeichneten sich deutlich die Anstrengungen der zurück liegenden Reise ab, so unübersehbar wie Kohlespuren in den Händen eines Bergmannes, Brandmale, die sich niemals ganz entfernen lie ßen. 86
Der Söldnerführer musterte die Frau und sah in ihre kalten grü nen Augen. »Weiß Sheera davon?« fragte er. »Wenn es stimmt, was du sagst, wenn du wirklich keine echte Magierin bist – wenn du deine wundertätigen Kräfte nicht voll entfalten konntest – dann ist es für dich doch der reinste Wahnsinn, gegen einen Zauberer antreten zu wollen, der sich schon seit hundertfünfzig Jahren mit Magie be faßt, alle anderen Magier überlebte und unsterblich zu sein scheint. Weiß Sheera, daß du es nicht mit ihm aufnehmen kannst?« »Ja.« Yirths Stimme klang verbittert und durchzog wie ein kalter Hauch das dunkle Zimmer. »Es ist die Schuld Altiokis', daß ich mei ne Kräfte nicht voll entfalten konnte und vermutlich nie dazu in der Lage sein werde. Die Magierin, die mich die Kunst der Thaumatur gie lehrte – Chilisirdin – , gab mir das Wissen und die Ausbildung, die all diejenigen brauchen, die mit der Gabe geboren werden. Sie zeigte mir, wie man die Winde beherrscht. Sie versetzte mich dazu in die Lage, dich in Bann zu halten, die Fallen zu entdecken und Trug bilder zu durchschauen, mit denen Altiokis seine Bergwerke schützt. Aber Chilisirdin wurde umgebracht – sie fand den Tod, bevor sie mich in das Geheimnis der Großen Prüfung einweihen konnte. Und ohne ein solches Wissen werde ich niemals die Macht haben.« Sonnenwolf kniff die Augen zusammen. »Die was?« fragte er. In der Sprache des Westens konnte ›Prüfung‹ sowohl eine Stammes verhandlung bedeuten als auch ein städtisches Rechtsprechungsver fahren. Im Dialekt des Nordens ließ sich damit auch die Verurteilung eines Mannes zum Tode umschreiben. Yirth hob verächtlich den Kopf. »Du bist ein Mann, der stolz darauf ist, von diesen Dingen nichts zu wissen«, erwiderte sie. »Die Magie läßt sich mit der Liebe vergleichen: Man kann nie wissen, wann man auf sie stößt, ob man sich überhaupt jemals an ihr wird erfreuen können. Ich werde niemals erfahren, worin genau die Große Prüfung besteht. Ich weiß nur, daß sie all diejenigen umbringt, die nicht mit der Gabe der Magie geboren wurden. Ihr Geheimnis wurde über viele Generationen hinweg vom Meister an den Schüler weiter gegeben. Ich habe lange Zeit nach einem der letzten überlebenden Zauberer gesucht, vielleicht auch nach einem ihrer Schüler, der das Geheimnis kannte – einem Menschen, der weiß, wie man die Kraft, mit der manche geboren werden, mit den Fähigkeiten verschmelzen läßt, in denen ein Meisterzauberer seine Jünger unterweist. Doch Altiokis hat sie entweder alle getötet oder sie dazu gezwungen, sich zu verbergen und niemandem das zu offenbaren, was sie sind – oder 87
was sie hätten werden können. Das ist der Grund, warum ich mein Schicksal mit Sheera teile. Altiokis hat uns alle beraubt – all diejeni gen, die heute sonst Magier wären und nun dazu verurteilt sind, alle ihre Hoffnungen aufzugeben. Ich bin dazu entschlossen, entweder Rache an ihm zu üben oder bei einem entsprechenden Versuch zu sterben.« »Diese Entscheidung liegt ganz bei dir«, entgegnete Sonnenwolf leise. »Mir gefällt es nur nicht, von dir dazu gezwungen zu werden, dir zu helfen – wie auch all die törichten Frauen dort unten, die glau ben, sie sollten zu Kriegerinnen ausgebildet werden.« In der sich an seine Worte anschließenden Stille hörten sie die Stimmen, ein rhythmisches Murmeln, wie das sanfte Plätschern eines Baches in der Finsternis. Yirths Augen blitzten wie die einer Katze. »Auch sie wollen Vergeltung üben«, hielt sie ihm entgegen. »Und was dich angeht: Du würdest schon für die beiden Kupfermünzen sterben, die man dir nach deinem Tod auf die Augen legt, damit du den Fährmann bezahlen kannst, der dich in die Hölle bringen soll.« »Ja«, bestätigte Sonnenwolf und preßte kurz die Lippen zusam men. »Aber ich habe zu entscheiden, wann es soweit ist, wie ich sterbe und wen ich mit mir in die Hölle nehmen will.« Yirth schnaubte verächtlich. »Es bleibt dir keine Wahl, mein Freund. Du bist durch deinen Vater, der dich zeugte, zu dem gewor den, was du bist – ebenso wie ich, als ich mit der Gabe der Magie in meinem Herzen geboren wurde und ich dieses Geschenk mit einem häßlichen Mal in meinem Gesicht bezahlte. Nein, Wolf, du konntest dich in dieser Hinsicht ebensowenig frei entscheiden wie für die Farbe deiner Augen.« Sie schob sich den dunklen Schleier vors Gesicht, um ihre frat zenhaften Züge zu verbergen, und schweigend ging sie die Treppe hinunter. Nach kurzem Zögern folgte ihr Sonnenwolf. Auf dem Tisch neben der Treppe waren einige Kerzen angezün det worden, aber ihr matter und unsteter Schein drängte die Dunkel heit in der weiten Halle der Orangerie nur einige Meter zurück. In der Finsternis war kaum mehr zu sehen als das trübe Glitzern Hun derter von aufmerksam blickenden Augen. Wie der am Abend eines warmen Sonnentages abflauende Wind verstummte das Flüstern und Raunen, als Sonnenwolf ins Licht trat, ein großer muskulöser Mann mit gebräunter Haut, zusammen mit Yirth, die neben ihm wie ein düsterer Schatten wirkte. 88
Der Söldnerführer hatte nicht damit gerechnet, so viele Frauen anzutreffen. Überrascht sah er Yirth an, die ihn ausdruckslos und starr anblickte. »Woher, zum Teufel, kommen die alle?« wisperte er. Seine Begleiterin strich sich einige Haarsträhnen über die Schul ter zurück. »Güldene Shorad«, gab sie leise zurück. »Sie und ihre Partnerin Wilarne V'Baum sind die besten Friseusen Mandrigins. Es gibt keine Frau in der Stadt, auf die sie nicht Einfluß hätten – und das trifft sowohl auf Adlige wie Sheera und Drypettis Dru zu als auch auf gewöhnliche Huren.« Sonnenwolf ließ seinen Blick über die vielen Gesichter schwei fen. Er schätzte, daß insgesamt rund dreihundert Frauen anwesend waren. Sie saßen entweder auf dem abgenutzten Kiefernholz des Bodens oder auf den Kanten der großen und mit Erde gefüllten Kis ten, in denen die Orangenbäume wuchsen. Sie beobachteten ihn. Der Söldnerführer war sich der vielen auf ihn gerichteten Blicke bewußt. Er wußte nicht so recht, ob die Anwesenheit der vielen menschlichen Leiber dafür verantwortlich war oder ob jemand in der Warmluftan lage im Keller ein Feuer angezündet hatte, aber es war warm gewor den in der großen scheunenartigen Halle, und der Geruch des staubi gen Bodens und der jungen Zitrusfrüchte verwob sich mit dem der Frauen und des von ihnen benutzten Parfüms. Das Rascheln der Gewänder und der Spitzen an den Ärmeln der wohlhabenden Damen hörte sich so an, als strichen die unsichtbaren Hände des Windes durch das Blätterdach eines sommerlichen Waldes. Stille folgte. Und in diese Stille hinein sagte Sheera: »Wir sind heute von Kedwyr zurückgekehrt.« Ihre klare und voll tönende Stimme war deutlich auch in den hintersten Reihen der War tenden vernehmbar. »Ihr alle wißt, aus welchem Grund wir die Reise antraten. Ihr habt unsere Sache mit Geld unterstützt und alle eure Hoffnungen darauf gesetzt. Manche von euch haben sich sogar in unmittelbare Gefahr begeben – oder, um Geld zu bekommen, Dinge getan, vor denen sie sonst zurückschrecken würden. Ich möchte euch noch einmal ausdrücklich für eure Unterstützung danken. Ich weiß, daß ihr alle große Opfer gebracht habt.« Sheera richtete sich auf, und der goldfarbene Ton ihres Brokat gewandes schien sie in eine glitzernde Flamme zu verwandeln; die steifen Spitzen des Kragens stellten einen seltsamen Kontrast dar zu den schimmernden Edelsteinen in ihrem Haar. Sonnenwolf stand einige Meter hinter ihr und konnte die Gesichter der anderen Frauen 89
beobachten. Keine von ihnen gab einen Laut von sich, und ihre Bli cke klebten an den Augen Sheeras fest. »Ihr alle kennt den Plan«, fuhr Sheera fort und lehnte sich an die Kante des Tisches. Die mit Ringen geschmückten Hände ruhten auf den Falten ihres Kleides. »Wir wollten Söldner in unsere Dienste nehmen, mit ihnen die Bergwerke stürmen, die Männer befreien und das Joch Altiokis' und seiner Schergen brechen, denen er hier in Mandrigin die Macht gab. Ich möchte eins gleich vorwegnehmen: Es ist mir nicht gelungen, mit dem Geld die Loyalität berufsmäßiger Kämpfer zu erkaufen. Vielleicht«, so fügte sie hinzu, »hätte mich das nicht überraschen sollen. Der Winter steht bevor, und während der kalten Jahreszeit möchte niemand in die Schlacht ziehen. Jeder Mann fühlt sich zu nächst einmal nur sich selbst verpflichtet, und kein Söldner wird ohne weiteres den Zorn Altiokis' riskieren, nicht einmal für viel Gold. Das kann ich verstehen.« Sheera holte tief Luft, und als ihre Stimme erneut erklang, war sie lauter und kräftiger. »Aber während es für die Söldner nur um Geld geht, kommt es uns auf die Freiheit unserer Heimat an. Es gibt keine Frauen unter uns, die nicht wenigstens einen Mann verloren hat – den Geliebten, den Gemahl, den Vater. Sie starben entweder im Eisernen Paß oder wurden in die Bergwerke verschleppt. Ich meine damit alle Männer, die den Mut hatten, zusammen mit den Soldaten Tarrins gegen den Feind zu marschieren, all diejenigen, die begrif fen, was es für Folgen haben würde, wenn es Altiokis gelänge, auch Mandrigin zu erobern und sein Reich dadurch weiter zu vergrößern. Wir kennen das Schicksal anderer Städte, etwa das von Hackenrippe und Kilpithie. Wir haben erlebt, wie er die Korrupten, Habgierigen und Skrupellosen an die Macht brachte – die Männer, die ihm die Füße leckten, die Günstlinge, die für Privilegien ihren eigenen Stolz verkaufen, die uns ausbluten lassen. Wir wissen darüber hinaus, daß er auch hier einen solchen Statthalter einsetzte.« Die Blicke der Anwesenden richteten sich auf Drypettis Dru, die Sheera an diesen Ort begleitet und auf einem Stuhl in unmittelbarer Nähe des Tisches Platz genommen hatte, somit ihrer Anführerin fast im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen saß. Während der bisheri gen Ansprache Sheeras war sie still geblieben, und wenn sie dann und wann zu ihr aufsah, glomm das Feuer des Fanatismus in ihren braunen Augen, und sie ballte die im Schoß ruhenden Hände zu kleinen Fäusten. Jetzt aber, als die anderen Frauen sie ansahen, senk 90
te sie scheu den Kopf. »Ich glaube, ihr wißt alle, was von Derroug zu halten ist«, fuhr Sheera etwas leiser fort. »Soweit ich weiß, weilen auch einige unter uns, die direkte Erfahrungen mit seinen Angewohnheiten sammeln konnten.« In ihren dunklen Augen blitzte es kurz auf. »Seine eigene Schwester hat sich gegen ihn gewandt und war mir eine große Hilfe bei der Vorbereitung des Angriffs auf das Zentrum der Macht Altio kis'.« »Ich habe mich nicht eigentlich gegen ihn gewandt«, widersprach Dryprettis mit ihrer recht hohen und atemlos klingenden Stimme. »Ich reagierte immer mit Abscheu und Verachtung auf das Verhalten meines Bruders. Er hat Schande über unseren Namen gebracht, der in der Stadt einen respektablen Ruf genoß. Das werde ich ihm nie mals verzeihen. Weder seine Lüsternheit dir gegenüber, Sheera, noch… « »Auch wir sind nicht dazu bereit, ihm zu vergeben, Drypettis«, warf Sheera rasch ein, um einer abschweifenden Auflistung aller Verfehlungen des Bürgermeisters zuvorzukommen. »Nun, wir alle kennen die unheilvollen Folgen der Tatsache, daß Altiokis unsere Heimstätte unterwarf. Und es gilt, endlich etwas dagegen zu unter nehmen. Wir müssen Mandrigin befreien«, betonte Sheera. »Wir kämpfen um mehr als nur unsere eigene Zukunft. Wir alle haben Kinder und Familien – oder hatten sie.« Das sich an diese Worte anschließende allgemeine Murmeln war wie ein Windhauch, der durch die Halle strich. »Und da wir nicht auf die Hilfe von Männern zurückgreifen können, müssen wir selbst kämpfen.« Sheera sah sich um, ließ ihren Blick durch das stille Halbdunkel mit den vielen glitzernden Augen schweifen. Das unstete Kerzenlicht ließ helle Reflexe über den Brokat ihres Gewandes tanzen, und ihre Gestalt erschimmerte wie eine erhobene Schwertklinge. »Es ist nicht unmöglich, die Stelle unserer Männer einzuneh men«, sagte sie. »Seit der Niederlage unserer Armee im Eisernen Paß haben wir bereits damit begonnen, uns um die Dinge zu küm mern, die zuvor in den Verantwortungsbereich unserer Gemahle fielen. Erntwyff, du segelst jeden Tag mit den Fischkuttern aufs Meer hinaus. Die Besatzungen der meisten Schiffe bestehen jetzt größtenteils aus den Ehefrauen der Fischer, nicht wahr? Eo, du führst die Arbeiten in der Schmiede weiter… « »Mir bleibt auch keine andere Wahl«, sagte eine große und 91
stämmige Frau, deren elfenbeinfarbenes Haar darauf hinwies, daß sie eine Verwandte der Güldenen Shorad war. »Müßte sonst hungern.« »Und du hast die Tochter Shorads, Tis, aufgenommen, als Lehr ling. Das stimmt doch, oder? Schwester Quincis, wie ich hörte, nimmst du Frauen als Aushilfspriesterinnen in der Kathedrale in deine Dienste – was seit Hunderten von Jahren nicht mehr geschah. Fillibi, du führst den Laden deines Mannes – und ziemlich gut noch dazu… Außerdem schert sich niemand darum, ob ihr einen Schleier tragt oder von einer Anstandsdame begleitet werdet. Geschäft ist Geschäft. Nun, unsere Aufgabe besteht darin, unsere Stadt zu befreien und die Männer aus den Bergwerken zu retten. Wir haben bewiesen, daß Frauen ebensogut zu arbeiten verstehen wie Männer. Ich füge hinzu: Wir können auch ebenso entschlossen kämpfen.« Mit noch ernsterer Stimme fuhr Sheera fort: »Ich glaube, ihr alle wißt, daß eine Frau, die mit dem Rücken an der Wand steht und nicht nur für sich selbst kämpft, sondern auch für den Gemahl und für Kinder und Familie, tapferer ist als ein Mann. Himmel, in sol chen Situationen verwandelt sie sich in ein gefährliches Raubtier. Und so, ihr Frauen von Mandrigin, müssen wir sein.« Wenn sie jetzt fragen würde, wer sich für den Krieg freiwillig meldet, dachte Sonnenwolf, so wären alle dazu bereit. Sie hat die Magie eines Königs – die Magie, zu überzeugen. Verdammte arrogante Hexe! Sheera schwieg einige Sekunden lang, und es war so still in der weiten Halle, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können. »Nein«, sagte sie, und es war kaum mehr als ein Hauch. »Ich konnte keine Streitmacht aus Männern anwerben. Ich fand nur einen einzi gen Söldner – und er ist hierher gekommen, um uns zu zeigen, wie man kämpft. Wenn wir dazu bereit sind, den Kampf gegen Altiokis aufzunehmen. Es gibt einen Unterschied darin, nur Geld zu spenden – ganz gleich, wie groß die Summe auch sein mag – , oder selbst zum Schwert zu greifen. Und ich sage euch, Frauen von Mandrigin: Die Zeit ist gekommen, sich über diesen Unterschied klarzuwerden.« Sie konnten nicht applaudieren, denn das Geräusch wäre außer halb der Orangerie vielleicht zu vernehmen gewesen, aber das Schweigen senkte sich wie eine magische Krone auf das Haupt Shee ras. Man zeige ihnen den Weg, dachte Sonnenwolf sarkastisch, und sie marschieren noch in dieser Nacht gegen Altiokis. Diese dummen Weibsbilder – morgen früh wären sie alle tot. Wie allzu viele Führer 92
hatte auch Sheera das Talent, andere Menschen dazu zu bringen, für sie in die Schlacht zu ziehen, ohne sich zu überlegen, welche persön lichen Opfer sie möglicherweise darbringen mußten. Mit den Schultern stieß sich der Söldnerführer vom Türrahmen ab und trat auf Sheera zu, direkt in den vom Kerzenlicht erhellten Kreis. Daraufhin wandte sie überrascht den Kopf und sah ihn an. Vielleicht dachte sie, ich würde nicht selbst das Wort ergreifen, fuhr es ihm durch den Sinn, und es bildete sich dumpfer Ärger in ihm. Er wandte sich den Hunderten von aufmerksam blickenden Augenpaa ren zu. »Sheeras Worte entsprechen der Wahrheit«, pflichtete er ihr ru hig bei, und er gab seiner Stimme einen speziellen Klang, um eine möglichst große Wirkung auf seine zukünftige Armee zu erzielen. »Eine Frau, die für ihre Kinder kämpft – oder vielleicht auch ihren Gemahl – mag sich tatsächlich in ein gefährliches Raubtier verwan deln. Aber man kann Raubtiere töten, wenn man sie kennt und weiß, wie man gegen sie vorgehen muß, und glaubt nur nicht, daß ihr un sterblich seid.« Sheera drehte sich zu ihm um, und sie zitterte vor Wut. Sonnen wolf begegnete ihrem zornigen Blick und gab ihr ein unauffälliges Zeichen, das sie zur Stille mahnte. Nach einigen Sekunden richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die anderen Frauen. »Na schön. Ich bin dazu bereit, euch zu unterweisen und Kriege rinnen aus euch zu machen. Bei den Geistern meiner Vorfahren, ich werde es schaffen, und wenn ich es euch einbleuen muß. Doch zuvor möchte ich, daß ihr ganz genau versteht, auf was ihr euch einlaßt. Der Krieg ist eine sehr ernste – eine todernste – Angelegenheit. Die meisten von euch sind kleiner und leichter als Männer und kön nen auch nicht ganz so schnell laufen. Wenn ihr Männer im Kampf besiegen wollt, so müßt ihr doppelt so gut sein wie sie. Ich kann es euch lehren. Das ist meine Aufgabe. Aber während der Ausbildung werde ich euch fertigmachen. Ihr müßt damit rechnen, Verletzungen davonzutragen, angeschrien und verflucht zu werden. Und ihr werdet so erschöpft nach Hause zurückkehren, daß ihr euch kaum auf den Beinen halten könnt. Nur auf diese Weise kann man zu einem guten Kämpfer werden, und das trifft insbesondere auf zarte Frauen zu, die ein Mann sich einfach unter einen Arm klemmen könnte.« Bei den letzten Worten sah Sonnenwolf die zarte Güldene Shorad an, die seinen Blick aus ihren seeblauen Augen trotzig und herausfordernd erwiderte. 93
»Wenn also einige von euch glauben, das nicht zu schaffen, so sollten sie nicht ihre und meine Zeit damit verschwenden, es zu ver suchen. Jedesmal dann, wenn ich eine neue Gruppe Rekruten be komme, fällt die Hälfte von ihnen nach einiger Zeit aus. Ihr braucht nicht stark zu sein, um zu beginnen – ich mache euch erst stark. Aber ihr müßt durchhalten. Und dazu entschlossen sein, zu töten und in der Schlacht ein Bein, einen Arm oder vielleicht das Leben zu verlie ren. Das ist Krieg.« Er musterte die Frauen, und das sich auf seiner gebräunten Haut widerspiegelnde Kerzenlicht ließ ihn wie eine Statue aus Bronze aussehen. Er beobachtete die Huren, die mit ihrem lockigen Haar und den geschminkten Augen süßen Verlockungen gleichkamen, die dunkelhäutigen Arbeiterinnen, die durch die Mühsal vorzeitig geal tert waren, gekleidet in schäbige Serge, die Frauen der Kaufleute, die nun die Geschäfte ihrer Ehemänner weiterführten und ihren Wohlstand mit teurem Schmuck, feiner Seide und weißen Spitzen zur Schau trugen. »Die Entscheidung, ob ihr es schaffen könnt oder nicht, liegt bei euch«, fügte Sonnenwolf dumpf hinzu. »Diejenigen, die tatsächlich zu Kriegerinnen werden wollen, sollen sich morgen nacht um diese Zeit hier einfinden. Das war's.« Er drehte sich um und begegnete dem Blick Sheeras. Sie wirkte sehr neugierig und nachdenklich, schien ihn einer neuen Einschät zung zu unterziehen und sich zu fragen, was für einen Mann sie nach Mandrigin gebracht hatte.
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6. Kapitel »Das ist ein Schwert«, sagte Sonnenwolf. »Man hält es an die sem Ende.« Er starrte die mehr als zehn Frauen an, die vor ihm in einer Reihe Aufstellung bezogen hatten. Sie alle schnauften aufgrund der An strengungen der vergangenen Stunde, des Laufens und der Turn übungen, die nicht nur die Rekruten, sondern auch ihren Ausbilder davon überzeugt hatten, daß sie nicht die geringsten Kampferfahrun gen besaßen. »Du.« Sonnenwolf deutete auf die Partnerin der Güldenen Sho rad, die kleine und sehr zart wirkende Wilarne V'Baum. Die Frau trat vor und sah aus ihren dunklen Augen vertrauensvoll zu ihm auf. Mit dem Heft voran warf der Söldnerführer ihr das Schwert zu. Sie fing es auf, aber sie wankte leicht dabei, und daraus schloß Sonnenwolf, daß die Waffe schwerer für sie war, als sie erwartet hatte. Er hob eine Hand und schnippte mit den Fingern. Wilarne warf das Schwert zu ihm zurück, und der Söldner fing es ohne sichtliche Mühe auf. »Ihr werdet mit beschwerten Waffen üben«, wies er die Frauen an, ebenso wie die beiden Gruppen am Vorabend und eine weitere Einheit, die später zur Ausbildung antreten würde. »Nur auf diese Weise können eure Arme stark genug werden.« Eine der Frauen stöhnte. »Aber ich dachte, wir… « Sonnenwolf sah sie scharf an. »Du hast mich um Erlaubnis zu bitten, bevor du sprichst!« fuhr er sie an. Das Gesicht der Frau rötete sich vor Zorn. Sie war groß und hübsch und hatte das rotblonde Haar einer Hochländer in. Unter dem kurzen ledernen Hemd zeichneten sich ihre Brüste nur als zwei klei ne Wölbungen ab, und in der knappen Leinenhose wirkten ihr Beine recht krumm. Auf der schlaffen Bauchhaut waren deutlich die Fal tenmerkmale der letzten Schwangerschaft zu sehen. Sie zögerte kurz und erwiderte dann: »Ich bitte um Erlaubnis, sprechen zu dürfen.« »Erlaubnis erteilt«, knurrte Sonnenwolf. Auf diese Weise, so hatte er festgestellt, gelang es ihm, dem ers ten Wortschwall zuvorzukommen. Die meisten Rekruten, die aufbe gehrten, wußten ohnehin nicht, was ihnen über die Lippen kam. In diesem Fall ging die Rechnung des Söldners auf. Durch die Unterbrechung war ein Großteil des Ärgers der Frau verpufft, und 95
sie sagte nur mürrisch: »Ich dachte, wir bereiteten uns auf einen… einen Überraschungsangriff vor, eine Attacke aus dem Hinterhalt.« »Das stimmt auch«, bestätigte Sonnenwolf ruhig. »Aber wenn etwas schiefgeht oder ihr in eine Falle geratet, könnte es geschehen, daß ihr mit dem Schwert in der Hand gegen einen Mann – oder viel leicht auch mehrere – antreten müßt. Vielleicht wird es nötig, daß ihr Angreifer vom Rest eurer Gruppe fernhalten oder eine wichtige Stellung halten müßt, während eure Kameradinnen weiterziehen. In einem solchen Fall kämpft ihr nicht nur um euer eigenes Leben, sondern auch das der anderen.« Die Frau trat zurück und errötete stark. Sie war offensichtlich sehr verlegen. Aus einem instinktiven Taktgefühl heraus wandte sich Wolf den anderen zu. »Das gilt auch für euch«, fügte er barsch hin zu, »und für alle anderen Rekruten. Ich wurde angeworben, weil ich ein Krieger bin. Ich weiß also genau, auf welche Gefahren ihr stoßen könntet. Glaubt mir: Alles, was ich euch lehre, hat Hand und Fuß – ganz gleich, wie sinnlos es euch auch erscheinen mag. Ich habe nicht die Zeit, es euch immerzu zu erklären. Versteht ihr?« Sie nickten betroffen. »Steht nicht einfach so herum und wackelt mit den Köpfen!« brüllte Sonnenwolf sie an. »Dadurch zieht ihr euch nur eine Nacken Verrenkung zu. Kapiert?« »Ja«, erwiderten Güldene Shorad und Wilarne hastig. Der Söldner starrte die ganze Gruppe an. »Was?« Und wie im Chorus antworteten sie alle: »Ja.« Sonnenwolf nickte knapp. »Gut.« Mit dem Daumen deutete er auf die Waffen, die in einer Ecke der nur matt erhellten Orangerie inmitten eines Stapels aus Sacktüchern lagen. »Dort befinden sich die Waffen. An der einen Wand sind Pfosten aufgestellt worden.« Er deutete dorthin, wo er zuvor Pfähle in den Boden getrieben hatte, an Stellen, wo sie inmitten alter Baumkübel und Türmen aus Tontöpfen nicht weiter auffielen. »Ich möchte, daß ihr dort übt, den Schlag von oben nach unten und mit Vorhand und Rückhand, zuerst einmal nur diese drei Arten. Versucht, ein Gefühl für das Schwert zu entwi ckeln, und wenn ihr glaubt, einigermaßen sicher damit umgehen zu können, schlagt so fest wie möglich auf die Pfähle ein, so als seien es echte Gegner, denen ihr den Garaus machen wollt.« Einige der Frauen verzogen bei dieser Vorstellung das Gesicht. Die anderen setzten sich sofort in Bewegung und traten auf den Tuchstapel zu. »Zurück in die Reihe!« donnerte Sonnenwolf. 96
Rasch kamen die Rekruten seiner Aufforderung nach. Die große Frau schien zu überlegen, ob sie einen neuerlichen Einwand wagen sollte, entschied sich dann aber dagegen. »Niemand tritt aus der Reihe, bis ich den Befehl dazu gebe«, sag te der Söldner scharf. »Wäret ihr meine Männer, würde ich nun mit einer Rute auf euch eindreschen. In eurem Fall aber kann ich euch nur auf eure hübschen kleinen Hinterteile werfen, bevor ihr den Rest der Streitmacht gefährdet, indem ihr den Befehlen nicht gehorcht. Wenn ich euch sage, ihr sollt euch in einer Reihe aufstellen und ich anschließend den Raum verlasse, um ein Nickerchen zu machen, so würde ich euch raten, bei meiner Rückkehr noch immer in einer Linie zu stehen – und wenn ihr Stunden so ausharren müßtet. Klar?« »Ja«, lautete die einstimmige Antwort. »Geht jetzt!« Er klatschte in die Hände, und das Echo hallte noch von der hohen Decke wider, als sich die Frauen beeilten, die Anwei sung zu befolgen. Hinter Sonnenwolf bemerkte eine weibliche Stimme: »Du bist sehr nett zu ihnen.« Der Söldner drehte sich um und begegnete dem spöttischen Blick der dunklen Augen Denga Reys. Wie die meisten der anwesenden Frauen und auch Sonnenwolf selbst trug die Gladiatorin nur recht knappe Kleidung, so wie es für die Übungen angemessen war. Ihr gebräunter Leib offenbarte Dutzende von unterschiedlich alten Nar ben. Das matte Licht der Öllampen glänzte trübe auf der kahlen Wölbung des Schädels. »Wenn du das ›nett‹ nennst«, knurrte Sonnenwolf, »so verstehst du darunter vermutlich etwas anderes als ich, Frau.« »Im Vergleich mit den Lehrern in der Gladiatorenschule«, gab die Kriegerin unbewegt zurück, »gehst du mit dem Sanftmut eines zärtlichen Liebhabers vor. Außerdem glaube ich, daß sich unsere Vorstellungen sehr ähneln, Söldner.« Eine Zeitlang musterte Sonnenwolf die Gladiatorin schweigend. Sie war jünger, als er zunächst angenommen hatte, wahrscheinlich nicht älter als ein- oder zweiundzwanzig – eine große dunkelhäutige und eindrucksvolle Frau, mit harten und kräftigen Bauchmuskeln, deren geriffeltes Muster dem Rücken eines Krokodils glich. Wäh rend der Seereise hatte ihr Verhalten ihm gegenüber zwischen eisi gem Schweigen und verächtlichem Spott geschwankt, und daraus schloß Sonnenwolf, daß sie ihn nicht gerade mochte. Er fragte sich, was er machen sollte, wenn ihn seine Stellvertreterin deshalb haßte, 97
weil sie nicht das direkte Kommando hatte. Er wußte, daß er in der Streitmacht der Frauen ein Außenseiter war, ob ihm das nun paßte oder nicht. Sheera spielte noch immer die Führungsrolle, doch er nahm die Stellung unmittelbar unter ihr ein. Ganz gleich, wie sehr die Frauen ihn auch brauchten – allein seine Anwesenheit genügte, um Zwietracht entstehen zu lassen. Während der vergangenen Tage hatte sich Sonnenwolf überlegt, ob es irgendwann zu einer körperli chen Konfrontation zwischen ihm und der Gladiatorin kommen würde, doch inzwischen schien sie sich dazu entschlossen zu haben, ihn zu akzeptieren – aus welchen Gründen auch immer. Manchmal jedoch bemerkte er, wie sie ihn beobachtete und es dann in ihren dunklen Augen sonderbar glitzerte. »Es hat keinen Sinn, meinen Ärger darüber, zu diesem ganzen Wahnsinn gezwungen zu sein, an ihnen auszulassen«, sagte Son nenwolf schließlich. Er nickte in Richtung der Frauen und fragte: »Was hältst du von ihnen?« Denga Rey lächelte dünn. »Sie sind wirklich süß«, erwiderte sie. »Vor sechs Monaten hätte keine von ihnen ein Schwert angerührt. Aber seit ihre Männer fort sind, haben sie gelernt, selbst zu arbeiten – nicht nur die Frauen hier und die, die an der Verschwörung gegen Altiokis teilnehmen, sondern auch alle anderen. Sie führen die Läden und Bauernhöfe, und sie kümmern sich auch um den Handel und alles andere. Ich glaube, einigen von ihnen – zum Beispiel unserer kleinen Gülden – gefällt es sogar zu lernen, mit einem Schwert um zugehen.« »Sie zeigen eine erstaunliche Entschlossenheit«, gestand Son nenwolf knurrend. »Das hat mich überrascht. Die meisten Leute würden sich damit begnügen, eine solche Sache mit Geld zu unter stützen – und nicht das eigene Leben zu riskieren.« Denga Rey zuckte mit den Schultern, und die Muskelstränge glänzten wie braunes Hartholz. »Weißt du, es gelang ihnen, erstaun lich viel Geld zusammenzubringen«, meinte sie. »Zwar fällt mir die kleine Drypettis ziemlich auf die Nerven, aber sie ist verdammt fä hig, wenn es um finanzielle Dinge geht. Für diese Art der Vorberei tung war sie verantwortlich.« »Tatsächlich?« Der Söldner ließ seinen Blick über die Reihe der schwitzenden Frauen schweifen, die hartnäckig auf die jeweiligen Pfähle einschlugen, und eine Weile beobachtete er die winzige und zierliche Freundin Sheeras. »Ja. Nach wie vor ist sie die Schatzmeisterin unserer Organisati 98
on. Als es darum ging, dich und deine Armee anzuwerben, kam sie in der Rangfolge gleich nach Sheera.« Die Gladiator in schnippte ein Staubkörnchen vom Leder des Brustschildes und fügte hinzu: »Au ßerdem hält uns Dru auch ihren verdammten Bruder vom Leib. Ja, sie hat ziemlich viel für den Widerstand geleistet – und doch kann ich ihr zartes kleines Mädchengesicht nicht ausstehen. Wenn Sheera nicht darauf hingewiesen hätte, daß sich Mandrigin nur durch ein militärisches Unternehmen befreien läßt, hätte Drypettis vermutlich nie ein Wort mit mir gewechselt.« Sonnenwolf kniff die Augen zusammen und beobachtete den schmalen und geraden Rücken der jungen Frau, den langen Schopf aus dichtem braunen Haar, der zwischen den schlanken Schultern baumelte. Er hatte also nicht Denga Rey aus ihrer Position verdrängt, son dern Drypettis. Nach seiner derzeitigen Einschätzung hielt er es für unwahr scheinlich, daß sich die junge zarte Frau einfach damit abfinden würde, von der Ratgeberin Sheeras zu einer einfachen Kriegerin degradiert zu werden – zumal sie nicht versprach, zu einer besonders guten Kämpferin zu werden. Sonnenwolf erinnerte sich an ihren Gesichtsausdruck auf dem Kai, als Denga Rey, Bernsteinauge und ihre lärmenden Freundinnen an ihr vorbeigezogen waren und dabei wie mit allen Wassern gewaschene Seeleute gescherzt und gezotet hatten. Drypettis schien nicht nur empört und entrüstet gewesen zu sein, sondern auch wütend darüber, sich mit solchen Personen abge ben und somit einen Umgang pflegen zu müssen, den sie unter nor malen Umständen für unter ihrer Würde hielt. Der Boden der Politik bringt seltsame Früchte hervor, dachte der Söldnerführer und fragte sich erneut, wie diese so unterschiedlichen Frauen zusammengefunden hatten. »Und was ist mit dir?« fragte er Denga Rey. Die Gladiatorin stand hoch aufgerichtet neben ihm, die narbigen Arme verschränkt, den Blick auf die exerzierenden Frauen gerichtet. »Wie kommt ein so nettes Mädchen wie du an einen Ort wie diesen?« Ihr Blick verspottete ihn. »Ich? Oh, ich bin nur hier, weil ich dem Ruf der Liebe folge.« Sonnenwolf starrte sie überrascht an. »Du hast einen Mann in den Bergwerken Altiokis'?« Damit hätte er nie gerechnet. Die gewölbten und buschigen Augenbrauen kamen ruckartig in die Höhe, und einen Sekundenbruchteil später lachte Denga Rey 99
schallend. »Einen Mann?« prustete sie. »Du glaubst, ich ließ mich für einen Mann auf einen Kampf ein. Ach, Söldner, wie sehr du dich doch irrst!« Und mit diesen Worten wankte sie kichernd davon. Sonnenwolf schüttelte den Kopf und richtete seine Aufmerksam keit wieder auf die übenden Frauen. In dem harten Ahornholz der Pfähle zeigten sich nur wenige Risse. Keine der zukünftigen Kriege rinnen schien eine Ahnung davon zu haben, wie man ein Schwert hielt und damit zuschlug. Der Söldner rollte kurz mit den Augen und blickte an die Decke, so als hoffte er auf den Beistand seiner Vorfah ren. Allerdings hatte keiner jener blutdurstigen Berserker, aus denen seine Familie hervorgegangen war, jemals vor der Aufgabe gestan den, eine Gruppe zarter und schwacher Frauen in die strengen Küns te des Krieges einzuweihen. Sonnenwolf gab sich einen inneren Ruck, schritt geduldig an der Reihe entlang und korrigierte falsche Griffe, durch die die betreffenden Frauen beim ersten gegnerischen Hieb die Waffe hätten verlieren können, was im Ernstfall einen Bruch des Handgelenks zur Folge haben mochte. Die meisten jungen Männer, die ihn während des Winters in Wrynde aufsuchten – entweder allein oder in kleinen Gruppen – kamen nicht als blutige Anfänger. Sie wußten bereits, wie man mit Schwertern umging, – auch wenn sie ihr Wissen vielleicht nur durch Duelle oder eine knappe Ausbildung zum Bürgerwehr-Soldaten erworben hatten. Ihre Körper waren schon abgehärtet aufgrund sportlicher Betätigung oder körperlicher Arbeit. Die meisten der Frauen jedoch, mit denen es Sonnenwolf jetzt zu tun hatte – insbe sondere die reicheren – , hatten noch nie in ihrem Leben an irgend welchen Wettkämpfen teilgenommen oder gearbeitet. Mit kritischem Blick beobachtete er ihre Körper – die Rekrutinnen bemerkten natür lich, welchen Stellen ihrer Leiber die Aufmerksamkeit ihres Ausbil ders galt, und sie erröteten – , die zwar einerseits recht schlank wa ren, aber nicht trainiert. Erneut schüttelte Sonnenwolf den Kopf. Und diese Frauen woll ten die Bergwerke Altiokis' stürmen! Er konnte nur hoffen, daß er zu jenem Zeitpunkt schon weit genug von Mandrigin entfernt und auf dem Weg nach Wrynde war, um ihre Niederlage nicht miterleben zu müssen. Ein weiteres Mal ging er die Reihe entlang und erteilte geduldig Ratschläge. Die meisten Frauen schreckten unwillkürlich vor der Berührung durch ihn zurück, denn immerhin waren sie gewohnt, sich fremden 100
Männern nur verschleiert zu zeigen und in ihrer Nähe den Kopf zu senken. Die hochgewachsene Rekrutin, die ihn zuvor ohne Erlaubnis angesprochen hatte, war vor Anstrengung ganz rot im Gesicht und erwies sich als ziemlich unbeholfen. Güldene Shorad gab sich kühl und ganz geschäftsmäßig. Wilarne V'Baum zeigte sich ernst und konzentriert. Drypettis zuckte heftig zurück, als Sonnenwolf ihre Hand packte, um ihr zu zeigen, wie man das Heft des Schwertes richtig umfaßte, und für einen Augenblick sah er in ihren Augen nicht nur eifersüchtigen Haß, sondern auch so etwas wie Entsetzen. Eine Jungfrau, dachte er. Natürlich. Und vermutlich wird sie es auch bleiben, trotz ihrer Schönheit. Mit etwas weniger Nachdruck griff er nach dem Schwert und zeigte Drypettis, wie man damit umging. Der Blick ihrer großen, rehbraunen Augen folgte aufmerksam den Bewegungen seiner Hand und richtete sich nicht ein einziges Mal auf den Körper oder das Gesicht des Söldners. Ihre Wangen waren so gerötet, als brenne in ihnen ein heißes Feuer. Zwar erwies sie sich als recht zäh und war wild dazu entschlos sen zu lernen, wie man kämpfte, aber Sonnenwolf kam zu dem Schluß, daß er auf sie achtgeben mußte. Überhaupt gehörte sie nur deshalb zu den auszubildenden Frauen, weil Sheera darauf bestanden hatte. Die erste Gruppe hatte aus über hundert bestanden, und gleich zu Beginn war mehr als die Hälfte von Sonnenwolf ausgemustert wor den. Einige von ihnen genügten nicht den körperlichen Mindestvor aussetzungen – sie waren entweder zu dick oder offenbarten jene Art von verräterischer Blässe, die auf ein angeborenes Leiden hindeutete. Viele hatte der Söldner deshalb zurückgewiesen, weil sie ganz offen sichtlich von Alkohol oder Drogen abhingen. Vier Mädchen waren von ihm wegen ihres Alters von erst dreizehn Jahren nach Hause geschickt worden – obwohl sie ihm schluchzend versichert hatten, fünfzehn und mit dem Einverständnis ihrer Mütter zu ihm gekom men zu sein. Drei weitere Frauen wollte er nicht in die Streitmacht aufnehmen, weil er aufgrund seiner entsprechenden Erfahrung und aufmerksamen Beobachtungen zu dem Schluß gelangt war, daß sie zänkisch waren – Personen, die einen Streit entweder deshalb verur sachten, weil sie ganz bewußt darauf aus waren und Gefallen daran fanden, oder aber unbewußt, so als sei das ein Teil ihrer Natur. Die weibliche Version dieses Menschentyps bevorzugte im Gegensatz zur männlichen zwar keine direkten körperlichen Auseinanderset 101
zungen, aber gerade in dieser Armee durfte Sonnenwolf niemanden dulden, der Schwierigkeiten hervorrufen konnte. Die nach dieser Aussonderung noch verbleibenden Frauen waren größtenteils recht jung, die Gattinnen von Handwerkern oder Arbei tern. Es gehörten aber auch einige Frauen von unterschiedlich wohl habenden Handelsherren und Kaufleuten zu ihnen. Rund ein Dut zend verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Huren, und insgeheim rechnete der Söldner nicht damit, daß sie bis zum Ende durchhalten würden. Infolge einer profunden Erfahrung gerade auf diesem Gebiet war Sonnenwolf davon überzeugt, daß es Frauen, die sich selbst verkauften, sowohl an Disziplin mangelte als auch an der Kraft, das eigene Leben fest in die Hand zu nehmen und selbst zu bestimmen – und seiner Ansicht nach traf das auch auf diejenigen zu, die er nicht sofort aufgrund von Trunksucht oder Drogenabhängigkeit abgelehnt hatte. Eine der neuen Kriegerinnen in der letzten Gruppe war eine Nonne, eine ältere Frau, die zwanzig Jahre lang als Bäckerin im Kloster gearbeitet und einen Griff so fest wie ein Schmied hatte. Sonnenwolf dachte an Sternenfalke und lächelte. Diejenigen, die er für geeignet hielt, teilte der Söldner in vier Einheiten auf und gab ihnen die Anweisung, sich jeweils an ver schiedenen Abenden zu den Übungen einzufinden, entweder einige Stunden nach Sonnenuntergang oder um Mitternacht. Mit ein wenig Glück sollte auf diese Weise verhindert werden, daß weder das Stadthaus Sheeras noch die nähere Umgebung als ein Bereich be sonderer Aktivität auffielen, denn es gab drei oder vier verschiedene Wege, die auf das entsprechende Gelände führten, und einige der Frauen machten in dieser Hinsicht weitere Vorschläge. Yirth hatte für den Fall des Verrats aus den Reihen der neuen Streitmacht einen Todesfluch ausgesprochen, und die Frauen schworen sich gegensei tig Treue und versicherten Sheera Loyalität. Angesichts der besonderen Umstände ihrer Lage waren sie recht sicher, aber als Sonnenwolf die schwitzenden und blassen und größ tenteils kraftlosen Frauen bei den Übungen beobachtete, zweifelte er nach wie vor an einem Erfolg des ganzen Unternehmens. Rund zwei Stunden später verließen die Frauen das Gebäude durch das ganz unten gelegene Badehaus, still und heimlich, nach der Ausbildung an den Kriegswaffen wieder gekleidet wie respektab le Damen der Gesellschaft. Sonnenwolf stand in der dunklen Tür der Orangerie und sah ihnen nach. Sie zeichneten sich als flüchtige Schatten vor dem düsteren rötlichen Glühen ab, das durch die Fens 102
ter des Pavillons fiel. Sie eilten durch schmale Gassen, über kleine Holzbrücken, die über Nebenkanäle hinwegführten, durch die Stra ßen schließlich, die an jenen Ort führten, wo die Gondeln an den Ufersteinen abgelegener Lagunen festgemacht waren. Nieselregen benetzte das schlichte Grau der Pfade, die sich durch die Gartenanla gen wanden. Hinter den Mauern plätscherte und gurgelte das Wasser in den Kanälen und bildete somit jene Art von melodischer Beglei tung, die für eine solche Stadt typisch war. Nach der Anzeige der Wasseruhr in dem matt erhellten Raum hinter dem Söldner war es kurz vor Mitternacht. Bald mußten die Frauen der nächsten Gruppe eintreffen. Die kühle Feuchtigkeit legte sich wie eine lähmende Patina auf die nackte Haut der Schultern und Beine Sonnenwolfs, und er kehrte in die Stille der eigentlichen Orangerie zurück. Sheera wartete dort auf ihn, gehüllt in einen Schal aus flammen farbener Wolle, dessen Fransen ihr bis zu den Füßen reichten. Sie hatte sich für die bevorstehenden Übungen umgezogen und trug eine kurze Hose und ein ledernes Schutzhemd. In ihren dunklen Augen glitzerte so etwas wie Verärgerung. »Mußtest du unbedingt so hart mit ihnen umspringen?« fragte sie schroff. »Einige von ihnen sind so erschöpft, daß sie sich kaum mehr auf den Beinen halten können.« »Warum fragst du sie nicht, was ihnen lieber wäre: jetzt erschöpft zu sein oder später, wenn es ernst wird, vom Feind niedergemacht zu werden?« Rote Flecken bildeten sich auf ihren Wangen. »Willst du sie viel leicht in der Hoffnung fertigmachen, ich würde deshalb von meiner Absicht ablassen, die Männer aus den Bergwerken zu befreien?« »Weib, ich habe inzwischen begriffen, wie wenig Sinn es hat zu hoffen, du könntest eine Entscheidung überdenken, die du einmal getroffen hast – ganz gleich, wie töricht und dumm sie auch sein mag«, erwiderte Sonnenwolf scharf. Er trat auf den Rost zu und wärmte sich die Hände über der glühenden Holzkohle. »Wenn die Frauen die Übungen für zu schwer halten, sollten sie besser an den heimischen Herd zurückkehren. Wir wissen nicht, aufweichen Wi derstand des Gegners deine Streitmacht in den Bergwerken Altiokis' treffen wird. Und da du mich als Ausbilder bestimmt hast, bin ich dazu entschlossen, die Frauen so gut wie möglich vorzubereiten.« Sheera setzte zu einer leidenschaftlichen Erwiderung an. »Ich halte es trotzdem für unnötig, sie… « 103
»Ich muß sie so hart herannehmen – und es wäre gut, wenn sie noch einige Stunden an den anderen Abenden üben könnten! Aber wenn ich daran denke, daß du nur vierzehn Schwerter auftreiben konntest… « »Wir geben uns die größte Mühe, weitere Waffen zu beschaf fen!« gab Sheera zurück. »Und einen anderen Ort zu finden, an dem wir auch während des Tages üben können. Doch als Derroug Dru als Bürgermeister eingesetzt wurde, ließ er alle Waffen in der Stadt beschlagnahmen… « »Ich habe dich bereits ganz zu Anfang auf dieses Problem hin gewiesen.« »Schweig! Derroug hat überall Spione.« »Dann müssen wir einen Übungsort außerhalb der Stadt finden.« »Wo denn?« erwiderte Sheera spitz. »Das«, stellte Sonnenwolf mit beißendem Sarkasmus fest, »fällt in deinen Verantwortungsbereich, meine Liebe. Ich bin schließlich nur dein demütiger Sklave. Aber ich sage dir eins: Wenn die Frauen nicht länger und öfter exerzieren, werden sie niemals Kriegerinnen.« »Hast du dich schon einmal gefragt, ob Sheera verrückt ist?« wandte sich Sonnenwolf später an Bernsteinauge. Die zart gebaute Frau dachte einige Sekunden lang darüber nach, und der Blick der für gewöhnlich verträumten goldenen Augen war ernst dabei. Sie hat Schlafzimmeraugen, fuhr es dem Söldner durch den Sinn. Das junge Mädchen erweckte selbst dann einen sanftmütigen Eindruck, wenn es mit dem Schwert übte. Schließlich erwiderte es: »Nein. Ich glau be, sie ist nicht verrückter als wir.« Sonnenwolf lehnte sich zurück. »Das ist keine Antwort.« Der Kopf Bernsteinauges ruhte in seiner Armbeuge. Nun wandte sie sich ihm zu und musterte ihn. Andeu tungsweise runzelte sie die Stirn. Der Mondschein glitzerte auf ihrer filigranen Halskette, die wie ein dünner goldener Schatten auf ihrer Haut ruhte und sich im Nacken mit der Haarfülle vereinte. Am Abend nach der ersten Zusammenkunft in der Orangerie hat te Bernsteinauge in der Dachkammer auf ihn gewartet, auf der Kante des schmalen Bettes, gekleidet nur in ihre dichten langen Locken. Sonnenwolf hatte ihr Angebot wahrgenommen – in jener Nacht und auch in den beiden folgenden Nächten. Manchmal fragte er sich, warum die junge Frau zu ihm kam, obwohl sie sich ganz offensicht lich vor ihm fürchtete. Doch abgesehen von den anregenden Worten, die sie während des Liebesaktes an ihn richtete und die ganz denen einer professionellen Hure entsprachen, erwies sie sich als schweig 104
sam und in sich gekehrt, wenn er versuchte, ein Gespräch mit ihr zu führen. An diesem Abend behandelte sie ihn zum erstenmal wie einen Partner und nicht nur wie einen Kunden. In der Orangerie unter ihnen und in den Gartenanlagen war es nun still. Nur das leise Flüstern des Wassers, das im Kanal an den Mauern entlangfloß, war zu hören. Als Bernsteinauge zu lange geschwiegen hatte, sagte er: »Sie muß verrückt sein, wenn sie glaubt, ihren Prinz Tarrin retten und lebend nach Mandrigin zurückbringen zu können. Oh, ich weiß, daß ihn jemand gesehen haben und ihm bisher nichts zugestoßen sein soll – aber das behauptet man immer von einem politischen Führer, den das Volk verehrt.« »Nein.« Bernsteinauge richtete sich ein wenig auf, und ihre gro ßen nußbraunen Augen blickten sehr ernst. »Ich habe ihn selbst ge sehen. Vor einigen Wochen überbrachte ich ihm eine Botschaft – das letztemal, als ich die Bergwerke betrat, um die Karten zu vervoll ständigen.« Sonnenwolf starrte sie überrascht an. »Was?« »Oh, ja«, bestätigte sie. »Wir haben ihn alle gesehen: Cobra, Irre rot… « – So hießen zwei weitere Kurtisanen der Truppe. – »Auch einige der Frauen, die du ausgemustert hast, ich meine diejenigen, die sich ihren Lebensunterhalt wie ich verdienen. Wir hielten ihn auf dem laufenden, was die Lage in der Stadt angeht.« »Du meinst«, erwiderte Sonnenwolf gedehnt, »ihr habt die ganze Zeit über mit den verschleppten Männern in Verbindung gestan den?« »Natürlich.« Mit geschmeidiger Eleganz setzte sich Bernsteinau ge auf und strich sich das lange Haar über die Schultern, die im Zwielicht wie Alabaster schimmerten. Plötzlich schien sie die be rufsmäßige Anmut einer Kurtisane zu vergessen und schlang die Arme um die Knie. »Ich schätze, Sheera wollte dir nichts davon sagen«, fügte sie offen hinzu. »Aber dieser Teil der Vorbereitungen war längst abgeschlossen, als wir die Entscheidung trafen, dich zu uns zu holen.« Bei ihren letzten Worten mußte Sonnenwolf unwillkürlich lä cheln. Zwar wirkte Bernsteinauge in der Regel recht scheu, doch wenn sie ihr tatsächliches Wesen nicht hinter dem verbarg, was der Söldner für ein professionelles Gebaren hielt, konnte sie sich als erstaunlich direkt erweisen. Er hatte beobachtet, wie sie sich den 105
anderen Frauen gegenüber verhielt. Es war, als zeige sie Männern – ihren Kunden – nur das, was die Betreffenden sehen wollen. »Ist Sheera dafür verantwortlich?« fragte er. Bernsteinauge schüttelte den Kopf. »Nein, es wurde bereits ein geleitet, bevor Sheera und Dru sich uns anschlossen. Eigentlich spielte dabei der Zufall eine große Rolle. Nun, du kannst dir sicher vorstellen, daß die Verschleppung aller Männer für die Stadt ein schwerer Schlag war. Auf uns – uns Pros – hatte das in emotionaler Hinsicht zwar keine so nachhaltige Wirkung, doch die Frauen, die regelmäßige Beziehungen zu einigen der Soldaten unterhielten, litten darunter. Ich erinnere mich noch an einen bestimmten Nachmittag. Ich besuchte den Friseursalon der Güldenen Shorad – alle von uns, die Geld genug haben, gehen zu Shorad und Wilarne – , und ich hörte von ihr, daß ihr Mann ums Leben gekommen sei, Wilarne aber nicht wisse, ob ihr Gatte, Beddick, ebenfalls den Tod gefunden habe. Die Güldene meinte damals, viele andere Frauen seien in der glei chen Lage. Wilarne machte sich große Sorgen – obwohl sich das im Falle Beddicks meiner Meinung nach eigentlich gar nicht lohnte – , und ich versprach, ihr zu helfen. So nahm ich mir ein Pferd und ritt in die Vorberge, in die Nähe der südlichen Bergwerkszugänge, die an den Eisernen Paß grenzen. Dort ließ ich mein Roß davonlaufen und gab vor, mir den Fuß verstaucht zu haben.« Sie lächelte amü siert. »Der Aufseher, auf den ich schließlich traf, erwies sich als sehr hilfsbereit. Danach war alles ganz einfach. Als ich mich das nächstemal auf den Weg zu den Minen machte, brachte ich Freundinnen mit. Die Aufseher der verschiedenen Bergwerksbereiche und die Wächter haben nicht oft Gelegenheit, in die Stadt zu kommen. Es ist ihnen verboten, Frauen in die Baracken mitzunehmen, aber wer sollte schon Meldung machen? Die Güldene und ich konnten auf diese Weise einen Informationsdienst einrichten, und wir berichteten den anderen Frauen in der Stadt, welche Männer gestorben waren und wer noch lebte. Wir bekamen den Sanften Beddick zu Gesicht, und schließlich auch Tarrin.« Im matten Mondlicht war zu sehen, wie sich das Gesicht der jun gen Frau verdüsterte. »Erst dadurch wurde Sheera aufmerksam. Sie hörte, daß es eine Möglichkeit gab, sich mit den Männern in den Bergwerken in Verbindung zu setzen. Durch Shorad nahm sie Kon takt mit mir auf. Zu jenem Zeitpunkt gingen praktisch jeden Tag einige von uns in die Minen, und wir begannen damit, den Männern 106
verschlüsselte Botschaften zukommen zu lassen. Tarrin, so stellte sich heraus, versuchte bereits, den Widerstand in den Bergwerken selbst zu organisieren. Er tauschte Nachrichten mit anderen Gruppen von Gefangenen aus, stellte fest, in welchen Teil der Minen sie je weils gebracht wurden. Wenn man sie verlegt, müssen sie sich in völliger Dunkelheit bewegen, und somit wissen die Betreffenden nicht ganz genau, wo in den Tunneln sie sich befinden. Wenn sich einer von ihnen von der Gruppe entfernt, läuft er Gefahr, sich zu verirren und zu verdursten. Darüber hinaus haben die Tunnel Ab sperrtore, mit denen sich einzelne Korridore abriegeln lassen. Aber als es uns gelang, mit den Männern Verbindung aufzunehmen, hatten sie begonnen, Karten anzufertigen. Wir besaßen bereits entsprechen de Unterlagen über die Minenzugänge, die Räume der Wächter und von dem Ort, an dem sich die Hauptbaracken befinden. Von dort aus werden die Tunnel der Bergwerke bis hin nach der Zitadelle Grimmwall kontrolliert.« Sonnenwolf runzelte die Stirn. »Demnach kann man von der Zi tadelle direkt in die Minen gelangen?« »Das behaupten die Bergleute. Der Grund ist die Unzugänglich keit der Bastion von außen. Natürlich verfügt sie über starke Befesti gungsanlagen, aber sie wurde direkt am Rande der Schlucht erbaut, und für die Straße von Hackenrippe – die am anderen Ende des Ei sernen Passes liegende Verwaltungsstadt des Magischen Königs – mußte ein Tunnel unter einen Granithang getrieben werden, damit sie überhaupt bis an die Tore der Zitadelle reicht. Da es sich als zu teuer herausstellte, Lebensmittel über den Steilhang in die Festung zu bringen, verband man den Tunnel direkt mit den Minen. Jetzt wird der Nachschub von Hackenrippe durch den Berg selbst beför dert. Es heißt allerdings, daß die Zugänge, die von den Bergwerken in die Zitadellen führen, schwer bewacht werden und mit Trugbil dern abgeschirmt sind.« »Aber wenn ihr Frauen die Minen stürmt«, sagte Sonnenwolf düster, »so kann Altiokis seine Truppen von der Bastion aus sofort in die Bergwerke schicken und euch zum Kampf stellen, nicht wahr?« »Nun…« erwiderte Bernsteinauge ausweichend, »…wenn wir rasch genug zuschlagen… « »Prächtig.« Der Söldner seufzte und ließ sich aufs Kissen zu rücksinken. »Es sind schon viele Schlachten verloren worden, nur weil ein Narr von General bei seinen Plänen von zu vielen ›Wenns‹ ausging.« 107
»Immerhin haben wir die Hilfe Yirths«, erinnerte ihn die junge Frau. »Sie kann uns vor den schlimmsten magischen Angriffen Alti okis' schützen und seine Trugbilder ausmachen.« »Yirth.« Er schüttelte den Kopf und spürte dabei einmal mehr die ungewohnte Sklavenkette. »Das ist also die Rolle, die ihr zukommt.« »Ja.« Bernsteinauge blickte auf ihre Hände und zupfte immer wieder an einem Zipfel der Decke. Draußen kratzte ein vom Wind bewegter Zweig wie der knorrige Finger eines Ghuls übers Dach. Das Laternenlicht einer im Kanal dahingleitenden Gondel spiegelte sich unstet zitternd auf dem dunklen Wasser wider und fiel mit ei nem trüben Gelb durch das beschlagene Glas des Fensters. »Es war Sheera, die Yirth zu uns brachte«, fügte die junge Frau nach einer Weile hinzu. »Natürlich kannten wir sie alle schon. Ich glaube, es gibt keine Frau in der Stadt, die sie nicht mindestens ein mal aufsuchte, um von ihr eine Abtreibung vornehmen zu lassen, empfängnisverhütende Mittel zu kaufen oder einen Liebestrank zu erbitten – vielleicht auch nur deswegen, weil Yirth der einzige weib liche Heiler in der Stadt ist. Sheera gehörte zu den wenigen, die auch von ihren magischen Fähigkeiten wußten. Als sich die hiesige Wi derstandsbewegung allein mit dem Nachrichtenaustausch befaßte, hatte sie nichts mit uns zu tun. Aber als Sheera zu uns kam… Sie gab den Ausschlag. Zuvor war alles recht hoffnungslos gewesen. Was hatte es für einen Sinn, den Männern in den Bergwerken Botschaften zukommen zu lassen – selbst wenn es die Väter, Söhne oder Gemahle waren – , wenn es keine Möglichkeit zu geben schien, sie zu befreien? Ging etwas schief – wurde zum Beispiel der Besitz beschlagnahmt oder ein Freund in den Kerker geworfen – , so konnte man ihnen das nicht mitteilen, denn es hätte ihre Not nur noch vergrößert. Sheera jedoch meinte, wenn es möglich sei, Nachrichten auszutauschen, so könne man auch Befreiungspläne schmieden. Sie gab uns neue Hoffnung. Und dann fand Drypettis Dru heraus, wie man Geld aus der Schatzkammer holen kann, und wir stellten ein Vermögen für die Anwerbung einer Söldnerarmee zusammen. Und…« Sie breitete die Arme aus. Im elfenbeinfarbenen Mondschein wirkten ihre dünnen Finger fast durchsichtig. »Unser Widerstand wurde ein Teil ihres eigenen – und des von Tarrin. Der Prinz und seine Männer verschaf fen uns noch immer weitere Informationen über die Bergwerke und lassen sie uns durch die Zaupen zukommen…« »Durch wen?« Er kannte diesen Ausdruck aus der Umgangsspra 108
che der Söldner. Für gewöhnlich nannte man so die billigsten und verkommensten Huren, die sich sogar für einen Becher schlechten Weins an Gerber oder Müllfuhrleute verkauften. »Die Zaupen.« Sie sah ihn groß an. »Du weißt schon: die beson ders häßlichen Frauen oder die Dicken und Alten und Gebrechlichen. Die Wächter machen sich des öfteren einen Spaß daraus, sie einer Gruppe Bergleute vorzuwerfen. Einige der Sklaven in den Tiefen der Minen sind schon ganz verkommen.« Verbittert preßte Bernsteinau ge kurz die schmalen Lippen aufeinander, und in ihren sonst so sanft blickenden Augen funkelte es plötzlich zornig. »Ja, die Wächter packen eine Zaupe, werfen sie in eine Sklavenbaracke und rufen: ›Nehmt sie euch, Jungs! ‹ Und dann lassen sie sie mit der armen Frau allein.« Sie schwieg eine Weile und blickte in die Ferne, während ihre Finger weiterhin unruhig an dem Zipfel der Decke zupften. Ihrem Gesicht war kaum etwas anzumerken, aber ihre Wut auf die Männer, die so etwas zuließen – und vielleicht auf alle Männer – war wie eine feurige Hitze, die Sonnenwolf durch ihre weiche Haut fühlen konnte, dort, wo sie ihn an der Schulter berührte. Und wer bin ich schon, daß ich ihr deswegen einen Vorwurf machen könnte? Der Söldner schwieg, denn er erinnerte sich zu gut daran, wie er und seine Leute sich bei der Plünderung vieler Städte verhalten hatten, halb betrun ken und im Siegestaumel. Dann zuckte Bernsteinauge mit den Achseln und verdrängte ih ren Zorn. »Gerade die Zaupen sind es, die die Nachrichtenverbin dung zwischen den einzelnen Gruppen in den Bergwerken halten. Die Befehle Tarrins sorgen dafür, daß sie nur selten angerührt wer den. Die Aufseher haben es sich zur Angewohnheit gemacht, die neuen Gefangenen – die Männer aus Mandrigin – auf die Gruppen aufzuteilen, die aus Sklaven bestehen, die sich schon viel länger in den Minen befinden. Auf diese Weise soll ein einheitlicher Wider stand verhindert werden. Insgesamt gibt es in den Tunneln und Schächten Tausende von Gefangenen. Aber die aus Mandrigin stammenden Sklaven weihen auch die anderen in den Plan ein. Und wir – die Frauen, die zuvor als nicht respektabel galten – haben Kar ten über die Bergwerke selbst und Wachsabdrücke der Torschlüssel angefertigt. Du weißt doch, daß die Schwester der Güldenen Shorad, Eo, Schmied ist? Wir kennen auch die Orte, wo sich die Waffen kammern befinden.« Sonnenwolf lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und mus 109
terte die junge Frau nachdenklich. Draußen trübte sich das Mond licht, und der Wind trug den Geruch von Regen heran, wie den Duft eines herben Parfüms. In dem matter werdenden Glanz wirkte das Gesicht Bernsteinauges sehr jung, fast wie das eines Kindes. Er erinnerte sich daran, wie er sie in dem nach Rosen duftenden Zim mer in Kedwyr angesehen hatte, entsann sich an ihr leises und ein wenig heiser klingendes Lachen, mit dem sie ihn in die Falle der Verschwörung lockte. Er hielt es für ein Kompliment, daß sie ihm nun auch ihr anderes Gesicht zeigte – jenes offene Antlitz, das keine berufsmäßige Maske trug und das sie sonst nur ihren Freundinnen offenbarte. Der Söldner fragte sich, ob sie einen Liebhaber hatte, der mehr war als nur ein regelmäßiger Kunde – und ob dieser Mann, wie der namenlose Gatte der Güldenen Shorad, wie Beddick V'Baum, wie so viele andere, Tarrin in die Schlacht am Eisernen Paß gefolgt war. Bernsteinauges weicher Leib wärmte ihm die Schulter – eine Geste des Vertrauens, die weniger einen sexuellen als vielmehr einen freundschaftlichen Aspekt hatte. »Wir haben schon viel zu viele Worte gewechselt«, sagte die junge Frau, erneut in einem berufsmä ßigen Tonfall, erneut mit sanftem Spott. »Noch eine Frage«, erwiderte Sonnenwolf. »Warum bist du hier?« Sie lächelte. Er ergriff ihre Hand. »Du fürchtest dich vor mir. Das stimmt doch, oder?« Er fühlte, wie der Körper Bernsteinauges in seiner Umarmung erzitterte. Als sie antwortete, klang ihre Stimme wie die eines neun zehnjährigen und doch in vielerlei Hinsicht schon recht erfahrenen Mädchens. »Das ist vorbei«, sagte sie. Der Mondschein ließ ihre Wimpern wie Silber leuchten, als sie zu ihm aufsah. »Meiner Ansicht nach war es nicht richtig, dir die Einzelheiten über unseren Widerstand zu verheimlichen. Dru und Sheera meinten, je weniger du wüßtest, desto weniger könntest du verraten. Um noch einmal auf deine erste Frage zurückzukommen… « In der Dunkelheit berührten ihre Lippen die seinen. »Auch ich habe so meine Geheimnisse.« Er zog sie an sich, und als er sich bewegte, erfüllten die Glieder der Ketten an seinem Hals die Stille in der Dachkammer mit einem leisen Klirren.
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7 Kapitel Das Problem mit den Waffen und einem zweiten Übungsplatz, an dem auch tagsüber exerziert werden konnte, ohne eine Entde ckung durch die Spione Derroug Drus befürchten zu müssen, wurde nicht etwa durch den Scharfsinn Sheeras gelöst. Der Beistand stammte vielmehr vom Schicksal, auf das höchstwahrscheinlich die verstorbenen und sich köstlich amüsierenden Vorfahren Sonnen wolfs Einfluß genommen hatten. Das sich im Südosten Mandrigins erstreckende Thaneland stand schon seit längerer Zeit unter der Herrschaft Altiokis'. Tatsächlich hatten die stolzen und an den alten Traditionen festhaltenden Clans der Thanes dem Magischen König als erste Treue geschworen. Alti okis jedoch hatte sein Reich noch weiter ausgedehnt und auch die wohlhabenderen Städte an den Küsten unterworfen. Tausende von Sklaven ließ er die Gold- und Silbervorkommen in den Bergen ab bauen. Als seine Streitmacht sich aus dem Thaneland zurückzog, wurde diese Region wieder zu einer unwichtigen und nur dünn be völkerten Provinz. Die Straßen der Ostküste, die sich aus dem Irrgar ten der Tavernen, Schenken und Bordelle in die grauen Hügel wan den, verliefen im Nichts. Im Sommer grasten Schafe auf den weiten Wiesen, und man schnitt das Heidekraut und schichtete es zu großen Haufen – aber während des Winters schien sich im Thaneland nichts zu rühren. Es war kein Problem, eines Morgens im dunklen Zwielicht vor der Dämmerung mit kleinen Booten über den Arrak zu setzen. Bei Sonnenaufgang befanden sie sich bereits in sicherer Entfernung von der Stadt, und unbeobachtet durchstreiften sie die Wildnis aus Stech ginster und Torfmoor. Eiskalter Wind strich erneut mit einer Regenbö über den nackten Rücken Sonnenwolfs. In den Senken zwischen den inzwischen schlammig gewordenen grauen Hügeln sammelte sich das Wasser und glitzerte dort wie Silber. Die Temperatur lag knapp über dem Gefrierpunkt. In höherem Gelände kam man aufgrund des felsigen Untergrundes besser voran als in der Ebene, wo sich die nassen, blattlosen und durch die Kälte besonders hart gewordenen Dornen selbst in eine Haut bohrten, die einen Schutzpanzer aus krustigem Lehm trug. Vor dem Söldner wankte die Hauptgruppe der Frauen durch das 111
wächserne Licht des grauen Nachmittags. Ganz offensichtlich ließen langsam ihre Kräfte nach. Bei denjenigen, die sich das Haar nicht rechtzeitig zusammenge bunden hatten, bildeten die Strähnen klebrige und völlig durchnäßte Klumpen, die ihnen bis auf den Rücken reichten. Direkt vor Son nenwolf hob eine schlanke Frau die Arme, um nach einem blonden Fransen zu greifen, der wie der erstarrte Leib einer gelben Schlange bis hinab zu ihrem wohlgeformten Hinterteil führte, und sie schritt langsamer aus, als sie versuchte, Ordnung in ihre Mähne zu bringen. Im strömenden Regen schloß der Söldner rasch zu ihr auf und fuhr sie an: »Willst du dir auch in der Schlacht Zeit nehmen, dein Haar zu frisieren, Schätzchen?« Überrascht wandte sie sich ihm zu. Ihr Gesicht, zart wie die Blät ter einer Blume, aufgrund der Anstrengungen hohl und eingefallen. Andere Frauen senkten betreten den Kopf. Sonnenwolf stemmte die Arme in die Hüften und brüllte so laut, daß ihn alle Rekrutinnen hören konnten: »Der nächsten von euch, die ihr Haar berührt, schneide ich es ab!« Daraufhin gaben sie sich wieder mehr Mühe, schritten rascher aus, liefen geradezu. Ihre Arme schwangen hin und her. Immer wie der sanken die Füße tief in den Schlamm. Die sich unter den leder nen Schutzhemden abzeichnenden Brüste hüpften wie eigenständige Wesen auf und nieder, und aufgrund der Nässe wurde die Kleidung zu einer zweiten Haut, die an ihren Körpern festklebte. Sie alle wa ren im Verlaufe der letzten Woche zu dem Schluß gelangt, daß Son nenwolf keine Skrupel hatte, derartige Drohungen wahrzumachen. Und das, dachte Sonnenwolf grimmig, als er selbst schneller wurde und mühelos die Spitze übernahm, war auch gut so. Nur sehr wenige der Frauen waren so trainiert, wie zum Beispiel Tisa, die fünfzehnjährige langbeinige Tochter der Güldenen Shorad, die sehnige und unauffällige Fischersfrau Erntwyff Fisch und Denga Rey. Einige der Frauen, so stellte Sonnenwolf ein wenig amüsiert fest, waren noch immer verlegen, sich einem fremden Mann fast nackt zu zeigen. Er kam an Sheera vorbei, die sich im letzten Drittel der Rekru tengruppe abmühte. Ihr schwarzes Haar hatte sich teilweise aus den Bindetressen gelöst und klebte ihr an den Wangen. Sie war schmut zig, naß und der Erschöpfung nahe – und doch bot sie nach wie vor einen Anblick, bei dem sich der Pulsschlag eines Mannes beschleu 112
nigen konnte. Wolf fragte sich boshaft, was sie nun davon halten mochte, zu einer Kriegerin zu werden. Im großen und ganzen gesehen aber war Sonnenwolf überrascht, wie viele Frauen die erste Woche der harten Ausbildung überstanden hatten. Nach dieser ersten Woche war die Streitmacht auf fünfzig von ihnen zusammengeschrumpft, und die Tatsache allein, daß nicht alle aufgegeben hatten, stellte einen ausreichenden Beweis für die Ent schlossenheit dieser Frauen dar. Sie alle – sowohl die jungen Mäd chen als auch die aus allen Gesellschaftsschichten stammenden Er wachsenen – hatten sich den härtesten körperlichen Übungen unter ziehen müssen, die Sonnenwolf in ihrem Fall für angebracht hielt: das Rollen auf hartem Boden, um die Reflexe zu schulen und die Furchtsamen ausfindig zu machen, das Heben von Gewichten, um die Armmuskeln zu stärken, Boxkämpfe, Ringen, Duelle mit Schwertern, deren Spitzen abgestumpft waren, Dauerläufe in den Hügeln. Und doch handelte es sich dabei nur um die Vorbereitung auf bevorstehende Nahkämpfe – auf die grausamen Tücken des Krieges selbst. Frauen, von denen Sonnenwolf überzeugt gewesen war, daß sie sich zu wirklichen guten Kriegerinnen entwickeln würden, hatten aufgegeben. Andere, körperliche Mauerblümchen, wie Wilarne V'Baum und unbeholfene Rekrutinnen wie Drypettis Dru, offenbar ten eine eiserne Disziplin und waren noch immer bei der Sache. Der Söldner drehte einmal kurz den Kopf und beobachtete die beiden, die der Hauptgruppe in einem Abstand von rund einem Dutzend Metern folgten. Sonnenwolf kam einmal mehr zu dem Schluß, daß es ihm un möglich sein würde, Frauen jemals auch nur ansatzweise zu verste hen. Sternenfalke… Er hatte Sternenfalke eigentlich nie in erster Linie als eine Frau gesehen. Seiner bisherigen Meinung nach war sie einfach nur anders gewesen, anders als andere Frauen, anders auch als die anderen Kriegerinnen in seiner Söldner-Streitmacht. Jetzt aber, da er sich mit ausschließlich weiblicher Begleitung konfrontiert sah, ergaben einige bestimmte Aspekte ihrer Persönlichkeit plötzlich einen Sinn. Sie war nicht nur eine Frau, die das Joch der Art von Unterwerfung ablehnte, dem sich die Rekrutinnen zeit ihres Lebens hatten beugen müssen. Sie hatte sich längst für die Freiheit entschieden, bevor sie seinen 113
Weg kreuzte. Sonnenwolf erinnerte sich flüchtig an ihre erste Begegnung, an das kühle Sonnenlicht im Frühjahr im Garten des Klosters von St. Cherybi, an den intensiven Geruch des Bodens, in dem die Keime der neuen Saat erwachten. In diesen knappen Sekunden sah er sie erneut als das hochgewachsene Mädchen, das sie damals gewesen war, als eine an eine asketische Lebensweise gewöhnte Frau, geklei det in die dunkle Robe einer Nonne, unnahbar und so kalt wie Mar mor in der Nacht. Er wußte nicht mehr, wieso er sich in das Kloster begeben hatte – vielleicht in der Absicht, von der dortigen Oberin Proviant zu erbitten – , aber er entsann sich ganz deutlich, wie sich ihre Blicke getroffen hatten. In jener Sekunde war ihm sofort klar geworden, daß die große junge Frau im Grunde ihres Herzens eine Kriegerin sein wollte. Er hätte es niemals für möglich gehalten, Sternenfalke so sehr zu vermissen wie jetzt. Bernsteinauge war sehr sanft und eine wunder bare Partnerin im Bett, ganz die Art von Mädchen, die er bevorzugte – oder bevorzugt hatte. Aber eigentlich stand ihm der Sinn nach Frauen wie Sternenfalke, und er brauchte sie so sehr wie ein Schwert bei drohender Gefahr. Er hatte das dumpfe Gefühl, etwas verloren zu haben, was lange Zeit ein Teil von ihm selbst gewesen war. Die Frauen an der Spitze erreichten schließlich den Gipfel des letzten Hügels, von wo aus man auf den kleinen Wald blicken konn te, in dem sie sich an diesem Morgen versammelt hatten. Sie hatten somit rund vier Kilometer zurückgelegt. Für den ersten Lauf war das gar nicht schlecht, zumal die Rekrutinnen nicht an derartige An strengungen gewöhnt waren. Sonnenwolf wurde langsamer und ließ sich erneut zurückfallen. Er rief der Güldenen Shorad, die von Mü digkeit taumelte, einen Fluch zu. Ihr Gesicht glühte in dem hellen rosaroten Ton, den nur außergewöhnlich schöne Frauen im Zustand der Erschöpfung zeigten. Sie versuchte vergeblich, seinen Erwartun gen gerecht zu werden, wollte erneut schneller laufen. Aber die Beine versagten ihren Dienst. Der Söldner beschimpfte auch die anderen Rekrutinnen, nannte sie Schwächlinge und Schlampen. Als er wieder zu der Hauptgruppe aufschloß und an die Seite Schwester Quincis gelangte, rief er: »Ich habe trinitarische Ketzer gesehen, die schneller liefen als du!« Sie stolperten über die Hügelkuppe hinaus und auf der anderen Seite den Hang hinunter. Vor und unter ihnen erstreckte sich im strömenden Regen ein ödes graubraunes Land, und die lange 114
Schlange aus silbrigem Wasser im schmalen Tal reflektierte das Licht des farblosen Himmels. Die an den Flanken wachsenden Bü sche sahen aus wie Schatten; der Winter hatte ihnen längst das Blattwerk geraubt. Sonnenwolf wurde noch langsamer, um auch die Nachzügler herankommen zu lassen und sie anzutreiben. Denga Rey hatte schon den kleinen See weiter unten erreicht, und auf der brau nen Haut ihres muskulösen Körpers schimmerte es feucht. »Lauft, ihr abgeschlafften Weiber!« rief er den langsamsten Rek rutinnen zu. Drypettis kommentierte diese Worte mit einem Blick, dessen Feurigkeit einen ganzen Gletscher zum Schmelzen gebracht hätte. Als Wilarne V'Baum heranwankte, versetzte er ihr einen Schlag auf die Wölbung des Hinterteils, und sie taumelte weiter. Am Ufer des kleinen Sees aus Regenwasser angekommen, war einigen Frauen so übel, daß sie sich übergaben. »Wenn du das schon machen mußt«, fuhr Sonnenwolf die grün gesichtige und würgende Eo an, »so solltest du dir zuvor eine pas sende Stelle im Wald suchen und das Erbrochene mit Zweigen und Blättern zudecken, damit die feindlichen Späher nicht darauf auf merksam werden. Willst du etwa, daß die Spione Altiokis dem Ge stank folgen und so unser Versteck finden? Verdammt, ich meine es ernst!« fügte er aufgebracht hinzu, als Eo erneut zu würgen begann, und er packte sie am Nacken und schob sie in Richtung der Bäume. Andere Frauen stolperten bereits von alleine dorthin. An Sheera gerichtet, für die dieser Hinweis zu spät kam, sagte er scharf: »Laß das verschwinden.« Ohne ein Wort zu erwidern – Sheera hatte nicht mehr die Kraft dazu, ihm eine zornige Antwort zu geben – , suchte sie einige Blätter und kam der Aufforderung des Söldners nach. »Und die anderen setzen sich jetzt wieder in Bewegung!« befahl Sonnenwolf barsch. »Wenn ihr euch hier ausruht, holt ihr euch noch eine Erkältung, und ich will euch beim Exerzieren heute abend nicht die Nase putzen müssen.« »Sehr nett!« klang eine dunkle und spöttische Stimme aus dem konturlosen Gewirr der nahen Büsche und Sträucher. »Ich hörte, daß alle Männer Mandrigins, die auch nur ein wenig Mumm haben, in die Bergwerke verschleppt wurden. Es freut mich zu sehen, daß diese Meldungen offenbar übertrieben waren.« Sonnenwolf drehte sich ruckartig um, und Sheera erhob sich blaß. Ein großes, rotbraunes Pferd kam aus dem dornigen Dickicht hervor. Die Frau darauf saß in einem Damensattel und hielt sich 115
außergewöhnlich gerade. Im Schatten unter einer Kapuze aus grü nem Ölzeug blitzte der ironische Blick zweier nußfarbener Augen. Der Übermantel bedeckte fast ihren ganzen Leib, und nur der Saum ihres Gewandes und die Handschuhe ragten darunter hervor. Letztere waren überreich verziert und zeigten mehr als deutlich den gesell schaftlichen Stand dieser Frau an. Das Zaumzeug des Rosses wies an beiden Seiten Verzierungen aus Messing auf, die der Form von Blü ten nachempfunden waren. »Ringelblumen«, sagte Sheera leise. »Das Zeichen der Thanes von Wrinshardin.« Die ältere Frau lächelte dünn und wandte langsam den Kopf. »Ja«, schnurrte sie. »Ich bin Lady Wrinshardin. Die Mutter des Tha nes, nicht seine Gemahlin. Und wenn ich mich nicht täusche, seid Ihr die legendäre Sheera Galernas, der zu Ehren mein Sohn so alberne Verse schrieb.« Sheera schob das Kinn vor. Die dichten Locken ihres schwarzen Haares klebten ihr noch immer an den Wangen, und Regennässe glitzerte auf ihren nackten Armen und Schultern, auf denen sich infolge der Kälte bereits eine Gänsehaut gebildet hatte. »Wenn Euer Sohn der gegenwärtige Thane von Wrinshardin ist, der mir als Mäd chen von fünfzehn Jahren den Hof machte«, erwiderte sie eisig, »so freut es mich zu hören, daß Euer Sinn für Poesie so sehr meinem eigenen entspricht.« Kurze Stille schloß sich an. Dann wuchs das spöttische Lächeln der Reiterin in die Breite, und Lady Wrinshardin sagte: »Nun gut. Damals nahm ich an, daß Ihr, wie die meisten Schlampen aus der Stadt, die Gelegenheit der Einheirat in eine alte und ehrbare Familie nicht nur aus finanziellen Erwägungen ablehntet, sondern auch des halb, weil Euch die Aussicht auf ein Leben auf dem Lande nicht sonderlich zusagte. Es freut mich zu hören, daß Eurer Entscheidung gesunder Menschenverstand zugrunde lag.« Der durchdringende Blick der alten Augen schweifte kurz über die Gesichter der er schöpften und schmutzigen Frauen und den großen Mann in ihrer Begleitung, der zwar eine Sklavenkette um den Hals trug, jedoch nicht den Eindruck eines demütigen Dieners erweckte. »Ich glaube, seit dem Tode meines Gemahls habe ich keinen Mann mehr gesehen, der es mit so vielen Frauen aufnahm«, bemerk te sie in ihrem ein wenig verächtlich klingenden Tonfall. »Und fünf zig auf einmal wären selbst für ihn zu viele gewesen. Während des Winters halbnackt in den Hügeln herumzurennen – ist das ein neuer 116
Modesport in der Stadt, oder steckt gar ein Sinn dahinter?« »Kein Sinn jedenfalls, von dem jemand erfahren sollte.« Bei dem Klang der Stimme Denga Reys wandte Lady Wrinshar din langsam den Kopf und gab sich den Anschein, als werde sie erst jetzt auf die muskulöse Gladiatorin aufmerksam. Andeutungsweise kniff sie die Augen zusammen. »Wäre es vielleicht möglich, diese mehrdeutige Erwiderung als eine Drohung aufzufassen?« fragte sie gleichgültig. Plötzlich hob das Roß den Kopf, stülpte die Ohren vor und wie herte furchtsam. Aus dem nassen Dickicht sprangen von einem Au genblick zum anderen einige Frauen hervor und umringten Lady Wrinshardin. Manche waren ein wenig blaß, aber in ihrer grimmigen Entschlossenheit hätte man sie fast mit Wegelagerern verwechseln können. Die Reiterin runzelte die Stirn, und eine Augenbraue hob sich wie zögernd. »Himmel«, murmelte sie. Dann zerrte sie abrupt an den Zügeln, zwang das Pferd herum und gab ihm die Sporen. Sie durch brach die Linie der Frauen und hielt auf offenes Gelände zu. »Haltet sie auf!« rief Sheera. Hände griffen nach dem Zaumzeug, und das Roß scheute ange sichts der Frauen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe zusammen drängten. Denga Rey bekam den Stirnriemen zu fassen, und sie drückte dem Tier den Kopf nach unten, während es austrat und ver zweifelt versuchte, sich zu befreien. »Genug!« sagte Lady Wrinshar din scharf. Obwohl sich das Pferd immer wieder aufbäumte, gelang es ihr, im Sattel zu bleiben, mit der Würde einer in einem Schaukel stuhl sitzenden Großmutter. »Du hast deinen Mut bewiesen. Es wäre sinnlos, es nun zu übertreiben und eine Maulverletzung des Rosses zu riskieren.« Die dunkelhäutige Gladiatorin verringerte den Druck ein wenig, aber sie ließ den Stirnriemen nicht los und wich auch nicht zurück. Auf der anderen Seite hielt Tisa zu allem entschlossen das Zaumzeug fest. Die stolze Adelige auf dem Rukken des Rosses blickte nachein ander die sie umringenden Frauen an, und in ihrem faltigen Gesicht zeigte sich erneut das gleichzeitig spöttische und amüsierte Lächeln. Jäh beugte sie sich vor und reichte Tisa die Hand. »Hilf mir hin unter, Mädchen.« Überrascht kam Tisa der Aufforderung nach. Eine fließende und geschmeidige Bewegung, und Lady Wrinshardin stand neben ihrem Roß. Durch das feuchte Gras trat sie auf Sheera zu. Sie bewegte sich 117
mit der Selbstsicherheit einer Königin. »Eure Kriegerinnen sind gut ausgebildet«, meinte sie. Sheera schüttelte den Kopf. »Nur diszipliniert.« Von allen Frauen schien nur sie der vornehmen Matriarchin keinen allzu großen Re spekt entgegenzubringen. Selbst Drypettis, deren Familie – wie sie allen Leuten versicherte, die daran interessiert waren – in der Stadt besonders hoch angesehen war, senkte den Kopf. Nach kurzem Zö gern fügte Sheera hinzu: »Mit der Zeit jedoch dürften sie zu wirkli chen Kriegerinnen werden.« Der nachdenkliche Blick Lady Wrinshardins richtete sich kurz auf Sonnenwolf und kehrte dann zu Sheera zurück. »Es war klug von Euch, den Heiratsantrag meines Sohnes abzulehnen«, sagte die Ade lige und schob die vor dem Regen schützende Kapuze zurück. Dar unter kam sorgfältig zusammengebundenes weißes Haar zum Vor schein. »Er hat nicht mehr Mumm in den Knochen als ein Köter, der zu winseln beginnt, wenn man ihn bei schlechtem Wetter vor die Tür setzt. Er gleicht seinem Vater, der ebenfalls Angst vor Altiokis hatte. Seid Ihr dem Zauberer jemals begegnet?« Diese Frage schien Sheera zu verwirren, und vielleicht hielt sie die Vorstellung, Altiokis zu begegnen, für ebenso absurd wie ein Treffen mit längst verstorbenen Ahnen. Möglicherweise, so fuhr es Sonnenwolf durch den Sinn, hielt sie das für so ausgeschlossen wie eine persönliche Audienz bei der Mutter des Trigottes. Die Lady schürzte die Lippen, und verächtlich fuhr sie fort: »Er ist vulgär. Und ich frage mich, wie es ein solcher Mistkerl fertig bringen konnte, derart alt zu werden… « Die ganze Zeit über ließ sie Sheera nicht aus den Augen, und ihrem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, daß sie eine Entscheidung traf. Auf unangenehme Weise fühlte sich Sonnenwolf durch diese Frau an eine alte Tante erinnert, die jahrelang nicht nur seiner Familie, sondern auch dem größten Teil des Stammes Angst und Schrecken eingejagt hatte. »Begleitet mich auf die Kuppe des Hügels, meine Liebe.« Die beiden Frauen setzten sich in Bewegung und wanderten durch das nasse Gras. Nach einigen Metern blieb Lady Wrinshardin stehen, sah zurück und fügte hinzu. »Du ebenfalls.« Wolf zögerte, gehorchte dann aber. Es war fast, als ließe die Per sönlichkeit der alten Frau keinen Widerspruch zu. Er folgte Sheera und der Lady den steilen Hang in die Höhe. An einigen Stellen rag ten Felsen aus dem dunklen Boden, so als sei das granitene Herz der Anhöhe ungehalten über den geringen Schutz, den ihm das schlam 118
mige Erdloch gewährte. Sonnenwolf ließ seinen Blick kurz über die anderen grünbraunen Hügel schweifen. Der böige Wind trieb schwe felgelbe Wölken über einen ansonsten grauweißen Himmel. »Vor hundertundfünfzig Jahren schwor mein Urgroßvater dem Thane des Grimmwalls Treue«, sagte Lady Wrinshardin, nachdem sie eine Zeitlang schweigend in die Höhe geklettert waren. Noch hatten sie die Felskuppe nicht erreicht, die so steil war wie Wellen berge eines sturmgepeitschten Meeres. »Heute erinnern sich nur wenige an ihn und das Reich, das er zusammen mit seinem Sohn errichten wollte. Damals griffen viele Herrscher auf die Hilfe der vom Hofe tätigen Zauberer zurück. Die mächtigeren Könige, die Herren der Mittleren Königreiche im Südwesten, konnten sich die besten Magier leisten. Diejenigen jedoch, die den Thanes dienten, waren entweder zu jung oder zu unreif. Manche von ihnen mußten sich erst noch beweisen, und andere hatten von Natur aus gar nicht erst die Möglichkeit, zu mehr zu werden, als sie bereits waren. Ei gentlich ähnelten sie sich zu jener Zeit sehr. Mein Urgroßvater hatte einen Zauberer, die Thanes von Schlaeg – und auch die des Grimm walls, die damals die mächtigsten Thanes im Bereich der TchardBerge waren. Sein Name war Altiokis. Dies berichtete mir mein Großvater, der noch ein Junge war, als der Thane von Grimmwall damit begann, ein Bündnis aller Thanes der großen alten Clans zu schaffen, zwischen den traditionellen Kriegerstämmen hier in den Tchard-Bergen und entlang der Buch tenküste. Von dort waren sie nicht verdrängt worden, obwohl sich Händler und Weber in einigen Städten niedergelassen hatten. Doch jene Menschen kümmerten sich eigentlich nicht um die Geschehnis se jenseits ihrer hohen Verteidigungsmauern. Es geschah in jenen Tagen, als die Nuuwa noch nicht damit begonnen hatten, sich so schlagartig zu vermehren, bis sie die Berge und Hügel hier in ganzen Rudeln durchstreiften, zu einer Zeit, zu der noch niemand von Men schenhunden gehört hatte, den Ungeheuern, die man auch einfach Scheusale nennt. Der alte Thane der Grimmwalls wollte eine Koali tion der Thanes mit den Städten der Kaufleute herbeiführen, und es heißt, daß die Verwirklichung dieses Plans damals gute Fortschritte machte. Dann aber stieß ihm etwas zu. Mein Großvater konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob es ganz plötzlich geschah oder ob es ein schleichender Prozeß war. Er erzählte mir, daß der alte Thane von 119
einem seltsamen Leiden befallen wurde, an dem er nach ein oder zwei Wochen starb. Sein Sohn, ein junger Mann von achtzehn Jah ren, wurde zum Oberhaupt des Bündnisses, und Altiokis diente ihm als Ratgeber. Heute vermag niemand mehr zu sagen, wann der junge Mann verschwand.« Der Hang wurde steiler, und deshalb kamen sie langsamer voran. Beide Frauen vor Sonnenwolf suchten immer wieder nach Halt. Als der Söldner zurückblickte, konnte er weiter unten die anderen Frauen sehen. Vor den rauchigen Farbtönen des Hintergrundes zeichneten sich ihre Leiber hell und deutlich ab. Tisa und ihre Tante, die Schwester der Güldenen Shorad – die stämmige Eo – hielten das Pferd am Zaumzeug und strichen ihm beruhigend übers Maul. Dry pettis saß wie üblich ein wenig abseits der anderen und sprach mit sich selbst. Ihr eifersüchtiger Blick folgte Sheera den Hügel hinauf. Der auflebende Wind fuhr unter den Mantel Lady Wrinshardins und blähte ihn wie ein Segel auf. Nach einer Weile fuhr sie mit alt und trocken klingender Stimme fort: »Zuerst eroberte Altiokis Kil pithie – eine kleine Stadt auf der anderen Seite der Berge. Dort stell te man zu jener Zeit recht gute Wollkleidung her. Der Zauberer machte die Bewohner zu Sklaven und zwang sie, auf dem Gipfel des Grimmwalls seine neue Zitadelle zu bauen, an der Stelle, an der er in einer einzigen Nacht seine Steinhütte errichtet hatte. Es heißt, er suchte damals jenen Ort auf, um zu meditieren. Von dort aus stellte er seine Armee zusammen und schickte sie auf Eroberungsfeldzü ge.« »Meint Ihr damit die Streitmächte der Clans?« fragte Sheera lei se. Sie hatten eine kurze Pause gemacht, um wieder zu Atem zu kommen. Durch das Klettern war der jungen Frau warm geworden, und sie stand ohne zu zittern auf. Der über die Hügelkuppen hinweg streichende Wind zerzauste ihr das Haar. »Zuerst«, bestätigte die Lady bitter. »Als seine Sklaven das erste Gold aus den Bergen holten, konnte er es sich leisten, Söldner anzu werben. Angeblich sollen seine Armeen auch noch von einer weite ren bösen Macht geführt worden sein – aber vielleicht handelt es sich dabei nur um die Wesensart der Männer, die er in seine Dienste nahm. Wer unter seinen Einfluß gerät, verdirbt. Seltsame Wesen sind in seinem Reich heimisch geworden. Habt ihr schon einmal Scheusa le gesehen? Sie sehen aus wie Mischungen aus Hunden, Menschen und Affen, und in den Tchard-Bergen wimmelt es heute von ihnen, 120
obwohl sie vor Jahren noch unbekannt waren. Die Nuuwa… « »Die Nuuwa kann Altiokis kaum erfunden haben«, warf Son nenwolf ein. Er strich sich das feuchte Haar zurück und zog einzelne Strähnen unter der Sklavenkette an seinem Hals hervor. Er war sich des auf ihm ruhenden und abschätzenden Blicks der Lady bewußt, die den Widerspruch zwischen dem eisernen Sklavenzeichen und seiner befehlsgewohnten Stimme bemerkt hatte und sich nun fragen mochte, wie die Beziehung zwischen ihm und Sheera gestaltet sein mochte. Er fuhr fort: »Schon vor vielen, vielen Jahren wurde von Nuuwa berichtet, die man hier und dort sah. Sie finden in einigen der ältesten Lieder meines Stammes Erwähnung, und jene Verse wurden vor zehn, zwölf oder gar fünfzehn Generationen verfaßt. Ab und zu stößt man auf ein solches Ungeheuer, die sich normalerweise von menschlichen Ansiedlungen fernhalten, sich aber in die Nähe von Dörfern und Städten wagen, wenn der Hunger sie dazu zwingt.« Lady Wrinshardin runzelte die Stirn, so als sei sie nicht bereit, Altiokis von der Verantwortung für auch nur einen Teil des Unheil vollen in der Welt freizusprechen. »Es heißt, es gäbe auch Nuuwa, die in seinen Armeen für ihn marschieren.« »Das habe ich ebenfalls gehört«, sagte Wolf. »Aber wenn man die Natur der Nuuwa einigermaßen kennt, weiß man auch, daß so etwas völlig ausgeschlossen ist. Zum Beispiel gibt es viel zu wenige von ihnen. Dann und wann… erscheinen sie einfach, aber anschlie ßend verschwinden sie wieder, und für gewöhnlich dauert es sehr lange, bis man wieder einen zu Gesicht bekommt.« »Inzwischen sind es mehr geworden«, beharrte die Lady. Sie zog sich den Regenmantel enger um die Schulter und kletterte weiter. »Und außerdem«, sagte Sonnenwolf, »sind sie zu dumm, um sich in eine Armee eingliedern zu lassen. Und zu gefährlich. Himmel, sie würden alles Lebendige verschlingen, das ihnen vor den Rachen kommt… « »Trotzdem kann man nicht leugnen«, erwiderte Lady Wrinshar din, »daß Altiokis alles verdirbt, was unter seinen Einfluß gerät. Einst dienten ihm die Thanes, weil sie sich dem Treueschwur ver pflichtet fühlten, den sie dem Thane des Grimmwalls gegenüber ablegten. Heute gehorchen sie ihm, weil sie ihn und seine Streit macht fürchten.« Schließlich erreichten sie die Kuppe des Hügels. Der Wind um heulte sie wie ein körperloser Dämon. Auf der anderen Seite der Anhöhe erstreckte sich das Thaneland, still und düster in der grauen 121
Eintönigkeit des Winters. Dennoch zeichnete es sich durch einen gewissen Reiz aus. Verwelktes Heidekraut und das Gras zwischen den Felsen glänzten silbrig. Knorrige Bäume streckten ihre dürren Äste und Zweige dem farblosen Himmel entgegen und schienen sich unter den Böen zu ducken. In der Ferne, aus einer rundlichen Vertiefung zwischen drei Hü geln, ragte die Ruine eines Turms in die Höhe, einem gebrochenen und versteinerten Knochen gleich, der die windige Leere stumm anklagte. »Ihr wißt hoffentlich, wie dumm und töricht Euer Vorhaben ist«, sagte die Lady nach einer Weile. Sheera kniff die Augen zusammen, gab aber keine sofortige Antwort. Es spricht für die Stärke des Charakters des alten Weibs bildes, dachte Sonnenwolf, daß sie Sheera schweigen lassen kann. »Ich nehme an, einige Bewohner Mandrigins haben einen Plan zur Befreiung der Stadt und der Rettung Tarrins und der anderen Männer entwickelt. Als ob Altiokis nicht dazu in der Lage wäre, ein zweites Mal den Sieg zu erringen.« »Er schlug uns, weil unsere Kräfte aufgrund innerer politischer Auseinandersetzungen aufgesplittert waren«, erwiderte Sheera ruhig. »In diesem Punkt bin ich mir ganz sicher. Mein Gemahl hatte eine führende Position in der Partei Derroug Drus inne und kennt die Ursachen des Sieges Altiokis besser als andere. Viele derjenigen, die die Sache des Zauberers unterstützten – die Armen, denen er Wohlstand versprach – , wurden ebenfalls in die Bergwerke ver schleppt. Und meine Frauen, die Huren, die in den Minen waren, haben mir berichtet, es gäbe eine Armee von Sklaven, aus allen Re gionen des Reiches Altiokis', die für denjenigen kämpfen würden, der sie befreit.« »Euren Liebling Tarrin.« Sheeras Wangen röteten sich mit der Hitze des Zorns, und sie machte Anstalten zu einer heftigen Erwiderung. Die Lady kam ihr zuvor. »O ja, meine Liebe, wir wissen über Euren Goldenen Prinzen Be scheid. Seine Familie bestand nur aus Emporkömmlingen, die sich ihr Geld durch ein Salzmonopol verdienten – durch die Trockenle gung der Sümpfe an der Ostküste. Nun, wie dem auch sei: in den Adern Tarrins fließt zumindest edleres Blut als in denen deines Ge mahls.« Sie gab einen abfälligen Laut von sich. »Mein Gemahl… « platzte es leidenschaftlich aus Sheera heraus. 122
Lady Wrinshardin unterbrach sie. »Glaubt ihr wirklich, aus den verwöhnten und verweichlichten Mädchen und Frauen dort unten könnten Kriegerinnen werden, die auch nur den Hauch einer Chance haben, gegen Altiokis' Söldner den Sieg zu erringen?« Sheera preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Die Lady drehte sich um und blickte in das Tal, aus dem sie ge kommen waren, und man hätte fast meinen können, sie sähe auf ihre eigenen Truppen herab. Ihre in scharlachrot und goldfarben verzier ten Handschuhen steckenden Finger tasteten über den Regenmantel. »Ich will Euch einen Rat geben. Wenn Euer Vorhaben tatsächlich gelingt, so zieht Euch nicht in die Stadt zurück. Durch die Tunnel der Bergwerke kann man direkt in die Zitadelle gelangen. Schlagt dem Drachen selbst den Kopf ab. Verschanzt Euch nicht hinter den Mau ern Mandrigins, darauf zu warten, daß er sich an Euch rächt.« Erschrocken riß Sheera die Augen auf. »Das ist unmöglich. Die in die Bastion führenden Zugänge sind mit magischen Fallen und Trugbildern geschützt. Und Altiokis ist unsterblich… « »Er ist ein Mensch«, erwiderte Lady Wrinshardin scharf. »Er wurde als Mensch geboren und kann auch wie ein Mensch getötet werden. Greift die Zitadelle an, und Ihr habt die Thanes auf Eurer Seite, mich selbst, Drathweard von Schlaeg und auch die anderen. Wenn Ihr aber darauf wartet, daß er seine Streitmacht losschickt und erneut die Stadt angreift, so werdet Ihr unterliegen.« Sie drehte den Kopf und deutete in Richtung der anderen Hügel, auf den Turm in der Talsenke. »Das ist der alte Cairn-Turm. Die Thanes von Cairn bekamen Schwierigkeiten mit dem fünfzehnten Thane von Wrinshardin. Gott sei ihren Seelen gnädig. Seit jenen Tagen steht der Turm leer.« Und mit einem mehrdeutigen Glitzern in den Augen fügte sie hinzu: »Ein passendes Ziel für einen Ausflug.« Damit wandte sie sich um und kletterte den Hang hinunter, hoch aufgerichtet und so stolz wie eine Königin, die in ihrem Gebaren der Rauheit dieses Landes entsprach. Sheera und Sonnenwolf sahen noch einmal in Richtung des Turms und folgten der Lady dann. Als sie an das Ufer des kleinen Regenwassersees zurückgekehrt waren und Lady Wrinshardin auf ihr Roß stieg, sagte sie leichthin: »Es heißt, es solle dort noch Waffen geben. Ich bezweifle, ob Ihr auf die alten Vorräte und Lager stoßen werdet, aber vielleicht findet Ihr dennoch etwas, was Euch von Nutzen sein könnte.« Sie schwang sich auf den Rücken des Pferdes, und die Art und Weise, wie sie nach den Zügeln griff, deutete darauf hin, daß sie 123
einen Großteil ihres Lebens im Sattel verbracht hatte. »Wenn Ihr wollt, so verlaßt einmal die Schlammwüste Eurer Stadt und besucht mich«, fügte die Lady hinzu. »Wir sollten uns doch besser kennen lernen.« Im Anschluß an diese Worte zwang sie das Pferd herum, und sie schenkte den anderen Frauen nicht die geringste Beachtung, als sie fortritt. Nach diesem ersten Lauf exerzierten sie morgens und abends, wobei sich die einzelnen Gruppen einander abwechselten – während des Tages in den Ruinen des alten Cairn-Turms, spät in der Nacht in der von mattem Lampenlicht erhellten Orangerie. Sonnenwolf mein te, das Laufen zur Bauernhütte, in der sie die Schutzmäntel unter brachten, und anschließend zurück gewährleiste die notwendige Gewöhnung der Rekrutinnen an Wind und Wetter und die allgemei ne Verbesserung ihres körperlichen Zustandes. Er schickte die Frauen nur noch selten auf einen längeren Ausflug in die Hügel. Nach einer Woche wußte er, wer zum Turm lief und wer die Strecke in einem gemütlichen Spaziergang zurücklegte. Letztere – es waren nicht sonderlich viele – sonderte er aus. Nach und nach spürte er, wie die Rekrutinnen tatsächlich zu einer geschlossenen Kampftruppe wurden. Er lernte sie besser kennen und bemerkte nicht nur ihre äußerlichen Veränderungen, sondern auch die in der inneren Einstellung. Indem sie sich von ihren Schleiern und Anstandsdamen trennten, hatten sie auch Abstand genommen – zuerst zögernd, dann aber mutiger und entschlossener – von der instinktiven Überzeugung, sie seien nicht zum Umgang mit Waffen in der Lage, nicht einmal zu ihrer eigenen Verteidigung. Seit dem längeren Gespräch mit Bernsteinauge hatte sich Sonnenwolf des öfteren gefragt, was in den Rekrutinnen vor sich ging, die ruhiger, scheuer und zurückhaltender waren als die anderen, die geprägt durch ihr bisheriges Leben daran gewöhnt waren, Männern nur das zu sagen, was sie hören wollten. Diese Frauen sahen ihn nun offen an, wenn er sie ansprach, selbst die, die zuvor schon den Kopf ge senkt hatten, wenn sie seinen Blick auf sich ruhen spürten. Der Söld ner wußte nicht genau zu sagen, was die Ursache dieser Veränderung war: die Ausbildung an den Waffen oder der Umstand, daß sie sich um die wirtschaftlichen Belange der Stadt kümmerten, wenn sie nicht exerzierten. Er mußte sich eingestehen, daß sie sich nach einem eher entmuti genden Anfang wirklich zu erstaunlich guten Kriegerinnen entwi 124
ckelten. Die Waffen, die sie im Cairn-Turm fanden, waren alt und schwe rer und plumper als die, die man zuvor in den guten Werkstätten Mandrigins geschmiedet hatte. Tisa und die Schwester der Güldenen Shorad, Eo, richteten in den Ruinen eine behelfsmäßige Schmiede ein, verbesserten die Waffen und machten sie so leicht, daß ihnen gerade noch das nötige Gewicht zu einem tödlichen Hieb blieb. Ei nes Tages beobachtete Denga Rey die Übungen im Turm, und sie machte den Vorschlag, die kleineren und zarteren Frauen sollten keine Schwerter mehr benutzen, sondern Hellebarden. »Eine kleine Hellebarde läßt sich bei einem Kampf auch als Schwert einsetzen«, sagte sie und beobachtete Wilarne, die mit ei nem stumpfen Schwert gegen die langbeinige schwarzhaarige Kurti sane Cobra antrat. Der deckenlose Saal der alten Befestigungsanlage bildete eine mit glattem Boden ausgestattete ovale Arena, die gut zwölf Meter lang war. Hier exerzierten die Rekrutinnen, rangen, kämpften mit Waffen und übten sich in den gefährlichen und tödli chen Hieben. An diesem Tag regnete es einmal nicht, und bis auf die niedrigen Stellen war der Boden trocken. Wolf hatte hier mit den Frauen selbst dann gearbeitet, wenn sie so verdreckt und verschmutzt waren, daß man sie nur noch an ihren charakteristischen Bewegun gen erkennen konnte. Der Söldner und die Gladiatorin standen auf den Resten des e hemaligen Festpodiums, und sie sahen über den tiefer gelegenen Boden hinweg. Durch den leeren und dreifach gestaffelten Bogen der Tür fiel ihr Blick auf das Moor. Einst mußte sich dort ein Hof befun den haben, doch nun gab es dort nur eine flache Niederung und eini ge kleine Haufen aus den mit Flechten und Unkraut überwucherten Steinen. Zwischen den beiden Gestalten auf dem Podest und der Tür übten Rekrutinnen. Sonnenwolf fragte sich, was Sternenfalke von ihnen gehalten hät te. »Die meisten der kleineren Frauen«, fuhr Denga Rey fort, »hand haben Schwerter, die gerade noch schwer genug sind, um einigerma ßen wirkungsvoll zum Einsatz gebracht zu werden. Und dennoch haben sie Schwierigkeiten damit. Bei einem Kampf auf Leben und Tod hätten sie kaum Chancen.« Der Söldner nickte. Mit ein wenig Glück konnte es ihnen gelin gen, die Wächter in den Bergwerken zu überraschen, die versklavten Männer zu befreien und sie aus den Arsenalen der Minen zu bewaff 125
nen, bevor die eigentliche Schlacht losbrach. Doch Sonnenwolf hielt es nicht für ratsam, sich nur auf das Glück zu verlassen. Als er sich mit einem entsprechenden Hinweis an die betreffen den Frauen wandte, war nur Drypettis nicht einverstanden. Sie faßte es als eine persönliche Beleidigung auf, daß der Söldner Rücksicht auf ihre Statur nehmen wollte. Mit gepreßt klingender Stimme erwi derte sie: »Wir schaffen es auch so, Wolf. Es ist nicht nötig, daß du dich uns gegenüber als so tolerant erweist.« Überrascht blickte Sonnenwolf auf die zierliche Frau herab. Manchmal hörte sich Drypettis wie ein verzerrtes Echo Sheeras an, wobei es ihr allerdings an deren Gewitztheit und Entschiedenheit mangelte. Geduldig erwiderte er: »Der Krieg kennt keine Toleranz, Drypettis, sondern nur ein einziges Gesetz.« Die junge Frau preßte verbittert die Lippen aufeinander. »Das hast du uns schon klargemacht – wieder und immer wieder«, gab sie zornig zurück. »Und zwar auf die gemeinste und unbarmherzigste Art und Weise.« Hinter ihr warfen sich Shorad und Wilarne einen raschen Blick zu. Die anderen Frauen – Schwester Quincis und die rothaarige Ta mis Weber – schienen sich nicht ganz wohl in ihrer Haut zu fühlen. »Tatsächlich?« knurrte Sonnenwolf leise. »Ich glaube, da irrst du dich. Erfolg im Krieg«, so fuhr er fort, »hängt davon ab, ob man sich alle Mühe gibt oder nicht, die eigenen Absichten zu verwirklichen – nicht davon, ob man überlebt oder stirbt. Für den Erfolg im Krieg sind andere Dinge notwendig als für die siegreiche Beendigung eines Kampfes. Erfolg im Krieg bedeutet, das zu bekommen, was man anstrebt, ganz gleich, ob der einzelne umkommt oder nicht. Nun, es mag durchaus netter sein, das Ende des Krieges selbst mitzuerleben und sich nachher über den Sieg zu freuen. Aber wenn man sich nur entschlossen genug durchsetzen will – wenn man sich von ganzem Herzen wünscht, daß sich auch die Kameraden durchsetzen –, so genügt das. Man muß das Ziel mit allen Mitteln anstreben. Für Tole ranz ist da kein Platz.« Die sich an diese Worte anschließende Stille senkte sich wie ein schweres Gewicht auf die zierlichen Frauen. Die Rufe und Befehle, die im anderen Teil des Saales ertönten, schienen in der Ferne zu verhallen, sich leise mit dem Flüstern des Windes zu vereinen, der jenseits der Mauern übers Moor strich. Es war das erstemal, daß Sonnenwolf direkt vom Krieg gesprochen hatte. Die Blicke der klei 126
nen Frauen klebten an ihm fest. »Halbherzigkeiten sind es, die einem die Kraft rauben«, sagte der Söldner. »Die Versuche, etwas zu erreichen, von dem man sich nicht sicher ist, ob man es überhaupt erreichen will. Der Wunsch, etwas zu tun, wozu man nicht ausreichenden Mut – oder Beharrlichkeit – aufzubringen vermag. Wenn das, was ihr als erstrebenswert empfin det, nur dadurch errungen werden kann, indem ihr ungerecht seid, indem ihr euch die Hände schmutzig macht und Freunde und Fremde verratet – so müßt ihr auch begreifen, wie andere darauf reagieren. Und wenn ihr das verstanden habt, müßt ihr euch entweder dazu entscheiden, mit allen Kräften loszuschlagen, oder aber die Hände im Schoß ruhen zu lassen. Kann das Ziel nur durch euren eigenen Tod oder unvorstellbares Leid für den Rest des Lebens erreicht wer den, so sollte auch das euch vorher klarwerden. Ich kämpfe für Geld. Wenn ich nicht siege, werde ich nicht be zahlt. Dadurch ist der Fall für mich klar. Ihr jedoch… Ihr kämpft für andere Dinge. Vielleicht für ein Ideal. Vielleicht für etwas, von dem ihr meint, ihr müßtet daran glauben, weil Menschen, die ihr für bes ser haltet als euch selbst, entsprechende Überzeugungen vertreten – oder das behaupten. Vielleicht, um jemanden zu retten, der euch ernährte, euch Kleider gab und liebte, für den Vater, die Söhne – vielleicht aus Liebe und Dankbarkeit. Vielleicht wollt ihr auch des halb kämpfen, weil euch jemand aufgefordert hat – und ihr lieber sterben würdet als zuzugeben, andere Ziele zu haben als die betref fende Person. Ich weiß es nicht. Aber ich gebe euch den Rat, euch über eure eigenen Beweggründe klarzuwerden – und zwar möglichst rasch, bevor ihr auf einen bewaffneten Feind stoßt.« Keine der Frauen gab auch nur das geringste Geräusch von sich. Wilarne senkte verwirrt den Kopf, und Sonnenwolf sah, wie sie rot wurde. Es war jedoch wiederum Drypettis, die schließlich zu einer Erwi derung ansetzte. »Die Ehre verlangt, daß…« »Zum Teufel mit der Ehre!« unterbrach der Söldner sie, und er gelangte zu dem Schluß, daß sie nicht ein einziges Wort verstanden hatte. »Frauen haben keine Ehre.« Drypettis erblaßte vor Wut. »Möglicherweise trifft das auf die Frauen zu, mit denen du bisher Umgang pflegtest… « »Wolf!« ertönte plötzlich die scharfe Stimme Denga Reys. »Es kommt jemand!« Von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich Sonnen 127
wolf in einen zum Kampf bereiten Krieger. »Versteckt euch!« befahl er knapp. Die Rekrutinnen hatten bereits auf die alarmierenden Wor te der Gladiatorin reagiert. Sie eilten auf die Reste der Bögen zu, die einst einen Wandelgang überspannt haben mochten, und ihre Gestal ten schienen völlig mit dem Halbdunkel zwischen den Steinen und grauschwarzen Büschen und Sträuchern zu verschmelzen. Sie ver steckten sich in den Nischen, die vor vielen Jahren vielleicht Bogen schützen zur Verteidigung dieser Anlage gedient hatten, in halb eingestürzten Gängen, zwischen den Granitquadern. Die Güldene Shorad und Wilarne kletterten in den breiten Rauchschacht des alten Kamins, so flink und geschickt, als hätten sie derartige Unternehmen von Kindesbeinen an geübt. Nur Drypettis rührte sich nicht von der Stelle, war vor Zorn wie gelähmt. »Ich finde es unerträglich, daß…« setzte sie an und zitterte vor Wut. Sonnenwolf ergriff jäh ihren Arm und stieß sie grob in Richtung eines dunklen Flurtors. »Versteck dich und halt die Klappe!« zischte er ihr zu und lief dorthin, wo Sheera und Denga Rey standen, neben dem Bogen des Saalzugangs. Von dort aus ließ sich ein Großteil des Tales überblicken, in dem sich der alte Turm erhob. Der Blick des Söldners fiel auf niedergetre tenes braunes Gras und Regenpfützen, die silbrig glänzten. Öde und leer lag das Moor vor ihm, gesäumt von den schlammigen Hügeln mit den felsigen Kuppen. Von oben stülpte sich ein hohes Dach aus grauen und rasch dahinziehenden Wolken darüber. Die wenigen Bäume waren wie knorrige Schatten, die sich im Wind duckten. Und plötzlich bewegte sich etwas in dieser farblosen Eintönigkeit: eine Gestalt, die auf den Turm zulief. »Das ist Tisa«, sagte Sheera überrascht, und ihre Stimme klang besorgt. »Sie hielt an der Ghnir-Zacke Wache und sollte darauf ach ten, ob sich in Richtung der Stadt etwas rührt.« »Ich glaube, ich sehe auch noch etwas anderes«, sagte Denga Rey. »Beobachtet die Büsche an der einen Seite der Zacke.« Tisa kam näher, und sie stolperte die breiten flachen Stufen her auf, taumelte Sonnenwolf direkt in die Arme. Keuchend schnappte sie nach Luft und konnte zunächst kein einziges Wort hervorbringen. Rote Flecken der Panik zeigten sich auf ihren Wangen, und ganz offensichtlich war sie um Leben und Tod gelaufen. »Wer kommt?« fragte Sonnenwolf. Die junge Frau hob den Kopf und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. 128
»Nuuwa«, erwiderte sie undeutlich und atmete noch immer schwer. »Ein ganzes Rudel von ihnen.« »Mehr als zwanzig?« Sie nickte, und der Söldner konnte spüren, wie sie in seinen Ar men entsetzt zitterte. »Ich hatte nicht die Zeit, sie zu zählen, aber ich glaube, es sind mehr als zwanzig. Sie nähern sich von allen Sei ten…« »Das hat uns gerade noch gefehlt«, zischte Sonnenwolf, und er rief laut: »Habt acht! Wir werden angegriffen! Von einem Rudel Nuuwa!« In den Schatten bewegten sich die Frauen unruhig. An diesem Tag war nur etwa die Hälfte der Truppen zugegen, nicht mehr als achtzehn Kriegerinnen einschließlich Sheera. »Zwanzig Nuuwa!« hauchte Denga Rey. »Bei allen Unheilsgeis tern: Was machen so viele Nuuwa im Thaneland? Das ist doch ab surd! Für gewöhnlich bekommt man nie mehr als nur einige wenige zu Gesicht, und jetzt… « Aber noch während sie diese Worte des Erstaunens formulierte, griff sie nach ihren Waffen. Überall sprangen Frauen umher, und auf den Befehl Sheeras hin kletterten sie auf die brüchigen Mauern. Einige von ihnen trugen Pfeil und Bogen. Andere hielten die schwe ren und alten Schwerter in den Händen. Sie alle waren mit Dolchen ausgerüstet. Doch wenn ein Nuuwa so nahe herangekommen ist, daß man ei nen Dolch zum Einsatz bringen kann, dachte Sonnenwolf bitter, so hat man keine Chance mehr. Er konnte jetzt sehen, wie die Ungeheuer durch das Tal schli chen. Geduckte Gestalten waren es, die über den Pfad liefen oder aus dem Dickicht der Hügelhänge hervorkamen, rasch und zielstrebig. Es waren so viele, daß sich ihm bei ihrem Anblick die Nackenhaare aufrichteten. Bei dem Ersten Ahnen der Welt – wie war es möglich, daß sich so viele von ihnen zu einer Streitmacht zusammengeschlos sen hatten? »Jemand soll ein Feuer anzünden«, befahl der Söldner und klet terte anschließend die halb eingestürzten Reste einer Treppe hoch, die auf die Plattform über dem Tor führte. Von dort aus konnte er das Tal noch besser beobachten, und tief in ihm krampfte sich etwas zusammen, als er das tatsächliche Ausmaß der Gefahr begriff. Die Nuuwa hatten nun ihre Verstecke und Schlupfwinkel verlas sen und näherten sich dem Turm. Augenlose Schädel wackelten wie 129
haltlos auf dünnen Hälsen. Die meisten Ungeheuer bewegten sich geduckt, und ihre großen mit Klauen versehenen Pranken schwangen in Kniehöhe hin und her. Manchmal drehten sie die Köpfe zur Seite, und dann hatte es den Anschein, als glühe es in den leeren Augen höhlen über den narbigen und totenblassen Wangen. Wäre nicht die besondere Art und Weise gewesen, in der sich Nuuwa bewegten – sie hielten geradewegs auf ihr Ziel zu und wichen dabei keinen Hin dernissen aus – , hätte man sie mit Menschen verwechseln können. Sonnenwolf zählte fast vierzig. Von der Plattform aus sah er auf die Anlagen des Cairn-Turmes herab. Das, was von der einstigen Begrenzungsmauer übriggeblieben war, umgab die ovale Befestigung nun mit einem halbhohen und an mehreren Stellen durchbrochenen Ringwall. Der Turm befand sich nicht genau in der Mitte dieses Kreises, sondern vielmehr an einem Ende, so daß man durch das Haupttor des Übungssaales, vor dem es keine Verteidigungsbarriere gab, sofort ins Tal gelangen konnte. Die Frauen weiter unten verteilten sich nun und gingen auf den Resten der Begrenzungsmauer in Stellung. Die nackte Haut ihrer Schultern und Beine und die Farben ihres Haars zeichneten sich deutlich vor dem lehmbraunen Hintergrund der winterlichen Landschaft ab. Die Rekrutinnen brauchten gar nicht erst zu versuchen, sich vor den Nuuwa zu verstecken, denn die Ungeheuer orientierten sich nicht per Sicht. Ebenso sinnlos war es, eine bestimmte Strategie zu entwi ckeln, denn so etwas verstanden die Monstren gar nicht. Das einzige, was sie antrieb, war die Gier nach lebendem Fleisch. Von weiter unten vernahm Sonnenwolf das Surren der Bogen sehnen, und er sah, wie zwei der herankommenden Ungeheuer stol perten. Einer der Nuuwa sank zu Boden, stand dann aber wieder auf und wankte weiter. Der Pfeil in seinem Hals sah aus wie die Hutna del in einer Puppe. Der andere taumelte einige Schritte weiter, und Blut quoll ihm aus der durchbohrten Kehle. Dann fiel er zu Boden. Sein Rachen mit den spitzen Zähnen öff nete und schloß sich in einem raschen Rhythmus, so als versuche er, den Pfeil aus sich herauszuwürgen. Einige der anderen Ungeheuer stolperten über ihn, als sie den Weg fortsetzten. Wie alle anderen Raubtiere auch, rührten Nuuwa nicht das Fleisch eines toten Artge nossen an. Inzwischen war der Boden mit Pfeilen gespickt. Die meis ten Frauen waren erbärmlich schlechte Bogenschützen. Rauch brannte dem Söldner in den Augen. Er senkte den Kopf und sah, daß die Güldene Shorad unten ein Feuer entfacht hatte. Tisa 130
holte Zweige, Äste und andere Dinge herbei, die sich entzünden und als Fackel verwenden ließen. Sheera und Denga Rey hielten bereits brennende Scheite in den Händen, als sie im offenen Haupttor stan den. Nuuwa hatten gerade Instinkt genug, um die Hitze von Feuer zu fürchten. Weiterhin beobachtete Sonnenwolf die sich nähernden Ungeheuer, und er stellte fest, daß sie irgendwie erkannten, wo der Zugang in den Turm nicht durch eine zu hohe Mauer geschützt war. Ein halbes Dutzend Nuuwa hielt auf die beiden Frauen im Tor zu. Rasch verließ der Söldner die Plattform. Hier und da waren die brüchigen Stufen mit Schlammkrusten und Resten des Schneefalls in der vergangenen Woche überzogen. Die Steine der Begrenzungsmauer, so überlegte Sonnenwolf, boten kei nen sicheren Halt. Kurz darauf wurde diese Vermutung bestätigt. Vom halb eingestürzten Wall her, der nun außerhalb seines Sichtfel des lag, hörte er das Knirschen rutschender Steine, das leise Poltern stürzender Körper, das gierige und zornige Knurren der Nuuwa, das leise Knacken, mit dem sich stählerne Schwertklingen in die Leiber der Ungeheuer bohrten und Knochen brachen. Sonnenwolf hielt eine Fackel in der einen und ein Schwert in der anderen Hand, als er die Stufen in Richtung des offenen Tores empor sprang, und er erreichte es gerade in dem Augenblick, als die Nuuwa mit weit aufgerissenen Rachen und ausgestreckten Klauenhänden herankamen. Sheera machte den Fehler, mit der Klinge auf das am weitesten entfernte Ziel einzuschlagen – die Brust – , und das Unge heuer fiel über sie, mit einer klaffenden Wunde im Leib, das augen lose Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Der Rachen des verletzten Nuuwa schnappte nach dem Fleisch der jungen Frau. Sonnenwolf hatte inzwischen eines der Ungeheuer geköpft. Nur einen Sekunden bruchteil später wirbelte er herum und hackte beide Klauenhände ab, die Sheeras Arm umklammert hielten. Er ließ ihr gerade genug Zeit, einen Meter zurückzuweichen und hieb dann auf den Nacken des Monstrums ein. Aus den Augenwinkeln nahm er gleichzeitig wahr, daß ihre Lage immer verzweifelter wurde, denn die anderen Nuuwa wankten heran, trotz der auf sie einschlagenden Schwerter. Blut strömte aus Dutzenden von Wunden und machte den Boden noch schlüpfriger, als er es ohnehin schon war. Der Söldner war sich nur am Rande der Nähe Denga Reys bewußt, die, ebenfalls mit Schwert und Fackeln bewaffnet, neben ihm focht, mit der berufsmäßigen gnadenlosen Entschlossenheit einer Gladiatorin. Plötzlich verspürte Sonnenwolf im Bein einen jähen und heißen 131
Schmerz, und als er den Kopf senkte, sah er, daß ihm ein Nuuwa die Zähne in die Wade gebohrt hatte. Er holte mit dem Schwert aus und spaltete dem Ungeheuer den Schädel, während der Rachen noch zuschnappte. Klauen tasteten nach seinem Schwertarm, und er schmetterte die Fackel in das augenlose Gesicht. Sowohl das verfilz te Haar als auch der lange und völlig verdreckte Bart des Nuuwa fingen sofort Feuer. Das Monstrum ließ ihn los und gab einen heise ren Schrei von sich. Es taumelte umher, stieß gegen seine Artgenos sen und versuchte, die Flammen zu ersticken. Denga Rey war einen Augenblick lang wie erstarrt. Dann versetzte sie dem Ungeheuer einen kräftigen Tritt, woraufhin es die Stufen hinunterstürzte. Es knurrte und gellte, während ihm das Feuer den Schädel verbrannte und andere Nuuwa über den jetzt lichterloh brennenden Artgenossen stolperten. Der Kampf wurde immer verzweifelter. Schmerz siedete durch den Leib Sonnenwolfs: Die spitzen Zähne des abgetrennten Kopfes staken noch immer in seiner Wade. Wie aus weiter Ferne hörte er Rufe, heisere Flüche, schrilles Brüllen. Er vernahm einen Schrei, der von namenlosem Entsetzen kündete, zu einem gellenden und peiner fülltem Heulen wurde und jäh abbrach – und der Söldner begriff, daß eine der Frauen überwältigt worden war und den Tod gefunden hatte. Aber wie vielen anderen Dingen während eines Kampfes auf Leben und Tod schenkte er dem nur beiläufige Beachtung, ließ sich nicht ablenken und focht weiter, um nicht einem ähnlichen Schicksal zum Opfer zu fallen. Ein zweiter Schrei ertönte, diesmal aus der Nähe, und es folgte das Poltern von über Mauer fallenden Körpern. Aus den Augenwinkeln sah Sonnenwolf ein Durcheinander aus Beinen und Armen, aus spritzendem Blut und blitzenden Klauen. Die stäm mige Eo sprang vor und holte mit einem gewaltigen Zweihänder aus, so als sei er nicht schwerer als eine leichte Weidenrute. Mehr konnte der Söldner nicht erkennen, denn weitere Nuuwa kamen geifernd und knurrend mit ausgestreckten Klauen heran. Für einige Sekunden hatte er das Gefühl, dem Ansturm unterliegen, in Richtung des offe nen Tores zurückweichen zu müssen, und er fragte sich, wo die Treppe begann – aus Furcht davor, über eine der Stufen zu stolpern und zu Boden zu stürzen. Dann schimmerte dicht neben ihm der Stahl einer Klinge. Wäh rend er ein Ungeheuer köpfte, das sich auf ihn werfen wollte, hieb Denga Rey auf einen zweiten Nuuwa ein, der daraufhin zuckend auf die Steine sank. Das waren die letzten beiden Angreifer in der unmit 132
telbaren Nähe des Tores. Sonnenwolf drehte sich rasch um und sah, daß sich vor der Treppe ein Berg aus stinkenden Nuuwa-Leichen angesammelt hatte. Im Saal dahinter herrschte Stille – bis auf eine einzelne, kummervoll stöhnende Stimme. Die Ungeheuer waren alle tot. Der Söldner starrte auf den abgetrennten Schädel, dessen Zähne sich nach wie vor nicht aus dem Fleisch seiner Wade gelöst hatten. Er kämpfte gegen die in ihm emporsteigende Übelkeit an, beugte sich und hämmerte mit dem schweren Heft seines Schwertes solange auf den Unterkieferknochen des Kopfes ein, bis er brach. Nun konnte er den Rachen öffnen. Er grub die Hände in das verfilzte Haar und schleuderte den Schädel fort. Er zitterte leicht, als er sich auf die schlüpfrigen Stufen kniete und nach der Fackel Denga Reys griff. Seine eigene hatte er im Kampf verloren. Er drehte den Scheit herum und preßte das glühende Ende auf die Wunde. Rauch wallte, und der Gestank verbrannten Fleisches stieg ihm in die Nase. Der jähe Schmerz durchzuckte ihn wie ein Blitz. Nur undeutlich hörte er, wie sich Sheera in einer Ecke des Saales übergab. Sonnenwolf ließ die Fackel fallen, sank nach vorn, stützte sich auf die Hände und kämpfte gegen die heranwogende Schwärze der Bewußtlosigkeit an. Es war nicht das erste Mal, daß er eigene Wun den auf diese Weise hatte behandeln müssen, aber das machte es nicht einfacher. In seiner Nähe bewegte sich etwas. Der Söldner hörte murmelnde Stimmen, und als er die Augen aufschlug, sah er Bernsteinauge, die den blutigen Arm Denga Reys mit einem zerrissenen goldbestickten Halstuch verband. Kurz darauf wandten sich beide Frauen ihm zu, und die Kurtisane kümmerte sich auch um die Wunden Sonnenwolfs. Der Söldner holte tief Luft und fragte Denga Rey: »Sind deine Verletzungen schlimm?« »Nur einige Kratzer«, erwiderte die Gladiatorin knapp. »Brenn sie aus.« »Sie sind nicht sehr tief.« »Ich sagte, du sollst sie ausbrennen. Du hast es hier nicht mit je ner Art von Stich- und Schnittwunden zu tun, die du während der Kämpfe in der Arena davonträgst. Als Krankheitsträger sind Nuuwa gefährlicher als tollwütige Hunde. Ich mache es für dich, wenn du Angst hast.« Die letzten Worte blieben nicht ohne Wirkung auf die Gladiato 133
rin. Sie blickte ihn durchdringend, doch ohne Zorn an. Der Söldner hatte recht, und das wußte sie. Trotz ihrer sonnengebräunten Haut wirkte sie blaß. Nach dem schmerzhaften Ausbrennen der Wunde half Sonnen wolf der Frau auf die Beine, und sie stützten sich beide auf Bern steinauge. Kurz darauf gesellte sich eine ausgesprochen bleiche Sheera zu ihnen. Das schwarze Haar hing ihr in zerzausten und schmutzigen Strähnen in die Stirn. Auf ihren Armen und Beinen zeigten sich ebenfalls große Flecken aus Schleim und Nuuwablut. Sonnenwolf ließ Denga Rey los, humpelte und legte Sheera sanft eine Hand auf die Schulter. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Sheera bebte am ganzen Leib, zitterte so heftig wie die Sehne ei nes Bogens, nachdem sie einen Pfeil hatte davonsausen lassen. Er spürte, daß sie nahe daran war, sich an ihn zu schmiegen und zu weinen, aber sie bekam sich rechtzeitig genug wieder in die Gewalt, atmete tief durch und erwiderte heiser: »Ja. Mach dir keine Sorgen.« »Gutes Mädchen.« Er klopfte ihr zufrieden auf den verlängerten Rücken, und sie sah ihn an, als sei er ein ekelerregendes Insekt, das man zertreten müsse. Sonnenwolf lächelte verstohlen. Jetzt zweifelte er nicht mehr daran, daß sie den ersten Schock überwunden hatte. Als sie langsam in Richtung des schmaleren Seitentores hinkten, durch das sie in den Kreis der Begrenzungsmauer gelangt waren, fanden sie auch dort Leichen getöteter Ungeheuer. Dunkles Blut tropfte über die Steine und sickerte in den winterharten Boden. Am gegenüberliegenden Ende des Vorplatzes standen schweigend und wartend die Rekrutinnen und starrten aus weit aufgerissenen Augen auf eine große und grobknochige Frau namens Kraken. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und kniete vor dem zerfetzten und angefressenen Leichnam der kleinen rothaarigen Tamis Weber. Der Oberkörper Krakens neigte sich vor und zurück, und sie wimmerte und stöhnte wie ein verletztes Tier. Nach einer Weile traten die Güldene Shorad und Wilarne auf Kraken zu, halfen ihr behutsam hoch und führten sie fort. Sie stol perte und wankte, als habe sie das Augenlicht verloren. Ihr Gesicht war eine Maske der Verzweiflung. Sonnenwolf ließ seinen Blick über die anderen Frauen schweifen. In manchen Mienen zeichnete sich noch immer das gerade erlebte Entsetzen ab. Einige würgten. Manche hatten Biß- und Kratzwunden davongetragen – die ebenfalls ausgebrannt werden mußten. Die Luft 134
war noch immer gesättigt vom besonderen Geruch des Krieges, vom Gestank nach Blut und Exkrementen und Erbrochenem. Einige we nige, wie etwa Erntwyf f Fisch, wirkten noch immer zornig. Andere, wie zum Beispiel Schwester Quincis und Eo, schienen apathisch geworden zu sein; vom Feuer, das sie zuvor mit der Hitze der Kamp feswut erfüllt hatte, war nur mehr kalte Asche übriggeblieben. Man che sahen sich nur einfach verwirrt um, als könnten sie sich gar nicht daran erinnern, was geschehen war, als wüßten sie nicht, wodurch sie verletzt, wieso sie so erschöpft waren, sich so elend fühlten. Die meisten Frauen weinten, aus Kummer oder Entsetzen, vielleicht auch aus Erleichterung. Keine von ihnen würde jemals wieder das sein, was sie vor dem Kampf gewesen war. Sonnenwolf seufzte. »Nun, ihr Frauen«, sagte er ruhig, »jetzt habt ihr zum erstenmal um Leben oder Tod gekämpft.«
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8. Kapitel Der Regen, der gegen die geschlossenen und verriegelten Fens terläden des ›Frechen Affen‹ trommelte, hörte sich fast so an wie das Rauschen des Meeres. Sternenfalke streckte die Beine in Richtung des großen im Kamin lodernden Feuers – nur dessen unsteter und flackernder Schein erhellte den Schankraum der Herberge – , muster te die anderen Gäste und entschied, es sei besser, wenn sie und Kitz in der kommenden Nacht abwechselnd schliefen und Wache hielten. Tavernen in diesem Teil der Berge genossen in jedem Fall einen zweifelhaften Ruf. Aber während der trockenen warmen Jahreszeit durchzogen die Karawanen aus Mandrigin, Pergemis und den Mittle ren Königreichen selbst diese abgelegenen Regionen, und die vielen Reisenden, die dann unterwegs waren und in den Herbergen über nachteten, versprachen zumindest ein gewisses Maß an Sicherheit. Die meisten Händler waren recht nette Zeitgenossen, und kein Rei sender legte die Hände in den Schoß, wenn ein anderer überfallen wurde – und sei es auch nur aufgrund der Befürchtung, das nächste Mal könne ihn ein ähnliches Schicksal ereilen. Im Winter aber ges taltete sich die Lage anders. Sternenfalke gegenüber, auf der anderen abgenutzten und schma len Sitzbank, hockte ein unrasierter kleiner Mann mit dünnen Lippen und aufmerksamen Augen. Er blickte immer wieder zu Kitz, die gerade mit dem Wirt feilschte. Zwei weitere Gäste saßen über ihre mit Bier gefüllte Zinnbecher gebeugt, neben denen die Teller mit den Resten eines Wildbrets standen. Diese beiden Männer schenkten ihrer Umgebung keine Beachtung. Sternenfalke hielt es für angera ten, nicht auf ihre Hilfe zu rechnen für den Fall, daß es zu Schwie rigkeiten kam. Ganz ihrer Erfahrung als Kriegerin entsprechend, ließ sie ihren Blick durch den Schankraum schweifen und stellte fest, welche Aus gänge und möglichen Fluchtrouten es gab. Am anderen Ende des Raumes führte Kitz ihre Unterredung mit dem Wirt fort und nickte immer wieder. Der natürliche melodische Klang ihrer Stimme stellte einen angenehmen Kontrast dar zu dem schmeichlerischen Schrillen des Wirtes. Schon seit einer Viertel stunde redeten sie über die Preise für das Zimmer, das Essen und notwendigen Proviant. Kitz hatte in dieser Hinsicht bereits einige Erfahrungen gesammelt und war dazu in der Lage, noch eine Stunde 136
weiter zu handeln, ohne jemals die Geduld zu verlieren. Die Wärme in dem großen Raum trocknete ihren mit Karomustern versehenen Mantel. In dem dunstigen und zitternden Schein der Flammen konnte Sternenfalke den Dampf sehen, der von dem dicken Stoff in die Höhe stieg – wie ein Atemhauch in kalter Nacht. Von Kedwyr aus waren sie durch die Oliven- und Zitronenhaine der braunen Hügel nach den ärmlicheren und weiter im Landesinne ren gelegenen Städten Nisboth und Plegg gereist. Diese Siedlungen hatten sich schon vor vielen Jahren dem Vormachtstreben Kedwyrs gefügt und waren in der Folge zu kleinen provinziellen Handelsorten geworden. Heute stellten die verfallenen Villen aus Stein und die Ruinen der mosaikenen Kathedralen nur mehr Erinnerungen an bes sere Zeiten dar. Nach zwei Tagen auf der Straße begann es zu reg nen, und von der See her wehten frostige Winde. In den rasch über den Himmel ziehenden dunklen Wolken schienen sich große Schleu sentore zu öffnen. Die Regenfluten verwandelten die Straße in einen Schlammpfad und machten aus den kleinen Bächen in den Hügeltä lern hinter Plegg reißende Ströme. Sie kletterten in Richtung des Finsteren Passes und der breiteren Straße, die sich vom Osten der Mittleren Königreiche her an den grauen Schrunden der Kanwed-Berge entlangwand. Als sie noch drei Tagesmärsche vom Paß entfernt waren, begann es zu schneien, und sie hatten beide das Gefühl, sich eine ganze Ewigkeit durch eine kalte und weiße und windige Einöde zu kämpfen, niedergeschlagen, frierend und erschöpft. Manchmal kamen sie weniger als zehn Kilo meter pro Tag voran. Vom Paß aus folgten sie dem Verlauf der Stra ße an den Flanken der Berge entlang. Direkt neben ihnen ragten die baumbewachsenen Gipfel Hunderte von Metern in die Höhe, um hüllten sich aber mit einem grauen Schleier aus dichtem Wolken dunst. Die ganze Zeit über beklagte sich Kitz nicht ein einziges Mal, und sie gab sich die größte Mühe, Sternenfalke nicht zur Last zu fallen und mit ihr Schritt zu halten. Zwar hatte sie während der bei den vergangenen Jahre das bequeme Leben einer Konkubine geführt, aber trotzdem erwies sie sich als recht zäh, und Falke mußte sich eingestehen, daß sie ihr weitaus weniger Probleme bereitete, als sie zunächst angenommen hatte. In Plegg verkaufte Kitz ihre Juwelen, und sie bekam dafür eine Summe, die Sternenfalke der finanziellen Kraft der verschlafenen und halb verlassenen Ortschaft gar nicht zugetraut hätte. Unterwegs bewies Kitz mehr als einmal ein besonde 137
res Talent, wenn es darum ging, um den Preis für Lebensmittel, Unterkunft und Futter für die Esel zu feilschen. Sternenfalke wußte nicht, auf welche Weise Kitz die Verhandlungspartner von ihrem Standpunkt überzeugte – wie die meisten Söldner hatte die Kriegerin immer rund das Dreifache der örtlichen Preise bezahlt, ohne das Gefühl zu haben, übers Ohr gehauen zu werden. Eines Abends, als sie ihr Lager in einer Felsenhöhle oberhalb des Finsteren Passes aufgeschlagen und vor dem Eingang ein Feuer angezündet hatten, um Wölfe fernzuhalten, stellte sie Kitz eine ent sprechende Frage. Daraufhin errötete die junge Frau und erwiderte: »Mein Vater war Kaufmann. Er wollte mich immer zu einer Lady machen, um mir die Möglichkeit einer Einheirat in eine vornehme Familie zu geben, aber ich kannte die Preise der verschiedensten Waren zu gut, um den Anschein zu erwecken, von adliger Herkunft zu sein.« Sternenfalke blickte sie erstaunt an. »Und doch bist du das vor nehmste Mädchen, das ich je kennenlernte.« Kitz lachte. »Und es kostet mich viel Mühe und Zeit, um in diese Rolle zu schlüpfen. Im Grunde meines Herzens jedoch bin ich nach wie vor eine Händlerin. Jedenfalls war mein Vater immer dieser Ansicht.« Sternenfalke verdrängte diese Erinnerungen und sah auf, als Kitz durch den Raum auf sie zukam. Der unstete Schein der Flammen rief rötliche Reflexe auf den sorgfältig geflochtenen Strähnen ihres dunk len Haars hervor. Der schmierig und lüstern wirkende Strolch in der Kaminecke hob den Kopf, und selbst die beiden sich ansonsten so stur und gleichgültig gebenden Männer sahen von ihren Bierkrügen auf, als Kitz an ihnen vorbeischritt. »Wollen wir wetten, daß dir der Wirt eine kostenlose Unterkunft angeboten hat?« fragte Sternenfalke, als die junge Frau neben ihr auf dem abgenutzten und geschwärzten Eichenholz der Bank Platz nahm. »Diese Sache hat sich bereits erledigt«, erwiderte Kitz leise und warf dem schmierigen kleinen Mann einen kurzen Blick zu, der sie daraufhin angrinste und schwarze Zahnstummel sehen ließ. Kitz wandte den Kopf zur Seite, und ihre Wangen schimmerten so rot, daß nicht allein der Widerschein des Feuers dafür verantwortlich sein konnte. »Ich habe sowohl das Abendessen bezahlt als auch die Betten, das Frühstück, das Futter für den Esel und einige Vorräte, die wir morgen mitnehmen werden.« 138
Sternenfalke nickte. »Konntest du in Erfahrung bringen, wie weit es bis zur nächsten Herberge ist?« »Der Wirt sprach von rund fünfundzwanzig Kilometern. ›Der Pfau‹. Von dort aus sind es bis zur nächsten größeren Ortschaft, Foonspay, noch einmal rund vierzig Kilometer, und auf dieser Stre cke gibt es keine weiteren Unterkunftsmöglichkeiten.« Sternenfalke überlegte rasch. »Das bedeutet, daß wir morgen a bend ein Lager im Freien aufschlagen müssen. Oder übermorgen… Kommt ganz auf die Straße und das Wetter an. Wenn es weiterhin in Strömen regnet, dürfte die Reise nicht gerade zu einem Vergnügen werden.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung. Der schmierige kleine Mann war an die Theke herangetreten, und mit gedämpfter Stimme sprach er zum Wirt. Sternenfalke runzelte die Stirn. »Hast du darum gebeten, daß man uns den Proviant noch heute abend und nicht erst morgen früh zur Verfügung stellt?« Kitz nickte. »Der Wirt war damit einverstanden und will uns die Sachen später geben.« Falke zischte leise. »Ich glaube, wir sollten auf alles gefaßt sein. Ich gehe in den Stall und packe die Sachen zusammen. Wir dürfen nicht aufgehalten werden, wenn wir mitten in der Nacht verschwin den müssen.« Kitz wirkte ein wenig besorgt, aber andererseits genoß die Vor sicht Sternenfalkes in der Streitmacht der Söldner einen guten Ruf und hatte schon vielen unter ihrem Kommando stehenden Spähern das Leben gerettet. So unauffällig wie möglich verließ die Kriegerin den Schankraum der Herberge und begab sich erst nach draußen, als sie genau wußte, wo sich der Wirt und die Schlampe befanden, die für ihn die Küche führte. Anschließend eilte sie im strömenden Re gen durch Schlamm und Schnee des Vorplatzes. Es arbeitete kein Stallknecht für den ›Frechen Affen‹. Sternenfalke sah sich im Inne ren der steinernen Schuppen um, die sich an den Steilhang schmieg ten, der jenseits des kleinen Platzes in die Höhe ragte. Die Ausstat tung der Ställe, so fand die Kriegerin, war zu gut und zu aufgeräumt, wenn man daran dachte, wie wenige Reisende sich in den letzten Wochen hierher verirrt haben mochten. Bis auf den Packsattel holte sie alle Vorräte und Ausrüstungsge genstände herbei, schlang sie sich an den Riemen über die Arme und Schultern und wartete in der großen Tür, bis sie durch das Fenster 139
der Herberge den Schatten des Wirtes und der Köchin sah. Bestimmt gingen sie jetzt in den Schankraum, um das Essen für Kitz und ihre Begleiterin aufzutragen. Falke hielt sich im Schatten an der Wand, als sie in die Taverne zurückkehrte, und leise und rasch eilte sie die Treppe hoch, die in die eigentlichen Unterkünfte führte. Als sie die feuchten und voller Ungeziefer steckenden Matratzen der beiden schmalen Liegen sah, war Sternenfalke froh, daß sie ihr eigenes Bettzeug mitgebracht hatten. Es war eiskalt im Zimmer, und an zwei Stellen tropfte es von der Decke. Sie trat rasch an das Fens ter, klappte die Läden auf und blickte in die regnerische Nacht. Ei nen knappen halben Meter unter dem Fenstersims erstreckte sich das Binsendach der Küche, und es sah aus, als schwimme es wie ein Haufen Heu in der dunklen Nässe. Durch einen kleinen Abzug stie gen Qualm und die Essensdünste hoch. Zufrieden schloß die Kriege rin das Fenster, sperrte die Läden aber nicht zu. Sie überprüfte den Riegel an der Tür, schob die Vorräte unters Bett und ging nach un ten. Der schmierige kleine Mann lehnte am Tisch und sprach auf Kitz ein, die sich alles andere als wohl in ihrer Haut zu fühlen schien. Sternenfalke trat auf sie zu, musterte den Mann ruhig von oben bis unten und fragte: »Hast du diesen Hampelmann zum Essen eingela den, Kitz?« Der Mann setzte zu einer raschen Erklärung an. Sternenfalke sah ihm kalt in die Augen und prägte sich die Züge seines Gesichtes ein. Er wandte den Blick von ihr ab, senkte den Kopf und verließ hastig den Raum. Das Rauschen und Trommeln des Regens wurde kurz lauter, als er die Außentür öffnete. Sternenfalke nahm Kitz gegenüber auf der Bank Platz und mach te sich an das aus Wildbret-Eintopf und schwarzem Brot bestehende Abendessen. Kitz seufzte. »Danke. Ich wußte nicht, wie ich ihn loswerden sollte… « »Was wollte er?« fragte Falke und setzte einen Becher Bier an die Lippen. »Er kam zu mir und bot an, mir von der Bergstraße zu berichten. Und ich… nun, ich dachte, er wüßte vielleicht wirklich Bescheid, war mir aber nicht ganz sicher.« »Höchstwahrscheinlich wollte er herausfinden, wohin wir unter wegs sind und wo wir uns morgen abend befinden. Hm, wieviel hat der Dieb von Wirt eigentlich für unsere Unterbringung in seiner 140
Bruchbude verlangt?« Wie erwartet hoben diese Worte die Stimmung der jungen Frau. Kitz hatte den Wirt bis auf die Hälfte des zu Anfang geforderten Preises heruntergehandelt, und als sie der Kriegerin davon berichtete, blitzte es stolz und schmelmisch in ihren Augen. Sie unterhielten sich über andere Herbergen und Wirte und über die Kunst des Feil schens. In diesem Zusammenhang erzählte Sternenfalke davon, wie Sonnenwolf und andere Söldnerführer, die sie zumindest dem Na men nach kannte, von den Anwerbern dann und wann einen gerade zu astronomischen Sold verlangt und manchmal auch bekommen hatten. Unerwähnt blieb das Ziel ihrer Reise, und sie erörterten auch nicht die Frage, was sie machen sollten, wenn sie die Mauern der Zitadelle Altiokis' erreichten. In gewisser Weise hatten sie eine still schweigende Übereinkunft geschlossen. Beide Frauen behielten ihre Hoffnungen und Ängste für sich. Nach einer Weile kam noch ein weiterer Gast die Treppe herun ter, ein schwarzgekleideter, vertrocknet wirkender alter Herr mit Spitzbart. Mit einer gestärkten Halskrause und der an einigen Stellen geflickten rußschwarzen Hose sah er aus wie ein verarmter Edel mann aus einer der südlicheren Städte der Halbinsel. Er nahm neben den beiden sturen Kerlen in den Steppmänteln Platz, die nach wie vor Bier tranken und ein leises Gespräch führten. Nach einer Weile gingen die Männer nach oben. Sternenfalke war sich auf unangenehme Weise bewußt, wie laut nicht nur ihre eigene Stimme in dem leeren Schankraum widerhallte, sondern auch die ihrer jungen Begleiterin. Das Feuer im Kamin hatte inzwischen die meisten Holzscheite in Kohle verwandelt, und es war dunkler geworden im Zimmer. Der Wind draußen lebte auf und heulte über die Felsen hinweg. Bei dieser Geräuschkulisse konnte sich ihnen leicht jemand unbemerkt nähern. Ihre Unruhe legte sich ein wenig, als sie ebenfalls den Schank raum verließen. Im trüben Licht einer kleinen Öllampe stiegen Ster nenfalke und Kitz die schmale steile Wendeltreppe hoch und traten kurz darauf in das kalte feuchte Zimmer. »Nun, diese Betten werden jetzt einen ganz besonderen Zweck erfüllen«, bemerkte die Kriegerin trocken, als sie die Tür verriegelte. Kitz lachte leise und zog eine der schweren Holzliegen von der Wand fort. »Nein, so nicht. Komm, ich helfe dir. Wenn wir so viel Lärm machen, kann sich der alte Halsaufschneider unten sofort den ken, was hier gespielt wird.« 141
Es fiel ihnen nicht gerade leicht, die Tür in aller Stille zu verbar rikadieren. Als sie sich noch abmühten, hörte Sternenfalke ein Ge räusch, hob warnend die Hand und lauschte. Die Innenwände waren zwar dick, aber Falke gewann den Eindruck, als hielten es auch die anderen Gäste der Herberge für angebracht, sich auf ähnliche Weise vor nächtlichen Überraschungen zu schützen. Kitz entrollte ihr Bettzeug an der Wand, dort, wo zuvor das Bett gestanden hatte, und sie achtete darauf, daß das von der Decke her abtropfende Regenwasser nicht ihr Bett durchnäßte. »Rechnest du wirklich damit, daß man des Nachts versuchen wird, uns auszurau ben?« fragte sie ganz leise. Mit dem verlöschenden Licht der Öllam pe schwand auch die Zuversicht der jungen Frau. Ihr Gesicht wirkte eingefallen und müde. Sternenfalke kam zu dem Schluß, daß Kitz sich zwar als recht mutig und entschlossen erwiesen hatte, solche Reisen sie aber dennoch überforderten. Die Konkubine Sonnenwolfs war erschöpft und machte sich Sorgen. »Ich hoffe es fast«, erwiderte die Kriegerin mit gedämpfter Stimme. Sie blies die Flamme aus, und ganz plötzlich wurde es dun kel im Zimmer. »Ich möchte die Sache lieber hier regeln als morgen auf der Straße.« Stille herrschte in der Herberge. Während der Reisen, Schlachten und den langen Kriegswachen hatte Sternenfalke ein sehr gutes Zeitgefühl entwickelt. Nach unge fähr drei Stunden schob sie sich an das Lager ihrer Begleiterin heran und weckte Kitz. Einige Minuten lang sprach sie leise mit ihr, um ganz sicher zu sein, daß sie wirklich wach war. Anschließend streck te sie sich lang aus und fiel sofort in jene Art von leichtem Schlaf, der für Wachhunde und Berufssoldaten typisch war und aus dem sie von einem Augenblick zum anderen erwachen konnte. Sie hob kurz den Kopf, als anderthalb Stunden später der Regen ein wenig nach ließ. Kitz flüsterte die Verse eines alten Liedes, um sich wachzuhal ten und die Zeit zu vertreiben. Sternenfalke schloß die Augen und schlief wieder ein. Als Kitz sie an der Schulter berührte, erwachte sie sofort und rührte sich nicht von der Stelle. Mit den Fingerkuppen strich sie ihrer jungen Begleiterin kurz über die Hand, um ihr zu zeigen, daß sie nicht mehr schlief, und sie horchte nach den Geräuschen, die Kitz alarmiert hatten. Nach einigen Sekunden hörte sie etwas: das Knarren einer der alten Holzdielen im Korridor. Unmittelbar darauf folgten das leise 142
Rascheln feuchten Leders und das gedämpfte Klirren einer metalle nen Schnalle. Doch nicht in erster Linie diese Laute waren es, die Sternenfalke auf eine nahe Gefahr hinwiesen, sondern vor allen Din gen das deutliche und sichere Gefühl, daß sich in der Dunkelheit des Flurs jemand der Tür ihres Zimmers näherte. Die Kriegerin richtete sich auf, griff nach dem auf dem schmut zigen Boden neben der Decke liegenden Schwert und zog es völlig lautlos aus der gut geölten Scheide. Wenn Kitz geistesgegenwärtig genug war, überlegte Sternenfalke, hatte sie inzwischen ihren Dolch hervorgeholt. Sie ging nicht das Risiko ein, die junge Frau danach zu fragen – und den nächtlichen Besucher dadurch darauf hinzuweisen, daß sie seinen Angriff erwarteten. In dem kleinen Spalt zwischen Tür und Boden zeichnete sich ein matter Glanz ab, das trübe gelbliche Schimmern einer kleinen Öl lampe. In der völligen Dunkelheit des Zimmers erschien der Kriege rin dieses Leuchten so grell wie das Glitzern der Sommersonne an einem wolkenlosen Himmel. Unmittelbar darauf hörte sie, wie die gut gewetzte Klinge eines Dolches durch die schmale Fuge zwischen Tür und Wand geschoben wurde. Ein leises Kratzen ertönte, als der Unbekannte auf dem Gang auf diese Weise den Verriegelungsbolzen in die Höhe hebelte. Mit einem leisen und kaum hörbaren Plock! ruckte er aus der Halterung. An dieses Geräusch schloß sich wieder völlige Stille an. Inzwischen waren sowohl Kitz als auch Sternenfalke aufgestan den. Gemäß der Übereinkunft, die sie am Abend getroffen hatten, wich die junge Frau ans Fenster zurück, und die Kriegerin näherte sich lautlos der verbarrikadierten Tür. Die Fuge zwischen Tür und Wand verbreiterte sich ein wenig, und Falke sah Schatten auf dem Gang. Plötzlich quietschte es, und ein leiser Fluch ertönte. Eine brei te Schulter stemmte sich gegen das Holz, und es ächzte in den Ver strebungen des Bettes der improvisierten Barrikade. Die Liege neigte sich zur Seite und stürzte um, als sich die große Gestalt eines Man nes durch den immer noch recht schmalen Spalt zwischen Tür und Wand schob. Die Tür öffnete sich nach rechts innen, und der Angreifer kam mit der linken Schulter voran herein. Es war kinderleicht, ihn außer Gefecht zu setzen. Er schnaufte überrascht, als sich die Schwertklin ge in seinen Leib bohrte. Es stank nach Blut, als der Gegner zu Bo den sank, und Sternenfalke sprang zurück, als andere Männer die Tür aufstießen, wütend fluchend über den Toten und das Bett stolperten 143
und in dem Durcheinander die Öllampe fallen ließen. Die Kriegerin holte erneut aus und schlug entschlossen zu. Schmerzensschreie wurden laut, und weitere Flüche erklangen. Etwas Hartes berührte Falkes Bein, und sie glaubte, es noch mit drei Gegnern zu tun zu haben, die in der Dunkelheit so tolpatschig wie blinde Bären herum tapsten. Dann hörte sie die schrille Stimme ihrer jungen Begleiterin – und das schwere und heisere Atmen eines Mannes, der sich offenbar ebenfalls in der Nähe des Fensters befand. Als sie sich in Bewegung setzte, stieß sie gegen ein Hindernis; Hände tasteten nach ihren Bei nen, und sie verlor das Gleichgewicht. Eine rauhe Stimme rief: »Ich habe eine erwischt! Kommt her!« Sternenfalke hieb mit dem Schwert in die Richtung, aus der sie die Stimme gehört hatte. An schließend drehte sie sich im Kreis und spürte, wie die Spitze der Waffe etwas berührte, das keuchte und schimpfte. Der Mann riß sie zu Boden und war ihr so nahe, daß sie das Schwert nicht mehr gegen ihn zum Einsatz bringen konnte. Sie ließ es fallen und stach mit dem Dolch zu. Ganz plötzlich wurde es hell, und weitere Männer stürm ten vom Korridor her ins Zimmer. Im jähen Licht sah Falke das erhobene Messer des Mannes, der sie an den Oberschenkeln festhielt, und die Kriegerin hieb sofort zu, noch während ihr Gegner den Kopf drehte und in Richtung der Tür sah. Sie schlitzte ihm die Kehle auf, und Blut spritzte und besudelte sie. Der erste Mann, der hereinkam, fiel über die Leiche und das Bett. Der zweite kletterte einfach über ihn hinweg, und seine musku löse Masse verdeckte kurz die Lichtquelle. Wie ein Löwe stürzte er sich auf den letzten noch stehenden Banditen. Mit einem Rückhand schlag, der so kräftig war, daß er damit einen Ochsen hätte betäuben können, hieb er dem Angreifer die Klinge aus der Hand, packte ihn am Hals und schmetterte den Kopf so hart an die Wand, daß es laut krachte. Dann drehte er sich rasch um die eigene Achse, und in dem matten Licht sah Sternenfalke, daß sein kantiges, grobknochiges Gesicht rötlich glühte und schweißnaß war. Er blickte sich finster im Zimmer um, als suche er nach einem neuen Opfer. Etwas weiter entfernt stand Kitz. Sie preßte sich neben dem Fenster an die Wand. Sie war blaß, und auf ihrer zerknitterten Kleidung zeigten sich dunk le Blutflecken. In einer Hand hielt sie ihren Dolch, und direkt vor ihr lag ein noch zuckender Bandit, aus dessen klaffender Halswunde es rot hervorquoll. Der hünenhafte Mann entspannte sich und wandte sich seinem 144
Gefährten zu, der ächzend versuchte, wieder auf die Beine zu kom men. »Paß auf die Lampe auf, du hirnloser Dummkopf«, sagte er. »Die ganze Sache ist schon vorbei.« Er trat einen Schritt auf Kitz zu. »Bist du verletzt, Mädchen?« Sein Gefährte, der in seiner Hast, Sternenfalke zu Hilfe zu eilen, zunächst über den Toten und dann das Bett gestolpert war, fluchte leise, kam in die Höhe und näherte sich der Kriegerin, die noch im mer auf dem Boden saß, blutbesudelt und verdreckt. Neben ihr lag die Leiche des Angreifers, der sie in der Dunkelheit festgehalten hatte. Der Unbekannte ging vor ihr in die Hocke. Er war noch größer als der andere Mann, und er hatte ebenfalls braunes Haar und ernst blickende, blaugraue Augen. »Alles in Ordnung?« Sternenfalke nickte. »Ja«, erwiderte sie. »Vielen Dank.« Sie war überrascht, als der Hüne sie einfach auf die Beine hob, so als sei sie nichts weiter als eine leichte Puppe. »Wir hätten schon eher eingegriffen«, sagte er ein wenig bedauernd. »Aber ein gewisser Esel mußte unbedingt auf der Verbarrikadierung unserer Tür beste hen… « »Bist selbst ein Esel«, erwiderte der andere Mann im Akzent der Bewohner der Buchtenküste. »Wenn wir als erste von ihnen überfal len worden wären, wärst du sicher dankbar gewesen, einen Zeitvor teil von einigen Sekunden gehabt zu haben – wenn du überhaupt wach geworden wärst.« Der größere Mann drehte den Kopf und wirkte wie ein Stier, der gerade ein rotes Tuch sieht. »Und wieso glaubst du, wir beide zu sammen hätten nicht auch fest schlummernd mit diesen jämmerli chen Bergbanditen fertig werden können?« »Vorgestern abend, als die Wölfe angriffen, hast du das Maul nicht ganz so vollgenommen… « »Ram! Orris!« rief eine krächzend und schrill klingende Stimme vom Flur her und brachte die beiden riesenhaften Männer zum Schweigen. Der dünne kleine Edelmann mit der gestärkten Hals krause, der sich am vergangenen Abend zu den beiden Hünen an den Tisch gesetzt hatte, kletterte flink und gelenkig über die Hindernisse an der Tür hinweg und hob eine Laterne in die Höhe. In der anderen Hand hielt er ein Schwert, das ganz offensichtlich viel zu schwer für ihn war und im Vergleich mit seiner eher zierlichen Gestalt direkt gewaltig wirkte. »Bitte entschuldigt das Verhalten meiner Neffen«, wandte er sich an die beiden Frauen und verbeugte sich vor ihnen – eine Geste, die angesichts der blutigen Szenerie irgendwie bizarr 145
wirkte. »Zu Hause setze ich die beiden in der Landwirtschaft ein, für die besonders groben Arbeiten. Ich befürchte, sie haben nie richtig gelernt, wie man sich Damen gegenüber benimmt.« Als er sich wieder aufrichtete, sah er Sternenfalke aus seinen dunklen leuchtenden Augen an, und sie erwiderte seinen Blick und lächelte. »Grrmp«, machten Ram und Orris, ballten die dreschflegelartigen Hände zu Fäusten und hoben sie drohend, als der dürre kleine Mann ihre Manieren in Frage stellte. Der Onkel hob jedoch nur geziert die Augenbrauen und schenkte ihnen keine Beachtung. »Mein Name ist Anyog Spicer, Edelmann, Gelehrter und Dichter. Im nächsten Zimmer gibt es Wasser. Ich glaube, die Damen hätten jetzt nichts gegen eine Erfrischung einzu wenden…« »Zuerst knöpfe ich mir den dreimal verfluchten Wirt vor«, erwi derte Sternenfalke scharf, »und stelle fest, ob er noch weitere Bandi ten in der Nähe versteckt hat.« Sie hob den Kopf und sah, daß das Gesicht ihrer jungen Begleiterin nun nicht mehr weiß war, sondern grünlich schimmerte. Sie wandte sich an den größeren der beiden riesenhaften Männer, der wie ein Muskelberg neben ihr in die Höhe ragte. »Bitte führ Kitz in euer Zimmer«, sagte sie. »Wenn ich unten bin, bringe ich Wein aus der Küche mit.« »Das ist nicht nötig«, antwortete der Hüne – Sternenfalke wußte nicht, ob er Ram oder Orris hieß. »Wir haben selbst Wein – und besseren, als man in dieser Bruchbude den Reisenden einschenkt. Ich komme mit dir, meine Liebe. Orris, kümmere du dich um Fräulein Kitz. « Als er zusammen mit Sternenfalke in Richtung Tür ging, fügte er hinzu: »Und sieh zu, daß du die Sache nicht verpatzt.« Orris – der attraktivere der beiden Brüder, und, wie Sternenfalke vermutete, auch der um einige Jahre jüngere – runzelte verärgert die Stirn. »Du befürchtest, ich könnte etwas verpatzen?« fragte er, als er behutsam nach dem Arm Kitz' griff und ihr den Dolch aus der Hand nahm, den sie nach wie vor umklammert hielt. »Wer stolperte denn über seine eigenen großen Latschen, als er wie ein blinder Ochse in dieses Zimmer stürzte, hm? Von allen von Schmierern heimgesuch ten Geschöpfen…« »Selbst der verzweifeltste Schmierer hätte Probleme, bei ihr et was zu finden, was er heimsuchen könnte… « Da Sternenfalke fürchtete, daß die beiden Brüder noch stunden lang so weitermachen würden, wenn man sie ließe, griff sie nach 146
dem gefütterten Ärmel Rams und zog den Hünen entschlossen auf die Tür zu. Es hielten sich keine weiteren Banditen in der Herberge auf. Der Wirt kauerte im Zimmer hinter der Küche, nicht viel mehr als ein zerknittertes und stöhnendes Häufchen Elend. Die Räuber hatten ihn überwältigt und anschließend mit Tüchern und Stricken gefesselt. Während er diese Vermutung der Kriegerin wortgewaltig bestätigte und Ram alle Einzelheiten übergenau beschrieb, betrachte te Sternenfalke die zerrissenen Laken und fand nirgends wirklich feste Knoten. Die Köchin meinte, sie habe sich aus Angst in der Speisekammer versteckt. Sie zitterten beide und waren sehr blaß, gaben sich somit ganz den Anschein, als sagten sie wirklich die Wahrheit, doch Sternenfalke argwöhnte, daß ihnen mit dem Tod der Banditen die Grundlage des Lebensunterhaltes genommen worden war. In grimmiger Zufriedenheit lächelte sie vor sich hin, als sie anschließend in der Begleitung Rams die Treppe hochstieg. »Offenbar bist du es gewöhnt, dich deiner Haut zu wehren«, stellte Ram mit gewissem Respekt fest. Sternenfalke zuckte mit den Schultern. »Ich gehöre seit acht Jah ren einer Streitmacht aus Söldnern an«, erwiderte sie. »Und die Ban diten waren keine Kämpfer.« »Woher willst du das wissen?« Der Hüne senkte den Kopf und sah neugierig auf sie herab. »Für mich hatte es den Anschein, als seien sie bereits mit Dolchen in der Hand geboren worden.« »Echte Krieger hätten eine Wache an der Tür zurückgelassen. Übrigens: Was, bei allen Geistern, bedeutet der Ausdruck ›von Schmierern heimgesucht‹? So etwas habe ich noch nie gehört.« Ram lachte leise, und es klang wie ein gedämpftes Knurren. »Oh, diese Redewendung bezieht sich auf Leute, die übergeschnappt sind. Schmierer sind – wie nennt man sie hier doch gleich? – Wasserjung fern. Zumindest werden sie in meiner Heimat so genannt. Einige alte Frauen behaupten, sie rauben Männern den Verstand, auf daß sie konfus umherwandeln, bis sie irgendwann in einem Sumpf versin ken.« Sternenfalke nickte, als sie in den Korridor der Unterkunft ge langten und Licht sahen, das aus der halb geöffneten Tür eines Zim mers auf den Gang fiel. »Im Norden heißt es, Dämonen locken einen Mann auf diese Weise in den Tod – oder jagen ihm einen solchen Schrecken ein, daß er verrückt wird. Ich höre jedoch zum erstenmal, daß Wasserjungfern dahinterstecken sollen.« 147
Sie betraten den Raum, in dem der nächtliche Kampf stattgefun den hatte. Im Schein der Lampe, die Sternenfalke aus der Küche mitgenommen hatte, sah die Kriegerin, daß es sich bei dem Mann, dem Orris den Schädel zertrümmert hatte, um denjenigen handelte, von dem Kitz am vergangenen Abend angesprochen worden war. Dies bestärkte ihre Vermutung, daß der Wirt von Anfang an Be scheid gewußt hatte. Als sie das Zimmer wieder verließen, nickte Ram in Richtung der Tür. »Was sollen wir mit den Leichen ma chen?« »Das Aufräumen überlassen wir unserem Gastgeber«, gab Ster nenfalke unbewegt zurück. »Die Herberge gehört ihm – und es wa ren seine Freunde.« Orris und Onkel Anyog hatten inzwischen die Sachen der beiden Frauen in ihr Zimmer gebracht. Ein Lager aus Matratzen und Decken war errichtet worden. Kitz schlief. Die Kriegerin betrachtete kurz die schmutzigen Stiefel Onkel Anyogs und kam zu dem Schluß, daß er sich in den Ställen umgesehen hatte. Er meinte, dort sei alles in Ord nung. »Ich wollte später selbst einmal nachsehen«, sagte Sternenfalke und holte saubere Sachen aus ihrer Tasche hervor: lederne Knieho sen, Hemd und Wams. Anschließend machte sie Anstalten, den Ne benraum aufzusuchen, um sich dort zu waschen und umzuziehen. »Vielleicht hatten die Banditen gar nicht die Absicht, nach uns auch euch zu überfallen. Wenn ihr morgen früh nach uns gefragt hättet, wäre der Wirt möglicherweise darauf vorbereitet gewesen, euch zu sagen, wir seien schon vor Sonnenaufgang aufgebrochen.« »Wohl kaum«, erwiderte Orris dumpf. »Wir hätten euch schließ lich auf der Straße einholen müssen.« »Nur dann, wenn ihr die gleiche Richtung eingeschlagen hättet.« Im Nebenzimmer nahm Sternenfalke ein rasches und sehr kaltes Bad, wusch sich das getrocknete Blut von der Haut und aus dem Haar, reinigte die unbedeutende Schnittwunde am Bein mit Wein und verband sie. Anschließend wechselte sie die Kleidung. Als sie in den Hauptraum zurückkehrte, hatte sich Onkel Anyog in einer Ecke zusammengerollt und schlief. Ram und Orris unterhielten sich leise und stritten darüber, ob der Kauf einiger Opale aus einem Bergwerk im Norden wirklich ein gutes Geschäft gewesen war. Sternenfalke ließ sich mit einem Lappen, einem Topf mit Wasser und einer Fla sche Öl nieder und begann damit, ihre Waffen und das Leder zu reinigen. Es war schon recht spät in der Nacht, und sie wußte, daß sie 148
keinen Schlaf mehr finden würde. Orris wies seinen Bruder auf die üblichen Schwankungen der Preise für Pelze hin, machte ihn darauf aufmerksam, daß es sich als klug erweisen könnte, mit dem Verkauf der Opale zu warten – die entsprechenden Argumente ergaben für die Kriegerin nicht den ge ringsten Sinn – , und wandte sich dann an die Söldnerin. »Sternen falke? Darf ich dich fragen, wohin du mit Fräulein Kitz unterwegs bist? Weißt du, auf den Straßen ist es zu dieser Jahreszeit recht ge fährlich. Wohin reist ihr?« »Nach Osten«, antwortete Falke ausweichend. »Und welches Ziel habt ihr dort?« beharrte Orris, der den Hin weis nicht verstand. »Spielt das eine Rolle?« erwiderte Sternenfalke scharf. »In gewisser Weise schon«, sagte der junge Mann ernst, stützte die Hände auf die angezogenen Knie und beugte sich ein wenig vor. »Weißt du, wir sind nach Pergemis unterwegs, mit einigen Fuchsund Biberpelzen und Onyx und Opalen aus dem Norden. Während unserer Reise hatten wir schon mehrmals Schwierigkeiten. Der Mann, den wir mit uns nahmen, wurde vor fünf Nächten von Wölfen zerrissen. Wenn wir auf weitere Banditen stoßen, verlieren wir noch alle die Werte, die wir im Sommer erarbeiteten. Nun, du bist ohne Zweifel eine fähige Kriegerin, deren Hilfe wir gut gebrauchen könn ten. Und außerdem wäre Fräulein Kitz dann auch sicherer. Wenn ihr mit uns zusammen nach Süden zöget… « Sternenfalke zögerte einige Sekunden lang und schüttelte dann den Kopf. »Nein«, sagte sie. Pergemis lag dort, wo die Buchtenküste auf das Hochland am Rande der Kanwed-Berge stieß, weit im Süd westen des Grimmwalls. Sie fügte hinzu: »Doch bis nach Foonspay führt unser Weg in die gleiche Richtung. Dann sind wir aus den Bergen heraus und brauchen keine heftigen Schneestürme mehr zu befürchten. Wenn ihr nichts dagegen habt, schließen wir uns euch bis dorthin an.« »Einverstanden«, gab Orris zufrieden zurück. Unmittelbar darauf verdüsterte sich sein offenes Gesicht, und er kniff die Augen zu sammen. »Dein Ziel ist doch nicht etwa Hackenrippe, Mädchen, oder? Bis dahin gilt es noch viele Kilometer zurückzulegen, und außerdem ist es sehr gefährlich, sich in das Reich des Magischen Königs zu begeben.« »Das habe ich schon gehört«, erwiderte Sternenfalke gleichgül tig. 149
Als sie schwieg und sich wieder damit beschäftigte, das Blut vom Griff ihres Dolches zu wischen, wurde Orris unruhig und fuhr fort: »Zwei Mädchen, die allein eine weite Reise unternehmen… « »Ich weiß, welche Gefahren uns unterwegs drohen könnten«, sagte Sternenfalke. »Zufälligerweise jedoch habe ich während mei nes Lebens schon einige Männer umgebracht… « Mit dem Daumen prüfte sie die Schneide des Dolches. »Und da ich vermutlich mindes tens fünf Jahre älter bin als du, kann man mich wohl kaum als Mäd chen bezeichnen.« »Ja. Mädchen, aber… « Ram stieß ihm den Ellenbogen in die Seite – und zwar mit ziem licher Wucht – , und zwischen den beiden Brüdern begann daraufhin erneut ein freundschaftlicher Zank, der Sternenfalke ihren Gedanken überließ. Während der folgenden Tage bekam sie mehrmals Gelegenheit, den Männern für ihre Begleitung dankbar zu sein – obgleich die beiden Brüder ihr mit ihrem Hang zu übertriebener Ritterlichkeit manchmal ziemlich auf die Nerven gingen. Orris versuchte immer wieder herauszufinden, nach welchem Ort die beiden Frauen unter wegs waren und was sie dort zu unternehmen gedachten. Er meinte es keineswegs böse, sondern hatte – und das war eigentlich noch schlimmer – nur die besten Absichten, denn er wollte ihr nur den Rat geben, alle Risiken zu meiden und sich nicht zu törichten Dummhei ten hinreißen zu lassen. Sternenfalke mußte sich eingestehen, daß ihre Reise sowohl dumm als auch riskant war – was aber nichts an ihrer Notwendigkeit änderte. Sie mußten Sonnenwolf finden und retten – und, wenn möglich, herausfinden, ob Altiokis die Absicht hegte, gegen die Söldner-Streitmacht vorzugehen. Orris kannte die beiden Frauen zwar erst seit kurzem und wußte nichts von ihren Plänen, ging aber wie ganz selbstverständlich von der Annahme aus, als Mann sei er weitaus besser als sie dazu geeignet, die Erfolgsaus sichten ihres Unternehmens – von dem er gar nichts ahnte – zu beur teilen. Diese Haltung amüsierte Sternenfalke, aber manchmal ging sein Verhalten auch über das hinaus, was sie als gerade noch erträg lich empfand. Auch die eher gutmütigen Streitigkeiten der beiden Brüder und ihre gegenseitigen Beleidigungen konnten rasch das Maß der Unter haltung sprengen. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, sich wegen ihres Aussehens aufzuziehen oder Anspielungen auf die geistige Leistungsfähigkeit oder Manieren zu machen, ritten sie auf 150
Onkel Anyog herum und verspotteten ihn wegen seiner Neigung zur Poesie, seiner kleinen und dürren Gestalt oder seiner gezierten und vornehmen Sprechweise. Anyog ließ das alles ruhig über sich erge hen. Des Abends am Lagerfeuer lauschten die beiden Brüder ebenso interessiert und gebannt wie Kitz und Sternenfalke den Erzählungen des zwergenhaften Mannes, seinen Geschichten von Helden und Drachen, der sonderbaren Magie seiner Verse und Reime. Falke, die viele Jahre in Kriegslagern und in der Begleitung von Söldnern ver bracht hatte, brachte dem groben Verhalten der beiden Brüder ein hohes Maß an Toleranz entgegen, aber mehr als nur einmal wünschte sie sich, die beiden Hünen dazu bringen zu können, eine halbe Stun de kein einziges Wort zu sagen. Allerdings, so begriff die Kriegerin, kam es nicht ihr zu, ein Ur teil über ihre Begleiter zu fällen. So schwer es ihr auch manchmal fiel, die Ruhe zu bewahren und sich zu beherrschen: Sie war dankbar dafür, nicht nur allein mit Kitz diesen Teil des gefährlichen Weges gehen zu müssen, sondern gegebenenfalls auf die Hilfe der beiden streitsüchtigen Brüder und ihres so überaus schwatzhaften Onkels zurückgreifen zu können. Die Herberge ›Pfau‹ war verlassen, und Schnee wirbelte durch die Fenster des verwüsteten Schankraums. Im Stall entdeckte Ster nenfalke die abgenagten Knochen eines Pferdes, die sich in der Kälte zwar mit einer Eisschicht überzogen hatten, aber ganz offensichtlich frisch waren. Sie prüfte die zersplitterten Balken der Tür und kam zu dem Schluß, daß die Zerstörung dieses Ortes noch nicht lange zu rückliegen konnte. Sie ging über den Vorhof. Hoher Pulverschnee knirschte unter ihren Stiefeln. Kitz und Onkel Anyog befanden sich im Schankraum und sahen sich immer wieder unsicher um. Ihr Atem kondensierte sofort und wehte mit fransigen Schleiern von ihren Lippen. Kurz darauf kamen Orris und Ram die eis- und schneebe deckten Stufen der Treppe herunter. »Oben ist ebenfalls alles leer«, berichtete Orris knapp. »An der ersten Tür zeigten sich einige Kratzspuren, aber sie wurde nicht aufgebrochen. Wer auch immer die Taverne überfiel: Er ist ver schwunden. Ich glaube, in einem der oberen Räume sind wir eini germaßen sicher.« »Und die Esel?« fragte Sternenfalke. »Sollen wir sie die Treppe hochschieben?« Sie erzählte, was sie im Stall gefunden hatte. Abge sehen von ihrem eigenen Esel mußte sie sich um sechs weitere Last tiere kümmern. 151
Orris setzte zu einer langatmigen Erwiderung an und schlug vor, sie sollten abwechselnd im Stall Wache halten, aber Ram wider sprach. »Nein, wir sollten die Tiere bei uns behalten. Wenn ihnen etwas zustieße, säßen wir hier fest – ganz zu schweigen von dem Verlust der Pelze und der anderen Dinge.« Sternenfalke empfand es als lächerlich und absurd, sieben scheu ende und störrische Esel in den ersten Stock zu befördern und sie in den Zimmern unterzubringen, die üblicherweise nur besonders vor nehmen Reisenden zur Verfügung standen. Onkel Anyog half ihr, erwies sich dabei als sehr gelenkig und geschickt und murmelte immer wieder hingebungsvoll lange und ausdrucksstarke Flüche. Orris und Ram machten sich unten daran, mit Schaufeln einigerma ßen Ordnung zu schaffen und einen Kochplatz freizuräumen. Kitz sammelte Stroh im Stall, schichtete es auf dem Vorhof zusammen und entzündete ein Feuer. Als sich die Dunkelheit über die frostkalte Bergeinöde senkte und sie sich in den Zimmern der Herberge verbarrikadierten, fühlte Ster nenfalke eine zunehmende Unruhe, jene Art von besonderer Nervo sität, die auf eine nahe Gefahr hindeutete. Das ungestüme und lär mende Verhalten der beiden Brüder war nicht dazu angetan, ihre Stimmung zu heben, auch nicht der ernste Hinweis Orris' darauf, wie wichtig es sei, daß sie alle zusammenblieben. Wie üblich schwieg sie sowohl über ihre Verärgerung als auch die dumpfe Besorgnis. Nur Ram sah auf, als sie schon recht früh aufbrach, um Wache zu halten. Kitz und Orris waren viel zu sehr in ein Gespräch über den Handel mit Gewürzen vertieft, um ihr irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Die Stille im dunklen Gang war wie ein Schluck kühlen Wassers nach langem Fieber. Falke sah kurz nach den Eseln, die im besten Zimmer der Herberge untergebracht worden waren, und anschlie ßend folgte sie dem matten Leuchten der kleinen Öllampe zum obe ren Ende der Treppe, wo Onkel Anyog vor einer verschlossenen Tür saß. Es glitzerte in seinen Augen, als er sie ansah. »Oh, du bist sehr pünktlich, kriegerisches Täubchen. Ja, eine berufsmäßige Kämpferin kommt niemals zu spät, oder? Haben sich die beiden Ochsen schon hingelegt?« »Glaubst du vielleicht, Orris würde schlafen, solange er einen Zuhörer hat?« Zwar klang die Stimme Sternenfalkes so ruhig wie immer, doch 152
offenbar war dem alten Mann ein gewisser bitterer Unterton nicht entgangen, denn er lächelte schief. »Ach, der gute Junge, der immer nur an Geld und Geschäfte denkt.« Er seufzte. »Während des ganzes Weges von Kwest Mralwe durch die Wälder von Swyrmlaedden, in denen die Nachtigallen singen, durch die Goldsamthügel von Harm und schließlich auch die Schneehänge der Bernsteinortberge unter richtete er mich immer wieder über alle Einzelheiten der jüngsten Währungsschwankungen in den Mittleren Königreichen.« Erneut seufzte er ergeben. »Das ist typisch für Orris. Aber weißt du, er ist so wie er ist – und eigentlich ein recht guter Kerl.« »Damit hast du sicher recht.« Sternenfalke nahm im Schneider sitz neben ihm Platz und stützte den Rücken an den fleckigen Ver putz der Wand. »Wenn man viel Geld verdienen will, muß man viel an Geld denken. Ich schätze, genau das ist der Grund, warum in den vergangenen Jahren weder ich noch irgendein anderer Söldner ein Vermögen ansammeln konnte.« Der dichte Bart teilte sich, als Onkel Anyog breit grinste. »Dafür hast du aber sicher eine Menge Spaß gehabt, Täubchen«, sagte er. »Und die Erinnerungen daran unterlie gen keinen Währungsschwankungen. Als Gelehrter bin ich in der ganzen Welt herumgekommen, habe sowohl die azurnen Lagunen Mandrigins gesehen als auch die Windklippen im Westen. Schließ lich wurde ich zu alt und mußte mich als Lehrer niederlassen. O ja, mit dem Geld, das ich von den Universitäten von Kwest Mralwe und Kedwyr und vielen Städten der Mittleren Königreiche bekam, hätte ich eigentlich ein reicher Mann werden müssen. Und doch muß ich mich in meinen alten Tagen mit dem Leben eines Untermieters im Hause meiner Schwester in Pergemis begnügen, mit der Gesellschaft einer Frau, die sich insbesondere darauf versteht, immerzu nur ans Geld denkende und auf Wanderschaft gehende Söhne großzuzie hen.« Er schüttelte den Kopf, und das von ihm zur Schau gestellte Bedauern war nur teilweise gespielt. »Ach, Täubchen, es gibt keine Gerechtigkeit in dieser Welt.« »Damit hast du in der Tat recht, Professor.« Sternenfalke seufzte. »Tja.« Onkel Anyog streckte ein Bein aus, und mit der Stiefel spitze strich er über das dicke Holz der Tür. »Hast du die Kratzer auf der anderen Seite gesehen?« Die Kriegerin nickte. Weder Ram noch Orris hatten sie deuten können. Falke aber wußte, worum es sich handelte, und Erinnerun gen an ein bestimmtes Kindheitserlebnis wurden in ihr wach. »Nuu wa?« 153
Als der alte Mann das mit einem Nicken bestätigte, zitterten die Seiten seiner gestärkten Halskrause. Im matten Licht der Öllampe wirkte sie wie exotische Blütenblätter. »Und vermutlich mehr als nur einer. Muß ein ganzes Rudel gewesen sein, wenn es ihnen gelang, sich einen Zugang in die Herberge zu verschaffen.« Das Gesicht Sternenfalkes war ernst. »Soweit ich weiß, sind Nuuwa Einzelgänger.« »Das stimmt nur zum Teil.« Anyog beugte sich vor und drehte an dem kleinen Rädchen der Öllampe, wodurch der Docht ein wenig in die Höhe kam und es heller wurde. »Je weiter man nach Osten kommt, desto mehr von ihnen kann man antreffen. Wußtest du das nicht? Und seit dem Frühsommer des vergangenen Jahres durchstrei fen sie in Rudeln die Region in der Nähe der Tchard-Berge.« Sternenfalke warf ihm einen kurzen Blick zu und fragte sich, wieviel er von dem Ziel ihrer Reise wußte oder ahnte. Aus dem Schankraum der Herberge vernahm sie das leise Kratzen von Füch sen und Wieseln, die sich über die Reste des Abendessens stritten. Aus irgendeinem Grund ließen diese Geräusche sie schaudern. »Du bist Gelehrter, Anyog. Was sind Nuuwa? Stimmt es, daß sie einst Menschen gewesen sind? Daß sie durch ein gräßliches Leiden die Augen verloren haben und sich veränderten? Ich höre immer wieder Schreckensgeschichten über sie, aber niemand scheint Ge naues zu wissen. Der Wolf meinte einmal, früher waren sie viel seltener. Und du hast mir eben gerade gesagt, im Osten gäbe es gan ze Rudel von ihnen.« »Der Wolf?« Eine buschige Augenbraue des kleinen Mannes kam fragend in die Höhe. »Der Mann, den… den Kitz und ich suchen«, erklärte die Kriege rin zögernd. »Und es ist ein Mann?« fragte der Gelehrte leise. Sternenfalke spürte, wie ihr warm wurde. Rasch fuhr sie fort: »In einigen Gegenden heißt es, es genüge, wenn ein Mann des Nachts das Heim verlasse und die Dunkelheit durchstreife, um zu einem Nuuwa zu werden. Ich glaube, die Ge schichten deiner Neffen von Schmierern – von Wasserjungfern – könnten ebenfalls in einem Zusammenhang damit stehen. Bestimmt handelt es sich nicht um wirkliche Wasserjungfern, sondern um irgendwelche Geschöpfe, die so ähnlich aussehen. Aber es scheint niemanden zu geben, der einem in dieser Hinsicht eine ganz klare Auskunft geben kann. Und dieser Umstand macht mich immer nach 154
denklicher.« Ruckartig drehte Onkel Anyog den Kopf und musterte sie durch dringend. Ruhig begegnete Sternenfalke seinem Blick und fragte sich, aus welchem Grund sie plötzlich den Eindruck gewann, als rege sich in dem dürren kleinen Mann eine jähe Besorgnis. Dann sah Anyog fort und faltete die Hände auf den knochigen Knien. »Sicher könnte dir ein Zauberer Auskunft geben«, erwiderte er. »Vorausgesetzt, es gibt noch welche.« Und wieder erinnerte sich Sternenfalke an das augenlose, knur rende und geifernde Ungeheuer, das auf das Eingangstor des Klos ters eingeschlagen und mit seinen Klauen tiefe Furchen in die Balken gekratzt hatte. Sie sah Schwester Wellwa, die dem Nuuwa magisches Feuer entgegengeschleudert hatte, den Spiegel in der Ecke ihres Zimmers. Und sie mußte daran denken, daß der Kleine Thurg mit einem Mann gesprochen hatte, der nicht der gewesen war, für den er ihn gehalten hatte. »Anyog«, fragte sie zögernd, »hast du während all deiner Reisen jemals von anderen Zauberern außer Altiokis gehört?« Stille trat ein. Anyog starrte in die Finsternis. Schließlich antwor tete er: »Nein. Ich habe niemals mit jemanden gesprochen, der einen kannte.« Er kicherte leise. »Oh, sicher gibt es welche. So heißt es jeden falls. Aber die Männer und Frauen, die heute mit der Macht der Ma gie geboren werden, sind klug genug, es niemandem zu verraten. Wenn es ihnen überhaupt gelingt, die magischen Künste zu erlernen, so gestalten sie, wenn es sich um Männer handelt, ihre Zauberstäbe so klein, daß sie sie in den Ärmeln verstecken können. Frauen tarnen sie vielleicht als Besengriffe oder etwas in der Art. Eine Legende erzählt sogar von einer Magierin, die in die Dienste eines reichen Mannes trat, als Gouvernante seiner Kinder, und angeblich soll der Handgriff ihres Sonnenschirms ihr Zauberstab gewesen sein.« »Und das alles wegen Altiokis?« fragte Sternenfalke leise. Der alte Mann seufzte. »Ja.« Ein weiteres Mal richtete er den Blick auf sie, und in dem matten zitternden Licht sah sein Gesicht plötzlich viel älter aus. In den faltigen Zügen zeichnete sich Betrüb nis ab. »Aber wie dem auch sei: Es gibt immer weniger Zauberer, die die Macht ihrer Gabe vollständig entfalten können. Die meisten von ihnen verfügen nur über die Fähigkeiten, die sie sich entweder selbst aneignen konnten oder die ihnen die Meister lehrten – wenn sie ü 155
berhaupt auf die Hilfe eines erfahrenen Magiers zurückgreifen konn ten. Nur sehr wenige von ihnen wagen es heute noch, sich der Gro ßen Prüfung zu unterziehen – selbst nur wenige von den wenigen, die überhaupt noch davon wissen.« Er stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Sein hage rer Leib zeichnete sich als dünne Silhouette vor dem Licht ab, das aus dem Zimmer in den Gang fiel, in dem Ram und Orris sich dar über stritten, wie lange man im Sommer mit einem Segelschiff von Mandrigin nach Pergemis unterwegs sein mochte. »Was hat es denn mit der Großen Prüfung auf sich?« fragte Ster nenfalke neugierig und sah zu Anyog auf. »Ach, wer weiß? Die Spione Altiokis' sind überall, und man gerät schon in Verdacht, wenn man nur zugibt, von der Prüfung zu wissen – ob man nun in die Künste der Magie eingeweiht ist oder nicht.« Mit diesen Worten ging er durch den Korridor davon, mit der gleichsam gelenkigen wie auch unbeholfenen Art einer menschge wordenen Bachmücke, und während sein Schatten mit der Dunkel heit verschmolz, summte er irgendeine seltsame Melodie.
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9. Kapitel »Das gefällt mir gar nicht.« Sternenfalke runzelte die Stirn, als sie auf die Stadt hinabblickte. Der neben ihr stehende Ram verschränkte die Arme und zog in der Kühle die Schultern hoch. Die dick gepolsterte Purpurjacke machte ihn noch breiter und athletischer. Sein breites und kantiges Gesicht hatte sich gerötet. »Es scheint doch alles ruhig zu sein«, erwiderte er skeptisch. Sternenfalke sah ihn aus ihren grauen Augen kurz an. »Zu ru hig«, bestätigte sie. »Aus keinem der Schornsteine kräuselt Rauch.« Sie deutete in die entsprechende Richtung, und eine kleine Flocke des auf den Zweigen der Kiefer lastenden Schnees fiel ihr auf das Ärmelvlies. »Dieser Schnee hier ist vor etwa zwei Tagen gefallen. Aber weder auf den Straßen noch in unmittelbarer Nähe der Häuser und Schuppen und Ställe sind Spuren zu sehen.« Ram runzelte ebenfalls die Stirn und kniff die Augen zusammen. »Du hast recht, Mädchen. Deine Augen sind schärfer als meine, aber jetzt sehe ich es auch. Doch wenn ich mich nicht täusche, hat irgend jemand bei den Mauern Spuren hinterlassen, oder?« »Ja«, sagte Sternenfalke ruhig. »Ja, das stimmt.« Sie wandte sich um. Sie befanden sich auf einer Anhöhe am Rande des Tals, in dem das Dorf Foonspay lag. Nun machten sie sich an den Abstieg. Immer wieder verlor die Kriegerin in dem Pulverschnee den Halt und rutschte einige Meter. Ram fiel ebenfalls einige Male, und wenn er in das Weiß stürzte, verschwand er für einige Sekunden in einer aufwirbelnden Wolke aus glitzernden Kristallen. Trotzdem bot er Sternenfalke mit unbeholfener Ritterlichkeit an, sie zu stützen, wenn der Hang besonders steil wurde. In der Nacht, die sie im ›Pfau‹ verbracht hatten, war zunächst Schnee gefallen, später Regen, der erneut von Schnee abgelöst wur de. Dadurch war das Vorankommen auf der Straße recht schwierig gewesen, und sie hatten viel Zeit verloren. Total erschöpft waren sie nun auf dem Weg nach Foonspay. In dem an den Weg grenzenden Wald war es still – und diese besondere Stille zerrte mehr und mehr an den Nerven Sternenfalkes. Sie lauschte und hoffte auf irgendein Geräusch. Doch kein flinkes Eichhörnchen ließ Schnee aus dem Geäst der Bäume rieseln. Kein Hase floh vor einem hungrigen Fuchs. Zwei Nächte lang vernahmen sie nicht einmal das Heulen von 157
Wölfen. Mehrmals machte die Kriegerin kurze Abstecher in den Wald, aber sie fand dort nicht die geringsten Spuren, weder von Vögeln noch irgendwelchen Tieren, die am Boden lebten. Sie war sicher, daß der Wald etwas vor ihnen verbarg, etwas, das selbst die Wölfe zum Schweigen brachte. Ihre Begleiter spürten es ebenfalls. Weiter voraus sah die Kriege rin die sechs Packtiere und den Esel als dunkle Flecken vor dem weißen und glänzenden Hintergrund des Schnees, das schimmernde Blau der Steppjacke Orris, den rotschwarzen Überwurf Anyogs, das grünbraune Karomuster des Mantels Kitz'. In der Erahnung einer noch gestaltlosen Gefahr drängten sich die Begleiter Sternenfalkes instinktiv zusammen. Und sie schreckten jäh auf, als sie mit Ram aus dem Wald hervortrat. »In der Stadt rührt sich nichts«, sagte die Kriegerin, als sie näher herankam. »Allem Anschein nach sind die Gebäude unversehrt… doch nur die Mutter mag wissen, was sich jetzt dort tut. Wir sollten uns in offeneres Gelände begeben. Anschließend sehen Ram und ich uns das Dorf einmal genauer an.« Die beiden Brüder nickten zustimmend, aber die dumpfe Besorg nis in ihren Mienen entging Sternenfalke nicht. Orris war im Grunde seines Herzens der Ansicht, eigentlich müsse er die Gruppe führen – obgleich er genau wußte, daß Sternenfalke sich aufgrund ihrer Kampferfahrung besser dafür eignete. Ram war sich zwar ebenfalls darüber klar, empfand es jedoch in gewisser Weise beschämend, Anweisungen von einer Frau entgegenzunehmen . Vermutlich, so überlegte Sternenfalke, als sie die Gruppe vor sichtig über das sanfte Gefälle der Straße führte, wären die meisten anderen Frauen angesichts der Fürsorge der beiden hünenhaften Männer zumindest geschmeichelt gewesen. Die Kriegerin aber emp fand diese Haltung ihr gegenüber nur als störend, und sie ärgerte sich darüber, daß die beiden Neffen Anyogs es ihr offenbar nicht zutrau ten, auf sich selbst achtzugeben. Besonders schlimm war, daß sie es nur gut mit ihr meinten. Sonnenwolf, so dachte sie, als sie einen kurzen Blick über die Schulter zurückwarf und den Waldrand beo bachtete, war zwar ebenfalls dazu geneigt, ihr zu helfen, aber er ging gleichzeitig davon aus, daß sie sich durchaus ihrer Haut zu wehren verstand. Sie blickte zum Himmel empor, der seltsam dunkel war – dunk ler, als er um diese Tageszeit hätte sein sollen – und sah dann erneut 158
zurück – eine Angewohnheit, die sie in den letzten Tagen entwickelt hatte. Nach und nach kamen sie der steinernen Mauer am Rande des Dorfes näher. Dahinter konnten sie die schneebedeckten Dächer der Häuser sehen. Sternenfalke beobachtete die Ortschaft aufmerksam, hielt nach irgendeinem Hinweis Ausschau, irgendeiner Bewegung. Ihre Unruhe nahm zu. Sternenfalke stolperte, und mit einem Fuß sank sie tief in den Schnee ein. Aus einem Reflex heraus griff sie nach dem Stirnriemen des Packtieres, das sie führte. Auf diese Weise wahrte sie das Gleichgewicht. Die anderen hinter ihr suchten eben falls nach Halt. Bis auf das leise Fluchen Orris' und das Knirschen der Hufe und Stiefel im Schnee war alles still. In dem malvenfarbe nen Zwielicht sahen die Fenster der Häuser aus wie dunkle Augen, die sie düster anstarrten. Orris' Stimme klang erschreckend laut: »Ihr solltet euch beson ders das große Haus in der Dorfmitte ansehen. Sowohl die Tür als auch die Fensterläden sind geschlossen. Dort dürfte es genug Platz für uns und auch die Tiere geben.« »Einverstanden«, pflichtete Sternenfalke ihm bei. »Ram… « Von einem Augenblick zum anderen riß sich das Packtier neben ihr los und wieherte ängstlich. Die Kriegerin drehte sich rasch um und beobachtete den Waldrand. Das Ungeheuer kam mit einer charakteristischen Zielstrebigkeit zwischen den Bäumen hervor, der augenlose Kopf schwankte auf einem langen dünnen Hals hin und her. »Nuuwa!« rief Sternenfalke. Drei weitere Ungeheuer wankten aus dem schneebedeckten Dickicht hervor. Sternenfalke fluchte. Sie erinnerte sich zwar an den Bericht Anyogs, wonach die Nuuwa in der letzten Zeit dazu neigten, sich in Rudeln zusammenzuschließen, aber dennoch war sie überrascht – und erschrocken. Sie warf dem Onkel der beiden Brüder rasch die Führungsleine des Packtieres zu. »In Richtung des großen Hauses!« rief sie den anderen zu. »Und bei der Mutter – beeilt euch…« In diesem Augenblick sah sie noch etwas anderes und hörte gleichzeitig ein dumpfes Brechen und Bersten im Wald. »Heilige Dreieinigkeit!« hauchte Anyog. Kitz schrie. Sternenfalke hatte noch nie in ihrem Leben so viele Nuuwa auf einmal gesehen. Es mußten zumindest zwanzig sein, die mit gieriger Entschlossenheit durch den Schnee stakten. Ihre langen in Klauen pranken endenden Arme schwangen hin und her. Die Kriegerin wir belte um die eigene Achse und folgte ihren Kameraden, so rasch, wie 159
sie zu laufen wagte, ohne das Risiko, das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen, zu groß werden zu lassen. Immer wieder sank sie tief ein und mußte dann ihre ganze Kraft aufwenden, um sich aus der kalten Umklammerung des Schnees zu befreien. Wie billiger Brandwein heizte die emporsteigende Panik ihren Leib auf. Sie erin nerte sich nun wieder an das Kind, das sie einmal gewesen war, an das kleine Mädchen, das schreiend in Richtung des Klosters floh, verfolgt von einem hungrig knurrenden und immer näher heran kommenden Ungeheuer. Jetzt aber hatte sie es nicht nur mit einem Nuuwa zu tun, sondern mit mehr als zwanzig. Sie schien immer langsamer voranzukommen, mit der Trägheit einer Flucht während der Entsetzens Visionen eines Alptraums. Und die Nuuwa sprangen nach wie vor durch Schnee und Eis, mit hungriger Zielstrebigkeit. Wie in einem Traum konnte Sternenfalke sie geradezu überdeutlich sehen – die fleckigen langen Zähne in den aufgerissenen Rachen, die leeren Augenhöhlen mit ihrem verbrannt wirkenden, schwarzen Narbengewebe, die eitrigen Risse im schlaffen Fleisch. Etwas weiter vorn fiel Kitz zum wiederholten Mal in den Schnee. Ram zog sie auf die Beine und zerrte sie mit sich. Sternenfalke blieb kurz stehen, um sie nicht zu überholen, und in Gedanken verfluchte sie sie für ihre Unbeholfenheit. Wenn Kitz und Ram noch einmal die ganze Gruppe aufhielten, so überlegte die Kriegerin rasch, würde es niemand von ihnen in die Sicherheit des großen Hauses schaffen. Der Begrenzungswall des Dorfes ragte wie der Steilhang eines Gebirges vor ihnen auf. Sie schätzte, daß der nächste Nuuwa – der direkt hinter ihr im Laufschritt durch den Schnee stakte – noch rund dreißig Meter entfernt war, und sie empfand das knurrende und gie rige Heulen des Ungeheuers als fast ohrenbetäubend. Sternenfalke erwog kurz die Möglichkeit, sich umzudrehen und zum Kampf zu stellen. Wenn sie stehenblieb, würden sich alle Nuuwa ihr zuwenden, dann konnten ihre Begleiter vielleicht entkommen… Unsinn, fuhr es ihr jäh durch den Sinn. Ich bin schließlich kein Stück Fleisch, das man Wolfen zum Fraß vorwirft… Gütige Mutter – das ist es! »Halt, Anyog!« rief sie. »Bleib stehen!« Nicht nur der alte Mann verharrte, sondern die ganze Kolonne. Die Packtiere zerrten nervös an den Leinen, und Kitz verlor erneut den Halt und fiel ein weiteres Mal in den Schnee. »Die anderen lau fen weiter!« rief Sternenfalke. »Anyog, bring eins der Lasttiere hier her! Schnell!« 160
»Was hast du denn vor… « setzte Orris an. Bei allen Geistern – er will sogar jetzt ein Gespräch mit mir füh ren! dachte die Krieger in zornig. »Verdammt, setz dich wieder in Bewegung und lauf!« »Aber…« »LAUF!« Anyog hatte sie inzwischen erreicht. Er zerrte eins der scheuen den Packtiere hinter sich her. Einige Sekunden lang befürchtete Ster nenfalke, Orris würde sich nach wie vor sträuben und damit ihr aller Leben aufs Spiel setzen, doch die sich nähernden Nuuwa machten ihm Beine. Mit ganzer Kraft zog er an dem Führungsseil der ihm anvertrauten Maultiere. Ram riß Kitz in die Höhe, und zusammen wankten sie so unsicher durch den Schnee, als seien sie vollkommen betrunken. Anyog schnaufte und keuchte. Sein Gesicht über dem Spitzbart war so weiß wie seine gestärkte Halskrause. Es gelang ihm schließ lich, das Maultier in die Reichweite Sternenfalkes zu zerren. Die nächsten Nuuwa waren nun nur noch rund zehn Meter entfernt, und sie heulten und grollten, als sie geifernd und sabbernd durch den Schnee heranliefen. Sternenfalke hieb das Schwert mit der Spitze voran in das kalte Weiß, riß den Dolch hinter dem Gürtel hervor und griff nach dem Stirnriemen des Tieres. Anyog begriff, was sie vor hatte, und er half ihr dabei, den Schädel des Tieres herunterzuzwingen. Das Maultier trat mit den Hinterbeinen aus und scheute. Die stählerne Klinge des Dolches bohrte sich ihm rasch in den Hals. Sofort schob die Kriegerin die kleine Waffe in die Scheide zu rück und nahm das Schwert zur Hand, noch bevor das sterbende Tier zu Boden gesunken war. Es stürzte in den Schnee und wieherte schrill im Todeskampf, während heißes Blut aus der klaffenden Wunde spritzte und dampfend das Eis schmolz. Sternenfalke und Anyog wandten sich um und liefen in Richtung des Dorfes, der alte Mann so flink wie eine zweibeinige Gazelle – bevor er sich über schätzte, das Gleichgewicht verlor und der Länge nach zu Boden stürzte. Aus den Augenwinkeln sah Sternenfalke ihn fallen – und gleich zeitig konnte sie beobachten, wie sich der erste Nuuwa hungrig über das verendende Maultier hermachte. Der Geruch des frischen Blutes lockte auch die anderen an, und mit ihren Klauenpranken zerrissen sie den warmen Kadaver. Anyog richtete sich auf und folgte Sternen 161
falke. Keiner von ihnen konnte es sich jetzt noch leisten, auf den anderen zu warten. Das hätte nur den Tod für sie beide bedeutet. Die Kriegerin hörte, wie die Ungeheuer hinter ihr das Fleisch zer fetzten, wie sie gierig schmatzten und knurrten. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, beobachtete sie nur aus den Augenwinkeln. Einer der Nuuwa war nahe genug, um sie einzuholen, bevor sie die Mauer des Gebäudes erreichen konnte. Zwei weitere Ungeheuer folgten ihm in einem etwas größeren Abstand. In Sekundenschnelle wirbelte sie herum und holte mit dem Schwert aus. Die Klinge schlitzte dem Nuuwa den Bauch auf, und das Unge heuer fiel. Blut quoll stinkend aus der großen Wunde. Doch dann sprang das Ungeheuer wieder auf und wankte grollend auf die Krie gerin zu, ungeachtet der tödlichen Verletzung. Ein anderer Nuuwa folgte ihm dichtauf. Und weitere waren gefährlich nahe, wie Ster nenfalke feststellte, nachdem sie dem ersten Ungeheuer endgültig den Garaus machte. Wenn sie Zeit verlor, bekam sie es mit mehreren Gegnern gleichzeitig zu tun, und das wäre ihr Ende. Zwei Nuuwa griffen sie an. Sie köpfte den einen, aber das Gewicht des anderen schleuderte sie in den Schnee. Der Gestank des Monstrums ver schlug ihr regelrecht den Atem, als es mit dem Rachen nach dem Leder ihres Mantels schnappte. Falke wand sich hin und her, schlug immer wieder mit dem Schwert zu und kämpfte gegen die Panik an, die sie angesichts des Anblicks des auf ihr hockenden Ungeheuers zu lähmen drohte. Wie aus weiter Ferne vernahm sie die schrillen Schreie Anyogs. Das Gewicht des Nuuwa preßte sie in den Schnee, und sie hatte nicht die Möglichkeit, das Schwert wirkungsvoll zum Einsatz zu bringen. Das zischende und grollende Maul versuchte immer wieder, ihr die langen spitzen Zähne in den Leib zu bohren. Falke nahm alle Kraft zusammen, und mit einem jähen Ruck gelang es ihr endlich, sich aus dem ledernen Überwurf herauszuwinden. Sie rollte sich zur Seite, sprang auf und lief auf die Häuser zu. Die graue Masse des großen Gebäudes in der Dorfmitte ragte vor ihr in die Höhe, und vor der Tür wieherten die entsetzten Maultiere. Das Knirschen der sich nähernden Schritte der Ungeheuer, ihr Knur ren und geiferndes Heulen hallte unnatürlich laut von den Hauswän den wider. Fast wäre Sternenfalke auf den vereisten Stufen der Ein gangstreppe ausgerutscht. Orris verfluchte lautstark die störrischen Tiere. Aus den Augenwinkeln sah die Kriegerin die Gestalt eines nahen Verfolgers: kein Nuuwa, sondern Anyog. Eins der Ungeheuer befand sich dicht hinter ihm und holte immer wieder mit den Klau 162
enpranken zum Schlag aus. Auf den Stufen der Treppe brachte ihn der Nuuwa zu Fall, direkt vor den Füßen des Kriegerin, und ein stinkender Rachen verbiß sich in die Seite des alten Mannes. Sternenfalke eilte auf sie zu. Die Klin ge ihres Schwertes blitzte auf und bohrte sich in den Leib des Unge heuers. Die anderen Nuuwa waren nur noch wenige Meter entfernt. Falke zerrte den alten Mann auf die Füße und stieß ihn in Richtung der purpurnen Masse, die sie als Ram wiedererkannte. Ein zu schnappendes Maul zerriß ihr einen Teil des Stiefels, als sie durch die Tür sprang. Das Donnern, mit dem das Tor ins Schloß fiel, schien das ganze Haus erzittern zu lassen. Draußen brüllten die Nuuwa. Sie legte Anyog neben dem Feuer zu Boden, das Kitz inzwischen im großen Kamin der Eingangshalle entzündet hatte. Ganz offen sichtlich war das die Herberge Foonspays, und es gab einige Anzei chen dafür, daß ein Großteil der Bevölkerung dieses Dorfes sich hier zumindest einige Tage lang verbarrikadiert hatte. Mit improvisierten Verbänden, Nadel und Faden, heißem Wasser und billigem Wein machte sie sich an die Behandlung Anyogs, und während sie sich um ihn kümmerte, überlegte sie, wie viele Männer, Frauen und Kinder Foonspays ums Leben gekommen waren, bevor die anderen die Flucht ergriffen hatten. Ob sie an einem anderen Ort sichere Zuflucht gefunden hatten – gab es überhaupt irgendwelche Überlebende? Ram und Orris griffen nach Fackeln und erkundeten die Herber ge, während Kitz einen Platz für die Maultiere suchte. Von draußen kam das dumpfe Knirschen der Schritte im Schnee und dann und wann ein Grunzen und Knurren. Im Innern des großen Gebäudes blieb alles still. Es hieß, die einstigen Zauberer seien auch Heiler gewesen – mit ihrer magischen Macht dazu in der Lage, die Infektionsherde des Wundbrandes auszumerzen, Blutungen zu stillen und Schmerz zu lindern. Als Sternenfalke den alten Mann betrachtete, wußte sie, daß eine solche Macht notwendig war, um das Leben Anyogs zu retten. Über dem dunklen Geflecht seines Bartes waren die Wangen so farblos wie Wachs, und Schweißperlen glänzten auf der faltigen Stirn. Als Kriegerin wußte Sternenfalke die Anzeichen des nahen Todes als solche zu deuten. Sie wußte später nicht mehr zu sagen, wie lange sie sich um den alten Mann gekümmert hatte. Sie hockte an seiner Seite und beo bachtete, wie das unstete Licht des Feuers bunte Reflexe über die 163
farblosen Wangen tanzen ließ. Sie hatte keine Ahnung, wo sich die anderen befanden, und eigentlich, so dachte sie einmal, spielte es auch keine Rolle. Sie waren mit sich selbst beschäftigt, mit dem Problem ihres eigenen Überlebens. Und es wäre nicht richtig gewe sen, überlegte Falke, es ihnen mit der Nachricht vom ihr sicher er scheinenden Tod Anyogs noch schwerer zu machen. Als der Ver wundete von ihr hereingetragen worden war, hatten sie alle gewußt, daß er sterben würde. Nach einer Weile fühlte sie, wie sich die dünnen kalten Finger Anyogs bewegten, und leise krächzend flüsterte der alte Mann: »Kriegertäubchen?« »Ich bin hier«, sagte Sternenfalke, und sie achtete darauf, daß ih re Stimme möglichst ruhig und unbesorgt klang. Um ihn aufzumun tern, fügte sie hinzu: »Wir werden dich bald bei deiner Schwester abliefern.« Sie hörte sein leises Lachen, gefolgt von einem schmerzerfüllten Stöhnen. Dann murmelte Anyog: »Und du, Täubchen?« Sie zuckte mit den Achseln. »Kitz und ich setzen die Reise fort.« »Ja.« Das Wort war nicht mehr als ein atemloser Hauch. »Nach Grimmwall?« Eine Zeitlang schwieg Sternenfalke. Sie saß mit dem Rücken an den Kamin gelehnt und sah auf die dürre Gestalt des Alten herab, auf die blutbefleckten Decken, die ihn wärmen sollten. Dann nickte sie und erwiderte schlicht: »Genau.« »Aha«, flüsterte Anyog. »Welches andere Ziel hättest du beson ders meinen beiden dickschädligen Neffen gegenüber geheimhalten sollen?« Und er murmelte: »Aber sie haben recht, kriegerisches Täubchen. Geh nicht dorthin, Mädchen. Altiokis zerstört alles, was gut und rein ist. Er wird sowohl dich als auch die prächtige Kitz vernichten – nur weil ihr das seid, was ihr seid.« »Es bleibt uns keine andere Wahl«, sagte Falke sanft. Anyog schüttelte den Kopf und schlug die dunklen Augen auf, die fiebrig glänzten. »Verstehst du denn nicht?« wisperte er. »Man kann nur die Zitadelle betreten, wenn man entweder ebenfalls ein Zauberer ist – oder ein Gefangener oder Sklave. Nur jemand, der wie Altiokis die Künste der Magie kennt, kann den Kampf gegen ihn aufnehmen. Ohne das Wissen um diese Macht ist man ihm hilflos ausgeliefert. Mit Trugbildern und magischen Fallen wird er jeden Widersacher in den Tod locken. Seine Macht ist alt und umfassend und nicht die menschliche Magie. Sie gründet sich vielmehr auf den 164
Zauber der Finsternis und des Unheils«, murmelte der alte Mann, und erneut schoben sich die faltigen Lider über die trüben Augen. Auf seinen Wangen entstanden dunkle Flecken. »Einen Zauber, dem niemand gewachsen ist.« Irgend etwas raschelte in der Dunkelheit. Sternenfalke hob ruck artig den Kopf, ihre Muskeln spannten sich. Aber nirgends in den finsteren Schatten des Saales rührte sich etwas, das auf Gefahr hin gedeutet hätte. So vorsichtig wie eine Mutter, die ihr kleines Kind nicht aufwecken will, zog sie die Hände unter denen Anyogs hervor und stand auf. Das Schwert schien sich ihr von ganz allein in die Faust zu schieben. Sie erreichte das steinerne Bogentor, das in den Saal führte, und horchte. Auch auf dem Flur war nicht das geringste Geräusch zu hören. Alles blieb still. Als sie an den Kamin zurückkehrte, war der alte Mann einge schlafen. Die kleinen weißen Hände, die nie härtere Arbeit als das Spielen von Musik oder das Schreiben von Versen verrichtet hatten, ruhten reglos auf der schmalen Brust. Die Kriegerin vergewisserte sich, daß Anyog noch atmete, wenn auch recht flach, und nahm dann wieder dort Platz, wo sie zuvor gesessen hatte. Eine sonderbare, dumpfe Ruhe überkam sie. Sie wußte, daß Anyog recht hatte: Ohne die Hilfe eines Zauberers konnte sie nicht darauf hoffen, in die Zita delle einzudringen und Sonnenwolf aus der Gewalt Altiokis' zu be freien. In gewisser Weise, so überlegte sie, waren Kitz und sie sich von Anfang an darüber klargewesen – nur hatte es niemand von ihnen zugeben wollen, ebensowenig wie sie dazu bereit waren, den Söldnerführer einfach seinem Schicksal zu überlassen. In der dunklen Stille hing Sternenfalke ihren eigenen Gedanken nach und begann eine ruhige Meditation. Sie konzentrierte den Blick ihrer inneren Augen auf den Unsichtbaren Kreis, auf jene Musik, die nur sie hören konnte. Viele der Nonnen im Kloster hatten zu Beginn immer ins Feuer gesehen. Aber Sternenfalke war eine zu erfahrene Kriegerin, um sich auf diese Weise zu blenden: Im Falle einer Ge fahr hätte es zu lange gedauert, bis sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnten. Während der langen Jahre als Söldnerin hatte sie vielmehr gelernt, den Ruhepol für die Meditation in ihrem eige nen Bewußtsein zu finden. Das Feuer im Kamin knisterte leise, und das immer neue Farben spiel der Flammen und der Glut gestaltete die über die Wände geis ternden farbigen Schatten in ständig neuen Variationen. Nach und nach wurde sich Sternenfalke intensiver der Luft bewußt, die durch 165
die langen Korridore der dunklen Herberge seufzte, das Gewicht der Deckenbalken, der Belastung, die sie aushalten mußten, des gepreß ten Strohs im Dachboden, des Mondes, der jenseits der Wände über den Horizont gestiegen war und dessen perlmuttenes Licht auf dem weißen Schnee glitzerte – auch der Maultiere, die in der Dunkelheit eines improvisierten Stalles schliefen, Kitz, die dort leise weinte, der beiden hünenhaften Brüder, die noch immer die Herberge durch streiften, der Nuuwa, die draußen auf der Lauer lagen und nach wie vor nach menschlichem Fleisch gierten, auch der Sterne in der fernen Nacht. Sie spürte es auch, als sich kurz darauf magische Kraft zu mani festieren begann. Es war, als klänge aus der Ferne eine leise Melodie an ihre Oh ren. Es war, als röche sie in einem finsteren Zimmer den Duft einer einzelnen Rose. Sie hatte nicht geahnt, daß sich Magie so anfühlen könnte. Es ließ sich nicht mit Feuer vergleichen, das sich von geball ten Händen löste, auch nicht mit den Trugbildern und Fallen, den tödlichen Gespinsten, die Altiokis wob und von denen man sich schon seit vier Generationen die schrecklichsten Geschichten erzähl te. Es war hingegen etwas Schlichtes, wie die Aura aus besonderer Helligkeit, in die die alte Schwester Wellwa damals des öfteren ge hüllt gewesen zu sein schien – vergleichbar etwa mit der Meditation, andererseits aber etwas, was nicht ruhte, sondern sich bewegte. Sie hörte die schwache Stimme Onkel Anyogs, der in der Dun kelheit heilende Zaubersprüche formulierte. Noch rechtzeitig genug verließ das Ich Sternenfalkes die Ruhe kammer der Meditation. Anyog murmelte noch eine Zeitlang und verstummte dann. Ohne die besondere, meditative Wahrnehmung hätte die Kriegerin vielleicht nur angenommen, der Verwundete habe im Fieberwahn gestöhnt – und vielleicht hoffte der alte Mann, daß sie von einer solchen Vermutung ausging. Reglos blieb er liegen. Die geöffneten Augen reflektierten den zinnoberroten Glanz der Glut im Kamin. Sternenfalke rückte auf ihn zu und legte ihre Hand auf die seine. »Du bist ein Zauberer, nicht wahr?« fragte sie leise. Anyog gab ein heiseres Ächzen von sich, das kaum Ähnlichkeit mit einem gedämpften Lachen hatte. »Ich? Nein.« Die Kriegerin spürte, wie sich die dünnen Finger unter den ihren bewegten, aber es mangelte ihnen an der Kraft, sich um ihre Hand zu schließen. »Ein mal dachte… dachte ich, ich hätte… vielleicht die Gabe. Aber ich 166
fürchtete mich. Vor Altiokis, auch vor der Großen Prüfung. Ich… ich lief fort, verließ meinen Magier… gab vor, an anderen Dingen sei mir mehr gelegen. Musik… Gedichte… Ich floh, weil ich Angst hatte, den Argwohn des Magischen Königs zu erwecken. Ich sam melte einige Zauberformeln, ja, und ich dachte immer wieder daran, was ich hätte werden können.« Die fiebrig glänzenden Augen sahen zu Sternenfalke auf. Über ihnen knarrten die Deckenbalken unter dem Gewicht der beiden Brüder, die sich nun im ersten Stock befanden. Irgendwo in der Fins ternis schnaubte ein Maultier ins Heu. »Ach, Kriegertäubchen«, flüsterte der alte Mann, »was suchst du denn beim Magischen Kö nig? Was für einen Traum sehe ich in deinen Augen? Einen Traum, der, folgst du weiterhin seinen Bildern, dich in den Tod führen wird… « Sternenfalke schüttelte ernst den Kopf. »Es ist kein Traum«, er widerte sie mit gedämpfter Stimme. »Altiokis hat den Söldnerführer verschleppt und hält ihn gefangen.« »Ach…« Es war kaum mehr als ein Hauch. »Altiokis. Mein Kind, was er einmal in seine Gewalt gebracht hat, gibt er nicht ohne weiteres wieder frei. Selbst wenn du einen Zauberer finden könntest – einen echten Zauberer – , der dir hilft, du hättest trotzdem keine Chance, dich gegen Altiokis durchzusetzen. Vermutlich würdest du noch vor dem Mann sterben, den du befreien möchtest.« »Vielleicht«, sagte Sternenfalke ruhig, schwieg eine Weile und starrte in die verblassende Glut im Kamin. Schließlich fügte sie hin zu: »Hast du durch die Aufgabe deines Traumes ein Mehr an Glück und Sicherheit gefunden, Anyog?« Das faltige Gesicht des alten Mannes verzog sich kurz vor Schmerz und entspannte sich dann. Sternenfalke glaubte schon, der Verwundete sei wieder eingeschlafen, aber nach einiger Zeit beweg ten sich seine Lippen. Anyogs Stimme klang schwach, als er krächz te: »Diesen Mann, den du retten willst… « murmelte er, »du mußt ihn mehr lieben als dein eigenes Leben.« Sternenfalke wandte den Blick von ihm ab. Die Worte bereiteten ihr solche Pein… Doch mußte sich die Kriegerin eingestehen, daß der alte Mann recht hatte. Seine Worte formulierten die Wahrheit, die sie die ganze Zeit nicht nur vor den anderen Kämpfern der Söld ner-Streitmacht verborgen hatte, sondern auch vor Sonnenwolf selbst und ihrem eigenen Gewissen. Seit Jahren redete sie sich ein, daß sie sich in erster Linie durch ihre Loyalität dem Anführer gegenüber an 167
Wolf gebunden fühlte – und das hatte ihr in Hinsicht auf seine vielen Konkubinen zumindest die Eifersucht erspart. Von Kindesbeinen an war sie davon überzeugt gewesen, nicht sonderlich attraktiv zu sein, und Sonnenwolf bevorzugte ganz offensichtlich hübsche Mädchen. Aber sie war auch nicht die einzige, die ihn mehr liebte als das eigene Leben. Verbittert preßte Sternenfalke die Lippen zusammen und starrte mit trockenen Augen in die Dunkelheit. Da die Wahrheit nun einmal ausgesprochen war, konnte sie sie nicht länger leugnen, aber sie verstand nun auch, warum sie sich von Anfang an selbst etwas vor gemacht hatte. Alles war besser als diese innere Qual. In der Küche der Herberge wurde die Stimme Rams laut, und Sternenfalke vernahm sie durch die halb geöffnete Tür, die in den Schankraum führte, in dem sich die Kriegerin aufhielt. Er richtete einige Worte an Orris, forderte seinen Bruder offenbar dazu auf, die Fensterläden besser zu verriegeln, und Falke seufzte. Ob ihre Gefüh le Sonnenwolf gegenüber sich nun auf die Loyalität eines Söldners oder die Liebe einer Frau gründeten, ob er jemals von ihnen erfahren würde oder gar nicht mehr die Gelegenheit dazu hatte, weil er längst tot war – das alles änderte nichts an der Tatsache, daß sie in einer Herberge festsaß, die von hungrigen Nuuwa belagert wurde. Das Wichtigste zuerst, dachte sie sich, zwang sich zu emotionaler Kühle und stand auf. Es wird sich bestimmt noch eine Gelegenheit bieten, sich mit Liebe – und Magie – zu befassen. Vorausgesetzt, du über lebst diese Nacht. Als sie in die Küche trat, unterhielten sich die beiden Brüder leise im Schatten zwischen dem großen Herd. Das Licht der Fackel, die Orris in seiner riesigen Hand hielt, spiegelte sich in den Kupferpfan nen und glitzerte im Trinkwasser des nahen Beckens. Draußen hörte sie die Nuuwa, deren Klauen über das harte Holz der Fensterläden kratzten, lauschte kurz ihrem Knurren und Grollen, das dann und wann von einem anhaltenden Heulen unterbrochen wurde. »Wie geht's ihm?« fragte Orris. Sternenfalke schüttelte den Kopf. »Er ist zäher, als ich dachte«, entgegnete sie. »Ich hätte gewettet, daß er keine Überlebenschance hat – und wäre dadurch vermutlich arm geworden. Ist hier alles in Ordnung?« Die beiden Brüder wirkten ziemlich verblüfft. Orris erholte sich als erster von seiner Überraschung und bestätigte, die Fensterläden seien fest verriegelt. »Einige haben wir mit Keilen gesichert«, fügte 168
er hinzu. »Himmel, unten im Holzlager gibt es zwar genügend Äxte und Keile, leider aber kaum Holz. Nun, zu der Frage, wie wir aus diesem Loch mit heiler Haut herauskommen…« »Wir werden es schon schaffen«, sagte Sternenfalke. »Wenn es zum Schlimmsten kommt, packen wir Onkel Anyog auf eins der Lasttiere und lenken die Nuuwa mit den anderen ab.« »Aber die Pelze!« wandte Orris erschrocken ein. »Und die Vorrä te! All die Werte…« »Mutter wird uns umbringen«, fügte Ram hinzu. »Wenn die Nuuwa etwas von euch übriglassen«, sagte Sternen falke. »Wo ist Kitz?« Sie fand die junge Frau im Salon, den sie in einen Stall verwan delt hatten. Das gedämpfte Schluchzen war es, das Sternenfalke den Weg zu ihr gewiesen hatte. Im Zimmer und auf dem Korridor war es stockfinster. Sternenfalke blieb neben dem steinernen Bogen der Tür stehen und lauschte dem leisen Weinen. Gerne wäre sie zu der jun gen Frau gegangen, um sie zu trösten. Doch irgend etwas hielt sie davon zurück – vielleicht die Bedeutung der Worte, die Anyog zuvor an sie gerichtet hatte. Sie liebte Sonnenwolf. Sie liebte ihn nicht auf die Art und Weise wie eine Kriegerin ihren Feldherrn, sondern wie eine Frau einen Mann. Und sie konnte sich nicht vorstellen, jemals einen anderen zu lieben. Liebe bedeutete, sich dem Willen des Partners zu unterwerfen. Als Kind hatte Sternenfalke immer wieder erlebt, wie sich ihre Mut ter dem Willen des Vaters fügte – trotz ihrer beiderseitigen Liebe. Sie erinnerte sich auch an die Mädchen, die sich an Diensteifrigkeit gegenseitig zu überbieten versucht hatten, um zu den demütigen Gattinnen der Brüder Sternenfalkes zu werden, um ihnen das Brot zu backen und die Kleidung zu waschen, die die Schönheit der Jugend aufgaben, um ihnen Söhne zur Welt zu bringen. Sie erinnerte sich an Kitz und an all die anderen sanften und gehorsamen Mädchen, die Sklavinnen Sonnenwolfs gewesen waren – ob er sie nun mit Geld gekauft hatte oder nicht. Dann und wann war es vorgekommen, daß Sonnenwolf Sternen falke zu Dingen aufgefordert hatte, von denen sie nicht viel hielt. Doch immer hatten seine Anweisungen einen guten Grund gehabt – einen ehrlichen Grund, hinter dem sich keine Mehrdeutigkeiten verbargen. Von seiner Schülerin war sie zu seiner Freundin gewor den – vielleicht sogar zu der besten, die er jemals gehabt hatte. Trotz 169
der Kameradschaft, die ihn mit den anderen Kämpfern verband, wahrte ein Teil von ihm eine gewisse Distanz zu ihnen, jener Teil, der an langen Winterabenden über Theologie zu diskutieren liebte oder Steine in einem Garten zu immer neuen Mustern anordnete, bis sie seinen Vorstellungen von Schönheit und Perfektion entsprachen. Sternenfalke hatte er diesen Aspekt seines Wesens gezeigt – nur ihr. Doch das Mädchen, das sie nun beobachtete, war seine Bettpart nerin. Meine Rivalin, dachte Sternenfalke mit einem Anflug von Bitter keit. Was wird sich ändern zwischen mir und der jungen Frau, mit der ich in den Bergen ein dutzendmal an abendlichen Lagerfeuern hockte? Zwischen mir und meiner Gefährtin, die wachte, während ich schlief, die mit den Wirten und Herbergsvätern über Preise ver handelte? Wird es irgendwann dazu kommen, daß wir übereinander herfallen wie zwei Furien, daß wir uns streiten wie zwei Dorfmäd chen, die um die Zuneigung eines Tölpels aus der gleichen Siedlung kämpfen? Diese Vorstellungen entsetzten die Kriegerin, erweckten den gleichen Abscheu in ihr wie die Erinnerung an die Geliebten ihrer älteren Brüder, die jene Gelegenheit nutzten, um ihre Rivalinnen auszustechen. Und: Hat Kitz mir denn etwas genommen, was ich irgendwann einmal hätte bekommen können? Ich habe meine Familie verlassen, Sonnenwolf Treue geschworen und viel gelitten, um die harten Küns te des Krieges zu erlernen. Nichts davon bereue ich – doch ich darf mir keine falschen Hoffnungen machen, muß mich daran erinnern, daß er mich nie als Frau wollte. Genügt es denn nicht, seine beste Freundin zu sein? Aber dann erinnerte sich Sternenfalke, wie Kitz sanft und zärtlich die Hände auf die breiten Schultern Sonnenwolfs gelegt und ihn dort geküßt hatte, wo sich sein Haar lichtete. Nein, es genügte nicht. Mit einer jähen und sonderbaren geistigen Klarheit begriff Ster nenfalke auch, daß Kitz all die Eigenschaften aufwies, die ihr man gelten: Anmut, Eleganz, die Fähigkeit, Liebe zu empfangen, ohne gleichzeitig den Beweggründen des Partners zu mißtrauen, jene Art von sanfter Fügsamkeit, die Sonnenwolf noch stärker machte, als er ohnehin schon war – und den Zauber ihrer Schönheit, der sie in den Augen des Söldnerführers zu einem Juwel machte. Es wäre einfacher, dachte die Kriegerin, hätte man Kitz als ein schmutziges und vulgäres Flittchen bezeichnen können. In einem 170
solchen Fall wäre ich mir wesentlich problemloser über meine Ge fühle klargeworden. Aber dann hätte Sonnenwolf sie auch nicht zu sich genommen. Und Kitz würde nicht alles aufgegeben haben, um sich auf die Suche nach ihm zu machen und ihr Leben für ihn zu riskieren. Kitz war erst achtzehn Jahre alt, fürchtete sich und schluchzte. Allein dieser Umstand war es, der Sternenfalke dazu veranlaßt hatte, sich an die Seite der jungen Frau zu begeben, ihr Mut zuzusprechen und in die Arme zu schließen, die es nicht gewöhnt waren, zu umar men. Trotz ihrer Erschöpfung schlief die Kriegerin in jener Nacht nach ihrer Wache schlecht. Wieder und immer wieder erinnerte sie sich der Worte Anyogs: Du mußt ihn mehr lieben als dein eigenes Le ben… Nur ein anderer Zauberer vermag in die Zitadelle Altiokis' vorzustoßen… Seine Macht ist alt und umfassend… Eine böse Magie, die alles Gute zerstört… Verliebe dich nie und laß dich nicht auf magische Dinge ein… In ihren Träumen stolperte Sternenfalke durch unendliche finste re Irrgärten, in denen Baumstämme die Steine der Mauern auseinan derzwangen und Kletterpflanzen aus stinkenden Pfützen wuchsen. Sie suchte nach jemandem, nach jemandem, der ihr helfen konnte, und es kam so sehr darauf an, daß sie ihn fand, bevor es zu spät war. Bisher hatte sie noch nie fremde Hilfe gebraucht. All ihre Probleme hatte sie allein gelöst, all ihre Kämpfe allein ausgefochten – und sie wußte nicht, wie man um Hilfe bat. In der Dunkelheit hörte sie das leise Geräusch der raschen Schritte Schwester Wellwas, die sich von ihr entfernten, sah den matten Glanz der gestärkten Halskrause Any ogs. Und hinter ihr, aus dem muffigen Labyrinth der Bäume und Ranken, erklangen andere Geräusche, massige Körper, die sich be wegten, zischendes und fauchendes Atmen. Sternenfalke versuchte, sich aus den Wirren des Traumes zu befreien, aber sie war zu mü de… Knirschen und gieriges Grunzen näherten sich ihr. Es kam einer großen Anstrengung gleich, die Augen zu öffnen. Die Kriegerin sah Kitz, die sich über den Onkel beugte, um seine geflüsterten Worte besser zu verstehen. Die junge Frau hatte die Lippen zusammengepreßt, so daß sie nunmehr einen dünnen Strich bildeten. Es war stickig im Zimmer. Während sich Sternenfalke noch alle Mühe gab, die Benommenheit des Schlafs zu überwinden, hörte sie die Schritte Rams und Orris', die irgendwo in der Herberge ihre Runde drehten, dann und wann auch ihre gedämpften Stimmen. 171
Onkel Anyog schwieg, und Kitz ging in die Hocke, um ihm den Schweiß von der Stirn und den eingefallenen Wangen zu wischen. Anschließend richtete sie sich wieder auf und zog sich den ka rierten Mantel enger um die Schultern. Die verglühende Asche des Feuers ließ in ihrem losen Haar einige Strähnen bernstein- und kas tanienfarben glänzen. »Wohin gehst du?« fragte Sternenfalke laut. »Ich möchte nur ein wenig Wasser holen«, erwiderte Kitz und streckte die Hand nach dem Knauf der Küchentür aus. In dem anderen Raum gab es eine Spüle, erinnerte sich die Krie gerin, und es fiel ihr noch immer schwer, ganz in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sie hatte sie während des Gesprächs mit Ram und Orris gesehen, neben der massiv wirkenden Dunkelheit des großen Kamins… des Kamins… »Nein!« rief sie laut, und dieser Schrei vermischte sich mit dem Gellen Kitz', als sie die Küchentür öffnete. Als Sternenfalke später an diesen Zwischenfall zurückdachte, kam sie zu dem Schluß, daß sie schon auf den Beinen gewesen war, noch bevor sich die Küchentür ganz geöffnet hatte. Sie griff nach der Decke und benutzte sie wie ein Schild. Der wollene Stoff und der dicke Umhang, den sich Kitz zuvor übergeworfen hatte, genügten, um den ersten Nuuwa abzulenken und die junge Frau davor zu be wahren, ein Opfer der Klauen zu werden. Zwei weitere Ungeheuer setzten über das erste Monstrum hinweg, das auf der Schwelle lag und heulend und fauchend Decke und Mantel zerfetzte. Sternenfalke enthauptete einen der beiden anderen Nuuwa, wirbelte dann herum und hieb auf den anderen ein, der die Zähne in Kitz' Arm gebohrt hatte. Der Schädel des Ungeheuers fiel zu Boden und polterte davon, und die Kiefer des Rachens mahlten noch immer. Die Pranken des kopflosen Monstrums hielten nach wie vor die junge Frau fest, so als sei auch der Halsstumpf dazu in der Lage, sie zu verschlingen. Als Sternenfalke die Küchentür zustieß, bemerkte sie für einen Sekundenbruchteil Bewegungen in der Nähe des Kamins, massige Leiber, die aus der Dunkelheit heraneilten. Rasch schob sie den Rie gel vor. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf Ram und Orris, die auf den Torso einschlugen. Die Klauenhände hielten nach wie vor die junge Frau umklammert. Im Lichtschein der Fackel Rams konnte man deutlich erkennen, daß der Leib des Ungeheuers mit Ruß be deckt war, der sich inzwischen mit Blut vermischt hatte. Kitz hatte das Bewußtsein verloren. Einen schrecklichen Augenblick lang be 172
fürchtete Sternenfalke, die junge Frau sei tot. Sonnenwolf würde mir das niemals verzeihen… Meine Rivalin… Habe ich mit voller Absicht zu spät eingegriffen? Große Mutter, kein Wunder, daß er immer wieder behauptet, es sei gefährlich für einen Krieger, zu lieben! So etwas behindert… »Sie kommen durch den Kamin«, sagte sie. »Bestimmt sind auf dem Dach noch weitere Nuuwa.« Mit einer Flinkheit, die angesichts der hünenhaften Gestalt er staunlich wirkte, war Ram am nächsten Fenster und spähte durch einen kleinen Riß der Läden in die vom Mondschein trüb erhellte Nacht. In der Küche knarrte und krachte und heulte und fauchte es, und der große Riegel der Tür zitterte in den Scharnieren, als sich auf der anderen Seite schwere Leiber gegen das Holz stemmten. »Sollen wir einen Ausbruch wagen?« fragte Ram und wandte sich wieder um. Durch den Riß in der Fensterlade glänzte perlmutte nes Licht. »Hast du den Verstand verloren?« platzte Orris heraus. »Die Nuuwa würden sofort vom Dach springen und über uns herfallen.« »Und wenn wir das Wirtshaus in Brand stecken?« »Hör mal, du von Schmierern heimgesuchter Einfaltspinsel: Be stimmt bleiben einige der Ungeheuer zurück, um die Türen zu bewa chen…« »Nein«, widersprach Sternenfalke. Sie war an die Fenster in der gegenüberliegenden Wand getreten und öffnete die Laden einen Spaltbreit. Durch die schmale Öffnung fiel der Blick der Kriegerin auf den weißen Schnee der leeren Straße. »Nuuwa sind nicht intelli gent genug, ihr Angriffsverhalten aufeinander abzustimmen, wie es zum Beispiel bei Wölfen der Fall ist. Da sie jetzt eine Möglichkeit entdeckt haben, in diese Herberge zu gelangen, werden alle Unge heuer durch den Kamin in die Küche klettern. Ach, sie haben nicht einmal genug Grütze im Kopf, um sich gemeinsam gegen die Tür zu werfen oder den Tisch als Rammbock einzusetzen.« Orris stand auf und trug die reglose Kitz' in den Armen. Sie war ganz blaß und weiß, und auf dem Nachthemd zeigte sich ein großer scharlachroter Fleck. »Bei den Heiligen Drei!« entfuhr es Orris. »Geschöpfe, die noch dümmer sind als mein idiotischer Bruder! Ich dachte, solche Wesen gäbe es überhaupt nicht.« »Wenn du nicht schnellstens die dicken Schlegen in Bewegung setzt, die du in all den Jahren als deine Füße bezeichnet hast, werden 173
sie noch Moos ansetzen und Wurzeln schlagen, und dann kannst du die Bekanntschaft mehr dummer Geschöpfe machen, als dir vermut lich lieb ist!« erwiderte Ram scharf und machte sich rasch auf den Weg in den Salon, wo sie die Maultiere untergebracht hatten. Ster nenfalke griff unterdessen nach Fackeln, raffte Bettzeug zusammen und lauschte nach dem wütenden und gierigen und lauter werdenden Geheul in der Küche. Hastig schob sie alles Brennbare vor die Kü chentür und entzündete eine der Fackeln. »Was ist mit Anyog?« fragte Orris und kniete sich neben dem alten Mann zu Boden. »Wir haben nicht die Zeit, eine Bahre für ihn anzufertigen… « »Dann wirf ihn dir wie einen Mehlsack über die Schultern«, er widerte Sternenfalke, die selbst mehrmals auf diese Weise von Schlachtfeldern getragen worden war. »Wir können jetzt keine be sondere Rücksicht auf ihn nehmen. Und wenn wir ihn hierlassen, ist das der sichere Tod für ihn.« Sie sah, wie sich die Angeln der Tür durch das enorme Gewicht, das sich auf der anderen Seite gegen das Holz stemmte, aus dem Mauerwerk zu lösen begann. Orris starrte sie groß und entsetzt an. »Himmel und Hölle, beweg dich endlich!« Sie fuhr ihn so an, wie sie es auch im Falle eines verwirrten Soldaten in der Schlacht gemacht hätte. »Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlie ren!« Orris beeilte sich, ihrer Aufforderung nachzukommen. Wenn A nyog Zauberer ist, so fuhr es der Kriegerin durch den Sinn, so wird er alle seine magischen Kräfte nutzen, um zu überleben – auch auf die Gefahr hin, daß Altiokis aufmerksam wird. Hoffen wir das Beste. Es stellte sich heraus, daß die beiden Brüder auf ihre eigene Art und Weise ebenso professionell waren wie Sternenfalke. Sie konnten fünf Maultiere und einen Esel mit der blitzartigen Geschwindigkeit beladen, die in einer derartigen Notsituation erforderlich war. Es schien nur einige wenige Sekunden zu dauern, bis sich die Lasttiere im Flur befanden, und Orris trieb sie an, verfluchte sie und schlug mit einer Rute auf sie ein. Ram kehrte an die Seite Sternenfalkes zurück, mit Axt und Keilen aus dem Lager, die in seinen großen Händen wie zerbrechliche Spielzeuge wirkten. Aus den Augenwin keln sah die Kriegerin ein längliches und eingemummtes Bündel: Onkel Anyog, der auf dem Rücken eines Maultiers festgebunden war. Und Kitz, der es irgendwie gelungen war, wieder auf die Beine zu kommen, die sich in den dunklen Mantel des alten Mannes gehüllt hatte und sich nun taumelnd in Bewegung setzte, um die große Au 174
ßentür zu öffnen. Eiskalte Luft wehte ihnen entgegen. Das Geschrei der Ungeheuer in der Küche war so laut geworden, daß Sternenfalke kaum mehr ihr eigenes Wort verstehen konnte. Die Angeln mochten nun jeden Au genblick nachgeben. In Begleitung Rams eilte die Kriegerin rasch durch die Räume der Herberge. Flammen leckten über das Holz der Wände und knisterten im Stroh, das sie im umfunktionierten Salon ausgebreitet hatten. Die Küchentür brach auf, als Sternenfalke durch den brennenden Schankraum zu Ram zurückkehrte, dessen Gestalt sich vor dem Dunkel der kalten Nacht abzeichnete. Mit einem halben Dutzend Keilen sperrten sie die Außentür. Die Kriegerin sprang die kurze Treppe hinunter, gesellte sich zu Orris, der mit den Lasttieren vor der Herberge wartete, und drehte sich um. Vor dem flackernden Glanz der Flammen, die nun schon aus dem Dach züngelten, erkannte sie die dunklen Silhouetten der Nuuwa, die heulten und schrien wie die Seelen der Verdammten in der trinitari schen Hölle. Sie wurden nicht behelligt, als sie die Siedlung verließen. Und während sie der Straße folgten, die sich in die Berge jenseits der Stadt hineinwand, sahen sie hinter sich noch eine ganze Zeit das Glühen des brennenden Wirtshauses.
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10. Kapitel »Mutter weint.« Beim Klang dieser unbekannten und leisen Stimme sah Sonnen wolf auf und blickte sich im regennassen Garten um. Sheeras Toch ter Trella, die mit Kelle und Harke in den winzigen Händen neben ihm saß, erwiderte unwillkürlich: »Das glaube ich nicht.« Der kleine Junge, der diese Neuigkeiten brachte, wanderte vor sichtig über den feuchten umgegrabenen Boden hinweg auf den großen Felsen zu, auf dem sich der Söldner in Begleitung des Mäd chens ausruhte. Er achtete mit großer Sorgfalt darauf, sich seine schwarzen Hausschuhe und die gleichfarbige Hose nicht mit Schlamm zu verschmutzen. Trella hingegen – sie war sechs Jahre alt und ging Sonnenwolf zur Hand, seit er in die Dienste Sheeras getre ten war und sich um den Garten kümmerte – hegte ganz offensicht lich keine solchen Befürchtungen. Sie hatte sich den schwarzen Wollrock fast bis zu den Oberschenkeln hochgezogen, und die dün nen in knittrigen schwarzen Strumpfhosen steckenden Beine baumel ten unbekümmert wie kleine Äste über den Rand des Felsens hin weg. Der Junge schwieg und beobachtete sie aus den wunderschönen rehbraunen Augen Sheeras. »Mutter weint in letzter Zeit nicht mehr«, stellte Trella fest und fügte mit kindlicher Mahnung hinzu: »Und die Amme hat dir verbo ten, wie ein kleines Baby am Daumen zu lutschen.« Der Junge nahm den Daumen aus dem Mund und hielt ihn mit der anderen Hand fest, so als könne er ohne diesen Schutz im tro ckenen Zustand zu Boden fallen. »Sie weinte, als Vater starb«, erin nerte er seine Schwester. »Und die Amme hat dir verboten, auf gro ßen Steinen herumzusitzen und mit Sklaven zu spielen.« »Ich spiele nicht mit ihm, sondern helfe ihm bei der Arbeit«, kor rigierte Trella würdevoll. »Nicht wahr?« »Damit hast du völlig recht«, bestätigte Sonnenwolf ernst, doch in seinen Augen glitzerte es amüsiert, während er die Kinder Sheeras betrachtete. Den vierjährigen Graal Galernas bekam er nur selten zu Gesicht. Obgleich der Junge in physischer Hinsicht einem miniaturnen Abbild Sheeras gleichkam, war er sehr zart und ziemlich schüchtern und achtete voller Stolz darauf, daß niemand seine Rolle als männliches 176
Oberhaupt der Familie Galernas in Frage stellte. Trella kam vermut lich mehr nach ihrem verstorbenen Vater. Ihr Haar war sandfarben, und sie hatte haselnußbraune Augen und eine kleine Stupsnase. Sie war ein Mädchen, das vor niemandem Respekt hatte, mit Ausnahme ihrer schönen Mutter. Sonnenwolf konnte die Bekanntschaft der beiden Kinder machen, weil sie sich immer wieder fortschlichen und in die Orangerie kamen, um im Garten zu spielen. Sheera hatte ihm nie etwas von dieser Angewohnheit ihrer Sprößlinge gesagt, und er fragte sich, ob sie überhaupt davon wußte. Graal hatte rasch Spaß an der Gartenarbeit verloren, während Trella großen Gefallen daran fand, ihm beim Bau der Reihenpavillons an der Begrenzungswand der Orangerie zu helfen – wobei sie ihm mit kindlicher Unbefangen heit immer weiter Informationen über ihre Mutter hatte zukommen lassen. »Sie hat auch geweint, als Vater starb«, bekräftigte Graal noch einmal. Trella zuckte mit den Schultern. »Sie weinte vorher. Sie weinte, als die Botschafter ins Haus kamen und von der Schlacht berichteten, und sie weinte ebenfalls, als sie später an jenem Tag von Lady Yirth zurückkehrte. Ich habe auch gehört, wie sie in der Küche weinte, als sie Vater Glühwein machte.« »Das hat sie nie getan«, widersprach ihr Bruder und hielt noch immer seinen Daumen fest. »Es ist Aufgabe der Diener, Glühwein zu erhitzen.« Trotz des mit Silber durchwirkten kleinen Samtwams zitterte er. Es hatte zwar schon vor einigen Stunden aufgehört zu regnen, aber der Tag war dennoch recht kühl und die Luft feucht. In dem öden und lehmbraunen Garten wirkte er wie ein winziges, schimmerndes Juwel. »Auch Mutter hat Glühwein gemacht«, beharrte Trella. »Ich habe in der Speisekammer gespielt und sie gehört. Und anschließend ging sie in ihr Zimmer und weinte und weinte, und sie war noch immer dort, als Vater Magenkrämpfe bekam und starb.« Tränen glänzten in den großen Augen des Jungen, und er schob sich wieder den Daumen in den Mund. Undeutlich murmelte er: »Die Amme hat dir verboten, in der Speisekammer zu spielen.« »Das war vor vielen, vielen Monaten, und wenn du mich ver petzt, lege ich dir eine Schlange ins Bett.« Wie um auf alle Eventua litäten vorbereitet zu sein, sprang Trella vom Felsen herunter und hielt nach der angekündigten Schlange Ausschau. Graal machte sich eilig auf und davon und floh schluchzend in Richtung des Hauses. 177
Sonnenwolf saß mit angezogenen Knien auf dem vom Flußwas ser glattgeschliffenen großen Stein und sah dem Knaben nach. An schließend richtete er seinen Blick auf das kleine Mädchen. »Er hat euren Vater sehr geliebt, nicht wahr?« Trella errötete und erwiderte verdrießlich: »Er ist nur ein Baby, weiter nichts.« Und damit meinte sie ganz offensichtlich nicht nur Graal, sondern auch ihren Vater. Wenn sie soviel über ihre Eltern wußten, so fragte sich Sonnen wolf, ob sie auch über die Beziehung zwischen Sheera und Tarrin unterrichtet waren. Der Söldner wäre ebensowenig dazu bereit gewesen, einem Kind zu sagen, daß sein Vater ein Kollaborateur oder seine Mutter eine Hure war, wie er sich außerstande gesehen hätte, den kleinen Spröß ling für etwas zu schlagen, was er getan oder nicht getan hatte. Er erachtete Kinder als Kostbarkeiten, und er begegnete Graal und Trel la mit ausgesuchter Freundlichkeit. Seine eigene Kindheit jedoch hatte ihn gelehrt, daß es kaum etwas gab, was Eltern ihrem Nach wuchs nicht anzutun bereit waren. Er fragte sich, was Sheera von Yirth erhalten hatte, um den Glühwein ihres Mannes zu vergiften. Wind raschelte in den gestutzten Zweigen der Hecke oberhalb der Bodenvertiefung, in der er mit Trella gearbeitet hatte, und einige silbrig glänzende Regentropfen fielen. Sonnenwolf schenkte ihnen keine Beachtung – er hatte schon früh gelernt, das Wetter so zu ak zeptieren, wie es war – , und Trella, die ihn seit einigen Wochen zu ihrem Vorbild gemacht hatte und sein Verhalten nachahmte, igno rierte sie ebenfalls. Sonnenwolf ordnete die glatten Steine zu immer neuen Mustern, versuchte, sie seinen Ansprüchen von bildlicher Harmonie anzupassen. Trella brach das Schweigen. »Sie weint nicht«, erklärte sie. Nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: »Und überhaupt: Es ist nur wegen eines Mannes, der sie be sucht.« Bei dem Betreffenden, so wußte der Söldner, handelte es sich um Derroug Dru, den Statthalter Altiokis' in Mandrigin. Kurz darauf sah er, wie die herausgeputzte Gestalt des Statthal ters aus der Orangerie kam und über den schmalen Pfad schlenderte, begleitet von einem Diener, der ihm einen mit goldenen Troddeln verzierten Schirm über den Kopf hielt. Die familiäre Ähnlichkeit des Mannes mit Drypettis war offensichtlich: Beide waren recht klein, doch während man Drypettis als ausgesprochen schlank bezeichnen 178
konnte, erwies sich Derroug Dru als ein hagerer und fast bucklig wirkender Zwerg, dessen dürrer Torso rasch in dünne Beine über ging. Das eine Bein war nichts weiter als ein krummer, in Seide gehüllter Knochen, dessen Polsterung die Deformität nicht verbarg, sondern eher betonte. Der Mann stützte sich während des Gehens auf einen Stock, und Sonnenwolf hatte schon bemerkt, daß das Gefolge des Statthalters seine Schritte denen Derrougs anpaßte, nicht etwa aus Höflichkeit, sondern aus Furcht. Sein sich lichtendes braunes Haar wies an den Schläfen deutlich zu erkennende graue Strähnen auf, und er hatte sich die nußfarbenen und trüben Augen sorgfältig geschminkt, um die schlimmsten Anzeichen eines ausschweifenden Lebens nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Derzeit befand sich nur ein Bediensteter in seiner Begleitung, aber der Söldner wußte, daß er für gewöhnlich mit ganzen Heerscharen von Speichelleckern und vielen Leibwächtern unterwegs war. Er genoß in Mandrigin keine allzu große Popularität. Bernsteinauge hatte Sonnenwolf erzählt, daß vor der Übernahme der Stadt durch Altiokis sie und ihre Freundinnen ausgelost hatten, wer sich zu Derroug begeben mußte. Seit seiner Berufung zum Statt halter machte er kaum noch einen Hehl aus seinen Lastern. Sonnenwolf beugte sich und glättete den feuchten Boden in der Nähe der Steine. Er vernahm das rhythmische Pochen des Geh stocks, das Geräusch der schlurfenden Schritte Derroug Drus auf dem Kopf Steinpflaster des Pfades. Er spürte den Blick des Statthal ters auf sich ruhen, der den Söldner, den er für einen Sklaven hielt, schon wegen seiner Größe haßte. Dann ging der Statthalter weiter. Er hielt es für unter seiner Würde, einem Mann vom vermeintlichen Status Sonnenwolfs mehr als nur beiläufige Beachtung zu schenken. Neben dem Söldner flüsterte Trella: »Ich kann ihn nicht ausste hen!« Sonnenwolf sah von dem kleinen Mädchen zu der herausgeputz ten Gestalt Derrougs, der nun die Terrassenstufen hinunterschritt – eine Kontur aus weißem Pelz und violetter Seide vor dem Flecken muster der grauen und an einigen Stellen mit roten Flecken bewach senen Steine der Hauswand und dem feuchten Glanz der Marmor fliesen des Pflasters und der Pilaster. Sheera sprach nie von dem Statthalter, aber der Söldner wußte, daß sie schon mehrmals Besuch von ihm bekommen hatte – und dann, wenn Drypettis nicht zugegen war. Sonnenwolf nahm an, daß der kleinen Frau nichts an einer Zu sammenkunft mit ihrem Bruder gelegen war und gerade dieser 179
Punkt, abgesehen von ihrer früheren Position innerhalb der Ver schwörungsgruppe, zu der Freundschaft mit Sheera geführt hatte. Es begann erneut zu regnen. Die Amme des kleinen Mädchens eilte herbei und schalt Trella dafür, ohne eine Hausangestellte den Garten aufgesucht zu haben, nicht den Schleier zu tragen, sich die Hände schmutzig gemacht zu haben und Umgang mit einem unge bildeten und schmutzigen Mann zu pflegen. »Allein mit einem Mann zu sprechen… Sollen dich denn alle Leute für eine kleine Dirne halten?« gluckste sie, und Trella rollte mit den Augen. Sonnenwolf wischte sich die Hände am dicken Stoff der Hose ab und erwiderte trocken: »Ich habe während meines Lebens schon viele Vorwürfe zu hören bekommen, Frau, aber ich glaube, dies ist das erste Mal, daß man befürchtet, ich könne ein sechsjähriges Mäd chen vom rechten Weg abbringen.« Er mochte die Amme nicht. Sie hob ein wenig den Kopf, wodurch ihre Nasenspitze noch et was höher kam als gewöhnlich, und sie antwortete: »Es kommt auf das Prinzip an. Ein Mädchen kann nicht früh genug lernen, welche Gefahren und Bedrohungen jenseits der heimischen Sicherheit lau ern. Ich bin entsetzt, wenn ich daran denke, was heutzutage in der Stadt geschieht… Frauen gehen ohne Schleier aus dem Haus und sitzen sogar an den Tischen und Tresen der Schenken wie die Prosti tuierten in ihren Schaufenstern – und sicher, ja, daran habe ich keine Zweifel mehr, meiden sie nicht einmal mehr die Gesellschaft von Huren! Die Schlampe, die ich vorher hier sah, hatte sich sogar das Gesicht geschminkt. Ach, was würde nur mein alter Herr dazu sa gen… « Sie ging den Weg zurück, den sie gekommen war, hielt das nör gelnde Kind am einen Arm fest, murmelte die ganze Zeit über vor sich hin und beklagte immer wieder die neue Lasterhaftigkeit, die ihrer Meinung nach wie ein Krebsgeschwür in Mandrigin zu wu chern begonnen hatte. Sonnenwolf schüttelte den Kopf und sammelte seine Werkzeuge ein. Es nieselte nun. Windböen strichen über den Garten hinweg und kündigten einen Sturm an, der bei Einbruch der Nacht losbrechen mochte. Die Feuchtigkeit durchnäßte das lange Haar des Söldners, ließ es an Nacken und Schultern festkleben, durchdrang rasch das rauhe Kanevas der Jacke. Trotzdem blieb er noch eine Weile stehen und beobachtete die Steine, die er zu einem bestimmten Muster an geordnet hatte. Der große Granitbrocken war von ihm zur Seite ge hebelt worden, so daß man deutlich den langen Riß in der einen 180
Flanke sehen konnte und an der einen Stelle eine Höhlung im Boden entstand, deren Rand nur von vier kleineren Steinen gesäumt wurde. Ja, das Muster genügte seinen Ansprüchen, bildete eine gewisse Harmonie vor dem Hintergrund der braunen Erde. Sonnenwolf dach te daran, daß er hierzu gern die Meinung Sternenfalkes gehört hätte. In gewisser Weise bereitete es ihm ein dumpfes Unbehagen, als er sich darüber klar wurde, wie oft ihm dieser Gedanke in der letzten Zeit schon durch den Kopf gegangen war. Er hatte sie von Anfang an für eine ausgezeichnete Kriegerin und fähige Stellvertreterin gehalten. Er schätzte nicht nur ihre Fähigkeit, sich weitaus größeren und stärkeren Männern zum Kampf zu stellen und sie zu besiegen, sondern auch die fast schon übermenschliche Kaltblütigkeit, mit der sie die anderen Söldner immer wieder in Er staunen versetzt und sich Respekt verschafft hatte. – Ganz so, wie es sein sollte. Als Kommandeur der Streitmacht hatte er rasch gelernt, sich ihre Klugheit und Umsicht zunutze zu machen, ihre ausgeprägte Gewissenhaftigkeit. Und als ein Mann, der aufgrund seiner Position eine gewisse Distanz zu den anderen Kämpfern wahren mußte, legte er großen Wert auf die Gesellschaft der Kriegerin. Erst jetzt begriff er in vollem Ausmaße, welche Bedeutung Ster nenfalke für ihn hatte. Während der Feldzüge bekam er sie manch mal tage- oder wochenlang nicht zu Gesicht, wußte jedoch, daß sie immer zugegen war. Jetzt jedoch schreckte er des Nachts manchmal aus dem Schlaf und machte sich klar, daß, wenn ihm irgend etwas zustieß, er Falke vielleicht niemals wiedersehen würde. Er rechnete halb damit, in Mandrigin zu sterben, doch noch nie zuvor hatte er mit dieser speziellen Furcht an den Tod gedacht. Es war eine gefährliche Überlegung, und er verdrängte sie. Dies mußte es sein, wovor ihn sein Vater einst gewarnt hatte – die dro hende Verweichlichung eines Kriegers, die Herausbildung einer stumpfen Seite an der inneren Schwertklinge eines Kämpfers. Und warum? fuhr es Sonnenwolf durch den Sinn, und er fluchte lautlos. Sternenfalke war nicht einmal hübsch. Jedenfalls stellen sich die meisten Narren unter einer hübschen Frau etwas anderes vor. Der Regen pochte auf jenen Teil des Daches der Orangerie, der dem Wetter offen ausgesetzt war, und das rhythmische Hämmern hallte dumpf in der weiten Räumlichkeit wider. Die an diesem Ort herrschende Dunkelheit war Sonnenwolf inzwischen zu etwas Ver trautem geworden, und die wenigen Bäume, die nicht in den schüt 181
zenden Reihenhütten untergebracht waren, bildeten in der einen Ecke eine Ansammlung von dunklen Schemen, die man aus der Ferne betrachtet für schlafende Trolle hätte halten können und die den Blick auf die Übungspuppen des Exerzierbereiches verstellten. Der Tisch stand noch immer an seinem alten Platz, in der Nähe der Tür, durch die man die kleine in die Dachkammer des Söldners em porführende Treppe erreichen konnte. Auf einem umgedrehten Faß saß dort Sheera, den Kopf in die Hände gestützt, den leeren und nachdenklichen Blick auf die grauen Bretter der Wand gerichtet. Der dicke Wollstoff ihres scharlachroten Gewandes reichte bis hinab zu den Füßen. Graal hatte recht gehabt, stellte der Söldner fest. Sheera mußte geweint haben. Er trat auf sie zu, und als sie den Kopf hob, sah er, daß ihre Au gen gerötet waren und sich Ringe darunter gebildet hatten. Er be merkte jedoch auch die Entschlossenheit in ihren Zügen, einen festen Willen. »Wann sind die Frauen zu einem Angriff auf die Bergwerke Altiokis' bereit?« fragte sie. »Mit oder ohne Hilfe eines Magiers?« konterte er. Die sich deutlich in ihrem Gesicht abzeichnende Müdigkeit ver wandelte sich in Zorn, und in ihren Augen blitzte es gefährlich auf. Ihre Lippen zitterten, als sie zu einer scharfen Erwiderung ansetzte. »Ich meine einen echten Zauberer«, kam Sonnenwolf ihr zuvor, »nicht deine hiesige Giftmischer in.« Sheera preßte die vollen roten Lippen aufeinander, und einmal mehr beobachtete der Söldner, wie sich in der glatten Haut tiefe Furchen bildeten, die von der Nase bis zu den Mundwinkeln reich ten. »Wann?« wiederholte Sheera. »Einen Monat. Besser noch: Sechs Wochen.« »Das ist zu lange.« Er zuckte mit den Schultern. »Du bist die Kommandantin. Zu Be fehl, Kommandantin.« Er wandte sich zum Gehen. Sheera sprang auf, hielt ihn am Arm fest und drehte ihn wütend zu sich um. »Warum können wir nicht sofort losschlagen?« »Das können wir schon«, sagte Sonnenwolf. »Vorausgesetzt na türlich, dir liegt nichts an all den Frauen, die dir treu genug ergeben sind – dir und deiner ach so patriotischen und verrückten Sache – , daß sie bereitwillig ihr Leben aufs Spiel setzen wollen. Du bist dir doch darüber klar, daß die meisten deiner Freundinnen sterben wer 182
den, wenn du sie mangelhaft vorbereitet in den Kampf schickst, oder?« Sheera ließ abrupt die Hand sinken, mit der sie den Söldner fest gehalten hatte. Er entdeckte in ihrem Zorn auch eine dumpfe Furcht, die wachsende Verzweiflung einer Frau, die mit schwindender Kraft sowohl gegen das Schicksal als auch die unglücklichen Umstände focht. »Verstehst du denn nicht?« entgegnete sie, und in ihrer Stimme vibrierten Wut und Erschöpfung. »Mit jedem Tag, den wir warten, wird er stärker. Mit jedem Tag wächst die Wahrscheinlichkeit, daß Tarrin in den Minen verletzt wird oder gar zu Tode kommt. Man verdächtigt ihn bereits, eine Widerstandsgruppe zu organisieren. Er ist geschlagen und ausgepeitscht worden, und anschließend legte man ihm wieder Ketten an und zwang ihn trotz seiner erheblichen Verletzungen dazu, sein Arbeitssoll zu erfüllen. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis Altiokis auf ihn aufmerksam wird, und das dürfte sein Ende sein. Doch ohne ihn verlören die anderen Männer alle Hoffnung. Tarrins Mut und Beharrlichkeit sind es in erster Linie, die den anderen Gefangenen ein leuchtendes Beispiel geben und sie die Verzweiflung angesichts ihrer Gefangenschaft vergessen lassen. Ich kenne ihn genau«, fügte Sheera im Flüsterton hinzu. »Er ist ein geborener Führer, ein geborener König. Er besitzt die besondere Magie eines Königs, vermag die Herzen seiner Gefolgsleute zu ge winnen, ihr ganzes Vertrauen. Ich verliebte mich in dem Augenblick in ihn, als wir uns zum erstenmal begegneten. Als wir uns ansahen, wußten wir, daß wir wie füreinander geschaffen sind.« »Was dich aber wohl nicht davon abhält, dir von Derroug Dru den Hof machen zu lassen, wie?« fragte Sonnenwolf mit schneidender Stimme. »Den Hof machen lassen?« wiederholte Sheera verächtlich. »Pah! Glaubst du, deswegen kommt er zu mir? Glaubst du wirklich, er sei auf eine Heirat aus oder eine ehrenvolle Beziehung zu mir? Du kennst ihn nicht. Weil ich die Gattin seines wichtigsten politischen Verbündeten war, dem bedeutendsten und reichsten Mann seiner Fraktion, hielt er sich zurück. Aber er hat von Anfang an einen Blick auf mich geworfen. Und jetzt kommt er wie ein räudiger Köter ange krochen, der nach einer läufigen Hündin sucht… « Sonnenwolf lehnte sich mit der Schulter an eine der aus Zedern holz bestehenden Säulen, die die Decke stützten. »Dann war die Vergiftung deines Gatten wohl ein wenig zu hastig, nicht wahr?« 183
Das zornige Blitzen in den Augen Sheeras verstärkte sich. »Has tig!« wiederholte sie fauchend. »Hastig – obgleich der Mistkerl vor gab, in die Fraktion Tarrins zu wechseln, während der Lehnsfeiern vor dem Angriff Altiokis'? Obgleich er alle loyalen Untergebenen Tarrins, alle loyalen Männer in der Stadt aufforderte, sich der Armee des Prinzen anzuschließen und gleichzeitig wußte, was mit ihnen im Eisernen Paß geschehen würde? Für das, was er tat, hatte er Schlim meres als den Tod verdient.«. Sheera marschierte nun auf und ab. »Was er an jenem Tag getan hat, veränderte mein Leben, veränderte das Leben aller Menschen in der Stadt. Seine Tat nahm uns unsere Freiheit, raubte uns diejenigen, die wir liebten, bescherte uns dauernde Gefahr. Bist du etwa der Meinung, ich hätte ihn dafür nicht mit dem Tod strafen sollen?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Sonnenwolf ruhig. »Wenn ich daran denke, daß du auch mich vergiftet hast, ganz offensichtlich ohne die geringsten moralischen Bedenken, so sehe ich mich außerstande, eine vorurteilsfreie Antwort auf diese Frage zu geben.« Damit wand te er sich von ihr, stieg die schmale Treppe zur Dachkammer hoch. Er lauschte dem Regen, der auf das Holz prasselte.
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11. Kapitel Es regnete in Pergemis. Die Myriaden Tropfen trommelten ein endloses Stakkato auf die spitz zulaufenden Schieferdächer der eng beieinanderstehenden Häuser der Stadt, verursachten ein Geräusch, das fast nach Hagel klang. Das Wasser bildete kleine Bäche auf dem Kopfsteinpflaster der gewölbten Straße, drei Stockwerke unter dem Fenster, an dem Sternenfalke saß, und es sprühte schäumend aus den Dachrinnen. Sternenfalke preßte die Stirn ans Glas und empfand die Kühle wie Eis auf der Haut. Irgendwo in dem hohen schmalen Haus hörte sie die Stimme Kitz', lustig und scherzend. Sie sprach in dem Ton fall, den sie Kindern gegenüber benutzte. Kurz darauf vernahm die Kriegerin das Geräusch ihrer leichtfüßigen Schritte. Sie hat sich wieder erholt, dachte Sternenfalke. Damit ist es an der Zeit, die Reise fortzusetzen. Dieser Gedanke belastete sie wie ein Gewicht, das sie sich vor dem Aufbruch auf den Rücken geschwungen und dessen Schwere sie falsch eingeschätzt hatte. Sie fragte sich, wie viele Tage sie verloren hatte. Zwanzig? Dreißig? Und was mochte Sonnenwolf während dieser Zeit zugestoßen sein? Aber sie hätte ihm ohnehin nicht helfen können, erinnerte sie sich. Es war ihre Pflicht gewesen, bei Kitz zu bleiben. Sie entsann sich… Als sie die Querstraße erreichten, wo der südliche Weg nach der Buchtenküste von der Hochlandstraße abzweigte, die erst nach Ha ckenrippe und dann nach dem Grimmwald führte, begann die von dem Nuuwa verursachte Verletzung Kitz' zu schwären. Sternenfalke half ihr, so gut sie es vermochte. Anyog, dessen Wunden sich durch Zufall oder Magie nicht infizierten, ging es viel zu schlecht, um die Kriegerin in ihrem Bemühen unterstützen zu können. Es stand somit außer Frage, in welche Richtung sie sich wenden mußten. Als sie nach Pergemis gelangten, lag Kitz im Fieberwahn, stöhnte und litt und rief immer wieder mit schwacher Stimme nach Sonnen wolf. In den folgenden Tagen und Nächten schloß sich ein Alptraum an den anderen an, und trotz der aufopfernden Behandlung durch Pel Weitschritt wurde der Zustand der jungen Frau nicht besser. Immer wieder flehte sie den Söldnerführer an, er möge sie retten. Während der ersten vier oder fünf Tage im Haus der verwitweten 185
Mutter Rams und Orris' litt Sternenfalke unter Müdigkeit und Furcht. Sie bekam während dieser Zeit nur Pel zu Gesicht. Die Mutter der beiden hünenhaften und so streitsüchtigen Brüder ähnelte auf para doxe Weise Anyog: Sie war eine kleine und drahtige Person, und ihr Haar war so dicht und weiß wie der Bart Anyogs. Sie kümmerte sich sofort sowohl um Kitz als auch um Sternenfalke, und sie pflegte die verletzte junge Frau mit großer Hingabe, in den Pausen, die ihr die Leitung eines außerordentlich gutgehenden Ladens in der Stadt lie ßen. Wenn Sternenfalke an diese Zeit zurückdachte, so erinnerte sie sich vor allen Dingen an stinkende Tinkturen, die auf der Haut ihrer Hände brannten, an Kräuterdämpfe und die Kühle von Lavendelwas ser. Dazu kam eine Erschöpfung, die sie in diesem Ausmaß nicht einmal während der vielen Schlachten verspürt hatte und das bittere Gefühl einer Schuld, das wie der Schmerz einer alten Verletzung jedesmal dann von neuem in ihr entstand, wenn sie das blasse Ge sicht der leidenden Kitz sah. Die anderen Angehörigen des Haushalts blieben während dieser Tage nur Stimmen, auch wenn sich ab und zu in der Tür ein fremdes Gesicht zeigte. Ganz deutlich jedoch entsann sie sich an einen Abend, an dem sie eine Handvoll eiternden Fleisches aus der Wunde der jungen Frau geschnitten hatten. Sie sah sich selbst, wie sie anschließend neben Kitz saß und dem leisen unregelmäßigen Atmen der Kranken lausch te, dem einzigen Geräusch im dunklen Haus. Zuvor hatte sie medi tiert, dabei aber keinen inneren Frieden gefunden, und nun saß sie auf dem gepolsterten Stuhl neben dem Bett und starrte in die Fins ternis jenseits des Scheins einer Kerze. Plötzlich kam Anyog ins Zimmer. Er schnaufte und keuchte angesichts der Mühe, die es ihn gekostet hatte, sein eigenes Krankenlager zu verlassen. Er winkte nur ab, als ihn die Kriegerin besorgt aufforderte, Platz zu nehmen und sich zu schonen. Bis vor kurzem war es ihm noch schlechter gegan gen als Kitz. In seinem zerknitterten Nachthemd sah er aus wie ein Toter, der in ein zu großes Leichentuch gehüllt war. Er stützte sich nur auf Sternenfalke und brachte krächzend her vor. »Schwör mir, daß du niemandem etwas davon sagst. Schwör es mir bei deinem Leben.« Und als die Kriegerin der Aufforderung nachgekommen war, ließ er sich auf die Bettkante sinken. Aufgrund seiner nervösen Unsicherheit konnte man zu dem Schluß gelangen, daß er schon seit einer Weile außer Übung war, als er mit vor Schwäche zitternden Händen die Muster heilender Magie in die Luft malte. 186
Danach bemerkte Pel Weitschritt Sternenfalke gegenüber, der Schlaf ihres Bruders werde immer unruhiger, und in seinen Alpträu men flüsterte er wiederholt den Namen des Zauberkönigs. Außer Pel gehörten der Familie noch ihre drei Söhne Orris, Ram und Imber an. Imber war der älteste. Gemeinsam mit seiner Mutter leitete er die Geschäfte des Stadtladens. Imbers Frau Gillie und ihre beiden geradezu entsetzlich unternehmungslustigen Kinder Idjit und Keltie lebten ebenfalls hier. Idjit war erst drei und für einen Knaben seines Alters außerordentlich rege und redegewandt; er verstand es großartig, seine jüngere Schwester dazu zu veranlassen, für ihn die Streiche durchzuführen. Für das kommende Frühjahr erwartete Gillie ihren dritten Sprößling. »Angesichts der vielen Schwierigkeiten, die uns der Junge immerzu macht«, vertraute Imber eines Abends Ster nenfalke an, als sie mit Idjit vor dem Küchenherd spielte, »hoffen wir auf ein weiteres Mädchen.« Darüber hinaus lebten in dem Haus eine Magd, ein Diener und drei Kontoristen, die in der Dachkammer schliefen; außerdem gab es noch zwei Katzen und drei der kleinen schwarzen Schiffshunde, die zahlenmäßig den menschlichen Bewohnern der Stadt überlegen zu sein schienen. Pel führte ihr Regiment mit großer Zuneigung, aber auch eiserner Standfestigkeit. Es war ein Haus, dachte Sternenfalke, in dem sie unter anderen Umständen sehr glücklich hätte sein können. Hier gab es keinen Ruhm, überlegte sie, als sie in den taubenfar benen Nachmittagsregen hinausblickte. Keine jener kalten und so verlockend glänzenden Wahrheiten des Krieges, der allen Dingen das Schimmern des Triumphes verlieh und gleichzeitig mit der Graue des Todes drohte. Hier gab es nicht einmal eine Spur von der mühseligen Schönheit, durch die sich das Leben eines Kriegers aus zeichnete – und es existierte auch niemand, der so etwas zu schätzen wußte. Aber ein Leben in etwas blasseren Farben konnte sich eben falls als recht angenehm erweisen. Und an einem solchen Ort wäre sie nicht einsam gewesen. Die Tage der Entspannung hatten ihr eine neue Ruhe gegeben, mit deren Hilfe sie konzentrierter nachzudenken vermochte. Jetzt, da sie sich ihre Liebe selbst eingestanden hatte, wußte sie nicht, ob sie jemals wieder zu dem werden konnte, was sie zuvor gewesen war. Doch ohne die Nähe Sonnenwolfs, davon war sie überzeugt, spielte es überhaupt keine Rolle, wo sie sich befand und was sie machte. Was würde aus ihr werden, wenn der Söldnerführer ums Leben ge 187
kommen war und am Ende ihrer Suche nur Dunkelheit und tiefer Kummer auf sie warteten… Es wurde jetzt fast Zeit, die Lampen anzuzünden. Das Zimmer, in dem sie sich befand, lag nach Süden hin und gestattete Ausblick aufs Meer. In diesem Raum war es selbst dann noch hell, als Gillie und die Magd Perle damit begannen, die dicken weißen Bienenwachs kerzen und die Öllampen mit dem bunten Glas aufzustellen. Die Vorhänge des Bettes – des besten Gästebettes, das sich Sternenfalke seit einer Woche mit Kitz teilte – sahen bei Tageslicht betrachtet kirschfarben aus, doch in der Graue nahmen sie einen fast schwarzen Ton an. Die Farben der Blumenmuster auf den Wandtapeten verblaß ten in der Dämmerung. Auf der anderen Seite des Zimmers, über der massiven und mit üppigem Schnitzwerk versehenen Kommode, zeigte ein großes Gemälde einen Heiligen, der in Pergemis verehrt wurde; er wanderte über das Wasser des Meeres, um zu den Seejung frauen zu predigen, und überaus detailreich dargestellte Fische und Polypen begleiteten ihn auf seiner maritimen Wanderschaft. Sternenfalke nahm im Sessel am Fenster Platz und zog sich den dicken wollenen Überwurf enger um die Schultern. Sie hatte sich ihr Haar gewaschen. Es war noch immer feucht und duftete nach Kräu terseife. Nach dem Mittagessen, so erinnerte sie sich, hatte sie zu sammen mit Ram, Idjit und Keltie einen Spaziergang über die stei nernen Kais gemacht und dem Krächzen der Möwen gelauscht, die das nahe Unwetter ankündigten. Es war ein recht angenehmer Aus flug gewesen. Idjit hatte Keltie dazu gebracht, ihm nach der gerade zurückgegangenen Flut einige Krabben in den Prielen an der Land zunge zu fangen, die sich am Ende des Docks nach Süden hin er streckte. Schließlich hatte Sternenfalke der kleinen Schwester Idjits zu Hilfe eilen müssen. Und Ram hatte sich als außerordentlich be sorgt um sie gezeigt. Ein Tag, der alle zufriedenstellt, dachte die Kriegerin und lächel te. Für eine Frau, die ihr ganzes Leben in der Gesellschaft von Er wachsenen verbracht hat – entweder Nonnen oder Kämpfern – , verwirrte es sie ein wenig, wie sehr sie Kinder mochte. Es würde ihr bestimmt nicht leichtfallen, dieses anheimelnde Haus zu verlassen. Wenn sie daran dachte, was Kitz und sie am Ende ihrer Reise erwartete… Schuldbewußte Ruhelosigkeit überfiel sie. In der Nacht lag Ster nenfalke des öfteren lange wach, lauschte dem Atmen der jungen 188
Frau an ihrer Seite und fragte sich, ob die Zeit, die sie darauf ver wandte, sich um Kitz zu kümmern, zu Lasten Sonnenwolfs ging. Aber sie konnte Kitz nicht der Obhut von Fremden überlassen. Und diese Einsicht wirkte wie eine Medizin gegen die zunehmende Nervosität. An manchen Tagen gelang es ihr, sich vollständig zu entspannen und an dem abendlichen Familienleben in der Küche teilzunehmen. Als Kitz dazu in der Lage war, aus eigener Kraft – wenn auch noch immer unsicher – die Treppe herunterzukommen, leistete ihnen die junge Frau Gesellschaft. Sternenfalke stellte amü siert fest, daß Kitz mit ihrem Wissen um Geld und Handel das ge schäftliche Herz Orris' gewonnen hatte. Bei diesen Gelegenheiten gewann die Kriegerin dann und wann den Eindruck, als habe sie ihren älteren Bruder wiedergefunden. Sie verbrachte viele Abende zusammen mit den drei Hünen, trank und scherzte mit ihnen, erzählte Geschichten und lauschte interessiert, wenn die Männer von den Reisen nach dem Nordosten berichteten. »Ich höre nicht zum erstenmal davon, daß die Nuuwa sich in der letzten Zeit in ganzen Rudeln herumtreiben«, sagte Imber, schob sich die langstielige Pfeife in den einen Mundwinkel und musterte Ster nenfalke von der anderen Seite des Tisches her. Seine Augen waren ebenso blau wie die seiner beiden Brüder, doch sie glänzten ein we nig klüger. »Nachdem die beiden Dummköpfe dort nach Norden aufbrachen, erhielten wir entsprechende Nachrichten, bevor der nahe Winter die Segelschiffe in die Häfen zurückzwang. Ich fürchtete schon, die Ungeheuer könnten selbst die nahen Berge unsicher ma chen.« Orris runzelte die Stirn. »Du meinst, andere Leute haben eben falls so große Rudel gesehen?« »Ha, sogar zwei- und dreimal so große.« Imber beugte sich auf seinem Stuhl vor und schob sein Glas Ram entgegen, vor dem die Karaffe mit dem Glühwein stand. »Fleg Barnhithe erzählte mir, er habe von einem Schäfer aus dem Thaneland gehört, der angeblich ein Rudel von über vierzig Nuuwa sah…« »Über vierzig!« platzte es erschrocken aus den beiden anderen Hünen heraus. »Sie vermehren sich in den Bergen.« Imber seufzte und schüttelte den Kopf. »Dadurch wird es zu einem großen Wagnis, die Fernstra ßen zu benutzen. Ja, und es soll dort nicht nur von Nuuwa wimmeln, sondern auch anderen Arten von Ungeheuern…« Sternenfalke runzelte die Stirn und erinnerte sich an ihr kurzes 189
Gespräch mit Anyog im Wirtshaus. »Sie vermehren sich?« fragte sie leise. »Ich habe gehört, es seien Menschen – oder einst Menschen gewesen.« »Unmöglich«, widersprach Orris ein wenig zu rasch. »Das Blen den ist überall eine übliche Strafe, und diejenigen, die geblendet werden, verlieren deshalb nicht den Verstand und verwandeln sich in… in solche Wesen. Außerdem: Ein geblendeter Mensch verhält sich nicht wie die Nuuwa. Und kein Mensch verfügt über derartige… derartige Wahnsinnskräfte.« Seine Lider zitterten leicht, während er diese Worte formulierte, und in seiner Stimme ließ sich ein unsicheres Vibrieren vernehmen: Wenn die Nuuwa tatsächlich einst Menschen waren, so ließ sich daraus der Schluß ziehen, daß alle Lebenden Gefahr laufen, irgendwann einmal ebenfalls zu solchen Ungeheuern zu werden. »Ich habe Männer gesehen«, wandte Sternenfalke ein, »die in der Schlacht ähnliche Kräfte offenbarten.« Sie faltete ihre langen sehni gen Hände auf der gewachsten Fläche des Eichentisches. »Ich bin Männern begegnet, die man töten mußte, um sie vor ihrer Raserei zu befreien – Männer, die von etwas so besessen waren, daß sie gerade zu übermenschliche Kräfte freisetzten.« »Aber wenn die Nuuwa wirklich einmal Menschen waren und… und es irgendeine Art von Krankheit ist, die sie veränderte und zu dem machte, was sie sind – könnte das dann nicht auch Frauen zu stoßen? Ich glaube, bisher hat noch niemand einen weiblichen Nuu wa gesehen.« »Das betrifft allerdings auch die Frage, wie sie sich vermehren«, gab Ram zu bedenken und füllte ihre Gläser mit Glühwein, der im hellen Lampenlicht aussah wie flüssiges Gold. »Und wie ziehen sie überhaupt ihren Nachwuchs auf? Man sollte doch meinen, sie würden ihre eigenen Kinder sofort nach der Geburt verschlingen. Ihre Freßgier ist schließlich bekannt.« »Die Mutter formt sie gewiß nicht aus Lehmbrocken«, sagte Sternenfalke. Orris lachte. »Es wird dir nie gelingen, unseren Ram zu überzeu gen.« »Nein«, bestätigte Imber scherzhaft, und in seinen Augen funkel te brüderlicher Spott. »Denn schließlich ist er nie zur Schule gegan gen und weiß nicht mehr als die Gefängniswächter, mit denen er des öfteren Umgang pflegte.« »Das ist immer noch besser, als seine Bildung von dummen 190
Schafstreibern zu beziehen«, erwiderte Ram mit einem breiten Grin sen, und daran schloß sich der hitzige und von Flüchen und Be schimpfungen untermalte Wortwechsel an, an den sich Sternenfalke während der vergangenen Tage bereits gewöhnt hatte. Jetzt, als sie daran dachte, die Reise fortzusetzen, erinnerte sie sich wieder daran. Die Kriegerin zitterte, zog die Knie unter dem langen wollenen Überwurf an und stützte das Kinn auf die Hände. Weder sie selbst noch Kitz hatten erwähnt, wohin sie unterwegs waren. Nicht zum erstenmal war Sternenfalke für die geistige Be schränktheit der drei Brüder dankbar, die sie daran hinderte, das zu vermuten, was Anyog bereits wußte. Hätten sie auch nur geahnt, was die Kriegerin und Kitz planten, sie hätten die beiden Frauen unbe dingt beschützen wollen. Von unten vernahm sie die Stimme der jungen Frau: »…wenn das der Fall ist, so müßte es sich doch mittelfristig auszahlen, im Norden während des ganzen Jahres einen befestigten Handelsstütz punkt zu unterhalten, oder?« Und Pels lautere Stimme erwiderte: »Ja, doch der Profit, der sich allein mit dem Onyx erwirtschaften läßt…« Es mußte schon Jahre her sein, dachte Sternenfalke, seit sich Kitz zum letztenmal in der Gesellschaft von Leuten der Art befunden hatte, in deren Mitte sie einst aufgewachsen war – viele Jahre, seit sie zum letztenmal die kluge und praxisorientierte Sprache des Han dels und der Geschäftsfinanzierungen gesprochen hatte. Sternenfalke lächelte still vor sich hin, als sie sich an das ein wenig verlegene Eingeständnis Kitz' erinnerte, sie sei im Grunde ihres Wesens eine Kauffrau. Ihr Vater – dessen Knochen seit zwei Jahren, seit der Ver sklavung seiner Tochter, irgendwo verblichen – hatte versucht, aus Kitz eine Dame der Gesellschaft zu machen. Von Sonnenwolf war sie hingegen in eine geschickte und erfahrene Mätresse verwandelt worden. Erst jetzt, nach vielen Abenteuern, nach so manchen Ent behrungen, sah sich Kitz dazu in der Lage, aus sich herauszugehen und zu zeigen, wer und wie sie wirklich war. Sternenfalke empfand Stolz auf die junge Frau – obgleich sie ihre unausgesprochene Riva lität nicht vergessen hatte, die Tatsache, daß sie denselben Mann liebten. Schwere Schritte ließen die Bodenbretter im Flur knarren. Im Zimmer war es dunkel geworden. Sie stand auf, entzündete in der glühenden Asche des Kaminfeuers einen langen Span und trat damit an die Messinglampe, die die Form eines springenden Delphins 191
hatte. Kurz darauf hörte sie ein zögerndes Klopfen an der Tür. »Sternenfalke?« Unsicher schob Ram die Tür auf. Auch sein Haar war feucht – offenbar hatte er ebenfalls gerade ein Bad ge nommen –, und ein Ärmel seiner rötlich-bronzefarbenen Tunika war hochgeschoben und offenbarte überaus muskulöse Arme. Seine gol dene Halskette wirkte im Lampenlicht wie ein Ring aus Feuer. Sternenfalke lächelte ihn an. »Die Kinder sind alle gewaschen?« Ram lachte. »Ja. Keltie hat so lange herumgebettelt, bis sie mit Idjit und mir baden durfte. Ach, das war vielleicht eine Planscherei in der Küche! Man könnte meinen, die Flut sei bis dorthin gestiegen, und der Dampf war so dicht wie der Nebel im Frühjahr.« Sternenfalke lachte ebenfalls, als sie sich eine bildliche Vorstel lung davon machte. Als sie zu dem Hünen aufsah, bemerkte sie, wie das Licht der Lampe kleine goldene Reflexe in seinem Haar entste hen ließ und es in seinen Augen funkelte. Dann sah sie, wie ernst seine Züge waren, und ihr leises Lachen verklang. »Sternenfalke«, sagte Ram ruhig, »heute nachmittag hast du da von gesprochen, die Reise fortzusetzen. Du willst wieder aufbrechen, um den Geliebten Kitz' zu suchen. Mußt du unbedingt fort?« Den Geliebten Kitz'. Sternenfalke wandte den Kopf zur Seite und blickte auf ihre Hände. Du kannst dich darauf verlassen, dachte sie, daß er wieder seine Beschützerrolle spielt, wenn er Bescheid weiß… »Früher oder später muß ich los«, entgegnete sie. »Besser jetzt.« »Früher oder später – und dir bleibt keine andere Wahl?« Darauf gab die Kriegerin keine Antwort. Der Geruch des aroma tisierten Walöls stieg ihr in die Nase. Sie mied den Blick des Hünen. »Wenn dieser Mann schon lange vermißt wird, dürfte er inzwi schen tot sein«, sagte Ram leise. »Sternenfalke, ich weiß, daß du ihm als deinem Feldherrn mit einem Treueschwur verpflichtet bist, und das respektiere ich, wirklich. Aber… könntest du nicht bei uns blei ben?« In der nachfolgenden Stille schien das Prasseln des Regens, der nach wie vor auf das Schieferdach trommelte, noch lauter zu werden, und vor ihrem inneren Auge sah Sternenfalke den Schlamm einsa mer Winter Straßen. Sie verspürte die bittere Gewißheit, daß sie irgendwo einen Zauberer finden mußte, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, in die Festung Grimmwall einzudringen, daß die weitere Reise noch mühseliger sein würde – und sie am Ende vielleicht nur tiefen Kummer für sie bereithielt. Wenn ich es schon als so hart empfinde, überlegte sie, wie muß es 192
dann erst für Kitz sein? Hartnäckig schüttelte sie den Kopf, schwieg aber weiterhin. »Im Frühjahr… « setzte Ram an. »Im Frühjahr ist es zu spät.« Die Kriegerin hob den Kopf und sah Ram an. Er hatte das breite Kinn vorgeschoben und preßte die Lip pen zusammen. »Es ist schon jetzt zu spät«, sagte er. »Sternenfalke – willst du denn, daß ich alles aufschreibe, daß ich dir alles schriftlich erkläre, obgleich ich weder mit der Feder noch mit Worten gut umzugehen verstehe? Ich liebe dich. Ich möchte, daß du meine Frau wirst und du hier mit mir in diesem Haus lebst.« Und mit ein wenig unbeholfener Leidenschaft schloß er sie in die Arme und küßte sie. Vor Überraschung darüber, daß ein Mann derartige Worte an sie richtete und auch wegen der festen Umarmung Rams konnte sie sich einige Sekunden lang überhaupt nicht rühren. Die beiden Beziehun gen zu Männern, die sie gehabt hatte, während sie der Streitmacht Sonnenwolfs angehörte, waren nur vorübergehender Natur gewesen, fast flüchtig – nichts weiter als der Ausdruck einer Suche nach je mandem, von dem sie wußte, daß sie ihn nie finden würde. In diesem Fall jedoch war alles anders. Ram bot ihr nicht nur seinen Körper für eine Nacht an, sondern einen Platz in seinem Leben und in diesem Haus. Das erschien ihr mindestens ebenso verlockend wie die Männ lichkeit des Hünen selbst. Offenbar bemerkte Ram ihr Zögern, ihre Unentschlossenheit, denn er wich ein wenig von ihr zurück, ohne sie ganz loszulassen. Ein Schatten von Kummer verdüsterte sein Gesicht. »Nun?« Erfüllt vom inneren Sturm der Gefühle musterte Sternenfalke ihn zum erstenmal nicht als einen Reisebegleiter oder als einen Dilettan ten des Krieges, sondern als einen Mann, als einen Gegenpol für die Weiblichkeit in ihr. Sie hatte es als sehr angenehm empfunden, den Kopf an seine breite Brust zu lehnen und zu spüren, wie seine mus kulösen Arme sie festhielten. Davon ging ein Trost aus, den sie in dieser Form und Intensität bisher noch nie kennengelernt hatte. Sie erinnerte sich daran, gedacht zu haben: Er ist Sonnenwolf so ähn lich… Und sie wandte sich ab, als sich jähe, hilflose Scham in ihr bildete, als Bitterkeit und tiefes Bedauern in ihr entstanden. Still gab sie Anyog die Schuld, verfluchte ihn dafür, ihr ihre Weiblichkeit bewußt gemacht zu haben. Sie verdammte ihn dafür, daß Ram auf den neuen Aspekt ihres Wesens aufmerksam geworden war, dieser gutmütige und immer hilfsbereite, riesenhafte Mann, der 193
sich etwas wünschte, was er nie würde bekommen können. Sie hörte das Rascheln seiner Kleidung, und sie wich zurück, be vor er sie erneut zu berühren vermochte. »Nicht«, murmelte sie mü de, sah auf und entdeckte den Schmerz in seinen Augen. »Kannst du denn nichts anderes sein als eine Kriegerin?« fragte er mit sanfter Stimme. Brennendes Schuldbewußtsein loderte in ihr auf. Die ehrliche Sympathie, die sie für ihn empfand, machte alles nur noch schlimmer. Doch sie liebte ihn nicht mehr als Ari. Und sie konnte sich nicht vorstellen, einen schwerfälligen und gutmütigen Händler zu heiraten und sich ständig mit seinem Bestreben auseinandersetzen zu müssen, sie als Frau zu beschützen und ihren Lebensweg zu bestimmen. »Es wäre dir gegenüber nicht fair«, sagte sie. »Es wäre nicht richtig, wenn ich eine Kämpferin zur Frau neh me?« Ein dünnes Lächeln umspielte die Lippen Rams. »Aber in einem solchen Fall wärst du doch gar keine Kriegerin mehr, oder? Sicher, meine Brüder würden mich bestimmt verspotten, aber du könntest mir helfen und ihnen einen Denkzettel verpassen.« Als sie keine Antwort gab, wurde Ram wieder ernst. »Na schön«, sagte er nach einer Weile. »Es tut mir leid, daß ich dich darauf angesprochen habe, Sternenfalke. Bitte glaub jetzt nicht, du müßtest dieses Haus vorzeitig verlassen, um meiner Leidenschaft zu entgehen. Ich werde dieses Thema nicht erneut anschneiden.« Sie senkte den Blick und schwieg. Sie wußte, daß sie Ram eine Antwort hätte geben müssen, ihm sagen sollen, daß sie ihn zwar nicht liebte, ihn aber als Kameraden sehr mochte und sogar seinen Brüdern vorzog. Sie verspürte den Wunsch, ihm mitzuteilen, daß sie, hätte sie sich nicht mit einer ebenso verzweifelten wie hoffnungslo sen Liebe auseinandersetzen müssen, sehr gern dazu bereit gewesen wäre, mit seiner lauten und sympathischen Familie zu leben… Aber sie war nicht dazu in der Lage, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Tatsächlich gab es niemanden, mit dem sie darüber hätte sprechen können. Es existierte nur ein Mann, dem sie so weit ver traute, daß sie dazu bereit war, ihm ihre Gefühle zu offenbaren – und das war ausgerechnet der Mann, der vielleicht niemals davon erfah ren würde. Der Geliebte Kitz'… Sternenfalke zog sich um und ging nach unten, um mit den ande ren das Abendessen einzunehmen. Später konnte sie sich kaum mehr daran erinnern, was sie gegessen und auf die wenigen Fragen und 194
Bemerkungen erwidert hatte. Ram saß ebenfalls am Tisch, blaß und trotz des gutmütigen Spotts seiner Brüder sehr schweigsam, aber irgendwann merkte sie, daß auch Kitz an diesem Abend wenig zu sagen hatte. Der flinke Blick der schwarzen Augen Pel Weitschritts huschte von Gesicht zu Gesicht, doch die kluge und umsichtige Kauffrau fragte nicht nach der Ursache der Stille und gab ihrem jüngsten Sohn unter dem Tisch einen Tritt, als er Ram mit dröhnender Stimme fragte, warum er denn keinen Appetit habe und ob er etwa verliebt sei. Es heißt immer, daß verliebte Frauen auf diese Weise reagieren, dachte Sternenfalke, und sie zog sich so rasch wie möglich zurück. Große Mutter, ich habe mir nach der Plünderung ganzer Städte und dem Gemetzel unter der unschuldigen Zivilbevölkerung ohne Beden ken den Bauch vollgeschlagen. Warum sollte das ›Nein‹ einem schwerfälligen Händler gegenüber, den ich nicht einmal liebe, mir den Appetit nehmen? Sonnenwolf würde mir das Fell über die Ohren ziehen. Nein, dachte sie. Er würde mich verstehen. Vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer blieb sie stehen, und mit der Kerze in der Hand beobachtete sie sich eine ganze Weile, musterte das blasse und feinknochige Gesicht. Sie vermochte nichts zu entdecken, was irgendein Mann selbst mit Takt und Höflichkeit als hübsch hätte bezeichnen können. Zwar standen die Jochbeine nicht vor, und ihre Haut war von dem reinen Weiß, das Männer bevorzugten, doch es entging ihr nicht, daß die Nase sowohl zu lang als auch zu breit war. Sie betrachtete die zu dünnen Lippen. Trotz der zarten Struktur wirkte ihr Gesicht grob schlächtig, wie das eines typischen Kämpfers. Im unsteten Licht der Kerze erschimmerte feines, helles Haar, das im matten Licht eher lohfarben wirkte. Im hellen Sonnenschein hingegen war es fast weiß und fast immer so zerzaust wie das von Kindern. Während der Reise war es gewachsen, und einige struppige Strähnen fielen ihr auf die hohlen Wangen. Das Sonnenlicht gab ihren Augen einen fast silbri gen Ton, doch jetzt waren sie rauchfarben und fast so dunkel wie die grauen Ringe darunter. Ihre Lider waren lang und farblos. An der einen Wange zeigte sich eine Narbe, wie eine mit zittriger Hand gezogene, rosafarbene Linie. Während des Bades hatte sie einen Hauch des alten Schmerzes gefühlt, der im Schlüsselbein erneut begann und eine Handspanne weit bis zur Brust reichte. Sie erinnerte sich an eine Zeit, zu der sie stolz auf ihre Narben 195
gewesen war. Wer außer Ram, so überlegte sie, wäre dazu bereit gewesen, eine Kriegerin zur Frau zu nehmen? Bestimmt kein Mann, der zwischen zarten jungen Schönheiten von der Art Kitz' hätte wählen können. Hinter ihr öffnete sich die Tür. Im Spiegel sah sie den Schein ei ner weiteren Kerze. Das Licht fiel auf ein Gewand aus braunem Samt, das verziert war mit dem Seidenstoff, wie ihn die Frauen der Buchteninseln bevorzugten. Das Gesicht war halb im Schatten ver borgen. Sternenfalke wandte sich vom Spiegel ab. »Wie fühlst du dich?« fragte sie. Kitz zuckte mit den Schultern und setzte die Kerze ab. »Wie neu geboren«, erwiderte sie leise. »So als… als sei nach einem langen und schlimmen Winter der Frühling gekommen.« Sie trat an den kleinen Tisch neben dem Fenster und griff gewohnheitsmäßig nach ihrer Haarbürste. Doch sie zögerte und legte sie wieder beiseite. Die Kriegerin erinnerte sich daran, daß sie das Abendessen kaum ange rührt hatte. Im seidenen Licht von Lampe und Kerze war deutlich zu sehen, daß die Hände der jungen Frau zitterten. »Bereit zum Aufbruch?« fragte Sternenfalke, mit kaum merkli chem Vibrieren in ihrer Stimme. Der Geliebte Kitz', hatte Ram ge sagt. Doch es gab keinen Grund, die junge Frau damit zu belasten. Es war nicht ihre Schuld, daß man sie geraubt und an Sonnenwolf verkauft hatte. Der Söldnerführer schwebte sicher in großer Gefahr – war vielleicht schon tot –, und Kitz hatte ihr Leben riskiert, um ihn zu finden. Die junge Frau schwieg eine Zeitlang, starrte nachdenklich auf die Haarbürste und mied den Blick der Kriegerin. Schließlich ant wortete sie mit gedämpfter Stimme: »Nein.« Sie sah auf, ihr Gesicht verzerrte sich kurz in einem Anflug von fast kindlichem und ge zwungenem Trotz. »Ich komme nicht mit dir.« Selbst der so unerwartete Heiratsantrag Rams hatte Sternenfalke nicht so verblüfft. Einige Sekunden lang starrte sie Kitz nur an, und ihre erste Reaktion bestand aus Empörung darüber, daß die junge Frau den Mann, den sie liebte, einfach im Stich lassen wollte. Kitz' wirkte sehr unsicher. »Ich bleibe hier«, sagte sie rauh. »Und ich… ich heirate Orris.« »Was?« Plötzlich füllten sich die Augen der jungen Frau mit Tränen der Scham und der Verzweiflung. Sternenfalke ging rasch auf sie zu, nahm Kitz in die Arme und spendete ihr Trost, während 196
sie versuchte, ihre eigene Fassung zurückzugewinnen. Kitz begann zu schluchzen. »Sei bitte nicht böse auf mich, Ster nenfalke. Bitte, sei mir nicht böse. Sonnenwolf war so gut zu mir, so freundlich. Er rettete mich vor einem schlimmen Schicksal, das mich sicher erwartet hätte, wäre ich nach der Verschleppung von einem anderen Mann gekauft worden. Aber… aber Anyog hatte recht. Ich habe ihn gehört, als er im Wirtshaus sagte, wir können niemals ohne die Hilfe eines Zauberers in die Zitadelle eindringen – ich stand im Flur und habe ihn ganz deutlich gehört. Allein können wir nichts gegen Altiokis ausrichten. Und es gibt keine anderen Magier mehr. Er ist der letzte, der letzte seiner Art… « Es sei denn, wir setzen Anyog irgendwie die Daumenschrauben an, dachte Sternenfalke grimmig. Laut jedoch antwortete sie: »Wir werden einen finden.« Ihre Ehrlichkeit zwang sie dazu anzuerken nen, daß Kitz Sonnenwolf ebenso liebte wie sie. Schließlich hatte sich die junge Frau aus diesem Grund dazu entschlossen, die Kriege rin zu begleiten. »Nein«, hauchte Kitz. »Und selbst wenn du recht hättest – es geht nicht nur darum, Falke.« Sie wich ein wenig zurück und sah ernst zu der größeren Frau auf. »Es geht um mehr, Sternenfalke. Ich möchte ein Zuhause. Ich möchte eigene Kinder. Selbst wenn wir Sonnenwolf finden, wenn er noch nicht tot ist – ich möchte nicht länger als die Frau eines Söldners leben. Ich liebe ihn; ich glaube, ich habe ihn immer geliebt. Aber ich habe nicht mehr die Absicht, jeden Abend an Lagerfeuern zu verbringen und nicht zu wissen, was der nächste Tag bereithält. Das kann ich einfach nicht mehr.« Ihre noch immer zitternden Hände deuteten auf die Vorhänge des Bettes, die Lampen, den mit einem langen Mantel bekleideten Heili gen auf dem Wandgemälde, der zu den Seejungfern predigte. »Dies Haus ist so wie das, in dem ich aufgewachsen bin, Falke. Dies ist das Leben, das ich liebe. Ich gehöre hierher. « Und mit einem schiefen Lächeln fügte sie hinzu: »Und glaub mir: Auf lange Sicht ist es bes ser, in eine Familie kluger und arbeitsamer Kaufleute einzuheiraten, als die Mätresse selbst des reichsten Söldners zu sein.« Sternenfalke war so verwirrt, daß sie keine Antwort geben konn te. In ihrer Verblüffung starrte sie nur weiterhin die junge Frau an und fragte sich, wie jemand, der die Liebe Sonnenwolfs genoß, dazu in der Lage sein konnte, sie für einen lärmenden, streitsüchtigen und schwerfälligen Händler wie Orris Weitschritt aufzugeben. Kitz machte sich behutsam aus der Umarmung der Kriegerin frei 197
und trat ans Fenster heran. Der ihr bis zum Hals reichende Stoff des Gewandes verbarg einen Teil der Verbände über den Wunden, die vom Biß des Nuuwa stammten. Wie Sternenfalke würde sie die Nar ben niemals verlieren. Ihre Stimme klang ganz leise und sanft, als sie fortfuhr: »Ich habe heute nachmittag mit Pel darüber gesprochen. Ich weiß, daß Orris ein Auge auf mich geworfen hat. Und ich… ich möchte hier ein neues Zuhause finden, Falke. Ich möchte eine Fami lie und einen Platz, an dem ich mich wohlfühle. Ich möchte sicher sein können, daß mein Mann nicht während der Feldzüge der nächs ten Wochen den Tod findet oder mich im nächsten Jahr gegen eine andere Sklavin eintauscht. Ich liebe dieses Haus, und ich liebe die Menschen, die hier wohnen. Verstehst du, was ich meine?« »Ja«, erwiderte die Krieger in mit leiser Stimme. »Ja, ich verste he dich.« »Und was hast du nun vor?« fragte Kitz. Sternenfalke zuckte mit den Schultern. »Ich setze die Reise allein fort.« Und am nächsten Tag brach sie auf. Pel, Orris, Gillie und die Kinder begleiteten sie bis ans Stadttor. Sie hatten sich Ölzeug über gezogen, um sich vor dem Regen zu schützen. Anyog ging es zwar schon wieder so gut, daß er umhergehen konnte, aber er war im Haus zurückgeblieben, wie auch Ram und Kitz. Jeder von ihnen hatte seine eigenen und ganz persönlichen Gründe. Während des ganzen Weges durch die manchmal sehr abschüssi gen und wegen der Nässe glatten Straßen mit dem gewölbten Kopf steinpflaster ermahnte Orris sie immer wieder, vorsichtig zu sein und keine unnötigen Gefahren einzugehen, und er gab ihr Ratschläge in bezug auf die Wege, die durch das Strenwassertal führten und von dort aus nach Nordosten, nach Hackenrippe. Er warnte sie vor den Banditen, die sich dort herumtreiben sollten, wies sie auch auf die Gefahren hin, die im von Altiokis beherrschten Land lauern moch ten. »Weißt du, Mädchen, die Räuber würden sich nicht einfach damit begnügen, dir das Pferd und das Lasttier zu stehlen«, meinte er besorgt – Pel hatte der Kriegerin eine Stute und ein Maultier zur Verfügung gestellt. »Dieser Altiokis… er heuerte Söldner an, und im Osten wimmelte es nur so von seinen Schergen. Das sind keine freundlichen Zeitgenossen… « Sternenfalke seufzte geduldig, und dann und wann schlug sie die Kapuze zurück und warf Orris einen kurzen Blick zu. »Über Söldner weiß ich alles Nötige.« 198
»Ja, aber… « »Laß die arme Frau doch endlich in Ruhe«, sagte Pel scharf. »Lieber Himmel, es ist mir ein Rätsel, wie sie dich während des langen Weges hierher ertragen hat.« Ihr Lächeln war ein weißes Aufblitzen im zigeunerbraunen Gesicht. Ihre Kapuze entsprach der üblichen Mode, und unter ihrer Wölbung leuchtete matt die gefloch tene Borte ihrer Witwenkappe im grauen Tageslicht. Sie ging rasch zu Sternenfalke, die die Spitze der kleinen Kolonne bildete, und ergriff ihre Hand. Mit gedämpfter Stimme fügte sie hinzu: »Wir sind alle glücklich gewesen, daß du uns Gesellschaft geleistet hast. Deine Gegenwart war es in erster Linie, die zu der raschen Genesung Kitz' führte. Tatsächlich hast du ihr dadurch vielleicht sogar das Leben gerettet. Hättest du sie an einem fremden Ort alleingelassen, wäre sie vermut lich gestorben.« Sternenfalke gab keine Antwort. Hinsichtlich der jungen Frau empfand sie nach wie vor ein gewisses Unbehagen, fast so etwas wie Schuld. Doch in ihrem ausdruckslosen Gesicht zeigte sich nichts von ihren gemischten Gefühlen. Pel schien ihr Schweigen als das zu akzeptieren, was es war, und sie hielt mit ihr Schritt, hob dann und wann den Saum des langen schwarzen Rockes, um ihn nicht in das Schmutzwasser eintauchen zu lassen, das hier und dort in den Rinn steinen gurgelte und schäumte. Orris gab sich noch immer nicht zufrieden. »Söldner sind ein ganz besonderer Menschenschlag, Sternenfalke – und damit möchte ich dir keineswegs zu nahe treten. Und außerdem heißt es, der Fins tere Adler, den Altiokis als Kommandeur seiner Truppe einsetzte, soll der Schlimmste von ihnen allen sein.« »Der Finstere Adler?« Sternenfalke zog die Augenbrauen hoch. »Ja. Ein sehr böser Mann soll er sein… « »Ach, sei still«, warf Pel ein. »Die Kriegerin hat wahrscheinlich schon unter ihm gedient, nicht wahr, Mädel?« »Das stimmt in der Tat«, bestätigte Sternenfalke, und Orris schien entsetzt zu sein. Idjit hockte im Sattel der Stute und sagte: »Ich zieh' mit Falke los.« »Das heißt ›Ich möchte Falke begleiten‹«, berichtigte Gillie, die die Stute an den Zügeln führte. »Und was das angeht: Du bleibst hübsch hier, Söhnchen.« »Dann reisch ich eben ausch«, erwiderte Idjit im Dialekt der 199
Buchtenküste – obgleich seine Mutter so großen Wert darauf legte, ihn eine dezente Sprechweise zu lehren. Keltie, die es sich inmitten der Packtaschen auf dem Rücken des Maultiers bequem gemacht hatte, starrte ihren Bruder mit großen blauen Augen bewundernd an. Gillie schien verärgert zu sein, doch Sternenfalke sagte nur: »Schon gut, Gillie. Selbst wenn ich ein Kind mitnehmen könnte, was nicht der Fall ist: Auf die Gesellschaft eines Knaben, der wie ein Fischer redet, lege ich keinen großen Wert.« Auf diese Zurechtweisung durch seine Heldin hin schmollte Idjit, und Pel verbarg ein schadenfrohes Grinsen. Kurz darauf erreichten sie die breiten und nicht sonderlich hohen Türme des Stadttores. Inmitten der Menge aus nach Pergemis kommenden Bauern verab schiedeten sie sich. Sternenfalke hob die Kinder vom Rücken der Tiere herunter, nahm anschließend den Platz Idjits ein und beugte sich vor, um Orris und Gillie die Hand zu drücken. Sie vermißte sie schon jetzt – besonders Ram und Anyog und Kitz, die sie nicht hier her begleitet hatten. Aber vermutlich, so dachte die Kriegerin, hätte sie ihnen ohnehin kaum noch etwas sagen können. Welche Worte sollte man an einen Mann richten, den man verließ, um einen ande ren zu suchen – oder an die Frau, die die Suche aufgegeben hatte? Und obgleich sie Anyog gegenüber nicht erwähnt hatte, wie sehr sie die Hilfe eines Zauberers brauchte, war sie doch sicher, daß er ganz genau darüber Bescheid wußte. Sie hatte nichts gegen ihn, weil er sich als furchtsam erwies, ahnte aber, daß er sich deswegen selbst Vorwürfe machte. »Das Strenwassertal dürfte zu dieser Jahreszeit überflutet sein«, sagte Orris. »Am besten, du suchst dir einen Weg durch die Vorber ge.« Als eine Marktfrau einige Gänse durch das Stadttor trieb, scheute die Stute, eher beleidigt als aus Angst. Unter dem Regenschutz des vorstehenden Wächterhausdaches bot ein Junge in einer Grillpfanne geröstete Kastanien an. Mit unablässiger Beständigkeit prasselte der Regen auf die Schieferdächer und die schwarze Ölhaut Sternenfal kes. Dieses Geräusch und den Geruch nach Fisch und dem nahen Meer würde sie nie wieder vergessen, bis ans Ende ihres Lebens mit den Personen in ihrer Begleitung in Zusammenhang bringen – mit den beiden Kindern, die Gillie Weitschritt an den Händen hielt, mit dem riesenhaften Orris, der sie einmal mehr dazu ermahnte, beson ders in abgelegenen Wirtshäusern mit Gefahren zu rechnen, und mit Pel Weitschritt, die aussah wie ein kleiner brauner Sperling und ihr 200
nun die Hand reichte. »Gib gut auf dich acht, Mädel«, sagte sie freundlich. »Und denk daran: Hier wirst du immer mit offenen Armen empfangen.« Sternenfalke beugte sich vor und küßte sie. Dann zog sie an den Zügeln und zwang den Kopf der Stute herum. Das Maultier erwies sich zunächst als störrisch, machte den Hals so lang, wie es ihm möglich war, und gab erst dann dem Zug der Leine nach. Die Krie gerin ließ die Familie Weitschritt am Tor zurück, inmitten der allge meinen Geschäftigkeit. Sie drehte sich nicht noch einmal um. Du hast dich schon von vielen Menschen verabschiedet, sagte sie sich, um den verräterischen Schmerz in ihrem Herzen zu betäuben. Anschließend hast du sie alle vergessen – bis auf einen. Die Einsam keit ist ein verläßlicher Freund. Sie überlegte, ob Finsterer Adler vielleicht dazu bereit war, sie als Kriegerin in seine Dienste zu nehmen. Auf diese Weise bot sich ihr möglicherweise eine Gelegenheit, in die Zitadelle zu gelangen, ohne dazu auf die Hilfe eines Zauberers angewiesen zu sein. Nach den Auskünften Rams und seiner Brüder glaubten die meisten Men schen nicht mehr an die Existenz weiterer Magier – nur an Altiokis, jene übermenschliche, unsterbliche und unbesiegbare Macht, die in der Dunkelheit der Tchard-Berge lauerte. Eine Bö fuhr ihr unter den Umhang und ließ ihn wie eine Fahne flattern. Weiße Wolkenfetzen wehten dahin und enthüllten in der Ferne die Vorberge des Gebirgszuges, der das Herrschaftsgebiet des Zauberkönigs auf dieser Seite abschirmte. Wie lange mochte es noch dauern, fragte sich Sternenfalke, bis Altiokis den Blick seiner machtgierigen Augen auch auf die Buchtenküste richtete, so wie zuvor auf Mandrigin und die Meeresstraßen des Megantischen Oze ans? Einmal hatte sie die Ereignisse im Nordosten mit einer gewissen interessierten Faszination beobachtet, ebenso wie Sonnenwolf, und den richtigen Zeitpunkt abgewartet, um einen eigenen Vorteil daraus zu ziehen. Sie hatte mitgeholfen, viele Städte zu plündern und nie derzubrennen – tatsächlich war dies das erste Mal, so erinnerte sie sich, daß sie längere Zeit über in einer Siedlung des Friedens ge wohnt hatte. Pel, Ram und Orris waren die Bürger, die Falke und die anderen Kämpfer umgebracht hatten, Idjit und Keltie die Kinder, die in die Sklaverei verschleppt worden waren. Die Kriegerin schüttelte den Kopf und verdrängte diese Überle gungen. Alles zu seiner Zeit, dachte sie. Jetzt heißt es überlegen, wie 201
ich vorgehen soll, wenn ich die Zitadelle Grimmwall erreiche. Fins terer Adler wußte sicher von ihrer unerschütterlichen Loyalität Son nenwolf gegenüber – er hatte sie beide zusammen kämpfen sehen, bei den gemeinsamen Feldzügen im Osten. Selbst wenn sie sich irgendeine Ausrede einfallen ließ und behauptete, es sei zu Mißstimmigkeiten zwischen ihr und dem Anführer gekommen – die Tatsache, daß sich Sonnenwolf ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt als Gefangener in der Festung befand, mußte das Mißtrauen des Finste ren Adlers erwecken. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als tat sächlich einen anderen Magier zu finden – einen Zauberer, der sich nicht so sehr vor Altiokis fürchtete, daß er seine eigene Macht verbarg, am besten jemanden, der die Große Prüfung abgelegt hatte. Aber das grüne Land der Großen Mutter war weit, und die vielen Tage, die Sternenfalke in Pergemis verloren hatte, erinnerten sie daran, wie rasch ein Mann den Tod finden konnte. Verdammte Kitz, dachte die Kriegerin verbittert – und empfand sofort das unangenehme Prickeln einer dumpfen Schuld. Bestimmt hatte die junge Frau nicht von Anfang an die Absicht gehabt, in Pergemis zu verweilen – und außerdem mochte Pel Weitschritt durchaus recht gehabt haben. Sternenfalke wußte zwar, daß Kitz ihre Rivalin war, hätte sich jedoch außerstande gesehen, sie im Stich zu lassen. Hufe pochten über das Pflaster der Straße. Sternenfalke drehte sich im Sattel um. Sie sah einen einzelnen Reiter, wie sie gekleidet in einen schwarzen Überwurf, der vor dem Regen schützte. Die weiten Falten des Ponchos wehten im Wind. Der Reiter schloß zu ihr auf, und der Atem des Pferdes dampfte als grauer Dunst aus den Nüstern. »Hast du den Verstand verloren?« fragte Sternenfalke. »Vermutlich.« Onkel Anyog schwitzte und hielt sich am Sattel knauf fest, um nicht den Halt zu verlieren. Das Gesicht über dem struppigen Bart war ein weißer Fleck. »Aber ich konnte dich nicht allein losziehen lassen, Kriegertäubchen.« Sie musterte ihn aus halb zusammengekniffenen Augen. »Willst du mich in Zukunft etwa ebenso wie Ram ›Mädel‹ oder ›Mädchen‹ nennen?« Er lächelte. Sternenfalke zog an den Zügeln ihrer Stute und diri gierte das Pferd in Richtung der Straße, die nach den Vorbergen und schließlich ins Tchard-Gebirge führte. Anyog folgte ihr. »Hat Ram dich geschickt?« fragte sie plötzlich. »Sicher würdest du mich nicht mehr in dem Maße für überge 202
schnappt halten, könnte ich behaupten, Ram habe mir einen schreck lichen Tod für den Fall angedroht, daß ich dir nicht zu Hilfe eile.« Der alte Mann seufzte. »Ach, aber wenn man alt wird, neigt man zu Torheiten. Ich bin auf eigene Faust losgeritten, und von den anderen weiß niemand etwas davon. Ich hinterließ Pel eine Nachricht.« »Die bestimmt drei Seiten lang ist«, bemerkte Sternenfalke tro cken. »Und formuliert im besten jambischen Pentameter«, fügte er stolz hinzu. Anyog schnappte noch immer nach Luft. Sternenfalke konnte sehen, daß er trotz des schwarzen Ölzeugs so gekleidet war wie immer – wie ein Edelmann. »Ach, Täubchen, ich weiß, aus wel chem Grund du die prankenartige und doch so sanfte Hand Rams zurückgewiesen hast – und ich schätze, ich ahne auch, warum du damals das Kloster verließest.« Sternenfalke drehte ruckartig den Kopf und warf dem alten Mann einen durchdringenden Blick zu. »O ja, ich habe dich meditieren sehen, und ich weiß, daß du das nicht als Söldnerin gelernt hast… Ich würde gern wissen, warum du einst eine Schwester wurdest.« Die Kriegerin zog die Zügel an, und sie begegnete dem neugieri gen Funkeln in den dunklen Augen des alten Mannes mit kühler Zurückhaltung. »Ich lehne niemals angebotene Hilfe ab«, stellte sie fest. »Und ich werde dich auch nicht dazu auffordern, nach Pergemis zurückzukehren, denn ich brauche dich. Aber das bedeutet nicht, daß ich nicht dazu bereit wäre, dich wie einen Sack zusammenzuschnü ren und auf dem Rücken des Maultieres nach Grimmwall zu bringen, so wie wir dich nach Pergemis verfrachtet haben, wenn du mich weiterhin nach Dingen fragst, die dich nichts angehen.« Sie wandte den Kopf und ritt weiter. »Aber sie gehen mich etwas an, Täubchen«, erwiderte Anyog unbeeindruckt. »Denn ich glaube, wir ähneln uns mehr, als du zu zugeben bereit bist. Ich vermute, du bist aus dem gleichen Grund Schwester geworden, der dich später dazu veranlaßte, Kriegerin zu werden: Weil du dich nicht unterwerfen wolltest, nicht dazu bereit warst, dich der Knechtschaft eines festen Heims, eigener Kinder und den Launen eines Ehemannes zu fügen. Angesichts dieser Aussich ten hieltest du alle Alternativen für besser. Denn du brauchst ein Leben, dessen Farben heller und kräftiger sind, und du ziehst von Blitzen durchzuckte Finsternis ewigem Zwielicht vor. Ach, Kind chen«, fügte der alte Mann mit sanfterer Stimme hinzu und dirigierte sein rotbraunes Pferd auf der schmalen Straße an die Seite der Stute 203
Sternenfalkes, »ich war ebensowenig dazu in der Lage, weiterhin in dem so anheimelnden Haus meiner Schwester zu leben und mich bemuttern zu lassen, wie ich imstande wäre, zu einem Kämpfer dei ner Art zu werden. Ich habe mich lange genug von meiner Furcht unterjochen las sen«, fügte er hinzu und zog sich das Ölzeug enger um die Schultern. »Und erst jetzt begreife ich, wie sehr sie mich beherrschte.«
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12. Kapitel Sonnenwolf blieb stehen, als er in der Dunkelheit das Geräusch leiser sich nähernder Schritte hörte. Von der Treppe her, dachte er. Er seufzte tief und ein wenig verärgert, und er verlagerte sein Ge wicht so wie ein Krieger, der sich zum Kampfbereit machte. Das gedämpfte Knarren verklang. In der kalten Finsternis hörte Sonnen wolf nur sein eigenes Atmen. Irgendwo knackte es im Holz. Und dann spürte der Söldner plötz lich ein Gewicht auf den Schultern – ein leichtes, muskulöses Ge wicht – , wie das des Leibes einer Katze, elegant und geschmeidig. Er drehte sich um und schob die glatten Arme beiseite, die sich um seinen Hals schließen wollten. Noch immer umgab ihn pechschwar ze Dunkelheit. Wolf streckte die Hand aus und zwickte die kleine Nase, die in seiner unmittelbaren Nähe vor Anstrengung schnaufte. Das ölige Zischen heißen Metalls wurde hörbar, als jemand eine Lampe anzündete. Überall um Sonnenwolf herum standen die Frauen Mandrigins, das Haar sorgfältig zusammengesteckt, die Arme, deren Muskeln in den letzten Tagen und Wochen gewachsen waren, verschränkt, in den Augen blitzende Aufmerksamkeit und auch so etwas wie Enttäu schung. »Du schiebst die Schultern vor«, wandte sich Sonnenwolf an die Güldene Shorad. »Dein Schwerpunkt jedoch liegt tiefer als der eines Mannes – das ist auch der Grund, warum das Ringen euch Frauen untereinander so schwerfällt. Doch einem männlichen Gegner ge genüber stellt das einen Vorteil dar. Bewegt euch aus den Hüften heraus – so. Setzt euren Körper in gewisser Weise wie einen Hebel gegen mich ein. Wenn jemand von eurer Statur versucht, jemanden von meiner Größe allein durch Kraft zu bezwingen, so ist das nicht nur töricht, sondern grenzt geradezu an Selbstmord.« Rote Flecken der Verlegenheit bildeten sich auf den Wangen der Güldenen Shorad, und sie antwortete: »Ja, Herr. Ich habe verstanden, Herr.« »Und außerdem habe ich dich kommen gehört.« Daraufhin murmelte die Frau leise einen Ausdruck, der offenbar aus dem Vokabular Irrerots stammte. Sonnenwolf sah die anderen Rekrutinnen an. »Wer ist die nächs te?« 205
Er hörte, wie die hinter ihm stehende Güldene Shorad in wortlo sem Protest zischend Luft holte. Als er sich umdrehte und fragend die Augenbraue hob, sagte sie: »Könnte ich es noch einmal versu chen?« »Nein«, erwiderte er ruhig. »Du hattest nämlich nur eine Chance, und jetzt bist du tot. Gesell dich wieder zu den anderen.« Ohne ein weiteres Wort kehrte die Güldene an ihren Platz neben einem der umgedrehten Pflanzenkübel zurück und ließ sich zwischen Wilarne und ihrer Tochter Tisa nieder. Zum bisher zehnten Mal an diesem Abend begab sich Sonnenwolf in das kleine Nebenzimmer, das sich an die eigentliche Orangerie anschloß, um auf diese Weise der nächsten Frau die Gelegenheit zu geben, ihn – möglichst überra schend – anzugreifen. Das gedämpfte Licht der abgeschirmten Lam pe warf seinen Schatten, groß und grotesk und zitternd, an die graue Holzvertäfelung der Wand. Er hörte, wie Denga Rey an der Docht schraube drehte und fluchte, als sie sich die Finger verbrannte. Als er die Tür hinter sich schloß, vernahm er die leisen Stimmen der Frauen. Die Güldene, die nie um eine Erklärung verlegen war, hatte dem Söldner gegenüber behauptet, auf diese Weise sollten die Geräusche übertönt werden, die die nächste Angreiferin verursachen mochte, während sie ihren Platz einnahm. Sonnenwolf hingegen argwöhnte, daß die Frauen auf diese Weise nur dem Laster ihrer Klatschhaftig keit frönten. Es handelte sich dabei um eine weibliche Eigenschaft, die er so gar bei Sternenfalke bemerkt hatte – obgleich ihm das kein Kämpfer der Streitmacht geglaubt hätte. Soweit er wußte, war er der einzige Mann, dem gegenüber sie offen sprach, nicht etwa von den alltägli chen Dingen des Lagergeschehens, sondern von dem, was sie wirk lich bewegte, von ihrer Vergangenheit und dem, was sie sich von der Zukunft erhoffte. Sie hatten sich über das Anlegen von Gärten unter halten, über Theologie, die Ursachen der Furcht. In einer sonderba ren Weise hatte sich Sonnenwolf geehrt gefühlt, als er begriff, daß Sternenfalke ihm solches Vertrauen entgegenbrachte, denn allen anderen Männern gegenüber gab sich die Kriegerin betont kühl und zurückhaltend. Die meisten hatten sogar ein wenig Angst vor ihr. Sonnenwolf reagierte mit Verblüffung auf die Einsicht, daß er sie liebte. Denn einerseits bestand einer der fatalsten Fehler eines Kom mandeurs darin, sich in einen seiner Offiziere zu verlieben, ob es sich dabei nun um eine Frau oder einen Mann handelte. Irgendwann 206
erfuhren die anderen Kämpfer davon, und so etwas führte immer zu Schwierigkeiten. Andererseits jedoch war Sternenfalke mit Leib und Seele eine Kriegerin. Und sie begegnete allen Problemen, die diese Art des Lebens ihr bescherte, mit emotionsloser Logik und Vernunft. Die Beziehungen, die sie dann und wann zu den Männern der Streit macht unterhalten hatte, endeten in dem Augenblick, als sie sie zu belasten begannen. Sonnenwolf wußte nicht genau, wie sie sich verhalten würde, wenn er nach Wrynde zurückkehrte und ihr sagte: »Ich liebe dich, Sternenfalke.« Und doch freute er sich auf ein Wiedersehen mit der Kriegerin, freute sich bereits auf ihre ironische Frage, ob ihn all die Frauen Mandrigins nur deswegen entführt hatten, um ihn als eine Art Zucht hengst zu benutzen. An der Tür ertönte ein respektvolles Klopfen. Sonnenwolf öffne te sie und bedeutete Denga Rey, das Licht der Lampe zu löschen. Anschließend setzte er sich in Bewegung, marschierte mit den lang samen und gleichmäßigen Schritten eines Wachtpostens, durchmaß die Dunkelheit des Raums, lauschte nach den Geräuschen, die die nächste Angreiferin in dem Bemühen verursachen mochte, ihn an zugreifen und zu Boden zu werfen. Diesmal war es Eo. Sie war längst nicht mehr so plump und schwerfällig wie zu Beginn der Ausbildung. Sie hielt sich gut, paßte den Rhythmus ihrer Schritte dem Sonnenwolfs an und dachte auch daran, sich aus den Hüften heraus zu bewegen und nicht die Schul tern vorzuschieben. Der Söldner stürzte zu Boden, und er klopfte Eo auf den Arm, als ihr Handgelenk ihm die Luft abdrückte. Sie ließ ihn sofort los, und als es wieder hell wurde, sah er, daß sie sich besorgt über ihn beugte, aus Furcht davor, ihn verletzt zu haben. Sonnenwolf setzte sich auf, rieb sich die Kehle und lächelte. Es entsprach ganz dem Charakter der Schmiedin, einen Mann erst bewußtlos zu schla gen und ihn anschließend, wenn er wieder zu sich kam, reumütig um Verzeihung zu bitten. Darüber hinaus war diese Verhaltensweise geradezu typisch für die Frauen: Mit großer Besorgnis kümmerten sie sich gegenseitig um die geringfügigen Verletzungen, die sie sich manchmal bei den Ü bungen zuzogen. Sonnenwolf mochte sie verfluchen, sie anbrüllen und beleidigen, aber es gelang ihm nicht, bei den Frauen untereinan der Aggressionen zu wecken. Ihre Kampftechnik war inzwischen recht gut. Die meisten verstanden es, ihre kleinen Körper sinnvoll 207
einzusetzen. Durch die Läufe und das anstrengende Exerzieren jeden Morgen und Abend hatten sie die Reflexe entwickelt, die sie brauch ten, wollten sie es mit größeren und schwereren Gegnern aufnehmen. Aber immer wieder beobachtete der Söldner, wie eine der Frauen während der Schwertausbildung zwar mit aller Entschlossenheit auf die Partnerin eindrosch, anschließend jedoch sofort die Waffe sinken ließ und sich vergewisserte, daß die andere Frau nicht verletzt war, bevor sie die Übungen fortsetzte. Das brachte Sonnenwolf fast zur Raserei. Und wäre er nicht Zeuge gewesen, wie die Rekrutinnen gegen die Nuuwa gekämpft hatten, hätte er – sicher vergeblich – versucht, seine Hände in Unschuld zu waschen. Er mußte sich eingestehen, daß er während der letzten Wochen viele neue Erkenntnisse über Frauen gewonnen hatte. Er hatte festgestellt, daß Frauen untereinander Gespräche führen konnten, deren Zotenhaftigkeit jedem noch so abgebrühten Söldner die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Er hatte das an jenem Abend in dem Bad erfahren, das vom Hauptbereich des Badehauses abgetrennt worden war; nach der Beendigung der Übungen wuschen sich die Frauen im Nebenzimmer und nahmen offenbar an, der Söld ner habe sich bereits in seine Dachkammer zurückgezogen und kön ne sie nicht hören. Es war eine erstaunliche und nachgerade verwir rende Erfahrung für einen Mann gewesen, der mit dem weit verbrei teten maskulinen Mythos der femininen Zartheit aufgewachsen war. »Nicht einmal ich würde solche Witze reißen«, wandte er sich später an Bernsteinauge, die daraufhin kicherte. Einen weiteren besorgniserregenden Wesensaspekt der Frauen stellte nach Meinung Sonnenwolfs ihre ausgeprägte Neigung zur Schelmenhaftigkeit dar. Die Rädelsführer bei den Streichen, in denen es darum ging, ihn zu überfallen, wenn er tropfnaß und nackt aus dem Bad kam, oder ihm anonyme und schlichtweg entsetzlich offene Liebesbriefe zu schicken, waren die Güldene Shorad und Wilarne V'Baum, die sich nach außen hin wie zwei ehrbare Damen der Ge sellschaft zeigten. In der Hauptsache jedoch überraschte ihn die Stärke, die die Frauen bewiesen hatten. Sie waren entschlossen, willensstark und konnten grausamer sein als ein Mann. Sonnenwolf verglich diese Eigenschaften mit etwas Raubkatzenartigem, mit einer anmutigen Kampfbereitschaft, die viele Jahre lang unterdrückt worden war. Trotz der äußerlichen Schönheit und inzwischen nur noch scheinba ren Empfindsamkeit hatte er es mit fünfzig Kriegerinnen zu tun, die 208
sich allen Notwendigkeiten fügten – und das mit einer Hartnäckig keit, die ihm manchmal geradezu Angst machte. Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er allein im Ne benzimmer saß, sich die Hände über einer Kohlenpfanne wärmte und hörte, wie die Frauen die Orangerie verließen. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und die Tropfen prasselten in einem beständigen Stakkato aufs Dach. In den nahen Kanälen rauschte es. Oftmals wa ren die tiefergelegenen Inseln der Stadt des Morgens überflutet, und dann verwandelten sich die großen Plätze Mandrigins in Seen, und es hatte den Anschein, als schwömmen die prächtigen Kirchen und das Rathaus auf den Regenfluten. Die feuchte Kühle schmerzte den Söldner in den Knochen. Die Frauen hüllten sich in pelzbesetztes Leder und nässeabwehrendes Ölzeug. Im Halbdunkel klangen ihre Stimmen wie leise Musik. Bald mußte die nächste Gruppe eintreffen. Durch die schmalen Schlitze der geschlossenen Fensterläden beobachtete er die Schatten der Frauen, die über die Hauswände tanzten. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. Sie hatten einen langen Verwandlungspro zeß hinter sich, waren aus verschleierten und schüchternen Personen, die in der Nähe eines Mannes erröteten – selbst diejenigen, die Kin der großgezogen, die sie schließlich irgendwie“ empfangen haben mußten –, zu kaltblütigen und gefährlichen Kämpferinnen geworden. Und wenn das stimmte, was die Güldene Shorad behauptete, so waren sie inzwischen auch fähige und gescheite Geschäftsleute. Die Männer Mandrigins, fuhr es Sonnenwolf durch den Sinn, würden eine ziemliche Überraschung erleben, wenn sie wieder nach Hause zurückkehrten. Es war fast völlig dunkel im Nebenzimmer, und nur das mohnro te Glühen der Kohle in der Pfanne spendete ein wenig Licht. Ledig lich die Konturen der mit einem hauchdünnen goldenen Rand verse henen Gartenkellen, Harken und einiger in Schalen wachsender Keimlinge waren zu erkennen. Die Gerüche dieser Räumlichkeit waren dem Söldner längst vertraut geworden: Der Duft von Humus, Kompost, von Zedernholz, dem Regen, dem Kies, dem etwas bitte ren Aroma des Kohlehaufens in der Ecke. Von der Tür her kam die Stimme Sheeras, leise und scharf. Sie unterhielt sich mit jemandem, und kurz darauf hörte Sonnenwolf das helle Lachen Drypettis'. Der Name Tarrins fiel – des entführten Prinzen und schimmernden Hoff nungsjuwels für die Stadt Mandrigin – , des Mannes, der nun die Sklaven in den Bergwerken zu Kampfgruppen organisierte. An 209
schließend vernahm er erneut die Stimme Drypettis'. »Er ist deiner würdig, Sheera«, sagte sie. »Von allen Männern der Stadt ist er der einzige, der deine Liebe verdient – der tapferste und edelste. Diese Meinung habe ich schon immer vertreten.« »Und er ist der einzige Mann Mandrigins, den ich jemals wirk lich geliebt habe«, entgegnete Sheera. »Und das macht mich gerade so zornig – daß ihr beide auf eure eigene Art und Weise versklavt und gedemütigt werdet – er durch die Ketten und Peitschen in den Bergwerken und du in den Bara cken. Ich ertrage die Vorstellung nicht, daß du dich einem… einem gewalttätigen und ungebildeten Tölpel fügen mußt, der die Frauen, die für unsere Heimat kämpfen, mit seinen lüsternen Blicken aus zieht und nicht die Hände von ihnen lassen kann…« »Ich habe ihm Bernsteinauge zugewiesen«, berichtigte Sheera taktvoll. »Und sie beklagt sich nicht.« »Er hätte wenigstens so anständig sein und sie zurückweisen können!« Sheera lachte. »Ach, komm schon, Dru! Stell dir nur einmal vor, wie beleidigt sie gewesen wäre!« Sonnenwolf konnte fast sehen, wie Drypettis empört die ge schwungenen Lippen schürzte. »Ja, das war bestimmt sein einziger Beweggrund«, erwiderte sie mit deutlicher Ironie, und einige Au genblicke später hörte der Söldner das leise Pochen des sich schlie ßenden Tores. Kurz darauf ertönte das Geräusch der sich nähernden Schritte Sheeras. Sie blieb in der Tür stehen. Sonnenwolf zog einen Stuhl unter der Werkbank hervor und schob ihn mit dem Fuß in ihre Richtung. Sheera wirkte sehr er schöpft und besorgt, wie immer in der letzten Zeit, wenn eins der Mädchen Neuigkeiten von Tarrin aus den Bergwerken brachte. Sie schenkte dem Stuhl keine Beachtung. »Wenn sie mich so sehr haßt«, sagte Sonnenwolf und hielt die Hände über die zinnoberrot glühenden Kohlen, »warum bleibt sie dann? Sie kann jederzeit die Ausbildung beenden und in ihr Heim zurückkehren; sie wäre kein großer Verlust.« Sheera preßte die Lippen aufeinander, in ihren Augen funkelte es aufgebracht. Sie hatte sich für das Exerzieren umgezogen und eine alte Decke um die Schultern geschlungen, deren dicker Stoff die zarten Formen ihres Körpers fast unförmig aussehen ließ. »Du bist Söldner«, erwiderte sie, »und du beurteilst andere Menschen sicher nach deinen eigenen Maßstäben. Ist es denn unvorstellbar für dich, 210
daß Drypettis bei uns bleibt, obwohl sie dich nicht ausstehen kann? Sie hat eine feste Vorstellung von dem, was wir anstreben, und sie ist entschlossen, ihren eigenen Beitrag zu leisten, so wie ich, wie wir alle.« Sie nickte in die Richtung, in der, etwas weiter entfernt, Denga Rey und Bernsteinauge warteten, die sich leise miteinander unter hielten. »Drypettis ist Bürgerin Mandrigins. sie möchte helfen, der Stadt ihre Freiheit und ihren Stolz zurückzugeben…« »Und die Tatsache, daß sie die Schwester des Statthalters Altio kis' ist, hat sicher nichts damit zu tun, daß sie hier bei uns bleibt, wie?« fragte Sonnenwolf scharf. Sheera schnaufte abfällig. »Derroug könnte hundert bessere Spi one finden.« »Denen du auch so vertrauen würdest wie Drypettis?« »Die vermutlich mehr deinem Geschmack entsprächen«, konterte Sheera schlagfertig. »Vielleicht gibt sie sich zu geziert. Vielleicht ist sie zu eigensinnig. Vielleicht könnte man sie auch als stur und selbstgefällig und arrogant bezeichnen. Aber ich kenne sie schon, seit wir als Kinder gemeinsam zur Schule gingen. Sie würde uns nicht verraten.« »Sie könnte uns verraten, weil sie zu sehr auf sich selbst fixiert ist und nicht die Konsequenzen dessen begreift, was sie macht.« Sonnenwolf hob die Schultern, massierte sich die schmerzenden Nackenmuskeln und fühlte dabei, wie schon so viele Male zuvor, den kühlen Stahl der Sklavenkette, die er nach wie vor am Hals trug. »Man kann ihr viele Vorwürfe machen, aber sicher nicht behaup ten, sie sei dumm.« »Sie ist das schwache Glied in der Kette.« »In diesem Fall irrst du dich.« Erneut richtete der Söldner den Blick auf Sheera. »In einem sol chen Fall irre ich mich nie«, erwiderte er bestimmt. »Ihr alle weist persönliche Schwächen in der einen oder anderen Hinsicht auf. Und die Aufgabe des Kommandeurs besteht darin, sie zu erkennen und in seinen Plänen zu berücksichtigen. Eine einzelne unzuverlässige Kämpferin könnte das ganze Unternehmen zunichte machen, und ich behaupte es noch einmal: Drypettis ist so unzuverlässig, wie man nur sein kann.« »Es käme einer großen Beleidigung gleich, sie jetzt ohne triftigen Grund aus der Truppe auszuschließen«, entgegnete Sheera erhitzt. »Als es allein um die Organisationsfrage ging, war sie die stellvertre 211
tende Befehlshaberin… « »Oder gefällt es dir vielleicht nur, eine dir treu ergebene Anhän gerin zu haben?« »Ebensosehr wie du es haßt, daß dir niemand zu Füßen liegt.« Sheera war nun wütend. »Sie ist mir treu ergeben, ja, nicht nur als Mitverschwörerin, auch als gute Freundin.« »Als Kommandeur…« Sheeras Stimme wurde noch schärfer. »Darf ich dich daran erin nern, Söldner, daß ich den Befehl über diese Streitmacht habe?« Die Anspannung in der sich an diese Worte anschließende Stille war fast körperlich fühlbar. Sheeras Augen reflektierten das Glühen der Kohlen. Sie kam nicht mehr dazu, noch eindeutigere Worte zu formulieren, denn in diesem Augenblick öffneten sich die Türen der Orangerie, und sie vernahmen die scherzenden Stimmen Irrerots und ihrer Begleiterin, Erntwyff Fisch… »Und er fragte: ›Welcher ver dammte Mistkerl gab dir nur eine Kupfermünze?‹ Und sie antworte te: ›Was willst du denn? Sie gaben mir alle eine Münze.‹« Die beiden Frauen gehörten zu der zweiten Gruppe, für die an diesem Abend Übungen vorgesehen waren. Nach einigen Sekunden des Zögerns drehte sich Sheera auf den Absätzen um, und die alte Decke wehte wie ein Banner, als sie aus dem Nebenzimmer in die Halle eilte und sich den anderen Frauen hinzugesellte. Sonnenwolf blieb allein zurück und beobachtete sie durch die offene Tür. Am nächsten Morgen verließ er bei Sonnenaufgang das Haus und machte sich auf die Suche nach der Hexe Yirth. Er glaubte, Yirth mehrmals nach der ersten Begegnung in der Dachkammer gesehen zu haben, aber er konnte sich nicht mehr ge nau daran erinnern, wo und wann. Sie war sehr geschickt darin, mög lichst wenig Aufmerksamkeit zu erwecken. Keine leichte Aufgabe für eine so häßliche Frau, dachte Sonnenwolf wenig taktvoll und vergaß dabei ganz, daß er es trotz seiner Größe ebenfalls verstand, unauffällig zu sein. Bisher hatte er gezögert, sie aufzusuchen, denn er wußte, daß Yirth es war, die die Zügel seines Lebens in der Hand hielt, und nicht etwa Sheera. Auch war er sich nicht sicher, ob er sie überhaupt finden konnte. Als das Läuten der Glocken das Ende der Ausgangssperre ver kündete, brach er auf und ließ Bernsteinauge in seinem Bett zurück. Er benutzte eine der geheimen Türen, durch die die Frauen das Ge lände betraten und verließen. Der nächtliche Regen hatte inzwischen aufgehört. Das trübe Wasser in den Kanälen war unbewegt und bil 212
dete langgezogene Spiegel. Das Tropfen von den Dächern der Häu ser an den schmalen Gassen, die die Lagunen säumten, klang hohl und dumpf in der Stille des Morgens. Sonnenwolf hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, nicht zu oft allein in der Stadt unterwegs zu sein. Altiokis setzte Söldnertruppen als Teil der Stadtgarnison ein, und es bestand immer die Gefahr, daß er von einem der Kämpfer erkannt wurde. Darüber hinaus strahlte jede eroberte und unterworfene Stadt etwas aus, das Sonnenwolf Unbehagen bereitete und das Gefühl in ihm entstehen ließ, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden. Irgendwie gewann er den Eindruck, daß selbst dann, wenn er angesichts eines Überfalls laut um Hilfe gerufen hätte, niemand gekommen wäre. Die verlorene Schlacht im Eisernen Paß hatte der Stadt tatsächlich, wie von Sheera behauptet, alles Gesunde und Anständige geraubt, und die Männer, denen der Söldner in den Straßen begegnete, waren größtenteils Krüppel oder Süchtige, die sich mit irgendwelchen Rauschdrogen betäubten – er erinnerte sich in diesem Zusammenhang daran, daß Mandrigin in dem Ruf stand, ein Hauptumschlagsplatz für den Traumzucker von Kilpithie zu sein. Manchmal sah Sonnenwolf in unstet blickende Augen, sah das nervöse Gebaren von Männern, die sich als Opportunisten durchs Leben schlugen, von Männern, die ihre Fähnchen gewohnheitsmäßig in den Wind hingen, Anpasser und Feiglinge. Selbst die noch in der Stadt verbliebenen Sklaven erweck ten Abscheu in ihm. Die stärkeren und kräftigeren waren als Teil der Reparationen nach der Schlacht beschlagnahmt worden und mußten nun zusammen mit ihren ehemaligen Herren in den Bergwerken Altiokis' schuften. Sonnenwolfs Gesundheit und Statur erweckten sicher Verdacht – und die Sache wurde noch schlimmer durch die vielen Anfragen, die andere Frauen an Sheera gerichtet hatten und in denen sie darum baten, zeitweilig seine – nicht näher bestimmten – Dienste in Anspruch nehmen zu dürfen. Der Söldner wanderte durch den spinnenwebartigen Irrgarten der sich hin und her windenden Straßen und Gassen, der schmalen Holz brücken, die über Kanäle hinwegführten, über die er mit einem Sprung hätte hinwegsetzen können, wäre er dazu in der Lage gewe sen, nur genügend Anlauf zu nehmen. Auf Stegen, die parallel zu den Kanälen verliefen und manchmal auch wie Wülste aus den Mau ern des zweiten oder dritten Stocks der prächtigeren Lagunenvillen ragten, sah er alte Mütter und junge Mädchen, die in der feuchten Luft die Bettwäsche ausschüttelten und sich mit unentwegt plap 213
pernden Stimmen selbst über breitere Kanäle hinweg unterhielten. Im schwarzen Gitterwerk der Gassen, die auf den tiefer gelegenen Inseln einige Zentimeter unter Wasser standen, beobachtete Son nenwolf, wie in den Küchen Lampen angezündet wurden, und er vernahm das Klirren von Geschirr und das Kratzen von eisernen Schürhaken auf Stein, als die Asche aus Herden und Kaminen ent fernt und neue Feuer entfacht wurden. Er überquerte den kleinen Platz vor einer dreitürmigen Kirchenbastion, und der kühle Wind trug von irgendwoher den appetitanregenden Duft frisch gebackenen Brotes heran. Im silbrigen Licht des Morgens bot sich ihm der Marktplatz der Stadt als ein buntes Durcheinander dar. Er sah das durch den Regen gedunkelte Scharlachrot der Roben, wie sie von den Dienern der reicheren Bürger getragen wurden, inmitten der feuchten blauen Töne der Kittel und Mäntel ärmerer Leute; das Chromgrün von Spi nat und Krauskohl, moosfarbenen Lattich; das Scharlachrot und strahlende Gold verschiedener Früchte; die Üppigkeit von Melonen pyramiden, die unter den provisorischen Regendächern aussahen wie poliertes Porzellan. Der herbe Geruch von Kräutern und Fisch schlug ihm entgegen und vermischte sich mit dem feuchter Erde und nasser Wolle. Er vernahm die hellen Stimmen junger Mädchen, hörte auch das kaum verständliche Brummen der Bauern und Fischer, die in unter schiedlichen Mundarten sprachen. Sonnenwolf war im barbarischen Norden groß geworden und bereits ein erwachsener Mann gewesen, bevor er zum erstenmal einen Stadtmarkt zu Gesicht bekommen hatte. Und selbst nach all den vielen Jahren ließ er sich noch immer von dem kaleidoskopartigen Entzücken beeindrucken. Er trat an eine Bude heran, in der Spielzeugvögel wie große fedrige Mops hingen, und er fragte die Marktfrau, wo er Yirth finden könne. Sie gab ihm die gewünschte Auskunft, aber Sonnenwolf glaubte auch, in den alten und dunklen Augen das Aufblitzen von Argwohn gesehen zu haben. Das Haus stand auf der Kleinen Insel, groß und alt, mit verblaßter Mauertünche. Wie die meisten Bauten in diesem Bereich der Stadt entsprach es einem antiquierten Stil. Die Balken des Fachwerks waren mit vielen Schnitzereien versehen. Jede hölzerne Säule, jeder Türpfosten, jeder Fensterrahmen wies die detailreichen und mit viel Hingabe geschaffenen Darstellungen von Heiligen, Dämonen und Ungeheuern auf, gesäumt von Blumen in allen möglichen Formen. 214
Doch die Farbe und Vergoldung waren schon vor langer Zeit abge blättert. Sonnenwolf blieb vor der Tür stehen und hatte das Gefühl, Anstalten zu machen, eine dunkle Höhle zu betreten. Er glaubte fast, durch das Dach der Äste und Zweige den Blick böser und unheilvol ler Augen auf sich ruhen zu spüren. Das Haus selbst jedoch wirkte eigentlich nicht in dem Maße unheimlich. Die Läden vor den Fens tern waren dunkel poliert, und den Stein der kurzen Treppe hatte man sorgfältig gereinigt. Er konnte hören, wie es dumpf im Gebäude widerhallte, als er an die Tür klopfte. Kurz darauf näherten sich die leisen Schritte der Hexe. Sie trat zur Seite und ließ ihn ein. Sonnenwolf war sich ziemlich sicher, daß Yirth den meisten anderen Leuten keinen Zugang in ihr Heim gestattet hätte. »Hat Sheera dich geschickt?« fragte sie. »Nein.« Das mißtrauische kurze Aufleuchten in den seeblauen Augen der Hexe entging dem Söldner nicht. »Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen.« Nach einigen Sekunden des Schweigens erwiderte Yirth: »Komm mit hinauf.« Auf den tiefer gelegenen Inseln der Stadt nutzten nur die ärmsten Bürger die Zimmer des Erdgeschosses als Wohnräume. Das Arbeitsdomizil Yirths war ein dunkler, langer und schmaler Raum, und durch das hohe Fenster an der einen Seite konnte man auf das smaragdene Wasser des Kanals sehen. Pflanzen standen auf der Fensterbank, wucherten üppig aus ihren Töpfen und bildeten ein grünes Gespinst, einer lebenden Gardine gleich. Sonnenwolf sah sich im Zimmer um: In den langen Regalen tönerne Schalen mit Kräu tern, Bücher, auf deren staubigen Einbänden Wachs und Vergoldun gen glänzten, Embryonen, in vor der Verwesung schützendem Alko hol, Kräuterknollen, die in getrockneten Bündeln von den Decken balken herabhingen. Unbekannte Musikinstrumente lauerten wie bizarre Ungeheuer in den Ecken. Und am blassen Verputz der Wand hingen Karten mit Eintragungen in Worten alter und längst verges sener Sprachen, geheimnisvolle Diagramme mit Sternensymbolen. Der Raum roch nach Seife, sonderbaren Tinkturen, Elixieren und Giften. Sonnenwolf fühlte das Prickeln wartender Magie. In dieser dunklen Graue drehte sich Yirth zu ihm um. »Welchen Grund hat dein Besuch?« »Ich möchte wissen, was du von mir dafür verlangst, mir meine Freiheit zurückzugeben.« Noch während er diese Worte aussprach, machte er sich klar, daß er außer seinem Schwert keine Besitztümer 215
hatte, mit denen er sich die Freiheit erkaufen konnte. Wie beschä mend für den reichsten Söldner des Westens, dachte er. Doch die Hexe musterte ihn nur einige Sekunden lang, abwartend und nachdenklich, die Hände gefaltet, die Ruhe selbst. Dann antwor tete sie: »Töte Altiokis.« Sonnenwolf hieb mit der Faust auf den langen Tisch, der den Raum unterteilte, und die darauf stehenden Flaschen und Gläser klirrten. Seine Stimme vibrierte vor Zorn, als es aus ihm herausplatz te: »Verdammt, Frau, auf dem Schiff hast du mir einen anderen Preis genannt!« Kühl und gelassen erwiderte sie: »Es ist der Preis, den ich jetzt für deine Freiheit verlange. Wenn du ihn nicht zu zahlen bereit bist, so gilt weiterhin die Übereinkunft mit Sheera. Du bekommst dann die Freiheit und die versprochene Summe, wenn die Streitmacht in den Kampf zieht.« »Und du weißt ebensogut wie ich, wie verrückt die ganze Sache ist.« Sie gab keine Antwort, benutzte das Schweigen wie eine Waffe gegen ihn. »Verdammt auch, du mußt dir doch darüber klar sein, daß die Übergeschnappte alle Weibsbilder ihrer Truppe in den sicheren Tod schicken wird!« entfuhr es Sonnenwolf aufgebracht. »Ich habe mit ihnen gearbeitet, sie ausgebildet, und einige von ihnen dürften ziem lich gute Kriegerinnen werden – in ungefähr zwei Jahren. Wenn sie solange überleben, was nicht der Fall sein wird, wenn sie von einer unerfahrenen und überheblichen Anführerin in die Schlacht ge schickt werden. Doch wenn Sheera stur genug ist, das nicht einzuse hen und trotzdem an ihren Plänen festzuhalten, so möchte ich mit der ganzen Sache nichts zu tun haben – weder mit ihr noch mit dem Kampf gegen Altiokis!« »Ich fürchte, dir bleibt keine Wahl«, antwortete Yirth ruhig. Sie stützte die Hände auf das schwarze Holz des Tisches. »Männer zie hen in den Krieg, weil ihnen entweder das Kämpfen gefällt oder sie einem anderen Mann, dem Kommandeur, treu ergeben sind. Frauen hingegen greifen nur dann zu den Waffen, wenn sie dazu gezwungen werden. Nun, was Altiokis angeht… Altiokis ist unsterblich, und als Unsterblicher langweilt er sich. Er macht sich einen Spaß daraus, fremde Städte zu erobern. Hast du erlebt, was mit den Siedlungen geschieht, die er sich unterwirft?« »Ich bin doch kein Selbstmörder«, erwiderte Sonnenwolf verär 216
gert. »Bisher habe ich nicht die Städte aufgesucht, die von dem Zau berkönig beherrscht werden.« »Da du kein Kaufmann bist, kein Vater von Kindern, kein Händ ler, der sich auf die übliche Art und Weise seinen Lebensunterhalt verdienen muß, hast du die Möglichkeit, dich von solchen Ortschaf ten fernzuhalten«, entgegnete Yirth. »Tarrin jedoch… Tarrin kämpft für die Männer, die hier lebten, und für die der nächsten Generation, die nicht wollen, daß ihre Kinder unter dem Joch Altiokis' aufwach sen. Er und Sheera wollen Mandrigin befreien. Ich habe andere Be weggründe. Mir kommt es darauf an, daß die Macht des Zauberkö nigs gebrochen wird, daß man ihm den Garaus macht, ebenso un barmherzig, wie er die anderen Magier erledigte. Wir sind nicht verrückt, Söldner – die wirklich Verrückten sind diejenigen, die ihn leben lassen und nichts gegen seine Machenschaften unternehmen.« »Du kannst dir nicht einmal sicher sein, ob irgend jemand dazu fähig ist, ihn zu töten«, sagte Sonnenwolf. »Er war schon ein mäch tiger Zauberer, noch bevor du geboren wurdest. Wir wissen nicht, ob er ein Mensch, Dämon oder Gott ist.« »Er ist ein Mensch«, gab sie scharfzüngig zurück. »Und warum hat er dann nicht längst das Zeitliche gesegnet?« fragte Sonnenwolf. »Keine Magie der Welt vermag das Leben eines Menschen auf eine Spanne von bisher hundertfünfzig Jahren zu verlängern! Sonst würde es überall geradezu von greisenhaften Zau berern aller Epochen wimmeln. Dämonen hingegen, das weiß jeder, sind sehr langlebig… « »Er ist ein Mensch«, beharrte Yirth. »Er suhlt sich in seiner eige nen Unsterblichkeit. Er hat die Begehren eines Mannes, giert nach Macht, Ländereien, Geld. Seine Launen sind die eines Menschen, nicht die eines Dämonen. Er hat irgendeine Möglichkeit entdeckt, sein Leben zu verlängern, und soweit wir wissen, wird er keines natürlichen Todes sterben. Wenn ihm niemand Einhalt gebietet, wird seine Macht weiter wachsen, und alles Gute und Edle, was er be rührt, verwandelt sich in stinkenden Schmutz.« Die Hexe drehte sich um und trat an das wie eigenständig glühende Feuer heran. Das mat te, grünlichgraue Licht spiegelte sich auf einzelnen Strähnen ihres Haars. »Ja, ich will seinen Tod, um jeden Preis.« »Himmel und Hölle, du bist nicht einmal selbst eine Magierin!« donnerte die Stimme Sonnenwolfs. »Du hast nie die Große Prüfung abgelegt, von der ich immer wieder höre. Du besitzt nicht einmal die Kraft, mit deinem Wissen das Licht der Kerzen in seinem Schlafge 217
mach zu löschen! Du bist eine ebensolche Närrin wie Sheera!« »Sogar noch eine größere«, erwiderte Yirth, wirbelte herum und starrte Sonnenwolf groß an. »Denn Sheera kämpft mit einer gewis sen Hoffnung, während ich überhaupt keine habe. Ich weiß, was Altiokis darstellt. Ich weiß, wie groß der Unterschied zwischen sei ner magischen Macht und der meinigen ist. Aber wenn man ihm eine Schlacht aufzwingen kann, so besteht eine, wenn auch eine geringe, Möglichkeit, den Sieg über ihn zu erringen. Ich bin bereit, die Macht des befreiten Mandrigin zu nutzen, um ihn zu vernichten, so wie er meinen Meister und meine Zukunft vernichtete. Als eine Zauberin in einer Stadt, die unter seiner Herrschaft steht, bin ich mir darüber klar, daß er irgendwann von mir erfahren wird, und in dem Fall wäre mein Leben verwirkt, ganz gleich, was ich auch unternähme.« »Und was ist mit den Konsequenzen für die anderen Bewohner Mandrigins?« gab Sonnenwolf zu bedenken. »Was ist mit den vielen Männern und Frauen, die im Kampf gegen Altiokis sterben wer den?« »Ich dachte bisher, dir sei nur an deinem eigenen Leben gelegen, Söldner«, höhnte Yirth. »Nun, wir alle haben unterschiedliche Be weggründe. Die Frauen würden auch ohne mich kämpfen. Ohne dich, ohne Sheera, ohne Tarrin. Ohne sie hätte ich eine andere Waffe gefunden, um gegen den Zauberkönig zu kämpfen. Begreif das end lich, Söldner: Du gehörst jetzt zu uns, und dein Schicksal hängt von unserer Zukunft ab. Du kannst uns jetzt ebensowenig verlassen wie die Sehne einen Bogen. Die anderen haben das ganze Ausmaß noch nicht erkannt. Selbst Sheera betrachtet diese Angelegenheit nur unter dem Aspekt ihrer eigenen Absichten und Wünsche. Früher oder später jedoch muß der Kampf gegen Altiokis direkt geführt werden. Und ob die einzelnen Personen nun dazu bereit sind oder nicht: Du, Sheera, Tarrin, alle Männer in den Bergwerken und alle Frauen Mandrigins werden ihren Beitrag leisten müssen, werden teilnehmen an der letzten Schlacht.« Sonnenwolf starrte sie einige Sekunden lang schweigend an. Ih rer verbitterten und unerschütterlichen Entschlossenheit konnte er zunächst nicht mit Worten begegnen. Dann sagte er: »Du bist voll kommen übergeschnappt.« Aber Yirth sah ihn nur gelassen an. Ihr Blick war so kalt wie Gletschereis. Sie stand wie eine Skulptur aus schwarzem Eichenholz am Fenster, umrahmt von den aus den Töpfen sprießenden Ranken und Halmen und Blättern, gehüllt in die imaginäre Aureole ihrer 218
Zauberei. Sie rührte sich nicht von der Stelle, als er durch den Flur stürmte und anschließend die Treppe hinunterlärmte, und sie beweg te sich auch nicht, als er die Tür mit einem lauten Krachen ins Schloß fallen ließ. In heißem Zorn machte sich Sonnenwolf auf den Rückweg durch das Straßengewirr Mandrigins. Er begriff nun, daß Yirth selbst dann, wenn es ihm gelang, Sheera irgendwie dazu zu bringen, ihn freizu lassen, nicht dazu bereit gewesen wäre, ihm das Gegenmittel für das in seinem Körper zirkulierende Gift zu geben. Bisher hatte er Frauen von Natur aus immer für wankelmütig und zauderhaft gehalten, aber nun mußte er feststellen, daß das nur dann zutraf, wenn es um ver gleichsweise unwichtige Dinge ging. Gab es jedoch ein bedeutendes Ziel, so offenbarten Frauen einen unerschütterlichen festen Willen. Sonnenwolf kam zu dem Schluß, daß die Beendigung der Ausbil dung nunmehr einem Wettlauf mit der Zeit gleichkam; sie mußte abgeschlossen werden, bevor die Schergen Altiokis' davon erfuhren. Der Söldner überquerte die Spiralenbrücke und machte einen Umweg über den Kathedralenplatz, um das Gedränge des Marktes zu vermeiden. Es war noch immer früh am Morgen, und die Luft fühlte sich kühl und feucht an. Möwen segelten unter den tiefhängenden grauen Wolken hinweg, und ihr Krächzen kündete von neuen Un wettern. Eine kleine Gruppe der Schutztruppe Derrougs bewachte vor den Stufen der Kathedrale die Sänfte des Statthalters. Die übli chen Speichellecker waren ebenfalls anwesend. Sonnenwolf erkann te Stirk, den Hafenmeister, der aussah wie die festlich gekleidete Leiche bei einem trinitarischen Begräbnis, und er erblickte auch den gewichtigen Mann, der die Wachgruppe Derrougs leitete. Hinter ihnen erhoben sich die Mauern der Kathedrale, und die gold- und türkisfarbenen Mosaike glänzten hell im trüben Licht des Morgens. Als er an der Treppe vorbeikam, rief jemand: »Söldner!« Er wußte sofort, wer dieses Wort an ihn richtete, und irgend et was in seinem Inneren krampfte sich vor Wut und Besorgnis zu sammen. Er ging weiter. Wenn auch jemand anders den Ruf gehört hatte, so war es besser, nicht darauf zu reagieren. So hell und klar wie das Miauen einer Katze erklang erneut die Stimme Drypettis': »Söldner!« Sonnenwolf blickte sich rasch um und stellte fest, daß sich sonst niemand in der Nähe befand. Er drehte den Kopf, hörte das Geräusch von Schritten, die sich ihm rasch näherten, vernahm auch das leise Klirren goldenen Schmucks. 219
Die Schleier der kleinen Frau wehten wie winzige, filigrane und mit Diamantenstaub versehene Banner, und Drypettis bedeutete mit hastigen Gesten die Wichtigkeit dessen, was sie Sonnenwolf mitzu teilen gedachte. »Söldner, ich möchte, daß du Sheera ausrichtest…« setzte sie an. Sonnenwolf packte sie so fest an den schmalen Schultern, als wolle er das Leben aus ihr herausschütteln. »Sprich mich niemals in der Öffentlichkeit mit Söldner an!« hauchte er ihr zornig zu. Die Lippen der kleinen Frau begannen vor Empörung zu zittern – obgleich sie sicher wußte, was für einen Fehler sie gemacht hatte. Unter ihren mit Silberfäden durchwirkten safrangelben Pelzärmeln fühlte Sonnenwolf, wie sich die zarten Muskeln Drypettis' verhärte ten. »Wie kannst du es wagen!« fauchte sie ihn an. Mit einem Ruck machte sie sich aus seinem Griff frei. »Wie kannst du dich nur erdreisten, so mit mir zu sprechen…« Das Feuer des Zorns in Sonnenwolf brannte noch heißer. Die Flammen nährten sich von der ihn verhöhnenden Entschlossenheit Yirths, von der sturen Hartnäckigkeit Sheeras, von der Gefahr, die ihm in dieser Stadt drohte und die sich im Verlaufe der vergangenen Wochen immer mehr verdichtet hatte. Aufgebracht erwiderte er: »Verdammt, ich spreche so mit dir, wie ich es für richtig halte, und wenn du dumm genug bist, um… « Sie wich vor dem auf sie deutenden Zeigefinger zurück, blaß, mit glitzernden Augen, voller Entrüstung. Die in den Pupillen der klei nen Frau funkelnde Wut verblüffte den Söldner so sehr, daß er ab brach, noch bevor Drypettis kreischte: »Rühr mich nicht an, du lüs terner Lump!« In diesem Augenblick fragte die geziert klingende Stimme Der roug Drus: »Was, bitte, hat das denn zu bedeuten?« Altiokis' Statthalter trat gerade durch die breite Tür der Kathedra le und blieb am oberen Ende der Treppe stehen. Im Vergleich mit den Speichelleckern seines Gefolges war er betont elegant und fast geckenhaft gekleidet. Er blickte auf Sonnenwolf und Drypettis herab. »Laß sofort deine Finger von meiner Schwester, Sklave.« Die Wächter, die bis dahin die Sänfte des Statthalters gehütet hat ten, eilten rasch auf ihn zu.
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13. Kapitel Die Sklavenzellen des Kerkers unter dem Stadttor waren feucht, schmutzig und stinkig. Im filzigen Stroh wimmelte es von Schaben und Kakerlaken und Wanzen. Trotz der vielen an die Wände gekette ten Gefangenen herrschte eine sonderbare Stille. Selbst die, die das Glück hatten, mit besonders langen Ketten festgeschmiedet zu sein, so daß sie sitzen oder gar liegen konnten, waren klug genug zu schweigen. Die anderen, deren Sklavenringe wie bei Sonnenwolf nur mit einer gut zehn Zentimeter langen Kette verbunden worden wa ren, konnten sich lediglich müde und erschöpft an die tropfnassen Wände lehnen. Sie konnten sich nicht rühren, nicht ausruhen, auch nicht die Rinne in der Mitte der Zelle erreichen, in der leise bracki ges Wasser gurgelte. Sonnenwolf wußte nicht genau, wie lange er sich schon an die sem Ort befand. Sicher Stunden, dachte er, als er die verkrampften Knie bewegte. Als Kämpfer hatte er Übung, sich in fast jeder Hal tung zu entspannen. Es würde also noch einige Zeit dauern, bevor die ständige Belastung der Muskeln zu ersten Schmerzen führte. Andere Gefangene waren nicht so gut dran – oder befanden sich vielleicht schon seit Tagen im Verlies. Sonnenwolf beobachtete einen jungen Mann von rund zwanzig Jahren, dem das dichte kasta nienbraune Haar ins Gesicht fiel. Dieser Mann hatte schon dreimal das Gleichgewicht verloren und war gefallen. Jedesmal keuchte er erschrocken, als sich der eiserne Kragen an seinem Hals durch den Kettenzug verengte. Jetzt stand er wieder, aber er war recht blaß und atmete schwer und unregelmäßig. In seinen Augen funkelte es ver zweifelt; offenbar spürte er, wie seine Kraft allmählich zu Ende ging. Sonnenwolf fragte sich, welchen Vergehens sich der junge Mann schuldig gemacht hatte – wenn überhaupt. Auf der anderen Seite lag ein älterer Mann im schmutzigen Stroh, stöhnte, würgte und spie Galle – die deutlichen Symptome eines Drogenentzuges. Sonnenwolf schloß die Augen und überlegte, wie lange es dauern mochte, bis Sheera von seiner Verhaftung erfuhr. Er hatte seine Lage zwar Drypettis zu verdanken, glaubte aber, daß sie ihrer Freundin Bescheid geben würde. Es war ein Fehler gewesen, ihn ›Söldner‹ zu rufen und nicht bei seinem Namen. Aber wenn es ihr auch widerstreben mochte, ihren Fehler einzugestehen, wenn sie ihn auch dafür haßte, sie als Sheeras rechte Hand in der 221
Verschwörungsgruppe abgelöst zu haben – bestimmt würde sie es nicht wagen, mit ihrem Stolz die Sache Sheeras in Gefahr zu brin gen. Zumindest hoffte er das. Aus der Ferne näherten sich schlurfende Schritte. Eisen rasselte. Erneut hörte er die schrille Stimme Derrougs. Sonnenwolf erinnerte sich an den haßerfüllten Blick, mit dem ihn der kleine Mann wäh rend des Wegs ins Verlies bedacht hatte. Er seufzte und bereitete sich innerlich auf das vor, was ihn nun erwartete. Die stinkende Luft klebte wie warmer Kleister in seinen Lungen. Auf der anderen Seite der Zelle hatte der Süchtige zu wim mern begonnen und schlug sowohl nach den sichtbaren als auch nur eingebildeten Käfern, die auf seinem schwitzenden Leib umherkrab belten. Sonnenwolf hörte, wie die Wächter salutierten. Anschließend drehte sich ein Schlüssel mahlend im Schloß. Der Söldner öffnete die Augen, als der unstete Schein der Fackeln in den Kerker fiel und er einen Hauch frischer Luft verspürte. Derroug stand im Eingang, eine Hand auf den gewichtigen goldenen Knauf des Gehstocks ge stützt. Sonnenwolf spürte seine Gesichtshälfte, auf die ihn der Statt halter mit dem Stock geschlagen hatte. Neben Derrough Dru stand Sheera und überragte ihn um einen halben Kopf. »Ja, das ist er«, sagte sie gleichgültig. Sonnenwolf glaubte, in den Augen des kleinen Mannes ein gieri ges Funkeln zu erkennen. Ein Wächter in der blau-goldfarbenen Stadtlivree kam mit den Schlüsseln die kurze Treppe herunter, gefolgt von jemandem mit einer Fackel. Man löste seinen Sklavenkragen von der kurzen Wand kette, ließ ihm jedoch die Hände auf dem Rücken gefesselt und stieß ihn durch den länglichen Raum. Am unteren Ende der Treppe blie ben sie stehen, und Sonnenwolf blickte zu Sheera auf, die in ihrem purpurnen Satin aussah wie eine Königin. Amethyste funkelten in ihrem sorgfältig frisierten schwarzen Haar. Sie zitterte – wie ein angespannter Draht kurz vor dem Zerreißen. »Du hast meine Schwester beleidigt«, schnurrte Derroug und starrte nach wie vor auf den größeren Mann herab. Sonnenwolf konnte sich jedoch nicht des seltsamen Gefühls erwehren, daß die Worte des Statthalters an Sheera gerichtet waren. »Für dieses Verge hen könnte ich dich beschlagnahmen, dich kastrieren lassen und für den Rest deines Lebens damit beauftragen, Latrinen zu reinigen, 222
Sklave.« Vorher würde ich dich umbringen, dachte Sonnenwolf. Er spürte den Blick Sheeras auf sich ruhen, der ihn geradezu darum anflehte, sich demütig und unterwürfig zu geben. Er schluckte und richtete seine Aufmerksamkeit weiterhin auf den mit Perlen geschmückten Saum ihres Gewandes. »Ich weiß, Herr. Und es tut mir aufrichtig leid. Es lag nicht in meiner Absicht.« Wenn er jetzt den Kopf hob, so fürchtete er, mochte sich in seinen Zügen etwas von dem Verlangen verraten, dem kleinen Wicht den Schädel einzuschlagen. »Aber nachdem sich meine Schwester an deine… Herrin wand te… « – die kühle Stimme formulierte das vorletzte Wort mit einer besonderen Betonung, und als Sonnenwolf einmal kurz aufsah, be merkte er den lüsternen Blick Derrougs, der am Körper Sheeras festklebte – , »… entschied sie, den Zwischenfall zu vergessen. Schließlich bist du ein Barbar, und ich glaube, Lady Sheera könnte nicht so ohne weiteres auf deine… deine Dienste verzichten.« Er sah, wie sich die hellen Wangen Sheeras röteten, und Derroug grinste anzüglich. Sonnenwolf zwang sich dazu, zu antworten: »Vielen Dank, Herr.« »Und da du nun einmal ein Barbar bist«, fügte Derroug geziert hinzu, »ist vermutlich deine Bildung vernachlässigt worden, so daß du nicht weißt, daß man von dir erwartet, dich niederzuknien, wenn du vor dem Statthalter Mandrigins stehst.« Sonnenwolf kannte die Sitten und Gebräuche, an die sich die Diener und Sklaven in dieser Stadt halten mußten, und deshalb wuß te er sehr wohl, daß ein solches Gesetz nicht existierte. Der Wicht wollte den größeren Mann nur dazu bringen, sich vor ihm zu vernei gen. Da seine Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt waren, fiel es ihm nicht leicht, sich auf die Knie herabzulassen und die Stirn auf den schmierigen Stein der Treppe zu pressen. »Es tut mir leid, Herr«, brachte er zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Steh auf«, vernahm er die Stimme Sheeras. Er gehorchte und achtete darauf, daß seine Züge nichts von dem Zorn offenbarten, der mit der Hitze eines heftigen Fiebers in ihm brannte. Er wünschte sich in diesen Sekunden, jene maskenhafte Ausdruckslosigkeit zur Schau tragen zu können, die Sternenfalke auszeichnete. Er bemerkte, daß Derroug ihn aufmerksam musterte, beobachtete die Spitze seiner kleinen rosafarbenen Zunge, die die Lippen befeuchtete. 223
»Allerdings muß ich feststellen, teuerste Sheera, daß es zu einem Teil Eure Schuld ist, wenn dieser Sklave nicht weiß, wie man sich richtig benimmt. Ich kenne diese Barbaren – sie verstehen nur die Sprache der Peitsche. Zufälligerweise jedoch verfüge ich über ein noch besseres Mittel, um den Dämon der Aufsässigkeit aus Sklaven zu bannen.« Der Blick seiner zusammengekniffenen braunen Augen richtete sich erneut auf die hochgewachsene und elegante Frau, glitt wie eine imaginäre Hand über ihre Körperrundungen. »Hättet Ihr etwas gegen eine Betragenslektion einzuwenden?« Sheera zuckte mit den Schultern und sah nicht in Sonnenwolfs Richtung. Sie verlieh ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang, als sie erwiderte: »Wenn Ihr das für angebracht haltet…« »Oh, ich bin sicher, eine derartige Lektion würde etwas nützen.« Derroug Dru lächelte. »Nicht nur dem Sklaven, sondern auch Euch.« Als die Wächter ihn durch die schmalen Korridore des Gewölbes führten, spürte Sonnenwolf, wie sich der Schmutz in seinem Gesicht mit Schweiß vermischte. Eine Lektion mochte alles bedeuten, und Sheera war offensichtlich nicht dazu bereit einzuschreiten. Aller dings mußte sich der Söldner auch mit einer gewissen Verbitterung eingestehen, daß Sheera zwar keine Fesseln trug, ihr aber dennoch die Hände gebunden waren. Ebenso wie er selbst hatte sie natürlich die Möglichkeit, den Statthalter einfach zu überwältigen und aus dem Verlies zu fliehen, aber dadurch hätte Sheera alle ihre Absichten zunichte gemacht und auch die anderen Frauen in der Verschwö rungsgruppe zumindest in Gefahr gebracht. In den dunklen Schatten der immer enger werdenden Gänge hielt sie sich betont gerade, und ihre Gestensprache machte deutlich, daß Sonnenwolf von ihr keine Hilfe erwarten durfte. Der zitternde Glanz des Fackelscheins zauber te kurzlebige Reflexe auf den purpurnen Satin ihres Gewandes, das sie immer wieder anhob, damit der Saum nicht die schmutzigen Steine des Pflasters berührte. Dann und wann streckte Derroug die Hand aus, um sie an der Hüfte zu berühren, und seine langen dünnen Finger sahen aus wie die aus dem Gespinst des Ärmels ragenden Beine einer farblosen Spinne. »Unser aller Gebieter Altiokis hat mir vor kurzem eine… eine Möglichkeit gegeben, mit der ich all diejenigen auf recht wirkungs volle Weise strafen kann, die sich mir als seinem Statthalter gegen über als ungehorsam oder aufsässig erweisen«, sagte Derroug. »An gesichts der letzten Unruhen halte ich solche Maßnahmen für erfor derlich. Die Bürger dieser Stadt dürfen nicht den geringsten Zweifel 224
daran haben, welche Folgen es für sie hat, wenn sie glauben, mir ihre Loyalität verweigern zu können.« »Damit habt Ihr natürlich völlig recht«, bestätigte Sheera. Sonnenwolf ging hinter ihr und konnte deutlich sehen, wie sie entweder aus Wut oder vor Furcht zitterte. Einer der Wächter öffnete eine Tür. Der Fackelschein erhellte etwas Glattes und Glänzendes in der Finsternis. Als Derroug zur Seite trat, um Sheera Einlaß in den Raum zu gewähren, wandte er sich an einen Wächter. »Ist alles vorbereitet?« »Ja, Herr«, antwortete der Mann und wischte sich den Schweiß von der Stirn, die halb von dem goldfarbenen Helm bedeckt wurde. Der kleine Mann lächelte zufrieden und folgte Sheera in den Raum. Andere Wächter stießen Sonnenwolf die beiden Stufen hinun ter. Die Tür schloß sich, und das unstete Schimmern des Fackel scheins blieb auf dem Gang zurück. Das einzige Licht in dem Zimmer stammte von einigen Kerzen, die hinter einer dicken Glasscheibe in der Wand gegenüber der Tür brannten. Sonnenwolf sah sich um. Sie befanden sich nun in einer Zelle, in der für gewöhnlich Gefangene untergebracht wurden, die so wichtig waren, daß man sie von den anderen Eingekerkerten trennte. An den Wänden zeigten sich hier und dort die Muster und Zeichen, die gelangweilte Häftlinge in den Verputz gekratzt hatten. Es war ein recht kleiner Raum, nicht größer als fünf oder sechs Quadratmeter, und das Licht der Kerzen reichte aus, ihn ganz auszuleuchten. Son nenwolf beobachtete das zwar gleichgültig wirkende, dennoch aber aufmerksame Gesicht Sheeras, und ihm entging auch nicht das lüs tern-erwartungsvolle Funkeln in den Augen des Statthalters. »Seht genau hin«, schnurrte Derrough und deutete in Richtung des Fensters. »Ich hatte das Vorrecht, Altiokis' Zimmer zu sehen, jenen Raum im ältesten Teil seiner Zitadelle. Und ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, daß er mir die… die Möglichkeit gab, ebenfalls einen solchen Raum zu schaffen. Er eignet sich hervorra gend für die… die Behandlung von Leuten, die sich des Ungehor sams schuldig gemacht haben.« Bei dem Zimmer, das sie durch die Scheibe sehen konnten, han delte es sich offenbar ebenfalls um eine Einzelzelle. Sie war nur ein wenig größer als die, in der sie sich derzeit aufhielten, und sie wies keine Einrichtungsgegenstände auf. Kerzen brannten in den kleinen Nischen dicht unterhalb der Decke, so hoch, daß kein Gefangener sie erreichen konnte. Sonnenwolf entdeckte vier oder fünf kleine Blei 225
behälter. Einer von ihnen war geöffnet worden. Die Zellentür – ganz offensichtlich die letzte des Ganges – war geschlossen, doch der Söldner vernahm das Geräusch sich nähernder Schritte. Er horchte, und kurz darauf hörte er auch das unsichere und widerstrebende Schlurfen eines Gefangenen. Irgend etwas bewegte sich im Halbdunkel jenseits des Fensters. Einen Augenblick lang glaubte Sonnenwolf, dieser Eindruck werde nur von einem kurzen Zittern des Kerzenlichts hervorgerufen, hielt ihn für nichts weiter als einen Reflex im Glas, doch er beobachtete auch, wie sich die Muskeln im Leib Sheeras anspannten. Sie hatte es also ebenfalls gesehen. Unmittelbar darauf wiederholte sich das Aufglänzen, und diesmal war es heller und deutlicher zu erkennen. Der Raum jenseits der dicken Scheibe war nicht leer. Etwas befand sich dort drin, eine Art diffuse Flamme, ein geisterhaftes und blasses Feuer, das in der Nähe der Decke schwebte. Sonnenwolf runzelte die Stirn und beobachtete das Etwas durchs Fenster. Es fiel ihm schwer, den Bewegungen des feurigen Phantoms zu folgen, denn es glitt hierhin und dorthin, wie ein diffuser Flam mendunst, wie eine konturlose Libelle, die an einem heißen Tag über einen Sumpf hinwegschwebt, wie eine seltsam gestaltlose Fliege, die nicht genau weiß, wohin sie sich wenden soll. Er sah das Etwas als einen einzelnen funkelnden Lichtfleck in der Graue hinter dem Glas. Im Korridor wurde es immer lauter. Von einem Augenblick zum anderen öffnete sich die Tür der anderen Zelle – und schloß sich sofort wieder hinter dem Mann, den die Wächter in den Raum gesto ßen hatten, den rothaarigen jungen Sklaven, den Sonnenwolf im Kerker gesehen hatte. Der Gefangene stolperte und breitete die Arme aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Einige Sekunden lang stand er in der Mitte des kleinen Raumes, schnappte nach Luft und blickte sich aus ängstlich geweiteten Augen um. Mit einem erschrockenen Schrei wirbelte er um die eigene Ach se. Wie eine sich dehnende Nadel aus Licht stach der Lichtfleck – um was es sich dabei auch immer handeln mochte – zu, mit jäher und verblüffender Blitzartigkeit. Der junge Mann wankte, preßte sich die Hände auf ein Auge, als habe ihn dort etwas berührt. In der nächsten Sekunde hörte Sonnenwolf trotz der steinernen Wände und der dicken Scheibe einen gellenden Schrei. Was nun folgte, war sogar für einen Söldner gräßlich, dessen Le ben das Gemetzel des Krieges war und der alle noch so grausamen 226
Methoden kannte, Menschen umzubringen. Der Gefangene in der anderen Zelle krümmte sich zusammen und kniff die Augen zu, und er schrie schriller und immer schriller. Er stürmte los, fuhr sich mit den Händen immer wieder durchs Gesicht und prallte gegen die Wände. Sonnenwolf sah, wie Blut zwischen den Fingern des jungen Mannes hervorquoll. Nach einer Weile sank der Gefangene zu Bo den. Nach der Art und Weise, wie der Körper des Leidenden zuckte, schätzte der Söldner den Schmerz ab, der im Leib des jungen Man nes tobte. Sonnenwolf sah zu, wie sich die Finger des Leidenden tief in die Gesichtshaut bohrten, wie sie kratzten und zitterten, wie die Beine traten und der ganze Leib bebte, wie sich der Rücken zu einem Bogen krümmte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Der junge Mann rollte sich auf dem Boden hin und her, und er schrie und gellte, brüllte und wimmerte. Irgendwann veränderten sich die Schreie, als sich das Feuer – o der Gift oder der Stachel aus Licht – Sonnenwolf wußte noch immer nicht, worum es sich handelte – ins Hirn des jungen Mannes brannte. Aus der menschlichen Stimme wurde ein schier ohrenbetäubendes, tierisches Heulen. Der Körper erbebte so heftig, als krampften sich alle Muskeln darin zusammen, und anschließend sprang der Gefan gene in der Zelle umher – wie in einer grotesken Parodie auf das Leben. Sonnenwolf warf Sheera einen kurzen Blick zu und stellte fest, daß sie die Augen geschlossen hatte. Wäre sie dazu in der Lage gewesen, hätte sie sich bestimmt auch die Hände auf die Ohren gepreßt. Neben ihr stand Derroug Dru, und in seinem wächsernen Gesicht zeigte sich ein zufriedenes Lächeln. Der Wicht atmete schwer und war ganz offensichtlich erregt. Sonnenwolf richtete den Blick wieder aufs Fenster, und er konnte den kalten Schweiß auf den Händen und im Gesicht fühlen. Wenn dem Statthalter Altiokis' jemals eine Frau der Verschwörungsgruppe in die Hände fiel, so brauchte er ihr nur das zu zeigen, was sie gerade sahen… und schon würde sie alle Geheimnisse verraten. Der Gefangene schrie noch immer, heulte und schrillte wie ein verletztes Tier. Der Körper zuckte und bebte nach wie vor, und die blutverschmierten Hände kratzten zitternd über den Stein des Bo dens. Derrougs Stimme erklang als ein sanftes, fast verträumtes Mur meln: »Wie Ihr gerade gesehen habt, meine Teuerste«, sagte der Statthalter Altiokis', »ist es besser, meinen Befehlen zu gehorchen 227
und mir gegenüber nicht aufsässig zu sein.« Seine dürre Hand tastete um ihre Hüfte herum. »Und jetzt schickt Euren Sklaven heim.« »Ich soll mich bei Drypettis entschuldigen?« Sonnenwolf erstarr te förmlich. Der Brandy floß über den Rand des Bechers und benetz te ihm die Hand. Auf dem Kiefernholztisch des Nebenzimmers der Orangerie zeigten sich Lachen aus Wein und bernsteinfarbenen, stärkeren Getränken. Die abgestandene Luft roch nach Alkohol, feuchtem Boden und Ton. Die Augen Sheeras waren gerötet, und unter ihnen zeigten sich dunkle Ringe. Die Frau erwies sich als über raschend ruhig und in sich gekehrt. Seit der Rückkehr an diesen Ort hatte Sonnenwolf einen Becher nach dem anderen getrunken. Bis zum Sonnenuntergang dauerte es noch eine Stunde. Sheera war ge rade zu ihm gekommen. In der Stimme des Söldners war nur ein ganz geringfügiges Lallen zu vernehmen, als er sagte: »Dieses ver dammte kleine Weibsbild hätte mich in aller Öffentlichkeit nicht mit ›Söldner‹ ansprechen sollen, und das weiß sie ganz genau.« Sheera wirkte blasser und hohlwangiger als gewöhnlich. Son nenwolf war versucht, einen Stuhl für sie heranzuziehen und ihr ein Glas anzubieten – obgleich die Flaschen inzwischen nahezu leer waren. Seiner Meinung nach hätte Sheera einen ordentlichen Schluck jetzt gut vertragen können. »Sie behauptet, sie hätte dich überhaupt nicht auf diese Weise angesprochen«, erwiderte sie nach einer Weile. Er starrte sie groß an und fragte sich, ob der Brandy ihm Halluzi nationen bescherte. »Was?« »Sie meint, sie hätte dich nicht ›Söldner‹ gerufen. Sie erzählte mir, sie sei auf dich zugegangen und habe dir eine Nachricht für mich geben wollen, und angeblich hast du dich geweigert und ge antwortet, du seist kein Laufjunge… « »Das ist eine Lüge.« Er trank den Becher in einem Zug leer. Wut kam in ihm hoch, ein Zorn, der stärker war als alle hochprozentigen Getränke, stärker noch als die Entrüstung in ihm, als er im Kerker vor dem Wicht gekniet hatte. »Söldner«, sagte Sheera scharf. »Ich habe mit Dru gesprochen, kurz bevor ich den Palast verließ. Sie hätte dich in aller Öffentlich keit niemals so genannt. Sie ist klug genug, keinen solchen Fehler zu machen.« »Sie hätte klug genug sein sollen«, erwiderte Sonnenwolf ruhig. »Andererseits sind Fehler menschlich. Wie dem auch sei: Ich versi 228
chere dir, daß sie mich auf diese Weise angesprochen hat, und das ist der Grund, warum… « In der beherrschten Stimme Sheeras war nun ein nervöses Vibrie ren zu vernehmen. »Du behauptest also, Dru hätte mich angelogen.« »Ja«, bestätigte Sonnenwolf. »Das behaupte ich. Ganz offensicht lich wollte sie dir gegenüber ihren Fehler nicht eingestehen.« Er dachte kurz daran, daß er sich in dieser Hinsicht nicht auf eine Dis kussion einlassen sollte – nicht in seinem betrunkenen Zustand, nicht an diesem späten Nachmittag, nicht nach dem, was sie im Kerker erlebt hatten. Er beobachtete, wie sich Falten der Sorge und Anspan nung immer tiefer ins Gesicht Sheeras fraßen, wie ihre Lippen zu beben begannen. »Und du würdest eigene Fehler natürlich sofort zugeben, nicht wahr, Söldner?« »Ich würde niemals lügen, wenn es um einen Angehörigen mei ner Truppe geht.« »Ha!« Sheera hatte eine kleine Gartenkelle zur Hand genommen und drehte sie nervös hin und her. Mit einem jähen Ruck schleuderte sie sie auf den Tisch zurück, und es rasselte und klirrte. »Deine Truppe! Du hast Drypettis von Anfang an wie eine Aussätzige be handelt…!« »Und ich hatte verdammt noch mal recht damit«, gab Sonnen wolf scharf zurück. »Das hat sich jetzt bestätigt.« »Du hast sie ausgeschlossen, weil sie nicht deinem Geschmack entsprach!« »Frau, wenn du glaubst, ich hätte mich in den letzten zwei Mona ten nur damit befaßt, mir einen Harem von Mörderinnen zu schaf fen… « »Was denn sonst, bei allen Teufeln?« entfuhr es Sheera schrill. »Von Lady Wrinshardin über die Güldene und Wilarne… « »Vergessen wir nicht diejenigen, die ich nicht aus der Streitmacht ausschloß«, unterbrach er sie donnernd und übertönte sie mühelos. »Wenn du eifersüchtig und neidisch bist… « »Bilde dir nur nichts ein!« zischte Sheera. »Genau das ist es doch, was dir so zusetzt, nicht wahr? Du kannst es nicht ertragen, Frauen in den Künsten des Krieges zu unterweisen… Sie haben deine Erlaubnis, fähig zu sein, solange du besser bist als sie – und in bezug auf die besten von ihnen willst du dir ganz sicher sein, daß sie dich so sehr lieben, daß sie dich niemals besiegen können!« »Du weißt nicht einmal, wovon du redest, und du bist nicht Krie 229
gerin genug, um zu ahnen, was es bedeutet!« konterte Sonnenwolf und schleuderte die Brandyflasche an die gegenüberliegende Wand. Sie zersplitterte mit einem lauten Krachen, und der Rest der bern steinfarbenen Flüssigkeit tropfte über die Steine. »Die beste Kämpfe rin, die ich kenne, ist besser als alle Männer…« »Oh, natürlich«, höhnte Sheera aufgebracht. »Ich bin ihr begeg net. Sie sah dich an wie ein kleines Mädchen seine erste große Lie be! Die Ausbildung unserer Streitmacht war dir von Anfang an ein Dorn im Auge! Und es wäre dir völlig egal, wenn wir in der Schlacht alle ums Leben kämen – solange du sicher sein kannst, nicht von weiblichen Kampfqualitäten in deinem männlichen Stolz bedroht zu werden!« »Darüber kannst du dann mit mir sprechen, wenn du auch nur annähernd die Kampferfahrung hast wie ich – oder die von Sternen falke!« fuhr er sie dröhnend an. »Und du hast recht: Sowohl die Ausbildung der Streitmacht als auch dein verdammtes Ziel sind mir vollkommen gleichgültig. Bei der ganzen Sache bedaure ich nur die anderen Frauen, die von deiner Idiotie in den Tod gehetzt werden… « »Tarrin…« »Bei allen räudigen Straßenkötern, ich kann es nicht mehr ertra gen, von deinem verfluchten Tarrin und der Befreiung der anderen Männer zu hören!« brüllte Sonnenwolf. Mit vor Zorn rotem Gesicht fauchte Sheera: »Du denkst nur an dich selbst, und alles andere kann dir den Buckel runterrutschen…« »Daraus habe ich von Anfang an keinen Hehl gemacht!« schrie der Söldner zurück. »Du blöde und sture und verbohrte Gans! Und ich will nichts mehr mit dir und deinen elenden Launen zu tun ha ben!« »Du wirst hier bei uns bleiben und sie ertragen müssen!« ereifer te sich Sheera. »Es sei denn, du willst eine Tagesreise von Mandrigin entfernt einen jämmerlichen Tod sterben. Wie du siehst, bleibt dir keine Wahl, Söldner! Entweder du befolgst meine Befehle, oder dir stehen entsetzliche Schmerzen und anschließend der sichere Tod bevor!« Sie wirbelte herum, stürmte aus dem kleinen Raum und ließ die Tür hinter sich krachend ins Schloß fallen. Ihre raschen Schritte hallten hohl von den Wänden der Orangerie wider. Kurz darauf hörte er, wie sich das Außentor mit einem dumpfen Pochen schloß. Durch das Fenster beobachtete er, wie Sheera durch den Garten in Richtung 230
des Hauses schritt. Sie schluchzte leise vor Verbitterung und Wut. Mit langsamen Bewegungen griff Sonnenwolf nach den leeren Weinflaschen auf dem Tisch und schleuderte sie nacheinander an die Wand. Dann ging er in den Stall und sattelte ein Pferd. Als die Sonne unterging, ritt er durch das nördliche Stadttor und verließ Mandrigin. Er ritt die ganze Nacht bis in den nächsten Morgen hinein. Die Wirkung des Alkohols ließ langsam nach, wodurch aber nicht die Entschlossenheit Sonnenwolfs beeinträchtigt wurde, es Sheera ein für allemal zu zeigen. Im Falle einer freien Wahl hätte er sich nicht ausgerechnet für einen Tod durch das Gift Anzid entschieden, aber wenn er weiterhin in Mandrigin blieb, so glaubte er, daß ihm ein schreckliches Ende gewiß war. Im Kerker unter dem Stadtkontor hatte er erlebt, auf welche entsetzliche Art man ums Leben kommen konnte. Auf diese Weise starb er wenigstens als freier Mann und nicht als Sklave Sheeras. Er ritt nach Westen. Noch vor Mitternacht erreichte er die Ab zweigung, von der aus der eine Pfad zum Eisernen Paß und den granitenen Höhen der Tchard-Berge führte, der andere hingegen ins Hochland und durch das Strenwassertal zu den Städten der Buchten küste. Der Söldner dachte daran, den Weg nach Norden einzuschla gen, zum Paß, denn er wußte, daß ihn Sheera nicht ausgerechnet an der Türschwelle Altiokis' suchen würde. Sonnenwolf hatte sich vor genommen, ihr nicht die Befriedigung zu verschaffen, seine Leiche zu finden, sie im Ungewissen darüber zu lassen, ob er wirklich ums Leben gekommen war. Sie würde ihn suchen… Und wenn sie ihn fand, bevor das Anzid ihm den Tod brachte, mochte sie vielleicht eine Möglichkeit ersinnen, ihn nach Mandrigin zurückzubringen. Letztendlich jedoch konnte sich der Söldner nicht dazu überwin den, die Paßstraße zu nehmen. Er ritt weiter nach Westen, ließ sein Roß durch die feuchte Stille der dunklen Wälder galoppieren. Er fragte sich, ob Sternenfalke seine Verhaltensweise verstanden hätte. Ari, so wußte er, hätte sich bei Drypettis mit scheinbarer Aufrich tigkeit entschuldigt – in dem festen Willen, es dem kleinen Zankteu fel später heimzuzahlen. Und Sternenfalke… Sie hätte Sheera und den anderen Frauen schon zu Anfang gesagt, sie wolle eher sterben als sich dieser Art von Sklaverei zu fügen. Sie hätte sie verflucht und den Tod akzeptiert – oder wäre gar nicht erst in eine solche Situation geraten. 231
Was hatte Sheera mit dem Hinweis auf die Art und Weise, in der er von Sternenfalke angesehen worden war, sagen wollen? Gründe ten sich die Worte Sheeras nur auf Haß oder Eifersucht? Oder konnte sie als Frau Dinge sehen, die der männlichen Aufmerksamkeit leicht entgingen? Er wollte gern glauben, daß Sternenfalke ihn nicht immer nur mit dem für sie so typischen kühlen und ruhigen Kriegerinnenblick an gesehen hatte. Nach seinen bisherigen Erfahrungen stellte Liebe immer gewisse Ansprüche – an Zeit, an die Seele und ganz gewiß an die Aufmerksamkeit. Sternenfalke hatte ihn aber immer nur um An weisungen für die nächsten Schlachten und Feldzüge – und manch mal eine Narzissenknolle für ihren eigenen Garten gebeten. Tatsächlich war es Sternenfalke gewesen, die ihm erklärt hatte, warum Liebe für einen berufsmäßigen Soldaten dem Tod gleich kommen konnte. Während er ritt, erinnerte er sich: Er hatte sich den ganzen Abend über mit Sternenfalke bei Wein und Brandy unterhal ten, und sie saßen vor dem Kamin, dessen Feuer bereits niederge brannt war, lauschten dem Regen, der auf die im Garten wachsenden Zypressen prasselte. Er hatte das Thema ›Liebe‹ angeschnitten und den Grundsatz seines Vaters zitiert: Verliebe dich nicht und bekom me nichts mit Magie zu tun. Liebe sei wie ein Riß im Kettenhemd eines Mannes. Doch Sternenfalke, die dazu neigte, die ganze Kom plexität eines Problems zu erfassen, antwortete, Liebe veranlasse die betreffende Person nur dazu, neue Aspekte der Realität wahrzuneh men. Für einen Krieger jedoch, der sich ganz auf das Ziel des eige nen Überlebens konzentrieren mußte, mochte sich das als fatal er weisen. Er durfte nicht lieben, wenn er überleben wollte. Konnte eine verliebte Frau mit dieser kühlen Emotionslosigkeit über Liebe sprechen? Oder war sie gar nicht verliebt? Langsam setzte die Morgendämmerung ein, stahl sich grau über die auf den Hügeln wachsenden Bäume hinweg. Gelbbraune Blätter fielen wie sonderbarer Schnee aus den Wipfeln und machten das Pflaster des Weges schlüpfrig. Sonnenwolf ritt nun langsamer, sah sich immer wieder um und beobachtete die Hügelkuppen, die jen seits der Bäume emporragten. Südlich des Weges, dessen Verlauf er folgte, bildeten die Hügel eine massive und recht hohe Barriere, hier und dort boten sich die tiefen Einschnitte unterbrochen von Schluch ten und Klammen, die halb verborgen in einem grünen Gespinst aus Büschen, Sträuchern und wild wachsendem Wein tiefe Einschnitte 232
bildeten. Manchmal war das dumpfe Brodeln und Gurgeln der vom vielen Regen angeschwollenen Bäche zu hören, deren Wasser an Felsen entlangschäumte. Wind kam auf und wehte ihm das lange Haar über die Schultern zurück, strich ihm kühl übers Gesicht. Sonnenwolf hatte ganz ver gessen, wie schön es war, allein und frei zu sein – selbst wenn die Freiheit den Tod bedeutete. Am frühen Nachmittag stieg er ab und verjagte das Pferd. Es trabte davon und hinterließ Spuren, denen Sheera gewiß folgen wür de. Mit ein wenig Glück würde sie sich ablenken lassen und seine, Sonnenwolfs, Leiche auf diese Weise nicht finden. Ein dünnes Lä cheln umspielte die Lippen des Söldners, als er daran dachte, wie sehr es die arrogante Möchtegern-Kommandantin auf die Palme bringen mochte, wenn sie die Möglichkeit erwog, daß Sonnenwolf durch irgendein Wunder dem Anzid-Tod entgangen war – wenn sie sich vorstellte, daß er lebte und sich in einem entfernten Winkel der Welt ins Fäustchen lachte. Er konnte bereits spüren, wie das Gift sich in seinem Leib be merkbar machte, den ersten Anzeichen beginnenden Fiebers gleich. Sonnenwolf drehte sich um und kehrte durch den Wald zurück, sorg fältig darauf bedacht, keine zu offensichtlichen Spuren zu hinterlas sen. Er wanderte in Richtung der Felsen der höheren Hügel und der Höhlen, deren Zugänge in Richtung Mandrigins zeigten. Es war ein weiter Weg, und der Söldner ging vorsichtig, watete im Wasser der Bäche und verließ sich inmitten der Felsen auf seinen Instinkt, als das Tageslicht verblaßte und es erneut dunkel wurde. Er hatte sich in der Finsternis schon immer besser orientieren können als die meisten anderen Menschen. Schon als Kind, so erin nerte er sich, hatte er über diese Fähigkeit verfügt, die ihm oftmals selbst sehr rätselhaft erschienen war. Selbst in der Dunkelheit der windigen Nacht, ohne das Licht der Sterne oder des Mondes, machte er die vagen Konturen der Bäume aus, von geisterhaft wirkenden Birken und gewaltigen, wie Dämonen aussehenden Eichen. Aus dem besonderen Geruch des Windes schloß er, daß es später regenen würde. Die Böen wurden schon stärker und zerrten an seiner Klei dung. Der Boden war inzwischen steinig und steil, ragte vor Sonnen wolf in die Höhe. Hier und dort neigten sich Felsbrocken wie gebors tene Knochen aus dem Erdreich. Der Söldner stellte fest, daß ihm das Atmen immer mehr Schwierigkeiten bereitete und sich ihm ein 233
stechender Schmerz in die Lungen gebohrt hatte – etwas Kaltes und Schneidendes, so als habe er mit seiner letzten Mahlzeit Glassplitter zu sich genommen, die nun in der Kehle feststeckten. Das Gelände wurde noch steiler, und um ihn herum lichtete sich der Wald. Weiter oben schälten sich die Schatten größerer Felsen aus dem Schwarz der Nacht, deren Konturen mit einem kaum wahrnehmbaren, perlmutte nen Schein leuchteten, den Sonnenwolf nur wegen der völligen Fins ternis sehen konnte. Sich rasch in ihm ausdehnende Schwäche fraß den Rest seiner Kraft, und er empfand einen fiebrigen Schmerz, der sich nicht lokalisieren ließ. Übelkeit führte immer wieder zu neuen Magenkrämpfen. Ihm war, als befände sich ein großer Krebs in sei nem Bauch, der mit seinen Scheren versuchte, sich einen Weg ins Freie zu schneiden. Den ersten Anfall erlitt Sonnenwolf in der windigen Dunkelheit einer kleineren Schlucht. Er krümmte sich zusammen und stöhnte und hatte das Gefühl, Salzsäure ergieße sich durch seinen Magen. Der jähe Schock nahm ihm den Atem. Als die Pein nachließ, schnappte er schwach nach Luft, zitterte am ganzen Leib und kam sich plötzlich hilflos und auf gräßliche Weise verletzlich vor. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf und wagte es kaum, den Weg fortzusetzen, aus Furcht davor, die Qual könne zurückkehren und mit noch heißerem Feuer in ihm brennen. Als er weitertaumelte, sah er den Schmerz wie ein Ungeheuer, das sich irgendwo in der Schwärze verbarg und auf ihn lauerte, das danach gierte, ihn ganz zu ver schlingen. Es dauerte noch eine weitere Stunde, bis Sonnenwolf einen sei nen Vorstellungen entsprechenden Ort fand. Er hatte nach einer Höhle tief in den Hügeln gesucht, so fern von der Straße, daß man ihn selbst dann nicht hören konnte, wenn er vor Schmerz schrie und brüllte. Statt dessen jedoch entdeckte er eine Ruine, die Überbleibsel einer alten Kapelle, die Mauern halb eingestürzt und von Unkraut überwuchert. In der Gruft entdeckte er eine runde Grube, die rund sechs Meter tief sein mochte und drei oder vier Meter durchmaß. Kieselsteine, die Sonnenwolf in die Tiefe fallen ließ, klackten auf Fels oder raschelten in Büschen. Und in dem wenigen Licht, das durch das Gewirr der Äste und Zweige der nahen Bäume fiel, konnte der Söldner nur Heidekraut sehen, das sich sanft im Wind bewegte. Inzwischen schwitzte Sonnenwolf, und seine Hände zitterten wie Espenlaub. Der bisher verborgene Schmerz in seinem Leib war zu einem dumpfen Prickeln geworden, und dann und wann wiederhol 234
ten sich die quälenden Magenkrämpfe. Vorsichtig schob er sich an den Rand der Grube heran und ließ sich anschließend fallen. Das war ein Fehler. Er hatte das Gefühl, als werde sein Körper von einem Augenblick zum anderen auseinandergerissen. Die ge ringste Berührung rief eine Pein in ihm hervor, die ihn glauben ließ, es bohrten sich ihm dicke Holzsplitter ins Fleisch. Die jähe innere Explosion des Schmerzes führte dazu, daß er sich übergab, und das Würgen rief neue Qual hervor, wodurch er sich erneut erbrach, was die Pein weiterhin verstärkte. Es war, als bräche ein innerer Damm: Jede neue Welle verringerte seinen Widerstand gegenüber den ande ren Wogen des Schmerzes, die nur darauf warteten, ihn zu durchflu ten. Schließlich glaubte Sonnenwolf, es einfach nicht mehr ertragen zu können. Dämmrig fragte er sich, wieso er noch bei Bewußtsein war und ob diese Qual ihn bis zum Tode begleiten würde. Es war nur der Beginn einer schlaflosen Nacht. Lange nachdem das Morgengrauen die Dunkelheit der regneri schen Nacht mit dem ersten Grau erhellt hatte, fand Sheera den Söldner in der Grube. Sonnenwolfs Schreie waren es gewesen, die ihr die Richtung gewiesen hatten, doch nun war seine Stimme nur noch ein stöhnendes und leises Krächzen. Durch den Regen beo bachtete sie den Mann, der sich nach wie vor bewegte, der sich auf dem nassen Moospolster im Fieberwahn wimmernd hin und her wälzte. Trotz der reinigenden Frische des Regens stank es an diesem Ort wie in einer der übelsten Senkgruben der Hölle. Entschlossen band Sheera das mitgenommene Seil an einem nahen Baumstamm fest und kletterte in die Tiefe. Mit dem Zorn einer Löwin hatte sie die ganze Nacht über die Verfolgung Sonnenwolfs fortgesetzt, doch jetzt, beim Anblick des Söldners, empfand sie nur noch Mitleid und Entsetzen und dumpfen Groll. Sie fragte sich, ob Yirth gewußt hatte, daß Anzid einen so langsamen Tod verursachte. Sonnenwolf hatte sich den größten Teil seiner Kleidung vom Leib gerissen, und der Regen wusch kleine Furchen in die Schmutz kruste auf seiner Haut. Er wälzte sich noch immer umher, als könne er auf diese Weise dem Schmerz entfliehen. Als Sheera sich ihm näherte, begann Sonnenwolf erneut zu würgen, obgleich er seinen Magen inzwischen längst völlig entleert hatte und er nur noch bittere Galle spuckte. Sie betrachtete seine zerschundenen blutigen Hände, die er in seiner Qual so fest geballt hatte, daß Sheera glaubte, jeden Augenblick könnten die Fingerknochen brechen. Nachdem der An 235
fall vorbei war, blieb der Mann keuchend und zitternd liegen. Sein Gesicht war so aschfahl wie das eines Toten. Abgesehen von dem unheimlichen Prasseln des Regens und dem Krächzen, mit dem der Söldner immer wieder nach Luft schnappte, war es jetzt still in der Grube. Sheera schauderte; ein solches Entset zensbild hatte sie nicht erwartet. Sie trat noch einen Schritt näher heran, starrte mit von Grauen erfüllter Faszination auf den Sterbenden, betrachtete das dünne und schlammige Haar, die zerkratzten und zitternden Hände. Ganz leise und ruhig sagte sie: »Du verdamm ter, sturer Mistkerl.« Ihre eigene Stimme klang ihr fremd in den Ohren. »Ich sollte dich hier liegen und verrecken lassen.« Sie hatte es nicht für möglich gehalten, daß er ihre Worte verstand. Doch der Kopf Sonnenwolfs bewegte sich, und aus weit aufgerissenen Augen und durch einen Nebel des Schmerzes starrte er sie an. Sheera glaubte, daß er inzwischen nahezu blind war, und ganz offensichtlich konzentrierte er sich nun darauf, sie zu sehen, verlang te seinem gemarterten Körper alles ab, um ihr eine Antwort zu ge ben, um sein Krächzen und Keuchen und Stöhnen so zu artikulieren, daß verständliche Silben daraus wurden. »Dann laß mich eben allein«, brachte er undeutlich hervor. Sheeras Entsetzen angesichts der eigenen Verantwortlichkeit verwandelte sich in Zorn, der noch von der Erschöpfung nach der langen und anstrengenden nächtlichen Suche verstärkt wurde. Wol ken aus Pein und Schwäche trübten seinen Blick, aber seine Sinne übermittelten ihm einen Eindruck von Sheeras Wut. Einige Sekun den lang fragte er sich, ob sie ihn trotz seiner Qual treten oder mit der Reitpeitsche auf ihn einschlagen würde. Dann jedoch hörte er, wie sie sich abwandte. Das Platschen, das ihre Stiefel in den Pfützen verursachte, entfernte sich. Eine Ewigkeit lang kämpfte der Söldner gegen die Ohnmacht an, gegen die innere Schwärze, die nur Schreckensvisionen für ihn bereithielt und nicht etwa das Geschenk der Ruhe. Irgendwann vernahm er das Pochen der Hufe eines Pferdes, ein rhythmisches Stampfen, das irgendwo verklang. War das das Ende? Aber nicht nur die Aussicht auf den Tod marterte ihn – Kummer, Selbsthaß, all die Entsetzensbilder, die sich im Laufe des Lebens in seinem Unterbewußtsein angesammelt hatten. Und dann, nach endlosen Wanderungen durch diese eigene Höl le, bemerkte er perlmuttenes Mondlicht, an einem Ort, an dem er sich noch nie zuvor befunden hatte. Er lauschte dem fernen Rau 236
schen des Meeres. Als er die Augen aufschlug, fiel sein Blick auf die schmalen Steinwände einer jener kleinen Kapellen, wie man sie an der felsigen Meeresküste im Nordwesten findet. In der Dunkelheit sah er die Gestalt einer Krieger in, die unmittelbar hinter der unre gelmäßig geformten Lache aus Mondschein kniete. Die Kleidung der Kriegerin war fremdartig – der gesteppte und bunte Wams stammte offenbar von der Buchtenküste. Die knittrigen Stiefel jedoch kannte er, ebenso das Schwert, dessen Klinge im Mondschein glänzte. Und der geneigte Kopf mit dem hellen, fast weißen Haar… Die Kriegerin sah auf, und Sonnenwolf entdeckte Tränen, winzi ge Perlen auf den hohen Jochbeinen, wie Regentropfen auf marmor nem Stein. »Kommandeur?« flüsterte sie und richtete sich zögernd auf. Sie bemühte sich, den Bereich der Dunkelheit zwischen ihnen mit ihren Blicken zu durchdringen. »Wo bist du, Kommandeur? Ich habe dich überall gesucht…« Er streckte die Hand nach ihr aus. Die Kriegerin zögerte, ergriff sie dann. Ihre Lippen fühlten sich darauf an wie Eis, und ihre Tränen verbrannten rohes Fleisch. »Wo bist du?« hauchte sie. »In Mandrigin«, erwiderte Sonnenwolf leise und bot die ganze ihm noch verbliebene Kraft auf, um verständliche Worte zu formu lieren. »Ich sterbe. Gib die Suche nach mir auf.« »Auf keinen Fall«, sagte Sternenfalke mit zittriger Stimme. »Ich habe nicht den ganzen weiten Weg zurückgelegt, um jetzt…« »Hör mich an, Falke«, flüsterte der Söldner und hob den Blick. Das Blut von seiner Hand bildete Streifenmuster auf den Wangen der Kriegerin, vermischte sich mit ihren Tränen. »Sag mir nur eins: Liebst du mich?« »Natürlich«, erwiderte sie ohne zu zögern. »Ich habe dich immer geliebt, Wolf. Und ich werde dich immer lieben.« Er seufzte, und das Gewicht seines Schicksals belastete ihn noch mehr, der Kummer angesichts dessen, was hätte sein können. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe die Zeit verschwendet, die wir besser hätten nutzen sollen. Es tut mir leid, wenn ich daran denke, wie du gelitten haben mußt.« Sternenfalke schüttelte den Kopf, und selbst diese geringe Bewe gung ließ neue Schmerzensfeuer in dem gepeinigten Leib Sonnen wolfs brennen. Er biß die Zähne zusammen, kämpfte gegen die Qual an, bemühte sich, seine Gedanken nicht erneut vom Wind des Ver 237
gessens auseinander wehen zu lassen. »Die Zeit war nicht vergeudet«, sagte Sternenfalke sanft. »Wenn du zu der Überzeugung gelangt wärst, du hättest mich e benso geliebt wie Kitz und deine anderen Konkubinen, so hättest du gewiß Abstand zu mir gewahrt, so wie zu jenen Frauen. Und das wäre noch schlimmer gewesen. Ich möchte lieber einer deiner Män ner sein, als zu deinen Frauen zu gehören.« »Das verstehe ich«, murmelte Sonnenwolf, und er verstand es tatsächlich, denn die Schreckensvisionen hatten ihm diese Erkenntnis beschert. »Doch das spricht eher für dich als für mich.« »Du bist so, wie du bist«, sagte Sternenfalke leise. Ihre kalten Finger schlossen sich um seine zerschundenen und blutigen Hände, und er wußte, daß sie sehen konnte, wie sich das Licht des Lebens in ihm trübte. »Das habe ich immer akzeptiert.« »Ich war, was ich war«, berichtigte Sonnenwolf die Kriegerin. »Und ich möchte, daß du das weißt.« Er hatte sie noch nie zuvor weinen sehen, nicht einmal dann, wenn man ihr nach einer Schlacht Pfeilspitzen aus dem Fleisch ge schnitten hatte. Die Tränen rollten ihr ohne Bitterkeit über die Wan gen, kündeten nicht von Schwäche oder Verzweiflung, sondern wa ren Botschafter jener Einsamkeit, die nun auch zu einem Schatten Sonnenwolfs geworden war. Er hob die Hand, um das silbrige Weiß ihres Haares zu berühren. »Ich liebe dich, Sternenfalke«, flüsterte er. »Nicht in der Art wie einen meiner Männer – und auch nicht so wie eine meiner Frauen. Es tut mir leid, daß ich das jetzt erst begreife.« Er spürte, wie er sich von ihr entfernte, wie ihn etwas zurückzog in Richtung der mit Schreckensvisionen behafteten Schwärze. Er wußte, daß er körperlich und seelisch zerbrach – so wie ein Schiff, das im Sturm auf ein Riff getrieben wird. Alle ihm noch verbliebene Kraft tropfte aus ihm heraus. Die ältesten Träume brannten wie Feu er in ihm, und die Hitze dieser Flammen war größer als die des An zid-Fiebers, das ihn innerlich verzehrte. Trotzdem griff er mit beiden Händen nach diesen Träumen, obgleich sie aus lodernder Glut be standen, aus heißem Zorn und aus brennendem Erstaunen. Ihr Sen gen verkohlte ihn, und in der letzten Vision sah er das starre Gitter werk seiner Knochen, auf denen die Funken des Feuers wie kleine Irrlichter umhertanzten. Dann verflüchtigte sich dieses Bild. Sonnenwolf schlug die Au gen auf, und sein Blick fiel auf das schräge Holzdach seiner Kammer über der Orangerie, auf dem sich trübe das Sonnenlicht widerspiegel 238
te, das durch die blattlosen Wipfel der Bäume fiel. Von unten ver nahm er den Klang der Stimme Sheeras und kurz darauf die scharfe und höhnische Antwort Yirths. Yirth, dachte er und kniff die Augen wieder zu, schier überwältigt von Grauen und Verzweiflung. All seine Bemühungen, sich an je nem Tag vor Sheera zu verstecken… und sie hatte einfach nur Yirth darum bitten müssen, seinen Namen auszusprechen und in stehendes Wasser zu blicken. Die Nacht in der finsteren Grube, die Schmerzen, der tiefe Kummer, die Agonie – vergeblich. Sonnenwolf war schwach und innerlich ausgebrannt. Er hätte geweint, wäre er kräftig genug dazu gewesen. Die Frauen hatten gewonnen. Er lebte noch und war nach wie vor ihr Sklave. Selbst wenn es eine Möglichkeit gab, der Magie Yirths zu entgehen – er wußte, daß er nicht noch einmal zu fliehen versuchen würde. Er konnte das nicht noch einmal ertragen.
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14. Kapitel Wäre Sonnenwolf nicht ganz so schwach und hilflos gewesen, hätte er die Pflege Yirths abgewiesen. Zwei Tage lang lag er wie ein schlaffes Bündel aus Fleisch und Knochen auf dem Lager, trank das, was die Hexe ihm einflößte, und spürte, wie die Schatten mit der Wanderung der Sonne am oftmals wolkigen Himmel länger wurden und anschließend schrumpften. Er lauschte dem Regen, der auf die Schindeln prasselte, dem Gurgeln des Wassers in den Dachrinnen. Während der Nacht hörte er, wie sich die Frauen unten in der Oran gerie versammelten, wie ihre Stiefel über den Stein kratzten, ihre Kleider raschelten, vernahm auch das scharfe Fauchen Denga Reys, die knappen Befehle Sheeras, das Stimmengewirr der Rekrutinnen. Einmal hörte er, wie jemand die Treppe heraufkam, dann zögerte, eine Zeitlang im Aufgang verharrte und anschließend kehrtmachte. Er schlief viel. Manchmal kamen einige der Frauen und besuch ten ihn – Bernsteinauge, Yirth, gelegentlich auch Sheera. Sie spra chen ihn an, doch Sonnenwolf wußte nicht, ob er ihnen antwortete. Es schien auch keine Rolle zu spielen. Am dritten Tag konnte er wieder feste Nahrung zu sich nehmen, obwohl Fleisch noch immer Übelkeit in ihm weckte. Nachmittags ging er in das Nebenzimmer der Orangerie und kümmerte sich um die Blumenknollen und Sprößlinge, die dringender Pflege bedurften. Wie der erste Funke eines Feuers, das sich langsam in feuchtes Holz frißt, spürte der Söldner, wie das Leben neu in ihm erwachte. Doch die Schwäche, die noch immer wie ein dunkler Schemen in seinem Innern festhaftete, ließ ihn jede noch so geringe Anstrengung wie ein schweres Gewicht fühlen und drohte, die Netzfäden des so arg be lasteten Gespinstes seiner Seele endgültig zu zerreißen. Als er hörte, wie Sheera kurz nach Sonnenuntergang in die Orangerie kam, ging er ihr aus dem Weg und zog sich in die Schatten des Nebenzimmers zurück. Als sie diesen Raum betrat, verbarg er sich und schlich hin ter ihr durch die Tür. Nachdem alle Rekrutinnen gegangen waren, suchte Sonnenwolf das Badehaus auf und entspannte sich in heißem Wasser. Er lauschte dem Wind, der in den kahlen Zweigen der Bäume seufzte, und es offenbarte sich ihm jenes Gefühl, das er schon als kleines Kind ge habt hatte, das Empfinden, mit dem Leben der Nacht um ihn herum eins zu sein. 240
Als er später in die Dachkammer zurückkehrte, schlief er, ohne von Träumen geplagt zu werden. Stimmen in der Orangerie weckten ihn, ein leises, gedämpftes, fast heimlich klingendes Murmeln, das Gespräch der eiligen Schritte nackter Füße. Während seiner Krankheit hatte Bernsteinauge den Söldner zwar tagsüber gepflegt, jedoch nicht die Nacht bei ihm ver bracht. Sonnenwolf fragte sich, ob sie einen anderen Liebhaber hatte, ob es noch einen anderen Mann für sie gab, obgleich Sheera sie damit beauftragt hatte, den Söldner beschäftigt zu halten. Er richtete sich auf und näherte sich lautlos der Tür. Kurz darauf konnte er die Stimmen deutlicher hören. »… hättest du es niemals allein versuchen dürfen, du törichte Närrin! Wenn du gefaßt worden wärst… « Das war Sheera, und das Vibrieren in ihrer Stimme machte den Zorn deutlich, der in ihr wühlte. »Es hätte keinen Zweck gehabt, andere Frauen mitzunehmen«, erwiderte jemand, und Sonnenwolf erkannte den rauheren Tonfall der Güldenen Shorad. »Dadurch wären möglicherweise nur noch mehr von uns in die Hände des Feindes gefallen… Bei allen Heili gen, Sheera: Du warst nicht da! Ich wußte nicht, was ich machen sollte! Aber…« »Ist sie noch immer dort?« fragte Denga Rey scharf. Offenbar bestätigte das die Güldene mit einem Nicken. Nach ei nigen Sekunden fügte die Gladiatorin mit fester Stimme hinzu: »Dann müssen wir zurückkehren.« »Aber sie werden doch bestimmt damit rechnen, daß jemand ver sucht, sie zu befreien.« Das war Wilarne. Bei den Seelen meiner Vorfahren: Wie viele von ihnen stecken in der Sache – worum auch immer es sich dabei handeln mag? fuhr es Sonnenwolf durch den Sinn. Der Söldner beschwor all die Erfahrung, die er als Kämpfer wäh rend vieler Schlachten und Feldzüge gesammelt hatte, öffnete die Tür und betrat die Treppe. Zwar konnte er nicht vermeiden, daß das Holz der Stufen an einigen Stellen unter seinem Gewicht leise knarr te, aber er vermutete, daß diese Geräusche der Aufmerksamkeit der Frauen unten in der Orangerie entgingen – obwohl sie aufgrund der Ausbildung eigentlich sofort hätten alarmiert sein müssen! Kurz darauf erreichte Sonnenwolf das Erdgeschoß und verharrte unmittel bar hinter einer Ecke. Es waren insgesamt fünf Frauen, die sich im matten Lichtschein 241
um den Tisch versammelt hatten. Ein goldener Hauch säumte das Profil des scharfgeschnittenen Gesichts Denga Reys, und der Wider schein des Lichts glänzte in ihren dunklen Augen. Neben ihr stand Sheera, gehüllt in die kirschfarbene Wolle ihres Nachtgewandes, das schwarze Haar wie ein zerzauster Schleier, der ihr bis auf die Schul tern reichte. Die anderen drei trugen die – spärliche – Kleidung für den Kampf. Von seinem Versteck aus betrachtete Sonnenwolf die Frauen. Im vormals schlaffen Fleisch ihrer Körper hatten sich harte Muskeln gebildet. Selbst die Gestalt Eos, die die beiden kleineren Friseusen überragte, wirkte trotz ihrer nach wie vor recht beeindruckenden Masse straffer. Unter den dunklen Umhängen trugen sie nur den ledernen Brustschutz ihrer Übungsausrüstung, kurze Hosen und Messergürtel. Das Haar hatten sie sich sorgfältig im Nacken zusam mengebunden. Die Mähne Wilarnes schien sich diesen Bestrebungen widersetzt zu haben und fiel der Frau als ein langer Schweif über die linke Schulter. An einigen Strähnen klebte Blut. Sheeras Frauen, dachte der Söldner, waren in den Kampf gezo gen, bevor die Kommandantin den Befehl dazu gegeben hatte. Er überlegte, was es für einen Grund dafür geben mochte. »Wann wurde sie verhaftet?« fragte Sheera gerade. »Und wa rum?« Eo richtete den kühlen Blick ihrer blauen Augen auf sie. »Kannst du dir die letzte Frage nicht selbst beantworten?« Sheera versteifte sich. Und die Güldene Shorad warf aufgrund ih rer Neigung zur Beschwichtigung ein: »Als Grund wurde angebli ches unverschämtes Verhalten in der Öffentlichkeit angegeben. Aber gestern sprach er mit ihr außerhalb der Schmiede Eos…« Und Eo fügte verbittert hinzu: »Nun, er kann wohl nicht ernsthaft ein fünfzehnjähriges Mädchen des Verrats bezichtigen.« »Wir mußten schnell handeln«, sagte Wilarne, und in ihren gro ßen dunklen und mandelförmigen Augen schimmerte Sorge. »Des halb haben wir uns heute abend nicht hier eingefunden, um zu exer zieren.« »Es wäre besser gewesen, uns sofort zu benachrichtigen«, be merkte Denga Rey scharf. Sonnenwolf stand noch immer in der Dunkelheit des Treppen hauses, und er spürte, wie plötzlicher Zorn in ihm aufkam, heiß und kalt zugleich. Tisa, dachte er. Die Tochter der Güldenen Shorad – Eos Nichte und Lehrling. Ein Mädchen, dessen jugendliche, linki 242
sche Einfältigkeit sich in der letzten Zeit immer mehr in lebhafte Eleganz verwandelt hatte. Der Söldner fragte sich, ob auch sie eine Gelegenheit erhalten hatte, Derroug ihre ›Loyalität‹ zu beweisen. Vielleicht war sie verhaftet worden, weil sie ihn zurückgewiesen hatte. »Wir kletterten über die Mauer des Lupriskanals«, sagte die Gül dene. »Wir setzten zwei Männer außer Gefecht, beschwerten ihre Körper und warfen sie ins Wasser. Aber… Sheera, die Wächter im Palast wurden auf uns aufmerksam! Auf irgendeine Weise müssen sie dazu fähig gewesen sein, im Dunkeln zu sehen. Es war stockfins ter, und doch entdeckten sie uns und hetzten uns nach. Wir konnten sie kommen hören. Einer von ihnen griff Wilarne an… « »Ich begreife es einfach nicht«, hauchte Wilarne. Ihre Hände – so klein wie die eines Kindes – ballten sich zu Fäusten, als sie sich an den Kampf und die Angst erinnerte. »Er… er schien überhaupt kei nen Schmerz zu empfinden. Andere Wächter kamen… Ich verletzte ihn, ich weiß, daß ich ihn verletzt habe, aber davon ließ er sich nicht beeindrucken. Es machte ihm überhaupt nichts aus. Ich hatte Mühe, ihm zu entkommen… « »Na schön«, erwiderte Sheera. »Ich schicke Drypettis eine Nach richt und teile ihr mit, was geschehen ist. Vielleicht kann sie uns helfen, in den Palast einzudringen.« »Bestimmt wird sie beobachtet«, sagte Sonnenwolf. »Und heute nacht kannst du sie nicht mehr in Kenntnis setzen.« Es war das erstemal seit drei Tagen, daß er sie ansprach, und die Frauen drehten sich überrascht um, verblüfft auch darüber, daß er sie die ganze Zeit über beobachtet und belauscht hatte. Der Söldner entsann sich daran, wie er in der Grube zu Sternenfalke gesprochen hatte, und dadurch war er bereits an den veränderten Klang seiner Stimme gewöhnt. Er bemerkte, wie Sheera angesichts des wie atem los klingenden Schnaufens die Stirn runzelte, wie in dem breiten und mütterlichen Gesicht Eos ein sorgenvoller Ausdruck entstand – und wie die Güldene und Wilarne strahlten, erleichtert darüber, daß er sich wieder erholt hatte. Ganz offensichtlich waren sie ernsthaft um ihn besorgt gewesen. Sheera erholte sich als erste von ihrem Erstaunen. »Derroug ver dächtigt Drypettis nicht…« »Vielleicht nicht unbedingt des Verrats. Aber er weiß sicher, daß sie alles tun würde, um was du sie bittest. Ob er etwas von einer Verbindung zwischen der Güldenen und dir ahnt, möchte ich dahin 243
gestellt sein lassen… Doch wie dem auch sei: Wir müssen Tisa be freien, bevor der Statthalter Altiokis' sie einem Verhör unterzieht.« Shorad warf ihm einen kurzen Blick zu, und Sonnenwolf schloß, daß die Güldene trotz der wenig herzlichen Art und Weise, in der sie normalerweise ihrer Tochter begegnete, nicht die gleichgültige Mut ter war, für die er sie bisher gehalten hatte. Darüber hinaus hatte sie offenbar nicht damit gerechnet, daß ihr der Söldner beipflichtete. Schroff fuhr Sonnenwolf fort: »Wenn Derroug sie unter Druck setzt, wird sie kämpfen – und zwar wie eine Kriegerin und nicht wie ein ängstliches Mädchen. Und in einem solchen Fall wäre die Katze wirklich aus dem Sack. Also: Wann habt ihr die beiden Wächter erledigt, Shorad?« Die Güldene rang nach Fassung und erwiderte unsicher: »Vor rund zwei Stunden. Sie traten gerade ihren Dienst an, und eine Schicht dauert vier Stunden.« »Es dürfte ein Ablenkungsmanöver notwendig werden.« Sonnenwolf richtete seinen Blick auf Sheera. »Glaubst du, du könntest die Ruhegemächer Derrougs wiederfinden?« Das blasse Gesicht Sheeras lief rot an. »Ja«, bestätigte sie ein wenig verlegen. »Dann zieh dich um und hol deine Waffen. Denga, du bleibst hier. Vermutlich haben die Wächter des elenden Wichts dich in der Dunkelheit erkannt, wenn du nicht so klug warst, dir das Gesicht zu schwärzen.« Güldene Shorad, Wilarne und Eo sahen sich verwirrt an. »Macht euch nichts draus; ihr hattet Glück, mit dem Leben da vonzukommen, und dabei wollen wir es belassen. Ich weiß nicht, ob du irgendwelche Vorbereitungen für den Fall getroffen hast, daß der Statthalter von der Verschwörung erfährt, Sheera, doch jetzt ist es zu spät, einen solchen Plan zu entwickeln. Wenn eine der Frauen von Derroug verhört wird, so glaube ich kaum, daß sie irgendein Ge heimnis für sich behalten kann. Du hast jedenfalls erlebt, was mit dem rothaarigen Mann geschah, Sheera.« Ihr Gesicht wurde aschfahl und sie stöhnte leise. »Was mich angeht, so würde ich versuchen, nichts zu verraten und an meiner Rolle als unwissender Sklave festzuhalten. Nun, wenn wir nicht bis morgen früh zurück sind, Denga, so kannst du dich als Befehlshaberin betrachten und davon ausgehen, daß der Statthalter alles weiß. Verhalte dich dann so, wie du es für angemessen hältst.« »In Ordnung«, erwiderte die Gladiatorin. 244
»Wir bringen Tisa zu Lady Wrinshardin. Weiß Derroug, daß sie deine Tochter ist?« Diese Frage richtete Sonnenwolf an die Güldene Shorad, die daraufhin den Kopf schüttelte. »Gut.« Der Söldner dachte einige Sekunden lang nach und mus terte die beiden kleinen Kriegerinnen mit dem blutverschmierten Haar. »Da wäre noch etwas. Wie ich eben schon sagte, brauchen wir ein Ablenkungsmanöver. Ihr beide habt euch in der letzten Zeit des öfteren als sehr einfallsreich erwiesen: Wenn ich zurückkehre, er warte ich einen Vorschlag von euch.« Als Sonnenwolf fünf Minuten später wieder die Treppe herunter kam, mit seinen Waffen, den Stiefeln, gekleidet in einen kurzen Kampfkilt, war er überrascht, daß die beiden Frauen tatsächlich eine Idee hatten. »Dort gehen sie.« Sonnenwolf hob vorsichtig den Kopf, so daß seine Nase nicht länger an die schlammigen Dachschindeln gepreßt war, und er blickte auf den Hof vor den Baracken des Statthalterpa lastes herab. Anschließend musterte er Sheera, die im Schatten der Zierbrüstung kauerte. Sie deutete ein Nicken an. Vom Dach des Schreiberbüros aus, das sich an der einen Flanke der Baracken erhob, hatte man einen ausgezeichneten Überblick. Sie sahen Männer, die aus den Kasernen kamen, sich müde und schläfrig die blau-goldenen Livrées überzogen, sich die unrasierten Gesichter rieben und leise fluchten. In ihrer Mitte, begleitet von einem dicken und aufgeregt gestikulierenden Offizier, stolzierten die Güldene Shorad und Wilar ne einher, verschleiert und in einer Art und Weise gekleidet, auf die Kobra und Irrerot stolz gewesen wären. Sonnenwolf hörte das leise Lachen Sheeras. »Bei allen Geistern, woher hat Shorad nur die Federschärpe?« flüsterte sie. »Das ist das obszönste Ding, das ich jemals gesehen habe, aber bestimmt hat es mindestens fünfzig Kronen gekostet!« Kurz darauf schrillte die betont vulgäre Stimme der Güldenen Shorad, die sich offenbar alle Mühe gab, als eine keineswegs sonder lich taktvolle Kurtisane zu gelten. »Der Mistkerl meinte, man solle das Kontor niederbrennen, und er behauptete, ohne die Unterlagen könne Seine Hoheit mit all den Truppen überhaupt nichts mehr an fangen.« »Das Kontor«, flüsterte Sheera, »befindet sich im nord-östlichen Flügel des Palastes. Derrougs Quartier hingegen liegt im südwestli chen Bereich.« »In Ordnung.« Sonnenwolf schob sich leise und vorsichtig über 245
das geneigte Dach, kletterte um einen Wasserspeier herum und ließ sich auf den eichernen Holm eines mit Schnitzwerk verzierten Bal kons herab, der ins Freie ragte, einige Meter über der dunklen Klamm der Gasse, die das Schreiberbüro von der Barackenwand trennte. Die Entfernung bis zur Wand war nicht sonderlich groß, aber der schmale Absatz bot nur wenig Halt. In diesem Winkel der alten Verteidigungsanlage, die einst den ganzen Bereich geschützt hatte, wollte Sonnenwolf nicht dem eher trügerisch wirkenden Stein trau en. Er sprang, fing den Aufprall mit den Knien ab, als er auf einer der Zinnen landete, und sofort darauf ließ er sich auf den schmalen Steg herab. Der Söldner drehte den Kopf und sah in Richtung des Daches zu rück. Sheera war klug genug, in ständiger Bewegung zu bleiben, als sie die Deckung verlassen hatte. In der windigen Dunkelheit der Nacht schien nichts reglos zu sein, und es wäre selbst für einen auf merksamen Wächter schwer gewesen, diese huschenden Bewegun gen einem Menschen zuzuschreiben. Seit seinen schmerzhaften Erfahrungen in der Grube war sich Sonnenwolf darüber klar, daß er selbst in der Finsternis fast so gut sehen konnte wie bei Tageslicht, und er glaubte, es habe sich auch sein Orientierungssinn geschärft, der ohnehin schon immer sehr gut gewesen war. In den dunklen Schatten machte er das angespannte und wachsame Gesicht Sheeras aus, die mit den Füßen nun geschickt nach dem Holm tastete. Ihre geschwärzten Arme zeichneten sich als vage Silhouetten vor dem grauen Pilaster des Gebäudes ab. Ein Sprung, mit der Anmut einer Katze, und Sheera befand sich an der Seite des Söldners. Still beobachtete sie die finstere Masse des Palastes vor ihnen, deutete dann nach Südwesten. Wegen des Alarms waren die Baracken nun leer. Sonnenwolf und Sheera hasteten die Treppe des Wachturms herunter, duckten sich durch den Stallflügel, den Sheera aufgrund ihrer Freundschaft zu Drypettis sehr gut kannte, eilten anschließend am westlichen Rand der Festungsanlage entlang und erreichten kurz darauf die Küchen der südwestlichen Ecke. Während sie an der Mauer ent langliefen, spürte der Söldner die Nervosität der Pferde in den Stäl len, die infolge des böigen Windes und der Unruhe in anderen Berei chen des Palastes scheuten. Bei der ersten sich ihm bietenden Gele genheit zog Sonnenwolf seine Begleiterin durch die Hintertür des großen Stalles und hastete mit ihr die Treppe hoch, die in die Dach kammer führte, die sich durch die ganze Länge des Gebäudes er 246
streckte, direkt über den Boxen mit den Rössern. Mehrmals hörten sie die Stimmen von Stallburschen und mürrischen Reitknechten, doch niemand von ihnen argwöhnte aufgrund des Scheuens der Pfer de, daß sich jemand durch die Dachkammer schlich. Sie gaben allein dem Wind die Schuld. Und den Wächtern, die hier und dort durch das Palastanwesen eilten und nach Attentätern suchten, die es auf das Kontor abgesehen hatten, kam es nicht in den Sinn, inmitten des Viehs des Statthalters nach Eindringlingen und potentiellen Brandstiftern Ausschau zu halten. Von der Dachkammer aus kletterten Sonnenwolf und Sheera auf die Schindeln der Küche, und nach einigen wenigen Metern schoben sie sich über den hohen Firstbalken hinweg. In der Ferne sahen sie den trüben Glanz von Lampen, die an den hohen und soliden Kontu ren des nördlichen Verwaltungsflügels hingen. Links von ihnen erstreckte sich die südliche Wand der Palastmauer, die aufeinander geschichteten Steine verwehrten den Blick auf den sich daran an schließenden Großen Kanal. Hinter den Fenstern der Gebäude auf der anderen Seite funkelten zu dieser späten Stunde nur noch wenige Lichter, und der vom Wasser projizierte Widerschein tanzte wie moirierte Seide über die Mauer. Irgend etwas bewegte sich in den Küchengärten. Hunde? dachte Sonnenwolf. Aber dann müßten wir doch ihr Bellen hören. Der Söldner lag lang ausgestreckt auf dem schiefen Dach. Als er ein wenig den Kopf hob, sah er die kleine Hintertür und die Wasser treppen an der Stelle, an der die Güldene Shorad in Begleitung Wi larnes und Eos ins Gebäude vorgestoßen war. Er entdeckte auch den leeren Steg weiter oben. Er hörte, wie sich jemand über die Schindeln an ihn heranschob, und unmittelbar darauf spürte er einen warmen Körper an seiner Seite. »Können wir den Garten durchqueren, ohne gesehen zu wer den?« fragte Sheera flüsternd. »Irgend etwas befindet sich dort unten«, erwiderte Sonnenwolf, und seine Stimme war nicht mehr als ein Hauch. »Tiere, glaube ich – umherstreifende Hunde oder Katzen.« Er kroch zur Seite und hielt den Kopf dabei dicht unterhalb der höchsten Stelle des Küchenda ches, dem First, in den namenlose Künstler die Bildnisse von Heili gen und Dämonen gemeißelt hatten, Darstellungen, die sich nun an vielen Stellen mit einer grünen Moosschicht überzogen hatten oder vom weißen Kot der Palasttauben bedeckt wurden. Die Schindeln 247
fühlten sich ein wenig wärmer an, als Sonnenwolf sich um einen großen Schornstein herumschob und erneut den Kopf hob. »Dort«, murmelte er. »Der überdachte Steg von der Küche in den Salon. Du hast mir doch einmal erzählt, daß drei Viertel der Mahl zeiten kalt ankommen, wenn du mit dem Statthalter speist.« »Und anschließend werden sie in nicht erwärmten goldenen Schüsseln aufgetragen, was die Sache noch schlimmer macht«, fügte Sheera hinzu und lachte leise. »Ja, ich sehe den Steg ebenfalls. Das erhellte Fenster links darüber – das Vorzimmer zum Schlafgemach Derrougs. Das Fenster dort drüben begrenzt den Flur.« »Ich verstehe.« Seine Füße suchten nach kleinen Rissen und Fu gen in den Schindeln, dann rutschte er über das geneigte Dach hinab. Unter ihm bildeten die Ställe ein Gewirr aus Firsten und dunklen Gassen. Eine Rinne säumte das Ende des Daches. Sonnenwolf folgte ihrem Verlauf und glitt rasch dem spitz zulaufenden Ende des Ge bäudes zu, das auf der Kanalseite über einen Teil des Gartens ragte. Der Wind heulte an den Mauern entlang und trug den Fischgeruch des Meeres herbei. Unten im Garten neigten sich die blattlosen Bäume wie sonderbare Skelette von einer Seite zur anderen, und die Hecke war ein Schatten, der den Bereich der Anpflanzung begrenzte. Irgendwo in der Finsternis bewegte sich etwas, stöhnte und seufzte und grunzte leise. Der Söldner stützte sich an der Rinne ab und brach eine Schindel los. Das Fauchen des Windes, dessen Böen dem Mann wie kalte Wogen über den halbnackten Leib rannen, übertönte das von seinen Händen verursachte Kratzen und Schaben – und die Stimmen. Er hörte jemanden fluchen und erstarrte, preßte sich flach aufs Dach und hoffte inständig, daß die Schicht aus Ruß und Schmiere, mit der er sich bedeckt hatte, nicht an einigen Stellen so dünn geworden war, daß darunter seine hellere Haut zum Vorschein kam. Der Fluch wiederholte sich. Und eine zweite Stimme sagte: »Nichts zu entdecken.« »Irgendein Zeichen von Kran?« Offenbar wurde diese Frage mit einem Kopfschütteln beantwor tet. Sonnenwolf preßte das Gesicht an die schmutzigen Schindeln und fragte sich, wie lange es dauern mochte, bis einer der beiden Männer aufsah. »Verdammt komisch, daß er sich einfach nicht mehr blicken läßt… Wenn von dieser Seite her Eindringlinge kamen… « »In der Absicht, das Kontor niederzubrennen? Nein, das glaube 248
ich eigentlich nicht. Ach, wirklich gut, daß uns die beiden Nutten gewarnt haben… « »Warum also sollen wir überhaupt die Ställe prüfen? Der ver dammte Sergeant kann mich mal gernhaben… « In diesem Augenblick entstand ein seltsames Gefühl in Sonnen wolf. Er wußte plötzlich, daß er die beiden Wächter allein mit sei nem Willen daran hindern konnte, zu ihm aufzusehen. Es war eine Erfahrung, die er in dieser Art noch nie zuvor gemacht hatte, und er empfand sie als ebenso faszinierend wie unheimlich. Es handelte sich um so etwas wie eine feste Überzeugung, um irgendeine Verän derung sowohl in seinem Bewußtsein als auch der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung – ein Prozeß, den er mehr erahnte, als daß er ihn in allen Einzelheiten beobachten und beschreiben konnte. Dennoch hielt er diesen Vorgang für ebenso natürlich wie den Gegenangriff nach der Attacke eines Gegners, fühlte ihn so konkret wie den Stahl eines Schwertes in der Hand – obgleich er etwas darstellte, was ihm eigentlich völlig fremd hätte sein müssen. Er verglich den Wandel in seinem Innern mit der Fähigkeit, die ihn schon als kleinen Jungen ausgezeichnet hatte, mit dem Talent, nicht aufzufallen, sich in gewis ser Weise unsichtbar zu machen. Ohne sich zu rühren, ohne den Kopf zu heben und nach unten zu blicken, befahl Sonnenwolf den beiden Wächtern allein mit einer Anstrengung seines Willens, nicht aufzusehen – so als habe er Zu gang zu den Seelen der Männer, als könne er eine geistige Tür öff nen, die ihm nur seine Kindheitsträume gezeigt hatten. Lag es nun an den Bemühungen des Söldners oder am kalten und windigen Wetter – die beiden Wächter sahen tatsächlich nicht hoch. »Laß uns weitergehen, Kamerad. Ich friere mir hier noch etwas ab… außerdem ist alles ruhig und friedlich.« »In Ordnung. Zum Teufel mit Kran und den Brandstiftern…« Eine Tür schloß sich. Sonnenwolf blieb noch einige Sekunden lang auf den Schindeln liegen und lauschte dem Geräusch der sich entfernenden Schritte. Als er ganz sicher war, daß die Wächter nicht zurückkehrten, griff er nach den losgerissenen Schindeln und warf sie in die dunkle Ecke des Gartens. Die Schindeln fielen in die Hecke, und es knackte und knarrte deutlich hörbar. Der Söldner wich rasch in den Schatten zurück und vernahm, wie weitere Zweige und Äste brachen, als sich das, was sich in der Finsternis des Gartens verborgen hielt – Hunde oder menschliche Wächter – , näherte, um festzustellen, wer solchen 249
Lärm machte. Hinter dem vorstehenden Giebel vor Entdeckung geschützt, schob sich Sonnenwolf erneut an der Dachrinne entlang und kehrte flink wie eine Katze an die Stelle zurück, an der Sheera auf ihn wartete. Als er an ihre Seite glitt, sah er an der einen Ecke des Küchenbereichs Bewegungen. Sie hatten jetzt etwas Zeit gewon nen, und die nutzte der Söldner, um rasch über den unregelmäßig geformten First zu klettern und sich auf den Steg herabzulassen. Der Boden war glatt – eine architektonische Dummheit, wenn man daran dachte, wie oft es in Mandrigin regnete. Wahrscheinlich leckte er den ganzen Winter über wie ein Sieb, dachte Sonnenwolf und rückte vor. Als er sich einmal kurz umsah, stellte er fest, daß sich Sheera unmittelbar hinter ihm befand. Mit einem weiteren ra schen Blick beobachtete er den Garten, in dem sich nun nichts rühr te. Er richtete ein kurzes flehentliches Gebet an die Seelen seiner Vorfahren, in dem er sie darum bat, daß alles ruhig blieb, und an schließend betrachtete er die nun erreichbaren Fenster. »Söldner!« flüsterte Sheera. Er drehte den Kopf. Der Wind drehte sich plötzlich, und Son nenwolf nahm den beißenden Geruch von Rauch wahr. Als ein Mann, der außer einem Kämpfer auch ein erfahrener Brandstifter war, stellte er fest, daß es sich um den Rauch eines ge rade erst ausgebrochenen und rasch um sich greifenden Feuers han delte. Er wandte sich zur Seite und sah an der nördlichen Flanke des Palastes beeindruckend hohe Flammen emporzüngeln. Stimmen gellten, Stiefel klackten eilig übers Pflaster. Alle liefen in Richtung des Feuers. Güldene Shorad und Wilarne verstanden ihr Handwerk. Sonnenwolf kletterte auf den nächsten Fenstersims und trat die Scheibe ein. Sheera hatte recht: Durch das Fenster gelangten sie in einen lan gen Flur, der nur matt von Lampen mit bernsteinfarbenem Glas er hellt wurde und ausgelegt war mit dicken, blauen Teppichen, deren Seide die Weberinnen der Buchteninseln gesponnen hatten. Sonnen wolf duckte sich durch die nächste Tür, betrat ein Vorzimmer und suchte nach einem Zugang ins Schlafgemach. Als er ein Geräusch im Korridor hinter sich vernahm, wirbelte er herum. Sheera – so schmutzig und schwarz wie ein Dämon aus den rußigsten Gewölben der Hölle – hatte gerade ebenfalls den Raum betreten wollen, war jedoch mitten im Schritt erstarrt. Vor ihr im Flur stand Derroug Dru höchstpersönlich, den dürren und gnomenhaften Leib in eine präch 250
tig verzierte Robe aus scharlachrotem Brokat gehüllt, um den Hals einen Hermelin geschlungen, im arroganten Gesicht den Ausdruck völliger Verblüffung. Einige Sekunden lang starrten sie sich nur wortlos an. Dann sah Sonnenwolf, wie sich die schmale Brust des Statthalters hob, wie die Lippen zitterten und sich zu einem alarmierenden Schrei öffneten… Er kam nicht mehr dazu. Sheera reagierte blitzschnell. Zudem war sie größer und schwerer als er. Zwar genoß es Derroug, andere Menschen unter seinen Willen zu zwingen, aber körperlich war er doch ein Krüppel. Sonnenwolf erblickte kurz den Dolch in Sheeras Hand… und schon fing sie den erschlafften Körper auf, zerrte ihn in das Vorzimmer und achtete nicht auf das Blut, das aus der aufge schnittenen Kehle des Wichtes quoll. Schon nach wenigen Augen blicken erfüllte ein süßlicher und widerwärtiger Gestank das Zimmer und verdrängte den vorherigen Weihrauchduft. »Deck ihn mit etwas zu«, flüsterte Sonnenwolf, als Sheera die Tür schloß. »Dadurch gewinnen wir etwas Zeit. Wollen wir hoffen, daß sich Tisa wirklich hier befindet und wir nicht im ganzen Palast nach ihr suchen müssen.« Als Sheera die Leiche Derrougs in eine Ecke des Zimmers zerrte, eilte Sonnenwolf auf die versperrte Tür in der gegenüberliegenden Wand zu. Er schob die Riegel beiseite und trat in das Gemach. »Ti sa…« Irgend etwas traf ihn an Schulter und Knie. Ein kühler dünner Arm legte sich ihm um den Hals und drückte ihm die Luft ab, kleine Hände ballten sich dicht unterhalb seines Kinns zu Fäusten. Son nenwolf reagierte aus einem Reflex heraus. Er schob die Schultern vor, duckte sich und schleuderte den Angreifer von sich. Eine Gestalt von überraschend leichtem Gewicht segelte über seinen Kopf hinweg und fiel auf den weichen Teppich des Bodens. Das Mädchen stöhnte leise beim Aufprall. Als der Söldner nach den Handgelenken Tisas griff, kam sie wieder auf die Beine. Sie war zwar nicht mit dem Kopf aufgeschlagen, doch Tränen der Furcht und des Schmerzes liefen ihr über's Gesicht. Dann erkannte Tisa den Söldner. Sie wandte sich von ihm ab, beschämt darüber, daß er ihre Tränen gesehen hatte. Es war nicht die rechte Zeit für sie, so meinte Sonnenwolf, sich als eine unerschütterliche Kriegerin zu geben. Schließlich zählte sie erst fünfzehn Jahre und war das Opfer eines mächtigen und grausa men Mannes gewesen. Sonnenwolf nahm sie in die Arme. Tisa zit 251
terte in stummem Entsetzen und preßte das kleine tränennasse Ge sicht an die harten Muskeln seiner Brust. Sheera stand schweigend in der Tür, Hände und Unterarme blutverschmiert. Sie beobachtete, wie Sonnenwolf über das zerzauste Haar des jungen Mädchens strich und es so zu trösten versuchte, wie ein Vater seine Tochter, die gerade einen schlimmen Alptraum hinter sich hatte. »Er ist tot«, sagte der Söldner sanft. »Jetzt wird alles gut.« »Mutter…« stammelte Tisa. »Deine Mutter ist gerade dabei, die andere Seite des Palastes nie derzubrennen«, sagte Sonnenwolf, noch immer ganz sanft, ruhig und tröstend. »Es ist alles in Ordnung mit ihr… « Tisa hob den Kopf. Ihr Gesicht war mit Ruß, grünen Moosfle cken und Taubenkot vom Küchendach beschmutzt. »Verspottest du mich etwa?« fragte sie, und ihre Stimme vibrierte gleichzeitig vor Zorn und Betroffenheit. Sonnenwolf sah sie erstaunt an. »Nein«, entgegnete er. »Wie kommst du darauf?« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und schluckte. »Ich weine nicht«, erklärte sie kurz darauf. »Natürlich nicht«, bestätigte der Söldner. »Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, Tisa.« »Du hast mich nicht verletzt.« Ihre Stimme zitterte noch immer; offenbar hatte ihr der Sturz auf den Boden mehr zugesetzt, als sie zuzugeben bereit war. »Nun, immerhin hättest du mich fast erdrosselt«, sagte Sonnen wolf ein wenig schroffer. »Kannst du in deinem jetzigen Zustand schwimmen?« Tisa nickte. Wie dem Söldner erst jetzt auffiel, trug sie eine Art weite weiße Robe, die sie offenbar von Derroug erhalten hatte. Das Kleidungsstück war ihr ein wenig zu groß und üppig geschmückt mit weißen Metallschuppen und prächtigen Mustern aus schillernden Perlen. In dieser Aufmachung wirkte sie nicht mehr so sehr wie ein junges Mädchen. Unter ihren großen Augen zeigten sich Ringe der Erschöpfung und Furcht. Ihr helles seidiges Haar war fast so weiß wie das Sternenfalkes. Der besondere Schnitt des Gewandes enthüll te die obere Hälfte ihrer noch zarten und kleinen Brüste. Bevor sie für den Angriff in Stellung gegangen war, hatte sich Tisa die Robe dicht unterhalb des Halses mit einer rubinroten Nadel zusammenge steckt, deren Kopf aussah wie ein Tropfen aus erstarrtem Blut. Tisas Blick richtete sich auf Sheera. Ihre Augen weiteten sich, als 252
sie das Blut sah. »Wir sollten jetzt verschwinden«, flüsterte Sonnenwolf. »Be stimmt sucht man nach ihm, um ihm die Nachricht von dem ausge brochenen Feuer zu bringen.« Als sie durch das Vorzimmer auf den Flur schlichen und an schließend durchs Fenster kletterten, hauchte Tisa: »Was ist mit deiner Stimme geschehen, Söldner? Und außerdem dachte ich…« »Nicht jetzt.« Gehorsam schwieg sie, hob den Saum ihres Gewandes und folgte Sheera aufs Dach. Sonnenwolf beobachtete den Garten. Nichts rührte sich. Vor dem schwärzeren Dunkel der im Schatten liegenden Wand machte er die vagen Konturen der Hintertür aus. »Wartet hier, bis ich euch ein Zeichen gebe«, flüsterte er. »Das Zwitschern eines Schwalms. Dann brecht auf. Achtet aber darauf, euch im Schatten der Mauer zu halten. Wenn die Tür verschlossen ist, müssen wir die Treppe des Wachturms nehmen und von oben springen.« Sheera schätzte die Höhe der Wand ab. »Zum Glück ist es der Große Kanal, der tiefste der ganzen Stadt.« Sonnenwolf ließ sich vom Dach des Laufsteges hinunter in den Garten hinab. Eine geschlossene Wolkendecke verschluckte das Licht der Ster ne und des Mondes, und der Wind trieb den Qualm des Feuers heran. Der Lärm der dort herrschenden Aufregung war trotz des Zischens und Heulens der Böen deutlich zu hören. Der Brand dürfte die Wächter und anderen Bediensteten noch rund eine Stunde lang beschäftigt halten, überlegte der Söldner und setzte sich wieder in Bewegung, langsam und vorsichtig. Er schob sich an der Mauer entlang und hielt sich dabei in den tintenschwar zen Schatten zwischen ihm und dem Tor. In diesem Bereich herrschte praktisch völlige Finsternis, und vor noch einem Monat hätte er nicht einmal die Hand vor Augen gese hen. Jetzt jedoch wurde er sich auf seltsame Weise der Dinge in seiner Nähe bewußt, und er war sich nicht sicher, ob er seine Umge bung im eigentlichen Sinne sah. Sonnenwolf führte diese neue Fä higkeit – wie auch die, der Aufmerksamkeit anderen Menschen zu entgehen, so als sei er unsichtbar – auf eine Auswirkung des in sei nem Körper zirkulierenden Anzid-Giftes zurück. Gegen eine solche Folge seiner Vergiftung hatte er nichts einzu wenden. Nun fiel ihm auch ein, daß er die neue Fähigkeit in dieser 253
Nacht schon zweimal eingesetzt hatte – als er sich im Nebenzimmer der Orangerie vor Sheera versteckt hatte und beim Belauschen der Frauen, die über die Verhaftung Tisas sprachen. Er erwog bereits Möglichkeiten, dieses Talent weiterzuentwickeln und es bei den kommenden Feldzügen zu nutzen. Doch in irgendeinem dunklen Winkel seines Ichs regte sich auch so etwas wie dumpfe Aufregung, so wie damals, als er zum erstenmal festgestellt hatte, daß er im Gegensatz zu anderen Menschen Dämonen sehen konnte. Die Hintertür war nicht bewacht, aber verschlossen. Sonnenwolf blickte sich unter dem Torbogen um und fand die nach dem Wach turm emporführende Treppe. Im Garten hinter ihm rührte sich noch immer nichts, aber im Nacken des Söldners begann es zu prickeln, und er fühlte eine sonderbare Anspannung in sich wachsen, so als drohe nahe Gefahr. In den Büschen und Hecken schien es zu laut zu rascheln, und in dem Wind, der die lauten Rufe der Wächter und den Geruch des Feuers zu ihm herantrug, glaubte er das bittere Aroma einer noch gestaltlosen Bedrohung zu riechen. Er pfiff leise, und in unmittelbarer Nähe des überdachten Steges machte er eine rasche Bewegung aus. Kurz darauf sah er das Aufblitzen des Gewandes Tisas, dem für seine Art der Wahrnehmung ein geradezu phospho reszierendes Leuchten zukam. Sie hatten den Garten halb durchquert, als sich auch noch etwas anderes regte, als etwas hinter der Ecke der Küche zum Vorschein kam. Die Geschöpfe waren wie Menschen gekleidet, trugen aber keine Waffen bei sich. Sonnenwolf stand am Fuße der Wachturmtreppe und konnte deutlich sehen, daß sie mit gleichmäßigem Schritt gingen und von der Dunkelheit, in der sich Sheera und Tisa kaum orientie ren konnten und deshalb nur recht zögernd und unsicher voranka men, nicht behindert wurden. Sie bewegten sich so leise, daß der Söldner Zweifel hatte, ob die beiden Frauen sich der Nähe jener Wesen bewußt waren. Mit Hilfe seiner geschärften Wahrnehmung beobachtete er sie, so problemlos, als führten sie Lampen mit sich. Insgesamt waren es vier, und sie trugen die verdeckten Livrées der Wachtruppe Derrougs. Ihre augenlosen Schädel wandten sich von einer Seite zur anderen. Es waren Nuuwa. Und der Söldner begriff plötzlich… Die einzelnen Steine eines entsetzlichen Mosaiks formten sich jäh zu einem Bild. Wut stieg in ihm empor, einhergehend mit einem Haß, den er in dieser feurigen 254
Intensität noch gegenüber niemandem empfunden hatte. Die Nuuwa begannen zu laufen. Sheera drehte sich um, als sie Schritte im Gras vernahm, aber ihr Blick vermochte die Finsternis nicht zu durchdrin gen. »Beeilt euch!« rief Sonnenwolf. »Kommt hierher!« Mit einem Ruck riß er das Schwert aus der Scheide. Die Frauen reagierten sofort und rannten los. Tisa streifte sich rasch die weite weiße Robe ab, als sich der Stoff an den Dornen der Hecke verfing. Für sie war die Nacht nach wie vor völlig finster, und des öfteren stolperten sie unsicher. Die Nuuwa näherten sich ihnen schnell. Son nenwolf schrie erneut, und seine Stimme war dabei kaum mehr als ein tonloses Krächzen, dem lärmende Aufregung von den Fenstern des Palastes her folgte. Tisa erreichte die Treppe als erste, Sheera kam nur wenige Schritte hinter ihr. Die Nuuwa folgten dichtauf, konnten sich trotz ihrer leeren Augenhöhlen bestens orientieren. Schleimiger Speichel tropfte aus den aufgerissenen Rachen mit den langen Zähnen. Mit dem Schwert in der Hand folgte Sonnenwolf den Frauen die Treppe hoch. Das nächste Ungeheuer befand sich nur drei Schritte hinter ihm. Auf der Mauer angelangt sprang Tisa sofort und tauchte in das dunkle Wasser des Kanals. Sheeras dunkler und fleckiger Leib zeichnete sich kurz als eine schlanke Kontur vor dem Licht ab, das aus den Fenstern naher Villen kam, als sie ebenfalls dem leise gur gelnden Naß entgegenfiel. Als Sonnenwolf die Brustwehr erreichte, bohrten sich ihm die Krallen großer Pranken von hinten ins Fleisch. Er zuckte zusammen, als sich die Klauen wie Keile aus rostigem Eisen in seine Schulter hineintrieben. Er drehte sich um, schlug mit dem Schwert zu und wußte, daß ihm nur noch wenige Sekunden Zeit blieben, bevor ihn auch die anderen Nuuwa erreichen und im wahrs ten Sinne des Wortes bei lebendigem Leib verschlingen würden. Als die Klinge der Waffe durch die Muskeln und Knochen des ersten Ungeheuers schnitt, war das Gesicht des Nuuwa nur wenige Zenti meter von dem seinen entfernt; der weit geöffnete Rachen schnappte noch immer zu, und Blut tropfte übers Kinn – die leeren Augenhöh len zwei grindige Trichter. Dann fiel Sonnenwolf ebenfalls. Das kalte, salzige und völlig verschmutzte Wasser des Kanals verschluckte ihn. Unverzagt stießen sich auch die Nuuwa von der Mauer ab und stürzten sich hinter ihrer Beute her. Aber sie waren zu dumm, um zu schwimmen, und das Gewicht ihrer Körperpanzer drückte sie auf den Grund. 255
Still wie üblich packte Yirth ihre Arzneien zusammen und verließ leise die kleine Dachkammer. Sonnenwolf blieb eine Zeitlang ruhig liegen, starrte an die Decke und dachte an Lady Wrinshardin, an Derroug Dru und Altiokis. Infolge des hohen Blutverlustes fühlte er sich schwach und benommen, und die Heilmittel Yirths verursachten einen dumpfen Schmerz irgendwo in seinem Innern. Das Haar klebte feucht an der auf dem Kissen ruhenden Wange, die Haut brannte und prickelte an den Stellen, an denen die schwärzende Schicht aus Pech und Schmiere abgekratzt worden war. Sheera, die nun in ihrem samtenen Bett ruhen mochte, und Tisa, die sich jetzt beim Thane des Schlosses von Wrinshardin in Sicher heit befand, waren aufgrund der ungestümen Flucht durch den Gar ten und die vielen Äste, Zweige und Dornen, die sie nicht rechtzeitig gesehen hatten, bestimmt wie Tiger gestreift. Die Schmerzen waren erträglich, doch das Feuer einer ganz be stimmten Erkenntnis brannte nach wie vor in ihm – es glühte die Hitze der Wut, die ihn bei dieser Einsicht gepackt hatte. Dann und wann tauchte vor seinem inneren Auge das gräßliche Gesicht des Nuuwa auf – auch wenn er sich immer wieder bemühte, diese Vision zu verdrängen. Das durchs Fenster einfallende gräuliche Licht erhell te sich nach und nach, und der Söldner überlegte, ob er aufstehen und sich um die Schößlinge und Blumenknollen kümmern sollte, sich ganz so verhalten, als sei überhaupt nichts geschehen; sicher würde man die Bediensteten des Hauses nach dem Tode Derrougs einer Befragung unterziehen. Er lag noch immer im Bett, als sich die Tür der Orangerie öffnete und sofort wieder schloß. Das Geräusch leichtfüßiger Schritte auf der Treppe, das gedämpfte Rascheln eines seidenen Unterrocks, das steife Knistern gestärkter Spitze ließen ihn aufhorchen. Er drehte den Kopf. Sheera stand in der Tür. Puder bedeckte die Kratzer in ihrem Gesicht. Doch unter dieser Schminke glaubte Son nenwolf eine blasse Haut und eingefallene Wangen zu erkennen. »Ich bin gekommen, um dir zu danken«, sagte Sheera müde. »Und… und um mich für das zu entschuldigen, was ich dir vorwarf. Du hättest dich nicht auf die Art und Weise einsetzen müssen, wie du es getan hast.« »Ich habe es dir schon zuvor gesagt«, erwiderte Sonnenwolf mit seiner neuen kratzigen Stimme, die ihm selbst fremd in den Ohren klang. »Entweder wäre Tisa verhört worden, oder sie hätte sich mit 256
der Art von Angriff auf Derroug Dru verraten, mit der sie mich über raschte. Was die anderen Dinge angeht: Du warst müde und ich betrunken. Es hätte nie zu der Auseinandersetzung kommen dürfen.« »Nein«, bestätigte Sheera. »Da hast du recht.« Sie rieb sich die Augen. Die Bündel aus Perlen und Sardony an ihren Ohren glänzten matt im wächsernen Licht des Morgens. »Ich bin auch gekommen, um dir zu sagen, daß du Mandrigin verlassen kannst. Ich werde mit Yirth sprechen und sie darum bitten, dir das Gegenmittel für das Anzid-Gift zu geben. Dann bist du frei. Du hast uns sehr geholfen… « Sonnenwolf streckte die Hand aus. Nach kurzem Zögern trat Sheera vor und ließ sich auf der Bettkante nieder. Ihre Finger waren eisig kalt. »Sheera«, sagte er, »das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wenn ihr nach den Bergwerken marschiert, wenn ihr versucht, die Männer zu befreien – was habt ihr anschließend vor?« Diese Frage überraschte Sheera offenbar, denn sie erwiderte un sicher. »Ich… wir… Tarrin und ich, wir führen die Männer nach Mandrigin zurück… « »Nein«, sagte der Söldner. »Lady Wrinshardin hatte recht, Shee ra, ebenso wie Yirth. Wartet nicht ab, bis Altiokis versucht, die Stadt ein zweitesmal zu erobern. Die Verbindungswege von den Bergwer ken in die eigentliche Zitadelle – könnten die Mädchen Bernsteinau ges sie finden?« »Das nehme ich an«, gab Sheera nach kurzem Nachdenken zu rück. »Irrerot meint, sie hätte eine solche Passage gesehen. Aber sie sind mit magischen Fallen abgesichert…« »Darum muß sich Yirth kümmern«, erwiderte Sonnenwolf ruhig. »Sie soll irgendeine Möglichkeit ersinnen, an diesen Fallen vorbei zugelangen. Und das wird sie auch – oder bei einem entsprechenden Versuch sterben. Sheera, die Macht Altiokis' muß gebrochen werden. Er hat etwas beschworen, das böser ist als alles, was ich mir bisher vorzustellen vermochte. Und er hütet diese böse Kraft, mehrt sie, läßt sie stärker und stärker werden. Vielleicht hat er sie aus einer anderen Welt herbeigerufen – ich weiß es nicht. Lady Wrinshardin vermutet es. Yirth weiß es. Altiokis muß vernichtet werden – und das Böse mit ihm.« Sheera gab keine Antwort und blickte stumm auf ihre Hände. Noch vor wenigen Stunden hätte sie vielleicht über das Eingeständ nis des Söldners triumphiert, daß sie recht und er sich geirrt hatte – 257
vor der Begegnung in der Grube, vor der Flucht durch den Garten während der vergangenen Nacht. Sonnenwolf sah ihr in die Augen und begriff, daß Sheera seit dem Gespräch mit Lady Wrinshardin Bescheid wußte, sie zumindest ahnte, daß ihnen keine andere Wahl blieb. Sie mußten versuchen, die Zitadelle zu stürmen. »Es waren Nuuwa, die uns in der letzten Nacht verfolgten«, fuhr der Söldner fort. »Nuuwa unter dem Befehl von Altiokis'. Ich hörte schon zuvor, daß auch in seiner Armee solche Ungeheuer marschie ren sollen. Wenn er ihre Dienste nicht mehr braucht – so wie nach der Schlacht vom Eisernen Paß – , so läßt er sie frei, auf daß sie in den von ihm eroberten Ländern umherstreifen. Oder er übergibt sie seinen Statthaltern als zuverlässige Wächter. Ich nehme an, im Laufe der Zeit verändern sie sich und sterben vielleicht sogar – und aus diesem Grund mußten Altiokis und Derroug Dru ständig neue schaf fen.« »Neue schaffen?« Sheera hob fragend den Kopf. Und in ihren Augen konnte Sonnenwolf sehen, wie das Verstehen einem Phantom gleich an die Hintertür ihrer Seele klopfte, so wie in der vergangenen Nacht an die seine. »Erinnerst du dich an die Zelle in Derrougs Kerker? An das… das Ding, das aussah wie ein Lichtfleck, wie ein Funke?« Sheera wandte den Blick von ihm ab und wurde noch blasser. Nach einigen Sekunden nickte sie. Sonnenwolf spürte, wie ihre kal ten Hände zu zittern begannen. »Der rothaarige junge Mann wurde zu dem Ungeheuer, das mir die Krallen in die Schultern bohrte«, sagte er.
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15. Kapitel Von Pergemis aus wand sich die Straße nach Nordosten, führte erst durch das fruchtbare Ackerland und die Wälder der Buchtenküs te und dann durch die nebligen grünen Vorberge, eine Region, in der sie auf ersten Schnee trafen, in dem sich die Spuren von Füchsen und Bibern zeigten. Während des Sommers wäre es möglich gewesen, die Reise mit einem Schiff zu machen, an den vielen Klippen ge säumten Landzungen und Kaps vorbeizusegeln, vorbei an den gro ßen und kleinen Inseln, bis in den Hafen Mandrigins. Jetzt jedoch hatte der Winter seine eisige Herrschaft angetreten. Sternenfalke und Anyog waren daher gezwungen, sich über Land auf den langen Weg nach der Domäne des Zauberkönigs zu machen. In den höheren Vorbergen verwandelte sich der Regen in Schnee. Eiskalter Wind wehte ihnen entgegen. Bot sich ihnen eine entspre chende Gelegenheit, übernachteten sie in Siedlungen, entweder in den neu eingerichteten Handelsstützpunkten der Kaufleute, Jäger und Fallensteller, oder in den alten Clanlagern der Thanes, die einst über dieses Land geherrscht hatten und nun ein ärmliches und entbeh rungsreiches Leben in den tiefen Wäldern führten. Sternenfalke mußte schon bald feststellen, daß sie wesentlich langsamer vorankamen, als sie gehofft hatte, denn trotz der klaglosen Tapferkeit Anyogs ermüdete der alte Mann rasch. Bei diesem Wetter und in einem solchen Terrain begann Anyog schon nach ein oder zwei Stunden zu keuchen und blaß zu werden, und diese Spanne verkürzte sich weiter, während sie den Weg fortsetzten. Hätte es sich um einen ihrer Kämpfer gehandelt, so wäre Sternenfalke sofort bereit gewesen, den Mann mit scharfzüngigem Spott anzutreiben. In die sem Fall jedoch schwieg sie. Obwohl Anyog eigentlich im Bett hätte liegen, sich ausruhen und seine Wunden behandeln lassen sollen, unterzog er sich all den Mühen nur deshalb, um der Kriegerin zu helfen. Außerdem mußte Sternenfalke eingestehen, daß ihr der alte Mann inzwischen ans Herz gewachsen war. Niemals zuvor hätte sie es für möglich gehalten, der offensichtli chen Schwäche eines Begleiters mit Toleranz zu begegnen. Bin ich in den letzten Wochen im Hause Pel Weitschritts weich geworden? fragte sie sich. Oder ist das eine weitere Folge der Tatsache, verliebt zu sein? Behandelt man auch andere Menschen höflicher und freundlicher, wenn man liebt? 259
Sie fürchtete sich ein wenig davor, sich die Liebe, die sie in sich wußte, einzugestehen. Ihre Eifersucht der armen Kitz gegenüber war ebenso töricht wie die Sturheit, mit der sie die Suche nach einem Mann fortsetzte, der inzwischen mit ziemlicher Sicherheit bereits den Tod gefunden hatte und der vielleicht ihre Gefühle nicht einmal erwiderte. Sternenfalke wußte, daß sie sich wie eine Närrin aufführ te, aber die Überlegung, einfach kehrtzumachen und nach Pergemis oder Wrynde zurückzukehren, bereitete ihr solchen Schmerz, daß sie diesen Gedanken sofort verdrängte. Mit Hilfe der Meditation brachte sie Ruhe in den Sturm, der in ihrer Seele heulte, fand jedoch keine Antworten auf die Fragen, die sie so sehr bewegten. Sie vermochte in den Unsichtbaren Kreis zu treten, blieb dort aber allein. Kein Wunder, daß sich Sonnenwolf immer an den Grundsatz gehalten hatte, sich nicht zu verlieben. Sternenfalke fragte sich, ob sie jemals den Mut aufbringen konnte, ihm ihre Gefühle zu offenba ren – und sie überlegte auch, wie er darauf reagieren würde. Darüber hinaus, so machte sie sich klar, mußte sie sich jetzt nicht nur allein mit der Liebe auseinandersetzen, sondern auch mit Magie. »Warum hast du niemals versucht, zu einem echten Zauberer zu werden?« fragte sie eines Abends und musterte Anyog, als er mit einer Bewegung seiner dünnen und knochigen Hand ein Feuer be schwor, dessen Flammen hungrig über den Stapel aus aufeinander geschichteten Zweigen leckten. »War der Grund dafür allein die Furcht vor Altiokis?« Es glitzerte in den dunklen Augen des kleinen Mannes, als er zu ihr aufsah. »Schlicht und einfach Angst, ja.« Er streckte die Hände nach dem Feuer aus. Sie waren so dünn, daß man den Eindruck ge winnen konnte, als schiene die Glut hindurch. Die weißen Rüschen der Ärmel waren inzwischen ebenso grau und schmutzig wie die gestärkte Halskrause. Sternenfalke beobachtete ihn noch einige Sekunden lang, sah zu, wie er sich mit einem leisen Ächzen über das Feuer beugte. Dann drehte sie den Kopf und starrte in die Schwärze, die sich über dem Hochland im Norden niemals zu erhellen schien. Anyog ahnte, welche Gedanken ihr durch den Kopf gingen, und er lächelte schief. »Nein, es war nicht nur die Angst vor unserem ganz speziellen und unsterblichen Freund«, fügte er hinzu. »Obwohl ich zugeben muß, daß er der Hauptgrund dafür war, daß ich den Meister verließ, der mich lehrte, und mich dann auf den Weg nach dem Süden machte, in die Wärme des Sommers. 260
Mein Meister war ein alter Mann, ein Eremit, der in den Bergen lebte. Schon als kleiner Junge wußte ich, daß ich die Macht besaß – ich konnte Dinge wiederfinden, die andere Leute verloren hatten, und ich vermochte Feuer zu entzünden, indem ich nur meinen Blick auf trockene Zweige richtete. Ich war dazu in der Lage, Dinge zu sehen, die für andere Menschen unsichtbar blieben. Jener alte Mann… er gab sich sehr geheimnisvoll, und einige Leute meinten sogar, er sei verrückt – , unterwies mich in den Künsten der Zaube rei… « Anyog zögerte kurz und starrte in die heiß zündelnden Flammen. »Vielleicht lehrte er mich sogar zuviel. Und ich fand Geschmack an der ganzen Sache.« Er sah zu Ster nenfalke auf, die auf der anderen Seite des Feuers stand. Im Licht der Flammen wirkten die Falten der Fröhlichkeit und eines ausschwei fenden Lebenswandels wie tiefe Schluchten in seinem alten Gesicht. »Ich habe den Ruhm geschmeckt… die Magie… und das, was Ruhm bedeutet, welche Folgen er haben kann. Mein Meister war sehr scheu und mied den Kontakt mit Fremden. Zwei Wochen lang mußte ich ihm nachstellen, bevor er mich zu sich ließ. Er mißtraute allem – aus Angst vor Altiokis.« Sternenfalke schwieg und erinnerte sich an die weißgetünchte Kammer im fernen Kloster, an den Spiegel in der Ecke. Irgendwo im Wald schrie eine Eule, die nun auf die Jagd ging, mit lautlosen Schwingen dahinsegelte. Die Pferde scheuten, scharrten mit den Hufen im krustigen Schnee. Anyog musterte sie und fragte sich, ob die Kriegerin ihn wirklich verstand. »Es bedeutete, alles für eine einzige Sache aufzugeben«, sagte er. »Schon damals verspürte ich den Wunsch, zu reisen, zu lernen. Ich liebte es, in alten Büchern zu blättern. Was bedeutete das Leben schon, wenn es keine Poesie gäbe, keine Klugheit, keine Mu sik? Was wäre es, müßten wir auf tiefgründige Gespräche verzichten, auf die Wechselwirkungen zwischen unseren Philoso phen mit fremden Denkweisen? Mein Meister lebte sehr zurückge zogen – manchmal sah er jahrelang keinen anderen Menschen. Wäre ich Zauberer geworden, hätte ich ein ähnliches Leben führen müs sen.« Der alte Mann seufzte, drehte sich um, griff nach den eisernen Spießen und legte sie so in die Astgabel, daß sie sich genau über dem Feuer befanden. »Aus diesem Grund zog ich all die kleineren Schönheiten gegenüber der einen großen und einsamen und erhabe 261
nen vor. Ich wurde zu einem Gelehrten, einem Tänzer und Dichter – meine Komposition mit dem Titel Das Lied vom Mondhund und dem Meereskind wird auch noch lange nach meinem Tod überall in den Mittleren Königreichen gesungen werden – , und ich versuchte mir einzureden, die richtige Wahl getroffen zu haben. Was mir auch gelang – bis zu jenem Abend in der Herberge, als du mich fragtest, ob ich meine Sicherheit mit dem eigenen Glück bezahlt habe.« Anyog wandte den Blick von der Kriegerin ab und beschäftigte sich eine Zeitlang damit, die Fleischbrocken des zerteilten Kanin chens, das Sternenfalke am vergangen Nachmittag gefangen hatte, aufzuspießen. Die Kriegerin schwieg noch immer und suchte in den Taschen auf dem Rücken des Maulesels nach Gerstenmehlkuchen und einem Topf, in dem sie Schnee zu Wasser schmelzen konnte. Sie erinnerte sich an die anheimelnde Schönheit im Hause Pel Weit schritts, daran, daß sie nicht einen einzigen Augenblick ihre Ent schlossenheit überdacht hatte, die Suche fortzusetzen. »Und außerdem«, fügte der alte Mann nach einer Weile hinzu, »fürchtete ich mich vor der Großen Prüfung.« »Worum handelt es sich dabei?« fragte Sternenfalke und nahm ihm gegenüber Platz. »Könntest du diese Prüfung jetzt noch ablegen, bevor wir Grimmwall erreichen?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. Im flackernden Schein der Flammen glaubte Sternenfalke zu erkennen, wie Anyog die dünnen Lippen aufeinanderpreßte. »Nein«, gab er zur Antwort. »Ich habe nie genug gelernt, um sie zu bestehen, und was ich lernte… Seit damals sind viele Jahre verstrichen. Die Große Prüfung bringt die Schwa chen um und tötet die, die nicht mit der Kraft der Magie geboren werden.« Die Kriegerin runzelte die Stirn. »Aber wenn dir gelänge, sie zu bestehen – würdest du dann ebenfalls unsterblich, so wie Altiokis?« »Wie Altiokis?« Die geschwungenen Augenbrauen Anyogs zo gen sich über dem Nasenrücken zusammen. »Pah! Altiokis hat nie die Große Prüfung abgelegt. Nach den Worten meines Meisters weiß er nicht einmal, was es damit auf sich hat. Weißt du, mein Meister kannte ihn. Er bezeichnete ihn als selbstgefällig, eitel und arrogant – als einen Haufen Abschaum.« Sie deutete ein dünnes Lächeln an. »Aber du mußt zugeben, daß er mächtig ist und du dich bisher vor ihm versteckt hast. Und auf irgend etwas muß sich seine Macht schließlich gründen.« Als Anyog antwortete, war seine Stimme kaum mehr als ein 262
Hauch, so als fürchtete er, in dieser Nähe der Zitadelle könne der Wind seine Worte an die Ohren Altiokis' tragen. »Das stimmt auch«, sagte er. Sternenfalke kniff die Augen zusammen. Sie erinnerte sich an das Wirtshaus, an das Stöhnen des alten Mannes im Fieberwahn, an Kitz, die sich im Schatten des Flurs verbarg und lauschte. »Du hast schon einmal davon gesprochen«, sagte sie. »Tatsächlich? Eigentlich wollte ich das für mich behalten.« Er stocherte im Feuer herum, um sich irgendwie abzulenken. Irgendwo in den Bergen heulten Wölfe. »Mein Meister war einer der wenigen, die davon wußten. Wenn Altiokis jemals herausfindet, daß sein Ge heimnis bekannt ist, müßte er annehmen, mein Meister habe es ande ren Menschen mitgeteilt. Und dann würde er mich finden.« »Worauf also gründet sich die Macht Altiokis'?« Anyog schwieg eine Weile und starrte nur ins Feuer. Sternenfal ke bezweifelte schon, ob er ihr überhaupt Antwort geben würde. Sie hatte sich gerade damit abgefunden, daß der alte Mann nichts verra ten würde, als Anyog murmelte: »Er bezieht seine Kraft aus dem Loch. Löcher in der Welt – so werden sie allgemein genannt. Ob wohl ich glaube, man sollte sie eher als ›Löcher zwischen den Wel ten‹ bezeichnen. Es heißt nämlich, es lebe etwas in ihnen – etwas anderes als die Schmierer, die sich in die Hirne von Menschen fres sen.« »Schmierer… « setzte die Kriegerin zu einer Erwiderung an. »O ja. Meine Neffen nennen sie manchmal anders, aber es sind lebendige Dinge – von welcher Natur auch immer – , die aus den Löchern hervorkommen. Sie haben keine Seelen. Sie verschlingen ihre Opfer, wodurch auch diese seelenlos werden – und sich in Nuu wa verwandeln. Die Löcher sind nicht statisch, sondern schließen und öffnen sich dann und wann – manchmal in Abständen von eini gen Jahrhunderten. Mein Meister meinte, ihr Zyklus unterläge der Bewegung der Gestirne. Sonnenlicht zerstört sie. Sie bilden sich in der Nacht, und wenn ein neuer Tag dämmert, verschwinden sie wie der.« Irgend etwas bewegte sich, etwas Dunkles vor dem Hintergrund des Fleckenmusters aus Schnee und Kiefernadeln. Anyog hielt un willkürlich den Atem an und erblaßte, so als erwarte er jeden Au genblick einen magischen Angriff Altiokis'. Sternenfalke blickte sich um und sah kurz das grünliche Aufblit zen der Augen eines Wiesels. Der alte Mann seufzte, schauderte und 263
rieb sich die Hände. Nach einer Weile fuhr er fort. »Ja, die Löcher verschwinden, wenn es hell ist – ebenso wie die Schmierer, wenn sie in der Nacht kein Opfer gefunden haben. Jenes Loch aber, aus dem Altiokis seine Kraft bezieht, ist abgeschirmt und geschützt. Es heißt, er soll in einer einzigen Nacht eine Hütte aus Stein darüber errichtet haben, und seitdem nimmt seine Macht immer mehr zu. Das Böse aus dem Loch belebt seinen Leib und macht ihn unsterblich. Aber es verändert ihn auch.« Müde schüttelte Anyog den Kopf. »Er brauchte nur zu war ten, bis die großen Magier seiner Generation gestorben waren, und anschließend brachte er ihre Schüler um, bevor sie ihre Kräfte ganz entwickeln konnten. Wenn er von mir erfährt, wird er mich auch töten.« In seiner Stimme vibrierten Müdigkeit und Verzweiflung. Ster nenfalke musterte ihn über das topasfarbene Schimmern des Feuers hinweg und bemerkte, wie blaß er aussah, wie dunkel die buschigen Augenbrauen im Vergleich mit der aschfahlen Gesichtshaut waren. Als habe er einst als Junge ein Krieger werden wollen, jedoch vor der ersten Schlacht Fersengeld gegeben, fügte er etwas lebhafter hinzu: »Dich wird er nicht erledigen.« Sie verließen die magische Stille der Vorberge und kletterten ins Strenwassertal. Die starken Regenfälle in den Bergen hatten zu einer Über schwemmung in der Schlucht geführt. Schmutzige Wasserfluten schäumten zornig und mit wütender Gischt durch die Kanäle, die während vieler vergangener Winter in den Fels gefressen worden waren. Sie spritzten über das schmale Marschland zwischen den Hängen hinweg, machten Hügelkuppen zu Inseln und hatten die Bauern, die hier schufteten und den Boden bewirtschafteten, bereits dazu gezwungen, sich in die höhergelegenen Winter Siedlungen zurückzuziehen. Sternenfalke und Anyog nahmen den Weg an den Vorbergen entlang, die das überflutete Land säumten. Es schien keine Stunde zu vergehen, in der sie nicht durchnäßt waren und fro ren. Der alte Mann erzählte Geschichten und sang Lieder. Von Ma gie und Altiokis sprachen sie nicht mehr. Jeden Tag mußten sie durch mehrere Flüsse waten. Manchmal handelte es sich dabei nur um kleine Ausläufer der Überschwem mung, manchmal aber auch um reißende Ströme. In dem gischtenden Wasser verloren sie die Taschen des Packtieres – und fast den Maul esel dazu. Sternenfalke argwöhnte, der Kampf gegen die tosenden 264
Fluten habe etwas in Anyog zerbrechen lassen. Anschließend zitterte es ständig in seinen Mundwinkeln, und er wurde noch blasser und mußte sich jeweils nach einigen Kilometern ausruhen. Sternenfalke war schon immer eine ausgezeichnete Kommandan tin gewesen, dazu fähig, ihren Kämpfern neue Kraft zu geben, selbst wenn sie der Verzweiflung nahe waren, sie anzutreiben und nicht innehalten zu lassen. Zwar machte sie sich noch immer große Sorgen um Sonnenwolf, doch dieses Empfinden ließ trotzdem Platz genug für Sympathie und Mitleid dem alten Mann gegenüber. Sie war nun sicher, daß Anyog ihr niemals würde wirklich helfen können. Sie überredete ihn zu einer eintägigen Pause, während der er sich erho len konnte und die sie dazu nutzte, in den zerklüfteten Bergen des Nordwestens wilde Schafe zu jagen. Als sie zurückkehrte, fand sie Spuren von Söldnern. Es mußte eine kleine Gruppe sein, die vermutlich aus nicht mehr als fünfzehn Personen bestand. Ihre Anwesenheit im Tal konnte nur bedeuten, daß die Söldner derzeit arbeitslos waren und sich seit min destens drei Monaten hier aufhielten, seit dem Beginn des Regens. Wahrscheinlich lagerten sie in irgendeiner Höhle und überfielen dann und wann, wenn sie Nahrungsmittel oder Ausrüstungsgüter brauchten, die Wintersiedlungen der Bauern. Die Gruppe war zu klein und eigentlich nur für die Thane interessant, die sie für die Austragung von Clanfehden anheuern mochten. Die meisten Thane in dieser Region jedoch hatten nicht das nötige Geld, und bestimmt würden sie, ging es allein nach ihnen, einen Krieg im Winter meiden. Sternenfalke fluchte. Nach ihren Erfahrungen mit arbeitslosen Söldnern handelte es sich dabei meistens um Lumpen und Räuber und Halsabschneider obendrein. Es blieb ihr keine andere Wahl, als ihren Spuren zu folgen, um festzustellen, in welche Richtung sie unterwegs waren und was sie planten. Erst dann konnte es die Krie gerin wagen, zu Anyog zurückzukehren. Sie hatte im Hochland ein wildes Schaf erlegt. Sie befestigte den Kadaver an einem hohen Ast, damit sich keine Wölfe daran gütlich tun konnten; hängte ihren Mantel ebenfalls auf. Dann nahm sie das Schwert vom Rücken, wo sie es während der Jagd getragen hatte, knüpfte die Scheide am Hüftgürtel fest und überprüfte sowohl den Bogen als auch die Pfeile. Sie war selbst seit vielen Jahren Söldner – und sie machte sich keine Illusion in Hinsicht auf diesen besonderen Menschenschlag. Die Spuren waren falsch. Und die Pferdeäpfel, die die Rösser in 265
den kalten Schnee hatten fallenlassen, dampften noch. Kurz darauf fand Sternenfalke die Stelle, an der die Gruppe beim Anblick des Lagerfeuers Anyogs vom Hauptpfad abgewichen war. Sie sah eben falls den Rauch, der von der Bodenmulde aus, in der sie den alten Mann zurückgelassen hatte, durch die Baumwipfel wehte. Als sie vorsichtig an den Felsen entlangkletterte, die den Pfad säumten, hörte sie die Stimmen der Söldner, ihr Lachen. Sternenfalke murmelte einige Ausdrücke, die die Nonnen des fernen Klosters hätten erblassen lassen. Die Söldner waren natürlich auf Pferde aus. Sie betete zur Mutter, daß Anyog nicht so dumm war, sich ihnen zu widersetzen – obgleich ihm seine Fügsamkeit nicht viel nutzte, wenn sie betrunken waren. Und aufgrund der Geräusche, die die Kriegerin nun vernahm, gelangte sie zu genau diesem Schluß. Sie hatte den Lagerplatz sorgfältig ausgewählt – ein grünes Tal, gesäumt von nicht allzu vielen Bäumen und nur wenigen größeren Felsen. Ein Gegner konnte sie kaum unbemerkt beobachten und sich schon gar nicht heranschleichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Sternenfalke preßte sich an den Stamm des größten Baumes und sah in die Mulde. Sie machte rund ein Dutzend Männer aus, und sie waren tatsäch lich betrunken. Den einen oder anderen glaubte sie zu kennen – die Wege der Söldner kreuzten sich dann und wann, und die meisten hatten sich schon einmal gesehen. Beim Anführer der Gruppe han delte es sich um einen stämmigen Mann mit zerzaustem Haar, der einen schmutzigen mit Stahlfacetten bedeckten Wams trug. Vor ihm kniete Anyog, den grauhaarigen und blutverschmierten Kopf ge beugt. Bei dieser Entfernung war es schwierig, die Worte des Anführers zu verstehen, aber ganz offensichtlich beabsichtigte der Söldner, sich die Tiere anzueignen. Sternenfalke sah die beiden Rösser und den Maulesel inmitten der heruntergekommenen Klepper am gegenüber liegenden Ende der Lichtung. In der Nähe des Feuers lagen Töpfe und Eßgeschirr wahllos verstreut, und zwei Männer, die aussahen, als seien sie gerade aus einer Jauchegrube geklettert, standen inmit ten des Halbkreises ihrer Kameraden und hielten die Schlafsäcke Sternenfalkes und Anyogs in den Händen. Die Kriegerin unterdrück te ihren Zorn und dachte nach. Die Pferde wurden nicht bewacht. Die meisten Söldner begleiteten den Anführer und verspotteten Any og. Wenn sie diesen Ort erreichten konnte, boten ihr die Rösser bes sere Deckung. 266
Erneut lachten die Männer grölend. Sternenfalke sah, wie sich die eine Hand des Anführers bewegte… Der alte Mann kroch los, suchte inmitten der schlammigen Kiefernnadeln offenbar nach etwas, das der breite Mistkerl ihm zugeworfen hatte. Die anderen Söldner traten nach ihm. Dieses Spielchen, so erinnerte sich die Kriegerin, war damit vergleichbar, den Bürgermeister einer eroberten Stadt den Speichel des Kommandeurs trinken zu lassen oder seine Frau dazu zu zwingen, mit ihrem Haar die Stiefel des Söldnerführers zu putzen. Mit einem gewissen Unbehagen mußte Sternenfalke daran denken, daß sie sich nach einer siegreichen Schlacht selbst auf ähnliche Wei se verhalten hatte. So etwas machte vor allen Dingen Spaß, wenn man entweder betrunken war oder gerade einen erbitterten Kampf überlebt hatte, bei dem man leicht den Tod hätte finden können. Sternenfalke jedoch war nüchtern, und diesmal stellte das Opfer solcher Scherze jemand dar, der ihr nichts getan und sich ihr gegen über immer als sehr freundlich erwiesen hatte. Wut und Abscheu stiegen in ihr hoch. Sie verglich das Treiben der Söldner mit einer Vergewaltigung. Und wie bei einer Vergewaltigung konnte die Sa che leicht außer Kontrolle geraten und zum Tode des Opfers führen. Die Kriegerin setzte sich in Bewegung und schlich an den Bäu men vorbei auf die Pferde zu. Das sich verdunkelnde Zwielicht schützte sie. Zudem waren die Söldner nicht nur betrunken, sondern auch ganz auf den alten Mann konzentriert. Erneut wurde Anyog zu Boden getreten, wo er still liegen blieb. In der Graue konnte Sternen falke nur wenige Einzelheiten erkennen, aber sie glaubte, daß der alte Mann aus dem Mund blutete. Bei diesem Anblick faßte sie den Entschluß, die Söldner umzubringen – ob sie Anyog nun weitere Verletzungen zufügten oder nicht. Eine der Schlampen in Begleitung der Männer, eine Nutte, die rund sechzehn Jahre alt sein mochte, näherte sich dem alten Mann und trat ihn in die Seite, um ihn dazu zu bewegen, weiterzukriechen. Sternenfalke sah, wie sich die Hände Anyogs bewegten, als er versuchte, wieder in die Höhe zu kommen. Die Söldner lachten schallend. Die Kriegerin zerschnitt die an einem Halteseil festgebundenen Zügel der Pferde. Die Söldner grölten nun und sahen Sternenfalke erst, als sie längst auf dem Rücken eines der Rösser saß. Ganz ruhig hob sie den Bogen und ließ Pfeil um Pfeil von der Sehne schnellen. Der erste bohrte sich dem Anführer direkt durch die Kehle, oberhalb des mit einer Eisenpanzerung versehenen Wamses. Der zweite traf die junge Schlampe zwischen den Brüsten. 267
Da sie nun auf einem großen Pferd hockte, genoß Sternenfalke einen gewissen Vorteil den Feinden gegenüber, obgleich sie in der Überzahl waren. Später aber überlegte die Kriegerin, daß sie es auch zu Fuß mit den zwölf Gegnern aufgenommen hätte. Aus der Dunkel heit galoppierte sie heran, wie ein Racheblitz. Das Licht des sterbenden Tages glänzte auf der Klinge ihres Schwertes. Mit stiller und dämonischer Unbarmherzigkeit schlug Sternenfalke zu. Sie tötete zwei der Männer, noch bevor die Söldner Gelegenheit hatten, ihre eigenen Waffen zu ziehen, und das Roß erledigte einen dritten, als die Kriegerin es herumzwang: Ein eisenbeschlagener Huf zerschmet terte dem Feind den Schädel. Ein weiterer Mann griff nach ihren Beinen, um sie aus dem Sattel zu ziehen, sie trennte ihm die Hände von den Armen. Sie ließ ihn einfach stehen, während er schrie und auf seine Stümpfe starrte. Erneut holte sie aus, enthauptete eine Schlampe sowie einen weiteren Mann, der sie von der anderen Seite her angriff. Zwei Söldner hatten unterdessen nach den Zügeln gegrif fen und zerrten daran, um das Pferd zu Fall zu bringen. Sternenfalke grub dem Roß die Stiefelabsätze in die Flanken und trieb es direkt auf sie zu, so daß sie die Riemen entweder loslassen oder Gefahr laufen mußten, niedergetrampelt zu werden. Dem einen bohrte sie die Klinge tief in die Schulter, als sie an ihm vorbeikam. Sternenfalke focht mit der Ruhe einer erfahrenen Kämpferin, dachte nichts dabei, fühlte nichts. Sie trachtete nur danach, ihre Ab sichten in die Tat umzusetzen. Die Söldner flohen in alle Richtun gen, betrunken und voller Furcht. Jemand riß die Ausrüstungstaschen auf. Und kurz darauf bohrte sich ein Pfeil nur wenige Zentimeter vom Bein der Kriegerin entfernt ins Leder des Sattels. Sie ließ das Roß herumtänzeln und galoppierte auf den Mann zu. Ein weiterer Schaft sirrte ein ganzes Stück entfernt an ihr vorbei. Entweder hin derte der Alkohol den Söldner daran, genau zu zielen, oder er war in Panik geraten. Er ließ den Bogen fallen und wandte sich zur Flucht. Sternenfalke hieb ihm mit der Klinge auf den Rücken, als sie ihn erreichte. Die Männer, die den davontrabenden Pferden nachsetzten, erlegte sie mit Pfeilen, so als seien sie nichts weiter als Hasen. Nur der letzte stellte sich ihr zum Kampf, als Sternenfalkes Vorrat an Pfeilen er schöpft war, mit dem Schwert in der Hand. Und obgleich sie inzwi schen vom Rücken des Rosses heruntergesprungen und kleiner und leichter war als ihr Gegner, hatte sie den Vorteil, sich rascher zu bewegen. 268
Sie zog die blutbesudelte Klinge aus dem Brustkasten des Söld ners und wischte sie an seinem Wams ab. Dann ging sie zu Anyog, der im zertrampelten Schlamm lag. Sie sah auf den dürren und reglo sen Leib und dachte nur: Ein weiterer Toter. Dann begann sie innerlich zu schaudern. Sie blickte sich auf dem Schlachtfeld um, betrachtete die Lei chen, die wie teilweise zerfetzte Haufen aus Fleisch und Knochen im Schmutz lagen und sich in der Dunkelheit nur mehr undeutlich vor dem mit Kiefernnadeln durchsetzten Schlamm abzeichneten. Es stank nach Blut. Aus dem nahen Wald stahlen sich bereits die ersten Füchse hervor, die Beute witterten. Später würden auch Wölfe kommen. Erst jetzt stellte Sternenfalke fest, daß zumindest einer der Söldner eine Frau gewesen war. Behutsam kniete sie sich neben dem alten Mann nieder und dreh te ihn vorsichtig auf den Rücken. Offenbar hatte er große Schmer zen, denn sein Atem ging rasselnd und unregelmäßig. Es überraschte die Kriegerin, daß er nicht, wie sie bisher angenommen hatte, tot war. Er mußte wirklich über große magische Kräfte verfügen, wenn es ihm gelungen war, sich noch nicht in der Schwärze des Jenseits zu verlieren. Um sie herum begann es in den Bäumen zu flüstern, als erneuter Regen einsetzte. Sternenfalke arbeitete die ganze Nacht hindurch, errichtete dem alten Mann einen Unterstand, in dem er einigermaßen vor der Nässe geschützt war, achtete darauf, daß das Feuer nicht erlosch, zimmerte auch eine provisorische Trage. Immer wieder fielen ihr in der sich an den flackernden Schein der Flammen anschließenden Dunkelheit Bewegungen auf, und dann und wann vernahm sie dumpfes Knurren. Das Licht des Feuers spiegelte sich in großen, grünen Augen. Das eine Pferd, das ihnen nur noch zur Verfügung stand – die Stute Pel Weitschritts – scheute und wieherte furchtsam und zerrte immer wieder an der Leine. Doch nichts griff sie aus der verregneten Fins ternis her an. Inzwischen hatten sicher schon viele Raubtiere Witte rung aufgenommen, aber das, was sie auf der Lichtung erwartete, würde selbst für ein großes Rudel reichen. Als sie aufbrachen, zeigte sich über den Baumwipfeln gerade das erste diffuse Licht der Morgendämmerung. Sternenfalke sammelte die wenigen Lebensmittelvorräte der Söldner ein, nahm auch einige Lederschläuche mit einem hochprozentigen Getränk – man nannte es ›Weißer Blitz‹ – an sich, sowie alle Pfeile, die sich noch einmal verwenden ließen. Als sie Anyog auf der Bahre festband, öffneten 269
sich die dunklen Augen des alten Mannes, und er stöhnte: »Täub chen?« »Ja, ich bin's«, erwiderte sie sanft. »Es tut mir leid, Anyog. Ich…« Seine Stimme war ein kaum wahrnehmbarer Hauch. »Ich konnte dich… nicht allein gegen… Altiokis… ziehen lassen…« Er hustete und spuckte Blut. Sternenfalke hängte ihre restlichen Vorräte und Ausrüstungsgegenstände an die verschiedenen Sattel vorsprünge. Sie kämpfte gegen das Schuldbewußtsein an, das sich in ihr zu bilden drohte und auf das plötzliche Verstehen der Motive gründete, die Anyog dazu veranlaßt hatten, ihr bei ihrer recht hoff nungslos gewordenen Suche zu helfen. Einige Sekunden lang blieb sie reglos stehen und lehnte den Kopf, hinter dessen Stirn es zu po chen begonnen hatte, an den Widerrist des Pferdes. Kühler Regen rann ihr durchs zerzauste Haar. Ram hatte allen seinen Mut zusam mengenommen, sich ihr offenbart – und war zurückgewiesen wor den. Vielleicht war es das Alter Anyogs, das ihn nicht die Kraft hatte finden lassen, sich an sie zu wenden – vielleicht auch die sichere Überzeugung, ebenfalls zu erfahren, daß seine Liebe nicht erwidert wurde. Aber immerhin war es dieser alte Mann gewesen und nicht der junge, der sich dazu entschlossen hatte, sie zu begleiten, wenn es sein mußte, sogar bis in den Tod. Sternenfalke seufzte. Sie war schon vor langer Zeit zu der Ein sicht gekommen, daß Weinen nur Zeitverschwendung bedeutete. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich. Es wurde schon wieder dunkel, als sich ihnen eine Möglichkeit bot, Unterschlupf zu finden. Da die Krieger in sich nicht dazu ent schließen konnte, den alten Mann zu verlassen und im Gelände nach Spuren zu suchen, folgte sie dem Verlauf des Weges, den zuvor die Söldner genommen hatten, und sie hoffte, daß diejenigen Männer, die mit dem Leben davongekommen waren, ihr Lager an einem Ort aufschlugen, an dem sie nicht so sehr den Unbilden des Wetters ausgesetzt waren. Während des Nachmittags hatte der Regen zumin dest ein wenig nachgelassen, aber dafür war es kalt geworden, und Sternenfalke befürchtete baldige Schneefälle. Der Weg führte sie in eine höhergelegene und felsigere Region. Schließlich gelangten sie in ein Hochtal, eine Art Einschnitt im granitenen Rücken des Berges. Hier hatte jemand eine Kapelle errichtet, die aussah, als sei sie von ganz allein aus dem flechtenüberzogenen Fels gewachsen. Die Kapelle war völlig verdreckt. Ganz offensichtlich hatte sie 270
als Stall gedient, und der Altar war von den Dingen entweiht wor den, zu denen betrunkene und gewalttätige Männer in der Lage wa ren, wenn sie sich langweilten. Sternenfalke war an derartige Verhal tensweisen gewöhnt. Hatte sie auch von Kindesbeinen an gelernt, daß die Verehrung des Trigottes einer vergeistigten Häresie gleich kam, so empfand sie doch eine gewisse Entrüstung darüber, daß Männer heilige Dinge deshalb auf diese Weise behandelten, nur weil sie heilig waren. Glücklicherweise zeigten sich keine Löcher im Dach, und die Tür war schmal genug, größeren Raubtieren den Zugang zu verwehren. An einer Stelle schuf Sternenfalke Ordnung in dem stinkenden Durcheinander und machte es Anyog dort so bequem wie möglich. Dann ging sie feuchtes Unterholz sammeln. Kurz darauf rieb sie Feuerstein und Eisen, und die Funken wurden schnell zu den ersten kleinen Flammen eines Feuers. Nachts schneite es, und bitterkalter Wind heulte und fauchte um die Kapelle herum. Als die Morgendämmerung heraufzog, begriff Sternenfalke, daß sich Anyog nicht erholen würde. Doch er war zu zäh, um einen schnellen Tod zu sterben. Er ver weilte in der Region der Schatten und Schemen zwischen den Wel ten der Lebenden und der Toten. Manchmal war er ganz kalt. Wäre nicht sein rasselndes und schnaufendes Atmen gewesen, man hätte ihn für tot halten können. Dann wieder stöhnte er, schluchzte leise und zischte den Namen Altiokis', murmelte von den Nuuwa, seiner Schwester, rezitierte im Delirium kaum verständliche Liederverse, mit einer Stimme, die nur noch entfernt menschlich klang und eher Ähnlichkeit hatte mit dem Quietschen und Knarren einer rostigen Angel. Gelegentlich war er so weit bei Sinnen, daß er die Kriegerin er kannte und mit schwächlicher Halsstarrigkeit versuchte, sich ihr zu widersetzen, wenn sie ihm Haferschleim einflößte oder ihn mit kal tem Wasser wusch. Während der dritten Nacht, die sie auf diese Weise verbrachten, kam es ihr in den Sinn, daß es vernünftiger gewesen wäre, Anyog den Gnadentod zu gewähren und anschließend die Suche fortzuset zen. Selbst wenn die Reste der Zauberei, in der er einst unterwiesen worden war, sich als stark genug herausstellten, erneut die Tür zu öffnen, die vom Schattenland ins Reich der Lebenden führte, so mochte es in jedem Fall noch viele Tage dauern, bis er dazu fähig war, einen Transport auf der Bahre zu überstehen. Sternenfalke 271
machte sich klar, daß ihr keine andere Wahl blieb als zu versuchen, Sonnenwolf allein aus der Zitadelle des Zauberkönigs zu befreien, ohne die Hilfe eines Magiers – ohne die Hoffnung, einen anderen Thaumaturgen zu finden. Daher war es besser, sich mit den Gegebenheiten abzufinden und nicht noch mehr Zeit zu verschwenden. Dennoch konnte sich die Kriegerin nicht dazu überwinden, den alten Mann seinem Schicksal zu überlassen und die Reise allein fortzusetzen. Täglich wurde es kälter, und der Schnee bedeckte die Felsen und den inzwischen gefrorenen Boden mit einer dickeren Schicht aus glitzerndem Weiß. Jeden Tag ging Sternenfalke zu den Birken- und Espengehölzen am Ende des kleinen Tals, dorthin, wo eine Quelle sprudelte, und schnitt Feuerholz. Im Schnee sah sie die Spuren von Hirschen. Sie begab sich auf die Jagd und genoß die Ruhe, die dabei in ihr entstand und ihre Sorge betäubte. Während der Nacht meditierte sie, philosophierte in der Stille des Unsichtbaren Kreises und dachte über ihr bisheriges von der Gewalt bestimmtes Leben nach. Obgleich sie an die Mutter glaubte, säuberte sie den Altar des Trigottes, schuf Ordnung in der Kapelle und reinigte den Stein mit rituellem Feuer. Auch in dieser Tätigkeit fand sie einen gewissen Trost. Nacht für Nacht verbrachte sie am Lager Anyogs, lauschte sei nem stöhnenden Murmeln und starrte in die stille Finsternis des Tales. Was war in den Wochen mit ihr geschehen, die sie im Hause Pel Weitschritts verbracht hatte? Sternenfalke wollte nicht so werden wie die Bewohner jenes Heims, wie die geschäftige und gesprächige Pel oder die blasse Gillie. Doch warum kehrte sie in Gedanken im mer wieder an den Ort des Friedens zurück? Warum fand sie solchen Gefallen an alltäglichen Dingen? Würde sie Sonnenwolf überhaupt noch lieben, wenn sie ihn schließlich fand? Oder mochte sie dann feststellen, daß er ebenso war wie die Söldner, die sie umgebracht hatte – gemein, durchtrie ben, schmutzig und grob? Bei der Heiligen Mutter: Bei der Plünderung eroberter Städte hat te sie ihn sogar noch Schlimmeres treiben sehen. Wäre es vielleicht besser, wenn sich schließlich herausstellte, daß sie Sonnenwolf nicht mehr liebte? Hatte Kitz recht damit gehabt, einen Händler zu heiraten, der sich hingebungsvoll um sie kümmern würde? 272
Und wenn Sonnenwolf als Söldner den Männern ähnelte, denen sie den Tod gebracht hatte, warum liebte sie ihn dann immer noch so sehr, daß sie die Suche nach ihm fortsetzte? Und wenn sie ihn so sehr liebte, daß sie nach wie vor dazu entschlossen war, ihn aus der Zitadelle zu befreien, warum konnte sie sich dann nicht dazu ent schließen, Anyog zu töten – dessen Ende ohnehin abzusehen war –, ihn zu begraben und sich wieder auf den Weg zu machen? An diesem Punkt angelangt, begann Sternenfalke erneut zu medi tieren, doch die Antworten, die sie in der Stille des Unsichtbaren Kreises fand, waren nicht die, die sie suchte. Eines Nachts drehte der Wind. Er heulte und pfiff von den Hän gen der Berge herab und geißelte mit seinen Böen eiskalten Regen. Einzelne Tropfen zischten laut im kleinen Feuer. Sternenfalke konn te hören, wie die Nässe an die steinernen Wände der Kapelle trom melte, doch im Innern des Hauses, auf dem Altar am anderen Ende des heiligen Raumes, brannten die Kerzen mit geradezu hypnotischer Gleichmäßigkeit. Sternenfalke konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf diesen stetigen Glanz, und Licht und Dunkelheit verschmolzen miteinander, bildeten ein einziges Etwas. Regen und Erde, Wind und Stille, das, was war und die Zukunft bereithielt – ein geschlossener Kreis des Seins. Plötzlich befand sich die Kriegerin in einer anderen stürmischen Finsternis und vernahm das ferne Rauschen des Meeres. Sie kannte diesen Ort gut – die Kapelle der Mutter auf den Klippen, ein Gebäu de, das zum Kloster von St. Cherybi gehörte, das sie verlassen hatte, um sich Sonnenwolf anzuschließen und die Künste des Krieges zu erlernen. Sie hatte auch von anderen Nonnen gehört, die auf diese Weise in die Welt hinausgezogen waren. Mondschein schimmerte zwischen den Wolken und glänzte silbrig auf der Schneide des gezo genen Schwertes. Ruhe erfüllte sie, die Stille, die ihr eine ständige Begleiterin gewesen war. Sternenfalke überlegte, ob dies ein Traum war, doch noch während sie sich diese Frage stellte, wußte sie, daß es sich nicht um eine Vision handelte. Kleine Veränderungen fielen ihr auf, die sie nicht mit ihren Erinnerungsbildern in Einklang brin gen konnte – Wetterflecken auf dem Boden und den Wänden, ir gendwie andersartige Muster, die die Gefäße auf dem nackten Stein des schattenumhüllten Altars bildeten. Daraus schloß sie, daß sie sich tatsächlich in diesem Raum befand. Es überraschte sie nicht. Als sie Sonnenwolf sah, der in der Dunkelheit nahe der Tür stand, wußte sie, daß auch er sich mit Leib und Seele an diesem Ort 273
aufhielt, daß er gekommen war, um ihr hier zu begegnen… Als Erwachsene hatte Sternenfalke nie geweint. Doch als sie in die öde Finsternis der Kapelle im Strenwassertal zurückkehrte, roll ten ihr Tränen wie Perlen aus Eis über die Wangen, und Jubel und gleichzeitig bitterster Kummer wühlten in ihrem Innern. Es tut mir leid, daß ich mir nicht schon früher darüber klarge worden bin, hatte er ihr mitgeteilt. Und doch: Als Sonnenwolf in der Dachkammer der Orangerie von Mandrigin lag und mit dem Tod rang, hatte er irgendeine Möglichkeit gefunden, sich mit Sternenfal ke in Verbindung zu setzen. So nahe, dachte die Kriegerin. Hätte ich in Pergemis nicht soviel Zeit mit der Pflege Kitz' verloren… Aber wie hatte sie die junge Frau im Stich lassen können? Kummer, Niedergeschlagenheit und Erschöpfung schwächten sie. Selbst als sie nicht mehr schluchzte, lösten sich noch Tränen aus ihren Augen. Viele Jahre lang hatten sie gemeinsam zahllose Schlachten gekämpft und sich dabei des öfteren gegenseitig das Leben gerettet, mit jener Art von Beiläufigkeit, als sei das ein Teil ihrer täglichen Routine. Sie mußte doch gewußt haben, daß Sonnen wolf irgendeines Tages sterben würde. Empfand sie deshalb solchen Kummer, weil sie immer erwartet hatte, an jenem Tag bei ihm zu sein? Oder war der Grund vielmehr jene Art von dummem und törichtem Elend, das man gemeinhin Liebe nannte, das ihr die innere Stärke genommen und eine seltsame Leere hinterlassen hatte? Sternenfalke fragte sich, welche Konsequenzen Sonnenwolfs Tod für ihr Leben haben mochte. Erneut erinnerte sie sich an das graue Haus in Pergemis, an das Donnern der Brandung des nahen Meeres, an das Krächzen der über die Dächer der Stadt hinwegsegelnden Möwen. Pel Weitschritt hatte der Kriegerin versichert, sie würde dort jederzeit mit offenen Armen empfangen werden. Aber es war nicht fair gegenüber einem so gut mütigen Mann wie Ram, ihn Zeit seines Lebens mit der Ahnung zu belasten, nur ein Ersatz zu sein – und noch gemeiner, im Haus zu leben, ohne seine Frau zu werden. Obgleich sie der Frieden lockte, den sie dort genossen hatte, mußte sie sich tief in ihrem Innern ein gestehen, daß die Lebensweise Pels und der anderen – die eigentlich nur darin bestand, Geld zu zählen, Kinder großzuziehen und darauf zu warten, daß die nächsten Schiffe in den Hafen einliefen – nicht ihrer eigenen entsprach. 274
Wrynde? Dort erwartete sie ein Frieden von anderer Art, die reg nerische Stille des Winters, die Erinnerungen an den Triumph som merlicher Feldzüge. Sie dachte an ihre Freunde in der Streitmacht und an die sonderbare Ekstase des Krieges. Eines Tages, so fuhr es ihr durch den Sinn, mochte sie erneut zu einer Kämpferin werden. Aber sie hatte nun bei den Menschen gelebt, die Opfer der Plünde rungen wurden, und sie glaubte sich außerstande, sich nach einer gewonnenen Schlacht jemals wieder auf die Art und Weise zu ver halten wie während der vergangenen Jahre. Das Kerzenlicht auf dem Altar flackerte. Als Sternenfalke mit der Absicht durch den dunklen Raum schritt, die Dochte zu beschneiden, neigte sie ehrerbietig den Kopf, obgleich an diesem heiligen Ort der dreifache Gott verehrt wurde und nicht der Eine. Die Verehrung des Trigottes war ihr immer zu schal und gewohnheitsmäßig erschienen. Und außerdem wußte Sternenfalke natürlich, daß das Ritual in erster Linie dem Menschen diente, der es vollführte, und nicht etwa einem Bedürfnis des entsprechenden Gottes entsprach. Als die Kriegerin in der Stille neben dem Altar stand, erwog sie die Möglichkeit, an diesem Ort zu bleiben. Der Hüter der Kapelle war entweder verjagt oder von den Söld nern getötet worden. Auf eine solche Weise zu leben, an diesem Ort… an einem Ort der Meditation und der Einsamkeit… an einem Ort, an dem sie sich über ihre Zukunft klarwerden konnte… Sternenfalke wandte sich vom Altar ab und trat an die Wandni sche heran, in der Anyog schlief, wie eine Leiche, die auf ihr Be gräbnis wartete. Auch dieser alte Mann hatte sie geliebt, dachte die Krieger in. Vielleicht entsprachen die Worte des Vaters Sonnenwolfs tatsächlich der Wahrheit. Liebe schien nichts anderes zu bringen als nur Kum mer und Tod, so wie Magie nur Einsamkeit bescherte. Doch wie Anyog behauptet hatte – und wie Sternenfalke nun zu ihrem großen Kummer selbst erfahren mußte – , folgte viel Schlim meres, wenn man dergleichen mied. Warum Mandrigin? fragte sie sich plötzlich. Sonnenwolf befand sich in Mandrigin und nicht in der Zitadelle Grimmwall… Was machte der Söldnerführer in der Stadt? Für einen Sekundenbruchteil sah sie das Bild der dunkelhaarigen Frau, der sie kurz im Zelt Sonnenwolfs begegnet war, an dem A bend, als Sonnenwolf ihr den Brief gezeigt hatte. Sheera Galernas von Mandrigin… möchte dir etwas vortragen, was von großem Inte 275
resse für dich, sein dürfte… Sternenfalke blieb plötzlich stehen: Heilige Mutter, er hat doch nicht etwa seine Meinung geändert und ihr Angebot angenommen, oder? Aber warum hat er niemandem etwas davon gesagt? Warum das Trugbild Aris? Sonnenwolf hätte seine Truppen niemals einfach so verlassen, um später allein nach Wrynde zurückzukehren… Und wie war es überhaupt möglich, einen falschen Ari entstehen zu lassen? War das das Werk eines anderen Zauberers? Oder eines Magiers wie Anyog, der nicht die Große Prüfung abgelegt hat? Was, zum Teufel, machte Sonnenwolf in Mandrigin? Aus der Dunkelheit kam das rauhe Flüstern Anyogs: »Krieger täubchen… « Mit wenigen Schritten gelangte Sternenfalke an das Lager des alten Mannes. Sie beugte sich und griff nach seinen kalten Händen. Während der letzten Tage schien Anyog noch kleiner und dünner geworden zu sein, ein Skelett, das einen dünnen Mantel aus faltiger und blasser Haut trug. Die Wangen waren eingefallen, und die tief in den Höhlen liegenden Augen sahen nun zu ihr auf. In den dunklen Pupillen glitzerten Fieber und Furcht. »Ich bin hier, Onkel«, flüsterte Sternenfalke. Von den dünnen Lippen des alten Mannes seufzte es leise. »Ich verlasse dich… « hauchte er. »… mußt es allein mit ihm aufnehmen.« Sie strich ihm behutsam über die schweißnasse Stirn. »Ich weiß«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen.« Draußen schimmerte das erste graue Licht des neuen Tages. Aus den Wolken, die ein zorniger Wind rasch über den Himmel wirbelte, regnete es noch immer. Durch die Tür konnte Sternenfalke sehen, daß der größte Teil des Schnees inzwischen geschmolzen war. Die ersten zaghaften Versuche des Frühlings, den Winter abzulösen, machten die Erde braun und schlammig. Knochige Finger schlossen sich schwach um die Hände der Krie gerin. »Hatte nie den Mut… « wisperte der alte Mann. Den Mut, mir deine Liebe zu offenbaren? fragte sich Sternenfal ke. Oder die Große Prüfung abzulegen, durch jenes Tor zu schreiten, hinter dem dich die vollständige Macht der Magie erwartete? »Was meinst du?« fragte sie ihn sanft, und mit ihrer narbigen Hand fuhr sie ihm zärtlich über die Wange. 276
»Das Geheimnis… das der Meister an seinen Schüler weiter gibt… Wenige nur wissen jetzt noch davon… Niemand erinnert sich… Nicht einmal Altiokis… « »Aber du mußt doch Bescheid wissen, wenn du dich so sehr da vor fürchtest«, erwiderte Sternenfalke und überlegte, ob ihr eine solche Kenntnis irgendwie von Nutzen sein konnte. Wenn es einen unerfahrenen Zauberer in Mandrigin gab, der irgend etwas mit dem Tode Sonnenwolfs zu tun hatte… Anyog schüttelte zitternd den Kopf. »Nur diejenigen überleben es, die mit der Macht der Magie geboren werden«, murmelte er. »Andere sterben… Und selbst diejenigen, die es überstehen… « »Aber was ist es?« fragte die Kriegerin. Der alte Mann keuchte leise, und seine dunklen Augen schlossen sich. Dann hauchte er. »Anzid.«
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16. Kapitel »Altiokis kommt.« »Nach Mandrigin?« Sheera nickte. »Wilarne hat es heute morgen von Stirk erfahren, der Frau des Hafenmeisters.« Sie preßte die Lippen zusammen. Deutlich war zu sehen, wie es in ihren Wangenmuskeln zuckte. Sonnenwolf lehnte sich mit den Schultern an die Säule aus Ze dernholz und fragte: »Warum? Um einen Nachfolger für Derroug zu bestimmen?« »Zum Teil«, bestätigte sie. »Aber auch, um angesichts der in der Stadt kursierenden Gerüchte von einem bevorstehenden Aufstand seine Macht zu demonstrieren. Wilarne meinte, er käme wahrschein lich nicht allein, sondern in Begleitung von Truppen.« Sheera stand unmittelbar neben dem Türpfosten und blickte auf ihre Hände. Wie die meisten Frauen trug sie keine Ringe mehr – kein Krieger schmückte sich auf diese Weise. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Wenn ich Derroug nicht umgebracht hätte…« »Hätte er alle Wächter im Palast alarmiert, und dann wäre es um uns geschehen gewesen«, beendete Sonnenwolf den von ihr begon nenen Satz. Noch immer mied sie seinen Blick. »Weiß Drypettis Bescheid?« Sheera schüttelte den Kopf und sah auf. In ihren braunen Augen funkelte eine müde Wachsamkeit. »Nein«, sagte sie. »Tatsächlich gewann ich den Eindruck, als begegne sie dem Tod Derrougs mit Gleichgültigkeit. Man… man könnte fast glauben, sie wisse gar nichts davon.« Sonnenwolf runzelte die Stirn. »Hältst du das für möglich?« »Nein«, gab Sheera zurück. Sie hob die Schultern. Das Licht schimmerte auf den Opalen und Granaten, die ihren Wams bedeck ten und die Brokatärmel des Gewandes verzierten. »Tags darauf bin ich zu ihr gegangen, und sie erwähnte den Tod ihres Bruders. Aber… nur beiläufig. Fast so, als wolle sie allein dem Protokoll genügen. Größtenteils sprachen wir über… über andere Dinge.« Ihre Lippen zitterten ein wenig, als sie sich daran erinnerte. »Ich bin jetzt geneigt, dir zu glauben.« Sonnenwolf schwieg einige Sekunden lang und musterte das Ge sicht Sheeras. Unter ihren Augen zeigten sich Ringe der Erschöp fung. Ihre Züge wiesen die kleinen Falten auf, die auf Charakter und 278
Verantwortungsbewußtsein hindeuten und von denen manche Män ner behaupten, sie zerstörten die Schönheit einer Frau. »Was sagte sie?« »Nicht viel.« Sheera zuckte mit den Schultern. »Sie fragte mich, warum ich deinen Worten größere Bedeutung zumesse als ihren. Warum ich mich von dir gegen sie aufbringen ließ. Ob du mein Ge liebter wärst.« »Und was hast du ihr geantwortet?« Erneut senkte Sheera den Blick. »Ich sagte, das ginge sie nichts an.« »Das wird sie als eine Bestätigung ihrer Vermutungen interpre tieren.« »Ich weiß.« Sheera schüttelte müde den Kopf. »Aber das wäre auch geschehen, hätte ich ihre Fragen verneint.« »Damit hast du vermutlich recht«, pflichtete der Söldner ihr bei. Eine Zeitlang beschäftigte sich Sheera damit, an den Spitzenfal ten zu zupfen, die aus ihren Ärmeln hervorragten. Dabei bemerkte der Söldner etwas, worauf ihn die Güldene Shorad erst am Vortag aufmerksam gemacht hatte. Sheera sowie die anderen Frauen der Streitmacht – und auch diejenigen, die von seiner Rolle als militäri scher Ausbilder nichts ahnten – kleideten sich inzwischen nach der sogenannten ›neuen Mode‹, die auf Reifröcke und allzu schmuck überfrachtete Blusen und Mäntel und Pelze verzichtete. Obgleich die neue Art in ihrem Brokatprunk kaum der alten nachstand, hatten die so gekleideten Frauen mehr Bewegungsfreiheit. Insgeheim hielt Sonnenwolf die neue Aufmachung der Frauen auch für reizvoller. Nach einer Weile sah Sheera ihn wieder an. »Was hältst du von ihr?« fragte sie. Der Söldner dachte kurz über diese Frage nach und entgegnete dann: »Was hältst du von ihr?« »Ich weiß nicht.« Sheera setzte sich in Bewegung und schritt auf und ab, so unruhig und nervös wie eine Raubkatze, wie eine in einem Käfig gefangene Löwin. »Ich kenne sie, seit wir als Mädchen ge meinsam zur Schule gingen. Sie meinte, ich sei die einzige, die je mals gut und freundlich zu ihr war. Gut und freundlich! Obwohl ich mich nur etwas höflicher als gewöhnlich gab und die anderen Mäd chen davon abhielt, sie zu verspotten, weil sie stolz und arrogant war und dauernd Selbstgespräche führte.« Er lächelte. »Mit anderen Worten: Du hast dich für sie eingesetzt und sie geschützt.« 279
»So könnte man es nennen. Irgendwann spielt jeder einmal diese Rolle – zumindest traf das auf mich zu. Und manchmal verliebt man sich auch in ein anderes Mädchen. Oh, ich meine das nicht so, wie du jetzt vielleicht glaubst. Ich spreche von einer völlig unschuldigen Liebe, bei der es sich eigentlich mehr um die Dominanz einer Per sönlichkeit gegenüber einer anderen handelt. Wir bezeichneten das als ›Schwärmerei‹. Und nur selten steckt mehr dahinter. Nun, ver mutlich könnte man sagen, daß Dru nie richtig erwachsen wurde, nie ganz von dieser ›Schwärmerei‹ loskam.« Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Dru war einerseits ein sehr empfindliches und sensibles Mädchen, aber andererseits lernte sie es nie, Umgang mit anderen Menschen zu pflegen.« »Sie ist noch immer so«, fügte Sonnenwolf hinzu, »und das im Alter von inzwischen fünfundzwanzig Jahren.« In den Augen Sheeras blitzte es kurz auf. Der Söldner erkannte das Temperament, das sie als kleines Mädchen ausgezeichnet hatte, jene schöne und beherrschte Persönlichkeit, die sich im Alter von zehn Jahren des reichsten, stolzesten und in sich gekehrtesten Kindes in ihrer Klasse angenommen hatte. Sie war immer bestrebt gewesen, schloß Sonnenwolf, anderen Menschen ihren Willen aufzuzwingen, so wie in seinem Fall. »Das bedeutet jedoch nicht, daß Dru uns verraten würde«, fügte sie mit etwas schärferer Stimme hinzu. »Nein«, bestätigte der Söldner. »Aber es bedeutet, daß wir nicht wissen können, wie sie reagiert, wenn sie unter Druck gesetzt wird. In den meisten Fällen – ob es sich nun um Frauen, Pferde, Dämonen oder Hunde handelt – kann man abschätzen, was geschehen wird, wenn man Druck ausübt. Es entsteht Zorn, und vielleicht muß man sogar mit einem Angriff rechnen. Bei Drypettis hingegen… « Er schüttelte den Kopf. »Schlimm ist, daß wir ihr eine gewisse Macht gegeben haben.« »Du wärst sicher nicht dazu bereit gewesen«, sagte Sheera mür risch. Sonnenwolf zuckte mit den Schultern. »Ich hätte auch dir keine Macht gegeben«, erwiderte er. »Doch ich habe mich schon einmal geirrt.« Seltsamerweise konnte er beobachten, wie sich die Wangen Sheeras röteten. »Meinst du das ehrlich?« »Eigentlich bin ich es nicht gewöhnt, Dinge zu sagen, die ich nicht ehrlich meine«, gab er zurück. Die gelbbraunen Fuchsaugen 280
schimmerten sonderbar in dem im Nebenzimmer herrschenden Halbdunkel. »Abgesehen einmal davon, daß du verrückt bist, halte ich dich für eine recht gute Kriegerin, Sheera. Und wenn es da nicht noch eine andere Kriegerin gäbe, die noch besser und verrückter ist als du, könnte ich mich vielleicht sogar in dich verlieben.« Und er fügte hinzu. »Obgleich mich eine solche Vorstellung schaudern läßt.« »Himmel, das will ich auch hoffen!« platzte es aus Sheera her aus, die ganz offensichtlich aufrichtig entsetzt war. Sonnenwolf lachte. Es klang schrecklich, so als riebe man zwei rostige Eisenteile aneinander, er hielt inne und hustete. Sheera war wenigstens so taktvoll, unangenehm berührt das Gesicht zu verzie hen. Für die Veränderung seiner Stimme trug sie die Verantwortung, und das wußte sie. »Hör mal, Sheera«, sagte Sonnenwolf nach einer Weile. »Wie lange würden die Männer in den Bergwerken brauchen, um festzu stellen, mit wie vielen Leuten Altiokis in die Stadt kommt?« Sheera runzelte die Stirn. »Ich glaube, Bernsteinauge könnte in nerhalb eines Tages an entsprechende Informationen gelangen. Wa rum fragst du?« »Mir fiel gerade ein, daß dies vielleicht der richtige Zeitpunkt zum Zuschlagen ist – dann, wenn sich Altiokis und ein Teil seiner Truppen nicht in der Zitadelle befinden. Yirth meinte, die von den Minen in die Bastion führenden Passagen seien mit Trugbildern und Magie geschützt – und wenn Yirth versuchen soll, diese Trugbilder als solche zu erkennen und aufzulösen, so wäre es ihren Bemühun gen sicher nicht abträglich, wenn sich Altiokis zu diesem Zeitpunkt in der Stadt aufhält.« Sheera starrte ihn an. »Du meinst… wir sollten jetzt angreifen? Jetzt vorstoßen, um die Männer zu befreien?« »Wenn Altiokis nach Mandrigin kommt, ja. Läßt sich das ma chen?« Sie holte tief Luft. »Ich… ich weiß nicht. Ja. Ja, es wäre möglich. Eo hat Zweitschlüssel sowohl für die Bergwerkstore als auch die meisten Waffenlager hergestellt… und Bernsteinauge könnte Tarrin mitteilen, daß wir zuschlagen… « Sheera zitterte vor mühsam unterdrückter Aufregung, und ihre Hände schlossen sich fest um die Samtfalten des Gewandes. »Lady Wrinshardin wäre sicher dazu in der Lage, die anderen Thanes zu benachrichtigen«, fuhr sie nach einigen Sekunden fort, 281
»so daß sie zum Angriff bereit sind, wenn wir die Männer befreit haben.« »Nein«, widersprach der Söldner. »Die Thanes sind ohnehin je derzeit zum Kampf bereit – und wir dürfen nicht riskieren, daß Alti okis von der bevorstehenden Aktion erfährt. Schließlich kommt er hierher, um sich mit den Gerüchten zu befassen, die die Güldene und Wilarne nach dem Abbrennen des Kontors in die Welt setzten. Wann kommen die anderen Frauen?« Für den kommenden Abend wurde ein Treffen in der Orangerie anberaumt. Die Leiterinnen der Verschwörung machten sich heim lich auf den Weg, huschten durch schmale Gassen und an den Kanä len entlang und versammelten sich schließlich in dem großen matt erhellten Saal. Bernsteinauge kam mit Denga Rey. Seit erstere Son nenwolf erklärt hatte, wie sehr und aus welchem Grund die Gladiato rin die Sache Sheeras unterstützte, waren diese beiden Frauen prak tisch unzertrennlich geworden. Die Güldene Shorad und Wilarne trafen aus verschiedenen Richtungen kommend ein – sie verband eine andere Art von Freundschaft, dachte Sonnenwolf. Vermutlich fühlten sie sich noch enger verbunden, trotz des Fehlens an körperli chen oder romantischen Elementen. Als Zielscheibe ihrer manchmal recht derben Witze und Scherze, die nicht nur verbaler Natur gewe sen waren, hatte der Söldner eine tiefe Sympathie für die beiden Frauen entwickelt. Nach einem kurzen Gespräch sah Sonnenwolf auch Yirth kom men, die sich lautlos aus den Schatten in der Nähe der Tür schob und wie eine Katze heranschritt, um sich jenseits des vom Kerzenlicht erhellten Bereiches niederzulassen. Sie war schon rund zehn Minu ten anwesend, bevor die anderen Frauen sie bemerkten, und sie hörte aufmerksam zu, während ihre Lippen dann und wann ein dünnes Lächeln andeuteten. Als Denga Rey sie erblickte, war sie so über rascht, daß ihr Gesichtsausdruck den Söldner fast zum Lachen reizte. Als sie kurz darauf das Geräusch der sich erneut öffnenden und schließenden Tür hörten und sich wie gewöhnlich alle Blicke auf Sheera richteten, die elegant und anmutig herankam, spürte Sonnen wolf, wie die Aufmerksamkeit der Hexe sich auf ihn konzentrierte. Sheera setzte sich zu den anderen Frauen. Nacheinander sah sie ihre Kameradinnen an. »Nun?« »Eo meint, die Schlüssel seien fertig«, berichtete die Güldene Shorad. »Yirth?« 282
»Ich habe gelesen und mich mit alten Unterlagen beschäftigt«, sagte die Hexe leise, »mit all den Büchern, die mir mein Meister zurückließ und in denen die Rede ist von Altiokis und Trugbildern. Ich bin so gut vorbereitet, wie es jemand sein kann, der nicht die Große Prüfung ablegte.« Sheera lächelte, beugte sich vor und griff über den Tisch hinweg nach den knochigen Fingern Yirths. »Mehr können wir nicht von dir verlangen«, gab sie zurück. »Bernsteinauge?« »Kobra ist gerade aus den Bergwerken zurückgekehrt«, berichte te die junge Frau mit ihrer dunklen und so sanften Stimme. »Sie meint, Altiokis werde mit rund eintausendfünfhundert Soldaten in die Stadt kommen, und etwa ebensoviele bleiben in der Zitadelle zurück. Kobra teilte mir darüber hinaus mit, die Fette Maali wolle versuchen, Tarrin persönlich zu unterrichten. Sie kommt anschlie ßend direkt hierher.« Sheeras Züge waren zum einen Teil im Schatten verborgen und wurden zum anderen vom verblaßten Licht der Kerzen erhellt. Son nenwolf musterte sie und sah, wie sich der Glanz in ihren Augen veränderte, als der Name Tarrin fiel, beobachtete, wie sich die so dominierende Persönlichkeit dieser Frau, der Anführerin, der mögli chen Königin Mandrigins, jäh wandelte, wie sie zu einem romantisch verklärten Mädchen wurde, das den Namen seines Geliebten ver nahm und dadurch zu träumen begann. Trotz all dem, was sie ihm angetan hatte, fühlte sich Sonnenwolf plötzlich sehr zu ihr hingezo gen. Wie Sternenfalke war sie mit aller Entschlossenheit darauf fi xiert, den Mann zu finden und zu befreien, den sie liebte. Unmittelbar darauf jedoch wurde sie wieder zu der kalt berech nenden Anführerin der Verschwörung. »Söldner Sonnenwolf?« frag te sie. »Bist du der Ansicht, die Frauen sind zum Kampf bereit?« »Eine zweiwöchige zusätzliche Ausbildung könnte ihnen nicht schaden«, sagte er, und das Kratzen seiner Stimme klang seltsam in der Stille des großen Raumes. »Aber ich glaube, die Abwesenheit Altiokis' und die Verringerung seiner Truppen in der Zitadelle schaf fen einen gewissen Ausgleich. Ich möchte dich nur um eins bitten, Sheera… « Sie nickte. »Ich weiß«, sagte sie. »Yirth, ich wollte dich fragen, ob… « »Nein«, warf Sonnenwolf ein. »Darum geht es mir nicht. Ich möchte diese Streitmacht selbst führen.« Die diesen Worten folgende Stille klang ebenso seltsam laut wie 283
die nach dem Donnern eines Blitzes. Die Frauen starrten ihn groß an, erstaunt und völlig verblüfft. Schweigend begegnete Sonnenwolf dem Blick Sheeras, forderte von ihr, daß sie sich seinem Verlangen fügte, das Kommando an ihn abzutreten. »Bei der Organisation der Verschwörung hast du dich als recht geschickt und umsichtig erwiesen«, sagte er nach einer Weile, »und vielleicht könntest du auch zu einer guten Kommandantin werden, in fünf Jahren oder so. Aber ich war es, der diese Frauen ausbildete und sie zu Kriegerinnen machte. Und ich möchte nicht, daß die Klinge des Schwertes, das ich schmiedete, durch deine Unerfahrenheit stumpf wird. Wenn du gegen Altiokis in den Kampf ziehen willst, so brauchst du einen Anführer, der sein Handwerk versteht.« Sheera riß die Augen auf, und ein mattes Funkeln zeigte sich in ihren Pupillen – Überraschung und Erleichterung darüber, auf die Hilfe eines erfahrenen Kämpfers zurückgreifen zu können, lagen im Widerstreit mit der Entrüstung, zur stellvertretenden Befehlshaber in degradiert zu werden. Nach einigen Sekunden des neuerlichen Schweigens fragte sie: »Wärst du dazu bereit? Ich meine, ich dach te… « Die Entrüstung verflüchtigte sich wie Rauch im Wind, und Sonnenwolf lächelte. »Nun, wir beide haben uns in der letzten Zeit eine Menge durch den Kopf gehen lassen«, knurrte er. »Und wenn ich es ohnehin mit Magie zu tun bekomme, so möchte ich sicher sein, daß die Sache richtig angefaßt wird.« Für kurze Zeit schienen sich die Leiterinnen der Widerstands streitmacht Mandrigins nicht ganz sicher zu sein, ob sie sich wie grimmige und kaltblütige Verschwörerinnen verhalten sollten oder wie begeisterte Schulmädchen. Dann trug, was eigentlich recht ver ständlich war, der weibliche Instinkt den Sieg davon. Wilarne schlang die Arme um Sonnenwolfs Hals und gab ihm einen glückli chen Kuß auf die Lippen, und die Güldene Shorad, Sheera und Bern steinauge folgten ihrem Beispiel. Auch Denga Rey umarmte ihn so fest, daß ihm die Rippen knackten, und er machte sich rasch wieder frei und schnaufte mit gespielter Verachtung: »Ich wußte, daß so etwas geschehen würde, wenn ich für einen Haufen Weibsbilder arbeite.« »Du meinst, du hast es gehofft«, scherzte die Güldene. Erneut spürte Sonnenwolf, wie ihn Yirth ansah, und trotz der Dunkelheit glaubte er Verwirrung in ihren meeresgrünen Augen zu erkennen. Er runzelte die Stirn und wandte sich ihr zu. »Was ist denn 284
los? Hast du denn noch nie einen Mann erlebt, der seine Meinung ändert?« »Nein«, gestand die Hexe ein. »In der Regel sind Männer gerade auf ihre Unnachgiebigkeit stolz.« »Darüber sprechen wir noch«, versprach er ihr, und zum ersten mal sah er, wie es in ihren Augen belustigt funkelte. Dann erlosch dieses Schimmern, wie das Licht einer brennenden Kerze, die man ins Wasser taucht. Sonnenwolf hob den Kopf, und Yirth drehte sich um, als sie beide gleichzeitig das Geräusch von Schritten hörten. Jemand eilte über den feuchten Kies des Gartenpfa des. Kurz darauf öffnete sich die Außentür der Orangerie, und die Frau, die man Fette Maali nannte, trat ein. Ganz offensichtlich war die Fette Maali eine der Frauen, die Bernsteinauge einmal als Zaupen bezeichnet hatte und denen Söldner Namen gaben, die ebenso gut beschreibend wie obszön waren. Im Vergleich zu ihr war selbst Yirth eine Schönheit. Sie mochte rund fünfunddreißig Jahre alt sein, sah aber wie fünfzig aus, war unglaub lich dick und schlampig. Ihr breites und knochiges Gesicht hatte man sicher nie schön oder hübsch nennen können, und jetzt zeigten sich in ihm die Falten und Runzeln der Armut und Entbehrung. Ihre Au gen waren hellblau und blickten erstaunlich flink und fröhlich. Son nenwolf hätte nicht den Wunsch verspürt, in der Nähe dieser Frau betrunken zu sein, wenn sie möglicherweise auf sein Geld scharf war. Sie trug ein verdrecktes grünes Kleid und offenbar keine Unter wäsche. Messingfarbene Locken fielen ihr wie die eines jungen Mädchens auf die Schultern. Der Kontrast des Haares zu ihrem all gemeinen Erscheinungsbild war fast ebenso schlimm wie der Ge stank des Parfüms, das sie benutzte. »Ich habe mit Tarrin gesprochen«, sagte sie. Sheera sprang auf, und in ihren Augen leuchtete es. »Und?« »Er meint, wir sollten nicht angreifen.« Verblüfft und schockiert setzte sich Sheera wieder hin. Ungläu big konnte sie keine Antwort hervorbringen. Es war Bernsteinauge, die erwiderte: »Hat er dir den Grund ge nannt?« fragte sie leise. Die Fette Maali nickte und senkte den Blick, als sie erklärte: »Ja. Wenn wir die Zitadelle angreifen, während Altiokis und sei ne Truppen in der Stadt sind, so macht er sich große Sorgen um das Schicksal, das die Bevölkerung Mandrigins erleiden könnte – und in 285
diesem Punkt muß ich ihm zustimmen. Was geschieht mit denen, die nichts von der Verschwörung ahnen, die damit überhaupt nichts zu tun haben? Tarrin meinte, der alte Mistkerl würde vermutlich die ganze Stadt niederbrennen und alle Bewohner massakrieren.« Sie hob den Kopf und sah die anderen Frauen an, zwar höchst beunru higt, aber mit stetem Blick. »Das macht er bestimmt, Bernsteinauge. Ich bin mir ganz sicher.« Stille schloß sich an diese Worte an, und der besorgte Blick der Fetten Maali glitt von Bernsteinauge zu Sheera und richtete sich anschließend auch auf die Gesichter der anderen Anwesenden, auf Denga Rey, die Güldene Shorad, Wilarne, Yirth und Sonnenwolf. Der Söldner war es, der nach einer Weile das Schweigen brach. »Möglich wäre es«, sagte er. »Tarrin«, fügte Maali zögernd hinzu, »Tarrin sagte, er wolle sei ne Freiheit oder die der Stadt nicht mit einem solchen Preis bezahlen. Er meinte, lieber wolle er als Sklave sterben.« Zwei Tage später, auf den Befehl des stellvertretenden Statthal ters Stirk hin, bezog der größte Teil der Einwohner Mandrigins zu beiden Seiten der Goldenen Straße Aufstellung, die vom hohen gro ßen Stadttor her ins Zentrum führte. So sollte Altiokis vom Grimm wall begrüßt werden, der Zauberkönig der Tchard-Berge. Zwar säumten tatsächlich viele Menschen die Straße – die Wächter des Statthalters waren von Haus zu Haus gegangen und hatten die Be wohner ins Freie getrieben –, aber die Menge war still. Selbst dieje nigen, die noch vor zehn Monaten die Soldaten Altiokis' begrüßt hatten, weil sie sich von ihnen eine Beendigung der internen Strei tigkeiten erhofften, jubelten nun nicht mehr. Mitten in dieser Menge, gekleidet in den flickenbesetzten Ar beitskittel eines Gärtners, in Begleitung der Güldenen Shorad und Wilarne, die farbige Schleier trugen und neben ihm immer wieder kicherten, stand Sonnenwolf und sah zu, wie Altiokis in die Stadt ritt. »Nach der Schlacht im Eisernen Paß hat er sich hier nicht mehr blicken lassen«, flüsterte Shorad, und ihre ruhige und beherrschte Stimme widersprach der Art und Weise, in der sie ihre Wange an seinem Arm rieb. »Der Anführer seiner Söldner – er heißt Finsterer Adler – , geleitete die Truppen in die Stadt, zusammen mit Derroug und Stirk und einigen anderen hochrangigen Angehörigen des Rates, die von Tarrin verbannt worden waren. Bernsteinauge sagte mir… « Sie unterbrach sich, als der weithin hallende Klang von Fanfaren 286
erscholl, begleitet von dem dumpferen Blöken der Kriegshörner. Die Geräusche verursachten Sonnenwolf ein Prickeln auf dem Rücken, und er hob den Kopf. Wie der Donner eines nahen Gewitters dröhnte das Pochen der Kesselpauken durch die breite von hohen Bäumen begrenzte Straße und warf an den marmornen Wänden der Villen und Herrenhäuser dumpfe Echos. Sonnenwolf und die beiden jungen Frauen standen dort, wo die Goldene Straße auf den Großen Platz mündete. Jenseits der Menge der Wartenden schimmerte die Vergol dung der zeremoniellen Barke im blassen Sonnenschein. Auf der anderen Seite, auf einem mit Wimpeln und Fähnchen geschmückten Balkon, saß eins der Mädchen Bernsteinauges und kämmte sich das Haar, bereit dazu, die Soldaten zu zählen, mit denen der Zauberkönig in die Stadt kam. »Dort«, hauchte Wilarne. Jetzt kam der Zug hinter einer der Straßenkurven her zum Vor schein, eine Masse aus mit schwarzen Kettenhemden bedeckten Körpern. Das Stampfen der gleichmäßigen Schritte verlor sich im hallenden Klang der Trommeln. Ameisenartige Köpfe, gesichtslos unter Helmen mit dünnen Augenschlitzen, stur geradeaus gerichtet. Abscheu stieg in Sonnenwolf empor, als er überlegte, ob die Augen schlitze tatsächlich einen Zweck erfüllten oder nur dazu gedacht waren, die Bevölkerung Mandrigins in Hinsicht auf die Art der Sol daten zu täuschen. Ebenso wie die Nuuwa im Palastgarten waren die Kämpfer bewaffnet. »Altiokis' Privatgarde«, wisperte Wilarne, und Sonnenwolf zog sie enger an sich, um den Schein zu wahren, wie um sie zu schützen. Mochten seine Vorfahren dem Mann helfen, der glaubte, ein leichtes Spiel mit einer Frau wie Wilarne zu haben! »An ihrer Spitze befindet sich Gilgath, auf dem schwarzen Pferd dort. Er leitet die Truppen Grimmwalls und ist der Kommandeur der Zitadelle.« Sonnenwolf kniff die Augen zusammen und beobachtete die un menschlich wirkende gepanzerte Gestalt. Gilgath war ebenso mas kiert wie seine Soldaten, verbarg das Gesicht unter einem Helm. Die Männer an seinen Seiten führten Tiere an Ketten – große und son derbare Geschöpfe, die aussahen wie deformierte Mischungen aus Affen und Straßenkötern, die lange und spitze Zähne und trübe und dumm blickende Augen hatten. Sonnenwolf erinnerte sich: Lady Wrinshardin hatte diese Wesen als Menschenhunde bezeichnet. Als Sonnenwolf die Sänfte sah, krampfte sich tief in seinem In nern etwas zusammen. Getragen wurde sie von zwei schwarzen 287
Rössern mit silbernen Augenklappen, geführt von in schwarze Ket tenhemden gekleideten Soldaten. An kleinen Säulen aus geschnitz tem Ebenholz, deren Kapitelle im Glanz von Opalen und Perlmutt erstrahlten, waren tintenschwarze Vorhänge angebracht. Dort, wo sie zurückgezogen waren, ließen sich im Innern der Sänfte die dicken Gitterwerke von verziertem Schwarzholz erkennen. Sonnenwolf, der die anderen in der Menge – sie setzte sich größtenteils aus Frauen zusammen – ein ganzes Stück überragte, reckte den Hals, konnte aber nicht den Zauberer in der Sänfte sehen, nur einen reglosen dunklen Schatten, der sich vor den noch dunkleren Kissen abzeich nete. Und doch zitterte etwas in Sonnenwolf, als er diesen Schemen entdeckte. Zorn und Empfindungen, die noch heißer brannten als Wut – Abscheu und Ekel und unerbittlicher Haß. Die Intensität die ser Gefühle überraschte ihn. Er erkannte, daß sein Blick auf etwas abgrundtief Böses gefallen war. Er verspürte jene Art von entsetzli cher und grauenerfüllter Gewißheit, die sich ihm manchmal in den Dämonensümpfen des Nordens offenbart hatte – die feste Überzeu gung, daß es sich bei dem Dunklen um etwas handelte, was nicht ganz menschlich war. Als er sich vorsichtig in der Menge umdrehte und der Sänfte mit den Blicken folgte, wußte er, daß er es nicht mit einem Dämonen zu tun hatte. Es war etwas anderes… Als die schwarzen Rösser die Sänfte in Richtung der Barke tru gen, bahnte sich Sonnenwolf einen Weg durch das Gedränge. Er wollte das Geschöpf sehen, das gleich aus der Sänfte zum Vorschein kommen mußte. Aufgrund der Entfernung und seines Standpunktes hatte der Söldner keinen sonderlich guten Überblick. Gilgath, der Kommandeur der Zitadelle, ließ seine Soldaten an der überdachten Passage der Spiralenbrücke aufmarschieren, so daß Altiokis ständig eskortiert wurde, wenn er sich auf den Weg nach dem Palast des Statthalters machte. Hinter den schwarz gekleideten Gestalten hallte in der Straße das stampfende Geräusch der Schritte der restlichen Streitmacht des Zauberkönigs wider. Plötzlich hörte Sonnenwolf eine einzelne dunkle Stimme, die be fahl: »Verhaftet den Mann dort!« Er drehte sich um und starrte in das Gesicht des Finsteren Adlers, des Anführers der Söldner in Diensten Altiokis'. Finsterer Adler hatte sich seit den gemeinsamen Feldzügen im Osten nicht verändert. In den spöttischen blauen Augen glitzerte 288
noch immer bittere Belustigung, als sich Sonnenwolf zur Flucht wandte. Unmittelbar darauf jedoch mußte er feststellen, daß er zwischen den Zivilisten hinter und den Stadtwächtern vor ihm festsaß, die nun auf ihn zueilten. Güldene Shorad und Wilarne waren in der Menge verschwunden. Der Adler gab seinem schwarzen Roß die Sporen und dirigierte es auf Sonnenwolf zu. Bogenschützen folgten rechts und links des Pferdes. Finsterer Adler war ein Mann, der nur die Besten in seine Truppe aufnahm, und Sonnenwolf wußte, daß die Männer in seiner Begleitung kaum ihr Ziel verfehlen würden. Die Zivilisten in seiner unmittelbaren Nähe gerieten in Panik und drängten von ihm fort. Jemand griff von hinten nach seinem Arm und preßte ihm eine Schwertklinge an den Rücken. Er duckte sich und wich dem Hieb aus. Ein Pfeil sauste nur wenige Zentimeter an seinem Leib vorbei und bohrte sich in den Körper des Mannes hinter ihm. Sonnenwolf entwand der erschlaffenden Hand das Schwert und wirbelte um die eigene Achse, um sich den Soldaten zum Kampf zu stellen, die ihn gefangenzunehmen versuchten, stieß eine zweite in ein schwarzes Kettenhemd gehüllte Gestalt in die Flugbahn des nächsten Pfeils und hielt auf den Zugang der nächsten schmalen Gasse zu. Einer seiner Gegner holte mit einer Hellebarde aus. Er parierte den Angriff, hieb nach dem Mann und setzte anschließend über die fallende Waffe hinweg. Vor ihm geriet die Menge immer mehr in Unruhe. Die Söldner des Finsteren Adlers und die Stadt wächter bahnten sich rücksichtslos einen Weg durch die Masse der Zuschauer, um Sonnenwolf zu verfolgen. Er begriff, daß er umzingelt war. Er rammte das Schwert ins Ge sicht eines anderen Gegners und wandte sich einem weiteren zu. Obgleich er nun ganz auf den Kampf konzentriert war, entging sei ner Aufmerksamkeit nicht, daß sich auf dem Platz in der Nähe der vergoldeten Barke etwas bewegte, im Innern der schwarzen Sänfte… Irgend etwas berührte sein Gesicht – er wußte nicht genau, um was es sich dabei handelte, etwas, das Ähnlichkeit mit einer dunsti gen Wolke hatte. Er drehte sich um und wollte einmal mehr sein Schwert zum Einsatz bringen. Die Klinge fuhr durch leere Luft, war plötzlich umgeben von einer Aureole aus blutrotem Glitzern. In der Sekunde, als er bemerkte, daß er es nur mit einem Trugbild zu tun hatte, das ihn ablenken sollte, traf ihn etwas am Hinterkopf, und Dunkelheit schloß sich um ihn.
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17. Kapitel »Söldner Sonnenwolf.« Die Stimme, die durch die Schwärze klang, schien aus weiter Ferne zu kommen. Sonnenwolf erkannte sie als die des Finsteren Adlers. Durch das Pochen und Summen hinter seiner Stirn konnte er sie nur sehr undeutlich verstehen. »Und in solcher Kleidung. Mach die Augen auf, Barbar. Ich weiß, daß du mich hörst.« Sonnenwolf hob ein verklebtes Lid und zwinkerte angesichts blendend hellen gelben Lichts. »Es heißt immer wieder, daß man selbst in den abgelegensten Winkeln der Welt auf Bekannte trifft, wenn man sein Schwert zum Kampf ausleiht«, fügte der Adler hinzu. »Ich habe aber nicht erwar tet, ausgerechnet hier einen alten Freund wiederzusehen.« Sonnenwolf zwinkerte erneut und versuchte, das Pochen aus sich zu verdrängen. Das Licht, das ihn Sekunden zuvor so geblendet hatte, erwies sich als eine rauchige Flamme, die am pechgetränkten Ende einer in einer gußeisernen Wandhalterung steckenden Fackel brannte, direkt hinter der Schulter des Finsteren Adlers. Nach und nach wurde er sich bewußt, wie sehr seine Arme schmerzten. Als er sie zu bewegen versuchte, mußte er feststellen, daß sie das ganze Gewicht seines Körpers zu tragen hatten. Die kurze Kette, an der die Handgelenke festgebunden waren, hatte man um einen knappen Meter über seinem Kopf befindlichen Haken geschlungen. Er hing mit dem Rücken zur Wand, in einem Raum, von dem er vermutete, daß er sich im Keller eines Gebäudes befand – wahrscheinlich unter den Ruinen des abgebrannten Kontors. Als er sich in diesem Zu sammenhang an ein anderes kleines Zimmer und einen hin und her schwebenden Lichtfunken erinnerte, begann er plötzlich zu schwit zen. Er streckte die Beine, fühlte festen Boden unter den Füßen, richtete sich auf und blickte den Adler an. Derzeit hielt sich außer ihnen beiden niemand sonst in der Zelle auf. »Du hättest wenigstens dein verdammtes Maul halten können«, knurrte der Wolf heiser. Finsterer Adler runzelte die Stirn. Er war ein stämmiger mittel großer Mann. Einige Strähnen des schwarzes Haares fielen ihm in die Stirn. »Was ist denn mit deiner Stimme los?« »Eine Frau hat mich vergiftet, und seitdem kann ich nicht mehr 290
so brüllen wie früher«, erklärte Sonnenwolf wahrheitsgemäß. Der matte Schimmer der Sorge, der für einen Sekundenbruchteil in den blauen Augen des anderen Söldners glänzte, verblaßte wieder. Der Adler lachte. »Ich hoffe, du hast dich auf angemessene Weise dafür rächen können. Nun, ich habe dich deshalb verhaftet, weil meine Aufgabe darin besteht, in der Domäne Altiokis' für Ordnung zu sorgen. Als ich hörte, daß du dich dazu entschieden hast, in die sem netten Städtchen zu überwintern, wußte ich schon, daß wieder Arbeit auf mich wartet. Wo sind deine Leute?« »In Wrynde.« »Ich meine nicht deine Söldner, sondern die Männer, die du führst. Und ich warne dich, Sonnenwolf: Behaupte nur nicht, du seist ohne triftigen Grund in dieser Stadt. Also – wo sind die Männer, die du hier zu einer Streitmacht zusammengeschlossen hast?« Sonnenwolf seufzte und lehnte den Kopf an den kühlen Stein der Wand. »Es gibt keine solchen Männer«, sagte er. »Für jemanden mit einem reinen Gewissen hast du mit beeindru ckender Entschlossenheit gekämpft.« »Du würdest ein reines Gewissen nicht einmal dann erkennen, wenn man es dir zum Geschenk macht. Bei all deinen wehleidigen Vorfahren: Warum dienst du einem Dämonen?« Finsterer Adler runzelte die Stirn. »Einem Dämonen?« »Was auch immer sich in der Sänfte befand – es war nicht menschlich. Darauf würde ich schwören. « Der Anführer kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Du hast sie schon als kleiner Junge sehen können, nicht wahr? Aber Altiokis ist kein Dämon. Ich habe erlebt, wie er Dämonen beschwor, und ich konnte ihn auch dabei beobachten, wie er mit den Dingen hantierte, die sie fürchten, um sich vor ihnen zu schützen.« »Gut, er ist kein Dämon – aber auch kein Mensch.« Die argwöhnischen und ein wenig besorgt wirkenden Züge des Adlers glätteten sich. Dann lächelte er und zeigte seine weiß blitzen den Zähne. »Er ist der mächtigste Zauberer in der ganzen Welt – und ein Mann mit ungewöhnlichen Wünschen und Bestrebungen.« Das Lächeln verschwand aus dem dunklen Gesicht. »Warum behauptest du, er sei kein Mensch?« »Weil er keiner ist, verdammt! Ist dir das denn nicht ebenfalls aufgefallen? Hast du es nicht gespürt?« Finsterer Adler atmete tief durch. »Ich glaube, der Schlag auf deinen Kopf war heftiger, als wir dachten, mein Freund«, erwiderte 291
er. »Oder vielleicht hat das Gift jener Frau deinen nie sehr flinken Geist verwirrt. Altiokis ist ein Mensch, ein Mann, der es sich leisten kann, viel Geld dafür auszugeben, um in der von ihm beherrschten Region die Ordnung zu gewährleisten. Das wirst du noch selbst feststellen.« Finsterer Adler trat an die Zellentür heran, griff nach dem Knauf und zögerte noch einmal. Etwas leiser fügte er hinzu: »Ich rate dir, ihm die Wahrheit über das zu sagen, was du in dieser Stadt treibst, Wolf.« Dann öffnete er die Tür und wich zur Seite. Altiokis kam herein. Einige Sekunden lang fiel es Sonnenwolf schwer, zwischen den geistigen und körperlichen Eindrücken zu unterscheiden, die sich ihm darboten. Der geistige formte in ihm einen bildlichen Vergleich: Er sah ei nen halb verrotteten Baum, dessen Äste und Zweige nicht mehr waren als verwitterte Knochen; an einigen Stellen hatte sich bereits die faulige Rinde vom Stamm geschält, und an diesen Stellen beo bachtete er ein schwarzes und seltsam strahlendes Feuer. Der körperliche Eindruck hingegen war der eines Mannes von mittlerer Größe, dem aufgrund des übertriebenen Verzehrs erlesener Delikatessen ein fast unglaublicher Körperumfang zukam. Die Haut war weiß und schlaff und faltig, und an den aufgeschwemmten Wangen zeigten sich graue Bartschatten. An den dicken Fingern steckten zu viele Ringe. Durch den Umgang mit vielen Söldnerfrauen wußte Sonnenwolf den Wert von Kleidung recht genau abzu schätzen. Der schwarze Samt, mit dem die edelsteingeschmückte Stickerei des immensen Wamses gefüttert war, kostete fünfzig Sil berkronen pro Meter. Die juwelenbesetzten Gürtel, über die das Fleisch des enormen Bauches hinwegquoll, waren so teuer, daß man damit ganze Städte hätte kaufen können. Sonnenwolf erinnerte sich an Lady Wrinshardin, die Altiokis als vulgär bezeichnet hatte. Und er wußte auch – und während er das dunkle Gesicht des Finsteren Adlers, die Züge des schmächtigen Hafenmeisters Stirk und von Drypettis beobachtete, die im Korridor standen – , daß für alle anderen allein dieser körperliche Aspekt vorhanden war. Er wollte sie anschreien, ihnen zurufen: »Seht ihr es denn nicht? Begreift ihr denn nicht, was er ist?« Aber er war wie gelähmt. In den zwischen den Fettwülsten fast verborgenen Augen funkel 292
te kalte und selbstzufriedene Belustigung. Der Zauberkönig trat vor und hob seinen Stab. Wie die Säulen seiner Sänfte bestand er aus geschnitztem Ebenholz, auf dem verzierten Knauf funkelte der geis terhafte Glanz von Opal und Rubin. Der Stab berührte Sonnenwolf am Hals. Der Söldner hatte das Empfinden, Eis und Feuer gleichzei tig zu fühlen. Plötzlicher Schmerz durchfuhr ihn, ließ ihn mit einem gedämpften Stöhnen zurückzucken. Ein spöttisches Lächeln umspielte die dicken Lippen Altiokis'. »Du bist also der Mann, der gegen mich in den Kampf ziehen wollte?« Sonnenwolf gab keine Antwort. Nach der Qual, die ihm das An zid bereitet hatte, belastete ihn Schmerz nicht mehr allzu sehr. Ei gentlich hatte die Berührung durch den Stab nur einen dumpfen Schrecken in ihm geweckt, ihm einen Schock bereitet, mehr nicht. Er sah Drypettis im Flur stehen, wie eine monströse Orchidee in ihrem orangefarbenen Gewand und dem zarten Schleier. Er fühlte den Blick ihrer braunen Augen auf sich ruhen, bemerkte, wie in ihren kalten Pupillen abgrundtiefer Haß und Verachtung glitzerten. Son nenwolf fragte sich, ob sie Sheera mitgeteilt hatte, wo man ihn ge fangenhielt – und ob das jetzt überhaupt noch eine Rolle spielte. Oder hoffte Drypettis vielleicht, ihn winseln und jammern zu se hen, bevor sie sich aufmachte, um die anderen zu warnen? »Wer bezahlt dich, Söldner?« fragte Altiokis. Sonnenwolf schluckte und schüttelte den Kopf. »Er hat mir nie seinen Namen genannt«, flüsterte er. »Er sagte, er wolle mich für Informationen über die Stadt, die Tore, die Kanäle und schließlich die Entwicklung eines Eroberungsplanes entlohnen…« »Wahrscheinlich einer der Thanes.« Altiokis gähnte gelangweilt. »Sie machen dauernd irgendwelche Schwierigkeiten. Es wurde höchste Zeit, sie zur Räson zur bringen.« »Wo setzte sich dieser Mann mit dir in Verbindung?« fragte Finsterer Adler. Mit krächzender Stimme erwiderte Sonnenwolf: »Auf der Halb insel, nach der Belagerung Melpliths. Er verabredete ein Treffen mit mir, das in drei Wochen stattfinden soll, an der Ostküste. Ich sollte mich auf dem Landwege hierher begeben, was ich auch machte, und einen Plan für die Eroberung der Stadt ersinnen…« »Ja, ja«, warf Altiokis gleichgültig ein. »Aber wer war dieser Mann?« »Wie ich schon sagte: Ich kenne seinen Namen nicht.« Sonnen 293
wolf sah von Altiokis zu Finsterer Adler und richtete seinen Blick dann wieder auf den Zauberkönig, der sich offenbar gar nicht so sehr dafür interessierte, wer den Söldner in seine Dienste genommen hatte. Vertraute er in einem solchen Maße seinen magischen Kräften, die die Zitadelle schützten? Oder hatte er, als eine Folge seines lan gen Lebens, inzwischen den Punkt erreicht, an dem er praktisch für nichts mehr Interesse aufbringen konnte? »Der Unbekannte hat sich für einen recht teuren Spion entschie den«, meinte Finsterer Adler nachdenklich. »Er hätte sich auch der Dienste wesentlich billigerer Kundschafter versichern können.« Sonnenwolf warf ihm einen zornigen Blick zu und hoffte, daß der andere Söldner sich von der gespielten Entrüstung überzeugen ließ. »Hättest du einen billigen genommen?« Dann zuckte er erneut zusammen, als ihn der Stab des Zauberkö nigs zum zweitenmal berührte. »Denk daran, mit wem du es zu tun hast, Barbar«, sagte Altiokis, und Wolf glaubte, in seiner Stimme so etwas wie leises Vergnügen zu vernehmen. Der dicke Mann hob seinen Stab dem Gesicht des Söldners entgegen, das weiße Metall an der Spitze glühte unheilver kündend. Sonnenwolf beugte den Kopf zurück und spürte, wie ihm Schweiß über die Wangen rann. Wie hypnotisiert starrte er auf den Glanz der Opale und die gewundenen Leiber der Silberschlangen, in deren Augen Edelsteine eingelassen waren. Irgend etwas, das mehr war als nur Hitze, wallte wie kaum wahrnehmbarer Dunst von der verzierten Spitze des Stabes, dem Versprechen unerträglicher Pein gleich. »Ich bin Altiokis«, sagte der Zauberkönig leise. »Und niemand darf sich erdreisten, in diesem Ton zu meinen Dienern zu sprechen.« Die glühende Spitze des Stabes war nur noch einen Zentimeter vom Gesicht Sonnenwolfs entfernt, als der Söldner hauchte: »Es tut mir leid, Herr.« Er beobachtete, wie über den Opalen erneut der dunstige Fleck entstand, und er neigte den Kopf soweit zur Seite, wie er es ver mochte, als ihn der Stab ein weiteres Mal berührte. Ein lauter Schmerzensschrei entfuhr ihm. Er fühlte, wie die Haut an einer Stelle der Wange verbrannte, wie sie Blasen warf und verkohlte. Wie ein Blitz durchzuckte der Schmerz seinen ganzen Körper. »Ich könnte dich auf diese Weise ganz langsam zerstückeln«, sagte Altiokis genießerisch, »bis du mich um eine Möglichkeit an flehst, mir all das zu sagen, was du weißt, bis du mich darum bittest, 294
dir die Kehle durchzuschneiden und einen raschen Tod zu gewähren. Vielleicht mache ich das auch, nur um mir ein wenig die Zeit zu vertreiben.« Sonnenwolf gab keine Antwort darauf. Diesmal war er nicht einmal mehr dazu in der Lage, ein verständliches Wort hervorzu bringen. Der Schmerz rief Übelkeit in ihm hervor. Sein Leib hing schlaff an der Kette, während er sich bemühte, seine Gedanken zu ordnen. Er versuchte sich einzureden, daß nichts so schlimm sein konnte wie die Qual, die ihm das Anzid beschert hatte. Außerdem empfand er Wut darüber, daß ein Mann mit der Macht des Zauber königs seine Kräfte wie ein grausames Kind einsetzte, das einer gefangenen Fliege die Flügel ausreißt. In den vergangenen Jahren hatte er immer wieder Menschen kennengelernt, die Gefallen daran fanden, andere leiden zu sehen. Es überraschte ihn, daß Altiokis, der die schwierigen Künste der Zauberei so meisterhaft beherrschte, sich durch einen ebenso verdorbenen Charakter auszeichnete. »Statthalter Stirk… « sagte der dicke Mann, und Stirk sah auf, mit jener Art von überraschter Freude, die Sonnenwolf mit der eines Hundes verglich, der auf einen leckeren Knochen hoffte. Der hoch gewachsene schmächtige Hafenmeister trat vor und katzbuckelte. Drypettis stand nach wie vor in der Tür, und Sonnenwolf sah, wie sie vor zorniger Empörung zu zittern begann, als sich Stirk auf die Knie ließ und den juwelenbesetzten Schuh des Zauberkönigs küßte. Altio kis schnurrte fast. »Hat die Verhörzelle das Feuer überstanden?« fragte der Magier. Der neue Statthalter senkte betreten den Kopf. »Leider nicht, Herr«, sagte er, stand auf und staubte sich demütig die Knie ab: »Die anderen Etagen des Kerkers wurden von dem Feuer vernichtet, das in jener Nacht wütete, in der Statthalter Derroug starb.« Meinen Vorfahren sei Dank, dachte Sonnenwolf. In dem gezierten Tonfall Altiokis' war ein leises Schmollen zu vernehmen. »Dann werde ich ihn morgen früh in die Zitadelle mit nehmen. Wenn ich aufbreche, Statthalter Stirk, lasse ich einen Teil meiner Streitmacht hier zurück und unterstelle sie dem Befehl des Finsteren Adlers, dem nun der Rang eines Generals zukommt. Bring die Soldaten nach Belieben in den Häusern der Bürger unter. Außer dem: Die Bewohner Mandrigins sollen nicht glauben, daß sie auf grund der jüngsten Unruhen von der Jahressteuer befreit werden. Ich erwarte von dir in gewisser Hinsicht einen angemessenen Beweis deiner Dankbarkeit dafür, daß ich dich zum neuen Statthalter mach 295
te.« Stirk verneigte sich mehrmals, und seine Stimme überschlug sich fast dabei, als er dem Zauberkönig beipflichtete. Sonnenwolf fragte sich, aus welchem Grund Altiokis seinen Reichtum noch weiter zu vergrößern trachtete. »Und was diesen… diesen arroganten Barbaren angeht… « Ruckartig holte er mit dem Stab aus und hieb das stumpfe Ende ans Knie des Söldners. »Ich glaube, daß er uns nicht die ganze Wahrheit sagt. Aber bald werden wir von ihm die Namen der Männer erfahren, die unverschämt genug sind, seine Dienste in Anspruch zu nehmen, um meine Stadt auszuspionieren. Von meiner Zitadelle aus kann ich alles sehen. Keine Armee vermag heranzumarschieren, ohne daß ich von ihr erfahre. Aber es dürfte uns einige Mühe ersparen, schon jetzt zu wissen, wen es zu bestrafen gilt.« Den Worten kam nur eine rhetorische Bedeutung zu, und das wußte Sonnenwolf. Altiokis gab nicht viel darauf, wen er strafte, und er brauchte auch keinen Anlaß dazu. Für einen hundertfünfzig Jahre alten Mann, der ganz sicher nicht mit übermäßiger Intelligenz geseg net war, gab es nur mehr wenige Vergnügen, und eins davon bestand darin, Tod und Leid zu bringen und auf diese Weise seine Macht zu beweisen. Die Blicke Sonnenwolfs folgten dem fetten Mann, als er durch die Tür wankte. Stirk katzbuckelte einmal mehr und verneigte sich immer wieder, so rasch, daß ihm davon sicher schwindelig wur de. Der Finstere Adler – das Gesicht eine glatte und ausdruckslose Maske – bildete den Abschluß. Haben sich andere auch schon darüber gewundert? fragte sich Sonnenwolf und beobachtete, wie die Männer die kurze Treppe zum Fluß emporstiegen. Wie kann ein so dummer und naiver und gemei ner und boshafter Kerl derartige Macht errungen haben? Können sie denn nicht das sehen, was ich erkenne? »Da wäre noch etwas.« Altiokis drehte sich um und schnippte mit den dicken Fingern. Sonnenwolf hörte, wie die Wächter im Korridor nach Luft schnapp ten, und Drypettis gab einen gedämpften Entsetzensschrei von sich. Zwei Nuuwa betraten die Zelle. Das Herz des angeketteten Söldners hörte für einige Sekunden auf zu schlagen und begann dann in einem Grauen zu pochen, das Sonnenwolf ganz ausfüllte und alles andere aus ihm verdrängte. Er warf einen kurzen Blick auf den Haken, an dem die Kette befestigt war, die ihn hilflos machte. Ob er sich befreien konnte, bevor die 296
Rachen der augenlosen Ungeheuer damit begannen, ihm die Zähne in den Leib zu bohren und Fleischbrocken aus seinem Körper zu reißen? Dann starrte er die beiden Nuuwa an und wußte, daß er in der Falle saß. Altiokis' Lächeln wurde zu einem entzückten Grinsen. »Gefallen dir meine Freunde?« fragte er. Die wackelnden Köpfe wandten sich Sonnenwolf zu. Schleimiger Speichel tropfte ihnen vom Kinn, und sie knurrten und knirschten mit den Reißzähnen und spannten die Muskeln wie zum Sprung, als der Zauberer ihnen auf den Rücken klopfte. »Dir droht keine Gefahr…« – Altiokis lächelte –, »…und solange du keinen Fluchtversuch unternimmst, fallen sie nicht über dich her, sondern geben sich damit zufrieden, still zu… philosophieren. Aber glaub mir: Wenn du versuchen solltest zu fliehen, so werden dich meine beiden Freunde schon halb verschlungen haben, bevor einer meiner Wächter auf deine Schreie aufmerksam wird.« Bei dieser Vorstellung wurde das Grinsen Altiokis' noch breiter, und der mächtigste Zauberer der Welt bohrte nachdenklich mit dem Finger in der Nase. Anschließend wischte er ihn am Ärmel Stirks ab. Der ehemalige Hafenmeister lächelte glücklich. »Ich hoffe, wir sehen uns morgen früh wieder.« Hinter ihm schloß sich die Tür. Eine Weile rührte Sonnenwolf keinen Muskel, ertrug den Schmerz der verrenkten Schultern und starrte die beiden Nuuwa an, während hinter seiner Stirn die Gedanken zunächst formlos dahin wirbelten. Der mächtigste Zauberer der ganzen Welt! Auf welche Weise wurde diese Macht vergeudet! Aber Altiokis bezog seine Kraft nicht aus dem eigenen Innern. Er war innerlich bereits verfault durch etwas, das in seinem Leib eine Heimstatt gefunden hatte. Sonnenwolf hielt den ersten flüchtigen Eindruck fest, den er von Altiokis in der Sänfte gewonnen hatte. Anschließend war er nur dazu in der Lage gewesen, ihn so zu sehen, wie auch alle anderen – als einen dicken und allmächtigen Mann, der Schrecken personifizierte. In Sonnenwolf entstand das Gefühl, das er auch schon als kleiner Junge gehabt hatte, damals, als er seinem Vater und den anderen Männern des Stammes gegenüber beharrte, daß er die Dämonen zu sehen vermochte, deren Stimmen in den Sümpfen höhnten und schrillten. Damals hatte ihn sein Vater nur einfach dazu aufgefordert, den Mund zu halten und keine Märchen zu erzählen. Aber er war wirklich dazu imstande gewesen, die Dä 297
monen als solche zu erkennen. Und er wußte nun auch, daß es etwas in Altiokis gab, was weder menschlich noch rein und gut war. Morgen sollte er in die Zitadelle gebracht werden. Er machte sich keine Illusionen. Selbst er würde der Folterung – welcher Art sie auch sein mochte – nicht sehr lange standhalten. Altiokis hatte recht – die Aussicht, eine neuerliche Dosis Anzid verabreicht zu bekom men oder in einen Raum gestoßen zu werden, in dem sich das be fand, was einen Menschen in einen Nuuwa verwandeln konnte, war so entsetzlich, daß er irgendwann zerbrechen und sein Geheimnis verraten mußte. Allerdings, so machte er sich klar, durfte er sich davon keine Rettung erhoffen. Erneut richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Nuuwa. Altiokis hatte eine Fackel in der Zelle zurückgelassen, die in einer Halterung an der gegenüberliegenden Wand brannte. Die beiden Ungeheuer trugen die Uniformen – inzwischen nur noch schmutzige Fetzen – der Truppen des Zauberkönigs. Sonnenwolf kam zu dem Schluß, daß die Nuuwa – wenn man sie nicht auf irgendeine Weise umbrachte – schließlich allein deswegen verendeten, weil sie sich selbst vernach lässigten. Eins der beiden Monstren wies an einem Bein bereits eine große, entzündete Wunde auf, die deutlich durch den zerrissenen und verdreckten Stoff der Hose zu sehen war. Da der Söldner inzwischen wußte, daß Nuuwa auf schreckliche Art verwandelte Menschen waren, sah er sich auch dazu imstande, gewisse Unterschiede zu erkennen und festzustellen, daß der eine jünger war als der andere: Eine seiner Augenhöhlen war noch blutig. Der andere Nuuwa war älter. Die Jochbeine hatten sich verändert, wirkten nun deformiert, und er ließ die Schultern mehr hängen. Bei ihm konnte man unmöglich feststellen, durch welches Auge sich der unheimliche Lichtfunken ins Hirn gebohrt hatte. Reglos standen sie vor ihm, starrten ihn aus augenlosen Höhlen an. Der von ihnen ausgehende Gestank erfüllte die ganze Zelle. Dann und wann verlagerte eins der beiden Ungeheuer das Gewicht von einem Bein aufs andere, aber keins machte Anstalten, die Schaben und Kakerlaken zu verjagen, die ihnen aus dem Stroh kommend über die Füße krabbelten. Einmal hob Sonnenwolf vorsichtig den Kopf und betrachtete die Kette und den Haken, und daraufhin knurrten die Nuuwa leise und bewegten sich unruhig. Sofort verharrte der Söldner. Seine Gedanken gingen zurück zu dem jungen Sklaven, der gel lend schrie, als sich der Lichtfleck in sein Auge bohrte… Nach rund 298
einer Minute war aus dem jungen Mann ein Monstrum geworden. Hatte er gewußt, was mit ihm geschah? Oder war der Schmerz zu groß gewesen? War das auch sein Schicksal? Zwar hatte er schon immer mehr Schmerzen ertragen können als die meisten anderen Männer, und durch die Anzid-Vergiftung war diese Fähigkeit noch verstärkt worden, doch die Vorstellung, in kurzer Zeit nur noch eine willenlose Hülle zu sein, die dem bösen Begehren Altiokis' gehorchte, machte ihm Angst. Die sechzig Se kunden, die es dauern würde, bis das Etwas, um was auch immer es sich dabei handeln mochte, sich in sein Hirn gesengt hatte, mochten einer Ewigkeit in der schrecklichsten aller Höllen gleichkommen. Sonnenwolf blickte die Nuuwa und dann die Kette an. Es war ihm unmöglich, die Ringe der Kette vom Haken zu lösen. Zwar lag der Befestigungsbolzen in der Wand so hoch, daß ihn klei nere Männer nicht erreichen konnten – nur wenige Mandrigins ka men auch nur annähernd an die Größe Sonnenwolfs heran – , aber die Nuuwa würden sofort reagieren und ihn zerreißen, wenn sie ahnten, auf was er aus war. Der Söldner fragte sich, wie ausgeprägt seine Fähigkeit sein mochte, sich unsichtbar zu machen. Seit jener Nacht auf dem Dach der Palastküche, seit der Befrei ung Tisas, hatte er immer wieder damit experimentiert. Mit ein we nig Praxis war er innerhalb gewisser Grenzen dazu in der Lage, den Blicken einer Person zu entgehen. Die Nuuwa jedoch besaßen keine Augen – und doch konnten sie sehen, vermutlich mit Hilfe allein des Geistes. Wenn diese Annahme stimmte, so mochte sich die besonde re Fähigkeit des Söldners auch in diesem Fall einsetzen lassen, denn im Grunde genommen ging es dabei ja nur darum, nicht beachtet zu werden. Es war zumindest einen Versuch wert. Sollte es nicht gelingen, so war er nicht schlechter dran als vor her. Sicher, es mochte nicht gerade ein angenehmer Tod sein, bei lebendigem Leib zerrissen und verschlungen zu werden, aber mögli cherweise war das immer noch besser, als selbst zu einem Nuuwa zu werden. Zögernd konzentrierte er seine Gedanken auf die beiden Nuuwa, forderte sie mit seinem Willen dazu auf, ihre Aufmerksamkeit von ihm abzuwenden, auf die Steine der Wand und das voller Ungeziefer steckende Stroh zu ihren Füßen zu richten. Er wollte sie dazu bewe gen, einfach durch ihn hindurchzusehen. Die Anstrengung trieb ihm 299
den Schweiß aus den Poren. Sonnenwolf zwang sich dazu, sich trotz seiner Bemühungen zu entspannen, verringerte seine Bedeutung für die beiden Nuuwa, zwang die Wachsamkeit ihrer Sinne auf andere Dinge, auf die Insekten, die im Stroh hin und her krabbelten, auf den Geruch der brennenden Fackel… Der Söldner spannte alle Muskeln an, erhob sich auf die Zehen spitzen und reckte den steifen Rücken und die Schultern dem eiser nen Haken entgegen. Die beiden Nuuwa rührten sich nicht und starrten weiterhin auf die Wand rechts und links von ihm. Vorsichtig schob Sonnenwolf die Spitzen seiner halb betäubten Finger unter die Kettenglieder an seinen Handgelenken. Er versuch te, sie dem Ende des Hakens entgegenzuheben, und lockerte die Rückenmuskeln, als sie sich infolge der langen Anspannung zu ver krampfen begannen. Der Schweiß ätzte wie Säure in der offenen Brandwunde seiner Wange, und die Arme zitterten infolge der An strengung. Die Spitze des Hakens erschien unerreichbar hoch. Einer der Nuuwa grunzte, und in der Stille der Zelle klang dieses Geräusch so laut wie das Donnern einer Explosion. Während sich Sonnenwolf weiterhin bemühte, die Kette vom Haken zu lösen, achtete er darauf, die Aufmerksamkeit der beiden Ungeheuer nach wie vor von sich abzulenken. Einmal war er in Schwierigkeiten geraten, weil er in seiner Konzentration nachgelassen hatte. Er war nicht gewillt, erneut einen solchen Fehler zu begehen, den er diesmal mit dem sicheren Tod bezahlen würde. Metall auf Metall. Die Kette wurde abrupt schlaff, als sie sich ganz vom Haken löste. Von einem Augenblick zum anderen mußten die überstrapazierten Muskeln Sonnenwolfs das ganze Gewicht sei nes Körpers tragen. Er war nahe daran, sich einfach ins Stroh sinken zu lassen, aber er zwang sich dazu, aufrecht stehenzubleiben, und zitterte und atmete schwer. Die Nuuwa starrten noch immer an die Wand. Als Sonnenwolf einigermaßen sicher war, daß seine Beine nicht einknicken würden, trat er vorsichtig einen Schritt vor. Die Ungeheuer reagierten nicht. Sein eiserner Wille lenkte ihre Aufmerksamkeit nach wie vor von ihm ab, doch er wußte, daß er diese Konzentration nicht mehr lange aufrechterhalten konnte. Er machte einen weiteren Schritt, dann noch einen, und keiner der beiden Nuuwa schien ihm irgendwelche Be achtung zu schenken… Keine leichte Aufgabe, dachte er ironisch, 300
Nuuwa davon abzuhalten, sich auf ein hilfloses Opfer zu stürzen. Die Tür war mit einem eisernen Riegel versperrt, nicht nur mit einem hölzernen Keil, den man mit Hilfe einer Karte leicht aus der Einfassung hätte hebeln können. Über die Schulter hinweg warf Sonnenwolf den beiden Nuuwa einen kurzen Blick zu. Der nächste von ihnen – eine Säule aus stinkendem Fleisch – stand nur knapp zwei Meter von ihm entfernt. Er entschloß sich dazu, ein Risiko einzugehen. »Finsterer Adler!« rief er so laut, wie er es mit seiner Stimme vermochte. »Stirk! Ich sage euch alles, was ihr wissen wollt. Holt mich nur hier raus!« Seine Konzentration glich einer Glocke, die sich über die Nuuwa stülpte, kam in ihrer Intensität der körperlichen Anstrengung gleich, eine Wand zu stützen, die jederzeit umstürzen konnte. Die beiden Ungeheuer waren inzwischen nervös geworden, wankten in der Zelle umher, mit wackelndem Schädel und wedelnden Armen. Vom Korridor her ertönte das Geräusch eiliger Schritte. Ein ein zelner Mann, schloß der Söldner und verharrte zögernd vor der Tür. Mach sie auf du feiger Mistkerl! verlangten die Gedanken des Son nenwolfs. Ruf nicht erst deinen Hauptmann… Der eiserne Riegel wurde zurückgeschoben. Sonnenwolf stürmte los und warf sich mit seinem ganzen Ge wicht gegen die Tür, ungeachtet der Waffe, die der Wächter mögli cherweise in der Hand hielt. Die Klinge des kurzen Schwertes des Uniformierten bohrte sich ins Holz der Tür und blieb darin stecken. Der Mann starrte Sonnenwolf aus weit aufgerissenen Augen an, war viel zu überrascht, um zu schreien. Der Söldner packte ihn am Hals und schleuderte ihn den herankommenden Nuuwa entgegen. Dann warf er die Tür ins Schloß, schob den Riegel vor und zog das Schwert aus dem Holz. Das entsetzte Gellen des Wächters ver folgte ihn, als er durch den leeren Gang rannte.
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18. Kapitel »Und du hast allein mit deinem Willen Ihre Aufmerksamkeit von dir abgelenkt?« Sonnenwolf nickte. Die besonderen Arzneien Yirths dämpften den Schmerz, ohne den Verstand zu benebeln, doch die Entspannung nach der eisernen Konzentration in der Kerkerzelle wirkte wie eine allgemeine benommen machende Droge. Der Söldner fühlte sich so erschöpft, als habe er gerade eine Schlacht hinter sich. Er nahm den Geruch des Raumes wahr. Der Duft der trocknenden Kräuter unter den Deckenbalken erfüllte ihn mit einem sonderbaren Frieden. Er beobachtete Yirth, die im Zimmer auf und ab ging, und fragte sich, wie er sie jemals für häßlich hatte halten können. Sie machte einen strengen und finsteren Eindruck, ja, war auf ihre eigene Art und Weise stark. Aber jetzt lenkte das Muttermal nicht mehr den Blick vom Rest ihres Gesichts ab, und er beobachtete die ausdrucksstarken Züge, sah Yirth als eine Frau, die nur wenige Jahre älter war als er selbst und deren Leben in gewisser Weise ebenso anstrengend und abwechslungsreich gewesen war wie das seine. Sie drehte sich zu ihm um, so als wären seine Gedanken eine lei se Stimme, die ihr etwas zuflüsterte. »Wie hast du das fertigge bracht?« fragte sie. »Ich weiß nicht«, erwiderte er müde. »Ich glaube, das Anzid steckt dahinter.« Er bemerkte, wie Yirth plötzlich die Stirn runzelte. Seine Worte waren wohl keine sehr aufschlußreiche Erklärung. »Ich glaube, das Anzid hat irgend etwas in mir bewirkt – ich meine, außer daß es mich fast umgebracht hätte. Seit mich Sheera nach Mandrigin zurückbrachte, kann ich im Dunklen sehen und habe diese… diese Fähigkeit, von anderen Leuten nicht bemerkt zu wer den, wenn ich es nicht will. Ich war schon immer in der Lage, mich in gewisser Weise unsichtbar zu machen, aber jetzt… kommt mir das fast unheimlich vor. Ich habe zum erstenmal davon Gebrauch ge macht, als wir Tisa befreiten, und seitdem übte ich mich weiter darin. Inzwischen…« Yirth unterbrach ihn, indem sie die Hand hob. »Nein«, sagte sie. »Laß mich nachdenken.« Sie wandte sich von ihm ab und trat an das schmale Fenster her an, durch das man auf die feuchten und roten Dächer Mandrigins blicken konnte. Eine ganze Weile blieb sie dort stehen, das dunkle 302
Haupt geneigt. Von draußen her hörte Sonnenwolf das rhythmische Platschen einer in regelmäßigen Abständen ins Wasser tauchenden Gondelstange, und Hufe klapperten auf einer nahen Brücke. Yirths Katze, die sich auf dem Fußende der schmalen Liege Sonnenwolfs zusammengerollt hatte, erwachte, streckte sich und sprang lautlos zu Boden. Schließlich murmelte die Hexe: »Heilige Mutter.« Sie sah ihn an. »Erzähl mir von der Nacht in der Grube«, sagte sie. Er hielt ihrem Blick schweigend stand, nicht gewillt, die Qual, die Pein und das Gefühl der Demütigung mit ihr zu teilen. Nur ein Mensch, Sheera. Sonnenwolf fiel ein, daß er nicht wußte, ob sie überhaupt noch lebte und wo sie sich derzeit aufhielt. Nach einigen Sekunden erwiderte er: »Sheera konnte über mich triumphieren. Genügt das nicht?« »Sei kein Narr«, sagte Yirth scharf. »In deinen Adern zirkulierte kein Anzid mehr, als sie mich zu dir führte.« Sonnenwolf starrte sie groß und verständnislos an. »Hattest du Visionen?« Er nickte stumm. Und er schauderte, als er sich an jene Träume von Macht und Verzweiflung entsann. Yirth preßte sich die Hände an die Schläfen. »Heilige Mutter!« Ihre Stimme klang hohl, war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich fand es bei den Dingen, die mein Meister nach der Ermordung zu rückließ«, sagte sie wie zu sich selbst. »Chilisirdin – so hieß die Frau, die mich die Künste der Magie lehrte, mein Meister. Ich ahnte nicht… In unserem Gewerbe hat man immer mit Giften zu tun. Wir handeln mit ihnen – mit Drogen, Liebeselixieren und Verhütungssäf ten. Manchmal führt ein Trank zum Tod. Ich hätte nie gedacht… « »Wovon sprichst du eigentlich?« krächzte Sonnenwolf, obgleich Verstehen in ihm dämmerte, obgleich sich irgendwo in ihm nun ein Vorhang hob, hinter dem ihn eine schreckliche Erkenntnis erwartete. Plötzlich wirkte das Gesicht Yirths sehr jung. »Sag mir Söldner – warum bist du zu einem Krieger geworden und nicht zu einem Schamanen deines Stammes?« Sonnenwolf starrte sie solange stumm an, wie man brauchte, um bis hundert zu zählen, verblüfft von der Wahrheit, die in ihrer Frage lag. Er dachte an seine Kindheit zurück, an Dinge der Schönheit und der Macht, von denen er sich angesichts seines spottenden Vaters abgewandt hatte. Mit einer Stimme, die ihm noch fremder in den Ohren klang als zuvor, erwiderte er leise: »Der alte Schamane 303
starb… lange vor meiner Geburt. Ich lernte nur einen Scharlatan kennen. Mein Vater…« Sonnenwolf konnte nicht weitersprechen und brach ab. Eine Zeitlang herrschte Stille. Dann sagte der Söldner: »Nein.« Er hob einen Arm, so als wolle er mit dieser Geste die Vorstellung von sich weisen, er sei etwas anderes als das, was bisher sein Leben bestimmt hatte. »Ich bin kein Zauberer.« »Was bist du dann?« fragte Yirth scharf. »Wenn du nicht mit der Macht geboren wärest, hätte dich das Anzid umgebracht. Es über raschte mich, daß du noch am Leben warst, aber ich glaubte, deine Zähigkeit sei der Grund dafür, deine körperliche Stärke. Eine andere Vermutung wäre mir bisher nie in den Sinn gekommen – obwohl mein Meister mir erzählte, die Große Prüfung könne nur jemand überstehen, der die Macht der Magie habe.« Kaltes Entsetzen regte sich in ihm. Mit trockenem Gaumen flüs terte Sonnenwolf: »Ich bin kein Zauberer, sondern Soldat. Mein Handwerk ist das des Kriegers. Ich will mit Magie nichts zu tun haben. Mein Leben ist der Kampf. Und Sternenfalke… « Er zögerte, weil er sich nicht ganz sicher war, was er von der Kriegerin hatte sagen wollen. »In meinem Alter kann ich mich nicht mehr ändern.« »Du hast dich bereits verändert«, stellte die Hexe bitter richtig. »Ob dir das nun gefällt oder nicht.« »Aber ich weiß doch gar nichts über die Künste der Zauberei«, wandte der Söldner ein. »Dann solltest du dich damit befassen und sie erlernen«, entfuhr es der Hexe, und ihre Stimme klang nun ungeduldig. »Denn glaub mir: Altiokis wird irgendwann davon erfahren, daß es einen Zauberer gibt, der die Große Prüfung ablegte. Die meisten von uns unterziehen sich erst der Ausbildung und der Prüfung erst dann, wenn wir die Kraft dazu haben, sie zu überstehen. Du hattest die Kraft – entweder aufgrund deines Lebens als Kämpfer oder weil die Magie, mit der du geboren wurdest, sehr stark ist, stärker als alles, was ich mir bisher vorzustellen vermochte. Solange du allerdings nicht weißt, worauf es ankommt und wie du deine Kräfte einsetzen mußt, hast du keine Chance, dem Zauberkönig die Stirn zu bieten.« Sonnenwolf ließ sich auf die Liege zurücksinken. Die Schmerzen in Armen und Beinen und die wunden Stellen an den Handgelenken – dort, wo zuvor die Metallspangen gesessen hatten und mit der Kette verbunden gewesen waren – verstärkten die Erinnerung an den 304
Zauberkönig. »Er wird mir vermutlich an jeden Ort folgen, an den ich zu fliehen versuche, nicht wahr?« fragte er düster. »Wahrscheinlich«, bestätigte Yirth. »So wie er meinen Meister Chilisirdin bis in den Tod jagte.« Sonnenwolf blickte in die Dunkelheit und musterte die Hexe. Das durch das Fenster fallende Licht hatte sich inzwischen weiter getrübt, und es war völlig finster. Doch Zauberer konnten auch in der Dun kelheit sehen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich bekam das umsonst, wofür du all deinen Besitz aufgegeben hättest. Und ich beklage mich auch noch darüber, weil ich es nicht wollte. Doch während ich auf wuchs, gab man mir immer wieder den Rat, mich von allen Arten von Magie fernzuhalten, und ich… ich fürchtete mich vor der Ma gie.« »Das solltest du auch«, erwiderte Yirth schroff. Etwas ruhiger fügte sie hinzu: »Noch nie wurde von einem Magier berichtet, der ohne Ausbildung die Große Prüfung ablegte. Du mußt die Domäne Altiokis verlassen, und zwar schnell. Und wenn du bereit bist, dich an meinen Rat zu halten, so mußt du so rasch wie möglich einen anderen Zauberer finden. Du kennst nicht das Ausmaß seiner Macht. Ohne eine Unterweisung und die Disziplin, die die Magie erfordert, bist du so gefährlich wie ein tollwütiger Hund.« Sonnenwolf lachte leise in der Finsternis. »Ich weiß. In meinem eigenen Handwerk habe ich das immer wieder erlebt. Ein junger Mann, der an den Waffen ausgebildet wird, ist zwischen dem vierten und zwölften Monat am gefährlichsten. Dann ist er zwar körperlich fit, doch seine geistige Entwicklung hinkt hinterher. Er hält sich für den besten Kämpfer der ganzen Welt und übersieht die Gefahr. Leu ten in diesem Alter muß eine Lektion erteilt werden, und Sternenfal ke, Ari oder ich nehmen sie gründlich in die Mangel, um sie davon abzuhalten, mit allen anderen Kämpfern der Truppe Streit anzufan gen. Wenn ein solcher Rekrut das erste Jahr überlebt, hat er alle Fähigkeiten, ein guter Soldat zu werden.« Er vernahm das gedämpfte Schnaufen der Hexe, das er, völlig zu Recht, als ein Lachen interpretierte. »Wenn ich daran denke, daß ich dich zu Anfang verachtete, weil du ein Krieger bist… «, sagte sie. »Während du hier versteckt bist, werde ich dich alles lehren, was ich weiß – bis wir dich aus Mandrigin fortbringen können. Aber du mußt einen echten Zauberer finden – jemanden, der seit Jahren im vollen Besitz seiner magischen Kräfte ist und die Wahrheiten versteht, die ich nur von der Theorie her kenne.« 305
»Ja, ich weiß, wie wichtig das ist«, entgegnete Sonnenwolf. »Und ich bin mir auch darüber im klaren, daß meine Tage als Söldner gezählt sind.« In diesem Augenblick stellte sich in aller Deutlichkeit die Vision ein, die er in der Grube gehabt hatte; noch einmal sah und spürte er, wie seine Hände verbrannten, als er sie nach der heißen Glut seiner Träume ausstreckte. Es schmerzte, sich vom bisherigen Leben abzu wenden, all das zu vergessen, was er viele Jahre lang angestrebt hatte, worauf er schon als kleiner Junge, der gerade ein Kinder schwert in der Hand halten konnte, stolz gewesen war. Diese Er kenntnis schuf eine graue Leere in ihm, bereitete ihm einen dumpfen Schmerz – so als habe er mit dem Schwert auch den entsprechenden Arm aufgegeben. Ari würde die Leitung der Streitmacht und der Kriegsschule in Wrynde übernehmen. Und Sternenfalke… Sonnenwolf sah auf. »Es gibt da eine Kriegerin, die hierher un terwegs ist«, sagte er. Er kannte die unerschütterliche Entschlossen heit Sternenfalkes, und obgleich er ihr im Traum den Rat gegeben hatte, die Suche nach ihm aufzugeben und umzukehren, wußte er doch, daß sie ihn weiterhin suchen würde. Stures Weibsbild! fügte er in Gedanken hinzu. Und laut sagte er: »Sie sucht nach mir. Sag ihr… « Was sollte Yirth ihr sagen? Daß er weitergezogen war, um einen erfahrenen Zauberer zu finden, in einer Welt, die seit Jahrzehnten abgesehen von Altiokis keine fähigen Magier mehr kannte? Daß sie ihm erneut folgen sollte? »Sag ihr, sie soll in Wrynde auf mich warten. Ich treffe vor dem Ende des Sommers dort ein. Sag ihr, ich gäbe ihr mein Wort, daß ich bis dahin zurückkomme.« Sonnenwolf zögerte kurz und stellte sich Sternenfalke in allen Einzelheiten vor, so klar und deutlich, als sei sie tatsächlich präsent. Er sah sie im Steingarten vor der Kriegsschu le. Zum letztenmal war er dort vor zwanzig Jahren im Sommer spa zierengegangen. »Sag ihr, was aus mir geworden ist«, schloß er leise. Der schiefe Mund Yirths verzog sich plötzlich und deutete ein dünnes Lächeln an. »Es ist eine weite Reise. Soll ich dich lehren, wie du diese Frau finden kannst?« Sonnenwolf bemerkte, wie Yirth auf seine Verwirrung reagierte, beobachtete das belustigte Schimmern in ihren Augen, und er grinste verlegen. »Wenn ich in meinem Alter wieder zu einem Schuljungen werden soll«, meinte er, »so ist es nicht verwunderlich, wenn ich ein entsprechendes Verhalten zeige.« 306
»Der Grund dafür, Söldner, besteht nur darin, daß es bisher keine Person gab, die dir in diesem Maße etwas bedeutete. Bis zu diesem Tag lag dir nur etwas an dir selbst.« Yirth sah ihn ruhig an. »Körper liche Beziehungen fallen in den Zuständigkeitsbereich von Frauen wie Bernsteinauge – um die des Herzens kümmere ich mich. Ich habe ebenso viele Liebeselixiere hergestellt wie Gifte und Verhü tungstränke. Alle die mich darum bitten, nennen mir ihre Gründe. Sie wollen aus eigenem Antrieb darüber sprechen. Ich zwinge sie nicht. Es gibt nichts, was ich in diesem Zusammenhang nicht schon gehört hätte. Und weißt du, Söldner, ich habe auch erlebt, wie Männer höhnen und spotten, wenn… wie soll man es nennen? Ein ehrbarer Bürger in gesetztem Alter plötzlich entdeckt, was es bedeutet zu lieben. Du weißt sicher ebenfalls, wie seine Mitmenschen darauf reagieren.« Sonnenwolf errötete bei dieser Vorstellung. »Aber wenn ein Mann, der von Kindesbeinen an ein emotionaler Krüppel war, im Alter von vierzig Jahren plötzlich geheilt wird, soll er dann nicht tanzen und jubeln und glücklich sein und die angebli che Würde seiner Jahre zum Teufel wünschen? Diejenigen, die höh nen und spotten, sind selbst Krüppel. Mach dir nichts draus.« Yirth strich sich das lange Haar über die Schultern zurück. »Möchtest du schlafen?« Sonnenwolf zögerte. »Wenn du selbst müde bist, ja«, erwiderte er. »Wenn das nicht der Fall ist, würde ich es vorziehen, in dieser Nacht von dir so viel wie möglich über mein neues Handwerk zu lernen.« Und daraufhin lachte Yirth – ein leises und trocken klingendes Glucksen, von dem der Söldner annahm, daß es zum erstenmal ein Mann hörte. »Ich kann dich ohnehin nicht allzuviel lehren«, sagte die Hexe. »Ich habe das Wissen, aber meine magischen Kräfte sind begrenzt.« »Könntest du stärker werden, wenn du die Große Prüfung ab legst?« Yirth zögerte, und in ihren Augen schimmerte Unsicherheit. Die Furcht, die sie plötzlich all die Jahre der Erfahrung vergessen ließ, machte sie wieder zu einem hageren, verbitterten und häßlichen jungen Mädchen. »Das sollte eigentlich der Fall sein«, gab sie schließlich zu. »Und ich werde lesen und soviel wie möglich lernen, bevor ich selbst Anzid einnehme – so daß ich Altiokis als eine Ma gierin im vollen Besitz ihrer Kräfte gegenübertreten kann, wenn 307
Sheera und Tarrin entscheiden, daß die Zeit für den Angriff gekom men ist. Bis dahin dürfen wir nicht mehr zuviel Zeit verstreichen lassen. Altiokis argwöhnt schon seit einer ganzen Weile, daß sich in Mandrigin eine Person befindet, die mit der Macht der Magie gebo ren wurde. Und nach der Prüfung dürfte es für mich noch schwerer sein, mich vor ihm zu verbergen. Was die Prüfung selbst angeht«, fuhr sie fort, »so glaube ich, daß meine Kräfte ausreichen, sie lebend zu überstehen. Seit dreißig Jahren, seit ich mir als Kind bewußt wur de, was ich bin, habe ich die Macht in mir gespürt, habe gefühlt, wie sie an den Mauern schabt und kratzt, die Körper und Geist als Bar riere gegenüber der Nutzung dieser Energien errichteten. Ich weiß, daß sie stark sind. Manchmal kam ich mir wie eine Frau vor, die mit einem Drachenkind schwanger ist und die ersten Wehen verspürt, ihre Leibesfrucht aber nicht zu gebären vermag.« Im Anschluß an diese Worte schwieg Yirth, und in der kühlen und nach getrockneten Kräutern duftenden Dunkelheit des Dach zimmers war nur ihr zischender Atem zu hören. Sonnenwolf konnte sie in der Finsternis ganz deutlich sehen. Er sah auch das Mädchen, das sie einst gewesen:… wie ein Baumschößling, der sich schutzsu chend an eine dicke Haltestange schmiegt, erste Knospen entwickel te, dessen Blüten darauf warteten, sich ganz zu entfalten, die einem Schicksal entgegenwuchsen, das ihnen bisher verwehrt geblieben war… Einem unheilvollen und häßlichen Schicksal obendrein, dach te Sonnenwolf. Er begriff nun, daß die Einschränkungen, die die Schönheit einer Frau auferlegten, weitaus angenehmerer Natur waren als die, die sich auf Häßlichkeit gründeten. Doch er sagte nur: »Zumindest weißt du, warum du leidest. Ich hatte keine Ahnung.« »Das macht es nur noch schlimmer«, hauchte Yirth. »Vielleicht«, meinte Sonnenwolf und richtete sich auf der schma len Liege auf. »Ich weiß nicht, ob es besser gewesen wäre zu wissen, einer bestimmten Zukunft beraubt worden zu sein – oder aufzuwach sen und zu versuchen, allen anderen Menschen und insbesondere dem Vater die Vermutung zu verheimlichen, den Verstand verloren zu haben.« Vor dem Hintergrund des grauen Fensters sah er, wie die Hexe ruckartig den Kopf drehte und ihn ansah. Sie antwortete mit leiser Stimme, in der nun nicht mehr der ge ringste Spott zu vernehmen war. »Ich sollte die Große Prüfung ei gentlich als ein Tor zur Freiheit sehen, einer Freiheit von allen Be 308
schränkungen, denen ich mich bisher fügen mußte – auch wenn es nur die Freiheit war, gegen Altiokis anzutreten und vielleicht zu sterben. Aber… ich habe dich gesehen, als wir dich aus der Grube holten, Söldner.« Dann wandte sie sich wieder von ihm ab, verbarg ihre Furcht vor dem Schmerz hinter einer Maske aus Schroffheit. Sonnenwolf dachte an die Krieger, die geflucht und nicht geweint hatten, als man ihre gebrochenen Knochen richtete. »Komm. Wenn du heute nacht von mir lernen willst, so sollten wir jetzt beginnen.« Fünfundzwanzig Jahre Soldatenleben hatten Sonnenwolf Diszip lin gelehrt. Er verstand sich zu konzentrieren und Müdigkeit von Körper und Geist zu verdrängen, wenn es um Wichtigeres ging. Als er sich während der dunklen Stunden unter der Anleitung Yirths in einem ihm völlig fremden Handwerk übte, war er sich die ganze Zeit über klar, daß es viele Monate oder gar Jahre dauern mochte, bis er einen anderen Lehrer fand. Ich kann dann schlafen, überlegte er, wenn ich mich auf den Weg gemacht habe. Eins der ersten Dinge, die Yirth ihn lehrte, waren die Zauber sprüche, mit denen sich das Bedürfnis nach Schlaf und Ruhe ver drängen ließen, und sie machte ihn auch mit den entsprechenden Drogen vertraut. Letztere kannte Sonnenwolf schon, wie die meisten Söldner. Das alles jedoch war nur erst der Anfang. Außer dem körperlichen Exerzieren gab es auch Übungen für den Geist und die Seele, ohne die man große Teile der magischen Kraft nicht verstehen konnte. Diese Übungen würden erst in ein, zwei oder auch in fünf Jahren ihren Nutzen bringen, wenn er jeden Tag medi tierte, sich mehr Praxis erwarb und die Kompliziertheit von Mathe matik und Musik erlernte, die ebenso Teil der Zauberei waren wie Drogen und Trugbilder. Einmal schwieg Yirth und musterte ihn über den langen Tisch hinweg, während ihre knochigen Hände auf den Pergamenten ruhten. »Du bist zweifellos der eifrigste Schüler, von dem ich je gehört habe«, meinte sie. »Als ich an diesem Punkt angelangt war, brach ich in Tränen aus und verfluchte meinen Meister. Ich haßte die Mathe matik.« Sonnenwolf lächelte schief und strich sich einige Strähnen des schweißfeuchten Haars aus der Stirn. »Mathematik war mir immer ein Buch mit sieben Siegeln«, gestand er ein. »Ich wußte genug über Wurfparabeln, um mit einem Katapult einen Stein über eine hohe 309
Mauer zu schleudern, aber dies hier…« Verwirrt deutete er auf das Gewirr aus Symbolen und Zeichen auf den vergilbten Diagrammen. »Es bleibt mir keine andere Wahl als zu versuchen, sie mir einfach einzuprägen und zu hoffen, daß sie irgendeines Tages einen Sinn für mich ergeben. Bei den Geistern aller meiner betrunkenen Vorfahren – jetzt kann ich mir noch keinen Reim daraus machen!« Yirth lehnte sich zurück und verzog das Gesicht. »Für einen Krieger nimmst du gewisse Dinge mit erstaunlicher Gelassenheit hin.« »Ich finde mich damit ab, daß du dieses Handwerk besser ver stehst als ich«, erwiderte Sonnenwolf. »Tatsächlich machte gerade dieser Umstand die Ausbildung der Amazonen Sheeras so leicht. Um Männer zu Söldnern zu machen, muß ich ihnen erst beweisen, daß ich stärker und fähiger bin als sie – und ich bin gezwungen, sie im mer wieder daran zu erinnern. Für Frauen hingegen spielt das keine Rolle.« Er zuckte mit den Schultern. »Das hat mich am meisten überrascht. Es ist geradezu ein Vergnügen, Frauen die Künste des Krieges zu lehren.« Yirth lächelte. »Um deiner Selbstachtung willen werde ich Shee ra nichts davon sagen. Aber da wir gerade dabei sind…« Mit einer Geste, die nicht nur den Diagrammen galt, sondern dem ganzen langen Zimmer, den Büchern, den Elixieren und Kräutern, den In strumenten, mit denen man die Gestirne beobachten konnte… »Es bereitet mir Freude, jemanden mit diesen Dingen vertraut zu ma chen, der bereits weiß, wie sehr es auf Disziplin ankommt. Gerade dieser Punkt fiel mir besonders schwer.« Und es war die Disziplin eines Kriegers, die Sonnenwolf die Kraft gab, die ganze Nacht über weiterzumachen. Als es bereits dämmerte, legte sich Sonnenwolf noch eine Stunde hin, in der Dach kammer mit den weißgetünchten Wänden, wo Yirth sich in den ver gangenen Jahren so vieler verzweifelter Mütter angenommen hatte. Doch der Söldner konnte keine Ruhe finden. Als die Hexe etwas später die Treppe herunterkam und ihr Arbeitszimmer betrat, traf sie Sonnenwolf dort an. Völlig reglos saß er am Tisch, ganz darauf kon zentriert, sich die ihm so wirr erscheinenden mathematischen Muster der Diagramme einzuprägen. Am folgenden Abend traf Sheera im Haus Yirths ein. Als sie Sonnenwolf ansprach, schloß er aus ihrem besonderen Tonfall, daß sie wußte, was mit ihm geschehen war. Wenn sie glaubte, sein Blick sei nicht auf sie gerichtet, entdeckte er in ihren Augen den Ausdruck 310
von dumpfer Furcht. »Altiokis hat sich heute morgen auf den Rückweg zu seiner Zita delle begeben«, berichtete sie und ließ sich müde auf dem mit Schnitzwerk verzierten X eines Klappstuhls nieder. Sie rieb sich die Augen, und Sonnenwolf vermutete, daß sie kaum mehr geschlafen hatte als er. Erst am Nachmittag hatte er ein kleines Nickerchen machen und ein wenig dösen können, doch zu keinem Zeitpunkt hatte sich die Anspannung in ihm ganz gelegt. Er mußte lernen, so viel Wissen wie möglich in sich aufzunehmen, bevor er seine strenge und doch so mitfühlende Lehrerin verließ. Es würde lange dauern, bis er einen anderen Zauberer fand, dessen Fähigkeiten auch nur an die Yirths heranreichten und bei dem er erneut in die magische Lehre gehen konnte. Und währenddessen würde Altiokis nach ihm suchen. »Drypettis teilte uns mit, der Finstere Adler habe die Anweisung bekommen, mit seinen Truppen in Mandrigin zu bleiben und dich zu jagen. Die Stadttore werden besonders bewacht. Und er hat zu viele Leute, als daß wir mit einigen Mädchen und Opiumphiolen etwas gegen sie unternehmen könnten.« »Ich finde schon einen Weg«, sagte Sonnenwolf. Yirth zog eine der buschigen Augenbrauen hoch. »Über Trugbilder kann man nur nach langer Praxis gebieten«, gab sie zu bedenken. »Andererseits: Ich bin nicht dazu in der Lage, mich unsichtbar zu machen – ich muß wie irgend jemand aussehen, nicht wie leere Luft. Du könntest es wirklich schaffen, den Wächtern zu entgehen, wenn du dich rasch bewegst und nichts unternimmst, was ihre Aufmerksamkeit auf dich lenken mag. Wenn dich erst je mand gesehen hat, kannst du nicht einfach verschwinden. Und ich weiß nicht, wie es dir gelingen soll, geschlossene Tore zu passieren, ohne zumindest den Argwohn der Wächter zu erwecken.« »Ich verlasse die Stadt beim Morgengrauen, wenn die Tore ge öffnet werden.« »Im Wald wartet ein Pferd auf dich«, warf Sheera ein. »Und in den Satteltaschen wirst du Goldstücke finden… « »Zehntausend?« fragte Sonnenwolf mit einem Hauch von Ironie, und Sheera errötete. »Ich danke dir«, fügte er sanfter hinzu. Sheera zögerte, stand dann auf, kam um den Tisch herum und legte ihm die Hände auf die breiten Schultern. »Ich möchte dir dan ken, Söldner – und dir sagen, daß es mir leid tut.« Sonnenwolf lächelte. »Sheera, es war nicht gerade ein Vergnü gen, deine Bekanntschaft zu machen. Aber ich bin froh, daß es so 311
kam, ebenso wie es mich freut, den Todeskampf in der Grube über standen zu haben. Kümmere dich gut um die Frauen.« »Ja.« In ihren Augen sah Sonnenwolf erneut jene feste Ent schlossenheit, mit der er vor vier Monaten konfrontiert worden war, in seinem Zelt vor den Mauern Melpliths. Doch das Feuer des Tem peraments, das in ihnen gelodert hatte, war zum größten Teil von den Erfahrungen und dem Bewußtsein ihrer eigenen Grenzen erstickt worden. Würdevoll beugte sie sich zu ihm herab und gab ihm einen Kuß. »Ich bedaure nur, daß ich nie versucht habe, dich zu verführen«, murmelte Sonnenwolf ihr zu, und mit einem gewissen Vergnügen beobachtete er, wie er mit diesen Worten den alten Zorn Sheeras wiedererweckte. »Wann wollt ihr die Bergwerke angreifen?« »In zwei Wochen«, antwortete sie, und es gelang ihr nur mit Mü he, eine scharfe Erwiderung auf seine vorherige Bemerkung hin zu verschlucken. »Wir geben Lady Wrinshardin Bescheid, auf daß es im Thaneland zu einem Aufstand kommt, mit dem wir Altiokis dazu bringen wollen, die Zitadelle zu verlassen. Bis dahin wird Yirth Gelegenheit dazu gehabt haben, selbst die Große Prüfung abzulegen und sich von den Folgen zu erholen. Tarrin…« »Weißt du, es tut mir leid, daß ich Tarrin nicht kennenlernen konnte«, sagte Sonnenwolf leise. »Es wäre ihm eine Ehre gewesen… « gab Sheera überrascht zu rück. »Das meine ich nicht. Ich habe immer wieder gehört, was er für ein toller Kerl sein soll, und ich wäre neugierig darauf gewesen fest zustellen, ob er wirklich zweieinhalb Meter groß ist und im Dunkeln leuchtet.« »Du… « fauchte Sheera, und Sonnenwolf griff nach ihrer Faust, die zum Schlag ausholte, lachte und küßte sie seinerseits. »Ich wünsche dir, daß du mit ihm glücklich wirst.« Er lächelte. »Sei vorsichtig, Sheera.« Am nächsten Morgen lag Mandrigin im Nebel. Hatte Yirth ihm dieses günstige Wetter beschert? Vor ihm ragte das Goldene Tor im schiefergrauen Zwielicht auf, wie der glänzende Rücken eines schlafenden Drachens. Sonnenwolf huschte lautlos durch die Schatten. Um sich herum hörte er die Ge räusche der erwachenden Stadt, begleitet vom Rauschen des Wassers in den Kanälen und dem Krächzen der Möwen im Hafen. Würde er irgendwann eine der Frauen von Mandrigin wiederse 312
hen? Ein solcher Gedanke war ihm noch nie zuvor beim Verlassen einer Stadt durch den Kopf gegangen. Er fragte sich, ob seine derzei tigen Gefühle auf die Veränderungen zurückgingen, die Sternenfalke in ihm bewirkt hatte, oder darauf, daß er nicht mehr zwanzig war, sondern vierzig. Vielleicht empfand er auch deswegen so, weil er sich nun als einsamer Flüchtling auf den Weg machte, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wohin er sich wenden sollte. Vor drei Tagen hatte er von dieser Straße aus einen Blick auf die dunklen Schrunde der Tchard-Berge gehabt. Jetzt waren sie im Nebel verbor gen, ebenso wie die Zitadelle Altiokis'. Hatte Sheera Erfolg, könnte er irgendwann nach Mandrigin zurückkehren. Wenn das nicht der Fall war – wenn Sheera und Tarrin eine Niederlage erlitten und ums Leben kamen –, so mußte er damit rechnen, von Altiokis bis ans Ende der Welt gejagt zu werden. Die Frauen von Mandrigin brauchten einen Zauberer, um den Sieg zu erringen. Sonnenwolf sah das Gesicht Yirths vor sich, sah die Besorgnis in ihren Augen, als sie gesagt hatte: »Ich habe dich gesehen, als wir dich aus der Grube holten.« Sie mußte sich nichts sehnlicher wün schen als die volle Entfaltung ihrer magischen Kräfte… Sonnenwolf zweifelte nicht daran, daß sie es schaffte, aber er verstand auch ihre Furcht. Würde ich mich freiwillig einer solchen Prüfung unterziehen, wenn ich wüßte, was sie bedeutet? Er war sich nicht sicher, wie er diese Frage beantworten sollte. Wie ein Schatten glitt er durch das neblige Zwielicht vor dem mit Wachtürmen versehenen Tor. Überall waren Soldaten stationiert. Der goldene Glanz der Fa ckeln in der Passage schimmerte auf dem polierten Metall ihrer Ket tenhemden. Das große Tor war noch immer geschlossen. Einige der unter dem Befehl des Finsteren Adlers stehenden Söldner befanden sich in unmittelbarer Nähe der Winde, die bald das Fallgitter heben würde. Weitere Soldaten vertrieben sich in einem gegenüberliegen den Bogengang die Zeit beim Würfelspiel. Sonnenwolf wich in den Schatten einer der Säulen zurück, die die Wachzinnen weiter oben abstützten. Er wartete. Nun konnte es nicht mehr lange dauern. Schon hörte er die Marktwagen, die auf der an deren Seite der Mauer ans Tor herangeschoben wurden und auf de nen die Bauern Obst und Gemüse in Mandrigin feilbieten wollten. In dem Durcheinander sollte es Sonnenwolf nicht schwerfallen, unbe 313
merkt nach draußen zu gelangen. Und doch… Er erinnerte sich an den Kampf…. wie ihn der Fins tere Adler überwältigt hatte… an das Trugbild, das ihn abgelenkt hatte. Im Getümmel der Schlacht konnte eine Verteidigungslinie relativ leicht durchbrochen werden. Und wenn die Frauen sich erst zur Flucht gewandt hatten, gab es kaum eine Hoffnung darauf, sie wieder zu einer Streitmacht zu sammeln. Hatte Altiokis den Kampf im Eisernen Paß auf diese Weise gewonnen? Mochte Sheera dazu in der Lage sein, mit der Hilfe Yirths diese Gefahr zu meiden? Sie hatte den Mut einer Löwin, aber sie war auch unerfahren – ebenso unerfahren wie Yirth, wenn es darum ging, es mit der Magie des Zauberkönigs aufzunehmen. Sonnenwolf sah einmal mehr den rothaarigen Sklaven aus dem Kerker vor sich, das glühende Etwas, das sich ihm durchs Auge ins Hirn gebrannt hatte. Wenn die Frauen Mandrigins eine Niederlage erlitten, so würde der Zauberkönig ihm nachstellen. In der Nähe des Feuers riß einer der Soldaten einen obszönen Witz, und die anderen Männer lachten. Von jenseits des Tores waren die Stimmen der Bauern zu hören. Der graue Dunst in der breiten Straße hinter ihm lichtete sich nach und nach. Sonnenwolf dachte an Sternenfalke, die nach ihm suchte, überlegte, wie sie reagieren mochte, wenn sie hörte, daß er kein Krieger mehr war, sondern ein Flüchtling, weder Zauberer noch Soldat, dazu verdammt, die ganze Welt zu durchstreifen. Und erneut dachte er an Altiokis. Ganz langsam drehte er sich um und machte sich auf den Rück weg. Blitzartig flammte in der Dunkelheit des Bogenganges bernstein farbenes Licht auf. Wie eine Hand aus sonderbar intensivem Schim mer fiel heller Glanz auf die Schulter Sonnenwolfs, und die Stimme des Finsteren Adlers knurrte: »Guten Morgen, Barbar.« Der Anführer trat aus dem Schatten hervor. In der einen Hand hielt er ein Schwert, in der anderen einen Spiegel. Sonnenwolf vernahm leises, stählernes Rasseln. Soldaten kamen hinter Säulen her zum Vorschein, verließen die Deckung von Zinnen und Wasserspeiern, eilten aus der Schwärze zwischen den Pfeilern der Wachhaustreppe. Er preßte sich mit dem Rücken an die Wand einer Nische, und sein überraschter Blick fiel auf Bögen, deren ge spannte Sehnen darauf warteten, Pfeile in seine Richtung schnellen zu lassen. Er ließ die rechte Hand sinken und wagte es nicht, nach 314
dem Schwert zu greifen. »Nein, nein, zieh die Klinge ruhig«, spottete Finsterer Adler. »Wirf sie hierher.« Als sich Sonnenwolf nicht rührte, fügte er hinzu: »Bist du erst verwundet und bewußtlos, kann ich mir dein Schwert selbst nehmen. Meinem Herren wird es nicht sonderlich gefallen, wenn du ihm verletzt vorgeführt wirst. Doch auf eins kannst du dich verlassen: Er wird dich in jedem Fall lebend bekommen.« Das Schwert fiel scheppernd aufs Pflaster. Finsterer Adler schnippte mit den Fingern, und einer seiner Soldaten eilte herbei und nahm die Waffe an sich. Der Anführer drehte den Spiegel hin und her, so daß er das Fa ckellicht reflektierte. Unter dem dunklen Metall des Helms glitzerte es hell in den Augen des Adlers. »Man wies uns daraufhin, daß du jetzt einige neue Tricks kennst. Du kannst die Augen eines Wächters täuschen, nicht aber ein Stück Glas. Heb die Arme in Schulterhöhe. Wenn du die Leute angreifst, die dich nun fesseln werden, so be kommst du das zweifelhafte Vergnügen, die Fragen meines Herrn Altiokis von einer Bahre aus beantworten zu dürfen. « »Wer hat dir gesagt, daß ich hierher komme?« fragte Sonnenwolf leise, als man ihm die eisernen Handspangen anlegte. Er schauderte bei der Berührung. Die Kraft von Zaubersprüchen haftete an den Schellen und Gliedern der anderthalb Meter langen Kette, die sich daran anschloß. Finsterer Adler lachte. »Mein lieber Wolf: Dein Geheimnis be steht darin, wie es dir gelang, über Magie zu gebieten; meins ist es, woher wir erfuhren, wo und wann du versuchen würdest, die Stadt zu verlassen. Frag deine von dir so verehrten Vorfahren danach. Du wirst ihnen bald begegnen, allerdings nicht so bald, wie du es dir wünschen magst.«
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19. Kapitel Lange bevor sich im grauen Nebel die Konturen der Reiter ab zuzeichnen begannen, hatte Sternenfalke das Hufgetrappel gehört. Sie befanden sich in offenem Gelände, in der Region der Stoppelfel der, unweit der Mauern Mandrigins. Die Reiter müssen es sehr eilig haben, dachte sie. Die Kriegerin schob sich über das braune schlammige Gras ne ben der Straße, ließ sich in den Graben gleiten und duckte sich in das Gewirr aus grauem und mit Spinnenweben durchsetztem Efeu, dicht oberhalb des eiskalten Wassers. Gestern noch hatte sich auf diesem Wasser eine dünne Eisschicht gezeigt, doch jetzt war es etwas wär mer geworden, und in einigen wenigen Wochen würde der Frühling den Winter ablösen. Von den Hufen der Pferde davongewirbelte Kieselsteine regneten um Sternenfalke herum in den Graben. Sie hörte das leise Knistern von Kettenhemden, das Klirren von Waffen und das Knarren von Leder. Es mußten fünfzehn bis zwanzig Reiter sein. Am vergange nen Tag hatte sie dort, wo der lange Handelsweg von der Buchten küste auf die Straße traf, die nach Mandrigin und weiter nach dem Eisernen Paß führte, die Spuren einer ziemlich großen Streitmacht gesehen, die von der Zitadelle nach der Stadt gezogen war – und auch die einer kleineren Gruppe, die sich offenbar erst vor wenigen Stunden auf den Rückweg nach Grimmwall gemacht hatte. Anderer seits jedoch waren auf dieser Straße auch Bauern unterwegs, die in Mandrigin Feldfrüchte verkauften. Das bedeutete, daß die Stadt nicht belagert wurde. Sternenfalke preßte sich in das dornige Dickicht im Graben, hör te, wie die Reiter vorbeizogen und sich entfernten. Sie überlegte sich, was sie machen sollte, wenn sie in Mandrigin eintraf. Die Suche nach Sonnenwolf fortsetzen? Er hatte ihr mitgeteilt, er läge im Sterben. Mich an Sheera Galernas wenden? Die Geister der Vorfahren mögen dem armen Kerl helfen, erin nerte sie sich an die Worte Sonnenwolfs, der es mit ihr zu tun be kommt. Sie erinnerte sich nun auch wieder an die Vision, an die schmerzhafte Verwirrung, an Elend, Kummer und Verzweiflung – und gleichzeitig an einen sonderbaren, tiefen Frieden. Es war kein 316
Fehler gewesen, daß sie sich in Sonnenwolf verliebt und auf die Suche nach ihm begeben hatte. Aber sie hatte zuviel Zeit verloren… war um eine halbe Woche zu spät gekommen. Und jetzt war Sonnenwolf tot. Sternenfalke sah sein schmerzverzerrtes Gesicht vor sich, fühlte noch einmal das warme Blut auf seinen Händen. Welches Schicksal hatte er in Mandrigin erlitten? Hat Altiokis ihm das angetan? Er sagt, er liebt mich ebenfalls. Nach der Nacht ihrer Vision kämpfte Anyog noch drei Tage lang gegen den Tod und versank dabei immer mehr und mehr in den Tie fen des Deliriums. Zunächst murmelte er immer wieder von dem Loch, von Altiokis, von den Geistern, die im sonnenlosen Schatten reich zwischen den Welten lauerten. Sternenfalke pflegte ihn, so gut sie es vermochte, und dann und wann mußte sie auf die Jagd gehen; es blieb ihr keine Zeit für andere Dinge, keine Zeit dazu, sich zu fragen, ob es überhaupt noch einen Sinn hatte, die Suche fortzuset zen. Als Anyog gestorben war, begrub sie ihn im Birkengehölz am Ende des Tals, mit der Schaufel, die sie in der Kammer fand, in der der Kapellenhüter gewohnt hatte. Die Kriegerin weinte am Grabe des alten Mannes, und sie schämte sich ihrer Tränen nicht – vielleicht weil Anyog sie geliebt hatte, vielleicht auch deswegen, weil durch den Tod Sonnenwolfs eine letzte Barriere in ihrer Seele eingestürzt war; oder möglicherweise deswegen, so fuhr es ihr nicht ohne eine gewisse Verbitterung durch den Sinn, weil sie weich und sentimental geworden war. Das Weinen mochte einst Zeitverschwendung gewe sen sein, doch nun hatte sie Zeit genug. Und die Tränen kamen einer Arznei gleich, die den Schmerz aus ihrer Seele wusch. Das Getrappel verklang in der Ferne. Sternenfalke richtete sich wieder auf und strich sich das feuchte Efeu von der Wildlederhose und den gefütterten Ärmeln ihres inzwischen recht schmutzigen schwarzen Mantels. Es blieb ihr kaum etwas anderes übrig, als den Weg nach Mandrigin fortzusetzen, Sheera Galernas aufzusuchen und sie zu fragen, warum und insbesondere wie sie einen erfahrenen und sicher nicht sonderlich kooperationswilligen Söldnerführer entführt hatte – und was aus ihm geworden war. Die Frauen auf dem Marktplatz, die Sternenfalke nach Sheera fragte, starrten verwirrt auf den Schwertgürtel und den mit Messing spangen bedeckten Wams der Kriegerin, gaben ihr aber bereitwillig 317
Auskunft. Das Haus Sheera Galernas' lag auf einer kleinen Insel, wie so viele andere der prächtigeren Gebäude der Lagunenstadt. Vom Zugang der Gasse aus, die nicht weit entfernt am Kanal endete, be trachtete Sternenfalke den verzierten Marmor der Fassade. Von ge schickten Steinmetzen hergestellte Gitterwerke aus Skulpturen, klei nen Figuren und symbolhaften Darstellungen schmückten die Arka den, rote und purpurne Seidenbanner – die gold- und silberfarbenen Stickereien glitzerten trübe, als sich der Morgennebel langsam lich tete – stellten Streifen aus bunten Farben vor dem eher ernsten Schwarz und Weiß des Marmors dar. Zwei Gondeln schaukelten vor der Treppe auf dem Kanal – und es erstaunte die Kriegerin, daß diese Frau schon zu so früher Stunde Besuch hatte. Sternenfalke folgte dem schmalen hölzernen Steg, der sich am Rande des Kanals entlang erstreckte und an einer kleinen geschwun genen Brücke endete, über die man in das Gassenlabyrinth der nächsten Insel gelangen konnte. Es fiel ihr hier nicht leicht, sich so zu orientieren, wie sie es gewöhnt war, denn die hohen Wände der dicht an dicht stehenden Häuser verwehrten ihr den Blick auf das Dach des Gebäudes, in dem Sheera lebte. Mehrmals mußte sie um kehren, einen neuen Weg einschlagen, doch schließlich gelang es der Kriegerin, sich ihrem Ziel zu nähern. Von dem Laufsteg aus, der an der Wand der öffentlichen Wäscherei entlangführte, konnte sie die kleine Insel beobachten. Dort gab es erstaunlich viel freien Platz, und Sternenfalke schloß, daß Sheera Galernas tatsächlich sehr reich sein mußte. Hinter dem Haus erstreckte sich ein ausgesprochen gepflegter Garten, der jetzt zwar einen etwas öden Eindruck erweckte, in dem während des Frühlings jedoch sicherlich Hunderte von Blumen blüh ten. Es folgte eine große überdachte Orangerie und eine Reihe offen bar neu errichteter und mit gläsernen Schutzflächen versehener Hüt ten. Daran schlossen sich Ställe und ein Gebäude an, bei dem es sich um einen Vergnügungspavillon oder ein Badehaus zu handeln schien. Sternenfalke fiel auf, daß es ungewöhnlich viele Zugänge gab, durch die man jenen Ort erreichen konnte. Sie machte eine Bewegung in der Gasse einer der nahen Inseln aus. Schnell wich sie in den Schatten zurück und preßte sich an die nicht geglätteten Ziegelsteine der hohen Wäschereimauer. Eine sich immer wieder umsehende Gestalt hastete die wenigen Stufen der Treppe herab, die vom Ende der Gasse an den Kanal führte. Sternen falke stand auf dem Laufsteg darüber, rührte sich nicht und sah, wie 318
die Frau – denn es war eine Frau, gekleidet in einen schwarzen Um hang – an die Kellertür des letzten Hauses der Gasse herantrat. Dort holte sie eine Planke hervor, um den Kanal zu überbrücken und sich einem kleinen Tor in der Rückwand des Hauses Sheeras zu nähern, einer Tür, die den Eindruck erweckte, als sei sie schon seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden. Trotzdem schien sie nicht versperrt zu sein, und wie die Kriegerin bemerkte, quietschten nicht einmal die Angeln. Die Frau zog die Planke ans andere Ufer, öffnete die Tür und trat ein. Neugierig geworden, kletterte Sternenfalke die wackelige Treppe hinunter, eilte durch die Gassen und näherte sich der Stelle, an der sie zuvor die Frau gesehen hatte. Die Kellertür war nicht verschlos sen, und in dem dunklen feuchten Raum fand sie gleich mehrere Planken vor. Nachdenklich kehrte Sternenfalke in die Gasse zurück, die direkt am Kanal endete, etwa einen halben Meter über dem Wasser. Die Steine des Pflasters waren uneben, glitschig und mit Moos bewach sen. Sie vermutete, daß an diesem Ort des öfteren Nachttöpfe entleert wurden. Als sie um die Ecke des großen Hauses hinter ihr sah, fiel ihr Blick auf die Rückwände aller anderen Gebäude an der Kanal front. Frauen waren gerade damit beschäftigt, Betten auszuschütteln und über die Brüstungen improvisierter Balkone zu legen, um sie zu lüften. Jemand schüttete einen Eimer Schmutzwasser in das trübe Grün. Einige Häuser wiesen Türmchen auf, und an den Wänden darunter ließen deutliche Moosflecken auf die Funktion schließen, die den entsprechenden Kammern zukam. Ein recht ruhiger Ort, dachte Sternenfalke und richtete den Blick wieder auf die Tür in der gegenüberliegenden Mauer. Es handelte sich dabei nicht um einen gewöhnlichen Küchenzugang – der war etwas weiter entfernt zu sehen: ein zweiflügeliges Tor, vor dem sich eine kleine Anlegestelle für die Gondeln von Lieferanten befand. Die Kriegerin sah sich noch einmal wachsam um und holte dann eine Planke aus dem Keller, so wie zuvor die andere Frau. Sie reichte gerade vom Ende der Gasse bis an die Türschwelle auf der anderen Seite des Kanals. Sternenfalke stellte fest, daß alle Planken die glei che Länge hatten. Sie zog ihr Schwert, vergewisserte sich noch ein mal, daß sie nicht beobachtet wurde und ging ans andere Ufer. Die Hintertür war nach wie vor nicht versperrt. Unmittelbar da hinter wuchsen einige Lorbeerbüsche, die den Blick auf das Haupt haus verwehrten. Niemand hielt sich hier auf. 319
Sternenfalke zog die Planke zu sich heran und fügte sie den drei Brettern hinzu, die bereits unter den Büschen versteckt lagen. An diesem Ort wuchs kein Gras auf dem zertretenen Boden. Offenbar wurde der Hintereingang also wesentlich öfter genutzt, als es den Anschein hatte. Nun, Sheera mußte natürlich davon wissen. Also eine Art Ver schwörung. Aber ob sie dazu in der Lage gewesen war, Sonnenwolf auf ihre Seite zu ziehen… Sternenfalke schlich lautlos um die Lorbeerbüsche herum – und blieb ruckartig stehen, überrascht von dem Anblick, der sich ihren Augen darbot. Der Garten war leer. Die braunen, sorgfältig beschnittenen He cken bildeten ein komplexes Muster, das erst vor der fernen Terrasse des Haupthauses endete. Doch in einer Ecke hatte sich erst vor kur zem jemand große Mühe gegeben, abseits des gejäteten Beetes ein Stück gehüteter Wildnis zu bewahren, und die dortigen Steine sahen aus wie die Knochen der schlafenden Erde, die darauf warteten, erneut von der Vegetation umhüllt zu werden. Ganz zweifellos hatte Sonnenwolf die Steine so angeordnet. In dieser Beziehung war sich Sternenfalke völlig sicher, denn in der Formgebung erkannte sie seinen charakteristischen Stil. Den Grund für diese Überzeugung vermochte sie nicht genau zu bestim men, denn die besondere Ästhetik von Steingärten hatte sie erst durch Sonnenwolf schätzen gelernt. Vielleicht war es die Gewißheit von Leuten, die sich ein Gemälde ansahen oder eine Melodie anhör ten und dann sagten: ›Dieses Werk wurde von dem und dem Künst ler geschaffen‹. Die Kriegerin in Sternenfalke stellte fest: Er war also hier. Doch in einem anderen Teil ihres Selbst begann ein dump fer Schmerz zu pochen, so als habe sie seinen Handschuh oder Dolch gefunden. Und dann, nur einen Sekundenbruchteil später, kam ihr eine an dere völlig absurde Vermutung in den Sinn: Ich wußte ja, daß gute Gärtner heutzutage nur schwer zu finden sind, aber das hier… Sie hatte dem Söldnerführer in Wrynde des öfteren geholfen, und daher wußte sie, daß das Anlegen solcher Steingärten viele Tage, wenn nicht Wochen dauerte. Wäschedampf trieb in dichten Schwaden über die braunen Beete des Gartens. Der sanfte Wind trug ihr Stimmen zu. Eine hohe und zwitschernde Stimme beharrte: »Ich sage es noch einmal: Er hat all das in Erfahrung gebracht, was er wissen wollte! 320
Es besteht keine Gefahr! Er sucht nach Männern, und er sucht im Thaneland nach ihnen… « Zwischen den dünnen weißen Zweigen der Zierbirken sah Ster nenfalke zwei Personen die Terrassenstufen herunterkommen – eine schwarzhaarige Frau, gekleidet in Purpur und einen Zobelpelz, in den bis auf die Schultern reichenden Locken Amethyste – und eine kleine und seltsam kindlich wirkende Gestalt, die sich an ihrer Seite hielt und viel zuviel Schmuck trug. Die schwarzhaarige Frau erkannte sie sofort als Sheera Galernas wieder. »Das wissen wir nicht«, sagte Sheera. Und die kleinere Frau meinte: »Doch! Ich weiß es. Ich habe ge hört, wie sie darüber sprachen. Altiokis ist nicht daran interessiert, ihn zu verhören. Und Tarrin meint… « »Tarrin kennt die hiesige Situation nicht.« Die kleine Frau wirkte verblüfft. »Natürlich kennt er sie! Du hast ihn doch dauernd auf dem laufenden gehalten… « »Um Himmels willen, Dru, er müßte selbst hier sein, um die La ge zu begreifen!« Die beiden Frauen traten durch die Tür der Orangerie. Noch wäh rend sie sich hinter ihnen schloß, konnte Sternenfalke sehen, daß sich dort weitere Frauen befanden. Wen, so fragte sie sich, hatte Altiokis gefangengenommen, um ihn zu verhören – oder auch nicht, wenn man der kleinen Begleiterin Sheeras glauben wollte? Sie erinnerte sich an die Reitergruppe auf der Straße, der nun eine andere Bedeutung zukam. Das Interesse der Kriegerin war geweckt. Vorsichtig schlich sie über die freie Fläche, die sie von der Orangerie trennte. Sie schob sich an der Wand ent lang, bis sie ein offenes Fenster fand, durch das sie in einen Neben bau gelangte, in dem sich niemand aufhielt. Die Frauen in der holz vertäfelten Halle waren viel zu sehr auf sich selbst konzentriert, um das Geräusch der leisen Schritte Sternenfalkes zu hören. Sonnenwolf hatte sich an diesem Ort aufgehalten. Als sich die Kriegerin in dem Halbdunkel umsah, war sie sich in diesem Punkt ganz sicher. Er war hier gewesen und hatte hier gearbeitet. Sternen falke kannte die Art und Weise viel zu gut, in der er sich die Werk zeuge in seinem Arbeitsschuppen in Wrynde zurechtlegte, als daß sie hätte annehmen können, jemand anders habe all die rätselhaften Arzneien für die Heilung kranker Pflanzen so anordnen können wie er. 321
Aber… die ganze Sache ergab doch einfach keinen Sinn. Heilige Mutter, hatte Sheera ihn wirklich nur deswegen entführt, damit er sich um ihren Garten kümmerte? Und warum – und wie – war er Sternenfalke im Traum erschienen? Und wie und warum war er gestorben? Die Hand der Kriegerin schloß sich fester um den blan ken Knauf ihres Dolches. Wenigstens darauf wird mir Sheera Ant wort geben müssen. Und wenn sie für all das verantwortlich ist… Sternenfalke rief sich selbst zur Ordnung. Sie hatte in den ver gangenen Jahren des öfteren Erfahrungen mit dem plötzlichen Tod sammeln können, und deshalb war es sinnlos, Drohungen zu formu lieren, sei es auch nur in Gedanken. Es war durchaus möglich, daß Sonnenwolf selbst um sein Ende gebeten hatte. Tatsächlich hätte das sogar seinem Wesen entsprochen. Sternenfalke preßte das Ohr an die Tür. Aus dem Stimmengewirr löste sich das hohe und vibrierende Zwitschern der kleinen Frau namens Dru, die immer wiederholte, es drohe keine Gefahr. Sternenfalke fand ein winziges Astloch im Holz der Tür und sah eine zierliche blonde Frau, aus der es ungeduldig herausplatzte: »Hör doch endlich damit auf, Dru!« Dru wirbelte herum und fauchte sie an: »Wenn du es noch einmal wagen solltest, so zu mir zu sprechen…« Dann bemerkte sie den tadelnden Blick Sheeras und hielt ein, während sich auf ihren Wan gen rote Flecken der Empörung bildeten. »Was meinst du dazu, Bernsteinauge?« wandte sich Sheera an eine andere Frau. Sternenfalke hatte die Betreffende schon zuvor bemerkt: ein schlankes Mädchen, etwa im Alter Kitz', das fast schüchtern neben einer großen muskulösen Frau stand. Beim Klang ihrer Stimme je doch bemerkte die Kriegerin, daß ihre Unsicherheit nur scheinbar war; eine erstaunliche Kraft kam in ihren Worten zum Ausdruck. »Es stimmt schon«, sagte sie. »Wir wissen nicht, wo Tarrin und die anderen Führer des Widerstandes in den Bergwerken derzeit arbeiten. Aber Kobra und Irrerot sind ebenso wie ich in allen Teilen der Minen gewesen, und wir haben Karten angefertigt. Wir finden zu den Waffenkammern, den nach der Zitadelle führenden Passagen und den Lagern, in denen das Schwarzpulver aufbewahrt wird. Es gibt genug davon, um die halbe Zitadelle in die Luft zu jagen, wenn wir es an den richtigen Stellen zur Explosion bringen. Und man braucht keine Magie, um es zu zünden, nur eine Lunte.« »Und was ist, wenn er bereits alles verraten hat?« warf ihre 322
Freundin ein. »Altiokis könnte ihn tatsächlich verhören – und nach dem Bericht Drus hat der Zauberkönig auch die Möglichkeit, einen Mann zum Reden zu bringen. Vielleicht ist der Gegner jetzt gerade damit beschäftigt, einen Hinterhalt für uns vorzubereiten.« »Ich sage euch… « begann Dru in ihrem fast schrillen Tonfall. Und vom dunklen Eingang des Nebenzimmers her sagte Sternen falke: »Wenn das der Fall ist, solltet ihr besser sofort zuschlagen.« Alle Blicke richteten sich auf sie. Die Frauen von Mandrigin wa ren so überrascht, daß keine von ihnen einen Laut von sich gab, als die Kriegerin aus den Schatten ins Licht trat. Aber ihr Erstaunen hinderte sie nicht daran, so zu reagieren, wie sie während der ver gangenen Monate gelernt hatten: Drei von ihnen setzten sich sofort in Bewegung, um Sternenfalke den Weg abzuschneiden. Sheera Galernas musterte sie mit gerunzelter Stirn. Sie wußte, daß sie sich schon einmal begegnet waren, und sie versuchte nun, die Fremde irgendwie einzuordnen. »Wenn euer Freund euch tatsächlich verrät«, fuhr die Kriegerin fort, »so geratet ihr in Gefahr, wenn ihr wartet.« »Wir könnten die Stadt verlassen… « schlug jemand vor. Eine schmächtige Frau im Gewand einer Nonne fragte: »Glaubt ihr etwa, Altiokis würde uns nicht jagen, wenn er erfährt, wer und was wir sind?« Sternenfalke hakte den Daumen hinter den Schwertgürtel und beobachtete die Gruppe. »Natürlich geht mich die Sache eigentlich nichts an«, sagte sie, überrascht darüber, wie leicht es ihr fiel, wieder in die Rolle der Kommandantin zu schlüpfen. Die Art und Weise jedoch, wie die Frauen ihr zuhörten, ließ darauf schließen, daß sie die Autorität der Kriegerin anerkannten. »Ich bin nur hierher ge kommen, um mit Sheera Galernas zu sprechen.« Aus den Augen winkeln sah sie, wie Sheera zusammenzuckte, als sie sich wieder erinnerte. »Aber wenn es sich bei eurem Freund um denjenigen han delt, der von der Eskorte, der ich heute morgen begegnete, fortge bracht wurde, so rate ich euch, sofort anzugreifen. Vorausgesetzt natürlich, ihr bezweifelt, daß er die Kraft hat, einem Verhör zu wi derstehen.« »Er ist stark genug«, murmelte die kleine Blonde. »Sie werden die Zitadelle nicht vor heute nachmittag erreichen«, fügte Sternenfalke hinzu. »Das bedeutet, ihr habt noch ein oder zwei Stunden Zeit, um einen Plan zu entwickeln. Es kommt ganz darauf an, wie zäh euer Freund ist.« 323
Sie beobachtete, wie die Frauen Mandrigins rasche und fragende Blicke wechselten. Sternenfalke hatte schon mehrmals die Erfahrung gemacht, daß Frauen dazu neigten, die Widerstandskraft eines Man nes der Folter gegenüber zu hoch anzusetzen – so wie Männer die von Frauen in der Regel unterschätzten. Das schien auch hier der Fall zu sein. Offenbar zweifelte nur Sheera. An sie gerichtet sagte die Kriegerin: »Ich möchte euch eigentlich nicht wertvolle Zeit steh len, die ihr dazu braucht, um euch auf den Kampf vorzubereiten. Aber später sollten wir uns über einige Dinge unterhalten.« Sheera begegnete ihrem Blick, und sie verstand und nickte. Eine größere Frau, deren zerklüftetes Gesicht einer Maske der Häßlichkeit gleichkam und die sich bisher abseits gehalten hatte, meldete sich zu Wort. »Er sagte, es käme eine Frau, die auf der Suche nach ihm ist.« Sie sprach mit einer leisen melodischen Stimme. Ihre grünen Augen erinnerten die Kriegerin an die Farbe des Meeres. »Bist du diese Frau?« Sternenfalke brauchte nicht erst zu fragen, wer mit ›er‹ gemeint war. Sie erwiderte: »Ja, die bin ich.« »Und wie lautet dein Name?« »Sternenfalke.« Kurzes Schweigen schloß sich an. »Er hat von dir gesprochen«, sagte die herrlich klingende Stimme. »Wir heißen dich willkommen. Ich bin Yirth.« Sie trat vor und streckte der Kriegerin eine knochige Hand entgegen. »Er bat mich darum, dir zu sagen, was aus ihm ge worden ist.« »Ich kenne sein Schicksal«, entgegnete Sternenfalke bitter. Die Frauen Mandrigins beobachteten sie still und aufmerksam, waren sowohl über ihre Anwesenheit als auch darüber erstaunt, daß Yirth sie erwartet hatte. Für sie mußten die Worte rätselhaft sein, doch niemand bat um eine Erklärung. Die in der Orangerie herrschende Spannung war fast körperlich spürbar. »Ich weiß, daß er starb«, sagte Sternenfalke. »Ich möchte nur wissen, wie und warum.« »Nein«, erwiderte Yirth leise. »Er starb nicht. Er ist jetzt ein Zauberer.« Die Verblüffung hinderte Sternenfalke daran, darauf eine Ant wort zu geben. Sie starrte Yirth groß an. Am Rande bemerkte sie, daß ihre Überraschung fast alle anderen Frauen teilten. »Und der Gefangene Aktiokis'«, fügte Yirth hinzu. »Außerdem glaube ich«, sagte Sheera, und ihre Stimme war 324
plötzlich so scharf und schneidend wie die Klinge eines Schwertes, »daß Altiokis' Söldner ganz genau gewußt haben müssen, wann und wo er versuchen würde, die Stadt zu verlassen.« Sternenfalke drehte sich um, und ihr Blick glitt von Gesicht zu Gesicht. Es waren gebräunte Gesichter, wie sie feststellte. Gesichter, die oft dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Und bei einigen Frauen entdeckte sie auch die Narben, die sie während des Exerzierens da vongetragen hatten und unter Schminke zu verbergen suchten. Hüb sche Gesichter waren es, auch schlichte und weniger auffällige – doch nirgends zeigte sich Furcht in den Zügen. »Sternenfalke hat recht«, fuhr Sheera leise fort. »Wir dürfen nicht länger warten und müssen jetzt zuschlagen. « Drypettis zupfte an den Spitzen ihres Ärmels. »Sei doch nicht dumm!« rief sie. »Weißt du denn, wie viele Soldaten sich derzeit in Grimmwall befinden?« »Eintausendfünfhundert weniger als noch vor einer Woche«, gurrte eine rothaarige Frau, die die billige und protzige Seide einer Prostituierten trug. »Und Altiokis!« schrie die kleine Frau. »Und Altiokis«, bestätigte Sheera. Sie wandte sich an Yirth, die noch immer vor Sternenfalke stand. »Kannst du es schaffen, Yirth? Bist du bereit, den Kampf gegen ihn aufzunehmen?« Yirth schüttelte den Kopf. »Ich kann euch an den Trugbildern vorbeiführen«, sagte sie, »und euch teilweise vor den magischen Fallen schützen, mit denen er die Passagen von den Bergwerken zur Zitadelle gesichert hat. Bei meiner Zauberei jedoch handelt es sich um Wissen ohne die Große Macht – im Gegensatz zu der des Söld ners, die zwar aus Macht besteht, der es jedoch an dem Wissen man gelt, wie man damit umgeht. Angesichts der Kräfte Altiokis' sind wir gleichermaßen hilflos, obwohl der Söldner stärker ist als ich. Aber wie ich die Lage sehe, bleibt weder mir noch euch eine Wahl. Ent weder wir schlagen jetzt zu, gut vorbereitet oder nicht, oder wir finden uns gleich mit der Niederlage ab.« »Seid doch nicht dumm!« ereiferte sich Drypettis hysterisch. »Ihr macht einen großen Fehler, wenn ihr euch jetzt zu einer übereilten Aktion hinreißen laßt! Altiokis ist nicht auf Informationen aus. Er will allein den Tod Sonnenwolfs! Ich weiß es – ich hörte, wie Stirk und der Söldnerführer des Zauberkönigs darüber sprachen. Wenn wir jetzt angreifen, bevor Yirth eine Gelegenheit hatte, die für den magi schen Kampf nötigen Kräfte zu erlangen, bevor wir uns mit Tarrin 325
absprechen können, bringen wir alles in Gefahr!« »Und wenn wir warten«, erwiderte die Güldene scharf, »stirbt Sonnenwolf.« »Er hätte uns alle sterben lassen!« hielt Drypettis entgegen, und in ihren Augen blitzte unbändiger Zorn. »Selbst diejenigen von euch, die er zu seinen Schlampen machte!« Shorad hob die Hand zum Schlag, doch mit einer sonderbaren, sehr geübt wirkenden Eleganz griff eine ebenso zierlich gebaute Frau hinter Shorad nach ihrem Arm. Drypettis begann am ganzen Leib zu zittern, und ihr Gesicht war kalkweiß. Die roten Flecken der Wut sahen aus wie fehlerhaft aufgetragenes Rouge. »Man brachte ihn gegen seinen Willen hierher, Dru«, sagte Shee ra kalt. »Und was die anderen Dinge betrifft: Sie gehen dich kaum etwas an.« Die junge Frau drehte sich abrupt um, wodurch ihr extravaganter Schmuck klirrte und die vielen Seidenschleier wehten. »Sie gehen mich doch etwas an!« schrie sie, und in ihren Augen loderten die Flammen eines Feuers aus Scham und Entrüstung. »Gerade mich gehen sie etwas an! Wie soll das Gute und Anständige in dieser Stadt triumphieren, wenn es sich auf das Niveau seiner Feinde herabbe gibt, um den Sieg zu erringen? Wie sollten wir den Männern gege nübertreten, die wir befreien wollen, wenn wir dazu zu Dirnen wer den? Und genau das hat der Söldner aus uns gemacht. Er hat uns alle entwürdigt. Uns entwürdigt? Mehr noch: Er hat uns dazu gebracht, uns selbst zu entwürdigen, indem er uns einredete, wir müßten dazu bereit sein, für den Sieg jeden Preis zu bezahlen! Wir hätten uns über die Verwerflichkeiten um uns herum klarwerden sollen, bevor er uns zu schmutzigen und lasterhaften Soldatinnen machte, so wie… wie… « – sie hob die Hand und deutete mit bebenden Fingern auf die überraschte Sternenfalke – , »…wie seine Nutte dort!« Im Anschluß daran veränderte sich die Stimme Drypettis', und schmeichelnd fuhr sie fort: »Du bist des Prinzen würdig, Sheera, bist würdig, den König Mandrigins zu heiraten und Königin zu werden. Und ich hätte dich bei diesem Bemühen unterstützt, dir alles dafür gegeben, meinen Reichtum, die Ehre der ältesten und vornehmsten Familie der ganzen Stadt! Ich wäre sogar bereit gewesen, mein Le ben dafür zu lassen. Mit Freuden hätte ich Opfer gebracht, doch mußte ich miterleben, wie du all das, was wir schätzen, dem Willen eines derartigen Mannes unterordnest – wie du das Ideal der Anstän digkeit und Würde in abscheuliches Exerzieren verwandelst, wie 326
daraus stinkender Schweiß und Flüche und Heimlichtuerei wur den…« Sheera trat vor, umfaßte die schmalen Schultern der hysterischen Frau und schüttelte sie heftig. All die vielen so übertrieben protzig wirkenden Ketten und Anhänger und Broschen klirrten und rassel ten, und unter den Schleiern kamen zerzauste Strähnen braunen Haars zum Vorschein. Sheera rüttelte Drypettis, bis sie beide außer Atem waren. In ihren Augen funkelte kalter Zorn: »Du hast ihn ver raten.« »Um deinetwillen«, kreischte Drypettis. »Ich mußte erleben, wo zu der Einfluß dieses Mannes führen kann. Du bist des Prinzen wür… « »Sei still«, sagte Sheera leise. »Und setz dich.« Die junge Frau kam der Aufforderung nach und sah still zu ihr auf. Tränen der Wut strömten ihr übers Gesicht. Sternenfalke be merkte die seltsame Fixiertheit des Blickes Drypettis'. Man hätte meinen können, es gäbe nur Sheera für sie, als bestünde ihre einzige Realität aus der Frau mit dem schwarzen Haar. Offenbar war ihr nicht bewußt, daß sie sich in der Anwesenheit von rund fünfzig an deren Frauen wie ein verbohrtes Kind aufgeführt hatte. Für sie exis tierten die anderen Kriegerinnen überhaupt nicht, nur Sheera, einzig und allein Sheera. Ganz langsam und leise sagte Sheera: »Drypettis, ich weiß nicht, ob du jemals den Wunsch verspürt hast, meine Stelle einzunehmen und Königin Mandrigins zu werden – aufgrund deiner Abstammung hättest du ein gewisses Recht darauf. Ich habe deine Loyalität mir und unserer Sache gegenüber nie in Frage gestellt.« »Und ich habe dich nicht verraten«, hauchte Drypettis. »Ich woll te dir nur helfen – wollte alles wieder rein und edel machen, so wie es war, bevor der Barbar zu uns kam.« »War es nicht vielmehr deine Absicht, einen Mann loszuwerden, auf den du eifersüchtig warst?« Sheeras Hände schlossen sich fester um die Schultern der zierlichen Frau. »Einen Mann, der dich zwang, in die zweite Reihe zurückzutreten, der dein Geld und deinen Einfluß nutzte, um deine Sache zur Sache all derer zu machen, die bereit waren, dafür zu kämpfen, ganz gleich, welcher Herkunft sie sind und ob ihre Umgangsformen deinen Ansprüchen genügen? Einen Mann, der gemeines Volk auf eine Stufe mit dir hob? Der dich wie eine mögliche Kriegerin behandelte und nicht wie eine Dame? Ist das der Grund?« Sheeras Stimme klang nun dumpf und schroff. »Oder bist 327
du dir nicht einmal selbst darüber klar?« Drypettis' Gesicht schien vor Kummer wie Wachs zu schmelzen. Nach einer Weile beugte sie sich vor, schlug die Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen. »Er hat dir etwas Schreckliches angetan«, schluchzte sie still. »Er hat dich zu seinem Ebenbild ge macht, dich dazu gebracht, ebenfalls nur an den Sieg zu denken, ganz gleich, wie ehrlos du dadurch auch werden mochtest.« Sheera straffte sich und preßte die Lippen zusammen. Offenbar rang sie mit ihrer Wut. »Eine Niederlage bringt uns nur den Tod ein«, erwiderte sie, »nicht ein Mehr an Ehre. Ich werde nie wieder ein Wort darüber verlieren, was hier geschehen ist, und ich erwarte von den anderen Anwesenden, daß sie ebenfalls schweigen, nicht einmal untereinander darüber sprechen. Das ist kein Befehl«, fügte sie hinzu und blickte die anderen Frauen an, von denen die meisten offenbar Mühe hatten, das zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatten, »sondern vielmehr eine Bitte, von einer Freundin und Kame radin eine Bitte, von der ich hoffe, daß ihr sie respektiert.« Im Anschluß an diese Worte wandte sie sich wieder Drypettis zu, die nach wie vor auf ihrem hochlehnigen Stuhl saß und leise schluchzte. »Ich werde kein Wort mehr darüber verlieren«, wiederholte Sheera, »aber ich möchte dich auch nie wiedersehen.« Das Gesicht noch immer hinter den Händen verborgen, stand Drypettis langsam auf. Die anderen Frauen machten ihr Platz, als sie davonwankte, sahen ihr nach, wie sie, in einen Kokon aus seidenen Schleiern und teuren Schmuck gehüllt, davontaumelte. Mit Tränen in den Augen sah Sheera ihr ebenfalls nach. Der Kummer in ihrem Blick entsprach dem im Gesicht Drypettis' – dem Kummer einer Frau, die gerade ihre beste Freundin verloren hatte. Sie ballte die vom Exerzieren narbig gewordenen Hände zu Fäusten, so daß die Knöchel weiß unter der gebräunten Haut hervortraten. Angesichts des bevorstehenden Kampfes hätte sie eine Ermuti gung gebraucht und nicht ein solches Erlebnis, dachte Sternenfalke. Mit ihrer arroganten Eifersucht hatte diese Frau der Streitmacht einen schweren Schlag versetzt. Sternenfalke begriff nur zögernd, daß es sich bei dem Mann, dessen Widerstandskraft der Folter ge genüber erörtert worden war, um Sonnenwolf handelte, der zwar noch nicht den Tod gefunden hatte, jedoch in großer Gefahr schweb te. Während sie sich im schlammigen Straßengraben versteckt hatte, war er nur einige Meter von ihr entfernt gewesen, gefesselt, vermut lich auf einem der Pferde… 328
Er lebte! Was auch immer mit ihm geschehen sein und ihm noch zustoßen mochte – er lebte. Und diese Erkenntnis erfüllte Sternen falke mit pulsierender Wärme, mit einer Kraft, die das Blut schneller durch ihre Adern rinnen ließ. Dennoch gab sich die Kriegerin so ruhig wie immer, als sie sich der Frau vor ihr zuwandte, der Frau, die noch immer mit ausdrucks losem Gesicht in den nun leeren Garten starrte. Die anderen Frauen schwiegen. Offenbar wußten sie nicht, was sie sagen, wie sie auf den Verrat reagieren sollten. Sie verstand den Kummer Sheeras, und sie wußte, daß es sie noch mehr verletzt hätte, wäre der Zwischenfall nun erneut zur Spra che gekommen. Sie legte der Frau eine Hand auf die Schulter und fragte in einem möglichst nüchternen Tonfall: »Wie rasch können deine Kämpferinnen zum Aufbruch bereit sein? «
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20. Kapitel Wenn die Worte Lady Wrinshardins der Wahrheit entsprachen – und Sonnenwolf fiel kein Grund ein, warum sie in dieser Hinsicht gelogen haben sollte –, so hatte sich die Festung der Thanes vom Grimmwall einst am Fuße jenes großen Vorsprunges erhoben, der wie ein Buckel aus dem Hang des Berges oberhalb des Eisernen Passes ragte. Sonnenwolf war jetzt zwar zu einem Zauberer gewor den, aber mehr als zwanzig Jahre des Kampfes hatten nicht nur seine Denkweise geprägt, sondern auch die Art seiner Wahrnehmung. Noch während der Finstere Adler und seine Männer ihn an dem Ort vorbeiführten, nahm er alle Einzelheiten in sich auf. Sein Blick fiel auf einen von Unkraut überwucherten Steinhaufen unmittelbar neben der Stelle, an der sich der Weg teilte. Es stand kein Wegweiser an der Gabelung, doch Bernsteinauge und ihre Mädchen hatten ihm mitgeteilt, daß der rechte Pfad zu den südlichen Zugängen der Berg werke unterhalb der Zitadelle führte. Sich dann an der Flanke des Berges entlangwand und bei den im Westen gelegenen Hauptzugän gen oberhalb von Hackenrippe endete. Der Unke Wegführte höher hinauf, direkt zur Bastion des Zauberkönigs. Während der vergangenen zwei Tage hatte Sonnenwolf nur we nig geschlafen, und der mehrstündige und beschwerliche Ritt durch den Eisernen Paß hatte ihn noch mehr erschöpft. Ständig zerrte eine dreißig Pfund schwere Eisenkette an seinen Handgelenken, die ent sprechend wund waren. Durch den Dunst einiger tief hängender Wolken sah er auf und beobachtete die Zitadelle, in der Altiokis auf ihn wartete. Er fragte sich, warum jemand, der noch alle Sinne bei sammen hatte, ausgerechnet einen solchen Ort zum Mittelpunkt seines Reiches gemacht hatte. Er erinnerte sich an die Legende, die Lady Wrinshardin erzählt hatte, an die steinerne Hütte, die von Altiokis in nur einer Nacht errichtet worden war. Diese Hütte, so hieß es, stehe immer noch und bilde das Zentrum der Zitadelle. Aber welche Veranlassung der Zau berkönig dazu gehabt hatte, sie ausgerechnet hier zu bauen, entzog sich der Kenntnis Sonnenwolfs, und er argwöhnte immer mehr, daß Altiokis schlichtweg verrückt geworden war. In jedem Fall jedoch ließ sich ein solcher Ort gut verteidigen. An jeder Biegung wurde die sich wie ein verdrehter Schlangenleib hin und her windende Straße von überhängenden Felswänden gesäumt. 330
Wenn Yirth recht hatte, was die Fähigkeiten Altiokis' anging, in weite Ferne zu blicken, so mußte er jede Streitmacht entdecken, die diesen Weg heraufkam, noch bevor sie Gelegenheit hatte, auch nur in die Nähe der Zitadelle zu gelangen. Und wenn es dem Zauberkö nig genehm war, konnte er sie einfach unter einer Steinlawine begra ben. Als sie kurz darauf das schmale Felsental vor dem Haupttor der Zitadelle erreichten, begriff Sonnenwolf, warum es billiger und ein facher war, die Lebensmittel für die Truppen des Zauberkönigs durch die Bergwerke heranzuschaffen. Die meisten Gebäude und Befestigungsanlagen im Tal waren of fenbar erst vor kurzem errichtet worden, schloß Sonnenwolf. Mit der Vergrößerung seines Reiches hatte ganz offensichtlich die Besorgnis des Zauberkönigs immer mehr zugenommen. Die Zitadelle des Grimmwalls war ursprünglich zwischen dem Hang, von dem aus man nach Norden über die granitene Öde der Tchard-Berge blicken konnte und einem Felsvorsprung erbaut worden, der diesen Bereich vom Rest des Grimmwalls trennte. Der Haupteingang stellte nichts anderes dar als einen Tunnel, den man in diesen großen Block hin eingemeißelt hatte. Im Boden des Tals vor dem Tor zeigten sich nun gewaltige Gruben, einer Folge trockener Burggräben gleich. Einige Sklavengruppen arbeiteten noch immer in den vorderen Vertiefun gen, als der Finstere Adler und seine Leute die dunklen Wachtürme hinter sich ließen, die sich zu beiden Seiten des Passes im Tal erho ben. Die Söldner hielten inne, um ihren Pferden nach dem kräftezeh renden Klettern eine Verschnaufpause zu gönnen, und Sonnenwolf beobachtete, daß Felsen und Erdreich innerhalb der Gruben einen verbrannten Eindruck erweckten. Wenn es einem Feind gelang, Be helfsbrücken über die Vertiefungen zu bauen – wenn es überhaupt möglich war, die dazu notwendigen Materialien trotz der Verteidi gungsanlagen der Zitadelle bis an diesen Ort zu schaffen –, so konn ten sicher brennbare Flüssigkeiten in die Gruben geleitet werden, die der Zauberkönig anschließend mit Hilfe seiner magischen Kräfte aus der Ferne entzündete. Derzeit führten Zugbrücken aus Holz und Stein über sie hinweg, Konstruktionen, die im Notfall leicht entfernt oder rasch zerstört werden konnten. Sie stellten allerdings keine direkten Verbindungs wege zu dem in den Fels hineingemeißelten Zugang dar, vor dem sich keine Wachtürme zeigten. Sonnenwolf schloß, daß es sich gera de um jene Art von Tor handelte, das leicht mit einem Trugbild ge tarnt werden konnte. Wenn es Altiokis gefiel, bot sich den Blicken 331
von Reisenden, die zur Zitadelle unterwegs waren, am Ende der Straße nichts weiter als nur der nackte und graue Fels des Grimm walls. Allmählich begann er zu verstehen, wie ein Mann wie der Zau berkönig sein Reich gebildet hatte, hin und her gerissen zwischen unbegrenztem Reichtum und intrigierender Schläue, zwischen gelie hener Stärke und den dunklen Kräften seiner Magie. Die Männer, die die Zügel des Pferdes Sonnenwolfs hielten, führ ten das Roß nun weiter, den Hang in Richtung der Zugbrücke herun ter und dem mit eisernen Zacken versehenen Fallgitter vor dem Tor entgegen. Das Klacken der Hufe hallte von den glatten Wänden der Passage wider. Wächter in schwarzen Kettenhemden hoben qual mende Fackeln und musterten sie argwöhnisch im flackernden Licht schein. Finsterer Adler wiederholte mit wachsender Ungeduld be stimmte Parolen und geleitete seine Gruppe weiter. Im Tunnel stank es nach Bösem und Unheil, und an den Felswänden schien das Ent setzen zu haften. In der Luft prickelte Magie, die jederzeit aktiv werden und die schrecklichsten Trugbilder formen konnte. Große Tore führten in breite und tiefer in den Bauch des Berges hinabrei chende Passagen. Der unstete Schein der Fackeln in den Wandhalte rungen verblaßte in der Ferne. Die aus den Zugängen dieser Tunnel wehende warme Luft roch nach Moder, nach Schlamm und Stein, nach Zauberei, nach der düsteren und gräßlichen Magie namenlosen Grauens. Es war, als sei die Macht Altiokis' in der ganzen Zitadelle präsent, als durchdringe sein Geist die Passagen, die Dunkelheit und den Granit. »Wie kann er so allgegenwärtig sein?« flüsterte Sonnenwolf und merkte kaum, daß er verständliche Worte formulierte. Finsterer Adler drehte ruckartig den Kopf. »Was?« Sonnenwolf war es unmöglich, das, was er in diesen Augenbli cken empfand, mit ausreichender Genauigkeit jemandem zu be schreiben, der nicht mit der Kraft der Magie geboren war. Daher erwiderte er nur: »Sein Geist ist überall.« Weiße Zähne blitzten im Zwielicht. »Ah, das hast du gespürt, wie?« Offenbar glaubte der Anführer, Sonnenwolf wollte mit diesen Worten seiner Bewunderung Ausdruck verleihen, vielleicht auch seiner Ehrfurcht. Barsch schüttelte der den Kopf. »Sie ist überall, ruht aber nicht in sich selbst. Er hat einen Teil seiner Macht auf die Felsen fixiert, auf die leere Luft, auf die Trugbilder tief unten in den 332
Bergwerkschächten – doch gleichzeitig muß er sie irgendwie kon trollieren. Er ist dazu gezwungen, all diesen Energien eine bestimmte Struktur zu geben, und… wie ist es möglich, daß noch Kraft in ihm zurückbleibt, im Zentrum seines Ichs, Kraft, mit der er all dies be herrscht?« Das Lächeln des Finsteren Adlers verflüchtigte sich, und das Ge sicht des Mannes wirkte plötzlich sehr nachdenklich. In seinen blau en Augen schien es zu blitzen. »Gilgath, der Zitadellenkommandeur Altiokis', meinte, mein Herr sei manchmal nicht ganz bei sich – er dient dem Zauberkönig länger als ich.« Seine Stimme war leise und dumpf, und nur Sonnenwolf konnte sie hören. »Ich wollte ihm nicht glauben, bis ich vor zwei Jahren…« Er räusperte sich. »Nun, du hast recht.« Er zuckte mit den Schultern. Kurz darauf war sein Gesicht wieder glatt. »Doch wie dem auch sei, mein lieber Barbar«, fuhr er fort, als Sklaven herbeieilten, sich um die Pferde zu kümmern und den Anführer, seine Männer und den Gefangenen über den Hof der mit vielen Verteidigungsanlagen versehenen Flanke der Zitadelle zu führen, »er ist mächtig genug, alle seine Feinde zu vernichten – und er hat ausreichend Geld, alle seine Freunde zu bezahlen.« Weitere Wächter umringten sie, Männer und auch einige wenige Frauen in Prachtrüstungen. Finsterer Adler, seine Leute und Son nenwolf wurden über den Hof eskortiert. Nach einer Weile erreich ten sie das große Wachhaus, das weit in die Höhe ragte und den Zugang in die Innere Zitadelle schützte. Finsterer Adler hielt sich nun an der Seite Sonnenwolfs. »Wenn du glaubst, seine Macht sei zum größten Teil gebunden, so warte ab, bis wir in der Inneren Zitadelle sind.« Sie gelangten in die Finsternis des Wachhauses, und zwei Män ner hielten die Kette, die an den Schellen der Handgelenke Sonnen wolfs befestigt war. Die anderen Söldner folgten mit gezogenen Schwertern. Die ganze Zeit über ließ Sonnenwolf nicht in seiner Konzentration nach, übte sich in der ruhigen Wachsamkeit, durch die er sich während seiner Schlacht auszeichnete, wartete darauf, daß sich ihm eine Fluchtmöglichkeit bot. Voraus wurde es wieder hell. Einem großen Rachen gleich öffne te sich ein Tor. Als sie aus dem Dunkel traten, fiel der Blick Son nenwolfs in eine Art Chaussee, die sich an dem von Mauern gesäum ten Graben entlangstreckte, der die Äußere Zitadelle von der Inneren trennte. In der Mitte der Chaussee entdeckte er eine brüstungslose Zugbrücke. In der Grube darunter wimmelte es von Nuuwa. 333
Der von ihnen ausgehende Aasgeruch nahm ihm den Atem. Auf halbem Weg über die Zugbrücke blieb Sonnenwolf stehen. Als er sich umdrehte, sah er, daß die rechte Hand des Finsteren Adlers auf dem Schwertknauf ruhte. »Versuch es nicht«, sagte der Söldner. »Glaub mir, wenn es dir gelänge, mich in den Graben zu stürzen, so würde ich dafür sorgen, daß dich das gleiche Schicksal ereilt.« »Spielte das eine Rolle?« In den Augen des Anführers blitzte es spöttisch. »Das kommt ganz darauf an, wie du deine Chancen bewertest, aus der Inneren Zitadelle zu entkommen.« Unter ihnen drängten sich die Nuuwa zusammen, ihr knurrendes Heulen hallte von den Mauern wider. Sonnenwolf sah kurz die Män ner an, die seine Kette hielten, richtete den Blick dann wieder auf den Finsteren Adler. Er hatte schon zuvor zwei Tore in der hohen Begrenzungswand der Inneren Zitadelle gesehen. Eins befand sich ganz in der Nähe, das andere war mehr als hundert Meter entfernt. Stufen führten in die Grube mit den Nuuwa hinab. Auf der anderen Seite gähnte die Dunkelheit der Passage, durch die sie die Chaussee erreicht hatten. Darüber hinaus gab es einige Tore, durch die man von der Äußeren Zitadelle in den Graben gelangen konnte. Sonnen wolf zweifelte nicht daran, daß sie alle verriegelt waren. Er wog die Möglichkeiten gegeneinander ab: Entweder er starb jetzt einen gräßlichen Tod, oder er riskierte ein noch schrecklicheres Ende in der trügerischen Hoffnung auf eine vielleicht gar nicht exis tierende Fluchtmöglichkeit. Im Vergleich dazu, fuhr es ihm durch den Sinn, als er sich wieder in Bewegung setzte und auf das Maul des geöffneten Tores der Inne ren Zitadelle zuhielt, war die Wahl, vor die ihn Sheera auf dem Schiff gestellt hatte, geradezu ein Geschenk des Himmels. Dennoch wollte er nicht aufgeben, solange er die Gelegenheit hatte, Zeit zu gewinnen. Das Kreischen der Nuuwa folgte ihnen wie gespenstischer Spott. »Du wirst ohnehin bald dort unten enden«, hörte er die Stimme neben sich. »Eigentlich schade – denn außer mir weiß hier kaum jemand, was für ein guter Soldat du bist, mein lieber Barbar. Aber so straft mein Herr seine Feinde. Und nachdem sich das Ding dir ins Hirn gebrannt hat, wirst du dir keine Gedanken mehr über dein Schicksal machen.« Sonnenwolf musterte ihn kurz. »Worum handelt es sich dabei?« fragte er. »Werden die Flammen von Altiokis beschworen?« 334
Der Söldnerführer runzelte die Stirn, so als überlege er, welche Gründe Sonnenwolf für diese Frage haben mochte und ob er zuviel verriet, wenn er sie beantwortete. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es gibt da eine… eine sonderbare Dunkelheit in dem Raum ganz unten in der Zitadelle, eine seltsame Kälte. Das ist ihre Geburtsstätte. Für gewöhnlich kommen sie einzeln oder zu zweit daraus hervor – manchmal aber auch in ganzen Schwärmen. Dann wieder rührt sich tage- und wochenlang überhaupt nichts. Altiokis selbst begibt sich niemals in diesen Raum. Ich glaube, er hat eben solche Angst vor ihnen wie alle anderen.« »Gebietet er über die Dunkelheit, aus der sie zum Vorschein kommen?« Finsterer Adler blieb stehen, und dicht unterhalb des Helmrandes zogen sich die geschwungenen Augenbrauen zusammen. Er erwider te jedoch nur: »Seit wir gemeinsam im Osten kämpften, hast du dich verändert, Barbar.« Vor ihnen öffnete sich die schwarze Tür der Inneren Zitadelle. Als Sonnenwolf über die Schwelle trat, fühlte er den Schrecken dieses Ortes, das gespenstische Unheil, das hier zu lauern schien, wie einen körperlichen Schlag. Unwillkürlich blieb er stehen. Er spannte alle Muskeln an und wagte es nicht einmal mehr zu atmen. Die Männer zerrten an der Kette und zwangen ihn, sich wieder in Bewe gung zu setzen, aber er konnte sehen, daß auch ihre Gesichter schweißnaß glänzten. Furcht breitete sich aus wie Giftgas. Die Män ner, die ihn mit gezückten Schwertern umringten, sahen sich immer wieder nervös um, so als seien sie nicht sicher, aus welcher Richtung ihnen Gefahr drohe. Selbst die Blicke des Finsteren Adlers huschten unruhig immer wieder umher. Aber weitaus stärker noch als die Furcht, die in diesem Irrgarten lauerte, spürte Sonnenwolf die magische Macht, die jederzeit Gestalt annehmen und sich auf ihn stürzen konnte – eine Macht, die über die Altiokis' hinausging, allgegenwärtig und überwältigend, und doch gleichzeitig zart und filigran. Sonnenwolf gewann den Eindruck, daß er sie für sich selbst hätte nutzbar machen können, wäre er in der Lage gewesen, sie zu formen, unter seinen Willen zu zwingen. Sie brachten eine Treppe hinter sich und passierten eine bewachte Tür. Voller Erstaunen blickte sich Sonnenwolf im oberen Bereich des Turms um, im inneren Herzen der Zitadelle Altiokis', in den Gemächern des mächtigsten Zauberers der ganzen Welt. Ganz zu Recht bemerkte Sonnenwolf: »In Hurenhäusern bin ich 335
schon auf die Anzeichen besseren Geschmacks gestoßen.« Der Finstere Adler lachte: »Aber nicht auf solche Kostbarkeiten, möchte ich hinzufügen.« Mit dem einen Finger strich er über das Gold an der Innenfläche der großen Tür. »Ein Ort, der ganz dem Stile meines Herrn entspricht und auf den er stolz ist.« Sonnenwolf betrachtete die edelsteinbesetzten Girlanden, die die Elfenbeinvertäfelung der Decke schmückten, ließ seinen Blick über dünne Säulen aus rosafarbenem Porphyr und geschliffenem grünen Malachit gleiten, der mit goldenen Schlangendarstellungen verziert war, über die obszönen Statuetten aus Ebenholz, Alabaster und A chat, die man zwischen ihnen aufgestellt hatte. Goldener Glanz hüll te alles ein. Der schwere Duft von Patchouli und Rosen lag in der Luft. »Vielleicht entspricht er wirklich seinem Stil«, erwiderte er lang sam und begriff dabei, daß auch er selbst vor nur wenigen Monaten noch einen ausgeprägten Hang zu solchen Dingen gehabt hatte. »A ber nicht dem des mächtigsten Zauberers – nicht dem des einzigen Magiers, den es noch gibt. Verdammt!« Er sah wieder den Finsteren Adler an, und es überraschte ihn, daß seine Worte für den Söldner ohne Sinn blieben. »Hier ist alles vulgär.« Finsterer Adler schmunzelte: »Ach, komm schon, Wolf.« Er deu tete auf die schamlosen Statuetten. »Du wirst in deinem Alter doch wohl nicht noch prüde? In den Bordellen von Kwest Mralwe hast du Schlimmeres als das hier gesehen… « »Du verstehst mich nicht«, sagte Sonnenwolf. Einmal mehr sah er sich um, betrachtete die protzigen Vergoldungen, den Schmuck und die Zierde, die bronzenen Wandhalterungen, in denen keine Fackeln leuchteten, sondern runde Kugeln aus strahlendem Licht. In Gedanken verglich er diese prunkhafte Verschwendung mit dem einfachen Arbeitszimmer Yirths, mit ihren alten und doch gut ge pflegten Büchern, den zerbrechlich wirkenden Instrumenten aus Messing und Kristall, dem würzigen Geruch der getrockneten Heil kräuter. »Er ist unsterblich und mächtig. Er gebietet über eine schier unvorstellbare Magie. Er kann alles haben, was er will. Und doch bevorzugt er solchen… Tand.« Belustigt hob der Finstere Adler seine Augenbrauen und gab sei nen Männern ein Zeichen. Sie zogen an der Kette, hoben die Schwerter und führten Sonnenwolf durch die hell erleuchteten Gänge in den oberen Etagen der Zitadelle. Ihre Schritte ließen Teppiche aus dicker Seide knistern und kratzten auf verzierten Jadefliesen. »Ich 336
weiß noch, daß du mir fast die Kehle durchgeschnitten hattest, als wir den Palast von Thardin plünderten und uns um solchen… Tand stritten«, erinnerte er Sonnenwolf mit einem breiten Grinsen. Das hatte Wolf nicht vergessen. Aber nach den Erlebnissen in der Grube, nach der durch das Anzid hervorgerufenen Agonie, war es zu einer Veränderung in ihm gekommen. Er sah sich außerstande, dem Söldner die Monstrosität des Wesens Altiokis' zu erklären. Er sagte nur: »Wie konnte ein so kleinlicher und beschränkter Geist eine derartige Macht erringen?« Finsterer Adler lachte. »Meine Güte! Man lehre dich einige we nige Kunststücke, und schon weißt du alles über Zauberei und magi sche Macht, nicht wahr?« Sonnenwolf schwieg. Er konnte nicht beschreiben, woher er das wußte, was er wußte – oder warum es ihm so absurd erschien, daß ein Mann, dessen Vorstellung von Ästethik nicht über die Trivialität obszöner Statuen und kitschiger Seidenteppiche hinausging, in der Lage gewesen war, unsterblich und zum letzten und mächtigsten Zauberer der ganzen Welt zu werden. In diesen Augenblicken verstand er die Verbitterung Yirths angesichts seiner eigenen furcht samen Scheu vor den magischen Kräften. Sein jetziger Zorn galt einem Mann, der nicht nur sein eigenes gewaltiges Potential auf diese Weise vergeudete, sondern auch viele andere Menschen daran gehindert hatte, ihr magisches Talent ganz zu entfalten. Eine Tür aus weißer Jade und Kristall öffnete sich und führte in ein Zimmer aus schwarzem Marmor. Eine Kugel aus blaßbläulichem Licht schwebte über dem Haupt des Mannes, dessen aufge schwemmter Leib in einem großen Sessel aus mit Schnitzereien verziertem Ebenholz ruhte, der zwischen den Säulen am anderen Ende des Raumes stand. Das Licht enthüllte die Einzelheiten der Darstellungen von Drachen und anderen Ungeheuern, von Fischen und Nixen und schimmernden Insekten, die nicht nur den Sessel schmückten, sondern auch die Säulen und die Rückwand. Die nach Weihrauch riechende Dunkelheit schien voller Magie zu sein. Aber mit einer sonderbaren Empfindung nahm Sonnenwolf wahr, wie schäbig diese Umgebung war, Schminke einer Prostituierten bei hellem Sonnenschein betrachtet. Was auch immer Altiokis einst gewesen sein mochte, er war nicht mehr ganz bei sich, wie Finsterer Adler zuvor gesagt hatte, stellte nurmehr einen Schatten seiner Selbst dar. Nachdem er die magische Macht aller anderen Zauberer ver nichtet hatte, ließ er auch die eigene verkümmern. 337
Als Sonnenwolf den Zauberkönig beobachtete, den voluminösen Leib betrachtete, der wie eine Krebswucherung in dem Sessel aus Ebenholz ruhte, verspürte er einige Sekunden lang keine Furcht, sondern nur zornigen Abscheu. Die Söldner stießen Sonnenwolf nach vorn, bis er allein vor dem Zauberkönig stand und die Schultern wegen des Gewichts der Kette beugen mußte. Altiokis rülpste und kratzte sich den juwelengeschmückten Bauch. »Du glaubst also«, sagte er mit einer Stimme, die der Alko hol fast zu einem Lallen machte, »der Palast Altiokis', des größten Königs, den die Welt je gesehen hat, habe Ähnlichkeit mit einem Hurenhaus?« Die magischen Sinne des Zauberers waren überall in der Zitadel le gegenwärtig, und offenbar hatte er jedes Wort des knappen Ge spräches zwischen Sonnenwolf und dem Finsteren Adler gehört. Der Söldner senkte furchtsam den Blick, doch Sonnenwolf wußte, wie Altiokis solche Dinge bewerkstelligte. Er sah den Zauberkönig wei terhin ruhig an und versuchte zu verstehen, welche Veränderungen ein unbegrenztes Leben, Allmacht und endlose Langeweile in die sem Mann bewirkt hatten, diesem letzten und mächtigsten aller Zau berer. »Du armseliger Mistkerl, hast du denn wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen?« fragte Altiokis. »Hattest du auch nur eine vage Ahnung, auf was du dich einließest, als du das Angebot jenes Narren annahmst, des Mannes, der dir versprach, dich für das Aus spionieren meiner Stadt Mandrigin zu entlohnen? Wie hieß er doch noch gleich? Oh, ich glaube, es war von einem der Thanes die Rede. Was allerdings nicht weiter wichtig ist. Ich weiß, wer meine Feinde sind. Und ich werde sie allesamt…« Die dunklen Pupillen des Finsteren Adlers weiteten sich besorgt. »Herr, wir können nicht ganz sicher sein… « »Ach, sei still«, schnappte Altiokis launisch. »Feiglinge – ich bin von Feiglingen umgeben.« »Herr«, sagte der Adler zerknirscht, »wenn du ohne Beweise Leute gefangennimmst, so wird es zu Unruhen bei den Thanes kommen…« »Ach, die machen doch dauernd Schwierigkeiten«, erwiderte der Zauberkönig aufgebracht. »Das war schon immer so – wir brauchten nur einen Vorwand, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Sollen sie doch gegen mich antreten – wenn sie den Mut dazu haben. Ich werde sie vernichten…« In den schwarzen kleinen Augen des fetten Man 338
nes glitzerte es sonderbar hell. »So wie ich auch diesen Sklaven hier erledigen werde.« Er erhob sich aus dem Sessel, den Blick nach wie vor auf Son nenwolf gerichtet. In den Pupillen Altiokis' erkannte Wolf das wie der, was ihm schon zuvor aufgefallen war. Es gab nur noch einen winzigen Rest Menschliches in dem Zauberkönig. Das in seinem Leib lodernde Feuer verbrannte alles, verschonte auch seine Seele nicht, die ebenso verrottete wie der Verstand eines Nuuwa. Tatsäch lich, so begriff Sonnenwolf, hatte das Wesen Altiokis' große Ähn lichkeit mit dem der Ungeheuer, die nur darauf aus waren zu fressen. Sonnenwolf wich einen Schritt zurück, als der Zauberkönig den Stab mit der unheilvoll funkelnden Spitze hob. Selbst auf eine Ent fernung von einigen Metern hin konnte er die sengende Hitze spüren, die wellenartig von dem Metall ausging. Altiokis richtete den Stab auf ihn, Sonnenwolf wich soweit zurück, bis er die Schwertspitzen der Wächter im Rücken fühlte. »Du mußt ein völlig verblödeter Narr sein«, hauchte der Zauber könig. »Oder kannst du dir nur nicht vorstellen, was dich hier erwar tet?« »Das schon«, erwiderte Sonnenwolf und wandte den Blick nicht von dem Stab ab, dessen Spitze einen knappen halben Meter von seinem Hals entfernt war. »Ich habe nur Zweifel daran, ob irgendei ne meiner Antworten Euch von dem abhalten könnte, was Ihr mit mir zu machen bereits beschlossen habt.« Sonnenwolf war bemüht, Altiokis nicht noch mehr zu reizen, und erinnerte sich in diesem Zusammenhang an seinen Grundsatz, nie mals mit Verrückten zu streiten. Das schmierige Gesicht des Zauberkönigs verzog sich höhnisch. »Also eine Art von Klugheit«, stellte Altiokis fest. »Schade für dich, daß du dich nicht rechtzeitig besonnen hast. Ich bin viel älter als du. Und ich verstehe mich gut darauf, einem Menschen die Seele zu rauben und dem Hirn gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, über das… nachzudenken, was geschieht. Ich könnte die Blutwürmer auf dich ansetzen, und dann wärst du nach einem Monat nur noch ein von Maden zerfressener Fleischfetzen, der mich um den Gnadentod anfleht. Ich könnte dich auch mit Hilfe besonderer Drogen blenden und zu einem Krüppel machen und dich für den Rest deines Lebens damit beschäftigen, Badewasser für meine Söldner zu schleppen. Was hältst du davon? Vielleicht gefiele es dir besser, in einer dunk len Kammer eingemauert zu werden, nur mit einem Becher Wasser, 339
das mit Anzid angereichert ist; dann hättest du die Wahl, dich zwi schen dem langsamen Tod durch Vergiftung und dem noch langsa meren durchs Verdursten zu entscheiden.« Sonnenwolf bemühte sich darum, in seinem Gesicht nichts von dem zu zeigen, was nun in ihm vor sich ging, denn er wußte, daß der fette Mann sowohl die Macht als auch den Charakter hatte, eine dieser Drohungen wahrzumachen – und sei es nur, um sich mit sei nem Leiden und dem anschließenden Tod die Zeit zu vertreiben. Obwohl sich Schrecken in ihm regte, hafteten seine Gedanken an zwei wichtigen Erkenntnissen fest. Erstens: Altiokis hatte nie die Große Prüfung abgelegt. Ganz of fensichtlich wußte er nicht, daß Anzid eine völlig andere Wirkung haben konnte als die, einen qualvollen Tod herbeizuführen. Das wiederum bedeutete, daß seine Macht aus einer anderen Quelle stammte. Das würde einige Dinge erklären, dachte Sonnenwolf, während er sich auf diese Überlegungen konzentrierte. Die Magie, die in den unteren Bereichen des Turms lauerte und die Bergwerke füllte, ging also nicht vollständig auf die Persönlichkeit Altiokis' zurück. Es handelte sich dabei um etwas anderes, um etwas Schmutziges und Verdorbenes, das keinem Vergleich mit der gelehrten Zauberei Y irths standhielt, auch keine Ähnlichkeit hatte mit der Art von unab hängiger Magie, die Sonnenwolfs eigene Seele ausfüllte. Stellte Altiokis vielleicht nur einen Fokus für diese Energien dar, die aus der Dunkelheit kamen, von der der Finstere Adler gesprochen hatte, jener Finsternis, die im Zentrum der Zitadelle wallte, im Herzen der Bastion? Für Energien, die keine eigenen Bestrebungen aufwiesen, die sich Altiokis jedoch für seine Ziele zunutze gemacht hatte? Und zweitens: Altiokis verhielt sich wie ein böses Kind, und mit seinen Drohungen wollte er Sonnenwolf eigentlich gar nicht dazu veranlassen, wichtige Informationen preiszugeben; tatsächlich dien ten sie in erster Linie dazu, seinen Willen zu brechen, ihm Angst zu machen. Der ehemalige Söldner wußte aus eigener Erfahrung, daß der Anblick eines winselnden und um Gnade flehenden Opfers be sonders befriedigend war. Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß der Zauberkönig imstande war, seinen Widerstandswillen davonzu fegen wie einen Haufen Kehricht, aber auf keinen Fall wollte er Altiokis schon jetzt dieses Vergnügen bereiten. Der Gesichtsausdruck des Zauberkönigs veränderte sich. »Ich könnte dir sogar ein noch schlimmeres Schicksal bescheren.« Mit 340
einem Finger schnippen gab er dem Finsteren Adler und den anderen Söldnern ein Zeichen. »Begleitet mich nach unten!« befahl er. Daraufhin traten die Männer erneut auf Sonnenwolf zu, zerrten an der Kette und stießen ihn von hinten mit den Schwertern an. Eine Tür öffnete sich in der Wand, an einer Stelle, an der zuvor nur glatter Marmor gewesen war. Der Glanz des über dem Kopf Altiokis' schwebenden blauen Leuchtens fiel auf die ersten Stufen einer Trep pe, die sich in die Dunkelheit hineinwand. Sonnenwolf schnappte in plötzlichem Erschrecken nach Luft, als er das Prickeln der Macht verspürte, des Unheils, das wie ein übelkeitserweckender Gestank heranwogte. Die Schwärze schien erfüllt zu sein von einer gespensti schen Kälte, die der ehemalige Söldner mit der verglich, die er als Junge bei den Dämonen in den Sümpfen verspürt hatte. Es war, als könne er undeutlich etwas erkennen, was aus den unauslotbaren Tiefen des Nichts emporstieg, als fühle er die Gegenwart einer Macht, die nicht von dieser Welt stammte. Jemand preßte ihm die Klinge eines Schwertes an die Rippen und schob ihn durch die Tür. Offensichtlich wußten die Soldaten nicht, was er wußte, und so argwöhnten sie auch keine Gefahr. Fast wäre er versucht gewesen, sich umzudrehen und gegen sie zu kämpfen, doch Altiokis hob erneut den Stab, richtete das glühende Ende auf ihn und zwang ihn auf diese Weise dazu, die Treppe hinabzugehen. Erneut umringten ihn die Soldaten. Unheimliche Kälte stieg ihnen entgegen. Es ging nicht annähernd so weit in die Tiefe, wie Sonnenwolf zuvor angenommen hatte. Die Treppe beschrieb einen Bogen, und anschließend endete sie. Der Boden, so stellte der ehemalige Söldner fest, bestand aus Fels und lockerer Erde. Offenbar war das die ei gentliche Oberfläche des granitenen Vorsprunges. Am Ende des Gewölbes zeigte sich eine schmale Tür. Noch während ihn neues Entsetzen packte, dachte Sonnenwolf: Dies habe ich schon einmal erlebt.
Das Zimmer, das sie kurz darauf betraten, ähnelte dem, das Der roug Dru Sonnenwolf im Kerker unter dem Kontor Mandrigins ge zeigt hatte. Dunkel und feucht war es. Die Einrichtung bestand aus einem großen hölzernen Sessel, dessen Samtkissen mit gold- und silberfarbenen Borten besetzt waren. Das Schimmern des magischen Lichts spiegelte sich trübe im Glas des Fensters vor dem Sessel. Der einzige Unterschied zu der anderen Kammer war eine Tür neben dem Fenster, durch die man in die Schwärze des anderen Zimmers gelangen konnte. 341
Etwas bewegte sich im Dunkel jenseits des Glases, ein Flirren, das von einem unruhig hin und her schwebenden, diffusen Flammen fleck zu stammen schien. Während des ganzen Weges hierher hatte Sonnenwolf nicht ein mal daran gezweifelt, daß ihm dies bevorstand. In gewisser Weise wußte er es schon, seit Derroug Dru ihn mit diesem Schrecken kon frontiert hatte. Er hatte das Gefühl, als bohre sich ihm nun eine Klin ge aus Eis in den Leib. Entsetzen erfaßte ihn – Entsetzen und Ver zweiflung und die gräßliche Gewißheit, daß sich der Mittelpunkt der unheilvollen Macht, die die ganze Zitadelle durchdrang, in jenem Zimmer auf der anderen Seite des Fensters befand, und nicht in dem fetten Mann, der neben ihm genüßlich kicherte. Um was auch immer es sich handeln mochte: Es war die Quelle nicht nur der Wesenhei ten, die Menschen in Nuuwa verwandelten, sondern auch der Ener gien, die Altiokis zu einem arroganten Scheusal gemacht hatten. Hinter der Scheibe glitt der Flammenfleck unruhig dahin und hin terließ eine blasse Feuer spur in der unheimlichen Schwärze. Das Etwas wartete auf ihn, wartete darauf, sich ihm durch ein Auge ins Gehirn zu brennen, ihn in eins der knurrenden und geifernden Unge heuer zu verwandeln, die dem verderbten Willen des Zauberkönigs gehorchten. Im Rücken spürte Sonnenwolf den Druck von Schwertspitzen, die ihn in Richtung der schmalen Tür zwangen. Die Welt um ihn herum schien sich allein auf ihn selbst zu reduzieren. Er vernahm keine anderen Geräusche als nur das heftige Pochen seines Herzens, und er fühlte nichts weiter als kalten Schweiß, der ihm übers Gesicht strömte, über Brust und Arme. Der geschärfte Stahl ließ ihn weiter taumeln. Er sah nur noch den zitternden Flammenfleck, die dunkle Tür mit den drei Eisenholmen, die Hände der Männer, die sie nun entriegelten. Frostiges Grauen hüllte ihn ein. Mit einer sonderbaren und plötz lichen Klarheit sah Sonnenwolf die steinernen Wände der Hütte, die Altiokis einst an diesem Ort errichtet hatte, das verblichene und verwelkte Unkraut, das am Rande der Mauern ein dichtes Gespinst bildete, die festgetretene Erde im Innern. Gleichzeitig jedoch fixierte sich seine Wahrnehmung auf die Finsternis in der Mitte jener Hütte, einen gestaltlosen, rätselhaften und grauenerregenden Wirbel aus absoluter Schwärze, der sich im Zentrum des Zimmers zu öffnen schien. Es handelte sich um ein Loch, einen Abgrund aus Leere, der in einen Kosmos jenseits aller menschlichen Erfahrung führte. Aus 342
dieser lichtlosen Gruft wogte die Macht hervor, die die Zitadelle füllte, die Ungeheuer zeugte, die Altiokis' zu dem gemacht hatte, was er war, die seine Seele verfaulen ließ. Doch schlimmer noch als das Bewußtsein dieser Macht war das Wissen um den Geist, der im Innern des Loches lauerte, um das Etwas, das dort gefangen war und dessen Gedanken nun eine Brücke zu ihm bauten, dessen Präsenz sich wie eiskaltes Wasser über das plötzlich entblößte und hilflose Ich des ehemaligen Söldners ergoß. Es war weder menschlicher noch dämonischer Herkunft… Dä monen stammten von dieser Welt, und im Vergleich mit dem kalten und entsetzlichen schwarzen Feuer handelte es sich bei ihnen um recht gewöhnliche und schlichte Wesen. Dennoch lebte das fremde Etwas, und es versuchte, Sonnenwolf zu erreichen. Hände stießen ihn in Richtung der Schwelle des kleinen Raumes. Er war sich nur am Rande bewußt, daß er laut sprach, als er sagte: »Es lebt… « Und im letzten Augenblick, als die Wächter Anstalten machten, ihn in den Raum zu schieben, drehte Sonnenwolf den Kopf und begegnete dem argwöhnischen Blick der geweiteten Pupille Altiokis'. Er erinnerte sich nun, wo er das Etwas schon einmal gese hen hatte. »Das also gab Euch Eure Macht.« Der Zauberkönig erschrak zutiefst und schrillte: »Bringt ihn fort! Schließt die Tür!« Seine Stimme überschlug sich, klang fast panisch. Die Wächter zögerten und waren sich nicht ganz sicher, ob sie ih ren Herrn richtig verstanden hatten. Der Finstere Adler griff nach einem Arm Sonnenwolfs, zog ihn zurück und stieß die Tür mit einem Tritt zu. Der ehemalige Söldner wankte und hatte Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, so als fehle ihm plötzlich eine Stütze, die ihn die ganze Zeit über aufrecht gehalten hatte. Von einem Augen blick zum anderen fühlte er sich schwach. Er klammerte sich an den eisernen Riegeln fest, um nicht zu Boden zu sinken. »Schafft ihn weg!« schrie Altiokis. »Schafft ihn weg von hier! Er kann es sehen! Er ist ein Zauberer! Bringt ihn fort!« Finsterer Adler vergaß seine Vorsicht und ließ sich zu einer unklugen Erwiderung hinreißen: »Sonnenwolf ist kein Zauberer, Herr… « Altiokis trat vor und holte mit seinem Stab aus, um Sonnenwolf einen Schlag auf die Hände zu versetzen und ihn von der Tür fortzu zwingen – so als fürchte er, der ehemalige Söldner könne die Bolzen beiseite schieben und den anderen Raum betreten. Dem Anführer seiner Söldner schenkte er nicht die geringste Beachtung, als er mit 343
seinen ringgeschmückten Fingern nach den schmutzigen Fetzen des Gärtnerkittels Sonnenwolfs griff. Sein aufgeschwemmtes Gesicht war eine Fratze aus Furcht und Haß. »Hast du es gesehen?« Ange ekelt vom stinkenden Brandy-Atem des Alten wich Sonnenwolf zurück und lehnte sich erschöpft an die steinerne Wand. »Ja. Und ich sehe es auch jetzt, in Euren Augen«, flüsterte er. »Es könnte sich dazu entscheiden, einen anderen Zauberer zu wählen«, keuchte der fette Mann heiser, so als habe er die Worte Sonnenwolfs überhaupt nicht vernommen. »Es könnte ihm seine Macht geben, wenn er soviel Glück hat wie ich… « »Ich will mit dieser Macht nichts zu tun haben!« entfuhr es Son nenwolf, denn diese Vorstellung bereitete ihm noch mehr Entsetzen als die, daß der Flammenfleck sich ihm ins Hirn brannte und einen Nuuwa aus ihm machte. Altiokis ging auch auf diese Erwiderung nicht ein. »Es könnte ihn sogar unsterblich machen.« Die schwarzen und leblos wirkenden Augen starrten Sonnenwolf an, und in den Pupillen irrlichterte eine andere Art von Grauen. Dann fuhr der Zauberkönig herum und wandte sich keifend an die Wächter: »Bringt ihn fort! Werft ihn den Nuuwa vor! Schafft ihn weg!« Sonnenwolf hatte das Gefühl, als habe ihm jemand einen dünnen Draht in den Körper gebohrt, an dem nun irgend etwas zog, an dem die Stimme des schwarzen Etwas aus dem Loch entlangflüsterte, eine Stimme, die einen Weg nach seiner Seele suchte. Mit aller ihm noch verbliebenen Kraft konzentrierte er sich dar auf, dieses Etwas aus sich zu verdrängen. Es schreckte ihn zutiefst. Sein ganzes Wesen sträubte sich dagegen. Die Söldner zerrten ihn durch das Labyrinth der Gänge und Kor ridore, bis sie schließlich eine kurze Treppe erreichten, die nach unten führte, an eine breite Doppeltür. Altiokis folgte ihnen dichtauf, schrie die ganze Zeit über, verdammte den Finsteren Adler dafür, diesen Gefangenen zu ihm gebracht zu haben, und verfluchte sich selbst, nicht mißtrauischer gewesen zu sein und das wahre Wesen Sonnenwolfs nicht sofort erkannt zu haben. Einer der Wächter lief los und spähte durch den Spion der Tür. »Derzeit sind nur einige wenige von ihnen draußen, Herr«, berichtete er. »Die meisten befin den sich in den Käfigen.« »Dann öffne sie!« schrillte der Zauberkönig in einem jähen Wut anfall. »Und beeil dich, wenn du den Ungeheuern nicht ebenfalls zum Fraß vorgeworfen werden willst!« 344
Der Mann eilte davon. Das Geräusch seiner Schritte hallte dumpf von den steinernen Wänden wider. Sonnenwolf wand sich hin und her, kämpfte wie ein Löwe, aber es waren zu viele Männer, die ihn festhielten. Er konnte nicht fliehen. Schnell wurde die Doppeltür geöffnet, Sonnenschein blendete ihn, der Befehl des Anführers gellte in seinen Ohren, als er zu Boden gestoßen wurde und die Treppe hinunterrollte. Der faulige Gestank der Nuuwa schlug ihm entgegen. Von allen Seiten kam das gierige Heulen der Ungeheuer. Sonnenwolf sah nun, daß er sich in dem langen Graben zwischen der Äußeren und Inneren Zitadelle befand. Aus verschiedenen Richtungen näherten sich ihm rund ein Dutzend Nuuwa und auch einige der affenartigen Men schenhunde. Die gräßlichen Schädel wackelten von einer Seite zur anderen, und Speichel tropfte aus den aufgerissenen Rachen der Scheusale. Sonnenwolf begriff, daß er den Ungeheuern nicht entkommen konnte. Die Wände des Grabens waren viel zu steil, als daß er sie hätte erklettern können. Es mochte nur noch wenige Sekunden dau ern, bis die Nuuwa und Menschenhunde ihn erreichten, überwältig ten, seinen Körper zerrissen und ihn bei lebendigem Leibe ver schlangen. Er hastete die wenigen Treppenstufen in die Höhe und preßte sich dort an die Wand, wo die Höhlung der Tür eine Art Ni sche in der Mauer bildete. Das war die einzige ihm zur Verfügung stehende Deckung. Mit dem Rücken lehnte er sich an das mit Mes sing beschlagene Holz, zog die anderthalb Meter lange Kette heran, die man an den Spangen befestigt hatte, die nach wie vor seine Hän de fesselten, und schlug damit auf das erste herankommende Unge heuer ein. Blut spritzte aus dem aufgeplatzten Schädel des Nuuwa. Sonnenwolf holte erneut aus, hieb mit der Kette um sich und ließ die schweren Eisenglieder durch die stinkende und vom Heulen und Kreischen der Scheusale erfüllte Luft sausen. Er verteidigte sich – obgleich er wußte, daß seine letztendliche Niederlage unabwendbar war, daß er sein Leben auf diese Weise um nur wenige Sekunden verlängerte. Die dreißig Pfund schwere Kette traf einmal mehr ins Ziel, und die Wucht des Schlages trieb einen Nuuwa zurück, schleuderte ihn gegen zwei weitere, die geifernd heranstürzten. Sonnenwolf zer schmetterte einem der Ungeheuer den Schädel, während sie noch miteinander rangen. Doch die beiden anderen wandten sich ihm zu, in den Zähnen das faulige Fleisch des Artgenossen. Immer und im 345
mer wieder hieb er um sich, schwang die Kette und flehte die Geister seiner Vorfahren an, ihm irgendwie zu Hilfe zu kommen… Du kannst sie beherrschen, flüsterte es in einem entlegenen Win kel seines Ichs. Unterwirf sie deinem Willen. Sorg daß, daß sie dir gehorchen. Die Kette ließ sich nicht von den Schellen an den Handgelenken lösen, und die Haut darunter war längst wund geworden, platzte nun auf und blutete. Der süßliche Geruch brachte die Nuuwa zur Raserei. Sonnenwolf fühlte, wie er ermüdete, wie seine Kräfte mit jeder ver streichenden Sekunde weiter schwanden. Nur noch kurze Zeit und er würde die Ungeheuer nicht von sich fernhalten können. Das schwar ze Bewußtsein, die verlockend in ihm flüsternde Stimme ließ ihn nicht los. Sonnenwolfs Welt bestand nur noch aus blutverschmierten und augenlosen Gesichtern, aus nach ihm greifenden Klauenhänden, aus Schmerz und Schweiß und einem übelkeitserweckenden Gestank, aus heulenden Schreien und dem schrecklichen, ungewissen Raunen in seiner Seele. Nur am Rande gewahrte er ein gedämpftes Klirren und Rasseln, das seinen Ursprung offenbar in der Äußeren Zitadelle hatte und nach dem Lärm eines Kampfes klang. Das Krachen einer Explosion ließ den Boden erzittern. Es folgte eine zweite, die noch stärker und näher war, und trotz des Kreischen der Nuuwa glaubte Sonnenwolf, triumphierende Rufe von Männern und fast schrilles Siegesgeschrei von Frauen zu hören. Dann stellte er fest, daß auch die Ungeheuer verharrten. Mit grimmiger Entschlossenheit schlug er auf die noch verbliebenen Scheusale ein, und… lauschte… kämpfte?… in der Chaussee? Lange Zähne bohrten sich ihm ins Bein, und er holte aus und brach dem Menschenhund, der sich unter der schwingenden Kette hinweggeduckt hatte, das Genick. Was auch immer die anderen Geschehnisse bedeuten mochten: Er durfte sich nicht ablenken las sen, denn das konnte ihn das Leben kosten. Eine dritte Explosion donnerte, diesmal in unmittelbarer Nähe. Sonnenwolf mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht in die entsprechende Richtung zu sehen. Die Kette zerschmetterte einen weiteren Schädel, und der letzte Nuuwa fiel zu Boden und schnappte nach seinem eigenen Fleisch. Keuchend stand er in der Tür, und als er den Kopf hob, sah er die Flammen, die über das Holz der Chaus see-Zugbrücke leckten. Auf der Außenmauer wimmelte es von kämpfenden Männern. 346
Die kleine Gruppe der Wächter wurde rasch überwältigt. Gestalten, die aussahen wie schwarze und schmutzige Gnome, stürmten durchs Tor und kletterten mit Hilfe improvisierter Leitern in den Graben. Die Männer – die Sklaven aus den Bergwerken – schwangen Knüp pel und Beile und waren mit den Dingen bewaffnet, die sie in den Arsenalen der Minen hatten finden können. Das aus ihren Wunden tropfende Blut schimmerte scharlachrot durch den dunklen Staub, der dicke Krusten auf ihrer Haut bildete, und ihre zornigen und tri umphierenden Schreie hallten laut von den hohen Wällen wider. Dann hörte Sonnenwolf eine Stimme – die eine Stimme –, die er sofort erkannte und von der er in den vergangenen Tagen so oft ge träumt hatte: »DUCK DICH, DU ESEL!« Sonnenwolf beugte sich aus einem Reflex heraus, und dort, wo gerade zuvor noch sein Kopf gewesen war, bohrte sich die Schneide einer Axt ins Holz der Tür. Er beobachtete die Söldner des Finsteren Adlers, die nun von der Inneren Zitadelle her in Richtung der Chaus see stürmten. Riegel knirschten, die Tore flogen auf. Verstärkung schloß sich an: weitere Söldner, gewöhnliche Soldaten und Nuuwa. An der blutverschmierten Treppe, genau vor ihm, trafen die Gegner aufeinander. Plötzlich war Sternenfalke da, kämpfte an seiner Seite. »Ich habe dir doch gesagt, du solltest umkehren!« rief er ihr zu, während er die Kette einem Söldner auf den Helm donnerte. »Vergiß es!« erwiderte sie ebenso laut. »Ich gehöre nicht mehr zur Truppe, und ich kann tun und lassen, was mir gefällt! Hier…« Sie warf Sonnenwolf ein Schwert zu, das sie den erstarrten Fingern eines toten Söldners entrissen hatte. »Billig und einfach und schlicht«, knurrte Sonnenwolf, als er die Waffe an einem Nuuwa testete. »Wenn du mich schon mit einem Schwert ausrüsten willst, so könntest du mir wenigstens ein anstän diges besorgen.« »Du kannst wohl immer nur meckern?« hielt Sternenfalke ihm entgegen, und Sonnenwolf lachte und strahlte sie an. Anschließend schwiegen sie, kämpften wortlos mit den anderen gegen die her anstürmenden Feinde. Die ganze Zeit über jedoch wußte Sonnenwolf, daß sich Sternenfalke an seiner Seite befand, wie eine leibhaftig gewordene Kriegsgöttin, und er fragte sich, wie er sie jemals für schlicht und einfach hatte halten können. Die Männer um ihn herum waren hohlwangig und so mager wie 347
halbverhungerte Wölfe, aber die harte Arbeit in den Bergwerken hatte ihre Muskeln gestählt. Peitschennarben zeigten sich auf ihren rußigen Rücken. Die Ehemänner, Geliebten und Brüder seiner Ama zonen bildeten eine Streitmacht, die größer war, als er erwartet hatte. Immer neue Kämpfer Altiokis' stürmten in den Graben, und es herrschte ein schier ohrenbetäubender Lärm. Ein plötzlicher Vorstoß des Feindes zwang die Männer aus den Minen in Richtung der blut verschmierten Stufen zurück, und kurz darauf vernahm Sonnenwolf den lauten Schrei einer Frau – die Stimme Sheeras – , die zum Sam meln rief. Jemand eilte auf ihn zu. Sonnenwolf drehte sich um. Die Kette rasselte, als er das Schwert hob. Ein staubiger kleiner Mann schnauf te: »Bist du Sonnenwolf?« »Ja.« Trotz Staub und Ruß konnte er das flammenartige Gold des Haars dieses Mannes sehen, das Merkmal Ihres Königlichen Hauses: »Bist du Tarrin?« »Ja.« »Hat einer deiner Leute vielleicht den Schlüssel für diese Kette?« »Nein, aber wir können sie mit einer Axt teilen. Die Schellen ent fernen wir später.« »In Ordnung«, erwiderte Sonnenwolf. Im Kampfgetümmel fiel ihm Eo auf, die Tarrin um einen halben Kopf überragte und ein rie senhaftes Beil schwang. Tarrin legte die Kette auf die Kante einer der Stufen. Sie alle zuckten zusammen, als die Schneide der Axt heruntersauste. »Ihr Frauen habt es also geschafft«, sagte Sonnenwolf, nachdem Eo die Kette auch von der anderen Schelle gelöst hatte. Die Antwort der stämmigen Frau verlor sich im Lärm des Kampfgetümmels. Das Geräusch der Schlacht ähnelte einem wortlo sen Brausen, war so elementar wie das Heulen eines Orkans. Weitere Söldner eilten in den Graben. Sonnenwolf griff nach seinem Schwert und nahm zusammen mit Tarrin den Kampf gegen den Feind auf. Eo folgte ihnen mit der Axt. Die Schlacht erforderte ihre ganze Auf merksamkeit und trennte sie voneinander. Ohne das belastende Ge wicht der Kette würde er eine Ewigkeit lang mit dem Schwert um sich schlagen können! Er holte aus und bohrte die Klinge in Fleisch und Knochen. Als er die Waffe aus dem Leib seines Gegners ziehen wollte und den Kopf senkte, erstarrte er vor Entsetzen. Auf der Haut seiner Arme und Hände zeigte sich Lepraaussatz. 348
Das auf ihn zielende Schwert bemerkte er erst, als Sternenfalke die Attacke des Söldners abwehrte; die grauenvolle Entdeckung machte es ihm unmöglich, sich zu bewegen. »Es ist ein Trugbild, Wolf!« rief ihm die Kriegerin zu. »Hab keine Angst. Du bist nicht krank!« Er sah zu ihr hoch, das aschfahle Gesicht eine Maske des Schre ckens. Die Schlacht um sie herum tobte weiter, doch Sternenfalke wandte sich ihm zu: »Verdammt, es ist nichts weiter als eine Illusi on! Glaubst du etwa, eine Lepraerkrankung könne sich so rasch bemerkbar machen? Auf diese Weise trug er im Eisernen Paß den Sieg davon. Auf dem Weg von den Bergwerken hierher mußten wir uns sechsmal mit solchen Trugbildern auseinandersetzen!« Auch im Gesicht der Kriegerin zeigten sich die weißgrauen Fle cken, wie Flechten auf Stein. Sonnenwolf überlegte und stellte fest, daß Sternenfalke recht hatte. Es war wie beim Anblick von Dämo nen: Wenn er seinen Blick auf einen Punkt fixierte, so konnte er die Haut unter dem magischen Schleier des Faulens sehen. Der Zorn ließ sein Herz schneller schlagen, und mit neuer Kraft zirkulierte das Blut durch seine Adern. Die Männer und Frauen um ihn herum verfügten nicht über seine Fähigkeit, auf diese Weise die Realität vom Schein zu unterscheiden, und sie waren auch nicht wie Yirth dazu in der Lage, mit Zauberformeln etwas gegen die Trugbilder zu unterneh men. Doch sie wußten, mit welchen Mitteln der Zauberkönig sie zu entsetzen versuchte, und sie ließen sich nicht in ihrer Entschlossen heit erschüttern, den Kampf zu gewinnen. Sonnenwolf fluchte ausgiebig. Dann blickte er durch das Tor in den Gang, in dem es von Söldnern Altiokis' wimmelte. Und mit der Erkenntnis, daß die Leprafäule nur ein Trugbild darstellte, lichtete sich ein diffuser Nebel vor seinen Augen und er sah, daß drei Viertel dieser gegnerischen Soldaten überhaupt nicht existierten. Aus der Art und Weise, mit der die Männer aus den Bergwerken auf diese Feinde einschlugen, schloß Sonnenwolf, daß sie sie nicht als magi schen Schein zu identifizieren vermochten. Während Sternenfalke ihr Schwert zum Schlag gegen eins dieser Trugbilder erhob, zielte ein echter Söldner mit einer Hellebarde nach ihr. Sonnenwolf setzte den Mann außer Gefecht, noch bevor er zustoßen konnte. Er überleg te, wie viele Kämpfer Mandrigins infolge derartiger Täuschungen den Tod finden mochten. Hinter sich hörte er den entsetzten Schrei eines Mannes. Er drehte sich um und sah in die Finsternis des Zitadellentores. 349
Irgend etwas lauerte dort, hinter den sich zurückziehenden Söldnern, ein gestaltloses Etwas aus dunklem Schrecken, eine Kälte, die das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Altiokis' Kämpfer wichen nun in die Bastion zurück. Tarrin und seine Leute zögerten, die Ver folgung aufzunehmen, starrten voller Entsetzen auf das finstere Wo gen und Wallen. Sie taumelten und wankten zurück ins Licht der Sonne. Langsam schlossen sich die Tore. Sonnenwolf starrte in die Dunkelheit, versuchte, sie nicht nur mit seinen Blicken, sondern auch mit seinen Gedanken zu durchdringen. Er entdeckte nichts weiter als die fette Gestalt Altiokis', ein ganzes Stück entfernt von der matt glühenden Entsetzenswolke. Die Hände des Zauberkönigs waren es, die das magische Gespinst des Grauens woben. »Es ist ein Trugbild, verdammt!« rief Sonnenwolf. »Laßt nicht zu, daß die Tore geschlossen werden!« Er lief los. Die eiligen Schrit te Sternenfalkes folgten ihm. Er hörte die Stimme der Kriegerin, die die anderen Kämpfer dazu aufforderte, sich ihnen anzuschließen, und er wußte, daß die Männer und Frauen sich wieder in Bewegung setz ten. Dann schloß sich plötzlich das Tor hinter ihm. Der Nebel des Schreckens verflüchtigte sich. Als er das Schwert hob und damit auf die ihm entgegenstürmenden Söldner eindrosch, stellte er fest, daß sich auf der Haut seiner Arme und Hände keine Leprafäule mehr zeigte. In unmittelbarer Nähe des Tores hielten sich nur noch einige wenige Kämpfer des Zauberkönigs auf; die anderen waren in Richtung der Wehrgänge unterwegs, um dort gegen die Eindringlinge anzutreten. Sonnenwolf hatte keine besonderen Schwierigkeiten, seine Gegner außer Gefecht zu setzen. Anschlie ßend machte er sich an die Verfolgung Altiokis'. Die Finsternis in den unteren Gewölben der Zitadelle schien noch dichter zu sein als zuvor, erwies sich selbst für seine magischen Sinne als undurchdringlich. Er nahm eine Fackel aus der Wandhalte rung, ihr Rauch wehte wie ein Kriegsbanner hinter ihm. Aus der Schwärze des Tunnels erklang das höhnische Gelächter Altiokis'. Sonnenwolf argwöhnte eine Falle und drang vorsichtiger vor. Die sonderbare Wahrnehmung, die ihn in die Lage versetzte, zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden, zeigte ihm unter dem Trugbild, das ihm feuchte Steine vorgaukelte, eine Lanzengrube. Sonnenwolf preßte sich an die Wand und schlich über den schmalen Sims, über den vor ihm der Zauberkönig die Falle passiert hatte. Dadurch jedoch verlor er Zeit, und als er sich auf der anderen Seite 350
der Grube befand, war von Altiokis weit und breit nichts mehr zu sehen. Sonnenwolf hatte das Gefühl, in einem Irrgarten gefangen zu sein, in einem Labyrinth aus Türen, die sich ins Nichts öffneten, aus magischen Fallen im Boden und in den Wänden. Einmal wurde er von Nuuwa angegriffen, in einem Raum, der völlig leer zu sein schien – ein weiteres Trugbild, das von einem anderen Geist ge schaffen wurde, einem Bewußtsein, das auch die Nuuwa in der Schlacht beherrscht hatte. Mit dem Schwert und der Fackel hieb er auf sie ein. Und während er mit der Klinge Schädel spaltete und mit der Fackel verfilztes Haar und faulendes Fleisch verbrannte, ver nahm er erneut das gespenstische Flüstern in einem Winkel seiner Seele. Du kannst sie selbst kontrollieren. Du brauchst nur einen Teil deines Bewußtseins dem kalten schwarzen Feuer zu überantworten, und anschließend bist du dazu in der Lage, die Ungeheuer deinem Willen zu unterwerfen, viel mächtiger zu werden, als du es jetzt bist. Denk doch einmal nach: Was kannst du der Frau, die du liebst, denn anderes anbieten als nur Entbehrungen und tägliche Gefahren? Und glaubst du etwa, Ari wird das Kommando über die Streitmacht an dich abtreten? Sonnenwolf erinnerte sich an das diffuse Feuer, das in den verrot teten Überbleibseln der Seele Altiokis' brannte, und er kämpfte mit grimmiger Entschlossenheit, focht und schlug um sich, hieb auf Nuuwa ein und führte gleichzeitig eine Schlacht in seinem Innern. Er brachte zwei der Ungeheuer um, die anderen zogen sich zurück, flohen vor dem Glanz der Fackel in das finstere Felsenlabyrinth. Wenn Altiokis es für angebracht hält, seine Nuuwa zu schützen, dachte Sonnenwolf, so verfügt er offenbar nur noch über ein be grenztes Kontingent von ihnen. Er hetzte ihnen nach. Seine übersensiblen Sinne entdeckten im Wachraum eine Falle, und er fand eine Möglichkeit, sie zu umgehen. Dann versuchte er festzustellen, aus welcher Richtung das schnaufende Keuchen des fetten Mannes ertönte. Kurz darauf sah er Altiokis, der durch einen weiteren dunklen Korridor floh. Der unstete Fackelschein tanzte zitternd über die rauhen Felswände des Tunnels, als Sonnenwolf die Verfolgung fortsetzte. Er hörte, wie Altiokis immer wieder nach Luft schnappte, wie seine Stiefel über den Boden kratzten. Weiter voraus sah er eine schmale Tür, deren eiserne Riegel vorgeschoben waren. 351
Finsternis wogte ihm plötzlich entgegen, ein letztes Trugbild, doch in der Dunkelheit hörte er, wie sich die Tür öffnete und wieder schloß. Er stürzte darauf zu, riß sie auf, betrat das Zimmer und hob die Fackel, um sich in ihrem Licht zu orientieren. Er begriff, daß diese Wand die nicht geglättete Steinmauer der Hütte war, die Altiokis einst an diesem Ort errichtet hatte. Und er wußte auch, daß der Zauberkönig sich überhaupt nicht in diesen Raum begeben hatte. Hinter ihm schloß sich die Tür. Eiserne Riegel wurden in die Ein fassung geschoben. Sonnenwolf drehte sich um, hielt unwillkürlich die Luft an und rang mit dem in ihm wachsenden Entsetzen. Vor ihm befand sich das Loch aus Schwärze, finster und leer, und es schluck te das Licht der Flammen, die über das Pech der Fackel leckten. Auf der anderen Seite des Lochs sah er das Glas des Fensters in der Wand des Beobachtungszimmers und die schmale Tür daneben. Er erinnerte sich daran, daß sie von Altiokis nicht verriegelt worden war, als er dem Finsteren Adler den Befehl gegeben hatte, ihn fort zuschaffen. Aber zwischen ihm und dem Fenster erstreckte sich die ganze Länge der Kammer – und auch die grauenerregende Tiefe der stillen Finsternis, die Pforte zu einer anderen Welt. Das Schwert entfiel den taub gewordenen Fingern Sonnenwolfs, als er sich vorstellte, an dem Loch vorbeigehen zu müssen, und die Hand, die die Fackel hielt, zitterte so sehr, daß das Licht nervös über den Stein der Wände glitt. Er stand wie erstarrt und war sich der Macht bewußt, an der er sich vorbeischieben mußte, des seelenlosen Geistes aus Feuer und Kälte, seit Jahrhunderten gefangen zwischen diesem Kosmos und den Un heilstiefen. Aus den Augenwinkeln nahm er irgend etwas Helles wahr, das sich bewegte, eine Art Funken, der durch die Luft schwebte. Zu spät erinnerte sich Sonnenwolf an die andere Gefahr, an den Schrecken, den selbst das Etwas im Loch, das es auf seine Seele abgesehen hatte, nicht von ihm fernzuhalten vermochte. Als der ehemalige Söldner das Gesicht abwandte, explodierte Feuer in seinem linken Auge, eine sengende und brennende Hitze, der ein unsagbarer Schmerz folgte. Mit einem Rest aus seltsam klarem Verstand begriff Sonnenwolf, wie viele Sekunden Zeit er noch hatte und wozu er diese letzte Frist nutzen mußte.
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21. Kapitel Die Tür des Beobachtungszimmers öffnete sich langsam und lei se. Altiokis, Zauberkönig des größten Reiches der Welt, seit sich die letzten Herrscher von Gwent schmollend in ihre jeweiligen Klöster zurückgezogen hatten, spähte argwöhnisch in die dunkle Kammer. Der große Söldner lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bo den. Unter seinem Kopf rann Blut hervor. Offenbar, so dachte Altio kis, mußte es ihm gelungen sein, durch die Tür neben dem Fenster zu gelangen – der Zauberkönig stellte mit einem raschen Blick fest, daß sie nicht verriegelt war. Altiokis entspannte sich und lächelte zufrieden. Seine vorherige Panik erschien ihm nun absurd. Der Alkohol macht mich noch zu einem Narren, seufzte er. Ich sollte wirklich nicht soviel trinken. Er hatte schon immer vermutet, daß das Etwas im Loch die Schmierer nicht beherrschte, und aus diesem Grund wagte er sich für gewöhn lich nicht einmal in die Nähe der Kammer. Andererseits jedoch be stand immer die Gefahr, daß irgendein anderer Zauberer das Ge heimnis entdeckte, wie man ihn vernichten konnte – wenn ein sol ches Geheimnis überhaupt existierte. Der fette Mann runzelte die Stirn. Es gab so viel, was ihn sein Meister – er konnte sich nicht mehr an den Namen des alten Narren erinnern – nicht gelehrt hatte. Und viele seiner Worte ergaben für Altiokis selbst heute, nach all den Jahren, noch immer keinen Sinn. Er wankte in den kleinen Raum, und zwei Nuuwa folgten ihm gehorsam. Tatsächlich, so dachte er, hatte er damals wirklich Glück gehabt, nicht selbst zu einem solchen Ungeheuer zu werden. Er blickte auf den reglosen Leib des großen Mannes zu seinen Füßen. Vor all den vielen Jahren… Wie viele Dekaden waren seitdem ver strichen? Es schien sich um eine ganze Ewigkeit zu handeln, eine so lange Zeit, daß das Gedächtnis des Zauberkönigs versagte. Ja, es war nur Glück gewesen, daß die Männer, mit denen er in der damaligen Nacht unterwegs gewesen war – die Leute des alten und jämmerli chen Mistkerls von Thane –, von den Schmierern heimgesucht wur den und ihre Seelen verloren, während er, Altiokis, in einem nahen Gebüsch versteckt zusah. Oh, er hatte natürlich von den Löchern gehört, aber zuvor nie eins mit eigenen Augen gesehen. Und es über raschte ihn festzustellen, daß das Etwas darin lebte. Daß darin Etwas anderes lauerte als nur die Flammenflecken. 353
Auch davon hatte der alte… der alte – wie auch immer der Name des Meisters gelautet haben mochte – kein Wort ihm gegenüber verloren. Altiokis beugte sich vor. Ein Zauberer! Nach all den Jahren ver blüffte es ihn, daß ein anderer Magier den Mut aufbrachte, den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Aber es gab noch einige Zauberer, denen gegenüber er während der verstrichenen Dekaden gleichgültig gewesen war, und vielleicht gingen Schüler bei ihnen in die Lehre. Gerade in dieser Hinsicht empfand er es als einen großen Vorteil, unsterblich zu sein – und damit erfüllte sich ein Versprechen des Etwas im Loch. Nun, eigentlich hatte es sich nicht in dem Sinne um ein Verspre chen gehandelt. Altiokis runzelte die Stirn, als er vergeblich versuch te, sich zu erinnern. Wie dem auch sei: Er hatte erneut den Sieg er rungen, und er kicherte leise und erfreut, als er sich noch weiter herabbeugte, um seinen neuesten Rekruten für die Streitmacht der Seelenlosen zu begutachten. Eine Hand schloß sich um seinen Hals, so fest wie ein stählerner Schraubstock. Die Augen quollen Altiokis aus den Höhlen, als er in ein Gesicht starrte, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Eine Augenhöhle war verbrannt und grindig, doch in der anderen glänzte eine lebendige Pupille im Feuer von Schmerz und berserker hafter Wut. Der fette Zauberer keuchte erschrocken und entsetzt. Und eine Sekunde später stellte Sonnenwolf fest, daß er keinen Mann mehr an der Kehle gepackt hielt, sondern einen Leoparden. Während die Krallen über den Rücken kratzten, bohrten sich sei ne Finger tief in den weichen und pelzigen Hals. Selbst in veränder ter Gestalt war Altiokis ein überfettes altes Tier. Sonnenwolf richtete sich ruckartig auf und zerrte die knurrende und fauchende und sich hin und her windende Raubkatze in Richtung der schmalen Tür, die in die Kammer mit dem Loch führte. Jenseits der Scheibe schwirrten die Flammenflecken umher. Der Leopard ahnte offenbar, was Son nenwolf mit ihm vorhatte, und er widersetzte sich noch heftiger. Ganz plötzlich veränderte der Zauberkönig erneut die Gestalt, wurde zu einer fast zwei Meter langen Kobra. Nur für den Bruchteil einer Sekunde bestand Gefahr. Der glit schige Leib versuchte, sich um ein Bein Sonnenwolfs zu winden, doch dann hatte er den kleinen Kopf mit den Giftzähnen sicher im Griff. 354
Das nächste Geschöpf schien einem Alptraum entsprungen zu sein, stellte etwas dar, was der Wolf noch nie zuvor gesehen hatte, eine große Masse aus Chitin, mit Zangenbeinen und mit Dornen besetzten Tentakeln, die wie Peitschen nach ihm schlugen. Er riß die Tür auf. Die Nuuwa bewegten sich unruhig, nur noch teilweise gelähmt von der sich in dem Zimmer auswirkenden magischen Kraft. Son nenwolf spürte, wie Altiokis versuchte, sie erneut seinem Willen zu unterwerfen, sie dazu zu veranlassen, seinen Gegner anzugreifen. Dieser Absicht setzte Sonnenwolf seinen eigenen Willen entgegen. Als die Tür offen war, wurde das verlockende Flüstern in seiner Seele nahezu überwältigend. Er starrte über den insektenhaften Schädel des grunzenden Ungetüms hinweg, das er weiterhin fest hielt, und er sah Bewegungen in der Dunkelheit der Kammer, flan kiert von den nervös umherschwebenden Flammenflecken, die nach weiteren Opfern suchten. Das Scheusal hieb mit den Tentakeln auf ihn ein. Blut tropfte warm aus einer Schulter wunde und aus der verbrannten Augenhöhle. Das Ungeheuer erwies sich als überra schend stark, und Sonnenwolf spürte, wie seine Kräfte schwanden. Doch noch immer hielt er den Schädel umklammert. Auf der Türschwelle des Unheilszimmers wurde Altiokis wieder zu einem fetten und schwitzenden Mann, der fast außer sich war vor Furcht. Sonnenwolf stieß ihn in die Kammer und warf die Tür ins Schloß. Sie erzitterte, als sich der Zauberkönig von der anderen Seite dagegenpreßte. Wolf schob die Riegel vor und hielt sich – wie schon einmal – an ihnen fest. Er fühlte, wie die Scharniere erbebten, als Altiokis verzweifelt versuchte, die Tür mit Hilfe von speziellen Zau berformeln zu öffnen. Die beiden Nuuwa knurrten und fauchten. Sonnenwolf errichtete zwischen sich und den Ungeheuern eine geis tige Barriere, die sie daran hindern sollte zu verstehen, was um sie herum vor sich ging. Einmal mehr überlegte er dabei, ob er nicht wenigstens einmal dem Flüstern nachgeben sollte, um dadurch die Kraft zu erringen, sie einfach fortzuschicken. Dann gellte der erste Schrei. Altiokis stürmte durch die dunkle Kammer, schrie erneut, prallte an die Wand und sank zu Boden. Sonnenwolf lehnte noch immer an der Tür, spürte Übelkeit in sich emporsteigen, als er dem Wimmern und Stöhnen lauschte, zählte die Sekunden. Er hatte genug Kämpfe erlebt, um zu wissen, wie man ein Auge ausstach. Er bezweifelte, ob Altiokis diese Kenntnis hatte, und sicher 355
mangelte es ihm auch an Mut und Entschlossenheit, sich die bluten de Augenhöhle mit der Fackel auszubrennen. Diese Selbstverstüm melung hatte ihn gerettet, aber er war sich auch sicher, daß er nie mals die endlosen Sekunden vergessen würde, die es gedauert hatte, sich dazu zu überwinden. Aufgrund der anders klingenden Schreie und der Veränderung in der Verhaltensweise der Nuuwa schloß Sonnenwolf auf den Zeit punkt, an dem das, was noch von der menschlichen Seele Altiokis' übriggeblieben war, endgültig verfaulte. Er lenkte die Aufmerksam keit der beiden Ungeheuer auf die gegenüberliegende Wand, schritt, nunmehr scheinbar unsichtbar geworden, an ihnen vorbei und wan derte durch die Zitadelle. Das dunkle Flüstern kicherte in ihm. Nach dem Lärm zu urteilen, der aus allen Gängen und Tunneln der Zitadelle kam, mußten die Nuuwa, die jetzt nicht mehr der Kon trolle des Zauberkönigs unterlagen, wieder zu den Ungeheuern ge worden sein, die man außerhalb der Domäne Altiokis' fürchtete, zu freßgierigen Monstren, die nun über die Söldner herfielen, mit denen sie zuvor gemeinsam gegen die Eindringlinge gekämpft hatten. Son nenwolf eilte durch die Korridore. Nach einer Weile fand er das Tor, das in den Graben führte. Es war verriegelt. Von der anderen Seite hämmerten Rammböcke dagegen. Er hörte Tarrin, der die Männer aus den Bergwerken dazu aufforderte, die Zitadelle zu stürmen. Die Verteidiger in diesem Bereich waren ganz damit beschäftigt, sich der Angriffe der Nuuwa zu erwehren, die sich plötzlich gegen sie gewandt hatten, und nie mand von ihnen machte Anstalten, Sonnenwolf daran zu hindern, die Riegel beiseite zu schieben. Zwei der Ungeheuer wankten knurrend und geifernd auf ihn zu, als sich die Doppeltür gerade öffnete und erstes Sonnenlicht in die Wachkammer fiel. Sonnenwolf wollte sich zu ihnen umdrehen und sie mit seinem Willen fortzwingen, doch er kam nicht mehr dazu. Sein Bewußtsein schien plötzlich in einem finsteren und rauschenden Ozean zu schwimmen, und die Gedanken kämpften gegen zwar fremde, aber beharrliche Begierden. Männer stürmten durch das offene Tor. Sonnenwolf wankte und hielt sich an einem Türpfosten fest. Kurz darauf griffen Hände nach seinen Armen und stützten ihn. Eine vertraute Stimme brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. »Kommandeur! Bei der Heiligen Mutter, was ist mit dir gesche 356
hen?« Er umklammerte die Schultern Sternenfalkes, so als sei sie der letzte Rettungsanker in dem Meer des Wahnsinns, in dem er zu ver sinken drohte. »Das… das Etwas in der Kammer… « »Das Loch?« Er zwinkerte mit seinem Auge und stellte fest, daß er seine räum liche Sicht verloren hatte. In der nächsten Zeit würde er Schwierig keiten haben, sich zu orientieren. Im hereinfallenden blassen Licht des späten Nachmittags beobachtete er das narbige und blutver schmierte Gesicht der Kriegerin. Sonderbarerweise entdeckte er keine Anzeichen von Überraschung in ihren Zügen. Der Blick ihrer grauen Augen musterte ihn aufmerksam. Zwar ließ sie sich nichts anmerken, aber Sonnenwolf war sicher, daß sein Gesicht ebenfalls einer Fratze gleichkam. Typisch für sie, dachte er. Sie stellt erst dann neugierige Fragen, wenn es Zeit genug gibt, sie auch zu beantwor ten. »Woher weißt du davon?« »Ich erfuhr es vom Zauberer Anyog«, erwiderte sie. Erst nach ei ner Weile begriff Sonnenwolf, daß er Sternenfalke seit vier Monaten nicht mehr gesehen hatte. Und doch hatte er das Gefühl, gerade erst gestern von ihr getrennt worden zu sein. »Wo befindet er sich?« »Dort drüben. Aber komm ihm nicht zu nahe. Geh nicht in die Kammer…« Sie schüttelte den Kopf. »Gibt es einen Raum in unmittelbarer Nähe? Ein Zimmer, in dem wir eine Ladung Schießpulver unterbrin gen können?« »Schießpulver?« Das Zerren an seinen Gedanken verstärkte sich wieder. Er war sich nicht ganz sicher, ob er Sternenfalke richtig verstanden hatte. »Um die Wände zu sprengen«, erklärte die Kriegerin. »Tages licht zerstört das Loch.« Sie hob eine Hand, und ganz sanft berührte sie ihn an der Wange. »Ist alles in Ordnung mit dir, Sonnenwolf?« Sie meinte damit nicht die leere und blutige Augenhöhle, weder die Kratzspuren auf dem Rücken noch die von Schwerthieben stam menden Wunden, die er an mehreren Stellen davongetragen hatte – tatsächlich sah sein Körper so aus, als habe er sich in zerbrochenem Glas hin und her gewälzt. Sternenfalke wußte um seine Zähigkeit. Ihre Besorgnis galt vielmehr seiner Seele. »Tageslicht«, brachte Sonnenwolf schwer hervor. »Dann… Die 357
Hütte wurde während der Nacht errichtet.« »Ja«, sagte die Krieger in. Sonnenwolf fragte sie nicht, woher sie das wußte. Eine kalte Dunkelheit schien sich langsam inmitten seiner Gedanken auszubrei ten, und er schüttelte den Kopf, so als könne er die Finsternis auf diese Weise aus sich verdrängen. »Der Teil der Zitadelle wird noch immer von den Truppen Altiokis' gehalten«, fügte er hinzu. »Ihr werdet auf heftigen Widerstand stoßen.« »Ist die Kammer bewacht?« »Nein.« »Dann schaffen wir es. Wir legen eine lange Zündschnur… « Weitere Krieger eilten nun auf sie zu, und der Kampf nahm tiefer in den Gängen und Tunneln der Zitadelle seinen Fortgang. Atemlos platzte es aus Sheera heraus: »Söldner! Dein Auge!« Bernsteinauge tastete behutsam und wie tröstend nach seinem Arm, und Sonnen wolf sah, daß auch die Hände der zierlichen Frau blutverschmiert waren. An seinem Ellenbogen spürte er einen wesentlich festeren Griff, und als er den Kopf hob, sah er Denga Rey, die ihn stützte. Sternenfalke unterrichtete sie mit knappen Worten und sagte ih nen, was nun unternommen werden mußte. Die anderen Frauen nick ten, und ganz offensichtlich akzeptierten sie die Kriegerin als erfah rene Kommandantin. Sonnenwolf fragte sich plötzlich, wie Sternen falke überhaupt an diesen Ort gelangt war, hielt diese Überlegung dann aber für unwichtig und schob sie beiseite. Er hatte schon des öfteren erlebt, daß es während des Wütens einer Schlacht zu den ungewöhnlichsten und erstaunlichsten Zufällen kommen konnte. »Die Zündschnur«, wandte Bernsteinauge ein, »wäre ein Risiko. Würden wir sie so lang machen, daß wir Zeit genug haben, eine sichere Entfernung zwischen uns und die Zitadelle zu bringen, so bestände die Gefahr, daß sie jemand findet.« »Das stimmt«, pflichtete Sternenfalke ihr bei. »Könnten wir mit der Sprengung nicht warten, bis der Kampf gewonnen ist?« fragte Sheera. »Bis zum Einbruch der Nacht sollten wir den Gegner überwältigt haben. Altiokis' Soldaten befinden sich im oberen Bereich des Turms und haben derzeit alle Hände voll mit den Nuuwa zu tun. Wenn wir… « »Nein«, sagte Sonnenwolf heiser. Das Etwas – die Stimme, das Drängen, um was auch immer es sich dabei handeln mochte: Er fühlte, wie es am Rande seiner Seele nagte, wie es stärker wurde, als die Anstrengungen der letzten Stunden ihren Tribut verlangten und 358
sich die bleierne Schwere der Erschöpfung auf seinen Leib preßte. Der Sonnenaufgang des nächsten Tages schien eine Ewigkeit ent fernt zu sein. »Die Hütte muß zerstört werden, bevor es dunkel wird.« Bernsteinauge und Denga Rey blickten ihn höchst besorgt an, und Sternenfalke nickte. »Er hat recht«, sagte sie. »Wenn es im Loch irgend etwas Lebendiges gibt, irgendeine Art von Bewußtsein, so dürfen wir diesem Etwas nicht eine Nacht Zeit lassen, um weiteres Unheil zu ersinnen.« »Bis zum Sonnenuntergang dauert es nur noch anderthalb Stun den«, gab Denga Rey zu bedenken. »Also müssen wir uns rasch ans Werk machen. Wir schaffen das Schießpulver in unmittelbare Nähe der Kammer. Was für ein Glück, daß Tarrin es aus den Bergwerken mitgebracht hat, um damit die Tore zu sprengen. Andernfalls würde es jetzt viele Stunden dauern, es herbeizuschaffen.« »Yirth könnte es aus der Ferne zünden«, sagte Bernsteinauge plötzlich. »Ich habe selbst erlebt, wie sie Fackeln und Kerzen zum Brennen brachte, indem sie nur ihren Blick darauf konzentrierte. Wenn es uns gelänge, sie in diesem Durcheinander zu finden, so könnte sie die Explosion bewirken… « »Sucht sie«, sagte Sheera. Bernsteinauge und Denga Rey eilten in unterschiedliche Rich tungen davon. Sonnenwolf lehnte sich wieder an die Wand in seinem Rücken, und seine Gedanken trieben ziellos dahin. Das Klirren und Dröhnen der Schlacht schien zu einem kaum hörbaren Raunen zu werden. »Kommandeur! « Er sah auf und blickte in das besorgte Gesicht Sternenfalkes. Ir gendwie waren Bernsteinauge und Denga Rey bereits zurückgekehrt, standen bei Sheera, ganz nah bei ihm, so wie damals auf dem Schiff. Einige Sekunden lang glaubte Sonnenwolf, er habe das Bewußtsein verloren. Dann jedoch stellte er fest, daß er noch immer auf den Beinen war und am kühlen Stein der Mauer lehnte. Im Festungsgra ben rechts und links lagen Dutzende von Toten und starrten mit gebrochenen Blicken wie anklagend in den sich trübenden Himmel. Er schüttelte den Kopf und hatte das Gefühl, wertvolle Zeit verlo ren zu haben. »Was ist geschehen?« »Ich weiß nicht«, sagte Sternenfalke. Ihr narbiges Gesicht wirkte so ruhig und kaltblütig wie immer, doch Sonnenwolf vernahm deut 359
lich die Besorgnis in ihrer Stimme. »Du warst… fort. Ich habe mit dir gesprochen, aber es schien, als hörtest du einer anderen Stimme zu.« »Das stimmt auch«, erwiderte er finster, als er begriff. »Yirth, kannst du etwas aus der Ferne zünden, ohne es zuvor ge sehen zu haben?« Die Hexe runzelte nachdenklich die Stirn. Sie trug den Wams ei nes Mannes, mitsamt einer bis zu den Waden reichenden Hose. Als einzige von ihnen wies ihr Leib weder Wunden auf noch andere Spuren körperlichen Kampfes. Doch in ihrem Gesicht kam tiefe Erschöpfung zum Ausdruck, und der häßliche Fleck ihres Mutter mals wirkte fast schwarz im Vergleich zu den blassen Wangen. Sie sieht älter aus, dachte Sonnenwolf, als bei ihrer letzten Begegnung in ihrem Haus. Offenbar hatte es alle ihre Kräfte erfordert, die Kriege rinnen Mandrigins an den magischen Fallen in den Bergwerkspassa gen vorbeizuführen, und alle ihre Narben mußten seelischer Natur sein. »Ich kann nichts aus der Ferne in Brand setzen«, sagte sie. »Ich muß den Gegenstand sehen, den ich entzünden soll.« Die anderen starrten sie an und waren ganz offensichtlich über rascht angesichts dieser Beschränkung ihrer Magie. Auch Sonnen wolf war verwirrt. »Kannst du… kannst du denn nicht ein Feuer an einem Ort entzünden, den du dir in Gedanken vorstellt?« fragte er. »Nicht einmal dann, wenn du dich ganz darauf konzentrierst?« Zwar hatte er selbst so etwas noch nie vollbracht, aber eine solche Aufgabe erschien ihm nicht sonderlich schwer. Er verglich sie damit, die Aufmerksamkeit anderer Menschen von sich abzulenken oder die Art der eigenen Wahrnehmung so zu verändern, daß man den Schein von der Wirklichkeit unterscheiden konnte. Yirth schüttelte den Kopf und verstand offenbar nicht, was er meinte. »Du magst dazu in der Lage sein«, erwiderte sie. »Aber meine magischen Fähigkeiten reichen dazu nicht aus.« Also war es Sonnenwolf, der die kleine Gruppe schließlich durch das Labyrinth in Richtung des Lochs führte. Yirth folgte ihnen. Er hatte sie davor gewarnt, das Beobachtungszimmer oder gar die Kammer mit dem Loch zu betreten. Einige der befreiten Männer aus den Bergwerken halfen, die Säcke mit dem Schießpulver zu tragen. Aus den Geräuschen, die Sonnenwolf vernahm, schloß er, daß die Kämpfe in den oberen Bereichen der Inneren Zitadelle fortgesetzt wurden, daß die Schlacht nun jenes blutige Stadium erreicht hatte, in dem in entlegenen Winkeln gefochten wurde. Ganz offensichtlich 360
war der Kampf bereits entschieden, und es kam den Männern und Frauen von Mandrigin jetzt nur noch darauf an, keinen Gegner ent kommen zu lassen. Seiner Seele näher war die murmelnde Dunkelheit, die am Rande seines Bewußtseins hobelte und sengte, mit einer geradezu entsetzli chen Hartnäckigkeit, der er kaum etwas entgegenzusetzen wußte. Er legte Sternenfalke eine Hand auf die Schulter, um sich abzustützen, und er merkte kaum, wie sehr seine Finger zitterten. Die Sonne, die nun jenseits der äußeren Wälle der Bastion dem Horizont entgegen sank, schien zu einer anderen Welt zu gehören, ebenso ihr Licht, das blutrot wurde und die nahe Nacht ankündigte. Zwar konnte er das alles nicht sehen, aber er hatte das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um selbst immaterielle Dinge zu berühren. Als er diese Art seiner Wahrnehmung Yirth gegenüber erwähnte, schüttelte die Hexe nur den Kopf und bedachte ihn mit einem seltsamen Blick. Das hinter seiner Stirn flüsternde Etwas erschien ihm wirklicher als sein eigener Körper, wirklicher als die steinernen Gänge, durch die er wankte – wenn vielleicht auch nicht ganz so real wie die harten Kno chen der Schulter unter seiner Hand und das seidene Haar, das ihm über die Finger strich, wenn Sternenfalke den Kopf wandte. Durch das kleine Fenster des Beobachtungszimmers sahen sie, daß sich Altiokis noch immer bewegte. Er rollte sich auf dem Boden umher, schlug mit den Armen um sich und stand dann und wann auf oder stöhnte und wimmerte. Die Edelsteine auf seinem Wams hatten Kratzspuren an den Wänden hinterlassen und sich teilweise aus Sei de und Brokat gelöst. Das weißlich-fette Fleisch seines aufgedunse nen Körpers quoll durch die Risse im Stoff der Kleidung. Ein Auge war verbrannt, und an dem anderen sengte eine von innen kommen de Hitze. Das Gesicht hatte sich bereits zu verändern begonnen und gewann Ähnlichkeit mit den monströsen Fratzen der Nuuwa. Sheera ächzte und drehte den Kopf zur Seite. Sonnenwolf erkannte kaum, was sich in der dunklen Kammer zu trug. Er blieb an der Tür stehen, während die anderen die Säcke mit dem Schießpulver ins Zimmer trugen und auch einige an die Wand des Korridors lehnten, in dem Yirth wartete. Das Pulver reichte aus, um den ganzen westlichen Teil der Zitadelle in die Luft zu jagen. Sonnenwolf blickte in die Richtung des Fensters, durch die Scheibe, in die Finsternis, in der er das Wallen und Wogen des Etwas sehen konnte. Das Kratzen und Nagen innerhalb seiner Seele war fast unerträg 361
lich. Das Etwas kannte ihn, und es bohrte Ausläufer in alle Bereiche seines Bewußtseins. Einige Sekunden lang sah er sich selbst, als einen Schatten, der sich hinter dem dunklen Glas an der Tür ab zeichnete, sein halbnackter und zerkratzter und verschmutzter Kör per nur eine vage Kontur, an den Handgelenken noch immer die eisernen Schellen, das aus der abgeschürften Haut darunter hervorsi ckernde Blut, dünne rote Striemen, die sich an den Fingern entlang wanden. Die linke Augenhöhle war eine schmierige Grube in einem vor Grauen und Erschöpfung aschfahlen Gesicht. Die anderen Ges talten stellten nur Verdichtungen im Grau dar, Schemen, die auf groteske Art und Weise hin und her eilten und ihren bedeutungslosen Aufgaben nachkamen. Das Etwas konnte sie ebensowenig erkennen, wie Sheera und ihre Begleiter Es im Loch sehen konnten. Sie waren nur Andeutungen, triviale Weisheiten, die keine Rolle spielten. Sonnenwolf beobachtete, wie einer dieser Schemen an ihn heran trat und zögernd eine Hand ausstreckte, um ihn zu berühren. Er schloß das ihm noch verbliebene Auge, und die Konturen der Vision verflüchtigten sich. Als er das Lid wieder hob, sah er Sternen falke, die ihn einmal mehr besorgt musterte. »Kommandeur?« Er nickte. »Es ist alles in Ordnung mit mir.« Seine Stimme klang rauh und heiser und hatte Ähnlichkeit mit dem Geräusch, das ein Fingernagel verursacht, wenn er über Metall kratzt. Er sah sich um und prägte sich den Raum fest ins Gedächtnis ein: die steinernen Wände, die Schatten, das grauweiße Leinen der Säcke, die über die Flammen lecken sollten, wenn er das Feuer beschwor, den großen Sessel aus Ebenholz, der nun achtlos in eine Ecke geschoben worden war. Sternenfalke und Denga Rey stützten ihn, als sie ihn aus dem Zimmer führten. »Bist du sicher, es wird klappen?« fragte Sheera nervös. »Nein«, erwiderte Sonnenwolf. »Könnte Yirth nicht… « »Nein«, sagte Sternenfalke. »Wir haben so schon genug Proble me und dürfen nicht riskieren, daß das Etwas auch noch Einfluß auf die Hexe nimmt.« Sie kamen um eine Ecke herum und folgten dem Verlauf einer schmalen Passage, die in Richtung des Tores führte. Plötzlich schloß sich die Tür vor ihnen, und von einem Augenblick zum anderen versperrten ihnen in schwarze Kettenhemden gekleidete Männer den Weg. Der Finstere Adler führte sie. 362
»Habe ich es mir doch gedacht«, sagte er und lächelte, »daß wir dich hier irgendwo finden würden. Und Sternenfalke ist bei dir… Eure Streitmacht hat zugeschlagen.« Im Fackelschein war deutlich die Kruste aus Schmutz und geronnenem Blut zu sehen, die wie eine Maske das Gesicht des Söldners verbarg. Der verzierte Helm war nur noch eine zerbeulte Metallmasse. »Laß uns gehen«, sagte Sonnenwolf mit vibrierender Stimme. »Es hat jetzt keinen Sinn mehr, den Kampf fortzusetzen.« »Nein?« Eine dunkle Augenbraue stieg in die Höhe. »Die Nuuwa scheinen alle übergeschnappt zu sein, aber es sollte uns nicht weiter schwerfallen, sie zu erledigen. Es wird Altiokis freuen, wenn er hört… « »Altiokis ist tot«, flüsterte Sonnenwolf und kämpfte gegen das Raunen in sich, gab sich alle Mühe, nicht den Verlockungen zu er liegen, mit eigener Stimme zu sprechen, nicht mit der des Entset zens, das seinen Willen zu unterwerfen versuchte. Das von seinen Lippen tönende Kratzen wurde zu einem rauhen Stammeln, und er hatte Mühe, die einzelnen Worte so zu formulieren, daß man sie auch verstehen konnte. »Seine Macht ist endlich gebrochen… Es ist sinnlos, noch mehr Blut zu vergießen… Laß uns gehen… « Der Söldnerführer lächelte erneut, und einer seiner Männer lach te. Sheera machte Anstalten, ihr Schwert zu ziehen, und Sternenfalke griff nach ihrer Hand, um sie davon abzuhalten. »Eine nette Geschichte, die du mir da erzählst«, sagte Finsterer Adler. »Aber da ich hier die Geliebte Tarrins vor mir sehe – die eine außergewöhnliche Kriegerin darstellt, wenn ich das hinzufügen darf, verehrte Lady – und sich darüber hinaus die Hexe in meiner Gewalt befindet, die die Männer aus den Bergwerken an den magischen Fallen vorbeiführte… Nun, wenn mein Herr wirklich tot ist, was ich noch bezweifle, so steht seine Macht nun jemandem anders zur Ver fügung. Wir könnten… « »Wenn du deine Hände nach seiner Macht ausstreckst, so wird sie dir nicht nur die Finger verbrennen, sondern auch dein Hirn«, sagte Sonnenwolf barsch. »Geh durch die Tür am Ende des Korri dors und betritt das Zimmer. Sieh durch das verdammte Fenster – sieh dir das an, was sich in der dunklen Kammer befindet. Und wenn du anschließend zurückkehrst, sprechen wir uns wieder!« In seiner Stimme zitterten Wut und Erschöpfung, und hinter seiner Stirn tobte der Kampf gegen die gräßlichen schwarzen Wurzeln, die sich ihm durchs Denken bohrten, immer heftiger. »Und jetzt laß uns verflucht 363
noch mal von hier verschwinden – es sei denn, das Etwas im Loch soll sich ebenso in meinem Bewußtsein festfressen wie in dem Alti okis'!« Der Finstere Adler schwieg einige Sekunden lang und stierte nur stumm in das Gesicht Sonnenwolfs, in das vor Verzweiflung fun kelnde gelbe Auge, das ihn aus dem Gewirr aus Bartstoppeln, Schmutz, stinkendem Schleim und Blut anstarrte. Dann, ohne ein Wort zu verlieren, bedeutete er seinen Männern, Sonnenwolf und die Frauen passieren zu lassen. Anschließend drehte er sich um und schritt durch den Korridor in Richtung des Beobachtungszimmers Altiokis'. Sonnenwolf konnte sich später nicht daran erinnern, das Tor der Inneren Zitadelle hinter sich gebracht und über die Chaussee ge wankt zu sein. Die Söldner, denen der Finstere Adler den Befehl gegeben hatte, sie zu bewachen, blieben am Ende der Chaussee ste hen, und Sonnenwolf ließ sich im Schatten der Zinnen nieder, lehnte sich mit dem Rücken an den von einer nahen Explosion geschwärz ten Stein. Aus dem Schatten der Zinnen sah er zurück und beobach tete die Türme der Inneren Zitadelle, auf deren Wehrgängen Solda ten gegen Nuuwa kämpften, die durch die Tunnel stürmten und die Prunksäle der Bastion plünderten. Das Schrillen und Kreischen drang wie das Heulen eines ganz besonderen Orkans an seine Ohren, und der Wind trieb den Qualm Dutzender von Feuern heran. Das Licht der untergehenden Sonne vergoldete die dichten Rauchwolken, die aus den Fenstern der Türme her vor wallten. Hitze flirrte über den Mauern, und dann und wann stürmte ein Mensch oder Nuuwa auf vergeblicher Flucht vor den Flammen, die über seinen Körper leckten, über einen Wehrgang, einer lebendigen Fackel gleich. In Richtung des Meeres ballten sich dunkle Wolken am Himmel zu sammen, die von einem baldigen Unwetter kündeten. Wind strich Sonnenwolf übers Gesicht, der Atem der Berge, durchsetzt vom Gestank der Schlacht. Alles erschien ihm fern, so als trenne ihn eine dicke Membrane von dem, was die eigentliche Wirk lichkeit ausmachte. Er fragte sich müde, ob auch Altiokis die Welt auf diese Weise wahrgenommen hatte – als einen Traum von nur geringer Bedeutung. Es verwunderte ihn nun nicht mehr, daß er ständig auf der Suche nach intensiven und unmittelbaren Empfin dungen gewesen war, denn nur sie hatte er noch spüren können. Oder war es, nachdem er sich aufgegeben hatte, in der Art seiner Wahrnehmung zu einer Veränderung gekommen? 364
Dunkelheit wogte ihm entgegen und verdichtete sich um ihn her um. Unsicher streckte er die Hand aus, obgleich er nicht genau wuß te, was er zu ertasten trachtete, und er fühlte lange und knochige Finger. Die Berührung Sternenfalkes half ihm, wieder zu sich zu finden. Aus dem ihm noch verbliebenen Auge sah er die Krieger in an. Ihre von Schmutz und Blut bedeckten Züge wirkten gelassen, und das Licht der untergehenden Sonne lag wie eine dünne Schicht aus Schwefel auf ihrem hellen Haar. Ihre Augen waren zwei farblose Perlen, so klar wie Wasser. Hinter ihr und um sie beide herum hatten die anderen Frauen wie eine Leibgarde Aufstellung bezogen. Sonnenwolf spürte den Blick Yirths auf sich ruhen. Würde sie ihm den Gnadentod gewähren, wenn er dem Flüstern und Sengen innerhalb seiner Seele nachgab? Er hoffte es. Und seine Hand schloß sich fester um die Sternenfalkes. Am anderen Ende der Chaussee kam es zu einem kurzen Kampf. Die Klinge eines Schwertes blitzte auf, und einer der Soldaten aus der Garde Altiokis' fiel in den Graben. Finsterer Adler eilte mit langen Schritten über die Chaussee und schob das Schwert in die Scheide zurück. Vorsichtig kletterte er über das Gewirr aus Seilen und hölzernen Planken hinweg, das nun den Platz der verbrannten Zugbrücke einnahm. Unter dem zerbeulten Helm zeigte sich ein grünlicher Schimmer in seinem Gesicht, so als hätte er gerade den ganzen Mageninhalt aus sich herausgewürgt. Als der Söldnerführer nahe genug herangekommen war, fragte er: »Wie wollt ihr es vernichten?« »Indem wir das Schießpulver zünden«, antwortete Sheera. »Tar rin und seine Männer befinden sich inzwischen in sicherer Entfer nung.« »Überall in den Gängen und Korridoren streifen Nuuwa umher«, wandte sich Adler an Sheera – in einem Tonfall, den er üblicherwei se nur einem Gleichrangigen gegenüber benutzte – und Sheera sah auch aus wie eine erfahrene Kriegerin. »Bei allen Teufeln – etwas so Schreckliches habe ich noch nie zuvor gesehen! Ihr werdet es nicht schaffen, in das Zimmer zurückzukehren und eine Zündschnur aus zulegen. Und selbst wenn euch das gelingen sollte… « »Sonnenwolf kann die Säcke entzünden«, warf Sternenfalke ru hig ein. »Von hier aus.« Finsterer Adler kniff die Augen zusammen und musterte die Ges talt, die inmitten der Frauen an der Wand kauerte. Es blitzte in seinen blauen Augen, als er sagte: »Er ist also wirklich ein Zauberer.« 365
Sonnenwolf nickte. Feuer und Kälte zehrten ihn innerlich auf. Stimmen durchhallten seine Seele, riefen ihn aus der Ferne, lockten ihn, nagten Löcher in die Barriere, mit der er seinen Geist zu schüt zen versuchte… Der Schatten des Turmes erstreckte sich bereits durch den ganzen Graben und zeigte wie der höhnische Finger der Nacht auf ihn. Mühsam machte er sich daran, den Nebel in seinem Bewußtsein zu lichten und die einzelnen Teile des Erinnerungsbildes vom Beo bachtungszimmer zusammenzufügen. Er konnte den Raum nicht ganz deutlich sehen – Nuuwa waren dort, taumelten umher, stießen an Wände, heulten und kreischten nach demjenigen, dem sie ihre Existenz verdankten, der jenseits des Fensters noch immer stöhnte und wimmerte und sich umherwälzte. Im Geiste formte Sonnenwolf die Details des Bildes, rückte die Kon turen der Säcke an die richtigen Plätze, entsann sich der geraden Linien des Ebenholzsessels… Das Bild verschwamm vor seinem inneren Auge. Und ganz plötzlich sah er das Beobachtungszimmer von der an deren Seite des Fensters her. Mit einer fast körperlichen Anstrengung schob er diese Vision beiseite. Sie drängte sich erneut ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, wie eine Klinge, die die Stränge seiner Konzentration durcheilte, wie eine Waffe, die sich ihm darbot. Sonnenwolf wußte aber, daß er niemals dazu in der Lage sein würde, das Feuer zu entzünden, wenn er dieses Geschenk annahm. Beide Bilder lösten sich auf. Sonnenwolf kehrte in sich selbst zu rück, zitterte im kalten Schatten des Turms, fühlte, wie ihm der Schweiß übers Gesicht rann, spürte den kühlen Wind, der ihn frös teln und schaudern ließ. »Ich schaffe es nicht«, hauchte er. Sternenfalke griff nach seinen Händen. Er bebte so sehr, als er fasse ihn heftiges Fieber. Er hob den Kopf und blickte in Richtung der untergehenden Sonne, die nun unmittelbar über dem Horizont schwebte und ihn wie ein Unheilsauge anzustarren schien. Erneut versuchte er, sich an das Beobachtungszimmer zu erinnern, die Ein zelheiten einem Mosaik gleich zusammenzusetzen, und wieder wog te Finsternis heran und zerfaserte die Konturen. Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist unmöglich.« »Na schön«, sagte Sternenfalke. »Dann wird es Zeit für mich, daß ich die Zündschnur lege.« Es mußte eine sehr kurze sein, dachte Sonnenwolf… Überall 366
streiften Nuuwa umher… Und wenn die Kriegerin nicht ins Freie gelangen konnte, bevor die Schnur abgebrannt war… Sie hatte nicht die geringste Möglichkeit, die Zitadelle zu verlas sen, bevor die Sonne untergegangen war. Und vermutlich wußte Sternenfalke das auch. »Nein«, hauchte Sonnenwolf, als sie sich zum Gehen wandte. Er hörte, wie sie stehenblieb. »Nein«, wiederholte er mit etwas lauterer und kräftiger klingender Stimme. Er schloß das eine Auge, zwang nichts herbei, ließ sich in kühler und von Flüstern und Raunen erfüll ter Dunkelheit umhertreiben. Er vernahm die Schritte Sternenfalkes. Sie kehrte zu ihm zurück, griff aber nicht nach seinen Händen. Sie wollte ihn nicht ablenken. Diesmal konzentrierte er sich nicht auf die Einzelheiten, sondern rief sich den Raum als eine Einheit ins Gedächtnis zurück – das ganze Zimmer mit seinen Schatten, dem Sessel, den Sakken, dem Fenster, den Nuuwa, der Dunkelheit. Er beschwor die Realität dieses Bildes, beobachtete, wie es flirrte, so als betrachte er es durch ein Feuer, fühlte die Hitze der Flammen und berührte das graue Leinen der Säcke mit seinem brennendem Odem. Die Nuuwa bemerkten das plötzliche Feuer und wichen furchtsam zurück. Eine gewaltige Explosion donnerte, und der Boden unter Son nenwolf zitterte. Das Krachen hallte verstärkt hinter seiner Stirn wider. Obgleich er das eine Auge geschlossen hatte, konnte er deut lich sehen, wie schwere Steine nach oben geschleudert wurden, und das Licht der untergehenden Sonne erhellte eine jahrhundertealte Dunkelheit – ihr Glanz verdrängte den Frost der Schwärze aus seiner Seele. Er hörte, wie er schrie, und danach war nichts mehr.
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22. Kapitel »Viel gibt es eigentlich nicht zu erzählen.« Sternenfalke schlug die langen Beine übereinander und schob die nackten Füße unter die knittrigen Laken und die mit Blumenmustern versehene, seidene Steppdecke am Ende des Bettes. Die dunklen Stickmuster ihres Hemdes stellten einen seltsamen Kontrast zu dem prächtig verzierten Bettpfosten hinter ihr dar. Die Kriegerin wirkte blaß und bleich. Ihre langen knochigen Hände hatte sie um ein Knie gelegt. »Bernsteinau ge und eine Gruppe der hübschesten Mädchen – unter ihnen auch Wilarne und die Güldene Shorad – putzten sich heraus und machten sich als erste auf den Weg. Sie überwältigten die Torwächter, die überhaupt nicht begriffen, was eigentlich geschah. Anschließend wurde Alarm gegeben, aber es war schon zu spät: Die Streitmacht drang in die Bergwerke vor. Nachdem wir die erste Waffenkammer erreichten und Tarrin seine Leute zusammengerufen hatte, war es ganz leicht.« Sonnenwolf nickte. Aus langer Erfahrung wußte er, was Sternen falke mit ›leicht‹ meinte. Alle Frauen waren während der Kämpfe verletzt worden. Zwölf von den fünfzig Amazonen hatten in den dunklen Minen den Tod gefunden und würden niemals erfahren, daß ihr Angriff erfolgreich gewesen war. Andererseits: Sie alle hatten ganz genau gewußt, worum es ging. Sonnenwolf bezweifelte, ob Sternenfalke und Sheera den Sieg jemals in Frage gestellt hatten. Er lehnte sich in die seidenen Kissen zurück und zwinkerte schläfrig in das blaßgelbe Sonnenlicht, das kühl durch die Fenster scheiben fiel. Als er in diesem Zimmer erwacht war, hatte er zu nächst nicht gewußt, wo er sich befand. Schließlich stellte sich her aus, daß es sich bei diesem Raum um das Gästezimmer im Hause Sheeras handelte. Nun brauchte er sich nicht mehr zu verstecken und als Sklave zu geben. Dennoch hatte er eher damit gerechnet, in der Dachkammer über der Orangerie zu sich zu kommen. Bisher hatte Sheera ihm noch keinen Besuch abgestattet. »Sie nimmt an den Krönungszeremonien teil«, erklärte Sternen falke. »Ich wäre ebenfalls sehr gern dabei gewesen, aber Yirth mein te, ich sollte dich nicht allein lassen. Gestern hat Yirth an deiner Seite gewacht, während ich die Hochzeit miterlebte – die von Sheera und Tarrin. Im Parlament herrscht ein ziemlicher Aufruhr, denn Tarrin und Sheera beharrten darauf, zuerst zu heiraten und dann als 368
Herrscherpaar gekrönt zu werden, anstatt Tarrin erst zum König werden zu lassen, der Sheera dann zu seiner Gemahlin wählt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Heute nachmittag tritt der Stadtrat zu sammen, und anschließend gibt es für alle Bewohner von Mandrigin freie Speisen und Wein. Es dürfte ein ziemlich ausschweifendes Fest werden, das sicher die ganze Nacht dauert. Wenn du dich morgen besser fühlst, sind Tarrin und Sheera bereit, dich auf dem Kathedra lenplatz zu empfangen.« Sonnenwolf nickte erneut und wußte jetzt endlich, worum es sich bei dem gedämpften Raunen handelte, das er die ganze Zeit über vernommen hatte: Musik und Jubel aus der Richtung des Großen Kanals. Wenn Mandrigin Zeit genug gehabt hatte, sich zu einem Fest zu rüsten, so mußte er wesentlich länger bewußtlos gewesen sein als nur eine einzige Nacht. Er lächelte und stellte sich die prächtigen Gewölbe der Kathedra le des Trigottes vor – und Sheera, in einem goldenen Gewand. Dry pettis hatte tatsächlich recht gehabt. Sheera war es würdig, zu einer Königin zu werden – aber zu ihren eigenen Bedingungen und nicht nur durch die Gunst eines Mannes. Es freute ihn, daß sie ihr Ziel erreicht hatte – ganz gleich, was der arme Tarrin von der ganzen Sache halten mochte. »Was hältst du von ihr? – Von Sheera, meine ich.« Sternenfalke lachte. »Ich mag sie. Sie ist die halsstarrigste Frau, der ich jemals begegnet bin. Und sie hat das Zeug zu einer guten Kommandantin. Zweifellos ist sie eine bessere Anführerin als Tarrin. Sie wußte ganz genau, wie sie ihre Streitmacht einsetzen mußte, verlor niemals den Überblick. Selbst als es zum Schlimmsten kam, als wir mit den magischen Fallen in den Passagen konfrontiert wur den, ließ sie sich nicht beirren. Yirth zeigte ihr den sicheren Weg, und sie folgte ihm, durch Trugbilder und Feuer und Grauen. Den anderen – sowohl den Frauen als auch den Männern Tarrins – blieb keine andere Wahl, als ihr zu folgen.« Sonnenwolf grinste und tastete nach dem Verband über dem Au ge, der bald durch eine schwarze Klappe ersetzt werden würde, die er für den Rest seines Lebens tragen mußte. »Selbst die Angst eines Mannes vor Zauberei«, sagte er heiser und rauh, »ist nicht stark genug, um ihn zu dem Eingeständnis zu zwingen, daß er sich davor fürchtet, dorthin zu gehen, wohin eine Frau ihn führt.« Sternenfalke hob eine Augenbraue. »Glaubst du etwa, ich hätte das nicht ausgenutzt, seit du mich zur stellvertretenden Befehlshabe 369
rin machtest? Eines werde ich nie vergessen, den Ausdruck im Ge sicht des Ehemannes Wilarne V'Baums, als sie sich während der Kämpfe in den Tunneln begegneten. In der einen Sekunde erweckte er den Anschein, als könne ihn jeden Augenblick der Schlag treffen, und in der nächsten sah er aus, als drohe er an einem Lachkrampf zu sterben. Wilarne hackte einem Wächter, der ihn bedrohte, den Arm ab – sie versteht es ausgezeichnet, mit ihrer Hellebarde umzugehen – , und als er sie erkannte, verzog er so empört das Gesicht, als habe sie ihm in aller Öffentlichkeit zwischen die Beine gegriffen.« Sonnenwolf lachte. »Ich dachte mir schon, daß auch Sheera eine gute Kämpferin und Kommandantin werden könnte«, sagte er. »Aber andererseits schien es mir ein zu großes Risiko zu sein, dadurch festzustellen, ob ich mich irrte oder mit meiner Vermutung recht hatte, indem ich sie völlig unerfahren in die erste Schlacht schickte – einen Kampf nicht nur gegen eine große Übermacht, sondern auch Magie.« »Weißt du«, entgegnete Sternenfalke nachdenklich, »ich habe von Anfang an vermutet, daß du uns allen nur etwas vorspielst.« Sie sah ihn aus ihren grauen Augen an und lächelte süffisant. »Der an geblich härteste Söldner in unserem Gewerbe…« »Das war ich wirklich«, verteidigte sich Sonnenwolf. »Ach?« Ihre Stimme klang kühl. »Warum hast du dich dann nicht in einer Nacht fortgeschlichen und Altiokis für das Gegenmittel Information über die Verschwörung angeboten? Auf diese Weise hättest du leicht den Kopf aus der Schlinge ziehen können.« Das blasse Sonnenlicht unterstrich die roten Flecken auf seinem Gesicht. »Dazu wäre ich nicht fähig gewesen.« Sternenfalke machte ein Bein lang und stieß mit dem Fuß an das eine sich unter der Decke abzeichnende Knie Sonnenwolfs. »Ich weiß.« Sie lächelte erneut, kletterte aus dem Bett und trat ans Fens ter. Die Schatten des rautenförmigen Gitterwerks bildeten ein Zick zackmuster in ihrem Gesicht und auf dem schwefelgelb glänzenden Haar. Über die Schulter hinweg sagte sie beiläufig: »Finsterer Adler meinte, angesichts des Zusammenbruchs des Reiches Altiokis' gäbe es jahrelang lohnende Aufträge für uns. Tarrin berichtete mir heute morgen, es sei die Nachricht von einem Aufstand der Kilpithie ein getroffen. Und du weißt ja, daß Statthalter Stirk gelyncht wurde – jener Mann, mit dem Altiokis Derroug Dru ersetzte. Im Norden herrscht bereits Krieg, zwischen den in Hackenrippe ansässigen Schergen des Zauberkönigs und den Bergthanes. Und mit dem 370
Reichtum, den Altiokis in hundertfünfzig Jahren anhäufte, steht Geld genug zur Verfügung.« Sternenfalke wandte Sonnenwolf nach wie vor den Rücken zu, und er konnte nur einen Teil ihres Gesichtes sehen, das sich im Glas des Fensters spiegelte. »Du weißt, daß ich nicht zurückkehren kann, Falke!« Sie drehte sich zu ihm um. »Wohin willst du gehen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Zuerst nach Wrynde. Um Ari wissen zu lassen, daß ich noch lebe – und um ihm den Be fehl über die Streitmacht zu übertragen. Auch deswegen, um Kitz Geld zu geben.« »Du meinst: um sie auszuzahlen, um sie abzufinden?« Früher einmal hätte er in aller Schärfe auf solche Worte reagiert, ganz gleich, von wem sie stammten, ganz zu schweigen von Sternen falke, die noch nie die Art und Weise kritisiert hatte, in der er Frauen begegnete. Jetzt jedoch blickte er nur auf seine Hände und erwiderte leise: »Ja.« Nach einigen Sekunden hob er den Kopf und fügte hinzu: »Weißt du, so schlecht habe ich sie nicht behandelt.« »Nein«, bestätigte Sternenfalke. »Du hast deine Kurtisanen nie schlecht behandelt.« Es war das erstemal, daß er Bitterkeit – oder überhaupt irgendei ne Regung – in ihrer Stimme vernahm. Es machte ihn betroffen, doch es erleichterte ihn auch zu wissen, welchen Standpunkt Falke einnahm. »Machst du mir deswegen Vorwürfe?« fragte er. »Ja«, bestätigte Sternenfalke sofort. »Es ist zwar völliger Unfug, denn schließlich habe ich dir zuvor nie gesagt, daß ich dich liebe, aber die Antwort lautet trotzdem: ja.« Sonnenwolf schwieg und wählte seine Worte mit aller Vorsicht. Gegenüber einer anderen Frau hätte er jetzt mit einem Scherz reagie ren oder sich mit einem Hinweis auf die Umstände herausreden kön nen. Sternenfalke jedoch kannte er zu gut, um sich der Illusion hin zugeben, ihre ihm geltende Liebe würde sie auch dann an seiner Seite verweilen lassen, wenn er nicht ehrlich und aufrichtig war. Er mußte sich eingestehen, daß es ihm in Hinsicht auf seine bisherigen Frauen eigentlich egal gewesen war, ob sie bei ihm blieben oder nicht. Doch mit Sternenfalke war das anders, er wollte sie nicht ver lieren. Als ihm keine passende Entschuldigung einfiel, sagte er nur: »Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt haben sollte. Wissentlich hätte ich 371
das nicht getan.« Er zögerte und suchte nach weiteren Worten. »Ich möchte Kitz eigentlich nicht auf diese Weise vor den Kopf stoßen, denn ich weiß, daß sie an mir hängt… « »Kitz«, hielt ihr Sternenfalke leise entgegen, »liebte dich so sehr, daß sie die Streitmacht verließ und mit mir kam, um dich zu suchen. Sie begleitete mich bis nach Pergemis. Ja, sie liebte dich wirklich, Sonnenwolf.« Er merkte, daß sie in der Vergangenheit sprach, und er spürte Trauer über das Schicksal der jungen Frau in sich emporsteigen, auch Scham. Scham deshalb, weil er Kitz nur wie ein Kätzchen ge liebt hatte – nicht mehr wie die Güldene Shorad, Wilarne, Bernstein auge und die anderen Konkubinen vor ihnen. »Was ist in Pergemis geschehen?« fragte er. »Sie heiratete einen Kaufmann«, erwiderte Sternenfalke ruhig. Sonnenwolf sah zu ihr auf, und der Ausdruck verletzter Eitelkeit in seinem Gesicht wirkte fast komisch. »Weitschritt und Söhne – Gewürze, Pelze und Onyx«, fuhr die Kriegerin fort. »Kitz meinte, sie wolle lieber in eine Familie aus Kaufleuten einheiraten, als weiterhin die Mätresse selbst des reichs ten Söldners zu sein. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich kann ihr des wegen keinen Vorwurf machen.« Mit etwas leiserer Stimme fügte Sternenfalke hinzu: »Auch mich bat man, in Pergemis zu bleiben. Ich dachte über das Angebot nach. Wir hatten damals schon viel Zeit verloren, und vermutlich war Kitz davon überzeugt, es gäbe keine Chance mehr, dich lebend zu finden.« »Mit dieser Meinung stand sie nicht allein da«, knurrte Sonnen wolf. »Wird er sie gut behandeln?« »Ja.« Sternenfalke dachte an das hohe Steinhaus in der Nähe des Kais von Pergemis, an Pel Weitschritt und ihre Witwenkappe, an Ram und Imber und Orris, die vor dem Kamin ihre Pfeifen rauchten und dauernd miteinander stritten, an die Kinder, die Hunde, die an heimelnde Atmosphäre. Anyog hätte sich mir nicht anschließen sol len, dachte sie, fragte sich dann jedoch, ob er bei seinen Verwandten ein glücklicheres Leben hätte führen können als sie selbst, wenn sie bereit dazu gewesen wäre, den Heiratsantrag Rams anzunehmen. Nach einer Weile merkte sie, wie lange sie schon schwieg. Son nenwolf musterte sie, neugierig und besorgt. Er fühlte, daß sich Ster nenfalke verändert hatte. »Es sind freundliche und umgängliche Leute«, sagte sie. »Die Art von Menschen, deren Häuser wir in den vergangenen Jahren geplündert haben, denen wir die Kehle durch 372
schnitten. Ich bin ebensowenig wie du dazu in der Lage, nach Wryn de zurückzukehren und so weiterzumachen wie bisher.« Sie kehrte ans Bett zurück und lehnte sich mit einer Schulter an die filigranen Schnitzmuster der furnierten Säule. Ihre harten Finger strichen über die gewölbten Muster aus Elfenbein und Gold, und einige Sekunden lang sahen sie aus wie eine aus Alabaster bestehen de Erweiterung der Zierde. Die hervorstehenden Knöchel und die rosafarbenen Narben wirkten vor dem Hintergrund aus Mahagoni und Ebenholz wie das Kunstwerk eines begnadeten Künstlers. »So ist also die Lage, Sonnenwolf«, sagte Sternenfalke und lächelte dünn. »Dein Vater hatte recht. Liebe und Magie haben uns verdor ben, und nun sind wir nicht mehr als Söldner zu gebrauchen.« Er zuckte mit den Schultern und sank in die weichen Seidenkis sen zurück. »Es sieht ganz danach aus, als müßten wir uns nach einem neuen Handwerk umsehen. Zumindest trifft das auf mich zu.« Er hob die Hand und tastete erneut nach dem Verband auf seiner Augenhöhle. Wie er bereits zuvor festgestellt hatte, war seine räum liche Sicht verloren. Wollte er jemals wieder in den Kampf ziehen, so mußte er zuvor ausgiebig an den Waffen üben, um diesen Nach teil wettzumachen. »Hat Sheera dir erzählt, was in jener Nacht in der Grube mit mir geschah?« fragte er. Sternenfalke nickte stumm. »Yirth hat recht. Ich muß einen Lehrer finden, Falke. Ich spüre die Macht in mir. Es gibt Dinge, von denen ich weiß, daß ich sie bewerkstelligen könnte, aber ich wage es nicht. Ich möchte nicht so werden wie Altiokis. Ich brauche jemanden, der mich lehrt, wie ich die in mir wohnenden Kräfte einsetzen kann, ohne alles zu zerstören, was ich berühre. Das verdammte Problem besteht nur darin, daß ich nicht weiß, wo ich suchen soll. Yirths Meister, eine Frau namens Chilisirdin, wurde von Altiokis umgebracht, so wie er auch die meis ten anderen Zauberer erledigte, und die Hexe hat keine Ahnung, wo ich jemanden finden kann, der genug magische Geheimnisse kennt, um mich auszubilden. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf eine lange Suche zu begeben – und ich weiß nicht, wo sie enden wird.« Er hielt inne und betrachtete das ruhige Gesicht, das ihn aus dem Schatten des Bettbaldachins beobachtete. Er sah die Kraft in ihren Zügen, sah auch den rötlichen Striemen einer besonders langen Nar be, an der Stelle, an der einst die Haut bis auf den Knochen aufge platzt war. Er erinnerte sich daran, wie sie die Wunde davongetragen 373
hatte: während einer erbitterten Schlacht, als sie sich bemüht hatte, ihn nach einer schweren Verletzung in Sicherheit zu bringen. Er sah in die kühlen rauchgrauen Augen, deren Blick bis in sein Innerstes zu reichen schien, bis in seine Seele, der mit aller Gelassenheit son dierte und verstand. Er nahm allen Mut zusammen und fragte: »Kommst du mit mir? Es wird eine lange Suche werden. Sie könnte viele Jahre dauern, aber… « »Sonnenwolf«, unterbrach sie ihn sanft, »mein einziger Wunsch besteht darin, viele Jahre an deiner Seite zu verbringen.« Still trat sie um das Fußende des Bettes herum und sank in seine Arme. Während einer öffentlichen Feierstunde wurde Sonnenwolf am nächsten Tag auf dem Kathedralenplatz von Tarrin und Sheera emp fangen. Der Winter schien über Nacht an Strenge verloren zu haben, die erste Wärme des Frühlings kündigte sich an. Der windlosen Frische des Morgens haftete nach wie vor ein Hauch von Frost an, doch die Menge, die vor der Kathedrale des Trigottes wartete, schien mit der Farben Vielfalt jener Blumen geschmückt zu sein, die bald überall erblühen würden. Sonnenwolf bemerkte, daß die meisten Frauen in der Art der ›neuen Mode‹ gekleidet waren; sie trugen die bequeme Kleidung, die die Kriegerinnen kreiert hatten. Den Männern hingen die mit Brokatstickereien verzierten Jacken um den Leib. Ihre Ge sichter wirkten blaß und fahl, während die der Frauen gebräunt wa ren. Die Kriegerinnen der Streitmacht Sheeras standen als eine ge schlossene Gruppe am Fuße der Truppe, die zum breiten Eingang der Kathedrale emporführte, ungefähr an der Stelle, an der man Son nenwolf verhaftet hatte. Nur Drypettis fehlte. Sternenfalke hatte ihm am vergangenen Abend erzählt, daß die Frau, durch deren Verrat er damals in große Gefahr geraten war, Tarrin während des offiziellen Empfangs als König der Stadt ihre Aufwartung gemacht hatte. Schließlich stellte sie trotz allem die letzte Repräsentantin der ältes ten und ehrwürdigsten Familie Mandrigins dar. »Ich fürchtete schon, sie könne Selbstmord begehen«, hatte Son nenwolf darauf geantwortet, der von der Auseinandersetzung zwi schen Drypettis und Sheera wußte. »Für ihr Verhalten hätte sie eine sehr harte Strafe verdient – aber ich bezweifle, ob das Sheera Genug tuung bereitet hätte. Sie mochte die kleine Närrin.« 374
Er entsann sich auch daran, wie Sternenfalke daraufhin den Kopf schüttelte und ein schiefes Lächeln andeutete. »Drypettis ist viel zu eitel, um sich das Leben zu nehmen«, sagte sie. »Tatsächlich bin ich mir nicht einmal sicher, ob sie sich wirklich darüber klar ist, einen Fehler gemacht zu haben. Ich glaube, sie hält den Kampf nach wie vor für etwas, mit dem sich vornehme Leute – insbesondere Frauen – nicht die Hände schmutzig machen sollten;, sie ist noch immer der Meinung, nur das niedere Volk müsse in einen Krieg ziehen und sein Leben für die Freiheit der Adeligen lassen. Sie war in allem Ernst davon überzeugt, Sheera habe ihre charakterliche Reinheit befleckt und sich in die Gosse herabbegeben, indem sie zu einer Kriegerin wurde. Nein, Drypettis geht mit aller Wahrscheinlichkeit davon aus, man habe ihr großes Unrecht getan, und sie dürfte sich jetzt zurück ziehen in eine ganz private Welt, in die des vergangenen Ruhms ihrer Familie. Vermutlich genießt sie ihren Ruf, zu den Initiatoren der Verschwörung gehört zu haben.« Auf dem Weg zum Platz glitt die Gondel, in der Sonnenwolf und Sternenfalke unterwegs waren, am Haus der Dru vorbei, dem einzi gen von all den Palästen im vornehmen Kaufmannsviertel, der nicht mit bunten Fahnen geschmückt war und auf dessen verzierten Bai konen keine Zuschauer standen. Während die Bediensteten Sheeras die prächtige Gondel an der Villa vorbeisteuerten, hörten sie Musik, die in einem der Zimmer ertönte, den hellen, klimpernden und ir gendwie wehmütigen Klang eines Clavicembalos. Die anderen Frauen warteten auf sie. Aufgeregt wie während der ersten Zusammenkunft in der Orangerie. Mit leuchtenden Augen begrüßten sie Sonnenwolf. Er sah Wilarne V'Baum und die Güldene Shorad, Eo und Tisa. Etwas weiter entfernt erblickte er einen Mann, den er nach einigen Sekunden als den Mann Wilarnes erkannte, und in seiner Begleitung befand sich der ein wenig verschüchtert wirken de zwölfjährige Sohn, der sich offensichtlich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte. Wilarne sah müde und erschöpft aus. Das Wie dersehen mit ihrem Mann, so schloß Sonnenwolf, war offenbar nicht ganz so glücklich gewesen, wie sie es sich erhofft hatte. Sie stand bei den Frauen und hatte sich nicht ihrer Familie hinzugesellt, und die Umstehenden reagierten mit einer gewissen Betroffenheit darauf. Auch andere Frauen trugen eher steinerne Mienen zur Schau. Bernsteinauge und Denga Rey allerdings strahlten wie Neuvermählte in ihrem schwarzen Samt. Die ehemalige Gladiatorin trug die Pracht rüstung der Kommandantin der Stadtwächter. 375
Yirth war ebenfalls anwesend. Sie stand ein wenig abseits, zupfte mit den Händen an den mit Sternensymbolen bestickten Ärmeln des nachtblauen Gewandes und hatte sich das Haar im Nacken zusam mengebunden. Im hellen Tageslicht konnte man zum erstenmal ganz deutlich alle Einzelheiten ihres Gesichts erkennen – sie versuchte nun nicht mehr, sich zu verbergen. Als Sonnenwolf sie aus der Ferne musterte, fiel ihm eine gewisse Veränderung an ihr auf, und kurz darauf begriff er, daß sie die Große Prüfung abgelegt hatte, während er sich im Gästezimmer Sheeras von seinen körperlichen und seeli schen Wunden erholt hatte. Jetzt hinderte sie nichts mehr daran, ihr magisches Talent ganz zu entfalten. Dieser Wandel drückte sich deutlich in der Körperhaltung und im Glanz der meeresgrünen Au gen aus. Doch erst in ihrer unmittelbaren Nähe bemerkte Wolf, daß das Muttermal, jener häßliche Striemen in ihrem Gesicht, ver schwunden war und nur einen kaum wahrnehmbaren Schatten hinter lassen hatte, wie die Andeutung einer Narbe. Auf diese Weise, so dachte er, hatte sie unmittelbar nach der Prüfung ihre erweiterte Kraft erprobt. In der Nähe der Frauen standen die Thanes, und in ihrer Mitte sah Sonnenwolf Lady Wrinshardin, so stolz wie eine Kaiserin in ihrem prächtigen Gewand, das weiße Haar mit Goldblumen geschmückt. Sie begegnete seinem Blick, und sie zwinkerte ihm zu, zur offen sichtlichen Entrüstung eines kleinen und dicken Mannes an ihrer Seite, bei dem es sich um ihren Sohn handeln mochte. Auf der anderen Seite der Kathedralentreppe saßen die in dunkle Roben gekleideten Stadträte. An ihre frühere Tätigkeit in den Berg werken Altiokis erinnerten ihre fahlen Gesichtsfarben und schwieli gen Hände. Zwischen den Frauen und den Repräsentanten des Par laments standen Tarrin und Sheera, Schnee und Feuer. Aus ihren Augen blitzte Stolz auf, ihre Liebe und der Triumph des Sieges. Gekleidet in schwere weiße Seide, hatte Tarrin von Ihrem Haus, König von Mandrigin, keine Ähnlichkeit mehr mit einem rußigen und dürren Mann in verschmutztem Leinen. Jetzt sah er wirklich aus wie ein erhabener Prinz. Zur fahlen Blässe seines Gesichts stellte das blonde Haar – es war ein wenig dunkler als das Bernsteinauges – einen seltsamen Kontrast dar. Seine Augen glitzerten in einem Blau, das an den Sommerhimmel erinnerte. Die Spitzen seiner Ärmel be deckten die wunden Stellen an den Handgelenken. Neben ihm wirkte Sheera wie ein lebendiges Juwel aus fransigem Gold. Der hohe, sich eng um den Hals schließende Spitzenkragen verbarg nicht ganz die 376
Verbände darunter. Sonnenwolf erinnerte sich an ihre letzte Begeg nung in der Zitadelle, an die Schwertwunden in der einen Schulter und zwischen den Brüsten, und er war sicher, daß sie sich für den Rest des Lebens mit den Narben abfinden mußte. Die meisten der Frauen, die an dem Angriff auf die Bergwerke und dem Sturm der Bastion teilgenommen hatten, waren nun mit solchen Narben gekennzeichnet. Sonnenwolf und Sternenfalke traten an das untere Ende der Treppe heran. Kunstvoll geknüpfte Teppiche bedeckten den Boden und auch die Stufen, in Scharlachrot und königlichem Blau, ge schmückt mit Rosen und Narzissen. Das Stimmengewirr verklang, als das Herrscherpaar Mandrigins die Treppe herunterschritt, und es wurde still auf dem großen Platz. Tarrins Gesicht war vollkommen ausdruckslos, als er seine Hand ausstreckte. Er hielt eine Pergamentrolle bereit, an deren purpurnen Bändern das Siegel der Stadt hing. Er machte keine Anstalten, dem ehemaligen Söldner für seine Verdienste zu danken. Sonnenwolf runzelte die Stirn und nahm die Rolle entgegen, und anschließend sah er Tarrin verwirrt an. »Lies die Botschaft«, sagte der König und schluckte. Sonnenwolf entrollte das Pergament und blickte auf die Schrift zeichen. Nach einigen Sekunden hob er den Kopf, so verblüfft, daß er nicht einmal Zorn empfinden konnte. »Ihr habt was?« entfuhr es ihm. Sternenfalke sah über seine Schulter hinweg. »Wie lautet die Botschaft denn?« Sonnenwolf reichte ihr das Pergament. »Man verbannt mich aus der Stadt.« »Bitte?« Sie überflog die offizielle Mitteilung rasch, starrte erst Sonnenwolf an und richtete ihren ungläubigen Blick dann auf Tarrin und Sheera. Letztere sah in die Ferne, ihr Gesicht eine starre Maske. Das eine Auge Sonnenwolfs funkelte gelblich und böse, und sei ne wütende Stimme klang so, als riebe man rostiges Metall überein ander. »Ich habe nicht darum gebeten, hierher gebracht zu werden«, wandte er sich an Tarrin. »Im Verlaufe dieses Winters verlor ich ein Auge, meine Stimme und fast sogar das Leben.« Er schrie nun fast. »Alles nur deswegen, um dieser miesen Stadt die Freiheit wieder zugeben. Und Ihr erdreistet Euch, mich zu verbannen?« Man mußte Tarrin zugute halten, daß er nicht zusammenzuckte oder gar einen Schritt zurückwich, als Sonnenwolf seine Tirade mit 377
einer Art hellendem Geierkrächzen beendete. Die Stimme des Kö nigs klang ruhig und unbewegt, als er erwiderte: »Gestern wurde im Parlament darüber abgestimmt«, sagte er. »Es tut mir leid. Aber… aber die erste vorgeschlagene Strafmaßnahme war noch weitaus drastischer.« Die Botschaft lautete: Auf Erlaß und Verfügung des Parlaments von Mandrigin, im Monat Gebnion, im Ersten Jahr der Herrschaft Tarrin II. aus Ihrem Haus, und Sheera, seiner Gemahlin: Es wird hiermit verkündet, daß die Tore Mandrigins fortan ge schlossen bleiben sollen für den Mann namens Sonnenwolf, Zaube rer und früherer Söldnerkommandeur, der sein Lager im nördlichen Wrynde hat. Von diesem Tag an wird er aus Mandrigin und von allen der Stadt gehörenden Ländereien verbannt, ebenso von den Gebieten, die in Zukunft unter die Herrschaft dieses Königshauses fallen, auf immer und ewig. Als Grund dafür wird die empörende Art und Weise genannt, in der er die Gesetze Mandrigins brach – und der von ihm herbeige führte verdammenswerte Verderb der Moral der Frauen dieser Stadt. Es sei hiermit kundgetan, daß er, sollte er jemals wieder die Län dereien Mandrigins betreten, für alle seine Verbrechen zur Verant wortung gezogen wird. König Tarrin II. Sheera, seine Gemahlin »Mit ›Verbrechen‹ ist gemeint«, ertönte die belustigt klingende Stimme Sternenfalkes in dem verwirrten und zornigen Schweigen Sonnenwolfs, »daß du die Frauen Mandrigins den Umgang mit Waf fen lehrtest.« Sonnenwolf sah sie kurz an und richtete seinen Blick dann wie der auf den König. Tarrin wirkte außerordentlich verlegen. »Wenn ich die Frauen Mandrigins nicht den Umgang mit Waffen gelehrt hätte«, knurrte der ehemalige Söldner, »so wärt Ihr und auch die anderen Mitglieder des dreimal verfluchten Parlaments jetzt noch damit beschäftigt, in den dunklen Tiefen der Bergwerke des Zauber königs große Felsen in winzig kleine Steine zu zertrümmern, ohne jede Hoffnung, jemals wieder helles Tageslicht zu sehen.« »Sonnenwolf«, erwiderte Tarrin mit seiner hellen Stimme, »glaubt mir, die Verdienste, die Ihr Euch in Hinblick auf die Befrei 378
ung Mandrigins erworben habt, werden mit der Dankbarkeit aller unserer Bürger belohnt, jetzt und in Zukunft. Ich bin sicher, daß dieser Erlaß revidiert werden kann, sobald die gegenwärtigen sozia len Unruhen der Vergangenheit angehören, und dann bin ich mit Freuden bereit, Euch als… « »Was für soziale Unruhen?« unterbrach ihn Sonnenwolf. Er hörte, wie Sternenfalke hinter ihm ein Geräusch von sich gab, das so gar nicht zu der Kriegerin zu passen schien: ein leises Ki chern. »Er meint«, sagte sie, »die Frauen sind weder dazu bereit, die Kontrolle über die Stadt an die Männer zurückzugeben, noch die über die Geschäfte Mandrigins, und darüber hinaus wollen sie keine Schleier mehr tragen. Das erweckte die Entrüstung der Ehemänner, Väter und Brüder.« »Die soziale Ordnung dieser Stadt«, fuhr Tarrin fort, »hat sich im Verlaufe vieler Generationen gebildet und stabilisiert.« In seiner Stimme war nun ein Hauch von Verzweiflung zu vernehmen. »Die… Reaktion auf Euer Verhalten, so löblich und notwendig es auch ge wesen sein mag, hat in allen Familien Mandrigins nichts als Chaos und Verwirrung gestiftet.« »Ich glaube«, warf Sternenfalke amüsiert ein, »die Männer Mandrigins wollen dir ans Leder, Wolf. Und eigentlich kann ich ihnen deswegen keinen Vorwurf machen.« »Das ist doch lächerlich!« entfuhr es Sonnenwolf. »Der ver dammten Streitmacht gehörten nicht mehr als fünfzig Weibsbilder an! Und die Frauen begannen in dem Augenblick damit, die Ge schäfte der Stadt zu führen, als die Männer auszogen, um sich im Eisernen Paß niedermachen zu lassen! Bei allen Teufeln, der größte Teil der Besatzung des Schiffes, das mich hierher brachte, bestand aus Weibern! Und außerdem hatte ich nie die Absicht… « »Das ändert nichts an der Tatsache«, meinte Tarrin, »daß Ihr es wart, der die Frauen Mandrigins in diesen… « – er warf einen kurzen Blick in Richtung Parlamentsmitglieder, die allesamt finstere Mienen zur Schau trugen – »… diesen unseligen Künsten unterwiesen hat. Und ihr wart es auch, der sie lehrte, den Umgang mit Gladiatorinnen und Prostituierten zu pflegen.« Sonnenwolfs Stimme war ein heiseres und wütendes Kratzen, als er entgegnete: »Und deswegen werde ich verbannt?« »Nicht nur aus diesem Grund«, sagte Sheera leise. Unter dem ro sen- und goldfarbenen Schimmern ihrer geschminkten Lider leuchte te in ihren Augen etwas, das ebensowenig ganz Traurigkeit war wie 379
Zynismus. »Es sind auch nicht nur die Männer dieser Stadt, die dich verjagen wollen, Sonnenwolf. Machst du dir eine Vorstellung davon, was in Mandrigin geschehen ist? Als wir aufwuchsen, bereitete man uns alle darauf vor, eine bestimmte Rolle zu spielen. Die Männer sollten bewundert und geachtet werden, und als Gegenleistung er hielten die Frauen ihre Liebe und ihren Respekt. Von den Männern wurde erwartet, zu arbeiten und zu herrschen, und die Frauen mußten sich ihnen fügen, von ihnen beschützen lassen. Wir alle kannten unseren Platz – und in jener Zeit gab es Harmonie in Mandrigin, Sonnenwolf. Hinter uns allen liegt eine Zeit des Schreckens und der Pein, der Mühen und Verzweiflung. Wir – Tarrin und ich und alle Männer und Frauen der Stadt – haben nicht nur für die Freiheit gekämpft, sondern auch für die alte Lebensart, die Harmonie, von der ich sprach. Wir dachten, mit dem Sieg würde alles wieder so werden wie zuvor. Doch als die Männer zurückkehrten, mußten wir feststellen, daß der Traum, der ihnen den Mut gab, angesichts des Grauens in den Berg werken nicht die Hoffnung zu verlieren, nur mehr eine Illusion war, ein Schatten der Vergangenheit. Und die Frauen…« Sheera zögerte kurz, und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme kühl und ruhig. »Die meisten Frauen, die nicht kämpften, sind nicht mit dem einverstan den, was geschah. Sie wollten zwar das Joch ›Altiokis‹ abstreifen, aber nicht zu dem Preis, den wir Ihnen aufzwangen. Ohne ihre Billi gung haben wir Chaos in ihr Leben gebracht, all das über den Hau fen geworfen, was ihnen Halt gab. Du selbst, Sonnenwolf, hast dich ebenso verändert wie Sternenfalke, und ihr könnt euch dieser Er kenntnis nicht verschließen. Und selbst diejenigen von uns, die kämpften, mußten feststellen, daß der Sieg eine bittere Frucht ist.« Wie gegen seinen Willen wanderte der Blick Sonnenwolfs dort hin, wo Wilarnes Ehemann und ihr Sohn standen, verwirrt und be troffen, unsicher darüber, was die Zukunft für sie bereithalten moch te. Wie viele andere Frauen der Streitmacht wurden nun mit dieser Art Mischung aus Unverständnis und Empörung konfrontiert? Und sie stießen nicht nur bei ihren Familienangehörigen auf Entrüstung, nicht nur bei den Männern, wie er nun sah. Die meisten Frauen in der Menge schwiegen und starrten ihn und diejenigen, die er zu Kriegerinnen gemacht hatte, mit wachsender Mißbilligung an – mit der wortlosen Verärgerung von Personen, denen man ohne ihre Zu stimmung etwas genommen hatte und die mit dem, was man ihnen als Gegenleistung dafür anbot, nicht einverstanden waren. Die Sa 380
men der Verbitterung waren gesät und konnten nicht wieder aus der Erde hervorgeholt werden. Und er begriff nun auch, daß er der einzige war, der als Sünden bock dafür herhalten konnte. Er hatte die alte Harmonie nicht zer stört, aber nur ihn vermochte man für all das Neue und Ungewohnte verantwortlich zu machen, ohne die Wunden, die der alte Lebensstil bereits davongetragen hatte, noch zu vertiefen. Sonnenwolf richtete den Blick wieder auf den jungen Mann vor sich, der in das steife Zeremoniengewand des Herrschers der Stadt gekleidet war, und plötzlich empfand er so etwas wie Mitleid für den armen Kerl, der in all diesem verruchten Durcheinander neue Ord nung schaffen mußte. Sternenfalke und er waren wenigstens dazu in der Lage, sich einfach auf die Rücken ihrer Pferde zu schwingen und davonzureiten – und diese Aussicht erschien ihm nun verlockender denn je. Er lächelte und streckte die Hand aus. Tarrin hatte die Züge des Söldners bisher mit einer Besorgnis beobachtet, die er trotz sei nes fast ausdruckslosen Gesichts nicht ganz verbergen konnte, und nun entspannte er sich sichtlich. Seine schwielige, von der harten Arbeit in den Bergwerken gezeichnete Hand griff nach der Sonnen wolfs. »Zwar verflucht Euch der Stadtrat«, sagte der König leise, »aber ich möchte Euch trotzdem meinen persönlichen Dank aussprechen.« »Und gerade darauf kommt es mir an.« Sonnenwolf warf einen Blick über die Schulter, als hinter ihm Hufe über das steinerne Pflas ter pochten. Die Menge wich zur Seite und machte eine lange Passa ge frei, die von der Treppe der Kathedrale bis zur blumenge schmückten Spiralenbrücke reichte, die nach dem Goldenen Tor der Stadt und dem Land jenseits der Mauern Mandrigins führte. Zwei in die Livree der Stadt gekleidete Pagen führten Rösser heran. Die Satteltaschen waren bereits gepackt, und man hatte die Waffen Son nenwolfs und Sternenfalkes an den Hinterpauschen befestigt. Einer der beiden Pagen, so stellte Wolf mit einer gewissen Belustigung fest, war Trella, die Tochter Sheeras. Mit der für eine Kriegerin charakteristischen Gewissenhaftigkeit überprüfte Sternenfalke eine der Satteltaschen. Es klirrte leise, und Sonnenwolf fragte: »Die gesamte Summe?« Das war natürlich un möglich: Kein Pferd war stark genug, um das schwere Gewicht von zehntausend Goldstücken zu tragen. »Der Rest der Entlohnung wird dir nach Wrynde geschickt, Son nenwolf«, erklärte Sheera. »Sobald die Stadträte genug Geld ge 381
sammelt haben. Mach dir darüber keine Sorgen.« Sonnenwolf wandte den Blick von dem feingeschnittenen und ruhigen Gesichts Sheeras ab und musterte die nach wie vor verdrieß lichen Mienen der Parlamentsmitglieder, und er flüsterte Sternenfal ke zu: »Wo haben wir das schon einmal gehört?« Die Kriegerin schwang sich mit einer eleganten Bewegung in den Sattel des einen Pferdes. Im Sonnenlicht schimmerte ihr helles Haar wie matte Seide. »Zum Teufel auch, spielt das jetzt noch eine Rol le?« fragte sie. »Wir kehren ohnehin nicht zurück.« Sonnenwolf dachte darüber nach und mußte sich eingestehen, daß sie recht hatte. Er hatte zum letztenmal als Söldner gekämpft. Wie die Frauen von Mandrigin und auch Sternenfalke war er nicht mehr der, der er einst gewesen war. »Nein«, erwiderte er gelassen. »Nein, vermutlich nicht.« Dann lächelte er vor sich hin, stieg auf und dirigierte das Pferd an Tarrin und Sheera heran, die noch immer vor dem unteren Ende der Treppe standen. Sonnenwolf streckte die Hand aus. »Lady Sheera?« Sheera von Mandrigin trat vor und hob die in zarte Seide gehüllte Hand, damit der ehemalige Söldner sich mit einem höflichen Kuß von ihr verabschieden konnte. Zu einer anderen Gelegenheit hätte er Tarrin vorher um Erlaubnis gebeten, doch der König schwieg, und auch die Stadträte blieben stumm, als Sheera ihnen einen scharfen Blick zuwarf, der fast einem magischen Bann gleichkam. Erst jetzt bemerkte Sonnenwolf, daß Sheera einige Zentimeter größer war als ihr Gemahl. Er beugte sich vor und hauchte einen Kuß auf die Hand der Kö nigin. Ihre Blicke begegneten sich – doch wenn sie diesen Abschied bedauerte, wenn sie sich andere Beziehungen zwischen ihnen wünschte als die gegenwärtigen, so verriet ihr ruhiges und stolzes Gesicht nichts davon. Sie war Sheera von Mandrigin, und nie wieder würde sie jemand mit Schweiß und Schmutz im erhabenen Antlitz sehen. »Laß nicht zu«, sagte er leise, »daß die Männer über deine Krie gerinnen herfallen, Kommandantin.« Verächtlich hob Sheera eine der geschwungenen Augenbrauen. »Glaubst du etwa, das gelänge ihnen?« Sonnenwolf lachte. Er fand großes Vergnügen daran, diejenigen, die er ins Herz geschlossen hatte, sich so verhalten zu sehen, wie er es von ihnen erwartete. »Nein«, gab er zurück. »Mögen deine Vor fahren dich segnen, so wie du die beglücken magst, die dir treu erge 382
ben sind.« Er zog an den Zügeln und zwang das Pferd herum, und gleichzei tig ritt Sternenfalke heran und beugte sich ebenfalls vor, um nach der Hand Sheeras zu greifen. Die beiden Frauen wechselten einige Wor te miteinander. Dann klopfte Sheera in einer ganz und gar nicht ma jestätischen Geste der Kriegerin aufs Bein, und Sternenfalke lachte. Sie brachte ihr Roß an die Seite seines Pferdes, und sie paßte sich dabei voller Eleganz und Anmut den Bewegungen des Tieres an. Die Menge vor ihnen wich beiseite, um ihnen Platz zu machen. Als sie durch die prunkvolle Pforte der Spiralenbrücke ritten, flüsterte Sonnenwolf: »Was hat sie dir gesagt?« Sternenfalke warf ihm einen kurzen Blick zu, und ihre breiten, kantigen Schultern und das helle Haar zeichneten sich vor den Re genbogenfarben der Menge ab, die sie gerade hinter sich zurückge lassen hatten. Tarrin und Sheera standen noch immer vor der Ka thedrale, zwei kleine, glitzernde Gestalten vor der gewaltigen Masse der Kirche. »Sie riet mir, ich solle gut auf dich achtgeben«, antwortete die Kriegerin. Sonnenwolf schnaubte empört. »Sie riet dir, auf mich acht zugeben?« Sternenfalkes breites Lächeln ließ weiße Zähne im Halbdunkel der überdachten Brücke er schimmern. »Wer als erster das Tor er reicht… « Die Männer und Frauen auf dem Kathedralenplatz vernahmen nur noch ein plötzliches Trommeln von Hufen in der dunklen Passa ge der Brücke, und als sie, etwas später, aus der Ferne den echoarti gen Klang eines schallenden Lachens hörten, wußten sie, daß Son nenwolf und Sternenfalke Mandrigin verlassen hatten.
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DIE HEXEN
VON WENSHAR
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Für Lester
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Vorbemerkung der Autorin Das Wort ›Hexe‹ ist ein mit vielen Nebenbedeutungen und Ge fühlen beladener Begriff. Es bezeichnete an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten für unterschiedliche Personengruppen ver schiedene Dinge – und ist aus diesem Grunde hier so verwendet worden. Die besonderen Aspekte des Wortes, wie es in dieser Geschichte benutzt wird – allen voran die verschiedenen Bedeutungen der Wör ter ›Zauberer‹ und ›Hexe‹ in der Shirdarsprache – sind von der Sichtweise auf Hexen und das Hexenwesen, wie es im sechzehn ten/siebzehnten Jahrhundert vorherrschte, abgeleitet, und nur von dieser Sichtweise. Es ist damit nicht mehr gemeint, als gemeint wäre, wenn ich Worte mit verschiedenen Bedeutungen verwenden würde, um Personen afrikanischer Herkunft zu beschreiben, wenn ich aus der Perspektive einer weißen Südafrikanerin der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts schriebe. Sie geben nicht meine persönliche Meinung oder irgendeine umfassende Definition für Hexen wieder (und sie sind auch in anderen Büchern von mir nicht verwendet wor den). Auch haben sie nichts mit den Bedeutungen von ›Hexen‹ und ›Hexenwesen‹ im Mittelalter, im neunzehnten Jahrhundert, in eher konventionellen Märchen oder im heutigen Sprachgebrauch zu tun. Was als europäisches Hexenwesen bekannt wurde, war ursprüng lich einfach die Verehrung der alten Naturgottheiten, kombiniert mit der Kräutermedizin, wie sie von den Anhängern dieses Glaubens praktiziert wurde, gesehen durch die verzerrenden Augen einer para noiden und intoleranten mittelalterlichen Kirche. Die heutige Religi on der Wikkaner, deren Anhängerinnen sich selbst ›Hexen‹ nennen, ist eine Rückkehr zu diesem alten Glauben, dessen Hauptlehren der verantwortungsbewußte Einsatz von weißer Magie und die Liebe zur Natur waren, aus der diese Macht entspringt. Diesen gutherzigen und aufrichtig gottesfürchtigen Hexen möch te ich meine Entschuldigung aussprechen. Ich hoffe, durch die vor liegende Geschichte selbst klargemacht zu haben, daß das Wort ›Hexe‹ nur ein Wort ist (wie ›Liebe‹ oder ›Gott‹ oder ›Christ‹): daß vielmehr das, was die Menschen mit diesem Wort anstellen, oder das, was sie machen, weil sie etwas Bestimmtes unter diesem Wort verstehen, es ist, was Gut und Böse hervorruft. 386
1. Kapitel »Ihr mögt ja eine Zauberin sein, Mylady«, sagte Sonnenwolf und verstaute seine großen Hände hinter der Koppel seines arg zuge richteten Schwertgehenks, »aber Ihr seid auch die verdammt noch mal größte Närrin, die mir jemals im Leben untergekommen ist.« Jeder Mann hat eine Gabe, seufzte Sternenfalke in sich hinein. Warum reise ich ausgerechnet mit einem Mann, dessen Gabe darin besteht, auf Teufel komm raus seinen Mund nicht halten zu können? Für einen Augenblick war der sonnendurchflutete Garten mit den kleinen Zitrusbäumen und der harten, roten Lehmerde völlig still. Unter dem scharfen, schwarzen Gittermuster der Schatten im nack ten Laubengang erstarrte das Gesicht von Lady Kaletha, der Weißen Hexe von Wenshar, vor Empörung, die vor allem aus dem Entsetzen herrührte, daß jemand, zumal ein streunender Barbar in einem stau bigen Schafslederwams und verschrammten Stiefeln, es wagte, so mit ihr zu sprechen. Ihr Gesicht erbleichte unter den dunkelroten Locken ihrer Haare, und ihre hervortretenden blauen Augen loderten auf, aber für einen Augenblick war sie sprachlos. Eine aus dem klei nen Kreis ihrer prunkvoll schwarzgekleideten Schülerinnen öffnete den Mund. Kaletha bedeutete ihr mit einer Geste zu schweigen. »Ihr barbarisches Schwein.« Ihre Stimme klang wie das Klirren einer auf Stein fallenden Goldmünze. »Verleumdet Ihr mich aus Furcht vor dem, was ich bin – oder aus Neid auf das, was ich besit ze?« Hinter ihr murmelten die Schülerinnen und nickten einander alt klug zu. Die Gärten von Pardle Sho waren öffentlich und befanden sich auf jenem Grund, der einst zum Regierungspalast gehört hatte, als das Land Wenshar noch von den Lords der Mittleren Königreiche regiert worden war; über den ausgedehnten, freien Hof aus Sand jagten sich zwei Kinder durch die Zebraschatten des Säulengangs, ihre Stimmen schrill wie die der Vögel in der heißen Luft. Nach einer Weile sagte Sonnenwolf: »Ich fürchte, was Ihr seid, Lady.« Sie holte tief Atem, um dem ein Ende zu machen, doch er schnitt ihr das Wort ab, und seine Stimme klang krächzend wie die eines verrosteten Teekessels. »Ihr seid eine Närrin mit einer Waffe in der Hand – falls Ihr nicht bloß eine Lügnerin seid.« Er wandte sich ab und schritt davon. Das dunkle Gitter werk der 387
Rebschatten wogte wie das Schaummuster auf einer Welle über das löwenfarbene Leder seines Wamses, und Lady Kaletha blieb mit der unbequemen Wahl zurück, ihm das letzte Wort zu lassen oder ihm auf unwürdige Weise ihre Entgegnung nachzuschleudern. Mit im Schwertgürtel verhakten Daumen folgte Sternenfalke ihm die heiße, schattige Kolonnade entlang und durch die Gärten zur Straße. »Weißt du, Führer«, bemerkte sie später, als sie mit zwei Zinn krügen voll Bier in das tiefe Dunkel eines Winkels der Schenke ›Longhorn Inn‹ herüberkam, »manchmal raubt mir dein Geschick im Umgang mit Worten den Atem.« Sein einziges Auge, bernsteinfarben wie das eines Tigers unter dem langen, geschwungenen Büschel seiner rotgoldenen Braue, ruckte mißtrauisch zu ihr hoch, während sie beiläufig über die Rü ckenlehne des Stuhls neben ihn trat und es sich bequem machte. Der Lederflicken, der die leere Höhle seines anderen Auges bedeckte, war schon so zerschrammt und wettergegerbt wie seine sonnenge bräunte Haut, aber der Wildlederriemen um seine Stirn konnte nicht über die verräterischen Furchen der Jahre darauf hinwegtäuschen. Sternenfalkes Gesicht war wie üblich unergründlich, als sie ihm das Bier reichte; zu den Zügen, die feingeschnitten gewirkt hätten, wäre da nicht die Unansehnlichkeit eines langen Kiefers und eines breiten Kinns gewesen, waren im Laufe von neun Jahren als Söldne rin eine gebrochene Nase und eine lange weißliche Narbe hinzuge kommen, die einen ihrer hohen, grazilen Wangenknochen zierte. Was den Rest anging, war sie eine hochgewachsene, schlanke Ge pardin von Frau, gekleidet in die ledernen Reithosen, das bestickte Hemd und den Schafslederwams eines Mannes. Ihr weiches blondes Haar war kurzgeschnitten und wie die ausdünnende rotgoldene Mäh ne und der verblassende Schnurrbart des Wolfes von der Sonne der K'Chin-Wüste gebleicht, an deren nördlichem Rand sie vier Tage entlanggezogen waren. Sonnenwolf brummte etwas, weil er ganz richtig vermutete, daß sich hinter diesen wassergrauen Augen ein tiefes und privates Amü sement verbarg. »Die Frau ist eine Närrin.« Seine Stimme glich dem Knarren einer ungeölten Tür. Sternenfalke nippte an ihrem Bier. Es war bitter, wie alle Biere in den Mittleren Königreichen, mahagonifarben und sehr stark. »Sie ist auch das einzige Wesen, dem wir begegnet sind, das wenigstens entfernt einer Magierin ähnelt, seit wir Mandrigin verlassen haben«, 388
erinnerte sie ihn nach einer Weile. »Und da wir nicht wieder nach Mandrigin zurückkönnen… « Sonnenwolf tat die Erinnerung an seine Verbannung aus der Stadt, die als Juwel des Megantischen Meeres bekannt war, mit einer Handbewegung ab. »Der Zauberkönig Altiokis lebte und herrschte hundertfünfzig Jahre lang«, grollte er. »Er vernichtete jeden Zaube rer, der auch nur eine Spur von Macht zeigte, die ihm hätte bedroh lich werden können. Wenn diese Kaletha die Kräfte hätte, die sie zu haben vorgibt, hätte er auch sie vernichtet.« Sternenfalke zuckte die Achseln. »Sie hätte sie bis zu seinem Tod geheimhalten können. Das war erst vor neun Monaten. Altiokis be zog einen Großteil seines Silbers aus den Minen von Wenshar – klare Sache, daß Pardle Sho und jede kleine Bergwerksstadt entlang des Gebirgszuges von seinen Spionen nur so wimmelt. Sie muß sich, wie Yirth von Mandrigin, still verhalten haben, um zu überleben.« Sonnenwolf wischte sich den Bierschaum vom dichten, zottigen Schnurrbart und schwieg. Obwohl es in der Schenke heiß und stickig war und merkwürdig roch, machte keiner der etwa sieben Minenarbeiter und Gesteinshau er Anstalten, das indigofarbene Dunkel gegen die gestreiften, schwarz und rosenpfadgesäumten Schatten des Baldachins einzutau schen, der draußen aus geschälten Pappelpfosten errichtet worden war. Es war die Jahreszeit der Sandstürme, wenn der Herbst sich dem Winter zuneigte. Im Norden machten die Seeleute ihre Schiffe fest, bis der Frühling die Seewege wieder öffnete, und die Bauern schlossen die Lücken im Stroh ihrer Dächer. Überall im Norden und Westen, bis zu den kalten Steppen im Osten, kam unter der Gewalt dieser bitteren Stürme für vier Monate alles Leben zum Stillstand. Hier in Wenshar, dem am südlichsten gelegenen Punkt der Mittleren Königreiche an der Grenze zur Wüste, wurden sogar die wenigen widerstandsfähigen Viehherden, die auf den Oasen genannten Fle cken kargen Buschwerks grasten, zum nähergelegenen Weideland rings um die Städte am Fuß der Berge getrieben, und die Arbeiter aus den Silberminen spannten Seile von ihren Häusern zu den Schachtöffnungen, aus Furcht, auf ihrem Weg von sengenden Sandstürmen überrascht zu werden und sich in der Dunkelheit zu verirren. Sternenfalke wirkte auf trügerische Weise müßig, als sie sich in dem Raum umsah. Wie die Hälfte aller Gebäude in Pardle Sho war auch das ›Long 389
horn‹ aus Lehmziegeln gebaut und ungefähr fünfzig Jahre alt. Sein niedriges Dach, das hundert Meter lang war und von einer Seite zur anderen nicht einmal dreißig Meter maß, wurde von Sparren aus nackter Zwergkiefer getragen, deren Kürze jedem Gebäude in der Stadt das Aussehen eines schlauchartigen Ganges gab. Die älteren Bauten der Stadt, die man aus Stein errichtet hatte, als Pardle Sho noch das Verwaltungszentrum war, durch das die Herren von Dalwi rin die Wüstenlords der darunterliegenden Ödländer regierten, waren geräumig und luftig. Nach Sonnenwolf, der solche Dinge wußte, brachte das kleinste dieser Steinhäuser den siebenfachen Preis eines jeden Lehmziegelbaus in der Stadt. Als Sternenfalke zu dem ge schwärzten Gitterwerk aus Strebebalken und Schatten über ihr hi naufsah, mußte sie zugeben, daß die Käufer wohl ihre berechtigten Gründe hatten. Lehmziegel waren billig und wenig haltbar. Die Männer und Frauen, die von jenseits der Berge gekommen waren, konnten sich oft genug nichts Besseres leisten. Erst als Sklaven, dann als freie Schürfer, hatten sie in den Silberminen gearbeitet und diese schließlich mitsamt dem Land Wenshar jenen abgerungen, denen sie vorher gehört hatten. Einer der ersten Kriege, an denen Sternenfalke teilgenommen hatte, war, wie sie sich erinnerte, irgendeine Grenzstreitigkeit zwi schen Dalwirin, das nördlich des Gebirgszugs die unterste Spitze der Mittleren Königreiche bildete, und Wenshar gewesen. Sie erinnerte sich, ein wenig überrascht gewesen zu sein, als Sonnenwolf, dem beide Seiten Angebote gemacht hatten, schließlich das Geld von Wenshar genommen hatte. Sie war damals einundzwanzig gewesen, ein schweigsames Mädchen, das erst ein Jahr zuvor das Kloster ver lassen hatte, um dem großen Söldnerführer in den Krieg zu folgen; einige Wochen der Verteidigung jener schwarzen Granitpässe des ›Rückgrats des Drachen‹ hatten ihr gezeigt, welche Weisheit darin lag, auf solchem Terrain zu verteidigen statt anzugreifen. Während sie an ihrem Bier nippte, dachte sie daran, daß sie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, was sie nach dem Feldzug mit ihrem Preisgeld anfangen sollte. Sonnenwolf hatte, wenn sie sich recht erinnerte, das seine dazu verwendet, ein silberäugiges schwar zes Mädchen namens Schattenrose zu kaufen, das jeden Krieger in der Truppe im Backgammon schlagen konnte. Sie warf einen Blick auf den neben ihr sitzenden Mann, seine mit Goldflaum bedeckten Unterarme, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und stellte ihn sich vor, wie er damals gewesen war. Schon zu jener 390
Zeit war er der beste und sicherlich reichste Söldner weit und breit innerhalb der alten Grenzen des gefallenen Reiches von Gwenth gewesen. Er hatte noch beide Augen und eine mächtige Stimme gehabt; die winzige Lichtung seines lohfarbenen Haares war klein genug gewesen, um ihr Vorhandensein ignorieren zu können. Sein Gesicht war etwas weniger rauh gewesen, die hervorstehenden Kno chen an den Enden seiner bärengleichen Schultern nicht ganz so wulstig. Die tiefe Stille in seiner Seele hatte unter dem Toben von rauhem Sex und körperlicher Herausforderung verborgen gelegen, die manche Männer benutzen, um ihre wunden Stellen vor anderen Männern zu verstecken. Er saß wie üblich mit dem Rücken zur Ecke des Raums, sein lin kes blindes Auge ihr zugewandt. Sie war die einzige Person, der er erlaubte, auf dieser Seite zu sitzen. Obwohl sie vor dem Leuchten der offenen Tür nicht mehr von seinem Gesicht sah als das Profil mit der gebrochenen Nase, konnte sie spüren, wie der Gedanke in ihm rumorte und die schweren Schultern sich spannten. »Mach dir nichts vor, Kommandeur. Wenn dir diese Kaletha nicht beibringen kann, deine Kräfte einzusetzen, wer dann?« Er bewegte leicht den Kopf, und ein flüchtiger Blick aus seinem bernsteinfarbenen Auge streifte sie. Dann wandte er sich wieder ab. »Sie ist nicht die einzige Zauberin auf der Welt.« »Ich dachte, wir wären übereingekommen, daß es überhaupt kei ne gibt.« »Ich mag sie nicht.« »Als du noch die Schule in Wrynde hattest, mußten dich da die Leute, die in der Kriegskunst unterrichtet werden wollten mögen?« Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Wenn du hungrig bist, mußt du dann den Bäcker mögen, bei dem du das Brot kaufst?« Er blickte sie wieder an, flammenden Ärger in seinem Auge dar über, daß sie ihn durchschaut hatte. Sie trank ihr Bier aus und setzte den Krug ab; ihre Arme unter den hochgekrempelten Ärmeln des blauweiß bestickten Hemdes waren muskelbepackt wie die eines Mannes, gezeichnet von den weißlichen Narben alter Kriege. Drüben am Tresen im Schein von Barlampen flirteten zwei Frauen in der staubigen Kluft der Minenarbeiter mit einem reizenden jungen Mann in brauner Seide. Ihre Stimmen vermischten sich in leisem Gemur mel, wie ein Parfüm aus Rosen und Moschus. »Du weißt, daß ich mit dir reite, wenn du weiterziehen willst. Du weißt auch, daß ich von Zauberei und den Erfordernissen der Macht 391
nichts verstehe. Aber du nanntest Kaletha eine arme Närrin, weil sie die Macht habe und sie nicht weise gebrauche. Was bist du dann?« Zorn blitzte in dem gelben Auge auf – es erinnerte sie an einen großen, staubigen Löwen, der, aus seiner Ruhe gestört, nun jeden Augenblick brüllen konnte. Doch sie begegnete seinem Blick fest, wartete darauf, daß er ihre Worte leugnete, und einen Augenblick später senkte er den Blick. Langes Schweigen folgte. Schließlich seufzte er und schob seinen halb geleerten Krug von sich. »Wenn es eine Schlacht wäre, wüßte ich, was ich zu tun hätte«, sagte er sehr ruhig, mit einer Stimme, die er nur selten im Gespräch mit ihr verwendete und nie im Gespräch mit jemand anderem. »Ich bin mein Leben lang Soldat gewesen, Falke. Ich habe einen Kämp ferinstinkt, dem ich vertraue, weil er sich in unzähligen Schlachten bewährt hat. Aber ich bin von magischer Abstammung. Ob es mir gefällt oder nicht, da ist ein Zauberer in mir – nicht vergraben und flüsternd, wie es bei geborenen Magiern der Fall ist, wenn ihre Kräf te sich das erstemal in ihnen regen, sondern ausgewachsen und wild wie ein Drache. Ich bestand die Große Prüfung und erlebte das Rei fen meiner Macht, ohne auch nur den Unterricht genossen zu haben, den die meisten geborenen Magier wenigstens insgeheim von den alten Weibern am Ort bekamen, als Altiokis noch am Leben war und alle Zauberer tötete. Es ist, wie wenn man nicht als Säugling, son dern als Mann geboren wäre – mit dem Verstand eines Säuglings und dem Willen eines Mannes.« In Gedanken versunken nahm er den Krug zwischen seine rauhen Hände. Abseits des Lampenlichts in der Nähe der Bar vertieften sich die Schatten; der Wind, der durch die Tür strich, war nun kühler als die aufgestaute, muffig wirkende Hitze und brachte den Geruch von Staub und die Wildheit des Wüstenabends mit sich. »Es gibt Zeiten, in denen dieses Wollen mich verzehrt. In den neun Monaten, seit ich zur Macht gelangte, war es wie ein Feuer in mir, das mich langsam auffrißt. Dieses zusammengeschusterte Wis sen, das ich mir in Mandrigin aneignen konnte, bevor ich verbannt wurde, ergibt keinen Sinn für mich. Ich habe Instinkte, die mich in unverständlicher Weise rufen, und ich weiß nicht, ob sie richtig sind oder mich nur einem raschen Tod und den Kalten Höllen ausliefern. Manchmal wünsche ich mir bei allen Geistern meiner Ahnen, daß ich wie mein Vater geboren wäre, nur als ein großes, geschicktes Tier; und zu anderen Zeiten… « Er schüttelte den Kopf und zeigte einen Ausdruck von Hilflosigkeit, den Sternenfalke in all den Jahren, 392
seit sie sich kannten, noch nie an ihm gesehen hatte. Aus einem Impuls heraus beugte sie sich vor und legte ihre Hand auf die seine; seine Finger schlossen sich warm und rauh um die ihren, akzeptierten einen Trost, den sich noch vor einem Jahr keiner von ihnen hätte vorstellen können. Seine heisere Stimme klang wie das Kratzen von verwehtem Sand in der Dunkelheit. »Ich trage eine Vision von mir in mir selbst, aus einer Zeit, lange bevor ich meine Kräfte erlangte – eine, die ich einmal als Kind hatte, obwohl ich ihr damals noch nicht Ausdruck verleihen konnte. Aber sie ist wieder in mir aufgestiegen, seit ich die Große Prüfung bestand. In dieser Visi on blicke ich in ein großes, loderndes Feuer und versuche mit meiner bloßen Hand, den Kern der Flammen zu packen, obwohl ich weiß, daß es schmerzen wird – aber ich weiß auch, daß, wenn alles Fleisch weggebrannt ist, ich fähig sein werde, diesen Kern zu benutzen wie mein eigenes Schwert!« Hinter dem langen Tresen aus glattpolierter Kiefer zündete der Besitzer des ›Longhorn‹ Kerzen an – verbeulte Zinnlüster warfen ranziges Licht zurück. Draußen hatten sich die Schatten der Ausläu fer des Rückgrats des Drachen über die Stadt gelegt wie der fransige Saum eines Nachtgewands. Minenarbeiter, Städter und jene, die das stämmige Longhornvieh hüteten, kamen staubig und fluchend von der Arbeit zurück. Sie gehörten größtenteils dem hellhäutigen, blon den oder rothaarigen Menschenschlag des Nordens an, von woher die Mittleren Königreiche einst ihre Sklaven bezogen hatten. Aber man bemerkte einen neuen leichten Einschlag der dunkelhaarigen Leute der Mittleren Königreiche selbst und des schwarzen Volks von der langen, goldenen Küstenlinie des südlichen Megantiks. Unter ihnen, auffällig in ihren weißen Gewändern und Kopfschleiern, wa ren die dunkelhäutigen Shirdar, die Wüstenbewohner, die nicht den König von Wenshar, sondern die Alten Häuser der Wüstenlords als Oberhaupt anerkannten. Stimmen stießen in der warmen Dunkelheit gegen die Gerüche alten Schweißes arbeitsgetränkter Kleidung, wei ßer und bernsteinfarbener Flüssigkeiten und der milchigen Süße von Bienenwachs. Ein kleiner, knapp sechzigjähriger Schwarzer mit runden Schultern, dessen Gesicht über den alten Stammesnarben die eines längst vergangenen Kampfes zeigte und dessen Körper trotz der Pracht seiner Kleider von der Arbeit hart wie gedrechseltes E benholz war, bestellte unter tosendem Beifall für jeden in der Schen ke etwas zu trinken. Als der Junge und das Mädchen mit einem Tablett voll Bier und 393
Whisky ihre Runde zu machen begannen, hob der kleine Mann seine Hände. Kerzenschein brach sich gleißend in seinen Ringen. Sternen falke, obwohl keine große Plünderin in ihrer Zeit als Söldnerin, hatte sich das rasche Auge eines Berufssoldaten erworben; sie schätzte jeden der Ringe auf fünf Goldstücke, eine schwindelerregende Summe, um sie an der bloßen Hand mit sich zu tragen, besonders am Fuß der Berge. Mit einer Stimme, zehnmal so stark wie sein robus ter, kleiner Körper, brüllte der Mann: »Das Getränk ist zu Ehren von Prinzessin Taswind! Wir werden ihr dienen und für sie kämpfen, komme, was wolle!« Obwohl Sternenfalke keine Ahnung hatte, wer Prinzessin Tas wind war, nahm sie einen der schmucklosen Tonbecher von dem Tablett, das ihr der Barjunge hinhielt; es war mit einer Flüssigkeit, die wie Henna aussah, gefüllt. Sonnenwolf schüttelte den Kopf, als man ihm noch ein Bier anbot. Nachdem er die Große Prüfung be standen hatte, waren Monate vergangen, ehe er wieder imstande gewesen war, irgendeine Art von Alkohol anzurühren. Laute Jubel rufe erklangen, darunter auch das heisere Geschrei einiger Frauen, das sich wie eine Gegenstimme von den Männerstimmen abhob. Als der Lärm ein wenig nachließ, schob neben dem Tresen einer der braungesichtigen Shirdarkrieger seine Kopfschleier leicht zurück und hob seinen Becher. »Und außerdem trinken wir auf ihren Herrn und künftigen Gatten, Incarsyn von Hasdrozaboth, Lord der Dünen!« Unter den Schleiern umrahmte schwarzes Haar, lang und dicht wie das einer Frau und zum Schutz vor dem Staub geflochten, ein fal kendünnes Gesicht, das angenehm, stolz und noch sehr jung aussah. Die drei Krieger in seiner Begleitung – alles junge Männer, und keiner von ihnen über zwanzig, dachte Sternenfalke – schoben ihre Schleier zur Seite und hoben die Becher. Ihr gellender Schrei deto nierte in der plötzlichen Stille des Raumes wie das Scheppern eines fallengelassenen Tabletts. Die Stille im Raum war so vollkommen, daß Sternenfalke das Zaumzeug der Pferde klirren hörte, die draußen angebunden waren. Der junge Mann schaute sich um, und sein Gesicht wurde tiefrot vor Ungestüm und Scham. Wenige Meter entfernt an der Bar lehnte sich der robuste kleine Mann an den Tresen, die braunen Augen hart vor spöttischer Herausforderung. Wütend trank der junge Mann seinen Becher leer und schleuderte ihn an die Wand hinter der Bar. Der Barmann tauchte zur Seite weg – der Becher selbst, härter gebrannt als die Lehmziegelwand, zer 394
brach nicht einmal. Zornbebend, aber noch immer schweigend, ver ließen die vier jungen Shirdars den Raum, wobei ihre weißen Um hänge gegen die Rahmen der offenen Türen wirbelten, als sie in der Dunkelheit verschwanden. »Norbas, eines Tages fängst du dir noch mal 'nen Dolch zwi schen den Rippen ein«, seufzte, halb betrunken, eine Stimme vom Nachbartisch. Der Schwarze, der einen Schritt von der Bar zurückge treten war, fuhr erstaunt herum. Dann nahm sein narbenbedecktes Gesicht ein helles Grinsen an, als er den großen Mann sah, der dort saß. »Was, zum Teufel, machst du denn hier, Osgard?« Er kämpfte sich zu ihm durch, gefolgt von zwei oder drei anderen, die gleich ihm die Kleidung wohlhabender Städter trugen: mit Stäbchen ver stärkte Wamse und steife Leinenkragen von greller Farbe, was nörd lich der Berge für geschmackvoll gehalten wurde, Reithosen und Stiefel statt der kultivierteren langen Hosen. Der Mann am Nachbar tisch war auf die gleiche Weise gekleidet, obwohl er – auch hinsicht lich seiner Stimme – die leichte Unordentlichkeit von jemandem ausstrahlte, der seit Mittag ununterbrochen trank. »Kann ein Mann sich nicht gelegentlich mal einen Schluck leis ten?« Wie Sonnenwolf war auch Osgard groß, höchstens eine Dau menbreite kleiner als die Einsachtzig des Wolfs, blonder als dieser und graumeliert. Gleich den anderen war sein Körper unter der Pracht seiner Kleidung der eines Mannes, der gearbeitet und ge kämpft hatte. In seinem breiten, unrasierten Gesicht funkelten die Augen vor Verdruß. »Vielleicht wußte ich ja, daß ich dich hier tref fen würde. Der Wettstreit ist vorüber, Norbas, wie andere vor ihm. Ich rate dir, laß es bleiben.« Norbas schnaubte verächtlich und hob einen Tonbecher, der bis zum Rand mit jener mörderischen weißen Flüssigkeit gefüllt war, die hier am Ort als Pantherschweiß bekannt war. »Ich habe diesen hin terlistigen Heiden noch nie getraut und werde es auch nie«, erklärte er. »Ich gab die Runde aus, um auf Tazeys Glück zu trinken, nicht auf das irgendeines Barbaren, den sie heiraten wird.« »Du hast ein Recht darauf, zu glauben, was du willst, aber es wird dir nur Ärger einbringen, wenn du damit in Bars hausieren gehst«, sagte Osgard ein wenig erbost. »Es ist zum Besten des Lan des; ich habe dir das schon einmal gesagt… « Und wie die Brandung des Meeres überdeckte das Geräusch anderer Gespräche das ihre. »Das ist eine kluge Wahl«, murmelte Sonnenwolf, halb zu sich 395
selbst, halb zu Sternenfalke. »Es ist so sicher wie die Pokken, was ich täte, wenn ich Wenshar regieren würde.« Einen Augenblick be trachtete er aus einem zusammengekniffenen Auge diesen Osgard vor dem flackernden Kerzenschein. »Die meisten Shirdarlords sind zugrunde gegangen – es regierte sowieso keiner von ihnen über mehr als ein paar Handvoll Leute auf ihren endlosen Meilen Sand. Mit einer von Lehmmauern umgebenen Stadt, ein paar Oasen und eini gen hundert Ziegen und Kamelen ist das Haus derer von Hasdroza both alles andere als mächtig, nur ruinös alt, wie alle Häuser der Wüstenlords. Für ein Verwandtschaftsbündnis spricht aber, daß Wenshar zum Kampf rüsten könnte, wenn Dalwirin oder Kwest Mralwe sie wieder aus dem Norden angreifen sollten.« Sternenfalke nickte und nahm diese Information hin, ohne Son nenwolf zu fragen, woher er sie hatte. Damals, zu den Zeiten, als Sonnenwolf noch ein Söldnerführer und sie seine Stellvertreterin gewesen war, hatten sie einen Teil ihres Erfolges seinem minutiösen Wissen über die politischen und wirtschaftlichen Umstände eines jeden Königreichs und Fürstentums verdankt, das möglicherweise seine Truppen anwerben wollte. Die Gewohnheit war ihm geblieben – er schwatzte wie ein altes Weib mit jedem geschichtenerzählenden Händler, dem sie auf der Straße begegneten. Sein Ziel war es in diesen Tagen vor allem, das Gerücht von einer Magierin aufzu schnappen, die ihm beibringen konnte, die Mächte, die so plötzlich in ihm aufgestiegen waren, richtig einzusetzen. Dabei eignete er sich aber auch ein gutes Stück Wissen über andere Dinge an. Neugierig fragte sie: »Wenn sie nie mehr als zwei- oder dreihundert Krieger hatten, wieso sagst du dann, daß die Lords zugrunde gegangen seien? Was soll vorher gewesen sein?« »Immerhin beherrschten sie die südlichen Handelsrouten durch die Wüste bis zu den Goldminen von Kimbu«, erwiderte er prompt. »Die Lords von Wenshar – nicht der König sondern die Alten Häu ser der Lords – herrschten über die ganze Wüste, damals, als es im Norden noch das Reich von Gwenth gab, mit dem Kimbu Handel trieb.« »Wie dumm von mir«, entschuldigte sich Sternenfalke ironisch, und Sonnenwolf schenkte ihr, halb erstaunt über seinen eigenen Ausbruch von Gelehrsamkeit, ein schelmisches Grinsen; dazu drück te er die Finger ihrer Hand, die er immer noch umschlossen hielt. Sie bestellten das Abendessen; während sie sich hungrig darüber hermachten, beobachtete Sonnenwolf zuweilen die größer werdende 396
Menge in der Taverne und jene um den Nachbartisch herum, wo Osgard und Norbas für jene, die die wohlhabenden Minenarbeiter zu sein schienen, eine Art Hof hielten. Ab und zu hing er seinen eigenen Gedanken nach. An seinem Gesichtsausdruck glaubte Sternenfalke zu erkennen, daß sie ihn nicht weiter kümmerten, doch sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, wann es geraten war, sich still zu ver halten. Draußen wurde es vollends Nacht; Osgard und seine Freunde verließen singend die Schenke; die hiesigen Freudenkinder, Jungen wie Mädchen, begannen aufzutauchen. Rosa und violette Pergemis seide schimmerte weich im ockerfarbenen Lampenlicht, und bemalte Augenpartien reizten. Als das Tavernenmädchen kam, um abzuräu men, gab Sonnenwolf ihr ein Zeichen, zu bleiben. »Wo kann ich das Haus von Lady Kaletha finden? Der Zauberin?« Das Mädchen machte in der Luft hastig das Zeichen gegen das Böse. »Sie wird oben in der Festung Tandieras sein«, murmelte sie. »Aber wenn Ihr einen Heiler oder so etwas braucht, geht besser zu Yallow Sincres in die Allee der Lederhandwerker. Er ist… « »Tandieras?« fragte Sonnenwolf, erstaunt, daß sie den Namen der königlichen Festung nannte. Das Mädchen nickte, und ihre dunklen Augen wichen den seinen aus. Sie war ungefähr vierzehn, dünn und einfach, mit den Falkenzü gen der Shirdar, die von glatten schwarzen Zöpfen eingerahmt wur den. »Ja. Sie gehört dem Haushalt des Königs an.« Sie räumte das Tongeschirr mit seiner grellen gelbblauen Glasur auf das Tablett und wollte schon gehen. Sonnenwolf griff in seinen Beutel und ließ eine Silbermünze auf den leeren Brotteller fallen. Die dunklen Augen hoben sich, verdutzt und glänzend. »Und wo ist die Festung?« Sonnenwolf stand auf und richtete das Schwertgehenk an seiner Hüfte. »Ihr werdet doch nicht heute abend gehen?« Eine plötzliche, ver blüffte Angst zeigte sich in der bestürzten Miene des Mädchens. »Sie ist eine Hexe!« Sie benutzte das Shirdarwort dafür, und in ihrer Stimme lag Haß. »Seltsam«, bemerkte Sternenfalke später, als sie die Hauptstraße entlanggingen und sich gegen den steilen Hang des Hügels stemm ten, auf dem die Stadt erbaut worden war. »Die meisten Leute, denen wir unterwegs begegneten, nahmen an, daß Zauberer schon vor lan ger Zeit ausgestorben seien, wenn es sie überhaupt jemals gab. Aber sie hatten Angst.« Mit dem endgültigen Untergang der Sonne war das Gleißen des 397
Wüstentags einer trockenen und bitteren Kälte gewichen. Staub hing in der Luft, ein Geruch, mit dem sie schon seit Tagen gelebt hatten; er verzerrte die Lichter der Schenken und Häuser, an denen sie vor beikamen, in funkelndes Bernsteingold vor der ultramarinen Finster nis. Sie hatten Schafsfellmäntel über ihre Wamse gezogen, und trotzdem spürten sie die dünne Lanze der Wüstennacht. Ihre Pferde hatten sie vor der Schenke zurückgelassen – es war eine lange Reise gewesen, und sie hatten die Tiere schon viel zu lange geritten. Über ihnen berührte faseriges Mondlicht die vergoldeten Türme der Kathedrale des Trigotts, die sich wie triumphierend ausgestreckte Finger vom höchsten Punkt der Stadt in die Höhe reckten. Ein wenig voraus glühten die zerklüfteten Gipfel des Rückgrats des Drachen, massive Granitkuppeln und Zuckerhüte, die hier und da unersteigba re Pflöcke aus Basalt zeigten – trockene Zähne, die in Richtung der Sterne gefletscht waren. Sonnenwolf nickte nachdenklich, während sie den Hügel hinauf gingen. Vor ihnen, rund eine Meile von der Stadt entfernt, blinkten die Lichter der Festung Tandieras vor dem felsigen Klotz des Vorge birges, auf dem sie erbaut war. Wie ein Burggraben umsäumten sie die Dunkelheit, wo die Straße sich von der Flanke des Pardlebergs absenkte, eine lange Strecke aus Rinnen, Felsblöcken und Sand. Aus den dichten Schatten ragten die obersten Zweige einer ausgedörrten Akazie ins Mondlicht hinauf wie gebeugtes Schilf bei einer Spring flut – denn der Rest war pechschwarz. Die Straße war wie geschaf fen für Räuber. »Es gibt vielleicht einen Grund dafür«, sagte Sonnenwolf nach einer Weile. »Aber ich fürchte Kaletha aus anderen Gründen. Sie ist arrogant. Und sie ist jung, Falke, jünger als du. Ich sage nicht, daß keine Zauberin, die jung ist, die Art von Macht in sich tragen kann, über die sie angeblich verfügt, aber wenn es so wäre, glaube ich, würde ich es spüren.« Die Felsenschatten ragten düster rings um sie her auf. Sternenfal kes Finger berührten die Trost spendende Härte ihres Schwertes. Ihre Aufmerksamkeit wandte sich halb von dem keuchenden Geräusch Sonnenwolfs ab und dem leisen Wispern der Schattenklänge zu. »Sie sollte selber noch studieren und nicht so tun, als ob sie fähig wäre, einem Haufen einfältiger Anhänger die Geheimnisse des Universums beizubringen.« »Wenn sie dir etwas beibringen soll«, hob Sternenfalke hervor, »wird es nötig sein… « 398
Sonnenwolf legte ihr als Zeichen zu schweigen die Hand auf die Schulter. Dann hörte auch sie, schwach und gedämpft, den Schrei eines Mannes und roch den Geruch von aufgewirbeltem Staub und Blut im Nachtwind. Das sirrende Wimmern eines gezogenen Schwertes erklang, und eine von Alkohol schwere Stimme schrie: »Mögen dir die Augen faulen, du elender Hund…« Der Wolf war bereits über die Felsen geklettert und in der Dun kelheit verschwunden. Ohne sich mit ihm abgesprochen zu haben, wußte Sternenfalke, welchen Plan er verfolgte, und lief lautlos auf die kaum sichtbare Biegung der dunklen Straße zu. Von der anderen Seite der überhän genden Felsen hörte sie das dumpfe Klirren von Stahl auf Stahl und die Stimme eines Mannes. »Hilfe! Mord!« rufen. Im Dickicht am Rand der Straße war der Lärm deutlicher zu hören als in dieser Ra benschwärze zu sehen. Sternenfalke fühlte die breite Ausbuchtung zwischen den Felsblöcken rechts von ihr mehr, als daß sie sie sah, nahm heftige Bewegungen irgendwo in der höllischen Dunkelheit wahr und hörte die Geräusche eines Kampfes. Ein verschwommener weißer Fleck auf dem Boden wurde zu Ge sicht und Händen eines Toten inmitten eines Meeres aus vergosse nem Blut. Lautlos sprang sie über ihn hinweg. Vor ihr stand ein anderer Mann mit dem Rücken zur grauschwarzen Front einer mas siven Felswand – blasses Gesicht, blasse Hände, das weiße V eines Hemdes war unter dem unverschnürten Wams sichtbar. Wabernde Gestalten tanzten vor ihm. Sternenlicht brach sich im Stahl. Sternen falke rammte einem der schwarzgewandeten Angreifer, noch bevor der Mann Zeit hatte, zu erkennen, was ihm geschah, ihr Schwert durch den Leib. Ein keuchender Todesschrei entfuhr ihm, und die anderen Meuchler wandten sich ihr geschlossen zu. Dann erklang vom Gipfel der Felsen ein berserkerhaftes Heulen, und Sonnenwolf war unter ihnen. Sternenfalke erhaschte kaum einen Blick von ihm, als er in die Dunkelheit fiel. Instinktiv fand sie die Schulter einer anderen dunklen Gestalt in ihrer Nähe, packte den dicken Stoff des Mantels und stieß ihr das Schwert zwischen die Rippen, gerade als dieser Mann sich der neuen Bedrohung zuwenden wollte. Sie säuberte das Schwert mit der Hand von dem klebrigen Film heißen Blutes und erspähte das weiße Gewand unter dem Man tel, das schon vom hervorquellenden Blut fleckig war. Shirdar, dach te sie, fuhr herum, wich dem Schlag eines gebogenen Tulwar aus, der in Brusthöhe an ihr vorbeizog und parierte Stahl, der dicht an ihr 399
Gesicht herankam. Das Opfer des Hinterhalts hatte in den Kampf eingegriffen und focht unter wilden Schreien wie ein Betrunkener. Von der Straße erklang Hufgetrappel, und schwankende Laternen tauchten in der Dunkelheit auf; im Widerschein des Lichts sah Ster nenfalke ein Schwert glänzen und hieb in die Dunkelheit hinein, wo sich der Körper befinden mußte. Ihre Klinge traf nichts; der Mann hatte sich abgewandt, und sie hörte das Knirschen seiner weichen Stiefel auf Kies, als er davonrannte. Neben ihr schrie der Mann, den sie gerettet hatten: »Hierher! Zu mir!« – mit, wie Sternenfalke dachte, beachtlichem Optimismus, daß die Verstärkung auch auf seiner Seite war. Ein blauer Ausbruch von Hexenlicht erhellte die Dunkelheit, dessen geisterhafter Schein Son nenwolfs rauhe Züge und sein blutgetränktes Schwert in die Vision eines barbarischen Berserkergottes verwandelte. Er hatte offenbar entschieden, daß ihm die Dunkelheit keinen Vorteil mehr bot. Im Licht des schwachen Elmsfeuers konnte Sternenfalke sehen, wie die letzten Angreifer in die Schatten der Felsen flohen und ihren Toten ausgestreckt auf dem dünnen Staub des Bodens zurückließen. Män ner und Frauen in einer Art dunkelgrüner Livree, bedeckt mit schwarzem Stahl, brandeten auf ihren Pferden über die Straße heran, sprangen aus den Sätteln und machten sich sofort an die Verfolgung, bis ihr Anführer die Hand hob und sie zurückrief. »Es ist sinnlos – ich will nicht, daß ihr dabei getötet werdet!« Er zügelte sein Pferd vor Sternenfalke und dem Mann neben ihr, dem Mann, den sie jetzt als Osgard aus der Taverne erkannte. Dann glitt der Reiter mit erstaunlicher Grazie für einen Mann von seiner Statur aus dem Sattel. »Seid Ihr verletzt, Mylord?« »Bei den Dreien, das war ein Kampf!« Osgard legte seinen Arm anerkennend um Sonnenwolf, als dieser sich zu ihnen gesellte. Das schwere Schafsleder seines Wamses war von einem Schwerthieb aufgeschlitzt worden, er selbst jedoch offenbar unverletzt. »So etwas hast du noch nicht gesehen, Nanciormis! Dieser Teufelskerl hat sie wie die Ratten gehetzt – wie die Ratten!« Aus der Nähe konnte Ster nenfalke unter dem Gestank des Blutes, mit dem sie alle beschmiert waren, Schweiß und Alkohol riechen. Nanciormis war so groß wie Osgard und Sonnenwolf, hatte aber die dunkle Haut und die adlerartigen Züge der Shirdar. Was einst falkenhafte Schönheit gewesen war, lag jetzt unter einer dicken Speckschicht verborgen. »Mylord… « Die anderen Reiter versam melten sich um sie, und die Fackeln, die sie trugen, warfen ein gol 400
denes Glitzern auf die Spangen, die sein hüftlanges schwarzes Haar zusammenhielten. »Ich hatte Euch davor gewarnt, so in die Stadt zu gehen, schutzlos und ohne Staat…« »Zum Teufel mit dem Staat«, brummte Osgard und beugte sich vor, um sein Schwert an dem schwarzen Umhang eines der gefalle nen Banditen abzuwischen und in die Scheide zu stecken. Seine Stimme hatte ihre betrunkene Undeutlichkeit verloren – nichts hilft besser als ein Kampf auf Leben und Tod, dachte Sternenfalke, wenn man schnell wieder nüchtern werden will. »Nicht der Staat hat mich zum König von Wenshar gemacht.« Sternenfalkes Blick begegnete dem von Sonnenwolf. Sie sah, daß er nicht überrascht war. »Es waren Männer wie Norbas Milkom und Quaal Ambergados – Minenarbeiter und Kämpfer, Männer, die das Land kennen und sich dafür einsetzen. Männer wie…« Osgard wandte sich um und muster te Sonnenwolf mit einem zugekniffenen Auge. »Ich kenne Euch«, sagte er. Sonnenwolf nickte. »Wahrscheinlich, Euer Majestät.« »Nicht bloß aus der Taverne… « Die grünen Augen verengten sich. »Ihr seid Sonnenwolf. Der Söldner von Wrynde. Wir haben Euch angeworben…?« »Ja. Im vorletzten Krieg gegen Dalwirin«, erklärte Sonnenwolf. »Als die alte Shilmarne ihre Streitmacht die Pässe hinunterführte…« »Bei den Dreien, das ist es!« Der König schlug Sonnenwolf be geistert auf den Rücken, dann schwankte er. Er hatte eine Wunde am Schenkel davongetragen, und Blut floß noch immer klebrig das Bein seiner Reithose hinunter. Sonnenwolf und Sternenfalke fingen ihn auf, als seine Knie nachgaben. Sofort sprang Nanciormis aus dem Sattel, um verspätet Hilfe zu leisten. Osgard machte eine ungeduldige Geste und schob sie beiseite. »Mir geht es gut… « »Einen Teufel geht es Euch«, schnarrte Sonnenwolf. Aus einer Innentasche zog er den Seidenschal, den er seit langer Zeit immer griffbereit hielt, und band ihn oberhalb der Wunde um Osgards Bein. Mit dem Knauf eines der verborgenen Dolche in seinem Stiefel dreh te er ihn stramm. Im gelben Licht des Fackelscheins war das Gesicht des Königs plötzlich wächsern geworden, als die Hitze des Gefechts langsam nachließ. »Gibt es einen Bauchaufschneider oben in der Festung?« Nanciormis nickte. »Könnt Ihr reiten, My… « 401
»Natürlich kann ich reiten!« polterte Osgard heftig. »Nur weil ich einen kleinen Kratzer davongetragen habe, heißt das noch nicht, daß ich wie ein schniefender, schwacher Feigling zusammenklappen werde…« Seine sandfarbenen Augenbrauen zeichneten sich dunkel gegen das graue Fleisch ab, und wie eine Kerze, die ausgeblasen wird, wurde er ohnmächtig. »Gut«, brummte Sonnenwolf, als sie ihn sanft auf den Sand ab legten. »Mit etwas Glück bleibt er den ganzen Weg zur Festung über bewußtlos und behelligt uns nicht weiter mit seiner Männlichkeit.« Die Wachen sahen ihn schockiert an, aber in den Augen von Kommandant Nanciormis erspähte er den Ansatz eines zustimmen den Grinsens.
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2. Kapitel In der Festung Tandieras war das Abendessen gerade vorbei, die Festtische im Großen Saal waren fortgeräumt und die Stühle und Bänke in die Wände des riesigen, granitenen Raumes, der das Herz der alten Burg bildete, zurückgestellt worden. Wie das ›Longhorn Inn‹, wurde der Raum vor allem von Wandleuchten erhellt, deren polierte Metallreflektoren den weichen Bienenwachsschein in den Raum zurückwarfen. Doch hier ermöglichte es die Höhe der Decke, obwohl sie auch zur Kälte beitrug, daß der Rauch besser abzog. Zusätzlich säumte eine große Feuerstelle eine Seite der festlichen Empore am gegenüberliegenden Ende des Saals. Um sie herum stan den Stühle, und zwei Kronleuchter – nicht angezündete, massive, drohende Eisenräder – baumelten in den dichten Schatten über ihren Köpfen. Doch Sonnenwolfs erster Eindruck, als er durch den dreifach ü berwölbten Torweg trat, der vom Vestibül in den Saal führte, war der von Farbe, Frohsinn und Bewegung. Da die Jahreszeit der Sandstür me war, hatte man die großen hölzernen Läden, die die Reihe der hohen Fenster an der südlichen Wand des Raumes flankierten, für die Nacht beinahe geschlossen. Bedienstete in Strickhemden und Reithosen, Gefolgsleute von vornehmer Herkunft in feiner bunter Wollkleidung und weißen Halskrausen und Wachen in dunkelgrü nem Leder hatten sich in Gruppen an den Seiten des Saals versam melt und klatschten im Takt zu der Musik von Pfeifen, Flöten und dem raschen, herzzerreißenden Klopfen einer Handtrommel. Im Mittelpunkt des Saals führte, beleuchtet von Lampen und Fackeln, ein Mädchen einen Kriegstanz auf. Es war einer der alten Kriegstänze der Mittleren Königreiche, die nur noch aus reiner Freude an ihrem gewaltsamen Anteil aufgeführt wurden. Ein junger Mann und ein Mädchen in der Uniform von Wachen standen schwitzend und keuchend daneben und hatten of fenbar gerade ihre Runde beendet. Als der Schatten der Tänzerin über sie hinweghuschte, blitzten die Klingen unter ihr auf. Sie be nutzten echte Waffen. Doch trotz aller Besorgnis auf ihrem Gesicht hätte das Mädchen ebensogut über und um einen Kreis von Weizen garben herum tanzen können; ihre Füße, die unter einem gerafften Rock in leichten Reitstiefeln steckten, tippten mal auf die eine, dann wieder auf die andere Seite der bläulichen Kanten der aufwärtsge 403
richteten Schwerter. Sie sah aus wie sechzehn; ihr sandblondes Haar, in dem sich Hell und Dunkel mischten, leuchtete im Widerschein des Lichts auf; die Fackeln waren nicht heller als ihre Augen. Neben sich bemerkte Sonnenwolf Nanciormis, der durch den Torweg in den Raum trat und den Mund schon geöffnet hatte, um die schlimme Nachricht zu verkünden. Sonnenwolf ergriff den Mann an seinem dicken Arm und sagte leise: »Erschreckt sie nicht.« Der Kommandant sah, was er meinte, hielt inne und sagte dann: »Nein, das hatte ich auch nicht vor.« Er winkte einen der Pagen herüber und flüsterte dem Jungen hastige Anweisungen zu. »Mach zu!« befahl Nanciormis, und der Page bahnte sich geschmeidig einen Weg durch die Menge auf die kleine Ansammlung wartender Edel leute zu, die zwischen dem Kamin und jener Tür standen, die von der Empore in die Sonnenhalle des Königs dahinter führte. Nanciormis warf Sonnenwolf einen beinahe entschuldigenden Blick zu. »Wir können Seine Majestät nicht draußen im kalten Hof lassen!« In diesem Moment kam die Musik pfeifend zum Abschluß, das Mädchen stand keuchend und glücklich im lohfarbenen Strahlen kranz der Lichter. Eine Frau löste sich aus der Menge an der Empore und eilte zu ihr, mager und aufgeregt, ihr schmales weißes Gesicht unvorteilhaft umrahmt von straffgezogenem, schwarzem Haar. Auch die Kleidung war schwarz; die Grobheit der Farbe löste etwas in Sonnenwolfs Erinnerung aus. Sie war eine von Kalethas Schülerin nen am Nachmittag in den öffentlichen Gärten gewesen. Sie berührte den Arm des Mädchens und sagte etwas. Betroffen wandte sich das Mädchen mit vor Schrecken geweiteten grünen Augen dem Torweg zu; ohne ein Wort kam sie auf sie zu, wobei die schwarzgekleidete Gouvernante wie ein mageres Mutterschaf, das eine Gazelle adop tiert hat, hinter ihr her eilte. »Onkel, ist mit Vater alles in Ordnung?« fragte sie, kaum daß sie sich Sonnenwolf und Nanciormis weit genug genähert hatte. » Ans hebbeth sagt… « »Deinem Vater geht es gut, Tazey.« »Ihr solltet sofort nach Lady Kaletha schicken«, stieß die schwarzgekleidete Frau keuchend hervor, als sie hinter ihnen auf tauchte. »Sie kann…« »Das haben wir bereits, Anshebbeth.« »Ich könnte selbst nach ihr schauen – ich weiß, wo sie sich gera de aufhält…« »Dafür ist schon gesorgt.« Nanciormis' Stimme klang beschwich 404
tigend. Anshebbeths lange weiße Finger ballten und öffneten sich nervös; ihre großen, dunklen Augen richteten sich auf Nanciormis' Gesicht, dann auf Sonnenwolfs Körper – ein Blick, der verdeckt aber unmißverständlich war – und wandten sich wieder ab, mit leicht gefärbten Wangen. Sonnenwolf fragte sich, ob sie errötete, weil er die Gedanken hinter diesem Blick durchschaute, oder weil sie selbst es tat. Nichtsahnend fuhr Nanciormis fort: »Hauptmann Sonnenwolf – meine Nichte, Prinzessin Taswind – ihre Gouvernante, Lady Ans hebbeth.« Wachen trugen den bewußtlosen König in den Saal. Die Edelleu te und Damen beeilten sich, die Tür zur Sonnenhalle zu öffnen und dort Lampen zu entzünden; Tazey sprang ihnen nach und raffte dabei ihre Röcke, als störte sie das Gewicht. Sonnenwolf musterte die fein gearbeitete Borte ihres Unterrocks und die schlanke Kraft ihrer Wa den in den weichen Stiefeln, bevor der harte Stoß eines knöchernen Knies gegen seinen Schenkel ihn zurückblicken ließ; aber Sternen falke, die an seiner Seite aufgetaucht war, sah sich nur unschuldig im Raum um. Unten im Saal rief eine der niederen Bediensteten, ein fettes altes Weib, unter deren plissiertem Rock sich dickliche Fußknöchel zeig ten und deren schwarze Augen aus einem wirren grauen Haarpelz hervorblitzten, mit gellender Stimme: »Kam wohl nich' schnell ge nug durchs Hinterfenster raus, als der Gatte heimkam, wie? Läuft sich nicht so gut mit den Hosen um die Knöchel!« Tazeys Schritt zögerte nicht einmal, aber Anshebbeth blieb schäumend vor Wut und Empörung abrupt stehen, einen Augenblick lang hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich mit der alten Frau anzulegen, und der Pflicht, bei ihrem Schützling zu bleiben. Dann, als würde sie einsehen, daß ihr ein Wortgefecht auch nicht zum Recht verhelfen mochte, fuhr sie herum und eilte hinter Tazey her durch die schmale Tür in die Sonnenhalle. »Habt Ihr erkannt, wer es war?« fragte Nanciormis leise, als er Sonnenwolf und den Falken zu den mit Schnitzereien versehenen Stühlen auf der Empore neben dem Feuer führte. Eine Bedienstete kam herbei, um ihm den schweren weißen Mantel abzunehmen, und erwiderte sein Lächeln mit einem kessen Blinzeln; Sonnenwolf be merkte, während er und Sternenfalke ihre verschrammten Schafs fellmäntel ablegten, daß Nanciormis die bewundernden Blicke meh rerer Frauen des Haushalts auf sich zog. Obwohl korpulent, war er immer noch ein gutaussehender Mann; aber davon abgesehen vermu 405
tete Sonnenwolf, daß er einfach der Typ Mann war, dessen Vitalität Frauen anzog, einerlei, wie fett er auch wurde. Selbst nach so kurzer Bekanntschaft und trotz der Achtlosigkeit, durch die er beinahe die für den Kriegstanz erforderliche Konzentration gestört hätte, fand Sonnenwolf den Mann sympathisch. Er notierte sich insgeheim, das in Rechnung zu stellen. »Schienen Eure Leute gewesen zu sein.« Nanciormis blieb stehen. Sein langes Haar, das ihm in einer schwarzen Lockenmähne über die Schultern zurückfiel und an den Schläfen geflochten war, funkelte im Lampenschein, als er den Kopf herumriß. »Die Shirdar – das Wüstenvolk«, fuhr der Wolf fort. »Es gab ein wenig Ärger im ›Longhorn‹ – vier von ihnen brachten einen Trink spruch auf Prinzessin Taswinds künftigen Gatten aus. Ich schätze, der Kerl ist hier in der Gegend ungefähr so beliebt wie Maden im Bier. Ein Mann namens Norbas Milkom hat das alles angezettelt, obwohl der Grund, weshalb sie den König angriffen…« Der Kommandant stöhnte, und alle Vorsicht schwand aus seinem Blick. »Das hätte ich mir denken können. Nein, der Kerl ist ganz und gar nicht beliebt.« Er grinste kläglich und setzte sich auf einen der Stühle neben der Feuerstelle – schweres Ebenholz aus den Wäldern von Kimbu im Süden, bezogen mit einheimischer Arbeit aus rotem Leder. »Ohne Zweifel griffen sie den König an, weil er dumm genug war, allein zurückzugehen – anders als unser gerissener Norbas. Es ist überall in der Wüste bekannt, daß sie vierzig Jahre lang Freunde waren – wenn es wirklich dieselben Shirdar waren, die Ihr im ›Longhorn‹ saht.« Eine Bedienstete kam herbei – dieselbe, die ihnen die Mäntel ab genommen hatte – und bot ihnen von einem fein ziselierten Bronze tablett Becher mit Wein und Datteln in einer gehämmerten Silber schale an. Sonnenwolf sah jetzt, daß sie wie Nanciormis und, wie er annahm, auch Anshebbeth, zu den Shirdar gehörte, wenngleich sie nicht deren reservierte Würde an den Tag legte. Sie mußten am Fuß der Berge seit Generationen zwischen den einstigen Sklaven aus dem Norden gelebt und unter ihnen geheiratet haben. Als sie glaubte, daß niemand hinsehe, hauchte sie Nanciormis einen Kuß zu. Er bemerkte es mit einem unterdrückten Lächeln und vergnügtem Funkeln in den Augen. »Vielleicht waren es bloß Banditen«, fuhr er fort, »es gibt eine Menge davon im Gebirge. Oder sie gingen nach der gleichen Logik 406
wie die Männer von Wenshar vor, als sie zur Vergeltung für die Sklavenüberfälle von Regidar Hasdrozidar von den Dünen und Sei fidar vom Weißen Erg töteten, ohne erst nach der Wahrheit zu for schen. Unsere Leute hier werden von denen, die aus den Bergen im Norden kamen, sehr mit Mißtrauen betrachtet.« »Aus gutem Grund«, sagte eine ruhige Stimme an seinem Ellen bogen. Da er mit dem Rücken zur Nische und mit der blinden Seite Sternenfalke zugewandt saß, hatte Sonnenwolf beobachtet, wie sich ihnen die schlanke Gestalt eines alten Mannes näherte – es wäre in der Tat schwer gewesen, sie zu übersehen. Sie trug, was Sternenfalke respektlos die Alltagsuniform der trinitarischen Bischöfe nannte, und der scharlachrote Überwurf und goldene Wappenrock warfen von Litzen und Stickereien das Kerzenlicht zurück, als sei der alte Mann mit einem Spinnennetz aus Flammen bedeckt. Granat und Felskris tall funkelten in den feingearbeiteten Medaillons mit den heiligen Zeichen; selbst die Ärmel des weißen Untergewandes waren mit winzigen Staubperlen bestickt. Unter all dieser Pracht wäre der alte Mann, hätte er sich nicht einen Bart stehen lassen, hübsch wie ein Mädchen gewesen; volle, leicht schmollende Lippen zeigten sich unter dem seidenweißen Schnauzbart; die Augen mit den hellen Wimpern waren vom klaren Blau des Morgenhimmels. Mit einer leisen, sanften Stimme fuhr der Bischof fort: »Es ist Kameradschaft oder Verehrung, was Männer in Treue zusammen schließt, Nanciormis. Ihr seid zum wahren Glauben des Trigottes konvertiert, aber kann man dasselbe auch von den Shirdar unter den Wachen sagen? Nein. Sie klammern sich an ihren alten Aberglauben, ihre vertrauten Kulte und Wind-Dschins. Wie kann irgendein wahrer Verehrer ihren Schwüren Glauben schenken?« »Ich bin sicher, man kann es nicht«, bemerkte Sternenfalke, die halb in ihrem Stuhl lag und ihn aus sanften grauen Augen ansah. »Aber die Frage ist ziemlich akademisch, nicht wahr, wo doch die Calcedus-Doktrin klar und deutlich besagt, daß wahre Verehrung nicht dazu verpflichtet, einen Schwur zu halten, den man den An hängern unwahrer Götter gegeben hat.« Der alte Bischof breitete verächtlich seine Hände aus. »Wir sind Tauben, umgeben von Schlangen, Kriegslady«, erklärte er theatra lisch. »Wir brauchen solche Ausflüchte, um überleben zu können.« Sie musterte den offensichtlichen Reichtum und die Macht, die sich in diesen prächtigen Gewändern ausdrückte, und blickte zu Sonnenwolf hinüber. »Ich habe noch niemals einen Trinitarier ge 407
troffen, der nicht für alles eine gute Erklärung gehabt hätte.« Der Bischof neigte sein weißes Haupt. »Das liegt daran, daß alle Wahrheiten uns durch die Heilige Schrift offenbart sind.« Etwas regte sich in den Schatten hinter der Feuerstelle; Sonnen wolf hatte bei seiner unwillkürlichen Suche nach allen möglichen Ausgängen dieses Raumes bereits die schmale Tür gesehen, die sich halb verborgen hinter dem geschwärzten Granit des Kaminsimses befand. Nun trat Kaletha aus dem Dunkel heraus, gefolgt von einem ihrer Schüler, dem einzigen, der nicht wie sie am Nachmittag Schwarz getragen hatte. Seine Kleidung bestand aus dem blaugolde nen Habit eines trinitarischen Novizen, und er war natürlich bestürzt, als er den Bischof sah. Er sagte recht laut: »Wie ich Euch schon sagte, Lady Kaletha, der König ist in seinem Schlafgemach hinter der Sonnenhalle.« »Vielen Dank, Egaldus.« Kaletha neigte graziös ihren Kopf und bewegte sich in einem königinnenhaften Rauschen schwarzer hand gewebter Gewänder auf die Empore zu. Nach einer Sekunde des Zögerns machte der junge Mann, blondhaarig und sehr nervös, mit künstlicher Bestimmtheit kehrt und eilte gehetzt in die andere Rich tung davon. Sonnenwolf wandte seine Aufmerksamkeit dem Bischof zu, aber der alte Mann schien nichts zu bemerken; mißbilligend beobachtete er, wie Kaletha näher kam. »Ein Jammer«, sagte er, »daß die einzige Heilerin in der Festung eine Hexe sein muß.« Kaletha blieb am Rand des Lichtkreises stehen, den das Feuer warf, und musterte sie mit einem eisigen Blick. Sonnenwolf, der diesen kalten Blick einen Moment auf sich ruhen fühlte, bevor er weiterwanderte, wurde sich plötzlich des Staubes in seiner Kleidung und im Haar bewußt und der Prellungen vom Kampf, die sein Ge sicht zeichneten; Kaletha blickte zur Seite, als wollte sie sagen, daß man damit rechnen konnte, Sonnenwolf über kurz oder lang an den Nachwirkungen einer Rauferei leiden zu sehen. Zum Bischof sagte sie: »Wir haben das schon oft genug besprochen, Galdron. Es ist kaum wahrscheinlich, daß Eure Mißbilligung meiner Kräfte mich noch einmal von dem wird abhalten können, was ich für meine Be stimmung und Pflicht halte.« »Es ist kaum wahrscheinlich«, stimmte der kleine Mann sanft zu, »aber als Bischof von Wenshar bin ich auch für die Erlösung Eurer Seele aus den schwefligen Höllen verantwortlich, die für Hexen bereitstehen, und es bleibt mir immer noch Hoffnung.« 408
Die Antwort erfolgte so leichthin, daß Sonnenwolf kaum ein schnaubendes Lachen unterdrücken konnte. Kalethas Blick traf ihn wie ein kühler Windhauch und war im nächsten Moment wieder verschwunden. Wenn Wünsche Pferde wären, dachte Sonnenwolf sarkastisch, wären jetzt überall auf meiner Haut Hufabdrücke… »Entschuldigt mich, Kommandant – Hauptmann«, sagte der Bi schof, als Kaletha sich abwandte und gemessenen Schrittes an der Empore vorbei zum Eingang der Sonnenhalle des Königs ging. »Ich sollte besser dabei sein, wenn sie sich mit dem König beschäftigt.« »Ich schätze, sie ist der einzige Bauchaufschneider, den Ihr auf treiben konntet?« erkundigte sich der Wolf, als der Bischof der großgewachsenen, rothaarigen Frau wie eine glitzernde kleine Puppe hinterhereilte. Im Saal vor ihnen beruhigten sich die Dinge langsam wieder. Die grauhaarige Alte gab inmitten einer tratschenden An sammlung von Stallburschen und Wäscherinnen unter Anfällen der ben Gelächters ihre Version irgendeiner Geschichte zum Besten. Der trinitarische Novize hatte, wie Sonnenwolf bemerkte, in Wirklichkeit nichts zu tun – er trieb sich immer noch bei den drei Torbögen zum Vestibül herum und schwatzte mit zwei anderen von Kalethas Schü lern: einem dicklichen Knaben von etwa sechzehn Jahren und einer dünnen, besorgt aussehenden jungen Frau, die beide, wie Kaletha und Anshebbeth, in Schwarz gekleidet waren. »Im Gegenteil«, sagte Nanciormis; er nippte Wein, den die Die nerin ihm gebracht hatte, und bot Sonnenwolf die gehämmerte Scha le mit Datteln an. »Kaletha ist erst kürzlich in diese Position aufge stiegen, und zwar in Ermangelung eines besseren. Seit sie beschlos sen hat, Zauberin zu werden, hält sie das wohl für einen Teil ihrer vielgerühmten ›Bestimmung‹. Aber sie war schon von jeher ein Mitglied des Haushalts.« »Tatsächlich?« fragte der Wolf nachdenklich. Es würde diese er bitterte Abwehrhaltung erklären, dachte er. Es hieß, daß kein Pro phet im eigenen Land etwas gälte. Sogar er hatte, als er seinen frühe ren Söldnertruppen bei seinem kurzen Besuch in Wrynde diesen Frühling verkündete, daß er Zauberer werden wollte, das erst getan, nachdem er schon Abschied von ihnen genommen hatte. Der Zaube rerkönig Altiokis hatte keinen Konkurrenten geduldet; Kaletha hätte sich kaum mehr als einen Hinweis auf ihre Kräfte erlauben dürfen, solange er noch am Leben war. Sie hatte die Menschen, die sie ihr ganzes Leben lang kannten, kaltblütig täuschen müssen. Seine allzu lebhafte Einbildungskraft malte sich aus, was wohl geschehen wäre, 409
wenn er in seinem Heimatdorf verkündet hätte, daß er Zauberer werden wollte, und seine Seele krümmte sich bei dem Gedanken. Nanciormis zuckte beiläufig die Achseln. »Sie war Hofdame meiner Schwester, Osgards Frau, der Lady Ciannis. Als Ciannis starb, behielt Osgard sie als Bibliothekarin im Haushalt, weil sie dafür ein Talent hat. Erst nachdem die Nachricht vom Tod des Zau bererkönigs eingetroffen war, erklärte sie, selbst magischer Ab stammung zu sein, und begann andere zu unterrichten.« Er lachte, kurz und verächtlich. »Nicht, daß je etwas dabei he rausgekommen wäre, was ich mit eigenen Augen gesehen hätte. Oh, sie behauptet, imstande zu sein, Magie zu unterrichten, aber wer sind denn schon ihre Schüler? Ein Haufen alter Fräuleins und enttäuschter Jungfrauen, die mit ihrem Leben nichts Besseres anzufangen wis sen.« »Ihr glaubt also nicht, daß sie tatsächlich gewisse Kräfte hat?« Das mußte die Reaktion der meisten Leute in der Festung gewesen sein. Nanciormis winkte mit der Hand, deren dickliche, aber kräftige Finger alte Ringe aus mattem Gold zierten, geringschätzig ab. »Oh, ich gebe zu, daß die Frau einen gewissen Zauber hat – vielleicht auch einige dieser armen Narren, die ihr folgen. Aber warum ihm nachjagen? Was kann man sich davon kaufen, was man nicht auch mit Geld bekommt? Es ist einhundertfünfzig Jahre her, seit die alte Stadt Wenshar in der Wüste wegen der magischen Praktiken dort zerstört wurde, aber, glaubt mir, das Gefühl ihr gegenüber hat sich hier nie geändert.« Sonnenwolf legte seinen Kopf ein wenig schräg und dachte dar an, wie das Mädchen in der Schenke das Zeichen gegen das Böse gemacht hatte. Aber sie ist eine Hexe, hatte sie gesagt. »Weshalb ist das so?« fragte er. »Was ist in Wenshar geschehen?« Die Türen der Sonnenhalle öffneten sich und Tazey tauchte ohne ihre Gouvernante wieder auf, ängstlich und in Gedanken versunken. Nanciormis musterte den dunklen Eingang hinter ihr und sagte leise: »Je weniger man davon spricht, desto besser. Habt Ihr für die Zim mer in der Stadt bezahlt, Hauptmann? Osgard wird Euch am Morgen sehen wollen, da bin ich sicher. Wir können Euch Schlafstellen im Männerschlafsaal anbieten… « Er deutete auf eine breite Bogentür auf halber Höhe des gewaltigen Raumes. »… und im Frauenschlaf saal.« Sein Nikken wies auf den schmalen Eingang hinter dem Ka min. »Oder wenn Euch das lieber ist, können wir Euch auch eine 410
gemeinsame Zelle unten in der Nähe der Pferdeställe geben, im lee ren Viertel der Festung. Dort gibt es eine Anzahl Werkstätten, Kü chen und Baracken, aber die nähergelegenen Räume haben noch Dächer und sind gegen Stürme geschützt, falls nachts einer auf kommt.« An dem fragenden Glanz im Auge des Kommandanten erkannte Sonnenwolf, daß er das Angebot ebensosehr aus Neugierde als auch aus Gastfreundschaft machte; er sagte: »Wir nehmen das Zimmer draußen bei den Ställen«, und sah, wie der große Mann nickte, als habe er im Geiste die Beziehung zwischen den beiden Partnern und wie er sie zu behandeln hatte richtig eingeschätzt. In der Tür zur Sonnenhalle tauchte Bischof Galdron mit mißbilli gendem Gesichtsausdruck auf; hinter ihm kam Kaletha, das goldene Lampenlicht vertiefte die Linien der Müdigkeit und des Verdrusses auf ihrem feingeschnittenen Gesicht und zeigte ihr Alter, das der Wolf auf ein Jahr unter oder über dreißig schätzte. Anshebbeth folgte ihr dicht auf den Fersen, als wäre Kalethas Wohlbefinden und nicht das von Tazey ihre vordringliche Sorge. Aber Tazey, die neben dem Stuhl ihres Onkels Nanciormis stand, schwieg – offenbar verstand sie die Jüngerschaft ihrer Gouvernante. Von der gegenüberliegenden Seite des Raumes eilten die beiden anderen Schüler zu ihrer Lehrerin und strahlten sie freudig an. Nur der Novize wahrte sorgsam Ab stand. Ohne auf Sonnenwolf zu achten, machte sich die kleine Gruppe auf den Weg zu den Türen. Sonnenwolf seufzte. Er hatte damit warten wollen, bis sie nicht mehr in der Öffentlichkeit waren, aber sein Gespür für die richtige Zeit warnte ihn, daß dies die Lage nur noch verschlimmern würde. Es gab ein paar Dinge, die bei der ersten sich bietenden Gelegenheit erledigt werden mußten. Er erhob sich und sagte: »Lady Kaletha.« Ihr Schritt kam ins Stocken. Sie war sich nicht sicher, dachte er, ob sie ihn ignorieren und ihr nachlaufen lassen sollte. Wenn sie das tut, dachte er grimmig und stellte sich einen Moment lang vor, wie er sie schüttelte, bis ihre perlweißen Zähne aufeinanderschlugen… Dann rief er sich zur Ordnung. Was immer sie hatte, es war etwas, das er verzweifelt brauchte. Er würde darum bitten müssen, auf wel che Weise sie es ihm auch immer vorschrieb. Stures, verhätscheltes Weibsbild! Kaletha machte noch einen Schritt, dann schien sie es sich anders zu überlegen und blieb stehen. Sie drehte sich um, das Kinn erhoben, 411
die kornblumenblauen Augen auf ihn gerichtet wie auf einen Bettler. Er hatte unter Dauerfeuer Sturmangriffe auf feindliche Zinnen durchgeführt, die ihm mehr zugesagt hatten. »Mylady«, sagte er, und seine rauhe, kratzende Stimme war weder laut noch besonders leise. »Es tut mir leid. Ich hatte kein Recht, zu sagen, was ich heute zu Euch sagte, und ich bitte Euch um Verzeihung für mein dummes Gerede.« Er zwang sein einzelnes Auge dazu, in die ihren zu sehen, und spürte die Blicke ihrer Schüler und der anderen im Saal – der Bediensteten, Stallburschen, Wäscherinnen, Wachen, von Taswind und Nanciormis. Er fühlte sich wie vor langer Zeit während der Ri ten der Mannbarkeit in seinem Dorf im Norden, als er nackt vor den Augen des Stammes gestanden hatte und verpflichtet gewesen war, auf sich zu nehmen, was immer der Schamane ihm zugedacht hatte. Nur daß in jenem Fall, dachte er grimmig, jene die ihn beobachteten, wenigstens gebilligt hatten, was er durch die Erniedrigung zu errin gen bestrebt war. Das war das letzte Mal gewesen, wurde ihm klar, daß er jemals um etwas gebeten hatte. Die unterkühlte Süße ihrer Stimme war noch so, wie er sie aus den Gärten in Erinnerung hatte. »Sagt Ihr das, weil es Euch leid tut«, fragte sie, »oder weil Ihr wißt, daß ich meine Weisheit nicht mit Euch teilen werde, solange Ihr Euch nicht entschuldigt habt?« Sonnenwolf holte tief Atem. Wenigstens hatte sie ihm geantwor tet und gesprochen, als würde sie seinen Worten zuhören. »Beides«, sagte er. Das räumte jede Möglichkeit, ihn der Unwahrheit zu bezichtigen, aus, und ließ sie einen Moment lang verwirrt zurück. Dann zogen sich ihre blauen Augen wieder zusammen. »Wenigstens seid Ihr aufrichtig«, sagte sie, als täte es ihr leid, das zu erfahren. »Das ist das erste, was Ihr über die Künste der Zauberei lernen müßt, wenn Ihr ihnen nachgehen wollt, Hauptmann. Aufrichtigkeit ist fast so wichtig für das Studium der Zauberei wie die Reinheit des Körpers und der Seele. Ihr müßt jederzeit aufrichtig sein – völlig aufrichtig –, und Ihr müßt lernen, die Aufrichtigkeit der anderen zu akzeptieren.« »Ihr wart nicht sehr erfreut über meine Aufrichtigkeit heute nachmittag.« Sie ließ sich nicht in die Enge treiben. »Das waren nicht Eure wahren Gefühle. Wenn Ihr in Euer Herz blickt, werdet Ihr, denke ich, finden, daß es Euer Neid auf mich war, der aus Euch gesprochen hat – was Ihr sehen wolltet, nicht, was Ihr wirklich gesehen habt.« Mit größter Anstrengung unterdrückte Sonnenwolf die Worte, die 412
ihm auf die Lippen kamen. Sie kann mich unterrichten, ermahnte er sich grimmig. Sie ist die einzige, die ich gefunden habe, die das kann. Alles andere geht mich nichts an. Aber er konnte nicht wider stehen. Er sagte, wobei er sorgfältig die Ironie aus seiner Stimme heraushielt: »Ich könnte mir denken, daß Ihr mehr darüber wißt als ich, Mylady. « Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie Sternenfalke aus druckslos die Zunge in ihre Wange bohrte, die Brauen hob und zur Seite blickte. Aber Kaletha nickte düster, nahm seine Worte in ihrer buchstäblichen Bedeutung und betrachtete sie als einen verdienten Tribut an die Klarheit ihrer Einsicht. »Das ist etwas, das sich ein stellt, wenn man ein gewisses Niveau des Verstehens erreicht hat.« Hinter ihr nickten ihre Schüler altklug wie ein guttrainierter Chor. »Ihr müßt lernen, Disziplin zu akzeptieren, Selbstkontrolle zu ver stehen. Das mag Euch fremd erscheinen…« »Ich bin mein Leben lang ein Krieger gewesen«, erwiderte Son nenwolf verärgert. »Das hat auch etwas mit Disziplin zu tun, wißt Ihr?« »Aber es ist nicht das gleiche«, hielt sie ihm ernsthaft entgegen, und bissig dachte er: Woher, zum Teufel, willst du das wissen? Gönnerhaft fuhr sie fort: »Ich habe lange und schwer studiert, um meine Macht zu erlangen, Hauptmann. Es ist meine Bestimmung, zu lehren. Mit Meditation und mit Zaubersprüchen kann ich die tiefsten Bereiche des Geistes erreichen. Der Geist ist alles, wenn der Körper rein ist – alle Magie kommt aus dem gereinigten Geist. Ich kann Kräfte in jedem erwecken, selbst in denen, die nicht magischer Ab stammung sind, wenn sie willens, aufrecht und rein sind.« Sie maß seine schwere, muskelbepackte Gestalt nochmals von Kopf bis Fuß mit einem kühlen Blick, als sehe sie durch seine staubige Kleidung und mißbillige den Anblick. Ihr Blick schweifte ab, begegnete Ster nenfalke, und die Züge der Mißbilligung gruben sich ein wenig tiefer in ihre Stirn ein. »Das ist etwas, das Ihr lernen müßt zu akzeptieren, wenn Ihr Eure Kräfte entwickeln wollt.« Zorn wallte in ihm auf, wie sie es zweifellos beabsichtigt hatte; Worte quollen auf seine Lippen über enttäuschte Jungfern, die eine Tugend aus der Tatsache machten, daß kein Mann jemals von ihnen Notiz nehmen würde. Doch mit geradezu körperlicher Anstrengung hielt er diese Worte zurück. Wenn man Brot kaufen will, dachte er, darf man den Bäcker nicht beleidigen – und was sie von Zauberei hielt, ging ihn ohnehin nichts an. 413
Aber er konnte von Glück reden, dachte er mürrisch, als er dieses blasse, feingeschnittene Gesicht im Kerzenschein sah, wenn es nicht damit endete, daß er die Frau mit ihrem eigenen langen, roten Haar erwürgte. Während seines langen Schweigens musterte sie ihn abschätzend. Sie hatte eine andere Reaktion erwartet, das fühlte er. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Wenn Ihr glaubt, die Kraft und Bereitschaft zu haben, diesen Pfad zu gehen, kommt morgen nachmittag in die öf fentlichen Gärten, wo ich meinen Unterricht abhalte.« Sie neigte ihren Kopf mit einer herablassenden Freundlichkeit, die in Sonnenwolf den Wunsch aufsteigen ließ, sie zu ohrfeigen. Sie wollte gerade davonschreiten, als ihr vom anderen Ende des Saals die alte Wäscherin zurief: »Ich wette, es freut dich, daß er zu dir kommt – ist doch mal 'ne Abwechslung von den ewigen Jüngelchen und Frauen!« Kalethas Gesicht rötete sich vor Wut, während sie sich umdrehte. Rings um das schmutzige alte Weib brachen die anderen Wäscherin nen und Stallburschen in lautes Gelächter aus. Wie heute nachmittag im Garten war Kaletha für einen Moment sprachlos vor Zorn. In einer blitzartigen Erkenntnis wurde Sonnenwolf klar, daß sie keinen Sinn für Humor hatte und deshalb nicht fähig war, mit dieser Art von Demütigung fertig zu werden, ja nicht einmal, sie überhaupt zu ver stehen. Und dabei muß sie, dachte er, täglich damit konfrontiert worden sein, seit sie aller Welt ihre Berufung zum Hexenwesen verkündet hatte. All dies durchzuckte in Sekundenschnelle seinen Kopf; als Ka letha Atem holte, um eine Erwiderung zu stammeln, schnitt er ihr rasch das Wort ab. »Die Sau in der Brunft quiekt immer am lautes ten.« Das alte Weib und ihre Freunde brachen in noch lauteres Grölen aus. »Komm nachher in den Waschraum und schau selbst nach, du alter Eber!« Er zuckte bedeutsam die Achseln. »Ich hab' nicht die ganze Nacht Zeit, mich anzustellen.« Die Wäscherin lachte so heftig, daß er leicht ihre Zähne hätte zählen können, wenn sie welche gehabt hätte. Er wandte sich wieder an Kaletha und sagte ruhig: »Ich werde morgen da sein, Mylady, nachdem ich den König gesehen habe.« Als er und Sternenfalke den Saal verließen, spürte er Kalethas nachdenklichen Blick auf seinem Rücken. 414
Das leerstehende Viertel der Festung Tandieras lag hinter den Ställen, ein graues Skelett in der fahlen Eintönigkeit des Morgen grauens. Von seinem Platz auf dem breiten Bett aus geflochtenem Bast und Pappelpfosten konnte Sonnenwolf durch die halb geöffne ten Fensterläden ein geborstenes Labyrinth aus zerfallenen Lehmzie gelwänden, eingestürzten Dächern und geplatzten Fliesen sehen. Das waren Garnisonsquartiere für die Truppen von Dalwirin, einfache Behausungen für die Bevölkerung ihrer Regierungsstadt und Hütten für Hunderte von Minensklaven gewesen. Nun war das Viertel ver lassen und erstreckte sich ausgestorben über mehrere Morgen Land; zu den vielen Dingen, die sein Vater als eines Kriegers unwürdig erachtet hatte, gehörte auch Sinn für Schönheit, und Sonnenwolf gab selten jemandem gegenüber zu, daß er derlei Dinge wie die entblöß ten Formen von Felsen und Mauern oder die von der Kraft des Win des gemeißelten kunstvollen Dünen schön fand. Wenn er seinen Sinnen freien Lauf ließ, wie Sternenfalke es ihm in den Meditationen beigebracht hatte, konnte er fühlen, daß sich noch Leben in den Ruinen regte. Irgendwo kletterten Wüstenratten über zerfallene Ziegel; irgendwo lagen Schlangen träumend in alten Öfen und warteten darauf, daß die Sonne ihr kaltes Blut erwärmte. Er fühlte die rasche, verstohlene Bewegung einer Wüstenspring maus, die auf ihren Bau zuhüpfte. Obwohl es nun hell genug war, um die zerfallenen Ziegel und die dunkel gefärbten Mauern mit ihren meterhohen Sandwehen und dem Weißdorn davor auszumachen, war noch kein Vogellaut zu hören. Während sie am Rand der Wüste dahinzogen, war ihm all dies vertraut geworden – die Sandgrasmücken und Weizenohren und das leise, furchtsame Gurren der Felstauben. Die zahlreichen Brunnen im leerstehenden Viertel hätten sie zu Hunderten anlocken müssen. Er krauste die Stirn. An seiner Schulter schlief Sternenfalke noch immer, alle raub tierhafte Drohung gelockert und das schmale Gesicht friedlich, ihr weißblonder Haarschopf zerzaust und abstehend wie der eines Kin des. Für den Wolf war seine Beziehung zu dieser Frau, die er seit so langer Zeit kannte, eine zwischen Gleichen, zwischen Kriegern von gleicher Kraft und Fähigkeit. Aber in Zeiten wie dieser fühlte er eine verzweifelte Zärtlichkeit für sie, eine Sehnsucht, sie zu bergen und zu beschützen, die im seltsamen Widerspruch stand zu ihrem Alltag oder den löwenhaften Gelüsten der tiefen Nacht. Er grinste ein wenig in sich hinein – Sternenfalke war vermutlich diejenige unter den 415
Frauen, die am wenigsten seinen Schutz brauchte. Ich werde alt, dachte er kläglich. Es lag keine Furcht darin, ob wohl es ihn noch vor einem Jahr entsetzt hätte; er amüsierte sich nur über sich selbst. Alt und weich. Wie die der Ruinen war auch Sternenfalkes Schönheit eine der Schrunde und Klüfte und ebenen Flächen. Er bewegte seinen Kopf ein wenig und küßte die feine Linie des geschwungenen Knochens unter ihrem linken Auge. Noch immer war kein Vogellaut zu hören. Sein Schlaf war ruhelos gewesen, von bruchstückhaften Träumen heimgesucht. Sein Zorn auf Kaletha hatte tief gesessen; ihm wurde bewußt, daß sein Zorn auch dem Schicksal, seinen Ahnen und der Tatsache galt, daß er mit der Mütze in der Hand zu einer Frau ge gangen war und ihre selbstherrlichen Beleidigungen hatte schlucken müssen, weil nur sie ihm geben konnte, was er brauchte. In Wrynde, erinnerte er sich, war das Gerücht umgegangen, er habe wie der verrückte Gott der Barden sein Auge gegen Weisheit eingetauscht – er wünschte nur, es wäre der Fall gewesen. Und doch wußte er, daß Sternenfalke wie üblich recht hatte. Was ihn am meisten an Kaletha ärgerte, war ihre arrogante Annahme, daß sie keinen Lehrerbrauche und selbst weit genug sei, über ihre Fort schritte und die von anderen zu urteilen. Aber indem er sich weiger te, ihre Führung anzuerkennen, tat er genau das gleiche. Neben ihm bewegte sich Sternenfalke im Schlaf und schlang ih ren Arm fester um seinen Brustkorb, als fände sie Trost in dieser Berührung. Er streichelte ihre Schultern mit der seidigen Haut und blickte zu den pinkfarbenen Reflektionen hinaus, die die oberen Ränder der Ruinenmauern erwärmten. Eine Windbö trug den war men Geruch der Ställe und den Duft von gebackenem Brot aus den Küchen des Palastes heran. Dann schlug der Wind um, und er roch nach Blut. Ob Sternenfalke es ebenfalls roch und im Schlaf mit den hoch empfindlichen Sinnen einer Kriegerin reagierte, oder ob sie einfach nur spürte, wie sich seine Muskeln versteiften, wußte er nicht, aber einen Moment später blinzelten ihre grauen Augen zu ihm hinauf. Sie war noch kurz vorher im Tief schlaf gewesen, doch sie bewegte sich nicht und sagte kein Wort; instinktiv blieb sie angesichts einer möglichen Bedrohung stumm. »Riechst du es?« fragte er leise, aber der Wind war schon wieder umgeschlagen. Da waren nur die Gerüche brennenden Holzes und 416
gebackener Brote aus den Küchen. Es ist also nicht bloß der Geruch getöteter Hühner für das heutige Abendessen, dachte er. Sie schüttelte den Kopf. Alle kindliche Hilflosigkeit hatte sich in das verwandelt, was es wirklich war – seine eigene Einbildung – , und die Frau, die sich so vertrauensvoll an seine Schulter gekuschelt hatte, hielt jetzt ein Messer in der Hand und war auf alles vorbereitet. Sternfalke, dachte der Wolf grinsend, war die einzige Person, die er kannte, die völlig nackt sein und im nächsten Moment eine verbor gene Waffe zücken konnte. »Es ist wahrscheinlich nichts«, sagte er. »Ich habe letzte Nacht draußen im leeren Viertel Schakale und Pariahunde gehört… « Wie der krauste er die Stirn und schloß das Auge, brachte seine Gedanken zum Verstummen, wie er es oft beim Kundschaften getan hatte, lauschte, wie nur ein Zauberer lauschen konnte. Das leere Viertel war still. Kein Gemurmel der Tauben, die dort nisten mußten, keine schrillen Schreie von Mauerseglern, obwohl es längst die Zeit war, in der die Vögel ihre Gebietsansprüche anmeldeten. Trotz der roten Duftspur, die wieder an seiner Nase vorbeistrich, konnte er kein verstohlenes Tappen von Schakalfüßen hören, kein nörgelndes Knur ren von jagenden Ratten. In den Ställen nahebei wieherte ein Pferd leise über seinem Morgenfutter; ein Mädchen begann zu singen. Lautlos wälzte sich der Wolf aus dem Bett, fand seine Stiefel und die Wildlederhose, die er seit Wrynde getragen hatte, sein Hemd und Wams und seinen Gürtel mit dem Schwert und den Dolchen. Als Sternenfalke es ihm gleichtun wollte, schüttelte er den Kopf und sagte erneut: »Ich glaube nicht, daß es irgend etwas ist. Ich bin gleich wieder da.« Die Kälte schnitt ihm in Gesicht und Kehle, als er aus dem klei nen Raum trat, der eine Zelle in einer Reihe niedriger Zellen war, die Werkstätten, Gästezimmer oder Behelfsgefängnisse entlang eines kleinen, sandbedeckten Hofes direkt neben den Ställen gewesen sein mochten. Ein Sturm hatte den Sand hoch gegen die Ostmauer ge weht; die Lehmziegelwände der Gebäude zeigten Male, wo Kiesel und fliegende Steinbrocken die weichere Bausubstanz ausgehöhlt hatten. Die anderen Zellen des Hofes waren verlassen. Ratten husch ten flink um einen der Türpfosten in den Schutz der Schatten des dahinterliegenden Raumes. Vorsichtig ging Sonnenwolf in das leere Viertel hinaus. Er fand den Ort sehr schnell, stapfte durch den stillen Irrgarten aus leeren Zimmern und heruntergestürzten Balken, eingefallenen Kellern und 417
alten Brunnen, die vom Dickicht der üppigen Vegetation überwu chert waren. Er hatte erwartet, etwas zu sehen, der Geruch war deut lich gewesen, aber was er dann schließlich sah, erfüllte ihn mit ei nem Abscheu, den er sich nicht erklären konnte. Die Tür der kleinen Lehmziegelwerkstatt war schon vor Jahren von den mörderischen Sandstürmen der Wüste herausgerissen wor den; die meisten Dachschindeln hatte es fortgeweht, obwohl noch immer Sparren das Innere gegen den offenen, wärmenden Himmel abgrenzten. Die Wände waren streifig von jahrealtem Taubendreck, jedenfalls dort, wo er nicht von Blutspritzern überdeckt war. Weiße und graue Federn klebten daran und in den Pfützen auf dem Boden, die immer noch glitschig und nur oberflächlich getrock net waren. Von seinem Standort im Türrahmen aus konnte der Wolf die verkrümmten, rosafarbenen Füße und abgerissenen Köpfe der in die Ecken geworfenen Vögel sehen, die bereits halb unter den gewal tigen Haufen schwärmender Ameisen verschwanden. Er wollte den Raum betreten, zog sich dann aber zurück. Etwas Abscheuliches haftete diesem Ort an, etwas Schlimmes und unsagbar Böses – ein psychischer Gestank, der ihn angsterfüllt zurücktrieb, obwohl er wußte, daß, wer oder was immer das getan hatte, längst weg war. Er hatte vom Megantischen Meer bis zum Westlichen Ozean Städte geplündert, und, wenn es nötig gewesen war, Männer und Frauen bei lebendigem Leib aufgeschlitzt. Er wußte nicht, wes halb dieser kleine Würfel aus von Lehmziegelwänden eingefaßtem Morgendämmer und von Dachbalken verhangenem Himmel, der bis auf das ständige Summen der Fliegen leer war, ihm solche Übelkeit verursachte. Nur drei oder vier tote Tauben, weniger, als er am Vorabend ge gessen hatte. Es ging ihn nichts an, wer sie getötet hatte und warum, ermahnte er sich. Aber er war ein ausreichend geübter Fährtenleser, um selbst bei oberflächlicher Prüfung zu sehen, daß es keine Fußspuren gab, die in den Raum hinein- oder aus ihm herausführten.
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3. Kapitel »Elendes Weibsbild.« Osgard Anti var, König von Wenshar und dem Namen nach Herr über die gesamte K'Chin-Wüste, stützte sich auf den niedrigen Ebenholzdiwan und stieß ungeduldig das blaue Seidenkissen unter seinem linken Knie zur Seite. »Sagt, sie würde es nicht verantworten, wenn die Wunde wieder aufbricht. Zum Teufel noch mal, ich werde es verantworten! Schließlich kann ich nicht den ganzen Tag wie eine jungfräuliche Lady mit Blähungen herumlie gen!« Das Tablett aus mit Silber ziseliertem Kupfer auf dem zer brechlichen, mit Gelenken versehenen Shirdar-Klapptisch neben der Couch enthielt eine Karaffe mit Wein, aber bemerkenswerterweise nur einen Weinbecher. Der König angelte unter die Kissen des Diwans und brachte ei nen zweiten zum Vorschein, den er vollschenkte. »Setzt Euch, Hauptmann, und trinkt. Ihr dürft ja, selbst wenn es mir nicht erlaubt ist. Elendes Weibsbild.« In den grellen Rot- und Blautönen des lo ckeren Bettgewands, das er über dem Hemd und den Reithosen trug, wirkte er immer noch grau vom Blutverlust, außer an den Stellen, wo die leichte Fieberröte seine runden Wangen färbte. »Ich konnte sie ertragen, als sie bloß die verfluchte Bibliothekarin war. Da kannte sie noch ihren Platz.« Sonnenwolf ließ sich auf dem Stuhl, der ihm bedeutet wurde, nieder. Er bestand wie der Diwan aus schwerem, goldgerändertem Ebenholz und war vor fünfzig Jahren im Gouverneurspalast erbeutet worden, um erst kürzlich mit hiesigem roten Wollstoff neu aufge polstert zu werden. Die Sonnenhalle des Königs war ein großer Raum, der sich, auf beiden Seiten von Fenstern gesäumt, an das eine Ende des Saales anschloß. Die stets gegenwärtigen Sturmläden wa ren geöffnet, und morgendliches Sonnenlicht drang herein, brach sich auf dem glasglatten, marmornen Schachbrettmuster des Bodens wie auf dem Meer. Wie einsame Inseln lagen die weißen Felle der Bergschafe im Wechsel mit schwarzen Bärenhäuten und vereinzelt umherliegenden Teppichen aus den tiefsten Regionen der Wüste herum, ein helles, primitives Mosaik aus Rot und Blau. Es war ein behaglicher Raum für einen König, der als Junge in den Minen gear beitet hatte. »Kaletha sagte mir, daß Eure Aderpresse mich wahrscheinlich davor bewahrt hat, jetzt noch übler dran zu sein, als ich ohnehin 419
schon bin. Scheint, daß ich Euch gleich zweimal zu danken habe.« Sonnenwolf zuckte beiläufig die Achseln. »Ich hatte mir schon den Ärger eingehandelt, Eure Haut zu retten; wäre ein Jammer ge wesen, meine Zeit schließlich doch noch verschwendet zu haben.« Er ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken, entspannt, aber wach sam. Unter seiner überschäumenden Herzlichkeit war der König gereizt; der Wein, den Sonnenwolf zu dieser Tageszeit nie anrührte, und das Tablett mit Brot, Butter, Honig, Schinken und Datteln, das ein Bediensteter jetzt lautlos hereinbrachte, drückten mehr als bloße Dankbarkeit dafür aus, daß er die Räuber davon abgehalten hatte, Hackfleisch aus ihm zu machen. Der König wollte etwas von ihm. »So hab' ich's gern!« Osgard lachte. »Ein Mann, der ohne großes Zögern und Zaudern tut, was er tun muß – ein Kämpfer, ein Mann, der sich sein Recht nimmt!« Er warf der davongehenden Bedienste ten einen Blick nach und schenkte seinen Weinbecher wieder voll. »Es heißt, Ihr seid der beste Söldner im Westen – jedenfalls habt Ihr die größten Opfer gefordert, damals, als wir die alte Shilmarne und ihre Truppen bekämpften. Aber bei den Dreien, Ihr habt es den Fal schen gegeben! Und jetzt? Warum treibt Ihr Euch wie ein Zigeuner in den Mittleren Königreichen herum, ohne auch nur das Geld für ein Dach über dem Kopf zu haben? Habt Ihr Eure Truppe verloren?« »Ich habe sie abgegeben.« »Deswegen?« Osgard deutete mit seinem Weinbecher auf die Augenklappe aus Leder. Der Wolf schüttelte lächelnd den Kopf. »Sagen wir einfach, ich habe gegen die Götter gespielt und alles auf eine Karte gesetzt. « »Und verloren?« Der Wolf berührte die Klappe und die ausgebrannte Augenhöhle darunter. »Und gewonnen.« Osgard betrachtete ihn einen Moment lang nachdenklich, hörte in seiner rauhen Stimme das Echo sämtlicher Gründe und wußte, daß das alles war, was er zu hören bekommen würde. Er verstummte für einen Augenblick, während seine großen, von der Arbeit knotigen Hände mit dem Weinbecher spielten. Sein Blick schweifte ab, kehrte zurück. Jetzt kommt 's, dachte der Wolf. Osgard sagte: »Ich möchte Euch anwerben, um meinen Sohn zu unterrichten.« Sonnenwolf dachte schweigend einen Augenblick darüber nach. Er hörte zum erstenmal von dem Jungen, denn nur die Tochter des Königs war letzte Nacht an die Seite ihres Vaters geeilt. So, wie in einer kleinen Gemeinschaft wie der Festung das Wort die Runde 420
machte, war es unmöglich, daß der Junge nichts von dem Angriff auf seinen Vater gehört hatte. Aber er fragte nur: »Wie alt ist er?« »Neun.« Die Stimme des Mannes wurde hart. »Nanciormis hat begonnen, ihm Unterricht im Fechten und Reiten zu geben, aber der Junge ist eine Heulsuse. Er läuft lieber weg und versteckt sich, statt seine Lektionen zu lernen wie ein Mann. Sein Onkel hat eigene Ver pflichtungen und kann sich nicht so um ihn kümmern, wie er sollte. Es wird Zeit, daß der Junge lernt, ein Mann zu sein.« Der Tonfall harter Forderungen erinnerte Sonnenwolf an seinen eigenen Vater. Osgard mißverstand sein Schweigen und fuhr fort: »Ihr würdet es nicht zu bereuen haben, Hauptmann. Er ist der Erbe von Wenshar – der erste geborene Erbe in einhundertfünfzig Jahren, seit den Tagen, als die Alten Häuser von Wenshar das Land regier ten. Er ist der Grundstein meines Geschlechts, und bei den Dreien, ich will, daß er ein König wird, der weiß, wie man ein Schwert führt, und eines zu tragen versteht!« Er leerte den Becher und setzte ihn krachend auf dem bronzenen Tablett ab, wobei seine großen, hell grünen Augen mit dem Eifer eines Mannes funkelten, der immer fähig gewesen war, für das zu kämpfen, wonach ihn verlangt hatte, und der es schließlich auch bekommen hatte. »Ich bin der fünfte König von Wenshar, seit wir die Gouverneure hinausgeworfen und uns von der Sklaverei befreit haben. Ich kämpf te an der Seite meines Onkels Tyrill gegen die Wüstenbanditen und gegen die Truppen der alten Shilmarne und gegen wen immer Ihr sonst noch nennen mögt. Als Tyrill starb, ernannte er mich zu sei nem Erben, so wie Gasfell Ghru ihn zu dem seinen ernannt hatte und Kelden der Schwarze diesen vor ihm zu seinem. Keiner dieser Män ner hatte einen natürlichen Erben, wenn man den von Kelden nicht mitzählt, der in der Schlacht fiel – sie alle wählten den besten Mann, den sie kannten, zu ihrem Nachfolger. Bei den Dreien, das hat das Land stark gehalten. Aber das hat sich jetzt geändert. Mein Onkel fiel, als ich noch jung war, und ich heiratete… « Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, und als er wieder sprach, tat er es mit leiserer Stimme und unterdrücktem Schmerz. »Ich heiratete eine Lady aus einem der Alten Häuser, die letzte Prinzessin des Hauses von Wenshar.« Sonnenwolf sah ihn neugierig an. »Wenshar? Aus der alten Stadt in der Wüste?« »Nein.« Osgard schnitt ihm grob das Wort ab, und seine grünen Augen flackerten einen Moment lang vor Wut. Dann, als wäre ihm 421
bewußt geworden, daß er mehr gesagt hatte, als er wollte, erklärte er verlegen: »Das heißt – keiner aus ihrer Sippe war der Stadt seit Ge nerationen auch nur nahegekommen. Die Stadt ist leer, tot – die Armeen der Mittleren Königreiche zerstörten sie, als sie diese Gebie te eroberten. Aber, ja, ihre Sippe herrschte einmal über das ganze Land und einen Großteil der angrenzenden Wüste. Ihr Haus hatte keine Macht mehr, aber es war trotzdem eines der Alten Häuser. Sie war die netteste Frau weit und breit und hat mir die süßeste Tochter geboren, die ein Mann sich wünschen kann, der sie an einen der Shirdarlords verheiraten muß, um ein Bündnis zu besiegeln… Und sie hat mir einen Sohn geboren.« Er seufzte und schenkte sich erneut ein, wobei das Sonnenlicht heiß auf der purpurnen Oberfläche des Weins funkelte. »Der Junge ist mein Erbe. Und ich will, daß er die beste Wahl ist. Er wird zusammenhalten müssen, was ich so lange zusammenhielt, wenn ich nicht mehr sein werde.« Sonnenwolf tunkte eine Scheibe Brot in den Honig und schwieg. Er dachte an die Szene in der Taverne letzte Nacht, an den kleinge wachsenen Schwarzen, Norbas Milkom, der auf das Wohl von Lady Taswind getrunken hatte, nicht aber auf das ihres versprochenen Gatten. »Wie heißt er?« »Jeryn.« Nach einer etwas zu langen Pause fuhr Osgard fort: »Der Junge ist kein Feigling. Aber er braucht Disziplin. Er liest zu viel, das ist alles. Ich habe das schon geregelt, aber er muß von ei nem Krieger unterrichtet werden, einem Mann, der im Notfall den ken kann – einem Mann wie Euch. Es heißt, Ihr hättet oben in Wrynde eine Kriegerschule geführt. Stimmt das?« »Es zahlte sich aus, zu wissen, wen ich in meine Truppe bekam.« Der König brummte zustimmend. »Und es zahlt sich für mich aus, zu wissen, wen dieses Land zum König bekommen wird. Eure Frau ist eine Kämpferin, nicht wahr?« »Sie war meine Stellvertreterin. Sie hat mich aus Situationen be freit, die so schlimm waren, daß ich nicht einmal mehr an sie denken möchte.« »Glaubt Ihr, sie würde einen Posten hier bei der Wache anneh men, wenn Ihr meinen Sohn unterrichten würdet?« Der Wolf, der sich gerade Butter aufs Brot strich, hielt inne. »Hängt ganz davon ab, was Ihr bezahlen würdet.« Osgard lachte. »So kann nur ein Söldner reden«, sagte er mit ei nem Grinsen. »Einen Silberadler pro Woche – und Ihr werdet nir 422
gendwo in den Mittleren Königreichen reinere Münzen finden. Wie so sollten wir unser Silber verwässern? Wir graben es aus dem Bo den.« »Klingt gut.« Sonnenwolf wußte, daß Wenshar, was Währungen anging, mit am besten dastand. Es gab Städte auf der Halbinsel Gwarl, wo der Silbergehalt der Münzen von Woche zu Woche schwankte. »Und das gleiche für Euch, einschließlich Verpflegung im Saal und einem Raum hier für Euch beide – und dem Wissen, daß Ihr einem Mann helfen werdet, der sein ganzes Leben lang, um seiner guten Nachtruhe willen, schwer gearbeitet und schwer gekämpft hat.« Der Junge macht ihm Sorgen, dachte Sonnenwolf, lehnte sich auf dem vergoldeten Ebenholzstuhl zurück und taxierte den großen Mann vor sich, der so ungeduldig an seinem Nachtgewand und sei nen Decken zupfte. Er war selbst ein erfahrener Wundarzt auf dem Schlachtfeld, und er wußte, daß Osgards ständiger Weinkonsum sein Fieber bei Einbruch der Nacht in die Höhe treiben würde; aber er hatte schon vor langem gelernt, niemals zu versuchen, einen Halbbe trunkenen von seinem Becher zu trennen. Wenn Kaletha die Nerven hatte, das zu versuchen, mußte er ihren Mut anerkennen, nicht ihr Urteilsvermögen. Der König erinnerte Sonnenwolf in vieler Hinsicht an seinen ei genen Vater, obwohl er sandfarbenes statt dunkles Haar hatte – einen verschrobenen, dröhnenden Bären von Mann, dem das Hin und Her beiläufig gegebener und wieder entzogener Freundschaft lieber war, als den Schlamm am Grund seiner oder irgendeines anderen Seele aufzuwirbeln. Ein Mann, der den ganzen Tag über kämpfen, den ganzen Abend lang trinken und die ganze Nacht hindurch herumhu ren würde – oder der bei dem Versuch dabei umkam. Ein Mann, dachte Sonnenwolf, wie er selbst all die Jahre einer hatte sein wollen. »Ich muß das mit Falke besprechen«, sagte er, »und Euren Jun gen treffen. Dann entscheide ich mich.« »Und Ihr, Sternenfalke?« Kaletha setzte den Tonbecher mit Kaf fee ab und blickte Sternenfalke in dem butterfarbenen Licht, das durch die langen Fensterreihen an der Südseite des Saals fiel, an. »Werdet Ihr Euch auch uns anschließen, um von der Macht zu erfah ren?« Bedienstete huschten zwischen den Durchreichen und den Festti 423
schen, die man in dem großen Raum mit seinen dunklen Granitwän den aufgestellt hatte, hin und her. Es waren nur wenige, wie es auch nur wenige Wachen gab – die Hilfsdiener, die am anderen Ende des Saals aßen, nahmen ihr eigenes Frühstück aus Brot, Butter und Bier ein. Sternenfalke wunderte sich etwas darüber. Sie konnte auf ein Silberstück genau schätzen, wieviel ein Platz an Beute und Geld einbrachte, und die Festung Tandieras war unleugbar reich. Da sie die größte Kette von Silberminen in der westlichen Welt unterhielt, konnte es auch kaum anders sein. Nach den Zwischenfällen der letzten Nacht wurde ihr besonders deutlich bewußt, daß die meisten Hilfsdiener, die Trauben, Kaffee und klumpigen Kefirbrei an den kleinen Tisch brachten, den sie auf Kalethas Einladung hin mit ihr teilte, zu den Shirdar gehörten. Wenn Kaletha Überraschung von ihr erwartet hatte, mußte sie enttäuscht sein. Fern der Feindschaft zwischen ihr und dem Wolf, schätzte Sternenfalke den Charakter dieser Frau so ein, daß sie die Gesellschaft von Frauen der von Männern vorzog, wenn auch nicht notwendigerweise im Bett. Kaletha hätte es auf ihre Weise Vergnü gen bereitet, Sonnenwolf bloßzustellen, indem sie ihn der Treue seiner Geliebten beraubte. Dennoch dachte sie einen Moment lang darüber nach, bevor sie antwortete. »Ich bin nicht von magischer Abstammung.« »Das hat nichts zu sagen.« Kaletha beugte sich vor, die blauen Augen auf sie gerichtet. Sie war eine wunderschöne Frau, deren Schönheit, wie Sternenfalke annahm, die Männer davon abgehalten hatte, sie ernst zu nehmen – sie trug ihre Ernsthaftigkeit wie eine Rüstung. Doch wenn sie sprach, senkte sich ihr Schild ein wenig und zeigte die Frau dahinter. »Euer Hauptmann glaubt mir nicht, aber es ist wahr. Ich kenne die Geheimnisse der Macht. Ich kann diese Macht heraufbeschwören, sie selbst bei Personen, die nicht von ma gischer Abstammung sind, aus den Tiefen der Seelen zutage bringen. Das ist meine Bestimmung.« »Es ist wahr«, warf Anshebbeth ein, die quer durch den Saal auf sie zugeeilt kam. Sie war einige Augenblicke zuvor in pflichtbewuß ter Begleitung der Prinzessin Taswind eingetreten, und ihr eigenes, übliches, düster schwarzes Gewand kontrastierte stark gegenüber der unauffälligen, jungenhaften Kleidung des Mädchens, der Lederhose, den Reitstiefeln und dem ausgeblichenen rosa Hemd. Sie hatten behaglich miteinander geschwatzt, doch selbst auf diese Entfernung hatte Sternenfalke gesehen, wie Anshebbeths Auge rasch über die 424
Tische hinwegglitt und auf Kaletha zu ruhen kam, die ein klein we nig abseits der anderen Angehörigen des Haushalts speiste. Sie hatte keine Zeit verloren und ihr Gespräch abgebrochen, sich einen Teller von der Hohen Tafel genommen, an der Tazey sich jetzt allein nie derließ, und sich beeilt, an Kalethas Seite zu kommen. »Pradborn Dyer ist ganz sicher nicht von magischer Abstam mung – er gehört zu unserer Gemeinschaft, ein Junge aus der Stadt – , aber Kaletha hat ihn unterrichtet, die verborgenen Kräfte seines Geistes freigelegt, und er fing an, Visionen und Träume zu haben, die wahr geworden sind. Er kann manchmal im Dunkeln Dinge se hen und ist bekannt dafür, daß er verlorengegangene Gegenstände wiederfindet. Und ich selbst – obwohl ich nicht von magischer Ab stammung bin, studiere jetzt schon seit fast einem Jahr bei Kaletha, nehme ihre Weisheit in mich auf und lerne die Geheimnisse ihrer Künste. Es hat mir geholfen, gewaltig geholfen… « Als wollte sie es sich bestätigen lassen, warf sie einen kurzen Seitenblick auf Kaletha. Wenn Kaletha so verärgert wie Sternenfalke darüber war, daß sich jemand auf diese Weise in ihr Gespräch eingemischt hatte, zeig te sie es nicht. Sie lächelte ein wenig angesichts des Lobes und nick te großmütig, zog sich hinter die Maske der Schulmeisterin zurück. Ermutigt fuhr Anshebbeth fort: »Wißt Ihr, es scheint, als hätte ich schon Jahre vor dem Tod des Königs gewußt, was es mit Kaletha auf sich hat, obwohl sie es nie einer Menschenseele erzählte. Aber ihre Macht hat sie immer von innen her überstrahlt…« »Shebbeth… «, sagte Kaletha, die jetzt doch ein wenig verlegen wurde. »Es ist wahr«, beharrte die Gouvernante heftig. »Selbst Tazey – Prinzessin Taswind – fühlte es, als sie noch ein kleines Kind war.« Sie blickte wieder Sternenfalke an. »Wir sind immer Freunde gewe sen, Kaletha und ich. Sie hat mich praktisch zu der gemacht, die ich heute bin, hat mir Welten eröffnet, von denen ich mir nie hätte träu men lassen. Andere spürten es auch«, fügte sie hinzu, und in ihren dunklen Augen glomm plötzlich Haß. »Wie dieses dreckige Weibs bild Nexué, die Wäscherin, mit ihrem schmutzigen Mundwerk und ihren schmutzigen Gedanken.« Sie nahm ein Zinnmesser mit Horn griff, um ein Stück Brot mit Butter zu bestreichen, und ihre langen Finger zitterten dabei vor Wut. »Schmutzige Ehebrecher«, erwiderte Kaletha gelassen, »sehen alles durch den Schleim ihrer eigenen Unreinheit.« Sie warf Sternen falke einen leicht nervösen Blick zu. Für den Sekundenbruchteil sah 425
der Falke wieder die menschliche Seite der Frau, die sie weit mehr interessierte als die Zauberin und Lehrerin. »Ihr dürft nicht denken… « Sternenfalke zuckte die Achseln. »Das geht mich nichts an.« Kaletha zögerte, etwas unsicher, was sie mit dieser Antwort an fangen sollte. Anshebbeth, die bei der Erwähnung von Unreinheit ein wenig rosig geworden war, blickte weg. Aber Sternenfalke hatte Beziehungen wie die von Kaletha und Anshebbeth schon zwischen den Nonnen des Klosters gesehen, in dem sie aufgewachsen war, und später zwischen den Kriegerinnen in Sonnenwolfs Truppe; sie wuß te, daß die beiden Frauen trotz der geistlos zotigen Bemerkungen von Nexué und ihren Tischnachbarn nicht unbedingt Liebende wa ren. Mehr als alles andere handelte es sich um eine Vorherrschaft der Persönlichkeit, die ebensosehr auf Kalethas Verlangen beruhte, eine Sklavin zu haben, wie auf Anshebbeths Bedürfnis, eine zu sein. Ihnen gegenüber hatte gerade Nanciormis den Saal betreten; er trug die einfache, dunkelgrüne Uniform der Wachen und lächelte zwei Dienerinnen an, die sofort Gründe fanden, ihn auf die andere Seite des Saals zu begleiten. Anshebbeth zwang sich dazu, ihren Blick wieder auf Sternenfalke zu richten. Ihr Mund war plötzlich streng, und auf ihren knochigen Wangen tauchten rote Flecken auf. »Es braucht Mut, Kalethas Pfad zu folgen, dem Pfad der Rein heit, dem Pfad des Geistes. Aber wenn ich Euch ansehe, kann ich sagen, daß Ihr ihn habt.« »Nicht unbedingt.« Sternenfalke goß sich Milch in den Kaffee und stieß mit ihrem Löffel nach den dunklen und hellen Wirbeln. Verdutzt öffnete Anshebbeth den Mund, dann schloß sie ihn wie der. Die Selbstgefälligkeit, die durch die Anwesenheit ihrer Schüle rin in Kaletha aufgestiegen war, verblaßte, und ihre zimtfarbenen Brauen zogen sich zusammen, als sie die Stirn krauste. »Ihr seid schon seit langem eine Kriegerin«, sagte sie nach einer Weile. »Das verrät mir, daß es Euch weder an körperlicher Tapferkeit noch an dem Mut fehlt, gegen das anzugehen, was die Leute von einer Frau erwarten. Habt Ihr den Mut, gegen das anzugehen, was er von seiner Frau erwartet?« Sternenfalkes Aufmerksamkeit war ganz auf ihren Becher gerich tet. »Das hängt vom Einsatz ab.« »Die Freiheit, zu tun und zu lassen, was Ihr wollt.« Kaletha drückte kräftig ihren Arm. »Die erste statt die zweite zu sein.« 426
»Das ist ein wenig heikel.« Sternenfalke blickte auf. »Tatsache ist, daß ich als zweite am besten bin – ein besserer Stellvertreter als Hauptmann.« »Glaubt Ihr das wirklich?« fragte Kaletha. »Oder ist es nur be quemer für ihn, daß Ihr das glaubt?« »Fragt Ihr aus aufrichtiger Sorge um mich«, gab Sternenfalke zu rück, »oder nur um es ihm heimzuzahlen, indem ich ihn verlasse?« Das war fast Majestätsbeleidigung, und Anshebbeth hätte fast ih ren Löffel fallengelassen. Doch Kaletha hob eine Hand, um ihr das Wort abzuschneiden. Als ihr Blick sich mit dem von Sternenfalke traf, war in Kalethas Augen das erste Zugeständnis eines Irrtums zu lesen, das Falke bei ihr erlebte. Wenigstens, dachte Sternenfalke, tut sie nicht so, als verstünde sie nicht, was ich gefragt habe. Nach einer langen Pause sagte Kaletha: »Ich stimme Euch zu. Wir beide haben einander unfaire Fragen gestellt. Und ich denke, wir sind uns beide ziemlich sicher, die Antworten zu kennen, unsere eigenen und die der anderen… aber nicht ganz.« Sie blickte für einen Moment auf ihren kleinen Teller mit Brot und Kefir, dann wieder zurück zu Sternenfalke, einen Funken aufrichtiger Wärme in den Augen. Sie streckte die Hand aus. »Wollt Ihr Euch uns dann nicht vielleicht der Geselligkeit halber anschließen? Ich für meinen Teil würde mich freuen, wenn Ihr es tätet.« Abrupt öffnete sich die Tür auf der Empore, die zur Sonnenhalle des Königs führte, und Sonnenwolf tauchte darin auf, unmittelbar gefolgt von Osgard selbst. Das Gesicht des Königs war vom Alkohol gerötet und käseweiß gefleckt, und er hinkte schwer, wehrte jedoch Sonnenwolfs Geste, ihn zu stützen, ab. Kalethas Stirn zog sich zu sammen; sie sprang auf und schritt mit wehendem Gewand auf ihn zu. »Mylord… « Er bedeutete ihr zornig, ihn in Ruhe zu lassen. »Ich brauche Eure verdammte Hilfe nicht, und ich brauche auch Euren verdammten Rat nicht!« brüllte er. »Ich bin kein Schwächling! Zum Teufel, damals, als wir uns in den Pässen Shilmarnes Armeen entgegenstellten, kämpfte ich sechs Stunden lang mit einer zerschmetterten Knie scheibe!« Mit leiser Stimme sagte Kaletha: »Damals wart Ihr dreißig, My lord, nicht fünfzig, und Ihr wart auch nicht betrunken.« »Was hat mein Alter damit zu tun, Frau?« bellte er zurück. »Oder was ich trinke, oder wieviel ich trinke, zum Teufel noch mal? Wo ist 427
mein Junge?« Frostig sagte sie: »Für Euren Sohn, Mylord, bin ich nicht verant wortlich.« »Na, Ihr seid doch Zauberin, Ihr solltet es wissen. Nanciormis… « Er fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der hoch gewachsene Kommandant mühelos die Empore betrat. »Du solltest ihm jetzt eigentlich Fechtunterricht geben.« Nanciormis zuckte die Achseln. »Ich vermute, andere Pflichten riefen ihn, denn er ist nicht erschienen.« Dieses Opfers beraubt, schaute Osgard sich nach einem anderen um. Sein Blick fiel auf seine Tochter Tazey, die gerade mit der flin ken Sorgfalt von jemandem, der unbemerkt entkommen will, ihr letztes Brot und ihre Milch verzehrte. »Wo ist dein Bruder?« ver langte der König zu wissen, und Tazey, ein Stück Brot im Mund, blickte verdutzt zu ihm auf. »Versteckt sich wohl wieder, würde ich sagen – in dieser verdammten Bibliothek, höchstwahrscheinlich. Schickt diesen…« Er schaute sich wieder um, und sein Blick fiel auf Anshebbeth, am Ende von Kalethas Tisch. Anshebbeth verließ sicht lich der Mut, und sie fuhr sich mit der dünnen Hand an den Hals, als er brüllte: »Warum, zum Teufel, sitzt du nicht hier neben meiner Tochter, wo du hingehörst, Frau? Ich halte dich nicht in meinem Haushalt, damit du mit deinen Freundinnen tratschst.« Tazey erhob sich rasch. »Ich hole Jeryn, Vater.« »Du bleibst sitzen, Mädchen. Shebbeth ist deine Gouvernante, und ihre Pflicht ist es, an deiner Seite zu bleiben, nicht herumzuwan dern. Nun hol ihn schon, Frau!« Einen Augenblick lang saß Anshebbeth stocksteif da, die Lippen zu einer dünnen Linie der Wut und Demütigung zusammengepreßt; dann sprang sie rasch auf und verschwand durch eine schmale Tür, die zur Treppe des Geschützturms führte. Sie war noch nicht außer Hörweite, als Osgard zu Sonnenwolf sagte: »Die schwatzsüchtige alte Jungfer will doch keiner geschenkt haben.« Sternenfalke strich gerade Butter auf eine weitere Scheibe Brot, als Kaletha zu ihr zurückkehrte, die blauen Augen ruhig und verächt lich. »Der Mann ist ein Flegel«, sagte die Hexe von Wenshar, »und er erzieht seinen Sohn ebenfalls zu einem Flegel. Ich hatte gehofft, daß Nanciormis ihm über den Umgang mit Waffen hinaus auch Güte und feine Sitten beibringt, aber wie ich sehe, hat er die erste Gele genheit wahrgenommen, dem ein Ende zu machen.« Sie ließ sich in einem Rauschen schwerer schwarzer Röcke nieder. Wieder auf der 428
Bank an Sternenfalkes Seite sagte sie: »Ich hoffe, Ihr verzeiht mir meine Aufrichtigkeit, aber ich halte es kaum für wahrscheinlich, daß unser künftiger König etwas anderes von diesem Barbaren lernen wird, als wie man jemandem den Schädel spaltet.« Sternenfalke zuckte die Achseln. »Eure Ansichten über den Hauptmann haben nichts mit mir zu tun.« »Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Mann anderen nur des halb Unterricht im Gebrauch von Waffen gibt, damit diese ihm dabei helfen, andere Menschen zu töten. Dem Rest schenkt er keine Beach tung. Er versteht nichts von Reinheit, nichts von den Kräften des Geistes, denen jegliche Magie entspringt.« Sternenfalke tunkte ihr Brot in den Kaffee und nahm einen trie fenden Bissen, mehr amüsiert als empört. »Und ich bin sicher, Ihr verzeiht mir meine Aufrichtigkeit, wenn ich sage, daß Ihr ihn erst ziemlich kurze Zeit kennt, um ihn so detailliert beurteilen zu kön nen.« »Ich habe Augen«, erwiderte Kaletha bitter. In ihrem raschen Blick, den sie gleich wieder abwandte, las Sternenfalke den Vorwurf an Sonnenwolf, eine Mätresse zu haben, und an sie selbst, eine zu sein. Neugierig stützte sie ihren knöchernen Ellenbogen auf den halb aufgeräumten Frühstückstisch und wartete. Auf der Empore atmete Osgard röchelnd; Sonnenwolf trug, die massigen, goldbepelzten Arme verschränkt, eine verkniffene Miene unterschwelliger Verärge rung zur Schau. Nach einer Weile entspannte sich Kalethas steifer Rücken. Sie wandte sich wieder an den Falken. »Es tut mir leid«, sagte sie, wobei ihr die Worte in der Kehle ste ckenblieben. »Ich habe mir ein Urteil über Euch erlaubt, und das hätte ich nicht tun dürfen. Unter euresgleichen ist außerehelicher Verkehr eine Selbstverständlichkeit, nicht wahr?« »Oh, danke!« Sternenfalke grinste, amüsiert über die Annahme völliger Promiskuität – und tatsächlich, dachte sie bei sich, wies nichts darauf hin, daß Sonnenwolf sein Auge nicht in irgendeiner Kneipe bei einer Meinungsverschiedenheit über die Vorzüge einer Frau verloren hatte, statt bei einem Duell auf Leben und Tod mit dem größten Zauberer der Welt. »Wird auch Zeit«, brummte Osgard auf der Empore, als Ansheb beth durch die schmale Tür, die zu einer Treppe im Inneren führte, zurückgeeilt kam. »Hauptmann Sonnenwolf – mein Sohn, Jeryn. Steh verdammt noch mal gerade, Junge.« Wenn Tazey, die in ängstlichem Schweigen an der Hohen Tafel 429
hinter ihm Platz genommen hatte, sichtlich die Tochter ihres Vaters war, mit der Größe des Königs, seiner athletischen Grazie, seinem gestreiften Blondhaar und den absinthgrünen Augen, dann war Jeryn ebenso sichtlich das Kind einer Shirdar. Er hatte die dünnen, falken haften Züge, obwohl seine ungewaschenen, schwarzen Locken kurz geschnitten waren und seine olivfarbene Haut vom ständigen Auf enthalt in geschlossenen Räumen käseweiß war. Auf diese Entfer nung konnte Sternenfalke die Farbe seiner Augen nicht erkennen, denn sie waren niedergeschlagen, trübe und unstet, wahrten Geheim nisse und Unwillen unter aufgedunsenen Lidern. Er trug die formelle Kleidung bei Hof, Pluder- und Strumpfhose, die sich um seine mage ren Knie herum bauschten; er trug sie ohne Stolz und wirkte schäbig und ungepflegt, eine Waise, die sich aus dem Lumpensack eines Prinzen bedient hat. »Was denkt Ihr, Hauptmann?« Osgards Ton war tyrannisch ge worden. »Glaubt Ihr, Ihr könntet etwas mit dem Jungen anfangen?« Jeryn schwieg, riß sich auf eine Weise zusammen, die Bände ü ber die Art der Behandlung sprach, die er von seinem Vater erwarte te. Und es war kaum eine faire Frage, dachte Sternenfalke unbe stimmt. Es befanden sich genügend Menschen im Saal, die Sonnen wolfs Weigerung als ein Eingeständnis der Tatsache gewertet hätten, daß er keinen Krieger aus dem Jungen machen konnte, entweder aufgrund eigener Unfähigkeit oder der von Jeryn. Osgard hatte die Szene zweifellos so eingerichtet, um Sonnenwolfs Stolz auf seine Fähigkeit als Lehrer auszunutzen. Obwohl Sternenfalke wußte, daß es normalerweise nicht gefruchtet hätte, wußte sie auch, daß Son nenwolfs Bloßstellung nun, in der Öffentlichkeit, das gewünschte Ergebnis haben würde, weil er den Jungen nicht öffentlich zurück weisen würde. Nach einer Weile sagte Sonnenwolf: »Ich sagte schon, das muß ich erst mit meinem Partner besprechen.« Das war ein Ausweg, aber Osgard war nicht bereit, ihn zu gewäh ren. »Aber, zum Teufel, noch mal«, sagte er freundlicher, »da gibt's doch nichts groß zu besprechen, oder?« Er drehte sich um und streckte seine Hände in Sternenfalkes Richtung. »Ihr habt doch nichts gegen einen Posten bei der Wache, habe ich recht, Kriegsla dy? Vier Silberadler pro Monat, freie Kost und Logis? Pardle Sho hat vielleicht nicht die Reize, die Ihr nördlich der Berge findet, aber es gibt hier jede Menge Geld zu verdienen und genügend Orte, wo man es ausgeben kann, wenn man mit seinem Geschmack nicht zu 430
wählerisch ist. Es bringt einem vielleicht nicht soviel wie die Minen, aber es ist ehrenhafter und nicht so schweißtreibend. Wie könnte man zu so etwas nein sagen?« Sonnenwolfs Auge hatte den wütenden Ausdruck eines Mannes, der in einer Klemme saß, aus der er sich nur befreien konnte, indem er sich als ungehobelter Klotz zeigte. Sternenfalke, die wußte, daß Sonnenwolf nichts dagegen hatte, als Flegel zu gelten, und daß er unmittelbar davor stand, erhob sich, schob die Hände unter den Schwertgürtel und sagte beiläufig: »Man kann es ja einmal für eine Woche versuchen.« Das hatte der Wolf ihr beigebracht – im Zweifelsfall auf Zeit zu spielen. In einer Woche, dachte sie, konnte viel passieren. Und es passierte tatsächlich eine Menge. Sternenfalke war sich nicht sicher, was sie aufgeweckt hatte. Ein Traum, dachte sie – ein Traum über drei Frauen in einem von Ker zenschein erhellten Zimmer, deren Schatten über die gestrichenen Wände wanderten und groteske Bilder hervorriefen, die ein schreck liches Eigenleben führten. Sie konnte ihre Worte nicht hören, aber sie saßen eng beieinander um die Kerzen herum, kämmten ihr Haar und flüsterten miteinander. Das Zimmer hatte keine Fenster, aber irgendwie wußte Sternenfalke, daß es spät nachts war. Die Szene wirkte ganz normal, und doch – die Art, wie die Schatten über diese Fresken hinwegglitten, deren Muster und Motive sie nicht recht ausmachen konnte, die Art, wie das Kerzenlicht im Dunkeln glühte, flüssige Augen – etwas erschreckte sie daran. Sie hatte das Gefühl, ein Kind zu sein und einem mit verborgenem Haß geführten Erwach senengespräch zu lauschen, die Wahrnehmung von etwas furchtbar Falschem, dessen Form und Natur sie nicht verstehen konnte. Ob wohl das flackernde Licht in alle Winkel des kleinen Schlafzimmers mit seinem Himmelbett und seinen fein gearbeiteten, zusammen klappbaren Shirdarmöbeln drang – obwohl diese flackernde Be leuchtung nur die drei Frauen mit ihrem langen schwarzen Haar und ihren Gewändern aus weißer Gaze zeigte – , wußte sie, daß sie dort nicht allein waren. Schweißgebadet erwachte sie, und sie wußte, daß etwas bei ihr im Zimmer war. Draußen hing der Vollmond am Himmel. Am Winkel der seide nen Lichtstrahlen, die durch das Fenster fielen, erkannte sie, daß es spät in der Nacht war. Ein Streifen führte quer über ihr Bett, deutlich 431
wie ein Gazeschal; er wirkte, als hätte sie, wenn sie sich nur zu rüh ren gewagt hätte, hinübergreifen und ihn aufheben können. Neben ihr war das Bett leer. Sonnenwolf war wohl noch bei Nanciormis und dem König, sprach dem Bier zu und erzählte Kriegsmärchen. Sie selbst hatte es weniger interessiert, die beiden kennenzulernen, als morgen wach und ausgeruht zum Wachdienst zu erscheinen. Sie bewegte sich nicht, aber von ihrem Platz auf dem Bett aus konnte sie im Schillern des einströmenden Wüstenmondlichts fast den gesamten Raum überblicken. Er war leer. Etwas war da. Ihr Blick stieß in jeden dunklen Winkel vor, musterte jede Bruch stelle in dem geisterhaften Schein, von den länglichen Rissen auf dem Boden – wie das uralte Muster unlesbarer Runen – bis zu dem harten Funkeln der Messingknöpfe auf ihrem Wams und ihrer Jacke, die über der Lehne des einzigen Stuhls im Raum hingen. Die Nacht kälte lag eisig auf ihrem Gesicht, und der Geruch der trockenen Ber ge stieg ihr mit einer Deutlichkeit in die Nase, die zu lebendig war, um ein Traum sein zu können. Sie fragte sich, ob es sie beobachtete und wie sie sich verhalten sollte. Jahre des Krieges hatten ihren Instinkt für die Gefahr geschärft. Was immer mit ihr in diesem Raum war, war ohne Zweifel grenzen los böse. Sie lag auf der Innenseite des breiten Bettes, unter einem schwar zen Bärenfell und zwei Decken, die sie gegen die eisige Nacht am Fuß der Wüstenberge schützten. Ihre Furcht hatte nichts von dem Entsetzen eines Kindes, das sich die Decke über den Kopf ziehen will, sicher in dem Wissen, daß das Böse dieses Heiligtum nicht betreten wird; ihre Angst war die eines Erwachsenen. Um die Tür zu erreichen, hätte sie sich quer über das breite Bett rollen, um das Fenster zu erreichen, über die Eßwaren springen müssen. Das Gefühl des Bösen wurde stärker, lokalisierte sich; eigentlich hätte dort ein Schatten sein müssen, am Fußende des Bettes, wo das Mondlicht in dichten Bahnen hinfiel, aber da war keiner. Draußen in den Ställen begannen die Hunde zu bellen. Sie spürte, wie etwas rüttelte und riß, und sah, daß sich die De cken bewegten. Dann hörte sie deutlich und entfernt Sonnenwolfs Stimme, wie Metall, das in der kalten, stillen Nacht kratzt; und Nanciormis' lautes 432
Lachen. Nichts rührte sich, nichts veränderte sich in diesem schreck lichen Stilleben des leeren Mondlichts, doch sie spürte einen Wind stoß und hörte ein Geräusch, nicht lauter als das Rascheln der harten Klauen einer Kakerlake auf dem Granit einer Tür schwelle. Durch die offene Tür sah sie draußen Staub aufwirbeln, obwohl kein Wind die Sträucher bewegte. Sie wälzte sich vom Bett, zog die oberste Decke herunter und wi ckelte sie um ihren Körper. Unwillkürlich nahm sie ihr Schwert, obwohl sie wußte, daß es nutzlos sein würde. Der Hof draußen war in flüssig-silbriges Mondlicht getaucht, das jeden Kiesel, jeden Stein an dem kleinen Brunnen, jedes Blatt der Sträucher und Büsche ringsum Schatten werfen ließ. Kein Insekt rührte sich, doch die Hun de heulten nun wieder, verzweifelt und entsetzt, von den Ställen hörte sie das Stampfen von Pferdehufen. Sie zwang sich dazu, ruhig im Schatten der Tür zu verharren. Auf der anderen Seite des Hofes waberte blaß ein Tor aus Lehmziegeln in den Schatten, die die Fes tung umgaben – und hinter dem Granitmonolithen markierte eine Reihe geschlossener Fenster, die wie Augen aussahen, den Saal. Darüber verlief über die gesamte Länge des Bauwerks ein Balkon, und jeder Torbogen darin wirkte wie vom silbernen Glanz des Mon des ausgefült. In dem Irrgarten der Schatten zwischen dem Saal und dem Tor hallte Sonnenwolfs Stimme von den Steinen wider, als er Nanciormis eine Gute Nacht wünschte. Obwohl sie deutlich sehen konnte, daß nichts an dem monderhellten Tor war, erfüllte sie immer noch Entsetzen. Sie trat in das fasrige Licht des Mondes hinaus und rief verzweifelt: »Vorsicht, Hauptmann!« und ihre Stimme brach sich dabei an der hohen Mauer der stillen Festung. Sie wußte, daß sie näher beim Wolf sein mußte, wenn er sich wirklich in Gefahr befand, und so ergriff sie widerwillig das Schwert, lief in den Hof hinaus – und blieb plötzlich stehen. Neben dem Tor war nichts. Natürlich war neben dem Tor nie etwas gewesen – aber jetzt war es fort, verschwunden. Langsam, ihren Instinkten mißtrauend, setzte sie sich wieder in Bewegung, das bloße Schwert in der einen Hand, während die ande re Hand die Decke vor dem Körper zusammenhielt, in die sie gewi ckelt war. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, die Luft brannte kalt auf ihrer warmen Brust, und der Nebel wallte bedrohlich um ihre Füße. Sie stand neben dem Tor. Dort war nichts, auch nirgendwo an 433
ders in der Nacht. Ein leises Rascheln und Kratzen in den Schatten ließ sie herum fahren, und sie sah, etwas abseits des kleinen Tores, Sonnenwolf über die niedrige Mauer springen, die das leere Viertel umgab. Er zögerte einen Augenblick, und sie winkte ihn zu sich. Auf ihrem Arm hatte sich eine Gänsehaut gebildet – sie zitterte, wenn auch nicht vor Kälte. Er hatte sein Schwert in der Hand, und das Mondlicht brach sich an den Kanten und an der Spitze. »Was ist?« Sie zögerte, wußte nicht, was sie sagen sollte. »Ich… ich weiß nicht. Ich habe nichts gesehen, aber… « Aber was? Er musterte ihr weißes, hartes Gesicht im Mondschein, mit ihrem weichen Haar, das vom Liegen plattgedrückt war und in alle Rich tungen abstand. Ihre grauen Augen waren wachsam wie die eines Kriegers, aber auch verblüfft, besorgt. »Spuren?« Sie schüttelte den Kopf. Sie spürte, daß sie sich albern vorkom men sollte, wie jemand, der schreiend aus einem Alptraum über Hühner oder Hasen aufgewacht ist, aber sie tat es nicht. Die Gefahr war echt gewesen, soviel wußte sie. Und der Anführer, möge die Mutter seinen angehenden Kahlkopf segnen, akzeptierte sie auch als solche. Sie hatten lange Zeit Schulter an Schulter gekämpft und wußten, daß ihre Beobachtungen, mochten sie auch unerklärlich sein, deshalb doch nicht unzutreffend sein mußten. Mit erhobenem Kopf schaute er sich in dem verlassenen Hof um, als witterte er in der Luft nach dem Dufthauch des Bösen, wobei sein einzelnes gelbes Auge fast farblos im Mondlicht funkelte. Mit der Erinnerung an die Angst kamen auch die Nachwirkungen des Schreckens über sie; sie wurde sich des Verlangens bewußt, von ihm gehalten zu werden, den rauhen, knorrigen Schwertgriff in ihrer Hand und durch die Decke hindurch seine Gürtelschnalle an ihrem Fleisch zu spüren. Sie sagte sich, daß sie jetzt nicht dumm sein durfte. Im Notfall würde diese Art von Aktivität den Schwertarm hemmen. Ihre Instinkte sagten ihr zwar, daß die Gefahr vorbei sei, aber ihr Verstand und ihre lebens lang in Kriegen gesammelten Gewohnheiten machten es ihr unmög lich, ihren Wünschen nachzugeben. »Komm«, sagte er leise. »Was immer es war, es scheint ver schwunden zu sein.« Er machte Anstalten, sie in den Arm zu neh men, doch dann hielt er inne und führte sie den steinigen Pfad ent lang zurück, eine Schwertlänge voneinander getrennt, wie Fährten 434
sucher auf Patrouille. Sternenfalke registrierte überrascht, wie sehr die spitzen Steine ihre Füße zerschnitten. Sie hatte sie zuvor nicht einmal bemerkt. Vorsichtig näherten sie sich der dunklen Öffnung des Zelleneingangs und traten – auf alles vorbereitet – ein, obwohl beide nahezu sicher waren, daß nichts darin war. Und so war es. Während Sonnenwolf den Raum überprüfte, drehte Sternenfalke sich um und blickte über die Schulter zum Tor zurück. Unschuldig stand es im Schein des Mondlichts, kein Schatten berührte seine vom Sand glattgeschliffene Oberschwelle aus Pinie, nichts regte sich in den Büschen ringsum. Etwas Weißes, das am Balkon der Festung dahinschwebte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich; sie konnte dort eine Gestalt sehen, die kristallene Pracht des Mondlichts brach sich in den goldenen Spangen, die ihre langen schwarzen Zöpfe hielten. Der Mann glitt von Torbogen zu Torbogen, als suchte er einen Raum – Falke dachte daran, daß der Hauptmann mit ihm getrunken hatte und an die verräterischen Spuren der geplatzten Äderchen, die auf kurze Distanz auf der eleganten Nase des Kommandanten zu sehen waren. Obwohl es ihm Schwierigkeiten zu machen schien, sein Zimmer zu finden, bewegte er sich mit seiner üblichen Grazie. Er schob den Vorhang vor einem der dunklen Torbögen beiseite, und Sternenfalke glaubte den leisen, erschreckten Schrei einer Frau im Inneren zu hören. Aber kein zweiter Schrei folgte; er trat in die Dunkelheit, und die Dunkelheit verschluckte ihn.
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4. Kapitel Sonnenwolfs Arbeitsverhältnis als Ausbilder der Mannbarkeit des Erben von Wenshar dauerte nicht viel länger als zwölf Stunden – und das war beinahe so etwas wie ein Rekord, sogar für Sonnenwolf. Er hatte veranlaßt, daß man den mageren, mürrischen Jungen zum Schutz seiner jungfräulichen Haut gegen die Sonne mit Kräuter fett einrieb, hatte zwischen Morgengrauen und Sonnenaufgang mit ihm die Festung verlassen und war unter dessen lautem Protestge schrei zu den eidechsenfarbenen Reihen der Büsche und Sträucher gelaufen, die sich unterhalb der schwarzen Granitkuppel von Tandie ras ausbreiteten. Die Phasen der blauen Dämmerung zwischen der eisigen Kälte der Nacht und der atemberaubenden Hitze des Tages waren kurz, auch wenn sie nun, mit dem Anbruch des Herbstes, langsam länger wurden. Wie es aussieht, dachte Sonnenwolf verächt lich, als Jeryn nach einem halben Kilometer keuchend stehenblieb war das schon mehr als genug. »Hier ist es nicht sicher, wißt Ihr?« quengelte der Junge und sprang beiseite, wobei er mit der Hand nach einer vorwitzigen Biene schlug. Er hinterließ Striemen im Fett, als er sich über das Gesicht fuhr; nackt bis auf einen linnenen Lendenschurz, die dürren Beine und filziges Haar mit Staub bedeckt, bot er einen reichlich traurigen Anblick. »Wenn jetzt ein Sandsturm aufkäme, könnten wir nicht mehr zurück.« »Nur zu wahr«, stimmte der Wolf zu. Und wirklich hatten vor drei Tagen er und der Falke auf dem Ritt von der fernen Küste auf der Höhe des Rückgrats des Drachen in einer Felsenhöhle Zuflucht vor einem Sandsturm nehmen müssen. Er hatte ihn lange vor dem Falken gespürt – den atemberaubenden Temperaturanstieg und den Druck in seinem Kopf – , und das hatte sie gerettet, weil sie rechtzei tig Schutz suchen konnten. Von dem Augenblick, da der weiße Wol kensaum am Wüstenhorizont aufgetaucht war, bis zu dem Moment, als die ganze Welt von einem kreischenden Mahlstrom aus windge peitschtem Sand verschluckt wurde, waren nur Minuten vergangen. Nachdem die blindmachende braune Dunkelheit vorüber war, hatten sie überall in der Wüste die gebeutelten Kadaver von Präriehunden und Kaktuseulen gefunden, denen der Kies und Sand im wahrsten Sinn des Wortes die Haut von den Knochen geschält hatte. In Tan dieras, hieß es, könne selbst ein Mann, der den schützenden weißen 436
Kopf Schleier der Wüstenreiter trug, innerhalb einer halben Stunde von einer heißen Sandwehe begraben und zur Mumie ausgedörrt werden. »Aber ich kann das Wetter lesen; ich fühle die Stürme, bevor sie losbrechen, ja bevor sie überhaupt in Sicht kommen. Ich weiß, daß sich nichts zusammenbraut.« Der Junge warf ihm aus schwarzen Augen, die für sein spitzes, weißes Gesicht viel zu groß aussahen, mürrisch einen ungläubigen Blick zu und zog sich wieder hinter seine Mauer des Schweigens zurück. Sonnenwolf hatte bereits herausgefunden, daß der Junge bei allem Protestgeschrei niemals um Hilfe bitten würde. Vielleicht hatte er schon früh gelernt, daß so etwas bei seinem Vater die Lage nur verschlimmerte. Jeryn probierte es noch einmal. »Nanciormis hat mich nie ge zwungen, so etwas zu tun.« »Deshalb bist du ja auch schon nach zweiminütigen Übungen au ßer Atem.« Sonnenwolf schob sein langes Haar zurück – er hatte kaum zu schwitzen begonnen. »Wir werden das jeden Morgen um diese Zeit machen, und es wird etwa drei Wochen lang die Hölle für dich sein, aber dagegen läßt sich nichts machen. Also weiter.« »Ich bin müde!« greinte der Junge. »Kleiner, du wirst noch monatelang müde sein«, sagte der Wolf. »Du wirst zur Festung zurücklaufen und deine Gewichte heben und ein wenig an der Stange mit mir arbeiten, irgendwann vor dem Frühstück heute morgen. Du kannst dich entweder damit beeilen, um Zeit für Dinge zu haben, die dir Spaß machen, oder herumtrödeln. Es liegt bei dir.« Der Junge schürzte seinen vollen, weichen Mund, um das wüten de Zittern seiner Lippen zu verbergen, und wandte sich heftig ab. Er begann in einem wütenden, halsbrecherischen Tempo zur Zitadelle zurückzurennen, darauf angelegt, dachte Sonnenwolf, als er ihm im langsamen Trab eines jagenden Löwen folgte, ihn zu erschöpfen, lange bevor er ein Drittel der Distanz geschafft hatte. Er konnte es dem Jungen nicht verdenken. Seit gestern hatte er seine eigene Enttäuschung und Ärgernis, die an seiner Seele nagte. Kalethas Trainingsmethode war völlig verschieden von den kur zen, erschöpfenden Gedächtnisübungen, mit denen die Hexe Yirth von Mandrigin gearbeitet hatte, und von den verbissenen Routinen, die er für sich selbst erdacht hatte. Er hatte von Sternenfalke zu me ditieren gelernt, was er bei Morgengrauen und Einbruch der Nacht 437
auch regelmäßig tat, aber Kalethas Anweisungen in bezug auf Medi tationen waren komplizierter und machten es erforderlich, daß sie häufig eingriff. »Ihr müßt lernen, die Harmonien der Musik Eures Geistes zu verändern«, hatte sie gesagt, während sie in dem gitterar tig gerasterten Schatten eines Winkels der öffentlichen Gärten der Stadt vor ihm kniete, und Sonnenwolf, für die Meditationen immer eine Sache der inneren Ruhe gewesen waren, hatte wieder gegen das Verlangen ankämpfen müssen, ihr das aufreizende Lächeln vom Gesicht zu schlagen. Als Übung hatte es unglaublich trivial gewirkt. Aber die anderen Studenten der Weißen Hexe schienen nicht dieser Meinung gewesen zu sein. In ihren verschiedenen Nischen entlang des Säulengangs am oberen Ende der öffentlichen Gärten, wo sie sich gewöhnlich trafen, hatten sie alle mit Gesichtern meditiert, die von Konzentration oder Ekstase gezeichnet waren – beides, vermutete Sonnenwolf gereizt, zum Wohl ihrer Lehrerin. Sternenfalke meditierte allein und hatte ihm beigebracht, es ebenfalls allein zu tun. Die paar Male, die er sie dabei gesehen hatte, war sie ihm entspannt vorgekommen, fast als schliefe sie. Aber schließlich, dachte er grimmig, ist mehr als Ge meinschaft mit ihrer Seele nötig, um Falkes marmorne Ruhe zu stö ren. Er kannte sie nun schon seit neun Jahren und versuchte immer noch herauszufinden, was dazu erforderlich war. Er konnte sie im strahlenden Nachmittagssonnenschein am unte ren Ende des offenen Hofes in den Schatten hinter den indigofarbe nen Torbögen sehen. Sie sprach mit dem grauhaarigen Norbas Mil kom, dem Besitzer der Mine des Goldenen Geiers. Das narbenbe deckte Gesicht des Schwarzen zerbrach zu einem Lachen; ihre Ges ten ließen vermuten, daß sie miteinander den Bergfeldzug diskutier ten, der vor acht Jahren stattgefunden hatte. Nachmittags, wenn die Hitze des Tages nachzulassen begann und die Leute aus ihrem Schlaf erwachten, versammelte sich die halbe Bevölkerung von Pardle Sho in diesen Gärten. Die drei Morgen weitläufiger Spazierwege bedeckten – unter Bäumen mit Trauben, Jacaranda und Phönixwein oder auf bloßen sandbedeckten Vier ecken, wo manchmal alte Orangen- und Zypressenbäume standen, häufiger jedoch einfache einheimische Kakteen – die letzten Ausläu fer des Morianberges, wo das Land selbst für die Erbauer von Pardle Sho zum Errichten von Häusern zu uneben geformt gewesen war. Vor dem Aufstand hatten die Gärten den Gouverneuren der mit Sklaven betriebenen Minen gehört und die Ruinen des Palastes ihre 438
südliche Begrenzung gebildet. Doch jetzt waren sie die Lieblings promenade der Stadt, wohin die Leute kamen, um miteinander zu schwatzen, Gerüchte auszutauschen, ihre Freunde zu treffen, zu flirten, persönliche Geschäfte zu machen oder den Sängern zuzuhö ren, die in ihren schattigen Ecken saßen, die Mütze voller Münzen vor sich. Es war nicht ungewöhnlich für reisende Lehrer, sich mit ihren Studenten hier zu treffen; Sonnenwolf wußte, daß man am anderen Ende der Kolonnade jederzeit einen munteren kleinen Mann finden konnte, der ein oder zwei Personen in der Baukunst unterrich tete. Kalethas Stimme drang zu ihm durch, gemessen, als wäre jedes Wort ein wertvolles Gut, für das sich der Empfänger glücklich schät zen sollte. »Reinheit des Körpers ist die größte Notwendigkeit der Magie«, betonte sie nun schon zum dritten- oder viertenmal an die sem Tag. Sie sprach zu Luatha Welldig, einer fetten, unzufrieden wirkenden Frau von etwa vierzig Jahren, die wie sie alle, außer dem Wolf und Egaldus, dem trinitarischen Novizen, in strenges und un vorteilhaftes Schwarz gekleidet war. Doch ihr Blick schweifte zu Sonnenwolf ab, während sie sprach. »Ohne Reinheit des Körpers – Freiheit von geistigen Getränken, von übermäßigem Genuß, von den Roheiten außerehelichen Verkehrs… « Sie blickte ihn geradeheraus an, als sie die letzten Worte sprach, »… bleibt der Geist ein Gefan gener im Irrgarten der Sinne. Der Körper muß rein sein, wenn der Geist frei sein soll. Alle Magie entspringt dem Geist, dem Intellekt, dem Verstand.« »Das stimmt nicht«, sagte Sonnenwolf aufblickend. Kalethas rosa Lippen verloren ihren Schwung und wurden zu ei ner schmalen Linie. »Natürlich, Ihr zieht es vor, das nicht zu glau ben.« Er schüttelte den Kopf, unterdrückte den aufsteigenden Ärger. Langsam, stammelnd, nicht sicher, wie er es erklären sollte, und sich seiner heiser krächzenden Stimme seltsam bewußt, sagte er: »Der Intellekt lernt vielleicht, wie man Magie anwendet, aber diese ent springt nicht dem Verstand, genausowenig wie Wasser von der Röh re hervorgebracht wird, durch die es fließt.« »Unsinn«, antwortete Kaletha brüsk. »Verstand und die Fähig keit, die grundlegenden Leidenschaften zu kontrollieren, sind die einzige Domäne des Menschen, und Menschen sind die einzigen Lebewesen, die Magie besitzen.« »Aber das sind sie nicht.« 439
Die dunkelroten Brauen kletterten in die Höhe. »Oh? Wollt Ihr mir erzählen, daß Kamele Sandstürme hervorrufen können? Oder daß Hauskatzen Orakelknochen lesen können? Oder glaubt Ihr an komische kleine Leute, die wir nicht sehen können und die sich in Kellern verstecken und die Küchen von ehrbaren Hausfrauen auf räumen?« Sonnenwolf spürte, wie der Ärger wieder in ihm aufstieg, und gleichzeitig einen tief empfundenen Unwillen, darüber zu streiten. Sein Herz sagte ihm, daß sie sich irrte, aber es fehlte ihm die techni sche Fertigkeit, zu beweisen, daß er recht hatte – und noch mehr fehlte ihm jedes Verlangen, das Ganze nur aus seinen Instinkten heraus zu erklären. In sein Schweigen hinein sagte Anshebbeth schüchtern: »Kaletha, wenn du von Reinheit sprichst – sicher gibt es ver schiedene Arten von… von körperlicher Liebe.« Sie sprach, als wür de ihr dieser Ausdruck kaum von den Lippen kommen. Sonnenwolf starrte sie überrascht an, verblüfft darüber, daß sie von der Äußerung ihrer Lehrerin Abstand nahm, ja mehr noch, sich mit ihrer Frage fast auf seine Seite schlug. Im gefleckten Sonnenlicht der Rebschatten waren ihre schmalen, weißen Wangen von schäm vollem Rot be deckt. »Kann… kann wahre Liebe nicht… nicht ebenso befreiend für die Seele wie für den Körper sein?« Kaletha seufzte. »Also wirklich, Anshebbeth.« Sie wandte sich ab. Die Gouvernante verstummte, und ihre schmale Hand schnellte zur Kehle in dem hohen Kragen, als wollte sie einen Kloß wegmas sieren. Sonnenwolf betrachtete sie einen Augenblick gedankenverloren. Sicher hatte sie wenig zu ihm gesagt und war gehorsam in Kalethas Verachtung für ihn eingefallen. Aber er erinnerte sich noch an den Blick, den sie ihm anfangs zugeworfen hatte: verdeckte Lust, die sofort in brennende Scham umgeschlagen war; er hatte auch gese hen, wie sie Nanciormis hungrig mit den Augen verfolgt hatte. Er fragte sich, wie dieses harte, angespannte Gesicht wohl aussähe, wenn es in ein entspanntes Lachen ausbräche, und wie sich die Mas sen geflochtenen schwarzen Haars wohl anfühlten, wenn die schmei chelnde Hand eines Mannes sie auflösten. Aber ihr Blick war schon wieder zu Kaletha zurückgewandert, und sie war begierig, zu erfah ren, was die Weiße Hexe zu Egaldus sagte. Kein Mann, dachte er, hatte je die Chance, Anshebbeths ungeteilte Aufmerksamkeit zu ge 440
winnen, solange Kaletha im Zimmer war – vorausgesetzt, er wollte es überhaupt. In der Art von Männern hatte er, wenn überhaupt, bisher nur ge ringschätzig über sie gedacht. Jetzt, da ihm bewußt geworden war, was sie ihr ganzes Leben lang um die bloße Gunst dieser Frau wegen aufgegeben hatte, tat sie ihm fast leid. Auf der anderen Seite des Hofs erweckte ein eisvogelhaftes Glit zern seine Aufmerksamkeit. Bischof Galdron hatte sich zu Norbas Milkom gesellt; die zwei Männer sprachen ernst miteinander, der weißbärtige Patriarch mit dem schimmernden Goldtabard und der rauhe, narbenbedeckte Minenbesitzer, dessen Diamantringe an den Fingern blitzten. Sternenfalke hatte sie verlassen. Einen Moment später sah er sie mit Nanciormis den Säulengang entlangflanieren. Sowohl der Bischof als auch der Minenbesitzer musterten mißbilli gend den großen Kommandanten der Wachen. Wenn Nanciormis sich ihrer mißbilligenden Blicke bewußt war, so zeigte er es nicht; er bewegte sich wie ein König, gelassen und elegant in seinem ge schlitzten Wams aus rotem Samt und dem fließenden Wüstenmantel, das dunkle Haar gegen die Nachmittagshitze auf dem Hinterkopf aufgesteckt. Während ihres Besäufnisses letzte Nacht hatte Sonnenwolf beo bachtet, daß Nanciormis, obwohl er, wie die meisten Männer der Wüste, dazu neigte, Frauen mit einer Mischung aus Höflichkeit und Väterlichkeit zu behandeln, die Frauen seiner Wache als Kollegen in den Kriegskünsten betrachtete und nur mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis mit ihnen flirtete. Er flirtete nicht mit dem Falken, das sah Sonnenwolf. Flirten war eine Kunst, auf die sich Falke noch nie verstanden hatte. Sie hätte Sonnenwolf dann gelegentlich einen Blick zugeworfen, wenn man ihr ein Kompliment machte oder sie aufzog, was ihn amüsierte. Hinter ihrer Fassade einer Löwin war sie in ge wisser Hinsicht immer noch ein verblüffend unschuldiges Mädchen. Und doch… Die letzte Nacht fiel ihm wieder ein, die nackte Angst in Sternen falkes Stimme, als sie ihm von jenseits des mondbeschienenen Tores etwas zugerufen hatte. Sie war nicht die Frau, die vor Schatten da vonlief. Ihre Furcht war nicht die Ängstlichkeit einer Frau gewesen, die sich nach dem Schutz eines Mannes sehnt, sondern die Furcht eines Kriegers vor einer äußerst realen Gefahr. Doch weder im Hof noch in der kleinen Zelle, die sie miteinander teilten, hatte es ir gendwelche Hinweise oder Spuren gegeben. 441
Sternenfalke hatte keine Erklärung dafür gehabt, und schaudernd erinnerte er sich an die toten Tauben. Ein Schatten fiel über ihn. Er blickte hoch und sah Nanciormis. »Wie ich sehe, habt Ihr Euch den Möchtegernboten des Sturms an geschlossen.« Der große Mann lehnte die dicke Schulter gegen den Baumstamm mit seinem Geflecht aus knorrigen Kletterpflanzen und blickte freundlich auf Sonnenwolf herunter. »Eine nützliche Fähig keit für einen Krieger, jetzt, da es keinen Zauberkönig mehr gibt, den man jagen und zur Strecke bringen kann – aber Ihr könntet mit Eurer Zeit doch sicher Besseres anfangen.« »Wenn ich nach Fähigkeiten suchte, um den Krieg zu verlän gern«, erwiderte der Wolf, »dann zweifellos. Aber ich bin bereits ein recht guter Hexer.« »Ach ja?« Die kaffeebraunen Augen verengten sich nachdenk lich. »Ich weiß, daß die Bediensteten das alle behaupten. Ich dachte nur, daß Ihr es irgendwie geschafft hättet, Lady Kaletha zu beeindru cken – was gewiß nicht einfach ist, wie ich gern zugeben will. Was also sucht Ihr hier?« Sonnenwolf ließ sich Zeit mit der Antwort, blickte zu dem flei schigen, gutaussehenden Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der Habichtsnase hinauf, die von geplatzten Äderchen bedeckt war. Die dunklen Augen mit ihren Schattenringen waren gleicher maßen weise und zynisch, aber es lag keine Ablehnung darin. Nach einer Weile sagte er: »Ich weiß es nicht. Wenn ich es wüß te, wäre es einfacher. Ein Mann kann lernen, wie man auf Straßen und in Tavernen kämpft, aber gegen einen Krieger, trainiert und diszipliniert, hat er auf lange Sicht keine Chance; und er kann dieses Wissen nicht einmal für etwas anderes verwenden.« Nanciormis' Brauen zuckten. Er begriff offenbar nicht. Sonnen wolf hatte schon aufgrund der Schlampigkeit, mit der dieser Jeryn unterrichtet hatte, angenommen, daß er nicht begreifen würde. Son nenwolf vermutete, daß Nanciormis in jüngeren Jahren – und er konnte jetzt nicht viel älter als fünfunddreißig sein, obwohl seine Körperfülle ihn älter aussehen ließ – ein beachtlicher Krieger gewe sen war. Aber gerade solche Eigenschaften wie sein natürlicher Charme hatten ihn daran gehindert, Disziplin zu erlernen. Da er niemals etwas hatte lernen müssen, was er nicht im Grunde bereits wußte, war er ein Mann, der an der Oberfläche der Dinge lebte – geschickt, aber phantasielos. Da er nie eine Niederlage hatte hin nehmen müssen, ging er unbewußt davon aus, daß er das auch nie 442
würde tun müssen. Ein erfahrener Kämpfer konnte ihn vernichten. Ein leises Raunen ging jetzt durch Kalethas Schüler, als die Wei ße Hexe zu Sternenfalke hinüberging, um mit ihr zu sprechen. Hinter ihr konnte Sonnenwolf Egaldus sehen, der unauffällig in den Schat ten verschwand. Zu seiner Überraschung erkannte er, daß der Novize einen Mantelspruch benutzte, ein Mittel zum Unsichtbarmachen, um zu verhindern, daß sein Meister, der Bischof, von der anderen Seite des Gartens aus auf ihn aufmerksam wurde. Es war eine der ersten Zaubereien, die Sonnenwolf anzuwenden gelernt hatte, und der junge Mann tat es mit erheblichem Geschick. Nur durch äußerste Konzent ration gelang es dem Wolf, ihn weiterhin zu sehen; die Schatten des Geflechts aus Kletterpflanzen lagen wie eine Jalousie über dem hel len Haar und bestickten Blauweiß seiner Gewänder. Auch Ansheb beth war, wie der Wolf bemerkte, sehr leise geworden und blickte auf ihre schmalen Hände hinunter. Nanciormis winkte ihn heran, und der Wolf erhob sich, um ihm auf dem schattigen Gang aus gesprungenen und ungleichmäßigen Fliesen zu folgen. Der Kommandant warf einen Blick zurück auf Sternenfalke – die an einem knorrigen Glyzinenstamm lehnte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, während sie mit Kaletha sprach – , dann zu Milkom hinüber und wieder zum Bischof. »Ich würde Euch raten, ein bißchen vorsichtiger damit zu sein, wer Euch hier sieht«, sagte er leise. »Hexen haben einen schlechten Ruf in Wenshar, wie ich Euch letzte Nacht schon sagte. Was immer Ihr Euch von Kaletha versprecht, es könnte den Preis nicht wert sein, den Ihr vielleicht später dafür zu zahlen habt.« An diesem Morgen hatte Sonnenwolf über dem gesprenkelten Hügelland die dunkle, zerklüftete Linie der Geisterberge gesehen, die die Geheimnisse der alten Stadt Wenshar hüteten. Aber Kaletha war ärgerlich geworden, als er sie danach gefragt hatte, und hatte von anderen Dingen gesprochen. Nun fiel ihm auf, daß, obwohl mit dem Nachlassen der Tageshitze die Gärten sich mit Minenarbeitern der Freischicht, Viehzüchtern und jungen Leuten aus der Stadt füll ten, kein zufälliger Schlenderer in diese Bereiche der Gärten herauf kam. Er hatte genügend Erfahrung mit der menschlichen Natur, um zu erkennen, daß das nichts mit Toleranz zu tun hatte. Wenn nicht Angst sie fernhalten würde, dachte er, würden sie gaffen und rufen wie Bauerntölpel auf dem Jahrmarkt. Angst vor Kaletha? fragte er sich. Oder… vor was? »Wie ich sehe, ist es Euch gelungen, meinen Neffen heute mor 443
gen zu Schwertübungen zu verleiten«, fuhr Nanciormis fort, während er genüßlich einem blonden Mädchen, das auf der anderen Hofseite die Kolonnade entlangschritt, nachblickte, bis die Schatten es ver schluckten. »Was denkt Ihr von ihm?« Sonnenwolf dachte, daß er bisher schlecht unterrichtet worden war. Doch er sagte nur: »Am ersten Tag läßt sich noch nicht viel sagen. Sie sind immer darauf aus, einen mit dem zu beeindrucken, was sie schon wissen.« Das traf auf ihn, dachte er im gleichen Au genblick, ebenso zu wie auf Jeryn. Nanciormis lachte. »Wenn Ihr ihn morgen noch mal zu fassen bekommt, könnt Ihr von Glück reden. Der Junge hat eine gewisse Flinkheit, aber er ist faul und, wie ich annehme, ein Feigling. Ich habe versucht, ihm Mut einzutrichtern, oder ihn wenigstens in Situa tionen gebracht, wo er gezwungen war, seine Angst zu bezwingen, aber er ist klug im Versteckspiel. Er kann für Stunden verschwinden, wenn etwas im Gange ist, was er nicht will. Ich habe versucht, ihn auf etwas zu setzen, was ein wenig männlicher ist als diese pud dingsfüßige Schnecke von einem Pony, das er seit seinen Babyjahren hat – Tazey reitet ohne Probleme andere Pferde, aber er will nicht. Und was Ausflüge auch nur wenige Schritte in die Wüste angeht… « »Hat man ihm je beigebracht, wie man in der Wüste überlebt?« »Wie denn, wenn er seine Nase nie aus der Bibliothekstür her ausstreckt?« fragte Nanciormis heiter. »Außerdem hat er so große Angst, dort rauszugehen, daß er das Wissen vermutlich niemals braucht. Wenn Ihr irgendwas tun könnt, um seine Nerven zu stählen, wären wir Euch alle sehr dankbar – am meisten aber sein Vater. Sein Vater hat nämlich noch nie was mit ihm anfangen können.« »Obwohl er der erste gebürtige Erbe von Wenshar ist, seit die Alten Häuser untergingen?« Die dunklen Augen musterten ihn hart von der Seite her, dann wandten sie sich ab. »Osgard war in bezug auf Jeryn immer im Zwiespalt. Er ist, wie Ihr sagt, der Erbe, und Osgard ist stolz genug auf sein Königreich, um zu wollen, daß der Junge es nach seinem Tod zusammenhalten kann. Aber Ciannis starb bei der Geburt. Man erzählt sich, es sei eine schwierige Schwangerschaft gewesen und sie habe ihn zweimal beinahe verloren. Osgard sah es damals so wie heute, daß er eine Frau, die er liebte, gegen ein Kind eintauschen mußte, das in der Kindheit wie ein kränklicher Hase war und sich in dem Augenblick zum Bücherwurm entwickelte, als es lesen lernte. Das Lernen aus Büchern ist ja gut und schön, aber es gibt noch ande 444
re Dinge, genauso wie es noch andere Dinge neben dem Krieg gibt – nicht, daß die Bürgerkönige, die Kriegskönige vor Osgard jemals begriffen, was Stil und Schönheit ist, oder Respekt vor den alten Künsten. Aber Jeryn ist nicht nur ein Duckmäuser und Leisetreter, sondern außerdem noch feige.« »Ich nehme an, wenn mein Vater sich rührselig trinken und mich für den Tod meiner Mutter verantwortlich machen und mich deshalb hassen würde, wäre ich auch ein Duckmäuser und Leisetreter.« Nanciormis warf ihm einen schnellen Blick zu. »Als Ciannis noch lebte, hat Osgard sich nie so vollaufen lassen.« »Nein«, sagte der Wolf. »Das nehme ich auch nicht an.« Sie hat ten das Ende des Säulengangs erreicht; das schräg einfallende Nachmittagslicht hatte den Schatten des Gittergeflechts über ihnen verschoben, und Streifen gefleckten Lichts breiteten sich auf den zerschlissenen Fliesen des Spazierwegs aus. Von der anderen Hof seite wehten das schwache Schnarren einer schlecht gespielten Man doline und eine näselnde Stimme an sein Ohr, die Bruchstücke eines äußerst beliebten Liedes sang. In einer Stunde mußte er Jeryn wieder für eine weitere Lektion vor dem Abendessen ausfindig machen, und er hatte das Gefühl, daß es diesmal nicht so einfach sein würde wie am Morgen. Der Reiz des Neuen war endgültig verflogen. Er blickte noch einmal zu Kaletha zurück. Der Bischof von Pardle war verschwunden, und Egaldus stand neben ihr, lauschte mit verzücktem Ausdruck in seinen himmelblauen Augen ihren Worten. Kaletha fragte ihn etwas. Er gestikulierte mit der Anmut von jeman dem, der in der Theatralik der trinitarischen Liturgie geschult war, und pflückte einen grünen Lichtball aus der Luft. Er beleuchtete in den Schatten sanft seine Finger, Kaletha legte ihm eine Hand auf die Schulter und nickte anerkennend. Anshebbeth schaute zur Seite, die dünnen Lippen geschürzt. »Was ist mit seiner Schwester?« fragte Sonnenwolf. »Es würde ihm guttun, einen Übungspartner zu haben. Ich glaube, sie ist ein vernünftiges Mädchen, und sie ist ausreichend älter als er, daß er sich nicht gedemütigt fühlen würde, wenn sie ihn besiegt. Außerdem scheint sie gut zu sein. Ich habe sie beim Kriegstanz beobachtet. Sie bewegt sich wie eine Kriegerin.« Nanciormis grinste. »Das sollte sie auch. Als sie ein kleines Mädchen war, gab es keinen Jungen in der Stadt, mit dem sie sich im Kampf oder beim Ballspiel nicht hätte messen können. Sie kann alles reiten, was vier Hufe hat, und tanzen wie ein munterer Vogel. Aber 445
ich fürchte, daß das nicht genügen würde.« »Nein. Der Junge mag sie wohl nicht?« vermutete Sonnenwolf. »Er verehrt sie – oder wenigstens tat er es bis vor etwa einem Jahr. Er toleriert sie jetzt, wie es Jungen mit älteren Schwestern tun.« Ein Schwarm Schwalben rauschte auf den Zentralhof herunter und ließ sich dort auf dem Steinrand des beinahe ausgetrockneten Springbrunnens zum Trinken nieder. Bienen kamen ebenfalls herbei, stießen auf das Wasser zu, das von Quellen gespeist wurde, die in den harten Gesteinen des Rückgrats des Drachen entsprangen. Son nenwolf schätzte, daß wohl das ganze Jahr über Wasser in diesen Springbrunnen war. Nanciormis fuhr fort: »Nein, Jeryn hat keine Probleme mit ihr. Aber wie Ihr wißt, wird Tazey Incarsyn von Hasdrozaboth heiraten. Er wird morgen zu letzten Verhandlungen hier eintreffen. Und ob wohl es bei meinem Volk hin und wieder auch eine Kriegslady gibt, wäre es doch keineswegs angebracht, wenn einer unserer Lords sie ehelichte oder sich Osgard eine davon – wie soll ich sagen? – zur Frau nähme. Außerdem würde Incarsyn eine solche Frau gar nicht wollen – ganz gewiß würde seine Schwester es nicht, und sie ist die wahre Herrscherin der Dünen. Die Ehe ist ein politischer Notbehelf, um dieses…« Er machte eine Pause, schluckte das Schimpfwort für die Söhne der Sklaven, die aus dem Norden importiert worden wa ren, hinunter. Sie sollten in den Silberminen arbeiten, hatten dann aber das beste Hügelland von den Wüstenlords übernommen und diese noch tiefer in die Einöde der K'Chin getrieben. Er beendete den Satz mit: »… dieses ›neue Reich‹ an die Alten Häuser zu binden, wie es mit seinem der Fall war. Aber, wie bei Osgards Ehe mit meiner Schwester, kann gelegentlich auch Romantik mit im Spiel sein. In carsyn ist jung und voll Anmut, aber er ist ein Shirdarmann und es nicht gewohnt, mit einer Frau zu tun zu haben, die nur zu gut mit dem Schwert umgehen kann.« Sonnenwolf blickte die Kolonnade entlang. Wie ein Laken aus undurchlässigem Gold hing jetzt das Sonnenlicht zwischen den Baumstämmen, blendend und drückend heiß. Der Kontrast zu dem Geflecht aus Schatten der von Reben verhangenen Nische, in der Kaletha und ihre kleine Studentengruppe saßen, war verwirrend. Ihre dunklen Gewänder verschmolzen mit den Schatten, die Gesichter waren nur weiße Flecken, wie aus Papier geschnittene Kreise. Ka letha sprach zu ihnen allen, ihre Stimme war ein leises, hypnotisches Murmeln, das verborgene Geheimnisse der Zauberei und Macht 446
wisperte. Neben ihnen stand, an einen Baum gelehnt, Sternenfalke und hörte zu, der gebrochene Glanz des Sonnenlichts lag fleckig über ihren breiten Schultern und dem kurzgeschnittenen Haar wie vom Wind verwehte Blätter. Er lächelte leise in sich hinein und sagte nur: »Da entgeht ihm aber etwas.« »Hauptmann.« Sonnenwolf, dessen einzelnes Auge gut genug war, um in dem polierten Messingschild an der Wand der Rüstkammer das Abbild des Mannes zu erkennen, der im Schatten der Tür stand, sagte: »My lord?« bevor er sich umdrehte. »Bleib so«, fügte er hinzu, als Jeryn unwillkürlich sein Schwert senkte. »Ein Feind wird dir nicht die Zeit geben, deinen Arm auszuruhen, und ich auch nicht.« Der kleine Mund mit den roten Lippen verzog sich verdrießlich, aber der Junge wandte sich wieder dem Hackpfosten aus Eisenholz zu. Seine Schläge brachten kaum das Holz zum Splittern. Nach un ten, Rückhand, Vorhand – nach unten, Rückhand, Vorhand – jeder Hieb in seinem Ablauf und Ende war eine separate Aktion, ohne daß von einem zum anderen das Moment der Massenträgheit ausgenutzt wurde. Sonnenwolf wandte sich dem König zu. »Ich möchte mit Euch sprechen.« »Ihr bezahlt für meine Zeit«, erwiderte der Wolf und schritt zu dem breiten Bogen der Tür hinüber. Das schwache, ungleichmäßige tack… tack… von Stahl auf starrem Holz hallte leise im Steingewöl be des runden Raumes mit seinem erhöht gelegenen Ring aus Fens tern wider. »Ihr habt verdammt noch mal recht damit, daß ich für Eure Zeit bezahle«, sagte Osgard. Er stand eisern da, seine Schultern breit in dem engsitzenden Wams aus matter Bronze, wobei die breite Gold kette über seinen Schultern auf den s-förmigen Gliedern kleine Lichtblitze zeigte. Wie üblich war die Halskrause des Königs nicht gerichtet und hing in schlaffer Unordnung unter seinem Kinn; eben falls wie üblich roch er schwach nach abgestandenem Wein. »Und nicht bezahlen werde ich dafür, daß, wie die Gerüchte sagen, mein Sohn von einem Hexer unterrichtet wird.« Sonnenwolf verhakte seine Daumen in dem breiten Ledergürtel seines Kilts. Salzige Schweißtropfen hingen von den Spitzen seines dünnen, vor Nässe dunklen Haars und liefen ihm die pelzige Gold wolle am Hinterkopf hinunter. Mit rostiger Stimme fragte er: »Wer sagt das?« 447
»Leugnet Ihr es etwa?« »Nein. Ich würde nur gerne wissen, wer das sagt.« »Ich habe aus Respekt meiner toten Frau gegenüber immer noch dieses karottenköpfige Weibsbild in meinem Haushalt, und weil ich, wenn es in Wenshar schon eine Zauberin geben muß, lieber ein Auge auf sie habe, statt sie in die Dienste der Shirdarlords oder der Mittle ren Königreiche überwechseln zu sehen. Aber ich sagte ihr, sie solle sich von meinen Kindern fernhalten. Ich werde nicht erlauben, daß man darüber redet, und Gott weiß, daß es hier genug Geschwätz gibt, mit diesem aalglatten kleinen Pater Egaldus, der im Auftrag des Bischofspalastes hier herumschnüffelt und Galdron, der das Maß voll macht. Nun, ich werde es nicht erlauben, das sage ich Euch!« Sein Gesicht war puterrot und mit einem fleckigen Netzwerk aus geplatzten Äderchen überzogen; seine Stimme hallte in dem Stein gewölbe wie Donnergetöse wider. Das Tacken des Schwertes auf Holz hatte aufgehört. »Niemand hat mir je im Leben gesagt, was ich zu sein, zu tun und zu lassen habe«, erwiderte Sonnenwolf, und sein Auge verengte sich, »und ich gehe jede Wette ein, daß man es auch Euch nie gesagt hat. Natürlich könnt Ihr Euren Sohn dazu zwingen, nach Euren Wün schen zu sein, aber was ich bin und mit wem ich meine Zeit verbrin ge, geht Euch nichts an!« »Ich zwinge niemanden zu nichts!« brüllte Osgard. »Werdet nicht spitzfindig! Davon kriege ich schon genug von Kaletha und diesem verdammten Bischof zu hören! Mein Sohn ist meine Sache, und mein Haushalt ist meine Sache, und ich will nicht, daß man sagt, es würden Zauberer den Erben von Wenshar unterrichten!« Gereizt antwortete Sonnenwolf: »Ich bringe ihm bei, wie man mit dem Schwert umgeht, zum Teufel noch mal, keine elende Wahr sagerei – das könnte ich ihm gar nicht beibringen, selbst wenn ich wollte!« »Ich will nicht noch einmal hören, daß Ihr Euch in der Gesell schaft dieser verfluchten Frau… « »Wenn Ihr das nicht noch einmal hören wollt, dann solltet Ihr besser aufhören, mit Euren Waschweibern Gerüchte auszutauschen!« Die Vermutung traf offensichtlich zu, denn das Gesicht des Kö nigs wurde noch roter, wenn das noch möglich war, und Sonnenwolf bereitete sich auf ein Ausweichmanöver und einen Schwertstreich vor. Aber der König holte nur tief und heftig Luft, wobei sein dickes, alkoholzerfressenes Gesicht vor Zorn bebte. »Raus hier.« 448
Seine eigene Wut hinunterzwingend, drehte Sonnenwolf sich schweigend um und ging. Abgesehen davon, daß es ein alberner Streit war, wußte er, daß ein ruhiges Hinnehmen Osgard mehr ärgern würde, als ihm mit Zorn zu begegnen – und er hatte recht. Als er an ihm vorbei in die gestaute Hitze des Steinkorridors trat, brüllte Os gard: »RAUS HIER!« Der Schrei hallte im Dachgebälk wider, als träfe er auf Stahl. Einen Augenblick später hörte er das singende Klirren von Metall und wußte, daß der König auf seinen Sohn zuge stelzt war, ihm das knabengroße Schwert aus der Hand gerissen und es wutentbrannt gegen die Wand geworfen hatte. Aber erblickte nicht zurück. In dem kleine Lehmziegelraum am Rande des leeren Viertels hin terließ er eine Notiz: Bin in die Berge gegangen. Dann fing er seinen gescheckten Wallach in der Koppel ein, sattelte ihn und verließ Tan dieras, als die Sonne wie ein Phönix, der sich zur Ruhe begab, den schrundigen Rand des Rückgrats des Drachen berührte.
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5. Kapitel Was Sternenfalke betraf, so war sie nicht übermäßig besorgt ü ber Sonnenwolfs Verschwinden. Sie hatte lange Erfahrung mit seiner Gewohnheit, wütend davonzustürmen, um für Stunden, Tage oder manchmal sogar eine Woche und länger allein zu sein – und sie hatte ein paar Vermutungen, wohin er gegangen sein könnte. Von der offenen Wachstation auf dem höchsten Turm der Zitadelle Tandieras aus, wo sie pflichtgemäß Wache hielt, konnte sie über die Ebenen bis dorthin blicken, wo das schmutziggraue Buschland mit der weiten Ausdehnung schwärzlichen, erbsengroßen Kieses namens ›Schwemmland‹ verschmolz – baumlos, ohne Wasser und ohne Leben erstreckt es sich bis zu den Ergs, den Dünenmeeren des Sü dens. Obwohl die Sonne kaum die Schultern des Morianberges er klommen hatte, glimmerte die Wüste bereits unter der Hitze. Durch die flirrende Luft konnte man, wie das dunkle Rückgrat eines halb vergrabenen Skeletts, die Geisterberge sehen, die an ihren Ausläu fern die tote Stadt Wenshar bewachten. Heute morgen war Taswind von Wenshar bei Sternenfalke, und der trockene Wind spielte mit ihrem lohfarbenen Haar, als er sich in dem weißverschleierten Turban verfing, um ihren Kopf vor der Wüs tensonne zu schützen. Statt ihrer üblichen knabenhaften Reithosen trug Tazey ein Gewand aus rosenfarbener Wolle, als Sternenfalke dem Blick des Mädchens folgte, ahnte sie den Grund für seine Geis tesabwesenheit. Rings um den Turm lag die Zitadelle ausgebreitet wie die Steppdecke einer Bäuerin, zusammengesetzt aus dunklen Grautönen, verschiedenen Tönungen von Braun und einem Dutzend ausgewaschener Farben wie auf handgearbeitetem Leder, hier und da mit dem matten Grün staubiger Sträucher und Kakteen vernäht. Das vierschrötige Festungsmassiv lag fast unmittelbar zu ihren Füßen – der Saal, die Sonnenhalle des Königs und dahinter sein Schlafzim mer, der lange Balkon, der die Räume des Haushalts miteinander verband, die länglichen Rechtecke der Frauen- und Männerschlafsäle und die helleren, von Gebäuden umschlossenen viereckigen Höfe der Küchengärten. Von hier oben konnte Sternenfalke die kleine Zelle sehen, in der sie und der Wolf sich aufgehalten hatten, und das kleine Tor, das vom leeren Viertel zu den dunklen Granithöfen unter dem Balkon des Haushalts führte. Das leere Viertel dahinter lag wie ein ausge 450
grabenes Skelett da – ein wirres Chaos von Lehmziegelmauern, einbis anderthalb Meter dick, die langsam wieder zu dem Schlamm zerfielen, aus dem sie geformt worden waren, ein Durcheinander aus Schatten, über denen Vögel ihre Kreise zogen. Sternenfalke, die weder sentimental noch darauf aus war, sich selbst oder sonst jemandem ihren Mut zu beweisen, hatte letzte Nacht mit Wäscherinnen, Küchenmädchen und weiblichen Wachen in einem Bett im Frauenschlafsaal geschlafen, und sie hatte gut ge schlafen. Wo die Ställe in das leere Viertel übergingen, zeigte sich die Här te von neuem, gelbem Holz und noch nicht verwitterten Fliesen. Eine Reihe alter Geschäfte und Säle war in Stallungen für die weißen Pferde des Shirdarlords Incarsyn von Hasdrozaboth und Quartiere für seine Bediensteten und Wachen umgewandelt worden. Anderswo markierten weitere Reparaturarbeiten die Gemächer, in denen er selbst untergebracht war. Der Fetzen einer roten Flagge vom gestri gen Willkommensgruß flatterte im lauen Morgenwind wie eine ver lorene Haarschleife. Es waren diese Räumlichkeiten, auf die sich Tazeys Aufmerksamkeit richtete. »Neue Ohrringe«, bemerkte Sternenfalke nach einer Weile, um den kleinen, glänzenden Anhängern ein Kompliment zu machen. Sie sah das Mädchen an und verschwieg ihre Beobachtung, daß Tazey auch ihr Haar anders trug. »Waren sie Teil seines Brautgeschenks?« Das Gesicht des Mädchens wurde tiefrot wie ein Sonnenunter gang in der Wüste. »Nein«, sagte sie und sah Falke schüchtern an. »Er schickte sie mir heute morgen überraschend, nicht weil er mußte – ich meine, es waren keine Erbstücke seines Hauses oder so. Er hat sie neu auf dem Markt gekauft, nur für mich. Es sind Sandperlen.« Sternenfalke musterte die seltsamen, perlenähnlichen Steine, die man selten genug in ausgetrockneten Flußbetten fand. »Und, wenn Ihr meine Offenheit verzeiht«, sagte sie, »nicht gerade billig.« Tazey errötete noch mehr, da Sternenfalke das Kompliment re gistrierte, das mit diesem Preis verbunden war. Der Dünenlord war gestern mit seinem Gefolge eingetroffen, und in den folgenden vier undzwanzig Stunden hatte Sternenfalke gesehen, wie Tazey sich von einem relativ unsicheren Mädchen in eine junge Dame verwandelte, die wußte, daß man sie nicht nur wollte, sondern begehrte. Es war eine Rolle, an die sie noch nicht gewöhnt war, und die bloße Neuheit gab ihr derzeit den Reiz eines bisher ungekosteten Genusses. Was immer man über Incarsyn von Hasdrozaboth sagen mochte, jeden 451
falls verstand er es, mit einer Braut umzugehen, die sich ihren Bräu tigam nicht hatte aussuchen können. Das Mädchen schüttelte den Kopf, holte tief Atem und blickte Sternenfalke an. »Hört, Kriegslady«, sagte sie. »Ich… ich muß mit Euch reden. Ich denke, ich brauche Eure Hilfe, aber mein Vater darf nichts davon erfahren. Versprecht Ihr es mir?« »Nein«, sagte Sternenfalke ruhig und sah, wie sich Enttäuschung auf dem Gesicht des Mädchens breitmachte; es warf ein loses Ende seines weißen Schleiers über die Schulter zurück. »Euer Vater be zahlt mich für meine Treue – ich kann nicht versprechen, ihm etwas zu verheimlichen, von dem ich nicht weiß, ob es nicht die Sicherheit seines Reiches betreffen könnte. Aber ich verspreche Euch, so ver schwiegen wie möglich zu sein.« Tazey sah sie erleichtert an und nickte; sie verstand den Unter schied. Sternenfalke dachte gerade noch: Sie ist nicht schwanger und hat auch nichts von einem Invasionsplan Incarsyns erfahren…. be vor das Mädchen sagte: »Es geht um Jeryn. Er ist verschwunden. « »Wann?« Sie schüttelte den Kopf. »Heute morgen – vielleicht letzte Nacht. Ich weiß nicht. Ihr wißt, daß Vater sich mit Hauptmann Sonnenwolf gestritten hat.« Sternenfalke zuckte ungeduldig die Achseln. »Der Anführer streitet sich mit jedem, für den er arbeitet. Das hat nichts zu sagen. Er wird zurückkommen.« »Jeryn… « Tazey zögerte. »Jeryn fragte mich in der Nacht, in der der Hauptmann ging, ob sie sich gütlich getrennt hätten. Er sagte, daß er es nicht glaube, da Ihr noch hier seid. Und ich sagte, daß ich glaube, er… er sei zur alten Stadt Wenshar gegangen.« Sternenfalkes Augen verengten sich. »Und wieso glaubt Ihr das?« Der absinthgrüne Blick wich dem ihren aus. »Es ist die Art von Ort, zu der er vielleicht gehen würde, wenn… wenn er sich für Ma gie interessiert und keine Angst vor den Geschichten hat.« Das Ge sicht immer noch abgewandt, fuhr sie hastig fort: »Und dann ging ich heute morgen zu Jeryn aufs Zimmer – weil er doch gestern so aufgeregt war. Onkel Nanciormis hatte bei seinen Lektionen etwas zu ihm gesagt – Ihr wißt, daß mein Onkel ihn wieder unterrichtet? Ich glaube, er nannte ihn einen Feigling… « Sie warf dem Falken einen erneuten Blick voller Kummer und Schmerz zu, den sie weder kontrollieren noch ausräumen konnte. »Und er ist kein Feigling, 452
wirklich nicht. Nur… Na, jedenfalls war sein Bett leer. Und ich fürchte, daß er dem Hauptmann nachgegangen ist.« Sternenfalke dachte eine Weile schweigend darüber nach und fragte sich, wieviel von dieser offenbar erfundenen Geschichte wohl auf Wahrheit beruhte. Tazey hatte den Blick gesenkt – sie war eine furchtbar schlechte Lügnerin. Ihre Hände, lang und schlank wie die von Nanciormis und vermutlich auch ihrer Mutter, wenngleich von der Sonne braungebrannt wie die eines Rinderhirten, nestelten ner vös an den Seidenfalten ihres Rockes. »Euch ist doch bewußt, um wie vieles wahrscheinlicher es ist, daß er sich hier irgendwo versteckt, weil es Zeit für seine Lektionen ist? Vor allem, wenn Euer Onkel ihn einen Feigling genannt hat.« Tazey errötete wieder und schüttelte heftig den Kopf. »Ich… ich habe überall nach ihm gesucht. Ich kenne doch seine üblichen Ver stecke. Er ist nicht mehr in der Festung. Ich bin ganz sicher.« Sternenfalke fragte sie nicht, woher sie das wußte, weil sie dann doch nur wieder eine Ausrede gehört hätte. Sie warf einen Blick hinaus über das Schwemmland zu der zerklüfteten schwarzen Linie der Geisterberge, die sich hinter ihrem Hitzeschleier verbargen, dann sah sie erneut das Mädchen an. »Ich habe erst nach dem Frühstück frei.« Nach dem Winkel der Schatten zu urteilen, die auf dem Antlitz des Binnig-Felsens lagen – jener riesigen Halbkuppel aus Granit, die sich düster auf den schrundigen Schultern des Rückgrats des Dra chen erhob, wo sie sich dicht vor dem Hügel der Festung Tandieras drängten –, würde das nicht mehr lange dauern. »Angesichts der verstrichenen Zeit glaube ich kaum, daß eine weitere Stunde für Jeryn einen großen Unterschied macht.« Sie fügte hinzu: »Ihr wißt, daß wir nicht allein losziehen können.« Das Mädchen schluckte ängstlich. »Ich gehe die ganze Zeit ohne Shebbeth reiten.« »Das meine ich nicht, und Ihr wißt es«, sagte der Falke grob. »Könnt Ihr Incarsyn trauen?« Ein langes Schweigen folgte, in dessen Verlauf Tazey zwischen dem, was sie glauben wollte, abwägen mußte. »Er würde es nicht verstehen.« Sie suchte nach einer Möglichkeit, der Tatsache Aus druck zu verleihen, daß der Prinz, den sie sich gern als vollkommen vorstellen wollte, in Wirklichkeit nichts mit ihr gemeinsam hatte. »Er würde es nicht für angemessen halten, daß ich gehe. Ich meine, daß ich ein Pferd reite… « Unglücklich fügte sie hinzu: »In seinem Volk werden alle adligen Damen in Sänften getragen.« 453
Sie unterbrach sich, blickte zur Seite, kämpfte gegen den Kloß in ihrer Kehle an, der sich nicht mit der Romantik der feurigen Wer bung des Prinzen vereinbaren ließ. Das Schlimmste daran ist, vermu tete Sternenfalke, daß Incarsyn es nie verstehen würde. Aber es gab nichts, was sie sagen konnte; um Schlimmeres zu vermeiden, kam sie auf das unmittelbare Thema zurück. »Wir wer den einige Wachen finden müssen, die ihren Mund halten können. Ihr kennt sie wahrscheinlich besser als ich. Denkt darüber nach, bis wir uns nach dem Frühstück wiedertreffen.« »In Ordnung.« Erleichtert, daß Sternenfalke nicht aus Mitleid in der offenen Wunde herumgestochert hatte, lächelte Tazey, raffte ihre Röcke und stieg die Leiter in das darunterliegende Turmzimmer hinab. Ein paar Minuten später konnte Sternenfalke sie als verkürztes rosenrotes und strohblondes Oval sehen, das von der Tür am Fuß des Turms in Richtung Saal eilte. Eine gute, pflichtgetreue Tochter, dachte sie mit ironischem Mit gefühl, die ihr Bestes tat, einem Bräutigam, den sie akzeptieren muß te, auf halbem Weg entgegenzukommen. Was blieb ihr denn übrig? Sie hatte nicht einmal die Freiheit, zu wählen, wie Sternenfalke einst gewählt hatte, nämlich zwischen dem einsamen Mystizismus des Klosters und einem Leben als verzärtelte Zuchtstute und Bettgefähr tin eines Mannes. Das Bündnis mit einem Wüstenlord, der fast mächtig genug war, um eine Bedrohung darzustellen, mußte einge gangen werden – die Mitgift war schon bezahlt. Wäre das Mädchen fähig gewesen, ihrem Vater gegenüber ein gutes, schlagendes Argu ment gegen die Verbindung vorzubringen, hätte sie vielleicht eine Chance gehabt. Aber nicht einmal sich selbst gegenüber konnte sie sich das Vergnügen ihrer eigenen Freiheit leisten. Weshalb einen Mann aufgeben, der jede nur erdenkliche Ähnlichkeit mit dem per sönlichen Traumprinz hat, nur weil man dann vielleicht nicht mehr reiten durfte? Sternenfalke schüttelte den Kopf. Das Unangenehme am Glauben an die Mutter – oder den Trigott der Trinitarier – war die damit ver bundene Überzeugung, daß die Geschehnisse eine Art universelle Bedeutung hatten. Sonnenwolf wußte wenigstens mit Bestimmtheit, daß die Geister seiner dahingegangenen Ahnen nicht mehr in der Lage waren, in die zufälligen Geschehnisse auf dieser Welt ein zugreifen, als er selbst es war – obgleich sie sie, da sie tot waren, voraussahen. Sie selbst hatte es schon lange aufgegeben, Gut von Böse zu unterscheiden, und war's zufrieden, daß sich alles im Un 454
sichtbaren Kreis bewegte. Dennoch tat ihr das Mädchen von Herzen leid. Sternenfalke sah Prinz Incarsyn eineinhalb Stunden später, als sie zu ihrem späten Frühstück den Saal betrat. Einige Jahre jünger als sie, sah er verblüffend gut aus und hatte die anmutige Vitalität eines Mannes, der eher mit seinem Körper als mit seinem Intellekt denkt. Die Kleidung der Wüste trug noch zu der wilden Schönheit seiner Bewegungen bei – weite Hosen und Halbstiefel, ein Wappenrock aus dunkler, indigofarbener Seide, dick mit goldenen Stickereien besetzt, und darüber der fließende weiße Mantel der Shirdar. Wie bei allen Menschen der Wüste hatte sein Teint die Farbe von sonnengefärbter Bronze, und schwarzes, lockiges Haar wallte von seinen Schläfen, wurde von juwelenbesetzten Nadeln zurückgehalten und fiel auf seinem Rücken fast bis zur Taille hinab. Er blieb stehen und führte Tazey graziös von der Empore herunter, um sich vor Sternenfalke zu verbeugen, als sie eintrat, und Tazey, ihre Hand noch in der seinen, konnte sich sichtlich nicht entscheiden, ob sie sich bei ihm entschul digen sollte, um mit Sternenfalke zu sprechen, oder ihn zu weiteren Aufmerksamkeiten ermutigen sollte. Die Tatsache, daß Incarsyn offenbar keinen Zweifel an ihrer Be gleitung hatte, machte die Entscheidung nicht leichter. Sternenfalke sagte: »Laßt mich erst frühstücken, und dann sehen wir uns in ein paar Minuten«, worauf das Mädchen nickte, dankbar, daß ihr die Qual der Wahl abgenommen worden war. Da Incarsyn den Eindruck hatte, daß Tazey sehr schüchtern sei, übernahm er ritterlich den Löwenanteil des Gesprächs, als er sie zur Saaltür führ te, deutlich ihre Verwirrung auf sich beziehend. Seine weiche, gut modulierte Stimme verlor sich im allgemeinen Stimmenwirrwarr, das von der hohen Decke des Saals widerhallte, während Sternenfal ke zu Kalethas kleinem Tisch trat. »Das gefällt mir nicht«, brummte Norbas Milkom an der Hohen Tafel neben dem König. Er bediente sich von dem Teller mit Schin ken, wobei der Diamant von der Größe eines Kaninchenauges an seinem knorrigen schwarzen Finger regenbogenfarbige Funken ver sprühte. »Ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich bin hier, um es dir nochmals zu sagen – das gefällt mir nicht, und den Minenar beitern ebensowenig. Diese Heirat zwischen den Stämmen! Wieso läßt man das Mädchen nicht ihresgleichen heiraten, he? Einen mei ner Jungen oder Quaal Ambergados' Sohn. Die Drei Götter wissen, daß wir so wohlhabend sind wie irgendeiner dieser Wüstenlords, die 455
mit ihrer Handvoll Gefolgsleute und Ziegen über den Sand schlei chen – Geld, das wir ehrlich verdient haben, mit eigenen Händen aus dem Boden gegraben haben und nicht, indem wir unschuldige Händ ler beraubten.« Nanciormis, der an der anderen Seite des Königs saß, schwieg, aber seine wulstigen Augen funkelten angesichts dieser Herabset zung seines Volkes. Sternenfalke sah, wie Anshebbeth – die ergeben um Tazey und ihren Bräutigam herumschlich, aber wie üblich nahe genug an der Hohen Tafel stand, um zu tauschen – sich umdrehte und mit wütender Miene Milkom anstarrte. War sie wegen der Shirdar verärgert – ihrem eigenen Volk, ob gleich sie im Haushalt des Königs arbeitete und es aufgegeben hatte, wie die Wüstenfrauen verschleiert zu gehen? fragte sich Sternenfal ke. Oder war sie es wegen Nanciormis? Dem Falken war nicht ent gangen, daß Anshebbeths Blick, während sie sich um ihre eigenen Sachen kümmern sollte, immer wieder zu den breiten, grünen Samt schultern des Kommandanten abschweifte. »Königinnen müssen Könige heiraten, Norbas«, sagte Osgard ru hig. »Wenn sie nicht einen der Wüstenlords zum Mann nehmen würde, hätte es einer der Söhne der Lords aus den Mittleren König reichen sein müssen.« »Warum müssen sie?« fragte Milkom, wobei er die Stirn runzelte und sich die alten Stammesnarben auf seinem Gesicht wie gedrech selte Taue spannten. An Nanciormis' Seite beugte sich, glitzernd vor Gold- und Silberschmuck, Bischof Galdron vor. »Ich bekenne mich zu einer gewissen Sorge um das Wohlergehen von Prinzessin Taswinds Seele«, sagte er mit seiner salbungsvollen Stimme. »Bedenkt, die Shirdar sind Heiden und verehren die Dschins der Wüste. Als Frau aus einem Alten Haus wird man sie in den Kult der Familie einführen. Es gibt dort böse Einflüsse…« »Der alte Scharlatan sieht böse Einflüsse unter seinem Nacht topf.« Die Stimme sprach fast in Sternenfalkes Ohr. Verblüfft fuhr sie zu dem Platz an ihrer linken Seite herum, den sie für leer gehalten hatte – verdammt noch mal – sie hatte noch einen Augenblick zuvor den Kopf gedreht und gesehen, daß er leer war. Jetzt saß der Novize Egaldus dort, eine Tasse Kaffe in den gepflegten Händen, und lä chelte in stillem Triumph über ihr und Kalethas Erstaunen. »Nicht schlecht, was?« grinste er, und sein Blick sprang jungen haft von einer zur anderen. Kalethas Rücken schien sich zu versteifen. »Kaum ein angemes 456
sener Gebrauch deiner Kräfte.« »Kaletha…« Er langte an Sternenfalke vorbei, um seine Hand auf die kalten, weißen Finger der Hexe zu legen. Kaletha machte Anstal ten, sie ihm zu entziehen, tat es dann aber doch nicht. »Ich muß ihn heute nachmittag begleiten. Vielleicht, wenn ich später komme?« Die hellblauen Augen brannten vor Hoffnung. Kaletha wandte ihr Gesicht ab, aber ihre Hand blieb, wo sie war. »Ich habe Macht – du hast sie in mir erweckt«, schmeichelte er ihr. »Du bist die einzige, die mich unterrichten kann. Bitte.« Er versteht es sichtlich, zu fragen, dachte Sternenfalke amüsiert. Kein Wunder, daß Sonnenwolf Kalethas Ärger heraufbeschworen hat. Heiser rief die Stimme der alten Nexué: »Na, wenn das nicht un sere kleine Majestät ist!« Sternenfalke blickte auf und sah, daß Ta zey wieder den Saal betreten hatte. »Er hat Euch wohl einen flüchti gen Vorgeschmack auf den Hochzeitsschmaus gegeben, he?« Heftig errötend eilte Tazey dorthin, wo Sternenfalke saß, während die alte Frau und die schwatzenden Wäscherinnen in ihrer Nähe unter ausge lassenem Gejohle aus der Küchentür quollen und sich wieder an die Arbeit machten. Der König und sein Hofstaat hatten sich erhoben und waren gegangen; die Hohe Tafel war jetzt bis auf Nanciormis leer. Er saß allein und strich mit schlanken Fingern über den silber nen Weinbecher vor sich, die dunklen, geschwungenen Brauen nachdenklich zusammengezogen. Anshebbeth, die auf der Empore in irgendeine Träumerei versunken gewesen war, war beim ersten Ke ckern der alten Frau aufgesprungen, hatte mit dem Fuß aufgestampft und ihr laut zugeschrien: »Hör auf damit! Wie kannst du es wagen, du schmutziges Weib!« Aber da war Nexué schon wieder fort. »Shebbeth, nicht«, flehte Tazey, obwohl ihre eigenen Wangen so rot waren, als wären sie verbrannt. »Sie hat es nicht böse gemeint.« Als sie und Sternenfalke die dunkle Innentreppe zu ihren Gemä chern hinaufstiegen, damit Tazey ihre Reitkleidung und die Kopf schleier wechseln konnte, fügte sie hinzu: »Sie – und Kaletha, die das insgeheim in Weißglut versetzt – sollten mittlerweile wissen, daß Nexué es nur noch schlimmer treibt, wenn man zeigt, daß man sich über ihre Bemerkungen aufregt.« Bei den Pferchen kamen zwei junge Wachen namens Pothero und Shem auf sie zugeschlendert, die, wie Sternenfalke vermutete, seit ihrer Kindheit mit Tazey befreundet waren. Als sie näherkamen, 457
sagte Shem, der schwarz und der größere der beiden war: »Jeryns Pony, Mauerauge, ist verschwunden.« Tazey fuhr erschrocken zusammen, dann faßte sie sich wieder und nickte. »Ja, ich… ich weiß«, stammelte sie – aber sie hatte es nicht gewußt. Wenn sie es gewußt hätte, dachte Sternenfalke und richtete ihre Schleier, hätte sie es als Beweis vorgebracht. Sie wußte, daß er verschwunden war, hat mir aber nicht sagen wollen, wie. Mit dem unbehaglichen Gefühl, daß die Dinge nicht zusammenpaßten, bestieg sie den Braunen, den die Burschen für sie gesattelt hatten, und folgte Tazey durch das Festungstor und die Hügelkuppe zwi schen steilen Felspassagen hindurch auf das Niveau des Wüstenbo dens. Die beiden jungen Wachen bildeten den Schluß, und ihre Kopf Schleier flatterten in der trockenen Hitze des späten Morgens. Die Stille der Luft steigerte Sternenfalkes Unruhe. Die Hufe der Pferde verursachten ein prasselndes Geräusch, wie Wasser, das man auf die harte, staubbedeckte Erde wirft; die elektrisierte Luft prickel te an ihren Wangen. Es war Herbst, die Jahreszeit der mörderischen Stürme – die Jahreszeit der Hexen, wie man sie in Wenshar nannte. Sie wußte, daß man nicht sagen konnte, wann ein solcher Sturm losbrechen würde. Sie überließen sich bei ihrem Ritt ganz der Macht des Schicksals. »Weshalb glaubt Ihr, daß Jeryn den Hauptmann in Wenshar su chen wird?« fragte sie, als die hoch aufragende, dunkle Masse von Tandieras, der Hügelfestung, und die schrundigen Schultern des Binnig-Felsens hinter ihnen zu einem Massiv verschmolzen. Vor ihnen breitete sich harter und braungebrannter Boden aus, da und dort besetzt mit weit voneinander entfernt stehenden Büscheln drah tigen Grases und einem gelegentlichen Kamelienstrauch mit wäch sernen Blättern. Trotz der Nähe des Winters war es immer noch drückend heiß; die Hitze flirrte, verwandelte die Luft in Wasser, verschleierte die zerklüftete Linie des dunklen, an den Gipfeln ver eisten Sandsteingebirges weit vor ihnen. »Und sagt nicht, Ihr wüßtet es nicht«, fügte Sternenfalke hinzu, und Tazey biß sich auf die Lip pe. Eine Weile konzentrierte sich das Mädchen nur auf die öde Landschaft vor ihnen, während die behandschuhten Hände sicher und ruhig die Zügel hielten. Dann neigte sie ihren Kopf ein wenig, wie aus Scham. »Ich sagte doch schon«, murmelte sie, »daß Wenshar ein Ort ist, zu dem jemand von magischer Abstammung bestimmt gehen würde. 458
Wegen der Hexen.« »Wegen wem?« Ihre Stimme war über dem leisen Dröhnen der Hufe auf steinhar tem Boden kaum zu hören. »Na, wegen der Hexen von Wenshar.« Sonnenfalke zwang ihr Pferd auf gleiche Höhe mit dem dickna ckigen Braunen des Mädchens, so daß sie Knie an Knie ritten. »Ich habe noch nie von ihnen gehört.« »Vater mag es nicht, wenn man über sie spricht.« Tazey warf Sternenfalke einen nervösen Blick zu, wandte sich aber gleich wie der ab. »Es gab einmal ein Sprichwort in der Stadt – das heißt, es gibt es immer noch: ›Böse wie die Hexen von Wenshar‹. Manchmal heißt es auch ›Böse wie die Frauen von Wenshar ‹, weil alle Frauen der Alten Häuser von Wenshar Hexen waren. Ihre Seelen wurden deshalb verdammt, sagt der Bischof. Sie konnten Sandstürme herbei rufen und wieder verschwinden lassen; sie konnten mit ihren Händen den Wind teilen und bei hellichtem Tag durch das Kämmen ihrer Haare die Dunkelheit heraufbeschwören, und sie konnten die Toten zum Leben erwecken. Sie waren grausam und böse und herrschten über alle Länder an den Ausläufern des Rückgrats des Drachen, bevor die Lords der Mittleren Königreiche kamen und ihnen die Länder stahlen und die anderen Wüstenlords verdrängten. Ich nehme an, daß Vater deshalb so zornig war, als er herausfand, daß alle Leh rer von Jeryn magischer Abstammung waren.« »Wegen des Rufs, den Leute von magischer Abstammung in Pardle Sho haben?« fragte Sternenfalke verblüfft. Tazey wandte sich ihr wieder zu und blickte sie aus ihren großen grünen Augen unter dem Gazeschleier hervor an. »Wegen Mutter. Sie war die letzte Prinzessin der Alten Häuser von Wenshar. Vater fürchtet – hat immer gefürchtet – , daß die Leute sagen könnten, das Böse liege uns im Blut. Und das tut es doch nicht«, fügte sie ernst hinzu, als sei sie besorgt, daß Sternenfalke ebenfalls so denken könn te. »Jeryn kann Kaletha nicht ausstehen. Ich…« Sternenfalke hob eine Hand und brachte sie zum Schweigen, dann zügelte sie ihr Pferd. »Bleibt stehen!« befahl sie den anderen scharf und schwang sich aus dem Sattel, während Tazey an ihre Seite zurückgetrabt kam. »Ihr verderbt mir sonst die Spuren.« »Was ist?« Sie hatten die rauhe Steinebene des Schwemmlands erreicht, ei ner Landschaft, neben der die spärliche Vegetation am Fuße der Berge wie der reinste Lustgarten wirkte. Nichts wuchs und nichts 459
lebte hier. Die Samen, die anderswo, auf den Regen wartend, im Wüstenboden schlummerten, waren hier schon längst im Schlaf gestorben; der ewige Teppich aus Kies lag heiß, schwarz und voll kommen leblos zu ihren Füßen. Sternenfalke spürte das Brennen durch die Sohlen ihrer Stiefel, durch das Wildleder ihrer Reithose, wo ihre Knie den Boden berührten und durch ihre behandschuhten Hände. Die Stürme konnten das Schwemmland in einen tödlichen Steinhagel verwandeln – die Reiter hatten schon zweimal haltge macht, um die kleinen, tückischen Steine aus den Hufen ihrer Pferde zu entfernen. Nun hob Sternenfalke einen kleinen Stein auf und hielt ihn gegen die heiße Nachmittagssonne. Am unteren Rand war ein schwacher Blutfleck. Sie roch daran, benetzte ihren Finger und berührte dann den ge trockneten Schmierfleck. »Letzte Nacht, schätze ich.« Sie warf den Stein weg. »Seht, hier sind weitere.« Pothero sprang ein paar Schritte weiter vorn ab. Der Fleck auf diesem Stein war kleiner, kaum ein Fleck zu nennen. »Keine Tropfen.« Sternenfalke kniff die Augen zusammen und spähte über den öden Steinteppich des Schwemmlands. Im Hitzeflir ren erhoben sich erodierte Säulen aus sonnengeschwärztem Gestein vom kahlen Kiesboden, einzeln oder in unterbrochenen Reihen. Tsuroka, wie die Shirdar sie nannten – Wachposten der Wüstend schins, die Ausschau über das tote Land hielten. »Wie gut kennt Jeryn sich mit Pferden aus, Tazey?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nicht sehr gut. Er haßt das Reiten. Er bekam immer einen Sonnenbrand, weil er nicht oft genug ritt, und außerdem schmerzte ihn der Hintern. Vater und Onkel Nan ciormis wollten immer, daß er Pferde reitet, die zu stark für ihn sind – um seinen Mut aufzubauen, wie sie sagten.« Sternenfalke fluchte verhalten. Tazey fuhr fort: »Mauerauge war früher mein Pony; es ist bloß eine fette, alte Schnecke, auf der Jeryn schon im Alter von fünf rei ten konnte. Aber er mochte das Pony immer am liebsten, weil er keine Angst vor ihm hatte.« »Hat er denn Angst vor Pferden?« Das Mädchen zögerte, dachte darüber nach. »Nicht vor Pferden im allgemeinen«, sagte sie nach einer Weile. »Aber vor den Pferden, die unser Onkel ihm gibt, ja. Und die sind ziemlich feurig.« Sie lä chelte. »Dies hier, das ich gerade reite, gehört eigentlich ihm.« 460
»Euer Vater«, begann Sternenfalke und warf dem nervösen, un ruhigen Braunen einen Blick zu. Dann seufzte sie und ließ die Beo bachtung unausgesprochen. »Schwärmt aus«, befahl sie den Wachen. »Scheint so, als hätte der alte Mauerauge sich einen Stein eingefan gen. Seht zu, ob ihr nicht weitere Spuren finden könnt.« Etwas später fanden sie noch mehr Blut. Als sie, nach abermals zwei Kilometern, zu einem großen grauen Sandfleck kamen, den der Sturm der letzten Woche hinterlassen hatte, hatten selbst die ewigen Böen der Wüstenwinde die Markierungen nicht ganz auslöschen können, die darauf hinwiesen, daß Jeryn sein Pony immer noch gerit ten hatte. Wieder fluchte Sternenfalke – jene derben Verwünschun gen, die nur die Verehrer der Mutter kannten. »Er weiß es nicht besser«, bemerkte Tazey. »Trotzdem hätte er das wehrlose Tier nicht so belasten dürfen«, gab Sternenfalke zurück. »Er muß doch gemerkt haben, daß es we gen der Steine so lahmt.« Sie richtete sich auf, um wohl zum fünftenmal an diesem Nach mittag den heißen, südlichen Horizont abzusuchen. Doch die Erde lag still. Die Trennungslinie zwischen Schwarz und Blau war klar und deutlich zu sehen, wie mit Messer und Lineal gezogen. Die Schatten neigten sich gen Osten, kohleschwarz und langgestreckt. Sie hatten seit dem Tandieras-Paß an die zwanzig Meilen zurückge legt, und nahezu zehn weitere in Richtung auf die flache, einwärts gekrümmte Ostwand der Geisterberge, in denen die Stadt Wenshar liegen mußte, standen ihnen noch bevor. Beklommen sagte Shem: »Vor Einbruch der Dunkelheit werden wir Jeryn in den Ruinen nicht mehr finden.« Potheros dunkle Augen bewegten sich hinter den Kopfschleiern. Geschichten, hatte Tazey gesagt. Was für Geschichten wohl über eine Stadt, die seit anderthalb Jahrhunderten tot war? »Er wird wissen, daß wir nach ihm suchen«, wandte Shem ermu tigend ein. Er lüftete seine Schleier ein wenig, um einen Schluck aus einem der Wassersäcke zu nehmen. Seine Zähne blitzten in einem unbehaglichen Grinsen auf. »Zum Teufel, er wird wahrscheinlich am Rand der Ruinen auf uns warten oder uns wieder entgegenkommen, lahmes Pony hin oder her. Er wird ebensowenig an diesem Ort sein wollen, wenn die Nacht kommt, wie an… « »Wenn er so weit gekommen ist.« Sternenfalke machte ein paar weitere Schritte und hob etwas vom Boden auf – ein einzelner Faden aus weißem Musselin, aber hell wie ein Banner vor dem bleifarbenen 461
Kies. Sie hielt ihn hoch. »Er muß sein Kopftuch zerrissen haben, um damit den Huf des Ponys zu umwickeln. Dümmer kann man sich gar nicht anstellen – ihm muß doch klargewesen sein, daß er seinen Kopf nicht der Sonne aussetzen darf – aber wahrscheinlich ist er unter wegs zum nächsten Ort, der ihm Schutz bieten kann.« Sie warf Ta zey einen Blick zu. »Schließlich ist er nicht dumm, oder? Nur ver dammt unwissend.« Das Mädchen nickte unglücklich. »Vielleicht zu den Felsen?« Shem deutete nach Norden, wo sich ein verwittertes Felsplateau aus dem Sand erhob wie ein gestrandetes Schiff, das mit dem Heck in der schweren See hängt. Sternenfalke überlegte, dann blickte sie nach Südosten, wo etwa fünf Meilen entfernt drei Tsuroka standen, zerfallende, zinderfarbene Säulen, die vom Nachmittagslicht kastanienbraun gefärbt waren. »Ich denke, er wird zuerst umgekehrt sein, in der Annahme, daß er es noch nach Tandieras schaffen könnte. Als er erkannte, daß es nicht möglich war, wird er denen dort nähergewesen sein. Ihr Jungs reitet nach Norden – wir wenden uns nach Süden. Zündet ein Feuer an, wenn ihr ihn findet.« Es war Sternenfalke, die ihn fand, als ihr Pferd laut aufwieherte, während sie sich den losen Halden aus Schutt und Geröll um die Tsuroka näherten. Ein leises Wiehern kam als Antwort. Jeryn hatte sich in den langen, purpurnen Schatten eines überhängenden Fels blocks zusammengerollt. Sein nacktes Gesicht war von der Sonne verbrannt und trotz der Fettschicht von Wolfs Sonnenschutzcreme mit Blasen bedeckt. Tränenspuren zerschnitten den Staub und Schmutz wie Wasserrinnen das Antlitz der Wüste. Er schlief, er wachte jedoch weinend, als Tazey seinen Namen rief, und kam den Schuttberg herunter auf sie zugestolpert; Bruder und Schwester um armten sich verzweifelt, und Sternenfalke konnte sehen, daß der Junge von der Sonne ausgedörrt und fiebrig war. Immer wieder schluchzte er: »Sag Vater nichts! Versprich mir, daß du Vater nichts sagst!« »Das werden wir nicht«, wisperte Tazey beruhigend, während die heißen, verzweifelten Hände sich an ihre Hemdsärmel und Schleier klammerten. »Wir haben alle geschworen, es als Geheimnis zu be wahren, weiß du, wir… « »Ich hab's nicht geschafft«, schluchzte Jeryn. »Aber ich bin kein Feigling – Onkel sagte, ich sei ein Feigling, wenn ich ihn nicht zu rückholte, weil mir der Unterricht von Onkel nicht gefiel. Aber ich 462
bin es nicht… ich bin es nicht. Wird Mauerauge wieder gesund?« Sternenfalke hatte sich schon den gespaltenen und blutenden Huf des armen Ponys angesehen. Sie nahm den hängenden Kopf des Tieres und ließ den Großteil ihres wertvollen Wassers seine Kehle hinablaufen. Sie wußte, daß Jeryn, obwohl er vermutlich daran ge dacht hatte, Wasser für sich selbst mitzunehmen, zweifellos verges sen hatte, daß Pferde auch trinken. »Ich weiß nicht«, sagte sie grob, immer noch zornig über den Zustand des Ponys. »Es wird einen verdammt guten Roßarzt brauchen, um diesen Huf wieder in Ord nung zu bringen.« »Ich habe getan, was ich konnte«, schluchzte der Junge kläglich, nach wie vor in die Arme seiner Schwester geschmiegt. »Er… er darf nicht sterben… Ach, es ist alles meine Schuld.« Sternenfalke öffnete den Mund, um ein paar wohlplazierte Worte über Unwissenheit zu verlieren, die in früheren Zeiten zu Striemen auf der zähen Haut von Söldnern geführt hatte, dann schloß sie ihn wieder. Was immer man sagen konnte, Jeryn, der sein armes Pony in diesen Schlamassel gebracht hatte, hatte es nicht darin gelassen; und in Anbetracht der Angst, die der Junge ausgestanden haben mußte, sprach das sehr für ihn. Daher sagte sie nur: »Wenn wir ihn nach Tandieras zurückbringen können, dürfte er wohl wieder in Ordnung kommen.« Sie blickte zurück auf die heiße, schwarze Fläche des Schwemm lands, dann zu den zwei Kindern, auf den schluchzenden Jungen, der sein verbranntes Gesicht gegen Tazeys Schultern preßte. »Und ich denke, Euer Onkel verdient es, daß man ihn auspeitscht, genau wie Euer Vater. Das war nicht Mut – das war verbrecherische Dumm heit.« »Onkel wollte doch nicht…«, begann Tazey, die der völlig mo notone Tonfall der Söldnerin mehr ängstigte als alle Wutausbrüche ihres Vaters zusammen. »Euer Onkel«, erwiderte Sternenfalke mit unterdrücktem Zorn, »will wohl nie irgendwas mit seinem Reden und Handeln, jedenfalls nichts Böses. Die meisten Leute, die Schaden anrichten, wollen es nicht. Er ist wie ein kurzsichtiger Mann, der nur klar sieht, was er sehen will, und nicht lange über etwas anderes nachdenkt.« Sie klet terte aus der schattigen Felsspalte hervor, und der Boden brannte wieder unter ihren Stiefelsohlen, als sie zu den Pferden zurückging und ein paar Handvoll Mesquit- und Akazienzweige holte, die hinten an ihrem Sattel befestigt waren. Sie hatte sie am Rand des 463
Schwemmlands aufgelesen, weil sie wußte, daß sie, wenn ein Signal erforderlich wäre, dort draußen nichts Brennbares finden würde. Das ist das Glück eines Soldaten, dachte sie, als sie eine Anzahl schwerer Rindenstücke und einen Feuerstein samt Stahl hinübertrug, daß die Sonne gerade die Kraft verloren hat, die nötig wäre, um mit einem Brennglas Feuer zu machen. Als sie den Funken so weit gebracht hatte, sich in einen hauch dünnen Rauchfaden zu verwandeln, warf sie einen Blick zurück. Tazey hatte ihre Schleier abgenommen, sie mit Wasser getränkt und damit das geschwollene Gesicht ihres Bruders umwickelt. »Ihr wißt, daß Euer Vater Euch inzwischen suchen wird.« Das Mädchen nickte unglücklich. Jeryn, der sich immer noch an ihre Hüften klammerte, brach in ängstliche, halb deliröse Schluchzer aus. Sternenfalke suchte wieder den südlichen Horizont ab, schätzte die Müdigkeit der Pferde ab, dachte an das Aussehen des gestrigen Mondes und den Stand ihres Wassers. Der Himmel über der Ebene war klar, nicht verschwommen von den verräterischen Staubteilchen, und dennoch sträubten sich ihre Nackenhaare bei diesem Anblick. Über dem Schwemmland im Norden vergoldete die Sonne eine Wolke aus Staub, als Shem und Pothero über die weite Ebene auf sie zugeritten kamen. »Kommt«, sagte sie leise. »Wir haben unser Glück lange genug herausgefordert. Wir müssen zurück.« Der Sturm zog über dem südlichen Horizont auf, als sie sich ei nige Meilen von den Felsen entfernt hatten. Sternenfalke hatte das wachsende Unbehagen der Pferde, die Hitze und das dumpfe Pochen in ihrem Kopf gespürt und ihren Blick wieder und wieder zum leeren Südteil des Himmels gewandt. Jetzt sah sie es, ein tödliches Glitzern wie Gold, das langsam auf sie zuzog, Dunkelheit und Blitze mit sich bringend. Ihr Pferd ließ den Kopf emporschnellen, als Entsetzen seine Trägheit übermannte. Sie zwang seine Schnauze wieder in den Wind und hörte im selben Augenblick, als sie »Zu den Felsen!« rief, Shem aufschreien und das Klappern losgaloppierender Hufe. Durch einen Nebel aus Staub und die im Wind flatternden Enden ihrer Schleier sah sie, daß er abgeworfen worden war. Die Wölke vor ihnen schwoll mit unglaublicher Geschwindigkeit an, die Bruthitze des Sturms umgab sie, und braune Dunkelheit brach herein. Die Pferde wurden wild, selbst der lahme Mauerauge wollte durchgehen und vor dem Sturm davon laufen, obwohl sie nicht hof fen konnten, ihm zu entgehen. Pothero versuchte, Shem zu sich in 464
den Sattel zu heben, aber sein gescheckter Wallach warf sie beide ab und galoppierte inmitten eines Wirbelwinds aus Sand und Steinen nach Norden. Die Luft war stauberfüllt, heiß und stickig. Aufgewirbelter Kies prasselte gegen Sternenfalkes Gesicht, als sie ihr Pferd zum Halten zwang. Elektrizität spannte sich wie ein Schraubstock um ihren Schädel – im heulenden Nebel der hereinbrechenden Finsternis konnte sie trockene Blitze sehen, die von der Erde zum Himmel übersprangen. Sie schwang sich aus dem Sattel und wollte Tazey zurufen: »Wir können die Pferde töten und als Windschutz benut zen!« Doch sie wußte, daß es ihre letzte Chance und beinahe nutzlos war. Das Kreischen des Windes riß ihre Worte mit sich. Wie durch dichten Nebel sah sie, daß Tazey s Pferd sich aufbäumte, aus dem Gleichgewicht gebracht von den zwei Kindern auf seinem Rücken. Etwas Großes und Schwarzes, der fliegende Stamm eines Akazien baumes, nahm sie an, kam wie ein bösartiger Geist aus der Düsternis herangewirbelt und traf auf ganzer Länge das Pferd. Sie stürzten um, und Tazey zerrte ihren Bruder mit sich. In panischer Angst riß Ster nenfalkes Pferd seinen Schädel zurück, schnappte nach den Zügeln in ihren Händen. Dann war es auch fort. Mit unerträglich pochendem Kopf und vor Austrocknung schmerzendem Körper spähte Sternenfalke durch den schwarzen Nebel aus stickigem Staub. Ein sekundenlanger heller Blitz zeigte ihr den halbdunklen Umriß des Mädchens, das in den Sturm hinauswan derte, das unverschleierte Haar heftig flatternd, als sie die Hände hob. Im ersten Augenblick dachte Sternenfalke, daß sie ihre Augen vor dem Staub schützen wollte. Aber ein weiterer kurzer Blitz ließ keinen Zweifel daran, daß Tazey sie dem Wind entgegenstreckte, die Finger wie ein Keil zusammengepreßt. Und, als wären sie wirklich ein Keil, teilten sich die Sturmwinde vor ihnen. Sternenfalkes erster Gedanke war: Deshalb wußte sie, wo ihr Bruder zu finden sein würde. Die Gewalt des Sturmes strich an Tazeys Fingern vorbei wie Wasser, das sich an einem Felsen bricht und einen pfeilförmigen Bereich der Ruhe hinterläßt. In diesem unheimlichen Bereich berühr ten nur winzige Windstöße und -wirbel Sternenfalkes Gesicht, aber auf beiden Seiten konnte sie die schweren Staubvorhänge und den kreischenden Lärm von über Kies hinwegstreichendem Sand hören. Die zwei jungen Wachen starrten, benommen vor Schreck und Ent 465
setzen, auf diese schwertschlanke Gestalt in der drückenden Finster nis; aber als der eine seinen Mund öffnete, um etwas auszurufen, lief Sternenfalke mit Jeryn, der sich nun verzweifelt an sie klammerte, zu ihm hinüber und sagte ruhig: »Sprich es nicht aus.« Der junge Mann starrte sie an, wobei ihm Blut vom aufgewirbel ten Kies und Schutt über das Gesicht lief und seine Schleier befleck te. »Aber… « »Du störst ihre Konzentration, und dann müssen wir alle ster ben.« Sternenfalke hatte zuvor schon mit Zauberern zu tun gehabt; die zwei Jugendlichen hatten es nicht. Sie richteten ihre entsetzten Au gen wieder auf das Mädchen, mit dem sie aufgewachsen waren, als hätte es sich vor ihnen in ein schreckliches Monster verwandelt. Wie ihre Gesichter war auch das von Tazey zerkratzt und verzerrt, mit Staub bedeckt. In der gespenstischen Dunkelheit konnte Sternenfalke kaum ihre Züge ausmachen – die geschlossenen Augen, die sich gelegentlich bewegenden Lippen, das vom Wind zerzauste und staubgraue Haar, die ausgestreckten, blutenden Hände. Sie schien in einer furchtbaren Trance gefangen zu sein, ihren ganzen Geist, ihre Seele, ihr Leben, darauf zu konzentrieren, daß die Winde Vorbeistri chen, so wie man es ihr von den Hexen erzählt hatte. Das Pony Mau erauge war wie betrunken in den Keil der Ruhe hinter ihr getaumelt und dort zusammengebrochen. Die jungen Wachen, die sie immer noch anstarrten, schienen sich nicht entscheiden zu können, ob sie dasselbe tun oder es lieber aus Furcht und Trotz mit dem Sturm aufnehmen sollten. Als sie das Entsetzen auf ihren Gesichtern sah, fügte Sternenfalke hinzu: »Und ihr haltet besser auch hinterher euren Mund.« Sie drehte sich um und führte den stolpernden Jeryn zu seiner Schwester zu rück. Nach langem Zögern folgten ihnen die beiden Wachen. Es war schon kurz vor Morgengrauen, als sie nach Tandieras zu rückkehrten, aber fast die gesamte Festung hatte sich im Schein von Fackeln um das Tor herum versammelt. Die Läufer des Suchtrupps, der ihr kleines Feuer gefunden hatte, nachdem der Sturm sich gelegt hatte, hatten gleichermaßen Gerüchte wie die Bitte um Wasser und medizinische Betreuung verbreitet. Sternenfalke, deren Körper von Austrocknung und reiner Erschöpfung schmerzte, sah schon von ferne den Teppich aus Lichtern gegen das kohlschwarze Massiv des Festungshügels und fluchte. Sie zügelte das Pferd, das ihr die Sucher gegeben hatten, unmit 466
telbar neben Tazeys Nottrage. Jeryn bewegte sich in erschöpftem Schlaf unruhig in ihren Armen und schluchzte: »Ich hab' verspro chen, es nicht zu sagen… ich hab' versprochen… sag es nicht Va ter…« Sternenfalke verstärkte ihren Griff um den mageren Körper des Jungen und dachte mit unterdrückter Wut, daß irgendein beson ders diensteifriger Narr es seinem Vater zweifellos schon gesagt hatte. Die Männer des Suchtrupps waren alle sehr still gewesen. Tazey, obwohl sie nach dem Abflauen des Sturms nur leidlich benommen gewirkt hatte, hatte überhaupt nicht gesprochen und schien jetzt, im Schein der Fackeln des Suchtrupps, in einen leichten Schlaf gesun ken zu sein. Sternenfalke erinnerte sich, wie Sonnenwolf einmal im vergangenen Sommer, getrieben von Enttäuschung und Wut über seine eigene Unfähigkeit, die Quellen seiner Kraft anzuzapfen, wäh rend eines Nordlandsturms daran gearbeitet hatte, die Blitze zu zäh men. Vielleicht hatte er geglaubt, daß sich auch die Macht wie die körperlichen Fähigkeiten, die er so meisterlich beherrschte, bei hef tigern und ständigem Gebrauch steigern ließ – und vielleicht war es, wenn der Bewahrer wußte, was er tat, ja sogar möglich. Er hatte tagelang in einer unruhigen Halbtrance schwarzer und hoffnungslo ser Depression gelegen, als wäre mit seinem Körper und seiner Macht auch seine Seele erschöpft gewesen. Ruhe würde es heilen, dachte Falke. Das heißt, wenn man ihr er laubte, sich auszuruhen. Die Menschen am Tor waren still, genau wie die Retter es gewe sen waren, als Shem und Pothero ihnen flüsternd ihre Erlebnisse berichtet hatten. Im kalten Morgenlicht veränderte der gelbe Fackelschein die Ge sichter der Menge – ließ sie ehrfürchtig, verängstigt, verwirrt ausse hen. Sternenfalke sah Bischof Galdron, der in eisigem Zorn die Lip pen zusammengepreßt hatte, als hätte Tazey es sich ausgesucht, magischer Abstammung zu sein, und nicht verzweifelt bis zuletzt jeden Hinweis auf ihre wahren Kräfte verborgen. Neben dieser klei nen, prunkvoll gekleideten Gestalt stand Egaldus mit völlig aus drucksloser Miene, strömte jedoch kaum verhohlenen Triumph und Freude aus – eine Freude, die auf Kalethas Gesicht in blasierte Selbstgefälligkeit umschlug, während sie versuchte, sich in dem ausgedehnten Hof einen Weg durch die Menge zu bahnen. Sternen falke, die wußte, daß Kaletha sich bereits als Königliche Lehrmeiste rin in Sachen Magie betrachtete, empfand ein Prickeln der Wut. 467
Anshebbeth, trotz der frühen Stunde zugeknöpft wie immer, trug eine strenge Miene zur Schau, hinter der ihre aufrichtige Sorge um Tazeys Wohl mit nackter Eifersucht kämpfte, als wäre das, was das Mädchen besaß, vormals ihr Eigentum gewesen. Zwischen den Fackeln, die auf beiden Seiten der Pforten des Saa les loderten, standen Osgard, Nanciormis und der gutaussehende junge Incarsyn, ihre Gesichter eine Studie schockierter Unverbind lichkeit. Besonders Incarsyn wirkte unendlich verwirrt, als kämpfe er darum, aus einem recht kleinen natürlichen Vorrat die angemessene Gefühlsregung herauszukramen. Sternenfalke stieg ab. Keiner der Wachen schien darauf erpicht zu sein, sich der Trage zu nähern, also half sie Tazey beim Aufste hen. Staubbedeckt und erschöpft, ihr blondes Haar um das ausge mergelte Gesicht herum abstehend, schwankte das Mädchen unsi cher, und Jeryn eilte stolpernd an ihre andere Seite, um sie zu stüt zen. In traumhafter Müdigkeit gingen sie durch den Dunst aus vom Kerzenschein erhellten Staub auf die Treppe zu, wo mit rotem Kopf und tränenüberströmt Osgard wartete, das schmutzige Wams mit Weinflecken verschmiert. Das Schweigen war vollkommen, aber Sternenfalke konnte es ringsumher spüren, lastender als das Gewicht des Sturms. Dann zerriß die Stimme der alten Nexué das Schweigen. »Eine Hexe! Sie ist eine Hexe!« Tazey hob den Kopf, die grünen Augen durchsichtig vor Entset zen. »Nein«, wisperte sie und flehte, daß es nicht so sein möge. »Nein!« Kaletha wollte weiter nach vorn gehen, aber jetzt schob sich Ne xué vor sie und deutete mit ihrem mageren Finger. Tazey konnte sie nur anstarren, ausdruckslos vor Entsetzen, und ein weißer Ring lag im Kerzenschein um ihre Pupillen. Triumph und unterdrückte Freude spiegelten sich auf dem Gesicht der alten Frau, als wäre die Ver dammung und der Ruin der Prinzessin eine Art von persönlichem Sieg. »Eine Hexe! Eine… « Mit merkwürdig ruhigem Zorn wandte Sternenfalke sich zu der alten Frau um und schlug ihr mit der geballten Faust zweimal quer über den Mund, so daß sie ausgebreitet im Schmutz liegen blieb. Ihr war nicht mehr zu helfen. Tazey wimmerte wieder: »Nein…« Mit den Händen das Gesicht bedeckend, brach sie langsam zusammen. Osgard, Nanciormis und Incarsyn zögerten alle, ihr zu Hilfe zu eilen, und so war es Sternenfalke, die das ohnmächtig gewordene Mädchen 468
in ihren Armen auffing.
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6. Kapitel Vom Fenster des Tempels aus konnte Sonnenwolf unten in der Schlucht die hüpfenden Lichter sehen. Er hatte sie schon letzte Nacht gesehen, als er von seinem Beo bachtungsposten aus die schwarze Gewalt der Mörderwinde verfolgt hatte. Später, als die aus dem Felsen gehauenen Paläste der ver schwundenen Stadt, aus dem Sandstein der Schluchtwände gemei ßelt, kalt und farblos im gespenstischen Mondschein dalagen, war es dort still gewesen. Nun flackerten sie wieder in den leeren Türein gängen, den schwarzen Augenhöhlen breiter, viereckiger Fenster und den Schatten der pfirsichfarbenen Säulen der Schnitzfassaden. Das Wispern ihrer körperlosen Stimmen verband sich mit dem Heulen des Wüstenwindes. Er wußte, was sie waren. Im Norden hatte er als Kind Dämonen gesehen, als einziger Mensch, von dem er wußte, daß er diese Fähigkeit besaß. Er erinner te sich, daß sein Vater ihn das eine Mal, als er davon sprach, ge schlagen hatte – fürs Lügenerzählen, wie er gesagt hatte. Sonnenwolf fragte sich, ob er es in Wirklichkeit nicht getan hatte, weil der alte Mann die Wahrheit seiner Berichte nicht akzeptieren wollte. Er hatte einen Krieger zum Sohn haben wollen. In all den Jahren, die er nun schon Geschichten über Dämonen hörte, war ihm niemals eine untergekommen, wonach sie Menschen besonders wehtun könnten. Er wußte, daß ihre dünnen, pfeifenden Stimmen aus den hohlen Orten der Erde erklangen, um Unschuldige beim düsteren Schein des Mondes in Marschen oder Wasseruntiefen in den Tod zu locken. Aber sie flohen die Menschen und helles Licht. Kein Mensch, der wußte, was und wo sie waren, hatte von diesen kalten, körperlosen Geistern etwas zu fürchten. Und doch wußte er, daß er in Gefahr schwebte, aber er wußte nicht, in welcher. Er hatte die wenigen provisorischen Dämonenbannsprüche, die Yirth von Mandrigin ihm beigebracht hatte, in den Staub der rosa Sandsteintempel gekritzelt, in denen er sein Lager aufgeschlagen hatte, und auf den Türrahmen und die Fensterbank des höhergelege nen großen Fensters sämtliche ihm bekannten Runen gemalt. Und noch immer fühlte er sich nicht sicher. Sie bewegten sich unter ihm in der Finsternis der Schlucht, 470
schwache Lichter, die strahlten, die glatten Säulen, filigranen Türme und gewundenen Treppen jedoch nicht erhellten, die in Abständen in das phantastisch verwitterte Felsantlitz der Schlucht wand gehauen waren. Die Stadt Wenshar war erbaut worden, wo sich die lohfarbenen Sandsteinklippen der Geisterberge – von der verbackenen Mineral patina der brütenden Sonne geschwärzt – einwärts krümmten, um eine flache Ebene zu bilden, die sich hoch über das Niveau der Wüs te erhob und so vor den grausamen Winden geschützt war. Drei kleine Flußläufe entsprangen dort dem zerklüfteten Gebirge und verloren sich in der weiten Wüste. Auf dem hochgelegenen Plateau hatte sich, um Gärten mit Dattelpalmen und Zypressen herum, die Stadt Wenshar ausgebreitet – bis die eindringenden Armeen der Mittleren Königreiche die Alten Häuser von Wenshar zerstört und ihnen ihre Ländereien und Minen geraubt hatten. Zeit und Sand hatten die wenigen Mauern, die der Krieg übrigge lassen hatte, nahezu zerstört. Aber oberhalb dieser drei Schluchten lag ein verwirrendes Labyrinth von Wadis und Einschnitten – von viereckigen, isoliert stehenden Felsblöcken und steil aufragenden Felsnadeln, Tälern, so breit wie eine Straße oder so schmal, daß der Wolf sie mit seinen Armen durchmessen konnte – nur von blenden den Streifen des Himmels ungefähr hundert Meter darüber erhellt. Hier hatten die wohlhabenden Edelleute von Wenshar Schmuck bearbeitet. Geschützt von der Sonne hatten sich die phantastischen Sandsteinfassaden von der Wüstenhitze nicht einmal dunkel verfärbt. Sie gleißten pfirsich-, bernsteinfarben und rosa, weiche Streifen aus Gelbtönen, zitronen- und honiggelb. Hier hatte die Zeit stillgestan den, war sie hinter dem Zauber dieser mächtigen Steingebilde ge staut worden. Sonnenwolf hatte Felsen immer gemocht, ihre Kraft und die Ausdrucksstärke ihrer Formen. Unterwegs und in Tandieras hatte er einen Steingarten vermißt, in dem er meditieren und seine Freizeit verbringen konnte. Da er von Wenshar bisher nicht mehr als seinen schlechten Ruf vernommen hatte, schlug ihn diese märchenhafte Schönheit des Anblicks sofort in seinen Bann. Doch in jedem Schatten, in jeder Nische und jedem Türeingang spürte er die Anwesenheit von Dämonen. Die Stadt wimmelte von ihnen, groß und klein; in den drei Tagen, die er schon hier herum streifte, hatte er gespürt, wie sie ihn beobachteten. Manchmal schien es ihm, als brauchte er nur seine Hände auf den Boden zu pressen, 471
um ihre Stimmen zu hören. Aber das wagte er nicht. Tagsüber sah er sie nie, obwohl er manchmal in jenen Palästen, die tiefer als ein einziger Raum in die Klippen hineingehauen waren, ihr Gezänk und ihr Murmeln hörte, wie trockenes Laub, das über Steinböden geweht wird, die seit Generationen weder von Wind noch von Pflanzen berührt worden sind. Doch zwei Abende zuvor hatte er sie in den Schatten der Hauptschlucht erspäht, nicht mehr als ein Flackern in den Augenwinkeln, das in der Dunkelheit neben ihm aufzuckte. Er hatte sich beeilt, in ein schmales Wadi zu kommen, das auf den Hauptpfad weiter unten zuführte – die Berge hier waren an manchen Stellen in große, freistehende Felsblöcke gespalten, die wagemutige alte Edelleute zu ganzen Palästen hatten aushöhlen lassen. Aber die Dämonen hatten ihn schon erwartet. Die Sonne war bereits von dem schillernden blauen Strom über ihm verschwunden, ihre Strahlen berührten nur noch sachte den äußersten Rand der Klippen. Er konnte ein leises, böses Raunen in den Schatten spüren. Als er den Rückweg antrat, wurde ihm bewußt, daß etwas ihn an trieb. Nirgendwo in dem Durcheinander von Dingen, die Yirth ihm beigebracht hatte, war die Rede von Dämonen gewesen, noch war er bei seiner Suche nach Zauberern je auf welche gestoßen. Er wußte, daß sie aus Felsen und Sümpfen aufstiegen, manchmal auch aus dem Wasser. Wenn es in diesem Land welche gab, hatte der Zauber der alten Hexen von Wenshar sie in Schach gehalten, bis sie, durch de ren Vernichtung, wie Unkraut aus dem Boden geschossen waren. Sie waren kraftlos. Da sie keine Körper hatten, bezweifelte er, daß sie einem Menschen physisch wehtun konnten. Außerdem konn te er sich keinen Grund denken, weshalb sie das tun sollten, wo sie doch keine Nahrung benötigten. Dennoch war der Boden der Schlucht an manchen Stellen mit Halden zerbrochener Knochen von Tieren bedeckt, die von den Simsen weit oben in den Tod getrieben worden waren, wie die Dämonen des Nordens es mit Menschen in den Marschen taten. Die Knochen lagen unberührt. Er stand in der zunehmenden Azurbläue des Abends und lauschte dem höhnischen Wispern der Dämonen, die sich wie Leuchtkäfer in den Schatten vor ihm ballten, und plötzlich fragte er sich nach dem Warum. Er war wieder umgekehrt und hatte einen Weg hinaus gesucht. Die Schlucht hatte sich vor ihm zu einem langen offenen Raum ge weitet, in dem sich eine Reihe erodierter Felsnadeln, schmaler Säu 472
len, so hoch wie die Wände der Schlucht und an der Spitze golden umkränzt, gegen den opalblauen Himmel abzeichneten. Verdrehte Zypressenbäume, eine Erinnerung an verschwundene Brunnen, um standen diese Nadeln, graue Stämme, verwittert und verkrümmt, die aussahen, als wollten sie ihre eigenen Äste verschlucken. Über den ganzen hinteren Bereich der Schlucht hinweg erstreckte sich die längste Palastfassade, die er je gesehen hatte. Bernsteinfarbene Stu fen führten von einer Ebene mit pfirsich- und lachsfarbenen Säulen, fragilen Türmen und seltsamen Spitzbauten zur nächsten, und alle glühten im verblassenden Licht der Sonne. Aber als Sonnenwolf in dem schwarzen Schatten unter den untoten Zypressen gestanden hatte, hatte er Stimmen gehört, die von den dunklen Torbögen dieser weit ausladenden Gebäude zu ihm herüberriefen, süß wie die Stim men von Kindern, die von Menschenblut leben. Unvernünftigerweise hatte er Angst bekommen und war wieder in die Schlucht geflohen, ohne auf das unverständliche Gewisper in den Schatten zu achten, an denen er vorbeikam. Er war zu seinem Hauptquartier im Tempel in der westlich gelegenen Schlucht geeilt und hatte, unsichtbar für alle Augen außer dem seinen, die gespensti schen Runen hinter sich auf die Türen und Fenster gekritzelt. Es gab für ihn keine Möglichkeit, zu wissen, ob sie die Dämonen wirklich davon abhalten würden, einzudringen. Die ganze Nacht über hatte er wach auf seinem Lager gelegen, und seither auch jede weitere Nacht. Draußen bewegten sie sich nach wie vor in der Dunkelheit. Kraft lose, deformierte Körper trieben in Hüllen aus Licht dahin, sickerten in die Felsen ein und traten wieder daraus hervor, schwebten in der Luft wie umherwogende Nebelschleier. Er wußte, daß das, was er sah, ihr wahres Wesen zeigte, so wie ein Spiegel das wahre Wesen eines Zauberers widergibt, der eine Illusion über sich verhängt hat, und es ängstigte ihn, daß er nicht zu sagen vermochte, ob sie schön oder häßlich waren. Er konnte hören, wie sie sich mit ihren pfeifen den, kleinen Stimmen etwas zuflüsterten, und wußte, daß er ihre Worte, wenn er es sich nur gestattete, verstehen würde – oder we nigstens zu verstehen geglaubt hätte. Aber auch davor hatte er Angst. Wieso hatte er das Gefühl, daß sie kommen würden, wenn er sie nur darum bäte? Warum diese seltsame Überzeugung tief in seinem Innern, daß er ihre Namen kannte? Noch zweimal hatten sie versucht, ihn in den offenen Bereich am Ende der Hauptschlucht zu treiben, wo dunkle Zypressen an der 473
Felsnadel wuchsen) – hatten sie versucht, ihn in den kantalupenfar benen Palast zu treiben, der sich dahinter befand. Er war einmal dort hingegangen, am Tag nach dem ersten Angriff, neugierig, was sie wohl von ihm wollten. Er hatte die Mittagsstunde gewählt, wenn die gleißende Sonne pfeilgerade auf die Kiesel traf, die die gehauenen Straßen und trockenen Flußbetten bedeckten – die Stunde, in der er sich am sichersten fühlte. Vom oberen Ende der Treppe aus hatte er in eine schattige Halle geblickt, einen großen, viereckigen Raum, dessen Wände an man chen Stellen bis zur Höhe seiner Schultern mit dem feinen grauen Sand bedeckt waren, der zwischen den Säulen der offenen Fassade trieb. Der Raum war erheblich tiefer als jeder andere gewesen, den er bisher gesehen hatte, der hintere Bereich in Schatten verborgen, und die Wände, anders als bei jedem anderen, den er gesehen hatte, ver putzt und bemalt. Die düsteren Schatten der Fresken hatte er kaum noch ausmachen können, doch etwas an ihrer Pose, an den Aktivitä ten, die diesen steifen, schattenhaften Umrissen innewohnten und die alles waren, was von ihnen übriggeblieben war, beunruhigte ihn. Zu seiner Rechten konnte er einen schwarzen, rechteckigen Schatten erkennen, eine unauffällige Tür zu einer Kammer, aus der kein Fens ter ins Freie führte. Und von dieser dunklen Tür aus hatte er, leise und bestimmt, Sternenfalkes Stimme sagen hören: »Führer?« Daraufhin hatte er nicht mehr gewagt, überhaupt noch die Haupt schlucht zu betreten. In der Mittagshitze schlief er; in den paar Stun den am Morgen und Abend durchsuchte er die Stadt, hielt Ausschau nach jedem Zeichen, jedem Buch und jedem Talisman, den die He xen von Wenshar möglicherweise zurückgelassen hatten, forschte nach irgendeinem Hinweis auf ihre Macht zwischen den vollgestopf ten Labyrinthen der rosenfarbenen Klippen. Erst heute hatte er das verzweifelte, schwache Greinen eines Babys gehört und war dem Lauf bis zum Eingang dieser Hauptschlucht gefolgt. Lange Zeit hatte er dort gestanden und dem hungrigen Zetern gelauscht, bis er kehrt machte und davonging. Nach Einbruch der Dunkelheit beobachtete er, und die Dämonen beobachteten ihn. Vor zwei Nächten, während der Sturm über ihm getobt und die Schluchten mit einem gespenstischen Nebel aus heißem Staub erfüllt hatte, der von den Windböen aufgewirbelt worden war, hatten sie sich draußen zu Hunderten versammelt und waren bis dicht vor das Fenster getrieben, hinter dem er mit klopfendem Herzen gestanden 474
hatte, um ihn aus hohlen, glühenden Augen anzustarren. Nun wurde der Himmel über dem Rand der Schlucht langsam heller. In einer Stunde würde er sich sicher genug fühlen, um schla fenzugehen. Er bereitete sich auf das Meditieren vor, denn das war einer der Gründe gewesen, weshalb er hierhergekommen war. Doch als er sich der Stille seines Geistes überlassen wollte – scharf und klar und klein wie in einem Traum – , spürte er auf einmal, daß Ster nenfalke die Stadt betreten hatte. Wie ein Echo schien er in seinem Geist den Huf schlag entlang der zerfallenen Wände zu hören, die sich jenseits der Schluchten ausbreiteten. Wie es ihm manchmal möglich war, holte er sich Falke vor das geistige Auge und sah sie auf ihrem Pferd über das verbli chene, mit Mosaiksteinen ausgelegte Pflaster des alten Marktgevierts traben, wobei der Morgenwind ihre weißen Kopfschleier und die flachsfarbene Mähne des Pferdes bewegte. Dann sah er, wie sie ruckartig ihren Kopf wandte, als hätte sie irgendwo ein verdächtiges Geräusch gehört. Rasch stieg Sonnenwolf die gewundene Flucht der butterblumen farbenen Sandsteintreppe zu dem breiteren Raum darunter hinab. Hinter der mit einem Zauberspruch versiegelten Tür war die Schlucht von blauem Schweigen erfüllt; die Stille des Ortes war unnatürlich, denn trotz des Wassers in einer Anzahl von Steingefä ßen hielten Vögel sich von diesem Platz fern. Seine Füße brachten den Sand und Kies zum Knirschen, als er die alte Straße hinunterhas tete. In den Stunden, wenn die Dämonen noch umgingen, war es viel zu gefährlich, das Pferd zu nehmen. Wie er gehofft hatte, war Sternenfalke ihrem gesunden Instinkt gefolgt und auf freier Fläche stehengeblieben. Sie saß auf einem Rotfuchs der Palastwache am Eingang zur nächstgelegenen der drei Schluchten, hatte vorsichtig den Kopf gewandt und lauschte nach weiteren Geräuschen. Das erste Licht des Wüstenmorgens lag voll auf ihr, brach sich im silbernen Zeug des dunkelgrünen Wamses der Wache und in dem Stahl von Schwertknauf und Dolch. Noch als Sonnenwolf sie zwischen den verstreut liegenden Ruinen der hüftho hen Mauern und umgestürzten Säulen aus zertrümmertem roten Porphyrit sah, beugte sie sich im Sattel vor, als wollte sie dem Echo eines fernen Schreis oben in der Schlucht vor sich lauschen. Nicht weit entfernt, ertönte ein scharfer, knackender Laut, wie ein Stein, der aus großer Höhe auf Stein trifft, und ihr Pferd riß den Kopf her um, rollte entsetzt mit den weißen Augen und wollte sich aufbäu 475
men. Sternenfalke war vorbereitet, und der Wolf schätzte, daß es nicht der erste Zwischenfall dieser Art war, seit sie die Ruinen betreten hatte. Sie zwang das verängstigte Tier beim ersten scheuen Sprung in einen engen Kreis. Umrahmt von den weißen Schleiern, schien ihr sonnengebräuntes Gesicht unbeteiligt; aber selbst auf diese Entfer nung wirkte sie angespannt und ausgelaugt, wie es der Fall war, wenn sie sich zu lange auf Patrouille befand. Sobald sie das Pferd wieder unter Kontrolle hatte, trat er aus den Schatten eines der Tor bögen hervor und rief: »Falke!« Sie blickte auf, machte Anstalten, auf ihn zuzupreschen, dann zügelte sie das Tier wieder. Das nervöse Pferd mit einer Hand hal tend, angelte sie in der Tasche ihres Lederwamses nach etwas, und das frühe Licht brach sich in Glas, als sie den Spiegel in seine Rich tung schwenkte. Erst dann stupste sie das Pferd beruhigt an und trottete durch den verwehten Sand und die struppigen Gewächse auf der Straße auf ihn zu. »Was ist los?« Er wußte, daß sie niemals ohne Grund nach ihm gesucht hätte. »Es ist wegen Tazey«, sagte Sternenfalke ruhig. »Du kommst besser mit.« »Und seitdem liegt sie im Koma.« Sternenfalke hielt ihr Pferd gezügelt und kämpfte gegen dessen begreiflichen Eifer an, auf dem Schwemmland eine möglichst große Entfernung zwischen sich und die schroffen, schwarzbraunen Klippen der Geisterberge zu bringen. »Kaletha versuchte letzte Nacht hineinzukommen, um nach ihr zu sehen. Osgard wollte nichts davon hören, und Nanciormis konnte ihn gerade noch abhalten, Kaletha ein für allemal aus dem Haushalt zu werfen.« Ihre weiche, leicht rauhe Stimme war völlig unverändert, als sie hinzufügte: »Ich glaube, sie stirbt, Führer.« Er blickte sie scharf an. Die Schnitte vom Sand und dem feinen Staub des Sturms auf ihrem Gesicht leuchteten immer noch groß und häßlich; die grauen Augen hatte sie vor sich auf den dunklen Grat des Tandieras-Passes gerichtet, der über der leblosen Ebene aus schwarzem Kies kaum zu erkennen war. Neun Jahre des Kampfes für anderer Leute Geld hatten sie beide gelehrt, noch unter Tränen zu reiten und zu kämpfen. Trauern konnte man später. Sonnenwolf betrachtete mit seinem Auge den Schatten seines Pferdes auf dem erbsengroßen Kies unter ihm und berechnete daraus den Winkel zur Sonne. »Wann hast du die Festung verlassen?« 476
»Um Mitternacht. Osgard und Kaletha bekämpften sich noch.« Die Schatten waren bereits umgeschlagen und begannen wieder länger zu werden, als sie den Pfad zum dunklen, steinernen Wach haus der Festung auf dem Tandieras-Paß hinauf ritten. »Kein Klage gesang«, stellte Sonnenwolf lakonisch fest. Sternenfalke nickte. Als Krieger dachten sie beide an das Naheliegende – eine Kaltblütigkeit, die sie beide voneinander kannten. Sonnenwolf verspürte keine Ver pflichtung, seine ehrlich empfundene Angst um das Mädchen auszu drücken, das er in den wenigen Tagen ihrer Bekanntschaft liebge wonnen hatte – andererseits nahm er auch nicht an, daß Sternenfal kes rätselhafte Ruhe ihrer Teilnahmslosigkeit entsprang. Wenn Ta zey starb, wäre noch genug Zeit zum Trauern. Nach drei Tagen der brütenden Stille in den Geisterbergen kam es ihm merkwürdig vor, umherhastende Menschen zu sehen und Wasser und gebratenes Fleisch zu riechen, noch merkwürdiger aber, daß er an die Wirklichkeit dessen, was er sah, auch glauben konnte. Als sie unter dem düster drohenden Wachhaus hindurchritten, fiel ihm ein kleiner, wartender Schatten auf. Er zügelte sein Pferd und ließ Sternenfalke in das von Staub verhangene Durcheinander der Stallhöfe vorausreiten. Der Schatten trat vor, jämmerlich klein und dürr in seinem dunk len Wams und der Hose und der kümmerlichen weißen Halskrause. Das spitze weiße Gesicht blickte in der Dunkelheit flehentlich zu ihm auf. »Wie geht es deiner Schwester?« fragte der Wolf ruhig. Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, daß Jeryn davonlau fen würde. Dann zog der Junge den Kopf ein und murmelte: »Ihr müßt ihr helfen. Es ist doch Magie, was an ihrem Zustand schuld ist, nicht wahr?« »Allerdings.« Sonnenwolf stieg ab und blickte auf den mageren, scheuen Jungen hinunter. »Ich werde tun, was ich kann – aber nur, wenn du jetzt wieder ins Bett gehst. Der Falke sagte, du hättest dir einen teuflischen Sonnenbrand geholt, als du nach mir suchtest.« Jeryn wurde rot. »Es geht mir schon wieder besser.« Sonnenwolf legte eine Hand unter das Kinn des Jungen und zwang ihn, den Kopf zu heben. »Das kannst du mir nicht erzählen«, erwiderte er ruhig, nachdem er eine Weile das viel zu blasse Gesicht unter dem schwarzen Lockenhaar gemustert hatte. »Ein Mann, der seinen Wunden keine Ruhe gönnt, ist einfach nur ein Narr – er ist eine Belastung für seinen Kommandeur, weil sie nie richtig heilen 477
und sich, so sicher wie Pocken und Pusteln, schließlich gegen ihn wenden werden, wenn er am meisten gebraucht wird.« Er strich dem Jungen grob durchs Haar, als tätschelte er einen Hund. »Ich werde mich schon um deine Schwester kümmern.« »Hauptmann… « Jeryn zögerte, dann schluckte er schwer. »Es… es tut mir leid. Das wäre alles nicht passiert, wenn… Es war nur meine Schuld, aber… aber Onkel Nanciormis sagte, ich wäre ein Feigling, wenn ich mich bei Vater nicht für Euch einsetzte. Er sagte, wenn es mir nicht gefiele, wie er mich unterrichte, hätte ich eben versuchen sollen, Euch zu halten. Und ich… ich bin kein Feigling«, beharrte er mit dem Elend von jemandem, der weiß, daß man ihm nicht glauben wird. »Es ist nur, daß…« Er hielt inne, die Lippen fest zusammengepreßt. Dann, aus Furcht, er könnte zu weinen anfangen, drehte er sich um und floh.
»Jeryn.« Obwohl sie nur leise erklang, veranlaßte ihn die rostige Stimme, stehenzubleiben. Er wandte sich um und kämpfte verzweifelt gegen seine Tränen an. »Ich habe nie einen Beweis dafür gebraucht, daß du mutig bist«, sagte der Wolf. Hinter dem weißen Gespinst der Schleier schien sein Gesicht, mit seinem unrasierten Kinn und dem einzelnen, panther gelben Auge, in Schatten getaucht zu sein. »Und du hast mir nie einen Grund gegeben, dich für einen Feigling zu halten. Was zwi schen deinem Vater und mir abläuft, ist nichts, was dich in irgendei ner Form beunruhigen müßte. Es hat nichts mit dir zu tun.« »Nein, Sir«, wisperte Jeryn. »Tut mir leid, Sir.« Der Junge drehte sich um und wollte gerade davonlaufen, als Sonnenwolf fragte: »Ist dein Vater bei Tazey?« Wieder blieb er stehen und wandte sich um. »Ja, Sir.« Sachlich fügte er hinzu: »Er ist betrunken, Sir.« Sonnenwolf nickte. »Ist er in Kampfstimmung, oder hat ihn der Alkohol erledigt?« »In Kampfstimmung, Sir.« »Wunderbar.« Der Wolf seufzte. »Danke Euch, Kundschafter. Geht jetzt zu Bett.« »Jawohl, Hauptmann.« Und im nächsten Moment war der Junge wie ein Schatten verschwunden. »Das muß man dem König als Ausdauer anrechnen«, brummte Sonnenwolf und wickelte seine Kopfschleier ab, während er und Sternenfalke den sandverwehten Pfad von den Ställen zu den 478
schwarzen, viereckigen Türmen der Festung hinaufstiegen. »Ein Mann muß schon zäh sein, wenn er mehr als vierundzwanzig Stun den in Kampfstimmung bleiben kann, ohne daß der Alkohol ihn fertig macht.« »Ich habe einmal für einen Mann gearbeitet, der das konnte«, bemerkte Sternenfalke, als sie die Außentreppe erklommen. Son nenwolf blieb unvermittelt stehen, als hätte sie ihm einen Dolch in den Rücken gerammt. »Das war etwas anderes!« »Anders ist ein mögliches Wort dafür«, pflichtete sie ihm sanft bei. »Das hat man nun davon«, grollte Sonnenwolf, »wenn man sich in seinen stellvertretenden Kommandeur verliebt.« Er ging zu dem Balkon mit seiner Torbogenreihe, und Sternenfalke folgte ihm schmunzelnd dichtauf. »Sie kleben einem auf der Pelle und kennen einen zu gut.« »Jawohl, Kommandeur.« Jeryn und Taswind bewohnten die beiden letzten Räume auf dem Balkon, den sich der Königliche Haushalt teilte. Die bronzene Sonne warf ihre schrägen Strahlen über die dunkle Granitwölbung der Süd seite des Gebäudes, so daß die Schatten der zwei Partner wie ein tiefschwarzer Schleier über die einzelnen Räume hinwegstrichen. Anshebbeth, die in einem davon saß, sprang mit einem nervösen Aufschrei hoch, die Hände ausgestreckt, das Gesicht vor Schlafman gel blaß und hohläugig. Als sie die Abkömmlinge erkannte, sank sie zurück und rang wieder die Hände. Selbst auf dem Balkon konnte Sonnenwolf noch Osgards durch dringende Stimme hören. »Das hört auf, sage ich dir! Dieses elende Klatschweib Nexué hat es überall in der Stadt herumerzählt, und es gibt keinen, der nicht sagt, daß meine Tochter eine Hexe sei! Das muß aufhören, verstan den?« »Ich protestiere gegen die abfällige Aussprache des Wortes He xe«, sagte Kalethas ätzende Stimme, »doch Ihr könnt nicht leugnen, daß das Vorgefallene Taswinds magische Abstammung bewiesen hat.« »Einen Teufel kann ich nicht leugnen!« Er fuhr herum und baute sich drohend vor Kaletha auf, als Sonnenwolf den gemusterten Vor hang zur Seite schob, der in das Vorzimmer von Tazeys Gemächern führte. »Sie ist nicht mehr eine Hexe, als ihre Mutter es war! Ein 479
süßeres, lieberes, gehorsameres Mädchen ist noch niemals auf Gottes weiter Erde gewandelt, habt Ihr verstanden?« Kaletha versteifte sich nur und blickte den unrasierten, schwit zenden Riesen mit dem hochroten Kopf vor sich an. Wie üblich war ihr dunkelrotes Haar in Zöpfen und Schlingen zurechtgelegt, die so fein gearbeitet waren wie Töpferware, und ihr einfaches schwarzes Gewand schillerte makellos; ihr anspruchsvolles Wesen war ein einziger Vorwurf. »Sie ist magischer Abstammung«, beharrte sie eisern. »Ihr schuldet es ihr, mir endlich zu erlauben, daß ich sie die Pfade der Macht lehre. « »Ich schulde es ihr, Euch, zum Teufel noch mal, von ihr fernzu halten! Ich will nicht, daß man darüber spricht, und ich werde Euch persönlich nehmen und durch den Dreck ziehen, wenn Ihr ihr mit Schlafsprüchen und Wettermacherei und Euren elenden, gestohlenen Büchern auch nur nahekommt! Welcher Mann wird sie denn noch heiraten wollen, Wüstenlord hin oder her, wenn solche Lügen umge hen?« Kalethas helle Augen blitzten auf. »Es sind keine Lügen, und es ist keine Schande damit verbunden.« »Ihr anmaßendes Weibsbild! Sie wird vor Scham sterben, noch ehe sie zu dem würde, was Ihr seid! Ihr… Hexe! Geht mir aus den Augen, bevor ich… « »Wenn Ihr es mir an Stelle dieses nutzlosen, wimmernden Bi schofs erlauben würdet… « »Sie zu unterrichten?« Osgard brüllte auf und verlor die letzte Geduld. »Sie braucht einen Lehrer, und da ich nun mal die einzige bin, die…« »Was meine Tochter braucht, ist ein Ehemann! Ich lasse den Mann kreuzigen, der behauptet, sie sei eine Hexe… oder die Frau! Ich will Euch was sagen – Ihr werdet sie nie unterrichten! Und jetzt raus!« Der Vorhang der Innentür bewegte sich, ein gewobenes Muster aus Rot- und Blautönen, wie ein vom Wind zerwühlter Garten, auf dessen Rand einzelne Sonnenstrahlen fallen. Bischof Galdron trat ein, die weißen Hände vor seinem Gürtel gefaltet. Obwohl er seinen mit Brokat verzierten, feierlichen Wappenrock diesmal nicht trug, erinnerte er Sonnenwolf nach wie vor an eine übertrieben gekleidete Puppe, deren Gewand, Stola und Übermantel alle mit einer strahlen den Galaxis aus juwelenbesetzten Priestersymbolen bedeckt waren. 480
Seine kalten blauen Augen begegneten denen Sonnenwolfs und Fal kes, die immer noch im überwölbten Türeingang standen, dann wan derten sie zu Kaletha weiter. Ernst sagte er: »Ja, geht. Eure bloße Anwesenheit hat schon genügend Schaden angerichtet. Taswind wäre besser gestorben, als daß ihre Seele von Hexenwerk verdammt wird.« »Sie ist keine Hexe!« brüllte Osgard heftig. »O doch, sie ist eine.« Die roten Lippen des alten Mannes straff ten sich im seidenen Geviert seines Bartes. »Und als Hexe ist sie verdammt… « »Raus hier, alle beide!« Osgards Gesicht war puterrot, ein trä nenüberströmtes Wirrwarr aus grauen Stoppeln und geplatzten Äder chen. »Ihr müßt ausgerechnet von Hexenwerk reden, Ihr elender Heuchler, wenn Euer eigener Gehilfe seit Monaten Kalethas Gesell schaft sucht.« Galdron drehte sich um, verdutzt und tief entsetzt, und Kaletha konnte ein blasiertes Lächeln und heftigen Triumph über seine Nie derlage nicht unterdrücken. Dann rauschte sie an Sonnenwolf vorbei auf den Balkon hinaus. Galdron eilte ihr mit zornesbleichem Gesicht nach. Der Vorhang wirbelte, dann senkte er sich wieder über die zurückgeklappten Sturmläden. Sonnenwolf stellte sich dem König in den Blick. »Ihr…« Osgards Stimme war schwer und undeutlich. »Ihr… es ist nur Eure Schuld. Mein Sohn ist weggelaufen, um Euch zu su chen… « »Euer Sohn ist weggelaufen, weil er zu große Angst hatte, mit Euch zu reden, und Eure Tochter hatte zu große Angst, Euch um Hilfe zu bitten.« Sonnenwolf verschränkte die Arme, sein ganzer Körper in Erwartung eines Kampfes gespannt, eine wachsame, je derzeit auslösbare Bereitschaft. »Werdet Ihr es also erlauben, daß ich ihr das Leben rette, oder wollt Ihr zulassen, daß sie stirbt, nur damit Ihr schließlich doch noch recht behaltet?« Osgards Gesicht wurde weiß vor sprachloser Wut; Sonnenwolf fragte sich kühl, ob er einen spontanen Schlag wohl wegstecken konnte. Dann brüllte der König lautstark wie ein explodierender Ofen: »Dafür werde ich Euch kreuzigen lassen! Wachen!« Einen Schwall schalen Weins verschüttend, sprang er Sonnenwolf an die Kehle. In eben dem Sekundenbruchteil, der zwischen dem Angriff des Königs und seiner eigenen Reaktion lag, und in dem ihm durch den 481
Sinn ging, daß sein Vater recht gehabt hatte, als er ihn, im Namen all seiner Ahnen, ermahnte, sich nur niemals mit Zauberei abzugeben oder mit Betrunkenen zu streiten, wich Sonnenwolf dem Angriff seitlich aus. Er blockte die vorgestreckten Hände mit einer Bewe gung seines Unterarms ab und benutzte die andere Hand, um einen netten, geraden Haken gegen den stoppeligen Kiefer zu landen, in den der König direkt hineinsprang. Osgard kippte um wie ein gefällter Baum. Sonnenwolf trat von dem bewußtlosen König zurück, als auch schon Nanciormis und ein halbes Dutzend Wachen durch die Tür gequollen kamen, die zu der Innentreppe des Saals führte. Einen Augenblick lang standen sich der Wolf und Nanciormis vor dem zusammengesunkenen Körper gegenüber, während die Wachen sich hinter dem Kommandanten versammelten und bereits die Schwert griffe umklammerten. Dann wandte Nanciormis sich ihnen zu und sagte ernst: »Seine Majestät ist unpäßlich. Bringt ihn in seine Gemä cher.« Er wich zur Seite, als sie den König an ihm vorbei hinaus und die Treppe hinuntertrugen, wobei er unergründlich blickte, bis sie um die Ecke herum verschwunden waren. Dann schaute er Sonnenwolf an. »Ich sehe ein, daß ich mich hinsichtlich des Gebrauchs von Ma gie geirrt habe«, erklärte er ruhig. »Bitte, tut für sie, was Ihr könnt. Ich werde dafür sorgen, daß man Euch in Ruhe arbeiten läßt.« »Das nenne ich großmütig«, bemerkte Sonnenfalke leise, als der Kommandant durch den breiten Torbogen auf den Balkon hinaustrat und wahrscheinlich auf sein eigenes Zimmer am anderen Ende ging. »Nur, daß er wartete, bis er verdammt noch mal sicher war, daß sonst niemand seine Worte hören konnte.« »Vielleicht.« Sonnenwolf betrachtete nachdenklich den schweren Vorhang, der sich vor dem harten Glanz des Torbogens langsam wieder auspendelte. »Er ist Politiker, Falke – und als Politiker be schäftigt er sich mit den Dingen, wie sie sind, nicht, wie sie sein sollten. Was immer man auch von ihm sagen kann, er ist Shirdarlord genug, um zu wissen, daß Magie nichts mit den Drohungen der Höl le, die der Bischof ausstieß, zu tun hat.« Er wandte sich der Innentür zu, die hinüber zu Tazeys Raum führte, als Sternenfalke ruhig sagte: »Es wäre besser, wenn Shebbeth hier wäre.« Ein wenig überrascht blieb er stehen, aber er wußte, daß sie recht 482
hatte. Obwohl sie Soldat war, hatte Falke für soziale Erfordernisse das feine Gespür einer Frau. »Wenn du glaubst, sie könnte von Nut zen sein, kannst du sie gern suchen gehen«, sagte er. »Aber ich neh me an, daß Osgard sie rausgeworfen hat – kein Wunder.« Sternenfalke musterte ihn nachdenklich, dachte an das tränen überströmte Gesicht der Gouvernante und ihr hysterisches Händerin gen, warf einen kurzen Blick durch die Balkontür und sagte nichts mehr zu diesem Thema. Die Fenster von Tazeys kleinem Schlafzimmer wiesen nach Nordwesten, in Richtung auf die rauhe Ödnis der Wüste und die zerklüfteten Berge dahinter. Zu dieser Tageszeit war der Raum von Sonnenlicht überflutet, und dank der nach gängiger medizinischer Praxis fest verschlossenen Fenster war es im Inneren unerträglich heiß und stickig. Die Luft war schwer von den Gerüchen verbrannter Kräuter, übelkeitserregend nach der trockenen Bewegung der Wüs tenluft, aus der Sonnenwolf gekommen war. Tazey ruhte ausge streckt auf ihrem schmalen Bett; aber die Reglosigkeit ihrer jungen Brüste unter dem Laken legte die Vermutung nahe, daß sie bereits tot war. Ihre Sonnenbräune wirkte wie eine dicke Farbschicht auf der wächsernen Blässe ihres Fleisches; aus den Winkeln ihrer geschlos senen Augen rannen die getrockneten Spuren von Tränen, die sie im Schlaf geweint hatte. Zögernd kniete Sonnenwolf neben ihr am Bett nieder und nahm die Hand des Mädchens in die seine. Sie fühlte sich kalt an. Er zählte ihren Puls, als er ihn nach langer Suche endlich gefunden hatte. Er ging schwer wie ein von winterlichem Eis bedeckter Fluß. Ein Leben auf dem Schlachtfeld hatte ihm ein gewisses Geschick bei operativen Eingriffen beschert; später hatte Yirth von Mandrigin ihm noch eini ge Zaubersprüche beigebracht, die den schwindenden Geist an das Fleisch fesselten, bis das Fleisch Zeit hatte, auf die Medizin zu rea gieren. Aber dies war ganz und gar keine Frage des Fleisches. Die Symptome ähnelten eher, wenn überhaupt, denen von Erfrierung und Erschöpfung. Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte. Er hatte Krieger mit den Mitteln des Kriegers geheilt, aber das hier war etwas ande res. In den letzten neun Monaten hatte er unter Zuhilfenahme der wenigen Zaubersprüche, die Yirth ihm beigebracht hatte, nur selten Heilungen vorgenommen und war jedesmal überrascht gewesen, daß sie funktioniert hatten. Er blickte nun auf das braune Gesicht des Mädchens auf den Kissen hinunter, auf das wirre, sonnengebleichte 483
Haar und die blauen Streifen der Erschöpfung, die um die straffen Augenlider lagen. Und zum erstenmal gestattete er sich, von der Aufmerksamkeit eines Kriegers abzusehen und Trauer für sie zu empfinden, Trauer und ein furchtbares Mitleid, wie er noch niemals eines empfunden hatte. Er dachte daran, wie sie den Kriegstanz aufgeführt hatte – an die leichte, schwungvolle Kraft ihrer Bewegungen, die Freude in ihren Augen, zu sein, was sie war. In den wenigen Tagen, die er nun in Tandieras war, hatte er sie liebgewonnen, mit der heftigen Zunei gung eines Mannes mittleren Alters für ein junges Mädchen, dieser seltsamen Mischung aus Väterlichkeit und einer Art unpersönlichen Lust. Aber er begriff jetzt, daß sie eine Zauberin war wie er ein Zau berer, vielleicht mächtiger als er. Und sie mußte so entsetzt über ihre Kräfte sein, wie er es über die seinen gewesen war. Die süßeste Tochter, die ein Mann sich nur wünschen kann, hatte ihr Vater ge sagt. Kein Wunder, daß es sie entsetzte, sich gegen ihren Willen als das wiederzufinden, als das er sie zu allerletzt sehen wollte. Kein Wunder, daß das Wissen ihre Macht nach innen trieb, bis ihre Seele vor Schuld, Trauer und Gram ihren Körper zerfraß. Er ließ ihre Hand los und erhob sich, um die Fensterflügel zu öff nen und den trockenen Geruch der Wüste hereinzulassen – die ange nehme Mischung aus Ställen, Salbei und Himmel. Stimmen trieben heran – Kalethas knappe und herausfordernde von den Höfen unten, die des Bischofs, voll von wütendem Zorn. Näherbei hörte er ge dämpft Anshebbeths Schluchzen, wie in das Bettzeug hinein oder gegen die Schulter eines Mannes. Er holte ein Stück Kreide aus sei ner Tasche und zog auf den rotgefliesten Boden rings um das Bett einen der Magischen Kreise, eine Vorsichtsmaßnahme gegen das Böse, die Yirth, als sie sie ihm beigebracht hatte, nicht eindeutig erklären konnte. Nach einem Augenblick des Nachdenkens malte er auch die Runen der Hexenkunst, des Lebens, der Kraft, der unter nommenen und glücklich zu Ende geführten Reise – Zeichen, die die Konstellation der Einflüsse auf ihn ziehen sollten und ihm helfen würden, sich zu konzentrieren. Alles geschah ganz automatisch – er hatte sie nie zuvor benutzt und keine Ahnung, wie man es tun mußte, aber er durchlief die Bewegung, als hätte er mit einer ihm unvertrau ten Waffe tagelang Übungen absolviert. Es hatte jedoch keinen Sinn, das ihm Beigebrachte zu schätzen, denn es bedeutete ja noch nichts. Er kehrte an das Bett zurück und nahm Tazeys Hand. Er fragte sich, ob es Einbildung war, daß sie sich nun kälter an 484
fühlte als zuvor. Er holte dreimal tief Atem und bereitete seinen Geist auf die Meditation vor. Unbeholfen, zögernd schob er alle Sorgen und Ärgernisse beiseite, die zufälligen Gedanken, die der Geist aufwirft, um seine Angst vor der Stille zu bemänteln. Er sam melte Licht um sich herum und suchte, während er in tiefem Wasser versank, den Unsichtbaren Kreis auf. Denn dort würde er, wie er wußte, Tazey finden, dort versteckte sie sich vor sich selbst. Schreiend erwachte sie. Lange Zeit über lag sie mit von ihm ab gewandten Gesicht da und schluchzte, als wäre alles, was ihr Körper und ihre Seele besessen hatte, ihr entrissen worden – wie es, dachte Sonnenwolf, der beinahe zu müde war, um Mitleid zu empfinden, ja auch wirklich geschehen war. Er selbst verspürte eine Erschöpfung, die in keinem Verhältnis zu der kurzen Zeitspanne stand, die er me ditiert zu haben meinte. Dann zog er sie sanft herüber und rieb ihr den Rücken, wie er es bei Marktfrauen gesehen hatte, die den wort losen Kummer ihrer Babys stillten. Erst nach einer Weile bemerkte er, daß es im Zimmer kühl war. Die Luft draußen vor dem breiten Fenster war mit Licht und Hitze getränkt gewesen, als er in Meditation versunken war; jetzt war es pechschwarz. Lauschend versuchte er anhand der Laute im Gebäude unten festzustellen, wie spät es war, aber das war schwierig, denn Tazeys Krankheit hatte einen Mantel des Schweigens über die Zita delle gelegt. Jemand – wahrscheinlich Sternenfalke – hatte die bei den alabasternen Nachtlampen angezündet, die auf der Kleidertruhe aus geschnitztem Ebenholz standen, und geschmolzene Lichtmeere wogten hoch oben an der Decke. Er fühlte sich schwach und ein wenig seltsam, als wäre er mei lenweit geschwommen. Seine Beine, die er unter sich gekreuzt hatte, waren steif und prickelten, als er seine Stellung veränderte. Für lange Zeit genügte es ihm, an Ort und Stelle zu bleiben und nur den Rü cken des Mädchens zu reiben, damit sie wußte, daß sie nicht allein war. Er hatte sie in dem trostlosen Land gefunden, das an das Reich des Todes angrenzt, wie sie in der Dunkelheit weinend umherirrte; er wußte, und sie wußte es, daß sie nicht mit ihm hatte zurückkommen wollen. Sehr viel später wandte sie auf dem Kissen ihren Kopf und wis perte: »Ist mein Vater sehr wütend?« Sie war nun ein Magier wie er selbst, und er konnte sie nicht an lügen. Außerdem bildete sich in den Schattenländern der Seele im mer ein Band zwischen denen, die gesucht haben, und denen, die 485
gefunden wurden. Er sagte: »Ja. Aber das darf Euch nicht länger stören.« Sie holte heftig Atem und hielt ihn ein paar Sekunden lang an, bevor sie ihn wieder ausstieß. »Ich wollte es nicht«, sagte sie schließlich mit sehr dünner Stimme. Sie hob das Gesicht vom Kis sen, häßlich, verquollen, zerkratzt von der Gewalt des Sandsturms und in Tränen aufgelöst. Ihre absinthgrünen Augen waren von blaßli la Schmierflecken umgeben, die Augen der Frau, die sie eines Tages vielleicht sein würde. »Ich habe versucht…« »Jeryn wußte genug, um Euch zu fragen, wo ich war.« Sie nickte elend. »Ich fand immer Dinge, als ich noch klein und er ein Baby war. Als er sich einmal im alten Viertel der Festung verirrte, fand ich ihn einfach, indem ich meine… meine Augen schloß und an ihn dachte. So fand ich heraus, daß Ihr in Wenshar wart und daß er Euch nachgegangen war. Aber später versuchte… versuchte ich es nicht mehr zu tun.« Sie schniefte und fuhr sich über die gerötete Nase. »Bedeutet das, daß ich verdammt bin?« »Es bedeutet, daß Galdron versuchen wird, Euch das einzure den.« Sie schwieg einen Augenblick und dachte über diesen Unter schied nach, dann sagte sie: »Ich wollte es nicht. Ich will keine Hexe sein. Hexen sind… « Sie hielt inne und blickte zu ihm auf. »Niemand drängt Euch, das gleich jetzt zu entscheiden«, sagte Sonnenwolf ruhig. »Aber ich für meinen Teil möchte mich von gan zem Herzen bei Euch bedanken, daß Ihr das Leben des Falken geret tet habt. Außerdem habt Ihr das von Jeryn und Euren Freunden Pothero und Shem gerettet.« »Aber sie fürchten sich jetzt vor mir«, murmelte sie, und eine weitere Träne lief ihr die Wangen hinunter. »Vermutlich«, gab er zu. »Aber ich glaube nicht, daß Jeryn sich vor Euch fürchtet, und der Falke ganz bestimmt nicht – es fürchten sich also nicht alle vor Euch.« Ihre Stimme klang wie von fern, wehmütig, als wüßte sie schon, daß sie von etwas anderem sprach. »Ich will mich nicht ändern. Ich meine – vielleicht gefällt mir ja nicht, was dabei herauskommt.« Sanft strich er ihr die verfilzten Strähnen ihres staubigen Haars aus der Stirn. »Dann ändert Euch heute nacht noch nicht«, sagte er. »Um drei Uhr morgens kann man sich sowieso nicht ändern, nie mand kann das…« Sie lachte schluchzend auf. »Schlaft jetzt.« 486
»Werdet Ihr… « Sie schluckte verlegen. »Glaubt Ihr, Ihr könn tet… könntet ein Weilchen bei mir bleiben? Ich hatte Träume… Als ich einschlief, bevor Ihr mich fandet, träumte ich… furchtbare Din ge. Die Hexen… « »Ich werde hier sein«, versicherte er ihr sanft, müde vom langen Tagesritt und der Wache der letzten Nacht. (In manchen feindlichen Lagern war er dafür bekannt gewesen, noch erheblich länger wachen zu können.) Er hielt Tazeys Hand, die jetzt groß und stark und warm war, in der seinen, während ihr leises Atmen langsam zu einem traumlosen Schlaf abflachte. Ruhig musterte er die verschmierten Kalkkreise rings um das Bett – den Kreis des Lichts, wie Yirth ihn genannt hatte, und den Kreis der Finsternis, von dem auch sie nicht gewußt hatte, weshalb er so hieß. Er schüttelte den Kopf. Kaletha hatte recht, dachte er. Man mußte sie unterrichten, und er wußte, daß weder er noch, wie er annahm, Kaletha dazu in der Lage waren. Ein anderer Gedanke kam ihm, und er krauste die Stirn, fragte sich, weshalb ihm der Einfall nicht früher gekommen war – auch in bezug auf ihn selbst. Tazey murmelte etwas, bewegte sich im Schlaf und lag dann wieder ruhig. Obwohl sie immer noch einen leichten Schlaf hatte, sah er, daß keine Träume ihre Spuren auf ihren farblosen Augenli dern hinterließen. Lautlos, als wäre er auf Patrouille, raffte er sich mit steifen Beinen auf und ging zu der verhangenen Tür hinüber. »Falke?« rief er leise in das Dunkel dahinter. Keine Antwort. Er trat durch den Vorhang in den von Kerzenlicht erhellten äuße ren Raum. Ein stiller Glanz lag über den geschnitzten Holzmöbeln, den Eichenstühlen mit ihren roten Ledersitzen und dem kleinen run den Eckkamin. Auf der polierten Anrichte verbreiteten zwei Kerzen in silbernen Haltern weiche Ringe aus Helligkeit. Die schweren Vorhänge waren vor der Tür zum Balkon zugezogen – eine verein zelte Windbö bauschte sie, und das Kräuseln reflektierter Flammen tanzte ihre Borte entlang. Niemand war da. Er trat zu der anderen Tür, die zu der Treppe hinunter in den Saal führte. Durch sie hindurch konnte er Kerzenlicht und Schatten aus dem Saal im Steingewölbe spielen sehen. Ein gedämpftes Stimmen gewirr drang zu ihm herauf, mal lauter, mal leiser, heftig, aber sinn los. Wenn Galaron ihr noch mehr Schwierigkeiten macht, dachte er grimmig, oder Nexué… Wenn Kaletha weiter so unverschämt auf ihren angeblichen Rechten besteht… 487
Ein Schatten huschte von unten über das rote Glühen, und gleich darauf hörte er katzenhafte Schritte auf der Treppe, die nur von Ster nenfalke sein konnten. »Was ist los?« fragte er, als sie im Türrahmen auftauchte.
Mit ausdrucksloser Miene sagte sie: »Nexué, die Wäscherin.«
Sonnenwolfs einziges Auge blitzte gefährlich auf. »Was hat das
Weibsstück denn nun wieder angestellt?« »Nicht viel«, sagte Sternenfalke gleichmütig. »Sie ist tot.«
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7. Kapitel Mit ruhigem Nachdruck sagte Anshebbeth: »Ich kann nicht be haupten, daß es mich überrascht, das zu hören. Früher oder später mußte ja jemand diesem schmutzigen alten Weibsbild den Hals um drehen.« Sie starrte düster in das Feuer, wo die Holzklötze zustim mend knackten. »Sprich nicht so.« Kaletha warf ihr einen wütenden Seitenblick zu; Sonnenwolf bemerkte, daß ihre Hände in ihrem schwarzen Schoß zitterten. Die Gouvernante blickte, beleidigt von diesem Tadel, zu ihr auf. »Sie… «, begann sie, aber Kaletha fiel ihr schroff ins Wort. »Haß ist eine Unreinheit der Seele, so verderbt wie die Unzucht mit dem Körper«, sagte sie ein wenig zu rasch. »Ich habe dich nie etwas anderes gelehrt, du solltest es inzwischen begriffen haben.« Anshebbeth nickte. Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Hand fuhr zu dem Kloß in ihrem Hals, während sie murmel te, daß sie es nicht so gemeint habe. Verärgert blickte Kaletha weg. Egaldus, der weiter hinten in der Nähe der Tür leise mit Nanciormis, dem Bischof und zwei ängstlich aussehenden Wachen sprach, hob beim schrillen Klang ihrer Worte den Kopf; doch nach einem Mo ment des Zögerns blieb er, wo er war. Ruhig verließ Sonnenwolf den düsteren Schein des Kamins, an dem die beiden Frauen saßen, ging zum Weinkabinett auf der ande ren Seite der Empore und füllte zwei silberne Pokale mit Wein. »Das ist Eure Antwort auf alles, nicht wahr?« sagte Kaletha, als Sonnenwolfs Schatten über sie fiel. »Trinken – wie dieser patheti sche Saufbold Osgard.« »Meine Antwort auf alles ist, sich zu entspannen, werte Dame.« »Ich bin entspannt, und ich brauche Euren Wein nicht, ebenso wenig wie Shebbeth.« Anshebbeths Hand verharrte auf halber Stre cke zu dem Pokal, den sie hatte nehmen wollen, dann faltete sie die Hand gehorsam mit der anderen in ihrem Schoß. Nanciormis verließ die kleine Gruppe neben den Torbögen zum Vestibül und kam durch den Saal auf die Empore zugeschritten, um beruhigend seine Hand auf Anshebbeths Schulter zu legen. Im fla ckernden Schein der Leuchter auf beiden Seiten des Kamins zeichne ten sich deutlich seine geschwungenen schwarzen Brauen ab, als wäre er unter der Bronze seiner Sonnenbräune angesichts dessen, 489
was er gehört hatte, erblaßt. »Vielleicht sollte Anshebbeth hinaufgehen und sich zu Lady Taswind setzen«, schlug er sanft vor. »Ich muß ein paar Augenblicke allein mit dem Hauptmann sprechen.« Er hatte Sonnenwolf gegen über auf Kosten der Gouvernante jede Menge rauher Scherze losge lassen, aber ein Teil seines Charmes lag darin, daß er wußte, wann er das Richtige zu sagen hatte. Shebbeths ängstlicher Blick wanderte von Nanciormis zu Kaletha, doch Kaletha, die immer noch über ihre Unterwürfigkeit verärgert war, blickte sichtlich empört zur Seite. Daß sie noch viel verärgerter gewesen wäre, wenn Anshebbeth ihr nicht sofort zuge stimmt hätte, wie es in den öffentlichen Gärten der Fall gewesen war, als das Thema der körperlichen Liebe aufkam, trug offenbar nichts zu der Angelegenheit bei. Anshebbeth raffte mit dem gespann ten Gesichtsausdruck von jemandem, der wußte, daß er es nieman dem recht machen konnte, ihre Röcke und eilte zur Wendeltreppe. »Wenigstens ist sie erlöst«, murmelte Nanciormis, nahm Son nenwolf einen der Pokale aus der Hand und führte ihn von der Ei chenbank, auf der Kaletha nun allein saß, weg. »Wie geht es Ta zey?« Sonnenwolf schüttelte den Kopf. »Schläft gerade friedlich«, sagte er leise. »Sie wird's überleben – aber ich sage Euch, sie wird nicht mehr die gleiche sein.« Der Kommandant atmete seufzend aus. »Bei allen Göttern… « Er benutzte das Shirdarwort für Götter. »In hundert Jahren hätte ich nicht geglaubt, daß Jeryn versuchen könnte, Euch zu folgen. Ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, daß der Junge den Mut dazu auf bringt – aber es war wohl dumm von mir, das auch noch zu sagen.« »Was genau habt Ihr gesagt?« Der Wolf verhielt im Schritt und musterte den Kommandanten neugierig im harten Doppellicht des Kerzenpaars an der Wand. Die goldenen Ringe, die seine Zöpfe zusammenhielten, blitzten auf, als Nanciormis den Kopf schüttelte. »Ich erinnere mich nicht mehr genau, obwohl ich es sollte. Er hatte den ganzen Nachmittag über gejammert – daß Sonnenwolf nicht von ihm verlangt habe, Seile hinaufzuklettern und Bodenübungen zu machen und Gewichte zu stemmen – was Ihr durchaus hattet, wie ich ganz genau wußte. Schließlich riß mir der Geduldsfaden und ich sagte, wenn er Euren Unterricht vorzöge, dann sollte er auch den Mut haben, sich bei seinem Vater für Euch einzusetzen. Das ist alles. Ich hätte ja nie 490
geglaubt, daß er sich auf die Suche nach Euch macht.« Er nahm einen hastigen Schluck von dem Wein; in seine Wangen kehrte wie der etwas Farbe zurück. »Und jetzt das…« Sonnenwolf blickte flüchtig zu den Wachen hinüber, die drüben bei den dunklen Torbögen zum Vestibül immer noch in einem wis pernden Haufen zusammenstanden. »Was ist geschehen?« Nanciormis nahm einen weiteren Schluck und schüttelte den Kopf. »Es muß irgendwann spät am gestrigen Abend passiert sein«, sagte er ruhig. »Wer immer es war, muß ungeheuer stark sein. Nexué wurde buchstäblich in Stücke gehauen. Ich weiß nicht, was sie be nutzten – eine Axt oder eine Sichel vielleicht… « Er schluckte, noch immer von der Erinnerung überwältigt. Er kannte den Krieg, dachte Sonnenwolf. Aber das hier war et was anderes. »Ein kräftiger Mann kann mit einem Schwert viel Schaden an richten.« Er drehte seinen Pokal in der Hand und betrachtete den Reflex des Kerzenlichts im dunklen Wein, trank jedoch nicht. Er hatte seit ihrer kurzen Mittagspause am Rand des Schwemmlands nichts gegessen und wußte, daß er nicht mehr soviel Wein vertragen konnte wie früher. »Und es geschah letzte Nacht?« »Oder heute früh. Man fand sie in einer der alten Werkstätten im leeren Viertel – man hatte ihre Blutspur bis dorthin verfolgt…« »Was hatte sie da zu suchen?« Nanciormis stieß ein ironisches Lachen aus. »Nicht weit von der Mauer entfernt gibt es einen Abtritt für Bedienstete – es sieht ganz so aus, als hätte sie ihn gerade benutzen wollen, obwohl es überall ge wesen sein kann. Sie war nicht nur eine Klatschbase, sondern auch eine Schnüfflerin und Spionin. Es gab nicht viel in der Zitadelle, worüber sie nicht im Bilde war. Das leere Viertel wurde früher schon für solche Stelldicheins benutzt.« »Und sie wurde erst heute nacht gefunden?« Sonnenwolfs bu schige Brauen stießen über der Nase zusammen und verschoben die Augenklappe. »Na ja…« Nanciornus zögerte. Obwohl Osgard in seinem Schlafzimmer laut schnarchte, bemühte er sich bei seinem unruhigen Auf- und Abwandern darum, leise aufzutreten. »Bei dem ganzen Wirbel um Taswind hat man ihre Abwesenheit erst heute abend bemerkt, als der Wind umschlug.« »Was ist mit den Hunden?« »Hunde?« Nanciormis blieb verblüfft stehen. 491
»Es gibt doch überall in der Festung Hunde. Erzählt mir nicht, sie waren nicht an der Leiche.« Der Kommandant runzelte die Stirn, als ihm das Ungewöhnliche daran bewußt wurde. »Nein, waren sie nicht!« sagte er nach einer Weile. »Auch die Ratten nicht, jetzt, wo Ihr es erwähnt, und es trei ben sich immer welche in der Nähe der Küchenabfallgrube herum. Aber wieso…?« »Ich würde mir die Stelle gern ansehen.« Nanciormis nickte. Sonnenwolf warf einen Blick zurück Sternenfalke saß neben Kaletha auf der Bank und hatte ihr den Arm um die schlanken, gebeugten Schultern gelegt. Egaldus kauerte nun, da der Bischof den Raum verlassen hatte, vor der Weißen Hexe, hielt ihre Hände und sprach leise Worte des Trostes zu ihr. Kaletha saß stocksteif da und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Obwohl Sonnenwolf nichts sagte, blickte Sternenfalke zu ihm hoch und erhob sich mit einem letzten, sanften Klaps von Kalethas Seite. Als sie sich zu ihm gesellt hatte und sie gemeinsam auf die Saalpforte zugehen wollten, hielt Sonnenwolf inne und blickte zu Nanciormis zurück. »Weiß Osgard Bescheid?« fragte er. Der kräftige Mund des Kommandanten verzerrte sich vor Wut. »Würde das etwas ändern?« »Du wirst bei Tagesanbruch verschwunden sein müssen«, sagte Sternenfalke, als sie und der Wolf an den kleinen Höfen vorbeigin gen, die sich entlang der Südseite der Festung in Richtung auf das kleine Tor zu erstreckten, durch das man das leere Viertel betrat. »Osgard ließ mich wissen, daß ich bleiben kann – offenbar brauchen sie hier wirklich Wachen, denn die Arbeit in den Minen bringt dop pelt soviel ein wie die für den König – , aber er hat mir verdammt noch mal klargemacht, daß ich besser kein Wort darüber verliere, wie ich den Sandsturm überlebte.« »Wie sieht seine Erklärung aus?« Sie zuckte die Achseln. Selbst bei abnehmendem Mond war das Licht noch stark genug, um unter dem kleinen Lehmziegeltor Schat ten zu werfen. Als er zur Festung zurückblickte, konnte der Wolf das Glühen der Nachtlampen in Tazeys Räumen sehen, die den verhan genen Torbogen wie einen mit Asche bedeckten Ofen dumpf golden aufglühen ließen. Er erinnerte sich nicht, wem all die anderen Räume gehörten, bis auf den mit dem rosa Widerschein des Kerzenlichts, der Jeryn gehören mußte. Er blieb unter dem kleinen Tor stehen, blickte auf den absteigenden Pfad, der über den kleinen Hof dahinter 492
führte, und ein merkwürdiger Schauder durchlief sein Rückgrat beim Anblick der schwarzen Tür zu der Zelle, die er und Falke teilten. Nüchtern fuhr Sternenfalke fort: »Ich glaube nicht, daß er eine hat, nicht einmal vor sich selbst.« »Das sollte er aber besser«, grollte der Wolf. »Sie muß Unterricht bekommen.« Sie blickte ihn in dem elfenbeinernen Mondlicht an. »Wer unter richtete Kaletha, frage ich mich?« Er grinste. Sternenfalke war vielleicht nicht von magischer Ab stammung, aber sie verstand mehr von der Wirkung der Magie als jeder andere, mit dem der Wolf darüber gesprochen hatte. »Zufällig habe ich mich das selbst schon gefragt, als ich an Tazeys Bett saß. Ich dachte anfangs, daß Kaletha ihre ›Bestimmung‹ für die anderen Menschen hier in Tandieras wohl aus heiterem Himmel empfangen hat, aber… Da muß es jemanden geben, selbst wenn er sich aus Angst vor Altiokis nie öffentlich zu seinen Kräften bekannte. Ohne Zweifel ist er oder sie jetzt tot, weil wir von keinem anderen Zaube rer, welchen Geschlechts auch immer, gehört haben – aber vielleicht hat es einen weiteren Schüler gegeben. Wenn wir herausfinden könn ten, wer dieser Magier war, und es uns gelänge, seine Spur zurück zuverfolgen…« »Ich weiß nicht«, sagte der Falke zweifelnd. »Ich habe ihre Leh ren gehört. Als du uns damals in der Krieger schule von Wrynde unterrichtet hast, hieß es immer ›Mein Vater pflegte zu sagen… ‹ oder ›Der Hauptmann von Königin Izachas Leibwache zeigte mir folgendes… ‹ Aber sie stellt alles so hin, als hätte sie es erfunden.« Sonnenwolf blieb stehen. Ihm wurde auf einmal bewußt, was ihn an Kalethas Unterricht immer so sehr gestört hatte. »Mit anderen Worten, sie wird nichts sagen.« Er lehnte sich mit seinen breiten Schultern an die geborstenen Lehmziegel des Tores. Das Mondlicht verwandelte sein Haar in mattes und ausgeblichenes Gold. Auf der anderen Seite des Hofes huschte eine Ratte aus der Tür ihrer Zelle, lief ein paar Schritte weit, duckte sich, witterte vorsichtig in der kalten Luft und fuhr dann blitzartig in einem kleinen Wirbel aufstie benden Sands in die Deckung eines Strauchs neben dem alten Brun nen. »Sie ist geizig mit ihrer Macht«, fuhr der Wolf bedächtig fort. »Sie will die Lehrerin bleiben, um ihre Schüler bei sich zu behalten – sie liebt die Macht, die ihr das gibt. Wenn es einen Konkurrenten um diesen Posten gibt, wird sie das niemanden wissen lassen. Aber an Orten wie diesem kann man die Art von Beziehung, die Lehrer und 493
Studenten haben müssen, nicht verheimlichen. Es braucht Jahre, zu lernen, Falke – wäre sie jemandem so lange nahe gewesen, dann wüßte das jemand.« »Shebbeth«, sagte Sternenfalke prompt. »Sie ist schon seit min destens zehn Jahren hier. Eifersüchtig, wie sie auf jeden von Ka lethas Freunden ist, gehe ich jede Wette ein, daß sie es wissen müß te.« »Und wahrscheinlich würde sie es uns auch sagen«, pflichtete der Wolf ihr bei, »und sei es nur, um diese Freunde zu übervorteilen.« Er warf über seine Schulter einen Blick zu der bernsteinfarbenen Wär me des Torbogens am oberen Ende der Außentreppe. »Sie läuft uns nicht weg«, sagte er. »Sie ist jetzt bei Tazey und wird wohl noch eine Weile dort bleiben. Komm.« Er stieß sich mit der Schulter von der Mauer ab und schritt in das kalte Mondlicht des Hofes hinaus, wobei der sandige Kies unter seinen Stiefeln leise knirschte. »Es gibt eine Menge zu tun, und die Nacht dauert nicht mehr lange.« Es fiel ihnen nicht schwer, Nexués Spuren zu finden – Sternen falke hätte es auch ohne Sonnenwolfs Fähigkeit, im Dunkeln sehen zu können, geschafft. Selbst das struppige, borstige Gras und die Kameliensträucher warfen im Schein des untergehenden Mondes Schatten. Der Weg zu den Abtritten der Bediensteten hinter den Ställen führte an der Mauer entlang, und seit dem Sturm hatte nie mand mehr den kleinen Hof überquert. Eine Linie verschmierter Markierungen schwenkte abrupt von der festgetrampelten Erde des Weges ab und führte erst zum Tor hinüber, dann an den Zellen vor bei in das leere Viertel. »Sie muß dort drüben in den Schatten am Rand der Mauer je manden gesehen haben«, vermutete der Wolf, während er die Spuren musterte. »Oder vielleicht gehört… « »Wohl eher gehört.« Sternenfalke bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die vom Sturm aufgehäuften Sandwehen. »Hier im Schatten gibt es keine Spuren.« Sonnenwolf brummte in sich hinein. Er konnte sehen, wo Nexué die Richtung geändert und zu laufen begonnen hatte, nicht zum Tor zurück, sondern über den Hof zu den Irrgärten aus zerfallenden Lehmziegelmauern und streifigem schwarzen Mondlicht im leeren Viertel. Im Kreis gehend, den Blick auf den Boden geheftet, bewegte er sich vorsichtig, um nicht irgendwelche Spuren zu zerstören. Aber selbst mit dem Sehvermögen eines Zauberers in der Dunkelheit er kannte er keinen Abdruck, keine Markierung, keinen Grund, der die 494
Frau zu diesem Handeln veranlaßt haben könnte. Vielleicht jemand auf dem Pfad? In den vierundzwanzig Stunden, die zwischen der Mordtat und ihrer Entdeckung vergangen waren, hatten Dutzende von Bediensteten diesen Weg zu den Abtritten ge nommen. Und doch… Vom Sturm herangetragene Sandwehen lagen im Hof, die sich in kleinen Dünen durch die offene Tür der verlassenen Zelle ergossen. Nexués Spuren waren nur ein verzweifeltes Schlurfen – ihr Lauf mußte langsam und schwerfällig gewesen sein, bei all dem Sand und Kies, über den sie hatte hinwegeilen müssen. Wenn jemand in ihren sichelförmigen Spuren gelaufen war, waren die Abdrücke jetzt nur noch verwischte Dellen, die sich mit den ihren vermischten. Etwas bereitete dem Wolf Unbehagen. Das leere Viertel lag still wie der Tod rings umher, als er die Fährte bis zu ihrem offensichtli chen und wohl schmerzhaften Abschluß verfolgte – dem ersten ver schmierten Blutstropfen, wo eine geschwungene Waffe mit Fleisch in Berührung gekommen war, dann die Spur der Hand, wo Nexué gestrauchelt war, sich abgestützt hatte und verzweifelt weiter auf die gepflasterten, leeren Höfe zugeflohen war. Das Blut war im Laufe des gestrigen Tages getrocknet, aber der alte Färbereiladen, vor dem sie schließlich zusammengebrochen war, stank noch immer danach. Als der Wolf die dunklen Flecken betrachtete, die wie Schatten dort lagen, wo keine sein sollten, empfand er eine Art Dankbarkeit, daß jetzt die kälteste Nachtzeit war und es keine Insekten gab. Nexué war ein derbes und schmutzig denkendes altes Weib gewe sen, dachte er, und doch… Angesichts der Blutmenge muß sie lange hier herumgelaufen sein. Was von dem Körper übriggeblieben war, hatte man wegge schafft. Der Boden war ein wirres Durcheinander von Spuren der Wachen, von Nanciormis und dem Bischof. Insgeheim verfluchte Sonnenwolf sie alle. »Nicht der winzigste Hinweis auf ihren verdammten Mörder«, murmelte er, als er und Sternenfalke den gleichen Weg durch die leeren Höfe zurücknahmen. Sie gingen durch kurze Verbindungs gänge, deren Dächer von etlichen Herbststürmen fortgerissen worden waren und deren verwitterte Pfeiler schräg aus den Sandwehen rag ten und ihnen das Gehen erschwerten. Irgendwo in der Stille schrie eine Eule; das Rascheln von Sand erklang, ein Schatten strich lautlos über ihre Köpfe, und etwas piepste schmerzerfüllt auf. Sonnenwolfs Stiefel stapften erst schwer in den Sandwehen zwischen zwei Mau 495
ern, dann auf dem rauhen Kiesboden. »Und wenn sie so schlau wa ren, auf den zerbrochenen Mauerkronen zu laufen, könnten sie ent kommen sein, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen. Es gibt ein Dutzend ausgetrockneter Brunnen und Gruben, in die man eine Waf fe und blutige Kleidung werfen kann… « Er hielt stirnrunzelnd inne, sein Auge funkelte wie durchsichtiger Bernstein in den streifigen Schatten. »Das gefällt mir nicht, Falke.« Sie verstand, was er meinte, und nickte. Um sie herum war das leere Viertel still wie der Tod. »Hättest du es gekonnt?« »Mit bloßer Körperkraft?« Sie schüttelte den Kopf. »Oh, viel leicht mit einem dieser großen beidhändigen Schwerter, wie Eo die Schmiedin sie benutzte – einem, das einem schon mit der flachen Klinge das Genick brechen konnte. Aber es ist hier eigentlich kein Platz, um so eines benutzen zu können, und im Laufen wäre es ganz sicher unmöglich. Nein.« Sie verschränkte die Arme, sah sich in den stillen Irrgärten aus Sand und zerfallenen Lehmziegeln um. »Ich kann verstehen, daß jemand sie umbringen wollte, um zu verhindern, daß sie irgendwas ausplaudert – die Mutter weiß, daß sie nicht nur ein altes Klatschweib, sondern auch eine Spionin war, und wie ein Esel mit ihrem Schmutz um sich geworfen hat. Aber – man hat sie im wahrsten Sinne des Wortes stückweise aufgefunden, Wolf. Je mand hat sie fast einhundert Schritte weit durch diese Höfe gehetzt. Was man ihr antat, war mehr als nur Mord – und ich kann mir nur eine Person vorstellen, die groß und stark genug war, um sie auf diese Weise zu zerstückeln, und die wollte, daß sie den Mund hält.« Sonnenwolf nickte. Vor ihnen hüllte sich die Masse der Festung weitgehend in Dunkel, während sich die letzten derer, die Magie und Mord auf die Beine gebracht hatten, erschöpft zur Ruhe legten. Am Ende des langen südlichen Balkons brannte noch das Licht in Tazeys Raum. Am Südostende des zerklüfteten Massivs aus zinnenge schmücktem Granit zeigte ein weiteres weingoldenes Rechteck an, daß noch immer eine Lampe in der Sonnenhalle des Königs brannte. Langsam sagte der Wolf: »Wir können nicht wissen, ob er der einzige war, Falke. Vielleicht hat es andere gegeben, mit anderen Gründen oder auch dem gleichen. Aber, ja – ich würde doch zu gern wissen, wo Osgard sich letzte Nacht etwa um diese Zeit aufgehalten hat.« Als Sonnenwolf die Treppe hinaufstieg, die sich an der Südseite der Festung emporwand, war es in den Räumen entlang des Balkons 496
still. Unter ihm und ringsumher hatte sich die samtene Dunkelheit in Asche verwandelt; im Osten zeichnete sich das schlackenfarbene Massiv des Morianberges gegen die ersten Tupfer des Morgengrau ens ab. Wie Kerzenlicht, das sich an einer Nadelspitze bricht, funkel te der schmal zulaufende Turm der Kathedrale im erwachenden Gold. Nadelstiche aus Licht an den Ausläufern der Berge zeigten an, wo sich Männer und Frauen in der Dunkelheit schon zum Frühstück erhoben, bevor sie zu ihrer Schicht in die Minen gingen. Während er auf dem Balkon stand, spürte der Wolf, wie alle verstohlenen Bewe gungen der Nacht zu einem Abschluß kamen – Füchse und Kojoten auf dem leeren Feld zwischen der Stadt und der Festung trotteten zu ihren Höhlen in den Felsen zurück, leckten sich die letzten Blutsprit zer von den Barthaaren, und Zaunkönige und Lerchen erwachten, um im Dunkel in ihren Revieren zu pfeifen. In Tazeys Raum brannten immer noch Kerzen. Sonnenwolf rief, verborgen im Winkel von Schatten und Vorhang, leise Anshebbeths Namen und überlegte, wie weit ein Laut an der langen Südfassade der Festung trug. Aber er bekam keine Antwort. Als er lautlos den Innenraum betrat, sah er, wie Tazey sich in unruhigem Schlaf hinund herwarf; ihre Gouvernante war verschwunden. Er verfluchte die Frau dafür, sie alleingelassen zu haben, und ging zu dem Bett hin über, um seine Hand auf die Finger des Mädchens zu legen. Sie fühlten sich heiß an. Ihr Gesicht wirkte gerötet und verquollen wie im Fieber; als er sich zu ihr hinunterbeugte, wandte sie den Kopf ab und wisperte verzweifelt: »Ich will nicht! Ich will nicht!« Mit einer Berührung, die für so große Hände erstaunlich sanft war, strich er ihr das verfilzte Haar aus der Stirn. »Das brauchst du auch nicht, Tazey«, murmelte er, obwohl er wußte, daß sie in tiefem Schlaf lag. Sie seufzte leise auf und verstummte; kniend blieb er neben ih rem Bett, wo er bereits am Nachmittag so viele Stunden verbracht hatte, bis sich ihre Träume beruhigt zu haben schienen. Er konnte kaum glauben, daß dies wirklich ein Teil derselben Nacht war. Als ihr Atem gleichmäßiger geworden war, erhob er sich und ging durch den Außenraum wieder auf den Balkon hinaus. Als Ta zeys Gouvernante sollte Anshebbeth ihren Raum ganz in der Nähe haben, obwohl er insgeheim vermutete, daß sie bei Kaletha war, wo immer sich diese auch gerade aufhalten mochte. Shebbeth war zwar aufrichtig um ihr Schäfchen besorgt, aber er hatte schon häufig ge 497
nug beobachtet, daß sie es vorzog, an die Seite der Hexe zu eilen, wenn sie eigentlich bei Tazey Anstandsdame spielen sollte. Und überdreht, wie Kaletha vorhin im Saal war, dachte er, könnte sie sie durchaus darum gebeten haben. Aber er irrte sich. Die Vorhänge vor dem nächsten Torbogen waren zugezogen, und ein Streifen rosa Lichts ruhte wie der Saum eines Unterrocks auf den Fliesen dahinter. Er lauschte einen Augenblick lang, vernahm jedoch keinen Laut, dann schob er leise den Vorhang beiseite. Anshebbeth schrak von ihrem Diwan auf. »Mein Lieber, was…?« begann sie, als sie seinen dunklen Umriß vor der Nacht sah; dann, als er ins Licht trat, wurde ihr vom Schlaf glühendes Gesicht krebsrot und gleich darauf kalkweiß. Hastig zog sie das gelöste Ge wand vor ihren engstehenden Brüsten zusammen, und zitterige Fin ger spielten mit den unbändigen Strähnen ihres schwarzen Haars, während sie mit der anderen Hand den Ausschnitt bis zum Hals hinauf bedeckt hielt. Ihre Schuhe lagen einzeln auf beiden Seiten des Diwans; die Luft atmete den Geruch der Liebe. Während sich in seinem Kopf nur eine große erstaunte Frage bil dete, sagte Sonnenwolf! »Ihr solltet bei Tazey sein. Sie darf nicht alleingelassen werden.« »Nein… natürlich nicht… « Sie kicherte unhörbar, hantierte an ihren Knöpfen, die großen dunklen Augen niedergeschlagen. »Das heißt… ich kam hierher, um… um mich etwas hinzulegen. Ich war so müde… die Neuigkeiten über Nexué… « Er blickte von den zerknautschten Kissen auf dem Diwan zu ih ren schmalen kleinen Zehen, die irgendwie obszön unter den zer drückten Röcken hervorlugten. Sternenfalke, dachte er, würde das sehr interessieren, ebenso wie ihn selbst – ganz unversehens wurde ihm klar, weshalb Shebbeth sich für die Fleischeslust ausgesprochen und damit Kalethas Ärger auf sich gezogen hatte. »Es geht mich ja nichts an«, sagte er ruhig, »aber ich muß bei Tagesanbruch von hier verschwunden sein, und es gibt da etwas, das ich Euch fragen wollte.« Sie wich vor ihm zurück, das schmale Gesicht voller Argwohn, während sie mit den Fingern weiter durch das dichte schwarze Haar strich und den Blick auf der Suche nach Haarnadeln über den ge fliesten Boden schweifen ließ. Sie lagen überall verstreut, als hätte die zupfende Hand eines Mannes sie entfernt. Sonnenwolf hob zwei auf und ging hinüber, um sie ihr zu geben. Er hatte sie nie für eine 498
schöne Frau gehalten, obwohl körperliche Schönheit ihm heute nicht weniger auffiel als früher; mehr als ihre simple Schlichtheit stieß ihn ihre offenkundige Verzweiflung ab. Die rüden Scherze, die Nanci ormis über sie gemacht hatte, waren nicht völlig unberechtigt; ihr Blick wich dem seinen aus. »Was?« fragte sie. Er setzte sich nicht auf den Diwan, weil er wußte, daß es sie er schrecken würde. »Wir müssen Tazey helfen«, sagte er sanft, und sie entspannte sich ein wenig und blickte ihm ins Gesicht. »Sie wird Hilfe brauchen.« Anshebbeth holte tief Atem und stieß ihn mit einem Seufzer wie der aus. Sie war angespannt wie ein nasses Seil. Sonnenwolf griff sich einen Stuhl von der Wand und setzte sich ihr gegenüber; er sah, wie sie sich weiter entspannte, nun, da seine körperliche Größe nicht mehr drohend vor ihr aufragte. Schrill sagte sie! »Kaletha ist mehr als nur willens zu helfen. Aber dieser… pathetische Trunkenbold von einem Vater läßt sie ja nicht.« Sie plapperte gehorsam Kalethas Worte nach. »Er würde sie lieber sterben sehen als zuzugeben, daß sie mit der Macht geboren wurde.« »Ich weiß«, sagte der Wolf. »Darüber möchte ich ja mit Euch sprechen. Tazeys Vater und Kaletha kommen nicht miteinander aus – ich denke, das ist einer der Gründe, weshalb er sich weigert, ihre Hilfe oder die Hilfe von einem ihrer Schüler anzunehmen.« »Er ist einfach unvernünftig«, entgegnete sie mit abgehackten Worten, wobei sie immer noch seinem Blick auswich. Sie steckte sich eine Nadel ins Haar, ließ die andere jedoch nervös fallen, die daraufhin in ihrem schwarzen Schoß im kupfernen Schein der Lam pe aufblitzte. »Er ist ein sturer alter Säufer, der Kalethas Macht nicht sehen will, ihre großartige Gabe, ihre Bestimmung… « Sonnenwolf hob die Hand. »Das weiß ich. Aber weder ich noch Kaletha können ihn ändern.« »Er könnte zugeben, daß er sich irrt… « »Aber das wird er nicht.« »Das sollte er aber«, beharrte sie eisern, und Sonnenwolf emp fand eine Welle des Mitleids für das Opfer von Nanciormis grausa men Scherzen. »Vielleicht wird er das auch noch – aber wahrscheinlich nicht rechtzeitig genug, um Tazey zu helfen.« Anshebbeth wollte etwas erwidern, also fuhr er entschlossen fort: »Wir müssen uns der Situa tion stellen, wie sie ist. Osgard glaubt Kaletha nicht, hat keinen Re spekt vor ihrer Macht, ich denke, zum Teil deshalb, weil er sie schon 499
sein Leben lang kennt. Aber eine andere Zauberin könnte unter Um ständen eine Chance haben.« »Kaletha hat ein Recht darauf, ihre Lehrerin zu sein.« Die dün nen weißen Hände verkrampften sich in ihrem Schoß, als sie sich vorbeugte. »Es ist ihre Bestimmung.« »Vielleicht«, sagte Sonnenwolf und fragte sich, wie Anshebbeth weiter für sie als Lehrerin eintreten konnte, wo sie von ihr doch wie ein lästiger Hund behandelt worden war. »Aber wenn es deswegen mit Osgard zu einer Auseinandersetzung kommt, ist es Tazey, die darunter leiden muß.« Anshebbeth preßte die Lippen zusammen, als wollte sie sich wieder für Kalethas Rechte in dieser Angelegenheit einsetzen, aber sie tat es nicht. Sie blickte auf ihre langen, dünnen Hände hinunter, die mit der Nadel in ihrem Schoß spielten, und schwieg. »Wer war Kalethas Lehrer?« Sie hob den Blick und erwiderte sofort mit Stolz in der Stimme! »Oh, sie hatte keinen. « Sonnenwolf krauste die Stirn. »Wie meint Ihr das, sie hatte kei nen? Man… man erfindet nicht einfach Zaubersprüche. Jemand muß sie unterrichtet haben. « Die Gouvernante schüttelte den Kopf, wobei der Ausdruck auf ihrem Gesicht der hochnäsige, stolze Blick eines Mädchens war, das mit dem hübschesten Mädchen der Schule befreundet ist. »Kaletha brauchte keinen Lehrer. Und es gab ja sowieso keinen – seit der Zerstörung Wenshars hegte man überall im Land heftige, unvernünf tige Vorurteile gegen jeden, der magischer Abstammung war. Ihre Bestimmung führte sie zu Büchern der Magie, die seit Jahrhunderten verschollen gewesen waren, aber da verfügte sie schon über die Macht. Ich wußte es bereits, als sie noch ein kleines Mädchen war und ich hierherkam, um Taswinds Gouvernante zu werden. Sie strahlte es aus wie die Flamme in einer Alabasterlampe.« Ihr Gesicht veränderte sich, als sie an dieses gebieterische rothaarige Mädchen dachte; sanftes Begehren entströmte ihrer Stimme. »Sie war sieb zehn, schön, stolz und rein – selbst damals schon – , als hätte sie ihre Bestimmung bereits gekannt. Und es gab viele Männer, die… die… die ihre Reinheit nur zu gern beschmutzt hätten, wäre es ihnen mög lich gewesen. Aber sie war stark, hielt solche Schändlichkeiten für unter ihrer Würde… « Ihre Stimme schwankte, und Farbe stieg wie der in ihre blassen Wangen. Hastig fuhr sie fort: »Obwohl ich die Ältere bin, war von Anfang an sie meine Lehrerin und nicht ich die 500
ihre .Sie… « »Was für Bücher?« Er hatte sie schon früher einmal davon spre chen hören. Osgards Worte kamen ihm wieder in den Sinn, Eure schmutzigen, gestohlenen Bücher… »Woher hatte sie die?« »Das hat sie nie gesagt.« Ihre Hand fingerte nervös an der Kehle herum, aber sie schien froh zu sein, über etwas anderes als Kalethas Idee von Reinheit sprechen zu können. »Ich selbst habe sie niemals gesehen. Aber wären nicht die Bücher gewesen, dann hätte sie eine andere Möglichkeit gefunden, ihre Kräfte auszubilden. Und es ist viel schwerer«, setzte sie aufgeregt hinzu, »diese Art von Fähigkeit ohne einen Lehrer einfach aus Büchern zu gewinnen. Alles, was sie kann, hat sie sich mühsam selbst angeeignet – mit Meditation, Selbstverleugnung und… und kraft ihres starken Willens. Sie ist einer von diesen Menschen, die gar nicht anders können als großartig zu sein…« Ihre Stimme verlor sich. Verlegen strich sie die zer knautschten Kissen auf dem Diwan glatt, wobei das schwarze Haar in kleinen Wellen nach vorn fiel und ihr tiefrotes Gesicht einrahmte. »Ich werde nie großartig sein. Meine Würde besteht darin – hat im mer darin bestanden – , ihr zu helfen. Sie weiß das. Wir verstehen uns.« Jedenfalls versteht sie dich, dachte der Wolf mit zynischem Mit leid. Du armes betrogenes Weibsstück. Aber er sagte nur: »Wo sind diese Bücher?« Doch Anshebbeth schüttelte nur den Kopf, nicht willens – oder fähig – zu antworten. Sternenfalke erwartete ihn am Fuß der Treppe. Er versuchte sich zu erinnern, wann sie zuletzt geschlafen hatte. Das mußte gewesen sein, bevor sie nach Wenshar aufgebrochen war, um ihn zu suchen – und das nach dem Sandsturm und alledem, was seither passiert war. Aber wie üblich machte sie nur den Eindruck, daß sie, wenn er aus heiterem Himmel eine blutige Schlacht angekündigt hätte, nur ge fragt hätte, in welcher Richtung der Feind stände. Er seufzte. Er fühlte sich selbst sehr müde, eine Müdigkeit, die plötzlich wie eine Gezeitenwoge aus der fernen See über ihn ge kommen war. Erinnerungen des Tages und der Nacht verschmolzen miteinander: bläuliche Lichter flackerten zwischen Säulenschatten, die sie nicht mit Helligkeit füllen konnten; Osgards träge, nuschelnde Stimme, die sich wütend erhob; und eine Linie verzweifelt strau chelnder Abdrücke in den Sandwehen eines leeren, von Mondschein erfüllten Hofes. Der Mond stand über dem Binnig-Felsen, eine baro 501
cke Perle am grauseidenen Himmel. »Du solltest jetzt besser gehen.« Sternenfalke lehnte mit dem El lenbogen auf dem glatten Granit der Balustrade; die Linie ihres Kör pers erinnerte ihn an eine Löwin in gespannter Haltung. Er sah, daß sie sich während der Nacht gewaschen und die Kleidung gewechselt hatte; wenn sie nicht gerade bis zu den Ellenbogen in anderer Leute Blut watete, war sie stets so reinlich wie eine Katze. »Sie sagen, du könntest ein gutes Auskommen als Minenarbeiter finden – die be kommen doppelt soviel Lohn wie die Wachen.« Sonnenwolf blickte zu der Reihe dunkler Torbögen auf dem Bal kon über ihnen hinauf – der Balkon, auf dem Sternenfalke in der Nacht, als er und Nanciormis vom Gelage mit dem König zurückge kommen waren, einen Mann in einen der Räume hatte schlüpfen sehen, worauf eine Frau erschreckt aufgeschrien hatte. Außerdem erinnerte er sich, daß Sternenfalkes Stimme in jener Nacht zu ihm aus dem frostigen Mondschein des Hofes hinaufgerufen hatte, um ihn vor einer Gefahr zu warnen, deren Existenz sie ihm bis heute nicht hatte beweisen können. Dann warf er einen Blick zurück auf das taubengraue Massiv des Tores. Nexué hatte es passiert, als sie zu einem Treffen unterwegs gewesen war, das sich als tödlich erwiesen hatte. Er fragte sich, ob die Vögel im leeren Viertel an jenem Morgen still gewesen waren, wie an dem Tag, als er die hingeschlachteten Tauben fand. »Ich glaube nicht, daß ich gehen sollte, Falke«, erwiderte er in ruhigem Tonfall. Ihr Einwand klang vernünftig: »Der König wird erbost sein, wenn er dich wieder im Saal beim Frühstück sieht.« Er ging nicht auf den Scherz ein. »Schmuggel mir was raus. Ich werde mich ein paar Höfe entfernt im leeren Viertel einrichten.« Schon bei diesen Worten überkam ihn ein Schauder. Die Erinnerung an blutbespritzte Lehmziegel und feinen grauen Staub, der keine Spuren hinterläßt, stieg in ihm auf. Jenseits des kleinen Tores konnte er das Labyrinth aus Mauern, Pfeilern und Höfen sehen, die mit Sandwehen und geborstenen Fliesen bedeckt waren – den nicht be grabenen Leichnam der Festung. Die Frau neben ihm richtete sich auf und schob die Hände unter den Schwertgürtel, eine Haltung, die sie im Laufe der Jahre von ihm übernommen hatte. Der erste Däm mer des Morgens funkelte wie kalter, stählerner Tau auf dem Be schlag ihres Wamses. Sie musterte ihn aus Augen, die die Farbe des grauen Winterhimmels hatten, schien jedoch keineswegs überrascht. 502
Aber eigentlich war Falke nie überrascht. »Aus welchem Grund Nexué auch immer getötet worden ist, die ses Gemetzel war nicht die Tat eines geistig Gesunden. Und viel leicht war es nicht einmal die Tat eines Menschen. Die Sache stinkt zum Himmel, Falke, sie stinkt nach dem Bösen. Ich weiß nicht, wer bald Schutz benötigen wird, aber irgend jemand wird es ganz si cher.«
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8. Kapitel Während der beiden darauffolgenden Tage lag Sonnenwolf im leeren Viertel verborgen auf der Lauer. Als er sich dort im Morgen grauen nach dem Auffinden von Nexués Leiche eingerichtet hatte, fühlte er sich unbehaglich, aber er schlief traumlos in einem der langen Schlafsäle, die noch ein Dach hatten. Er nahm sich die Zeit, den Kreis des Lichts und den Kreis der Finsternis in den Staub rings um sich her zu kratzen, ohne zu wissen, ob sie gegen eine übernatür liche Gefahr, deren Herkunft er nicht einmal kannte, überhaupt etwas ausrichten würden. Es war nur ein Versuch, eine Möglichkeit – wie das Verwischen seiner Spuren. Als er von der Mittagssonne, die durch die Löcher im Dach schien, wo Stürme im Laufe der Jahre die Schindeln abgetragen hatten, erwachte, sah er, wie sich eine Kugel spinne von der Größe seiner ausgebreiteten Hand zielsicher über die ungleichmäßige Oberfläche des mit Unrat bedeckten Bodens wälzte, am Rand des äußeren Kreises innehielt, dann daran entlangkroch, als wäre er eine Pfütze mit Wasser. Den Tag über blieb Sonnenwolf im Gebäude und in Deckung. Zu viele Fenster und Brustwehren erhoben sich in und auf den verwitter ten Mauern dieser ausgedehnten Festungsanlage. Im Grunde seines Herzens fürchtete er nicht so sehr Osgards Drohung, ihn kreuzigen zu lassen, falls er sich je wieder in Tandieras sehen lassen sollte, sondern daß der König geisteskrank sein könnte. Irgend jemand oder irgend etwas hatte Nexué in Stücke geschla gen, und Sonnenwolf würde nicht den Fehler begehen, anzunehmen, daß betrunkenes Gebrüll alles war, was der König in seiner Wut zustande brachte. Bei Einbruch der Dunkelheit verließ er die Gebäude, die noch Dächer hatten, und machte sich auf die Suche nach Spuren. Auch im trockenen Klima der Wüste zerfielen Lehmziegelbauten sehr schnell, wenn sie keine Dächer mehr hatten; das Labyrinth des leeren Vier tels bestand aus zahlreichen nur knapp zwei Meter hohen Mauern sowie Zellen, Kammern und Schlafsälen, deren Dächer erst kürzlich eingefallen waren, so daß sie noch wie Räume wirkten. Sandwehen, Kiesflächen und Stapel mit zerbrochenen Schindeln lagen von Spu ren bedeckt umher: den Ringelmustern von Gleitschlangen, den zarten Tupfern von Eidechsen, leichten Vogelabdrücken gleich ural ten Shirdarrunen, wie er sie im flachsfarbenen Sandstein von Wens 504
har eingraviert gesehen hatte. Die Mauern waren mehr als einen Meter dick – einem menschlichen Mörder war es leicht möglich, auf ihnen entlangzulaufen, ohne im Sand unten Spuren zu hinterlassen. Aber nirgendwo in der Nähe des blutverschmierten Färbereiladens fand er Hinweise auf einen Menschen, der auf den Mauerkronen geflohen sein könnte. Wie die Füchse, die den ganzen Tag über in den Bauten schlie fen, durchstreifte Sonnenwolf das Labyrinth der Schatten im gemus terten Mondlicht. In den nördlichen Höfen nahm er einen Hauch von Magie wahr, den unangenehmen Eindruck von Zaubersprüchen in der Dunkelheit. Wie immer, wenn er am Fuß der Mauern einer feind lichen Stadt die Lage ausspähte, ließ er sich bis dicht über den Boden herabsinken, unterhalb der Sichthöhe eines stehenden Mannes. Doch er war sich bewußt, daß der indigofarbene Samt der Schatten ihn vor den Augen eines Magiers nicht schützen würde. Er folgte dem magi schen Hauch wie einer Duftspur. Seltsamerweise spürte er keine Gefahr, sah jedoch einen Augenblick später einen Skorpion mit hochaufgerichtetem spitzen Schwanz, der ihm dann plötzlich den Weg freimachte und in eine andere Richtung davonhuschte. Er erin nerte sich wieder, wie still die Vögel an jenem Morgen gewesen waren, als er die toten Tauben gefunden hatte. Vorsichtig glitt er vorwärts; als er schließlich über die Krone ei ner abgebrochenen Mauer blickte, hörte er eine Frau stöhnen. In der Zelle dahinter lagen ein Mann und eine Frau ineinander verschlugen, und das Mondlicht, das durch die geborstene Dachbe deckung fiel, bedeckte ihre Beine von den Schenkeln an abwärts wie ein Seidenlaken. Wo es die Kleidung traf, auf der sie lagen, konnte Sonnenwolf das Glitzern von silbernen Stickereien auf schwarzem Wollgewebe sehen, den Wappenrock, der mit den heiligen Runen der Trinitarier bedeckt war. In den Schatten machte sein magisches Sehvermögen die sanfte Wölbung einer vollen Brust und den Arm eines jungen Mannes aus, weiß wie der Körper der Frau, die er um klammerte. Goldenes Haar wogte und vermischte sich mit rauchro ten Locken. Er wußte, daß ihn das hier nichts anging, und so entfernte er sich mit der bei Hunderten von ähnlichen nächtlichen Missionen erwor benen Lautlosigkeit. Aber er fragte sich, ob Kaletha, nach all ihrem Gerede von Reinheit und Zucht, Nexué vielleicht dabei ertappt hatte, wie sie ihr gerade an diesem Ort nachspioniert hatte. Für Sternenfalke war es eine interessante Zeit. Es hatte ihr immer 505
gefallen, Leute zu beobachten, und ihr große Freude und Genug tuung bereitet, wenn sie sah, daß sich ihre Freunde genau den Erwar tungen entsprechend verhielten, ob zum Guten oder zum Schlechten. Sie hatte es immer getan, und es hatte ihr niemals Beliebtheit einge bracht. Weder ihre Brüder und ihre Lieblinge, die Nonnen im Kloster von St. Cherybi, wo sie aufgewachsen war, noch die anderen Söldner aus Sonnenwolfs Truppe hatten sich unter dem urteilsfreien Blick dieser ruhigen grauen Augen besonders wohl gefühlt. Vielleicht war das der Grund, weshalb es sie als Außenseiterin häufig amüsierte, was vorging, und sie doch oft gleichzeitig eine tiefe und aufrichtige Sorge darüber empfand. Nach zwei Tagen ruhigen Wachdienstes und Unterrichts in den Gärten von Pardle Sho hatte sie manchmal den Eindruck, am Rande eines Wasserlochs zu liegen und aus dem Verborgenen die Tiere beim Trinken zu beobachten. Tazey blieb im Bett, lag die meiste Zeit über nur da und starrte zur Decke, wobei sie hin und wieder auch weinte. Es hatte Sternen falke nicht viel gekostet, ihre Familie zu verlassen und ins Kloster einzutreten, aber sie erinnerte sich noch immer mit schmerzhafter Deutlichkeit an die eine lange Nacht, die sie bei dem Versuch ver bracht hatte, sich zu entscheiden, ob sie in Ruhe dort unter Frauen bleiben sollte, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, oder dem dunklen und gewaltsamen Pfad eines Mannes folgen sollte, mit dem sie erst einmal gesprochen hatte, eines Mannes, der in ihrer Seele ein kleines Pulverfaß des Begehrens entfacht hatte, das, wie sie im Grunde ihres Herzens wußte, nie wieder gelöscht werden konnte. Ihre größte Angst, erinnerte sie sich, war gewesen, daß sie sich in jemanden verwandeln könnte, der sie nicht sein wollte – jemanden, von dem sie selbst nichts hätte wissen wollen. Aber vom ersten Au genblick an, da sie wußte, daß Sonnenwolf ihr den Eintritt in seine Truppe erlauben würde, war ihr klargewesen, daß es keinen Rück weg mehr gab. Sie konnte ihm folgen oder aber ihr restliches Leben in dem Bewußtsein verbringen, ihm nicht gefolgt zus ein. Was immer hinter der stummen Mauer liegen mochte, die die Zukunft verbarg, Sternenfalkes Herz litt mit dem Mädchen und sei ner einsamen Wahl. Es würde schon helfen, dachte sie mit kühlem Ärger, wenn sie Tazey einfach in Ruhe ließen. Aber natürlich taten sie das nicht. Ihr Vater kam, nüchtern, ernst, nach dem Alkohol der letzten Nacht riechend, in der schwülen Hitze des Morgens, sprach leise auf sie ein 506
und nannte sie sein kleines Mädchen. Tazey stimmte allem zu, wor um er sie bat, doch als sie wieder allein war, weinte sie hemmungs los mehrere Stunden lang. Auch Bischof Galdron kam vorbei und sprach in zuckersüßem Ton von den Neun Höllen und der vorherbe stimmten Wahl. Sternenfalke traf ihn auf der Treppe, die zu Tazeys Zimmer führte, und sie erklärte ihm, daß sie, wenn er jemals wieder so zu Tazey spräche, ihm persönlich einen Schlag auf die Nase ver setzen würde. »Der Mann ist ein Fanatiker und Heuchler«, sagte Kaletha und faltete ihre Hände inmitten der gezackten Sonnenstrahlen, die durch den Torbogen auf ihre schwarzgekleideten Knie fielen. »Er wird wohl selbst nicht ganz glauben, daß der Gebrauch von Hexenkunst zu ewiger Verdammnis verurteilt. Aber trotzdem wirft die Drohung körperlicher Gewalt, so wenig Ihr es auch beabsichtigt haben mögt, ein schlechtes Licht auf uns alle!« Sternenfalke zuckte die Achseln. »Wenn ich eine Zauberin wäre oder eine werden wollte«, sagte sie gleichmütig, »könntet Ihr recht haben – immer vorausgesetzt, daß ich Euch erlauben würde, über mein Verhalten zu urteilen.« Kaletha erschrak, bekam sich jedoch rasch wieder in die Gewalt und verbarg ihre Überraschung, daß je mand in ihrer Begleitung ihre Gebote nicht selbstverständlich akzep tierte. In ihren menschlichen Augenblicken, dachte Sternenfalke ironisch, hatte Kaletha immerhin die Grazie, die Überheblichkeit dieser Annahme zu erkennen. Um sie herum brüteten die öffentlichen Gärten von Pardle Sho in der Hitze; die wenigen stacheligen Kakteen und dunklen Felsblöcke, die diesen Hof zierten, erinnerten sie aus irgendeinem Grund an den Wolf. Sternenfalke fuhr fort: »Und ja, ich meinte, was ich sagte. Tazey muß ihre Wahl selbst treffen. Ob sie nun beschließt, ihrem Vater und einem zukünftigen Ehemann den Rücken zu kehren, oder es sich nur noch schwerer zu machen, indem sie vorgibt, der Sandsturm wäre nie geschehen, es ist ihre eigene Wahl, und Galdron hat kein Recht, ihr die Hölle unter die Nase zu halten. Einerlei, wie's weitergeht, sie wird genug durchmachen müssen.« »Der Mann ist ein Flegel… « begann Anshebbeth und blickte aus einer Meditation auf, auf die sie sich offenbar nicht konzentriert hatte. »Nein«, berichtigte Kaletha. »Er ist sehr zivilisiert – das macht ihn ja so gefährlich.« »Jedenfalls macht es ihn glaubwürdig«, fügte Egaldus nachdenk 507
lich hinzu. Er saß auf der Granitbank im Schatten des Gitterwerks neben Kaletha; die Bank bot gerade zwei Personen bequem Platz, aber Anshebbeth hatte sich unter dem Vorwand, mit Kaletha spre chen zu müssen, an das eine Ende gezwängt, und war dort in Medita tion versunken, statt sich eine andere Bank zu suchen. So nahm sie unwillkürlich an jedem Gespräch teil, und Sternenfalke, die ihr Ver halten beobachtet hatte, vermutete, daß ein weiterer Platzwechsel sie nicht erschüttern würde. Das Gesicht des jungen Novizen nahm einen altklugen Ausdruck an, als er fortfuhr: »Mein Lordbischof hat die Gabe, stets eine plau sible Antwort zu haben, eine alternative Möglichkeit zu kennen. Er kommt heute abend zur Festung, mit einem Plan, Tazey zu einem abseits gelegenen Nonnenkloster an den Ausläufern der Farkash an der Küste zu schicken. Damit würde sie nicht nur enterbt, sondern auch verbannt.« Kalethas Gesicht wurde rot vor Ärger. »Das kann er nicht! Au ßerdem, sie von jeder Möglichkeit fernzuhalten, angemessen unter richtet zu werden, ändert nichts daran, daß sie magischer Abstam mung ist!« »Nein«, sagte Egaldus nüchtern. Er stand auf, und das Sonnen licht, das sich im Dickicht seines Haars verfing, legte einen milden, funkelnden Strahlenkranz um sein Gesicht. »Aber das scheint Galdrons Allheilmittel zu sein.« Seine blauen Augen blickten ernst auf die Frau, und er seufzte. »Er spricht davon, mich ebenfalls in ein Kloster zu schicken.« Schlagartig verebbte die rote Gesichtsfarbe der Weißen Hexe zu Wachs. Für einen Augenblick verlor sie die Beherrschung und ergriff seine Hand. Der junge Mann fuhr fort! »Er hat erfahren, daß… « er warf Sternenfalke einen Blick zu, während Anshebbeth beide mit gierigen schwarzen Augen beobachtete und die anderen Studenten – Pradborn Dyer, Luatha Welldig und Shelaina Clerk – auf den anderen Bänken des mit Gittern gesäumten Gehwegs leise summend vor sich hin meditierten, »… daß ich bei dir studiere«, schloß er. »Er spricht davon, mich nach Dalwirin oder sogar Kwest Mralwe zu schicken.« Ein wenig benommen fragte Kaletha: »Er ist dein Mentor. Be trachtet er dich nicht als seinen auserwählten Novizen, seinen mögli chen Nachfolger?« Egaldus nickte. »Das ist es ja, was er mir nicht verzeihen kann. Daß ich es, nachdem er mich gefördert hatte, wagte, den Funken in 508
mir zu entdecken, und zu dir kam, damit du ihn zur Flamme ent fachst. Ich muß soviel wie möglich von dir lernen, bevor ich gehe, weil ich dann auf mich allein gestellt sein werde.« Ihre Miene veränderte sich. Sternenfalke spürte es beinahe wie ein Erkalten der Luft, als Kalethas Hand sich aus der seinen löste und ihr Körper sich auf der Bank um den Bruchteil eines Zentimeters aufrichtete. Auch Egaldus spürte die Veränderung. In seinen blauen Augen lag ein seltsames, berechnendes Funkeln, als er sie, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, musterte. Ganz leise fragte er:»Oder willst du weiterhin alles für dich behalten?« Er wandte sich ab und ging davon. Er war gerade fünf oder sechs Schritte weit gekommen, als Ka letha aufsprang. »Egaldus… « »Kaletha…« Der Moment, in dem Anshebbeth sich umdrehte und eine Hand auf den Arm der jüngeren Frau legte, war viel zu gut gewählt, um Zufall zu sein. Egaldus bog bereits am Ende des Weges um die Ecke. Die bronzene Sonne schien seinen bestickten Waffen rock vor dem ausgedörrten Sand in goldene und azurne Flammen zu tauchen, als er durch den Garten davonschritt. Anshebbeth sagte: »Da es mir möglich ist, mit Tazey zu sprechen, wäre es wohl besser, wenn du mir jetzt sagst, was ich ihr ausrichten soll, oder mir sonstige Anweisungen für sie gibst… « Mit kalter Stimme sagte Kaletha: »Ich fürchte, dazu bist du nicht geeignet.« Der Mund der älteren Frau wurde dünn wie ein Strich. Ein Son nenstrahl, der auf ihr Gesicht fiel, zeigte, wie sich die Falten um ihre hungrigen Augen zusammenzogen. »Vielleicht, wenn du soviel Zeit damit verbringen würdest, mich zu unterrichten wie Egaldus…« »Egaldus ist magischer Abstammung.« »Du sagtest einmal, du könntest auch meine magische Abstam mung entfalten.« Anshebbeths Stimme war schrill vor Hysterie. »Du sagtest, ich… « Vernichtend erwiderte Kaletha: »Das war, als du meinem Unter richt – meinen Bemühungen, die im menschlichen Geist verborgenen Kräfte zu entfesseln – noch den absoluten Vorrang gabst, dich der Reinheit des Körpers und den Übungen des Geistes zu überlassen. Ich bin keineswegs sicher, ob das noch der Fall ist.« Anshebbeth hielt unverwandt ihren Arm. Kaletha drehte das Handgelenk, um den besitzergreifenden Griff dieser langen weißen Finger abzuschütteln, dann ging sie mit rauschenden schwarzen 509
Gewändern, die im Schein der Herbstsonne hinter ihr aufwallten, Egaldus nach. »Das war nicht gerade fair.« Kaletha wandte ihr Gesicht ab und gab vor, auf einen der kleinen Höfe unmittelbar am Rand der Gärten hinauszuschauen. Er war gut bewässert, und einige Orangenbäume, die voller Obst waren, standen in seinem Zentrum. Ihr Geruch vermischte sich stark mit dem der Rosen, die an den vier Ecken in kleinen Trichtern aus aufgehäufter graubrauner Erde wuchsen, mit der immer gegenwärtigen Rauhheit des Staubs und dem Duft klebriger Wärme der Zimtkuchen, die auf dem Weg gegenüber angeboten wurden. »Wenn sie nicht immer so an mir hängen würde, stieße ich sie auch nicht ständig herum. « Sternenfalke hatte Kaletha hier allein entdeckt, als sie gerade die Gärten verlassen wollte, um sich wieder ihren Pflichten als Wache zu widmen. Ob Kaletha Egaldus eingeholt und mit ihm gesprochen hatte oder nicht, machte Sternenfalkes Einschätzung nach keinen großen Unterschied. Sie lehnte ihre Schulter gegen das rauhe, ver wahrloste Holz der Laube und musterte das weiße Profil unter den kastanienbraunen Haarsträhnen. »Wenn Ihr sie ein für allemal fort schickt«, bemerkte sie, »wäre sie schon lange verschwunden.« »Ihr kennt Shebbeth nicht.« Kaletha starrte unverwandt auf den Garten hinaus, und das harte Licht ließ die kleinen Fältchen in der zarten Haut rings um ihre Augen hervortreten. Über den nackten Reben der Glyzinen und den alten Mauern legten sich die Schatten über das Antlitz des Morianberges, und die Ostklippen des fernen Binnig-Felsens begannen sich schwarz zu färben. »Sie wählte mich als Mentorin und Lehrerin und als jemanden, der ihr sagte, was sie tun und darstellen soll, als ich siebzehn war. Und die Mutter weiß, daß sie mich brauchte – ein häßlicher provinzieller Bastard aus Smelting mit genügend Shirdaradel im Hintergrund, um ihre Eltern dazu zu bringen, sie zum Abschluß der Schule in die Mittleren Kö nigreiche zu schikken, was sie mit allem um sich herum unzufrieden machte. Eine neurotische, greinende, unselbständige… « »Aber Ihr kennt sie schon so lange.« Kaletha hielt inne. Die schönen Schultern unter ihrem schwarzen Gewand spannten sich, als sie Sternenfalkes forschendem Blick den Rücken zuwandte. Dann seufzte sie, als sie in der Stimme des Falken die unausgesprochene Beobachtung zu lesen schien, daß sie genug Zeit gehabt hätte, Anshebbeth ernsthaft fortzuschicken, wenn sie 510
wirklich gewollt hätte. Ihre Haltung entspannte sich. »Ich weiß«, sagte sie. Sie schaute Sternenfalke an, und die Haltung, die sie immer in Gegenwart ihrer Schüler annahm, senkte sich zögernd wie der Schild einer Kriegerin herab, die dem Zuruf ›Gut Freund!‹ nicht traute. »Und ich war unfair. Aber… ach, ich weiß nicht.« »Nun ja«, sagte der Falke lächelnd. »Ich gebe zu, daß, wenn je mand den ganzen Tag lang mit der Aufschrift ›Bitte tritt mich nicht‹ auf dem Rücken herumläuft, die Versuchung, ihn zu treten, wahrhaft überwältigend sein kann.« Empört wollte die Weiße Hexe die Unterstellung eines so unwür digen Gefühls zurückweisen, doch dann sah sie das Funkeln des Begreifens in diesen sanften Augen. Sternenfalke fuhr fort: »Und der Zeitpunkt, an dem sie damit her ausrückte, war nicht gerade der beste.« Sie trat näher und setzte sich auf die andere Seite der Bank, während sie Kaletha in dem heißen Schatten ansah. »Aber das ist kein Grund, grausam zu sein.« Wieder seufzte Kaletha und nickte. Mit einer Geste, die nach ih rer steifen, selbstbeherrschten Gelassenheit geradezu menschlich wirkte, preßte sie ihre Finger auf die Augenlider, die dunkel waren vor Schlaflosigkeit. Ihr Gesicht wirkte plötzlich älter, gezeichnet von der Anstrengung, verbergen zu müssen, daß sie eifersüchtig war, daß der König sie enttäuschte, und daß sie keine Kontrolle über die Men schen um sie herum besaß. »Vielleicht ist es besser so«, sagte sie müde. »Ich meine, daß Egaldus weggeschickt wird – falls man ihn wegschickt. Vielleicht hat er es ja nur gesagt, um… « Sie hielt inne, fuhr dann kalt mit veränderter Stimme fort. »Er ist sehr – eifrig. Zu eifrig, wie Euer Freund, obwohl sein Unterricht natürlich viel weiter fortgeschritten ist als der von Hauptmann Sonnenwolf, und er, wie ich glaube, auch mehr Potential hat, weil sein Geist disziplinierter ist. Er gleicht einem Mann, der Wasser in ein Becken zu gießen versucht, das nicht tief genug ist. Er versteht es nicht, wenn ich ihm zu sagen versuche, daß etwas davon auf den Boden überschwappen wird.« Willst du alles für dich behalten? hatte er gefragt. Sternenfalke lehnte sich mit dem Rücken an den Holzpfosten hinter sich und dachte daran, was Sonnenwolf über Kaletha und ihre Macht gesagt hatte. Als sie in das blasse, beherrschte Gesicht blickte, fragte sie sich plötzlich, wieviel von Kalethas Wunsch, Tazey zu unterrichten, wohl von der Angst herrühren mochte, daß sie von einem Mädchen, 511
das jünger war als sie selbst, kräftemäßig übertroffen werden könnte. Zwei junge Mädchen schlenderten an ihnen vorbei, jedes mit zwei Bergarbeitern, die sich bei ihnen untergehakt hatten, die Mädchen aufgeputzt in heller Wollkleidung, Glasperlenschmuck, Blumen und Grashalmen, die sie sich in das lange Haar geflochten hatten. Einen Augenblick lang verzogen sich Kalethas Lippen zu einem verächtlichen Schnauben. Dann fuhr sie fort, immer noch hinter ihrer Mauer aus künstlicher Ruhe, als ginge es wirklich um Egaldus. »Es dauert Jahre, den Geist richtig vorzubereiten und den Körper zu disziplinieren. Ich weiß es, ich habe still, im Dunkeln, jahrelang studiert… « Sie hielt wieder inne und warf Sternenfalke einen ra schen Blick zu, als erinnere sie sich ihrer Nähe zu Sonnenwolf. Ver bittert drehte sie sich auf der Bank um und schaute wieder auf den dürren Garten hinaus. Ihre Geheimnisse behielt sie für sich. »Alle Magie entspringt dem Geist«, sagte sie nach einer Weile. »Wie kann Macht einem schmutzigen und undisziplinierten Ort entspringen? Es erfordert Studien und Reinheit… « Sie zögerte bei dem Wort. »Ganz zu schweigen«, bemerkte Sternenfalke sanft, »von der Großen Prüfung.« Kaletha zuckte zusammen. Echte Verblüffung lag in ihrer Stim me. »Der was?« »Sie hat noch nie davon gehört?« Sternenfalke schüttelte den Kopf. Sie war in das leere Viertel ge kommen, sobald es dunkel genug gewesen war. Die Nacht war ruhe los, voller Bewegung und dem trockenen, elektrisierenden Wispern des Windes. Weit draußen in der fernen Wüste spürte Sonnenwolf einen Sturm, aber er zog anderswohin, und am Fuß der Berge wür den nur die schwächsten Ausläufer davon zu spüren sein. Der Mond hing über dem schwarzen Buckel des Morianberges wie eine blanke Münze. Letzte Nacht war Sternenfalke nicht zu ihm gekommen, weil sie wußte, daß man sie möglicherweise überwachte. Bevor sie ein Paar geworden waren, hatte Sonnenwolf sich manchmal über die ge wohnheitsmäßige, geradezu unglaubliche Ruhe seiner Stellvertrete rin gewundert – die imstande war, mit bloßen Händen und sanfter Stimme die konsequente Grausamkeit eines Tieres an den Tag zu legen. Er hatte schon zu häufig mit ihr trainiert und heftige Schwert kämpfe ausgetragen, um nicht zu vermuten, daß Feuer unter diesem grauen Eis schwelte. Es war ihre Verwundbarkeit gewesen, die ihn überrascht hatte. Es tat ihm gut, seine Bedürfnisse und Ängste nicht 512
hinter einer unerschütterlichen Mauer der Kraft vor ihr verstecken zu müssen. Ungestüm und schweigend schliefen sie miteinander in ihrer frü heren Zelle, nahe genug am Saal, um die herüberwehende Musik zu hören. Danach lagen sie erschöpft im Dunkeln, wärmten einander unter den dünnen Bettüchern, die Sternenfalke ihm am gestrigen Abend mit dem Essen gebracht hatte, und erfreuten sich an der Be rührung ihrer Haut. Es schien, als sei die halbe Nacht verstrichen, bevor sie sprachen. »Sie fragte mich, was das sei«, meinte Sternenfalke aus der Höh lung seiner Achsel hervor. »Ich sagte es ihr. Ich habe das Gefühl, sie will es heimlich studieren, damit niemand erfährt, daß sie es nicht schon kannte, bevor ich ihr sagte, was es ist.« Sonnenwolf schauderte. Das halluzinatorische Gift, das die Kräf te eines Zauberers zur Entwicklung treiben konnte, tötete unweiger lich alle, die nicht magischer Abstammung waren – und vielleicht, dachte er, auch manche der weniger Starken unter denen, die es sind. Der alte Mann, der Sternenfalke dies einst zugeflüstert hatte, hatte von einer Vorbereitung auf die Prüfung gesprochen, aber niemand wußte mehr, wie diese Vorbereitung ausgesehen hatte. Er selbst hatte die Prüfung nur überlebt, weil er über die Körperkräfte eines ausge bildeten Söldners verfügte. Seine schmerzerfüllten Schreie waren es gewesen, die seine Stimme zerstört hatten. Die Erinnerung an den Schmerz würde ihn bis ins Grab verfolgen. Im Grunde seines Her zens wußte er, daß, wenn ihm das Gift nicht zu anderen Zwecken gegeben worden wäre – wenn er gewußt hätte, daß er es für die Ent faltung der vollen magischen Kräfte benötigte –,er nie den Mut dazu aufgebracht hätte. Aber schließlich hatte er, wie Tazey, eigentlich niemals Zauberer werden wollen. »Da wird Tazey wohl durchmüssen.« Sternenfalkes kurzes, weiches Haar bewegte sich an seiner Brust. »Ich weiß.« »Sie wird erst mal verdammt viel Unterricht brauchen.« Wieder nickte der Falke. »Übrigens sind der Bischof und Norbas Milkom heraufgekommen, um Osgard zu überreden, daß er sie in ein Kloster schickt«, sagte sie. »Der Bischof, weil er Angst um ihre Seele hat – Norbas Milkom, glaube ich, weil er es als eine gute Mög lichkeit sieht, ihre Heirat mit einem Shirdarlord zu verhindern und sie später, rein zufällig natürlich, dazu zu bringen, einen seiner eige 513
nen Söhne zu heiraten.« »Das wird sie nie schaffen.« Sonnenwolfs Hand strich gedanken verloren über die zarte Haut ihrer Schulter, die wie Seide unter seiner Handfläche war, unterbrochen nur von der feinen Naht einer alten Messernarbe. »Es hängt davon ab, ob Osgard Tazeys magische Ab stammung anerkennt – und daß er sie nicht mehr als die perfekte kleine Prinzessin ansieht, die er immer haben wollte. Galdron wird von Glück reden können, wenn es ihm gelingt, aus dem Palast zu entkommen, ohne dafür ausgepeitscht zu werden, daß er das Thema überhaupt aufbrachte.« Ganz offensichtlich war der Bischof nicht ausgepeitscht worden, denn drei Stunden später näherte er sich lautlos dem Fuß der Außen treppe, die zu Tazeys erleuchtetem Zimmer hinaufführte. Die Nacht war kalt geworden, und ihre furchtbare elektrische Spannung ebbte ab, als der ferne Sturm über der Wüste sich legte. Schon lange hatte die Musik im Saal zu spielen aufgehört, aber das Licht in der Son nenhalle des Königs brannte noch, und gelegentlich trat ein leichtfü ßiger Bediensteter durch den verhängten Torbogen von Tazeys Raum. Die Vorhänge waren eine orange- und scharlachfarbene Ar beit aus der Wüste; im Licht des dahinterliegenden Zimmers kräusel ten sie sich wie ein Regenbogen aus Feuer. Ein Reflex dieser trüben und entfernten Lumineszenz brach sich auf dem brokatbestickten Mantel des Bischofs, als er seine Gewänder wie eine Dame raffte und mit einem verstohlenen Blick in die Runde die Treppe hinaufzu eilen begann. »Es ist schon ein wenig spät, um seiner Berufung nachzugehen, Galdron«, sagte eine leise, gleichmütige Stimme aus den Schatten auf der Treppe. Der alte Mann blieb wie vom Schlag getroffen stehen. Eine ver schwommene, grobknochige Gestalt kam ihm von oben entgegen; das sinkende Mondlicht strich über ein paar elfenbeinerne Strähnen kurzgeschnittenen Haars und brachte Stahlknöpfe auf einem grünen Lederwams, wie die Wachen ihn trugen, zum Aufblitzen. Der Bi schof polterte: »Man hat mir gesagt, daß die Prinzessin nachts schlecht schläft und daß ich, wenn sie noch wach ist, mit ihr spre chen kann.« Doch auch er sprach leise. Ein scharfes Wort, irgendwo zwischen der Treppe und dem kleinen Tor gesprochen, das vom Hof in das leere Viertel führte, würde jeden Schläfer diesseits des Palas tes wecken. »Man meinte wohl nicht, drei Stunden vor Tagesanbruch.« 514
»Ich habe mit dem König gesprochen«, erwiderte der Bischof würdevoll. »Ich dachte… « »Ihr dachtet, Ihr könntet Tazey überreden, in Eure Pläne einzu willigen? Ihr ein paar Alpträume zur Auswahl geben, über die sie nachdenken kann, bevor sie beim Frühstück ihren Vater sieht?« »Welche Alpträume ihr das Schuldbewußtsein einer Hexe auch aufbürden mag«, sagte Galdron salbungsvoll. »Sie sind nicht verge bens, wenn sie kraft der Reue vor dem ewigen Alptraum der Hölle bewahren.« »Reue für was? Wie sie geboren wurde? Daß sie vier Menschen das Leben rettete? Ihr habt eine herrliche Stimme, Galdron; Ihr könnt die Leute sicher dazu bringen, alles zu glauben.« Die dunkle Gestalt trat die Treppe herunter, und plötzlich blitzte vom Mondlicht versil berter Stahl auf, als ein spitzer Dolch in ihrer Hand auftauchte. »Ich glaube, sie wäre noch viel überzeugender, wenn Eure Nase ein wenig aufgeschlitzt wäre.« Galdron wich so hastig zurück, daß er beinahe über den Saum seines blutroten Gewandes stolperte. »Ich werde…« stammelte er. »Jemanden um Hilfe rufen?« fragte eine volle, tiefe Stimme leise aus den Schatten des Hofes. Der Bischof blickte irritiert über seine Schulter zurück. In den Schatten funkelten weiße Augen in einem dunklen Gesicht über einer kaum sichtbaren Halskrause. »Vielleicht die Wachen und ihnen erzählen, daß Ihr versucht habt, zu Tazey vorzudringen, obwohl ihr Vater Euch verboten hat, sie noch einmal zu sehen? Ich sagte Euch, daß das keine gute Idee ist. Gehen wir zurück in die Stadt.« Galdron zögerte einen Augenblick. Im Mondlicht sah Sternenfal ke, wie er die Stirn runzelte. Dann blickte er zu der Stelle hoch, wo sie auf der Treppe stand, und sein weißer Bart leuchtete wie ein Zeichen richterlicher Würde im dunklen Pelz seines Mantelkragens. »Glaubt nicht, daß ich aufgegeben habe«, sagte er, immer noch leise. »Die Seele des Mädchens ist in Gefahr. Ich habe es ihrem Vater gesagt, damit… « Er zögerte und blickte kurz zu Norbas Milkom, der neben ihm aus den Schatten aufgetaucht war. Er verbesserte sich »… obwohl ihr Vater mir nicht glauben will. Es wird in diesem Pa last bereits zuviel Zauber getrieben. Sie muß verschwinden, oder das Böse wird seinen Einzug halten.« Er wandte sich um und verschwand in der Nacht. Sternenfalke lachte in sich hinein, steckte den Dolch wieder in den Stiefel und ging die Treppe hinauf. 515
Am folgenden Morgen wurde Tazeys Zustand für gut genug be funden, daß sie im Saal zum gemeinschaftlichen Frühstück erschei nen konnte. Von ihrem üblichen Platz an Kalethas Tisch aus beobachtete Sternenfalke das Mädchen besorgt, als es von ihrem Vater und ihrem Onkel hereingeführt wurde. Das brünette Haar kunstvoll gelockt, die breiten, geraden Schultern umrahmt von einer Wöge aus kantalupe farbenen Seidenrüschen, sah Tazey erschöpft und elend aus, hoff nungslos weit entfernt von dem lebenslustigen und hübschen Mäd chen, das so voller Freude den Kriegstanz getanzt hatte. Jahre der Freundschaft mit Sonnenwolfs verschiedenen Konkubinen hatten Sternenfalke die Fähigkeit verliehen, die sorgfältig aufgetragene Schminke zu erkennen, die in diesem Fall die Verwüstungen der Schlaflosigkeit und des Zweifels kaschieren sollte. Der König, in braunrotem Damast, der die geplatzten Äderchen auf seiner Nase und den Wangen hervorhob, hielt mit Besitzerstolz die Hand seiner Tochter, wobei die müden, blutunterlaufenen grünen Augen über die Gesichter der unnatürlich großen Menge strichen, die sich hier zum Frühstück versammelt hatte und kein Wort zu sagen wagte. Niemand sprach. Wie und weshalb auch immer man Nexués aus ufernde Gerüchteküche zum Schweigen gebracht hatte, dachte Ster nenfalke, das Vorgehen hatte seine Wirkung gezeigt. Es gab eine gute Chance, die ganze Sache einfach unter den Tisch zu kehren. Und was dann? fragte sie sich. Der gutaussehende und irgendwie holzköpfige Prinz lncarsyn würde Tazey heiraten und sie in Prunk und Pracht in seine schmucke kleine Stadt tief in den Dünenmeeren des Südens mitnehmen. Sie würde kandierte Datteln essen, in Palan kinen getragen werden, Kinder bekommen und zu vergessen versu chen, wie es war, als sie mit den Händen den Wind geteilt hatte. Während der König seine Tochter zu ihrem Platz an der Hohen Tafel geleitete, kam Anshebbeth zu der Stelle hinübergelaufen, wo Sternenfalke und Kaletha saßen. In ihrem hochgeschlossenen Samt gewand wirkte die Gouvernante, als hätte sie wie Tazey die Nacht entweder schlaflos oder von gräßlichen Träumen heimgesucht ver bracht; die schmalen Hände ringend, behielt sie weiterhin den König im Auge. Obwohl ihr Platz bei einem so offiziellen Anlaß an der Seite ihres Schützlings war, ließ sie sich nervös auf dem Stuhl unmit telbar neben Kaletha nieder. »Sie kamen letzte Nacht«, sagte sie aufgebracht. »Der Bischof und Norbas Milkom…« 516
»Sternenfalke hat es mir schon erzählt«, erwiderte Kaletha ein wenig boshaft, als wollte sie betonen, daß Anshebbeths Anwesenheit überflüssig war. Die Gouvernante warf einen gehetzten Blick zu der Hohen Tafel hinüber, an der Osgart soeben Jeryn ermahnte, gerade zu sitzen. Der Junge, der jetzt unter den Folgen eines Sonnenbrands litt, wirkte wie eine sich häutende Eidechse, bleich und erschöpft, und seine weißen Hände mit den abgekauten Fingernägeln spielten lustlos mit dem Essen. Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab: »Glaubst du, er wird… deine Verbannung aussprechen?« »Eure Verbannung?« fragte Sternenfalke erstaunt. Kaletha preßte in kaum verhohlenem Ärger die Lippen zusam men. Hastig erklärte Anshebbeth dem Falken: »Man ließ uns wissen, Kaletha und mich, daß Galdron und Norbas Milkom letzte Nacht verlangen wollten… daß Kaletha weggeschickt werde! Nur wegen ihrer Macht, nur weil ihre Vortrefflichkeit eine Versuchung für die Prinzessin darstellen könnte – nur aus Bosheit und Neid, weil Egal dus ein Magier wird! Sie hassen sie, Galdron und Milkom… « »Hör auf, Shebbeth!« sagte Kaletha erbost. »Es ist wahr«, sagte die Gouvernante eifrig in dem Versuch, den Boden, den sie gestern verloren hatte, wieder wettzumachen. »Du weißt, daß sie dich hassen.« Kaletha spießte mit ihrer Gabel ein paar Erbsen vom Teller auf. Ohne aufzublicken, sagte sie: »Ich wünschte, du würdest endlich aufhören, jedes Hintertreppengerücht, das dein Liebhaber dir als heilige Wahrheit ins Ohr flüstert, nachzuplappern!« Bei der Verachtung in Kalethas Stimme nahm Anshebbeths blas ses Gesicht die Farbe von weißem Papier an. Unwillkürlich zuckte ihre Hand nervös zu ihrer Kehle hoch. Kaletha wandte ihr kalt das Gesicht zu. »Glaubst du etwa, ich weiß nicht, daß du für diesen Nanciormis die Nutte machst? Der Mann klatscht wie ein altes Weib und schnüffelt und spioniert schlimmer herum, als Nexué es je getan hat. Kein Wunder, daß ich niemals imstande war, auch nur die geringsten Kräfte in dir zu ent falten, wie es mir bei Egaldus möglich war. Du denkst nur an dich.« Sternenfalke war nicht überrascht, als Anshebbeth den Kopf senkte. Sie war den Tränen bedrohlich nahe, als sie flüsterte: »Ich… du hast recht, Kaletha. Ich habe… ich habe zuviel an mich selbst gedacht… nicht genug an dein Wohlergehen oder das von anderen. Wenn ich bisher noch keine Kräfte entwickeln konnte, dann ist mir 517
klar, daß es meine Schuld ist… « Kaletha öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Sternenfal ke, die wußte, daß nichts so sehr zu Grausamkeit ermutigte wie Un terwürfigkeit, kam ihr mit den Worten zuvor: »Ich denke, Ihr kehrt jetzt besser an die Hohe Tafel zurück, Anshebbeth, sonst denkt Osgard noch wirklich darüber nach, ob er Kaletha verbannen soll.« Die Gouvernante erschrak und warf einen verschleierten Blick zu Osgards gereiztem Gesicht hinüber. Sie schluckte, fuhr sich hastig über die Augen und raffte ihre Röcke, um wieder ihren Platz am Ende der Hohen Tafel einzunehmen, wobei sie aufgeregt Knickse vor den dort Sitzenden machte, selbst dann noch, als ein Aufruhr an der Saaltür den Eintritt von Incarsyn von Hasdrozaboth, dem Herrn der Dünen, ankündigte. Im vollen Schmuck der Shirdarlords sieht er prächtig aus, dachte Sternenfalke. Er hatte all die Anmut und die Schönheit von Nanci ormis, nicht entstellt von den Zügen der Sinnlichkeit und Genuß sucht, die schon vor langer Zeit das gute Aussehen des Kommandan ten untergraben hatten. In seinem weißen Mantel, seinen weiten Hosen und weichen Stiefeln mit dem goldenen Stanzwerk, seinem fließenden Umhang und den scharlachroten und blauen Amuletten wirkte er wie eine junge und graziöse Wildkatze; der Kommandant dagegen, obwohl er die gleichen adlerartigen Shirdarzüge und die gleichen dicken Zöpfe aus schwarzem Haar hatte, ähnelte eher einem leicht verwöhnten Hauskater, der schon vor langem beschlossen hatte, das Mausen zu lassen. Osgart erhob sich und führte Tazey an der Hand. Auf dem Ge sicht des Mädchens bemerkte Sternenfalke den gleichen entschlosse nen, verzweifelten Ausdruck, den es gehabt hatte, als sie erstmals angetreten war, um sich der Dunkelheit des Sturms zu stellen. Mit einstudierter Grazie verbeugte sich Incarsyn und lächelte. »Es tut mir wohler, als Ihr ahnt, meine Prinzessin, Euch wiederzuse hen.« Tazey holte tief Atem, ließ die Hand ihres Vaters los und trat vor. Sie langte an ihre Ohren und entfernte die kleinen funkelnden Trop fen der Sandperlen. Ihre Stimme war leise und klang wie das Klirren eines fallengelassenen Dolches in der Stille des Saales. »Ich danke Euch.« Sie schwankte für einen Moment, warf ver zweifelt einen Blick zurück auf den König, dann fuhr sie fort: »Ihr wart zu gut zu mir, als daß ich es Euch in falscher Münze heimzahlen dürfte. Was Ihr gehört habt, ist wahr. Ich bin von magi 518
scher Abstammung.« Und sie legte ihm die Sandperlenohrringe in die Hand. In diesem schrecklichen Augenblick der Stille streifte Sternenfal kes Blick über sämtliche Gesichter an der Hohen Tafel – das von Osgard füllte sich mit Blut, während sich unwillkürlich seine Hand hob, als wollte er Tazey schlagen, und Jeryns dunkle Augen funkel ten vor Leben mit dem ersten Ausdruck hochfliegender Freude über den Mut seiner Schwester, den Sternenfalke bisher in ihnen gesehen hatte; Nanciormis lächelte. Warum lächelte er? Sie bemerkte, daß Kaletha neben ihr ebenfalls lächelte, aus Triumph darüber, die Pläne des Königs vereitelt zu sehen, und aus Vorfreude, weil sie nach alle dem schließlich doch noch Tazeys Lehrerin würde. Einen Moment lang wirkte Incarsyn so verblüfft, als habe Tazey ihm eröffnet, ihre Reize lieber auf dem Basar zu verkaufen. Das Schweigen schien Minuten zu dauern, obwohl Sternenfalke schätzte, daß es nur zwölf oder dreizehn Sekunden sein konnten. Dann fand Osgard seinen Atem wieder. Er wurde kreidebleich. »Du… « Incarsyn hob mahnend einen Finger. Er langte nach vorn, nahm Tazeys Hand, drehte sie sanft herum und drückte ihr die Sandperlen wieder hinein. »Der ist ein armseliger Liebhaber«, sagte er leise und mit klarer Stimme, die in alle Ecken des Saales drang, »der seine Braut aufgibt, weil sie sich das Haar geschnitten oder es gefärbt hat oder weil sie beschlossen hat, zu lernen, wie man die Kriegspfeifen spielt. Was Ihr mir gesagt habt, ist nicht mehr als dies. Wenn Ihr mich haben wollt, Lady Taswind… « Anmutig wie ein Panther sank er auf ein Knie, schloß ihre Finger um die Perlen und drückte ihr einen Kuß auf die Knöchel. »… bin ich immer noch der Eure.« Der Applaus hallte wie Donnergetöse im Gebälk wider, zustim mende Rufe erklangen und Trinksprüche wurden mit dünnem Früh stückswein ausgesprochen. Osgard, der Tazey hatte schütteln wollen, bis sie zur Vernunft käme, verhielt mitten im Schritt und trat zurück, ein Lächeln der verdutzten Überraschung über diesen Edelmut auf seinem breiten Gesicht. Tazey aber wirkte benommen, stellte Ster nenfalke fest, und schüttelte verwirrt den Kopf, während ihr eine Träne über das hohlwangige Gesicht lief. »Ich finde, es war hinreißend«, seufzte Anshebbeth gerührt, als sie wenige Minuten später zu Kalethas Tisch kam, um ihr Gesell schaft zu leisten. 519
»Findet Ihr?« Nanciormis tauchte leise hinter ihr auf, einen halb leergetrunkenen Becher Wein in der Hand, den der König ihm ge reicht hatte, damit er auf das Brautpaar anstoßen konnte. Seine wuls tigen Augen funkelten vor Zynismus, der nicht ganz seinen Ärger verbergen konnte. Anshebbeth errötete, verwirrt darüber, was sie Falsches gesagt haben mochte, und noch verwirrter über Nanciormis' Gegenwart, als könnte sie sich nicht entscheiden, dachte Sternenfalke, ob sie sich ihm oder Kaletha an die Seite stellen sollte. »Nun… das heißt… nach alledem, was die Leute gesagt haben… obwohl es damit wohl seine Richtigkeit haben wird… Aber Incarsyn… « »Incarsyn«, sagte Nanciormis verbittert, »hätte das gleiche ge sagt, wenn die Tochter des Königs von Wenshar eine bucklige Aus sätzige wäre. Ich weiß es.« Melancholisch musterte er Kaletha, und sogar ihre kühle Reserviertheit ließ unter seinem warmen braunen Blick ein wenig nach. »Ich habe ihn spät am gestrigen Abend getrof fen, als er von den Bordellen in der Stadt heimkehrte. ›Was stört es mich, daß das Mächen ein Hexenweib ist‹, sagte er. ›Ich bin nach Norden geritten, um sie zu heiraten, egal, wie sie aussieht; wenn sie zu ihrem Vergnügen Kröten kocht und sie mit Schlangen paart, was soll's? Es gibt Schlimmeres – sie könnte die Kriegspfeifen spielen. ‹« Anshebbeth wurde vor Schreck und Enttäuschung kreidebleich. Kalethas Nasenflügel blähten sich vor Wut, aber ihr Gesicht zeigte keine Überraschung, als sie einen empörten Blick zu der Hohen Tafel warf, wo Tazey, starr vor verzweifelter Fassung, den hell lo dernden Schmeicheleien des Prinzen lauschte, die ihr die Mühe er sparten, eine Antwort zu stammeln. »Also wird er sie zu guter Letzt doch mit sich nehmen«, sagte Kaletha. »Und ihr Vater wird sich nun keine Gedanken mehr über die ›Ungnade‹ machen müssen, in die seine Tochter gefallen ist.« »Deshalb kam er schließlich her.« Mit leisem und bitterem Nachdruck flüsterte sie: »Männer«, und wandte abrupt den Kopf ab, um sich in eisigem Zorn wieder dem Frühstück zu widmen. Nach kurzem Zögern raffte Anshebbeth ihre langen Röcke und setzte sich neben Kaletha, bot ihr den Trost ihrer Gegenwart, warf jedoch rasch einen Blick über die Schulter zu Nanciormis, als wollte sie ihn um Erlaubnis bitten. Nanciormis blieb stumm, doch seine dunklen Augen erwärmten sich einen Moment lang in ihrer Kompli zenschaft; Anshebbeth lächelte nervös. 520
»Dann war alles nur fauler Zauber?« fragte Sternenfalke ruhig, wobei sie den Kommandanten ansah. »Oh, keineswegs.« Nanciormis zuckte die Achseln, begann an dem Becher in seiner Hand zu nippen, zog eine Grimasse und stellte ihn ab. »Immerhin ist sie ein hinreißendes Mächen. Aber sie ist auch meine Nichte – ich mache mir Sorgen um ihr Glück.« Er blickte zu der Hohen Tafel zurück, und ehrliche Wut drückte sich in der Hal tung seiner dicken Schultern unter dem schneeweißen Umhang aus. Er war ein Politiker, wie Sonnenwolf gesagt hatte, gerade in Anbet racht seiner relativ wichtigen Funktion als Kommandant der Wa chen; Sternenfalke wußte, daß er sich verstellen konnte und selten seine wahren Gedanken zeigte. Aber seine Wut in dieser Lage war aufrichtig – und er mochte durchaus recht haben, dachte Sternenfal ke. Sie persönlich hatte diese Seite von Incarsyn nie zu Gesicht be kommen – hatte in ihm eigentlich nie etwas anderes als einen Shirda redelmann gesehen: nicht sehr phantasievoll, aber innerhalb der Grenzen seiner Art um das Beste bemüht. Verbittert fuhr Nanciormis fort: »Ihm liegt weniger an ihr als an seinen Pferden. Ich hörte ihn zwei- oder dreimal sagen, daß er sol chen Frauen schon gar nicht über den Weg trauen würde… « Ka lethas Rücken versteifte sich, und sie wandte sich von ihrem kaum angerührten Essen ab, um ihn erneut anzuschauen. »Er verabscheut jeden, der magischer Abstammung ist. Ich möchte vor Euch nicht wiederholen, was er alles über Euch gesagt hat, Kaletha, und Eure Schüler. Aber er ist klug genug, das einem Mädchen, das ihm die Kontrolle über die Minen von Wenshar geben und ihn vielleicht von der Herrschaft seiner Schwester befreien kann, zu verheimlichen. Und natürlich kann ich es Tazey nicht einfach so sagen.« »Da sie keine Wahl hat«, bemerkte Sternenfalke leise, »würde es wohl auch nicht viel ändern.« Am Fußende der Hohen Tafel erweckte auf einmal eine rot schwarze Bewegung ihre Aufmerksamkeit, und sie sah, wie Jeryn sich aufrichtete und mit jenem plötzlichen Strahlen auf seinem schmalen Gesicht, das sich nun schon zum zweitenmal zeigte, zu den Türen blickte. Im gleichen Moment wußte sie, daß Sonnenwolf nach ihr suchte; als sie sich umdrehte, sah sie ihn in dem Torbogen stehen, der in das schattige Vestibül führte, und die Menge überschauen. Als hätte sie ihm durch den großen, sonnigen Saal etwas zugeru fen, wandte er plötzlich den Kopf in ihre Richtung. Vielleicht, weil sie letzte Nacht zusammen waren, spürte sie für 521
den Bruchteil einer Sekunde, wie ihre Liebe für ihn in einer seltsa men Aufwallung auf ihren Verstand übergriff – ein Gefühl der Lei denschaft, das physisch und mütterlich zugleich war, ein Drang nach seinem Glück, der so tief saß, daß er sie beschämte… Und dann, von einem Augenblick zum anderen, erkannte die Soldatin in ihr, daß er eigentlich nicht hier sein sollte. Aber er ging bereits auf die Empore zu, und Osgard war so glücklich darüber, daß sein Bündnis mit dem Shirdar gesichert war, daß er seinen Becher zum Gruß hob und ausrief: »He, Hauptmann!« bevor er sich erinnerte, daß er den Wolf vom Hof verjagt hatte. Ein Ausdruck brutalen Argwohns verdunkelte sein Gesicht, und er stand auf. Sternenfalke war bereits auf den Wolf zugegangen, weil sie an seinem Schweigen und der Art, wie er seinen Körper hielt, erkannt hatte, daß etwas nicht stimmte. Unter einer Schicht staubiger Bartstoppeln wirkte sein Gesicht ausgezehrt, wie es manchmal aus zusehen pflegte, wenn er Dinge, die beim Plündern einer Stadt ge schehen waren, später im kalten Licht des nächsten Tages nüchtern betrachtete. Seine lederne Augenklappe war fleckig von Feuchtigkeit und sein ausgeblichenes Haar strähnig und feucht, als hätte er seinen Kopf in einen Pferdetrog getaucht, um wieder zu Verstand zu kom men. Sternenfalke dachte: Wenn er jetzt versucht, das Bündnis zu verhindern, werden wir uns den Weg aus dem Saal heraus freikämp fen müssen. Sie legte die Hand auf den Schwertgriff und überlegte, daß der beste Weg durch das Abtrittfenster führte. Osgard mußte ähnliche Gedanken gehabt haben, denn er sagte barsch: »Ich dachte, ich hätte Euch gesagt, Ihr solltet hier wegblei ben!« »Das habt Ihr«, erwiderte der Wolf. »Ich bin auch nur gekom men, um Euch zu sagen, daß Bischof Galdron und Norbas Milkom jetzt ebenfalls tot sind.«
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9. Kapitel »Wann hast du Galdron gesehen?« Sternenfalke straffte die Zügel, als ihr Pferd, nervös geworden vom Blutgeruch, versuchte, den Kopf in die Höhe zu reißen. »Etwa drei Stunden vor Mitternacht.« Die Sonne, die beim Frühstück schon hoch über dem Rückgrat des Drachen gestanden hatte, brannte nun mit voller Kraft auf sie herab; die Luft auf der kleinen Lichtung zwischen den Felsblöcken, wo sie und der Wolf Osgard vor den wütenden Shirdar gerettet hatten, war erfüllt vom leisen Summen der Insekten. Obwohl sie in zahlreichen Schlachten erfahren war, drehte Sternenfalke der Anblick auf diesen Platz den Magen um. »Milkom war bei ihm. Ich hatte den Eindruck, daß sie auf dem Rückweg zur Stadt waren.« Sonnenwolf, der neben einigen Pferden am Wegesrand stand, nickte. »Das waren sie wohl auch. Etwa zwei Stunden vor Morgen grauen hat mich etwas geweckt, aber ich hörte nur das Heulen der Kojoten in den Bergen. Erst nach Tagesanbruch roch ich das Blut.« Vom Ausgang eines kleinen Tales, das sich zwischen den Felsen verlor, kam stolpernd einer der trinitarischen Priester auf sie zu, die das Aufgebot von der Festung an diesem Ort angetroffen hatte; er war ein älterer Mann, der selbst bei dieser ständig zunehmenden Hitze ohne jede Kopfbedeckung herumlief, und seine Gewänder zeichneten sich vor den bleifarbenen Felsen wie ein bunter Strauch Orchideen ab. Er lehnte sich an einen Felsblock und erbrach sich, als hätte man ihn vergiftet. Selbst aus dieser Entfernung konnte Sternen falke die scharlachrote Borte am Saum seiner Robe erkennen. Sonnenwolf kratzte sich am Schnurrbart und fuhr fort: »Ich ging also zur Stadt in die Kathedrale und bat Egaldus und eine Anzahl Priester, sich diesen Ort einmal anzusehen, aber zuerst schaute ich mich etwas genauer um. Kommt dir hier nichts merkwürdig vor?« Sie sah sich auf der kleinen Lichtung zwischen den Felsen um. An machen Stellen war dunkler Schlamm zu verkrusteten Pfützen getrocknet, die in den Staub eingesickert waren; unwillkürlich fiel ihr auf, daß der Boden unter ihren Füßen aus Staub und Kieseln bestand, nicht aus Sand, und mit Spuren übersät war, die wie kreuz und quer gestickte Nähte wirkten – die der Priester und des Aufge bots, jene der Gaffer, die sich bereits versammelt hatten und ohne großen Erfolg von Nanciormis und zwei seiner Wachen auf der Stra 523
ße zurückgehalten wurden. »Du meinst, außer den beiden zerstückelten Männern und Pfer den?« bemerkte sie und warf Sonnenwolf dabei einen Blick zu. »Ja, außer denen«, stimmte er zu und verschränkte die Arme. Ihr Blick glitt über die Straße weiter: zu dem ungleichmäßigen Kiesbelag und den umgebenden Felsen; zu Egaldus mit seinem blonden Haar, das wie ein Strahlenkranz in der Sonne funkelte, wäh rend er mit dem alten Priester sprach; und zu Osgard, der etwas ab seits auf einem Felsblock saß, das Gesicht in den Händen vergraben. Leise sagte sie: »Ich versuche mir vorzustellen, wie es passiert ist, aber es geht nicht. Der Bereich, in dem der Mord geschah, ist groß – er fängt da drüben an, wo eines der Pferde zu Fall kam… « Sie deu tete auf einen aufgewühlten Fleck schwarzen Schlamms am Hang unweit der Straße. Spuren gingen in hektischem Zickzack davon aus und führten nur wenige Schritte an ihnen vorbei – die Abdrücke waren wie vorn spitz zulaufende Pantoffeln. Solche waren ihr einmal an Galdron aufgefallen, unter dessen scharlachrotem Saum perlenbe setzte Spitzen hervorgelugt hatten. Ein derartiger Pantoffel, mit noch darin befindlichem Fuß, lag halb unter einem Felsüberhang verbor gen ganz in der Nähe des Talausgangs, von Fliegen umschwärmt. Bisher hatten die Priester ihn übersehen. »Milkoms Körper fand man da drüben in den Felsen, aber das erste Blut ist schon wenige Schritte entfernt von hier.« Das war, dem Aussehen nach, einmal eine Arterie gewesen. Sie war erstaunt, daß der kleine Mann noch fähig gewesen war, so weit zu laufen. »Zwei geschulte Attentäter auf guten Pferden könnten es vielleicht getan haben. Aber… « Ihr Blick wanderte wieder zum Wolf zurück. Sein von der Sonne verbranntes Gesicht wirkte dunkel vor dem weißen Geviert seiner Kopfschleier; sein Auge, gelb wie das eines Löwen, war schmal vor Nachdenklichkeit. Obwohl sie seine Antwort schon im voraus kann te, fragte sie: »Es gab keine Spuren, nicht wahr?« »Nein«, sagte er. Eine Weile schwiegen beide. Auf der anderen Seite der Lichtung erhob sich Osgards Stimme in einem verzweifelten Schrei: »Ich lasse dieses Monster kreuzigen! Ich lasse ihm die Haut vom Leib ziehen und werfe es den Ameisen vor! Ich kriege den, der das hier getan hat – ich kriege ihn!« Nanciormis kam die Straße entlang auf ihn zuge eilt und überließ es den Wachen, sich weiter mit dem Haufen gaffender Minenarbeiter und Viehhändler abzugeben. Incarsyn, der näher am König stand und das Zaumzeug seines eigenen Pferdes hielt – 524
eines der berühmten weißen Hengste der Wüste –, rührte sich nicht. Er wirkte benommen und erschüttert, wie der Mann in der Legende, der mit den Dschins um den Kopf seines ärgsten Feindes in einer Schachtel gefeilscht und, als er sie öffnete, seinen eigenen darin gefunden hatte. Schließlich sagte Sternenfalke: »Als ich mich fertigmachte, um mit dir zu reiten, kam Shebbeth zu mir, ganz in Tränen aufgelöst, weil Galdron Nanciormis nie gemocht hatte und sie nun fürchtete, daß die Leute denken könnten, er habe etwas damit zu tun. Sie sagte, daß Nanciormis letzte Nacht bei ihr gewesen sei…« »War er das?« fragte Sonnenwolf, mehr aus Neugier als sonst ei nem Grund. »O ja.« Sie nickte. »Nachdem ich Galdron gesehen hatte, hielt ich mich noch mindestens zwei Stunden lang auf dem Balkon auf. Kurz vor Morgengrauen kam Nanciormis aus Shebbeths Zimmer geschlichen.« Ihre dunklen Brauen stießen für einen Moment zusammen, als sie an die schmalen und düsteren Räumlichkeiten des Frauenschlafsaals dachte, mit seinen ungemachten Betten, die die Hilfsdienerinnen unberührt gelassen hatten, weil sie Tazeys Auftritt beim gemeinsa men Frühstück beobachten wollten, und an die gräulichen Bahnen gefilterten Lichts, das durch die Fenster fiel, die das weite Rechteck der Küchenhöfe überschauten. Anshebbeth hatte verzweifelt ihre Hände ergriffen, das Gesicht wie ein Totenschädel und übernächtigt, die gequälten Augen weit aufgerissen, und den Falken gebeten, nie mandem davon zu erzählen. Sie wäre ruiniert, völlig ruiniert, wenn der König davon erführe. Sternenfalke, die den Grad der Schicklich keit kannte, der der Anstandsdame einer Prinzessin zukam, hatte ihr beipflichten müssen. Aber sie würde, falls nötig, jedem gegenüber bestätigen, sagte sie, daß Nanciormis in dieser Nacht nicht außerhalb der Festung gewesen sei… Sie blickte jetzt zu dem Kommandanten hinüber. Er kniete vor dem König auf dem Boden, trotz seiner bulligen Erscheinung anmu tig wie ein Tiger, und jede Geste sprühte vor Schönheit und Macht. Für diesen Mann riskierte die arme Anshebbeth nicht nur ihren Ruf – keine Kleinigkeit in einer Gemeinschaft, die so dicht gewoben war wie diese – , sondern auch ihre Stellung, Tazeys Ruf, ihre Freund schaft mit der Person, die ihr am teuersten war, und ihre eigenen hoffnungslosen Träume, irgendwann einmal an Kalethas Macht teilhaben zu können; und zum Dank dafür ging er ebenso beiläufig 525
mit ihr um wie mit den Wäscherinnen und machte hinter ihrem Rü cken Witze über sie. All das ging Sternenfalke nichts an, doch der leise Wunsch durchfuhr sie, der Kommandant möge einmal einige Wochen lang das Opfer irgendeiner unbegreiflichen entstellenden Hautkrankheit sein. Ruhig fuhr sie fort: »Das Schlimme ist, daß es geradezu beruhi gend wäre, wenn Nanciormis, Osgard… oder sonst jemand der Schuldige sein könnte.« Sonnenwolf nickte. Der Wind drehte und blies ein wenig losen Sand über die dunkler werdenden Blutspuren; Egaldus und zwei von Incarsyns Leibwachen tauchten hinter den Felsen auf und trugen etwas in ein Laken gewickelt zwischen sich. Eines der Pferde wie herte und scheute. Über ihren Köpfen schwebten gierig die Geier in der Luft, doch sie blieben unnatürlich weit oben. Sonnenwolfs Stimme klang wie das heisere Kratzen von Metall, als er sagte: »Ich hatte schon so ein Gefühl bei Nexués Tod, und diesmal bin ich sicher. Was auch immer diese armen Kerle umbrach te, Falke, es war nicht menschlich. Ich glaube, für mich ist die Zeit gekommen, ein kurzes Gespräch mit Kaletha zu führen.« »Ihr habt kein Recht, mir Fragen über meine Macht zu stellen!« Kaletha spie ihm diese Worte wie eine wütende Katze entgegen. In den schiefergrauen Schatten des kleinen Raums gleich neben dem Frauenschlafsaal wirkte ihr Gesicht wie eine weiße Maske, die hoch über den dunklen, schweren Falten ihres Gewandes schwebte. »Zum Teufel damit, Weib! Zwei Männer sind ermordet worden, und eine Frau auch, wenn ich mich nicht täusche. Und Ihr seid eine Magierin… « »Nur, weil Ihr keinen Hinweis auf einen Mörder findet, beschul digt Ihr mich?« Sonnenwolfs Auge verengte sich. »Ich beschuldige niemanden. Aber Ihr besitzt Zauberbücher, die uns sagen könnten… « »So ist das!« Ihr Ausruf glich einem Trompetenstoß. »Ich dachte mir, daß wir früher oder später dahin kommen. Ihr laßt jede Ent schuldigung gelten, um sie in die Hand zu bekommen, nicht wahr? Ihr seid gierig wie Egaldus, aber ohne seine Disziplin und seinen Respekt.« Sonnenwolf beherrschte sich mühsam, aber seine rauhe Stimme klang dünn. »Es kümmert mich einen Dreck, wenn Eure Art, Macht über Eure Schüler auszuüben, darin besteht, ihnen Wissen vorzuent 526
halten… « »Macht hat damit nichts zu tun! Ich teile mein Wissen!« Er nahm den Köder nicht an, sondern fuhr unbeirrt fort: »… aber im Augenblick müssen wir erfahren, was diese Männer umgebracht hat, was sie hat umbringen können. Ihr seid hier die Zauberin. Ich weiß, daß es in Wenshar Dämonen gibt. Es könnte in der Wüste noch andere Wesen geben, Wesen, von denen wir nichts wissen… « Kaletha schnaubte: »Wer hat Euch dieses Märchen erzählt? Die ser alte Schwätzer Nanciormis?« »Ich habe sie gesehen, verdammt noch mal!« »Noch mehr Lügen«, sagte sie mit kalter Stimme. »Keiner hat diese sogenannten Dämonen je gesehen – es ist, trotz allen Aber glaubens um sie, auch niemals jemand von ihnen verletzt worden. Es sind Geschichten, die dazu dienen, Kinder einzuschüchtern und Männern eine Entschuldigung dafür zu geben, daß sie Frauen, die sich unaufgefordert in ihre Dinge einmischen, bestrafen. Aber Magie ist ausschließlich ein Ergebnis des menschlichen Geistes, geläutert durch reine Selbsthingabe und Vernunft…« »Wenn sie ein Ergebnis des menschlichen Geistes ist«, sagte der Wolf, »dann muß sie mehr zum Himmel stinken als ein Katzen abort.« »Gebraucht vor mir nicht eine solche Sprache.« »Versteht Ihr nicht?« Sonnenwolf trat einen Schritt auf sie zu, und die hochgewachsene Frau wich vor ihm zurück, wobei ihr gan zer Körper, jeder Zug ihres Gesichts, Haß und Abscheu ausdrückten. Durch das breite Fenster, das den Küchengarten überschaute, waren Tauben zu hören und das leise Geplapper von Frauen, die auf den Wegen zwischen den staubbedeckten Kräuterbeeten dahinflanierten. Der Rauch der Küchenfeuer, die schon für das Abendessen entfacht wurden, trieb wie der beißende Geruch einer fernen Schlacht heran. »Magie ist uns eingeboren, weil wir Kinder der Erde sind. Wir sind es nicht, die sie produzieren. Ihre Anwesenheit macht uns nicht zu besseren oder heiligeren Menschen. Magie kann so rein und wahr sein wie ein Mensch, der sein Leben für jemanden gibt, den er nicht einmal kennt – mögen seine Ahnen dem armen Narren helfen –, oder so schändlich und klein wie die Dinge, die Liebende sich sagen, wenn sie ihrer gegenseitigen Liebe überdrüssig sind.« »Das ist noch eine Lüge!« Sie wandte hart den Kopf, und die dunkelroten Zöpfe schlugen an ihre Wangen. »Woher wollt Ihr das wissen?« fragte er. »Was glaubt Ihr, ist die 527
Große Prüfung? Was, glaubt Ihr, passiert da? Sie bricht die Kruste auf, die über unseren Seelen wächst, weil wir den Anblick dessen, was an ihrem Grund liegt, nicht ertragen können. Sie läßt uns sehen und verstehen.« »Vielleicht trifft das auf Eure Magie zu, möge die Mutter Euch helfen«, sagte Kaletha mit zitternder Stimme, »aber auf meine nicht. Spielt vor mir nicht den klugen Mann, plustert Euch nicht auf, weil Ihr geglaubt habt, irgendein barbarischer Übergangsritus gebe Euch alles, was Ihr wolltet. Ihr seht doch, daß es nicht der Fall war. Ihr verfügt weder über Weisheit noch Reinheit – jedes Wort, das Ihr sagt, macht mir deutlicher, daß man Euch verbieten muß, die Bücher der Macht, die unter meinem Schutz stehen, auch nur zu berühren.« »Wer hat sie unter Euren Schutz gestellt?« »Das Schicksal!« erwiderte sie heftig. Sie entfernte sich von ihm, quer durch den kleinen, sparsam möblierten Steinraum mit dem jungfräulichen Bett in der Nische und dem langbeinigen Lesetisch neben dem offenen Fenster. Vor dem Tisch, im schräg einfallenden gelben Sonnenlicht, wandte sie sich abrupt um. »Sie gehören mir.« Er spürte ihre Heftigkeit beinahe körperlich. »Die Magie ist in den hundert Jahren von Altiokis' Tyrannei und Unterdrückung keineswegs ausgestorben. Sie hat sich befleckt und mit Aberglauben besudelt, wurde vom Gebrauch durch Menschen wie Euch beschmutzt, die sie nur als Werkzeug für ihre eigene Gier und Lust betrachteten.« Leise sagte er: »Ihr seid rasch damit zur Hand, zu beurteilen, was ich bin und was ich will.« »Meine Macht hat mich schnell werden lassen.« Verachtung troff aus ihrer Stimme. »Und es ist mir überlassen, Magie zu unterrichten, sie unter den Würdigen und Reinen wieder neu zu begründen.« »Wie bei Egaldus?« Sie hielt den Atem an, ihre Nasenflügel bebten, und ihre Lippen waren fest zusammengepreßt. Einen Augenblick lang gab es keinen Laut im Raum außer dem Zischen ihres Atems. Selbst das anhalten de Geräusch der vorbeispazierenden Schritte im Garten hatte aufge hört. Er fuhr fort! »Nun, mich stört es nicht, wenn Ihr es im leeren Viertel mit ihm treibt… zum Teufel, es wäre mir einerlei, wenn Ihr ihn im Saal zum Frühstück vernaschen würdet. Aber versucht mir nicht zu erzählen, was ich bin. Schaut nicht auf mich herab, weil ich Falke liebe, oder auf Falke, weil sie mich liebt.« 528
Steif sagte sie: »Das ist nicht dasselbe. Eure Liebe für sie ist nur fleischlicher Natur und entwürdigt Euch beide. Aber meine für Egal dus erwächst zuallererst aus unserer Reinheit, aus seiner Bewunde rung und Achtung. Erst später… kam das andere hinzu. Aber ich erwarte nicht, daß Ihr oder sonst jemand versteht, daß dies einen Unterschied zu der Liebe anderer Leute macht.« »Also ist es wie mit den Dämonen«, sagte Sonnenwolf sanft, »die ich sehen kann, Ihr jedoch nicht. Ich muß diese Bücher haben, Ka letha.« »Nein.« Ihre Stimme klang gepreßt. Er ging zum Fenster hinüber und stellte sich neben das Rechteck ans Licht. »Versteht Ihr denn nicht?« sagte er, jetzt mit ruhiger Stimme, ohne Verärgerung. Er blickte in diese hinreißenden blauen Augen, die unter den zimtfarbenen Wimpern hart vor Mißtrauen waren. »Wenn der Mörder irgendeine… Kreatur, ein Geist oder ein Teufel, war… « Ihre Lippen verzogen sich vor Verachtung, »…ist er darin vielleicht erwähnt, und ich kann irgendeinen Hinweis finden, wie er zu bekämpfen ist… « »Das mögt ihr glauben«, gab sie zurück. »Sie enthalten das übli che Gewäsch, die Deutungen jener, die von den wahren Quellen der Magie nichts wußten.« »Na gut«, sagte er. »Aber wenn der Mörder ein Zauberer ist, der sich der Magie bedient, könnten wir ihm oder ihr wenigstens auf die Spur kommen. Woher habt Ihr die Bücher, Kaletha? Wer schrieb sie? Welchem anderen Zauberer verdankt Ihr Euer Wissen? Ihr könntet Eure Macht benutzen, um den wahren Schuldigen zu fin den.« »Glaubt Ihr, daran hätte ich nicht schon gedacht?« Sie wandte sich mit Hohn in der Stimme von ihm ab. Dann schritt sie umher, ein ruheloser roter Adler, gefangen in einem kleinen Raum. »Ihr glaubt, nur weil ich keine Soldatin bin, wie Eure ehrenwerte Geliebte, hätte ich keinen Verstand? Ja, ich werde meine Macht nutzen, um den wahren Schuldigen zu finden – meine Macht, Eure und die von E galdus – die verborgenen Kräfte, die tief in den Seelen von Luatha und Pradborn, Shebbeth und Shelaina vergraben sind. Habt Ihr, bei all Eurer Weisheit… « das Wort kam ihr ätzend von der Zunge, »… denn nicht das offensichtliche Mittel erkannt, wie man am besten den Schuldigen findet? Ich werde Bischof Galdron fragen.« Sonnenwolf starrte sie schockiert an, als hätte sie ihm unerwartet einen Dolch ins Herz gestoßen. Einen Moment lang wußte er nicht, 529
was er sagen sollte. In der Stille hörte er das Klirren von Sternenfal kes Sporen draußen auf dem gefliesten Gehweg, ihre Stimme, die eine Frage stellte, und Anshebbeths Antwort. Schließlich flüsterte er: »Galdron ist tot.« Kalethas Nasenflügel weiteten sich leicht angesichts der Offen kundigkeit dieses Einwands. Doch sie sagte nur: »Er und Milkom starben spät in der Nacht, höchstens ein paar Stunden vor Morgen grauen. Die Sonne hat noch nicht ihren vollen Kreis beschrieben. Wenn wir seinen Geist anrufen, wird er antworten.« »Das ist Geisterbeschwörung.« Das Entsetzen, das er verspürte, reichte tiefer als seine Kindheitserinnerungen an den Dorf schama nen, der mit den stinkenden Überresten der Hände und Ohren seiner Feinde üble Beschwörungen angestellt hatte – tiefer als sein Bewußt sein. Kaletha sagte ruhig: »Ja, so nennt man es.« »Ihr nennt mich einen Schwarzmagier«, sagte der Wolf, erstaunt, daß Kaletha so etwas in Erwägung zog, »und dann erklärt Ihr mir kaltblütig, Ihr wolltet die Geister von Toten beschwören…« »Nur den des Bischofs von Pardle Sho«, berichtigte Kaletha ihn. »Das ist nicht dasselbe. Ich werde ihn beschwören, weil er bei all seiner Heuchelei gegen das Hexenwesen an Geist und Körper rein war. Wir sollten von den Geistern von Reinen nichts zu befürchten haben.« Sonnenwolfs Stimme klang heiser. »Die Toten sind tot.« Ihr Mund verzog sich unwillig wie der eines Kindermädchens angesichts der Hartnäckigkeit eines Kindes. »Nichts anderes habe ich von einem Barbaren erwartet«, sagte sie. »Eure abergläubische Angst vor den Toten, genau wie diese ›Dämonen‹, die Ihr zu sehen behauptet… « »Würdet Ihr wohl aufhören, mich einen Barbaren zu nennen?« Er holte tief Atem. »Ja, ich bin ein Barbar, und ja, ich fürchte mich vor den Toten, und ja, ich fürchte mich auch vor Dämonen, und zwar aus gutem Grund. Es gibt Dinge, an die man nicht rühren sollte.« »Nur, wenn Eure Magie unrein ist«, erwiderte Kaletha gleichmü tig. »Ihr tut gut daran, Euch zu fürchten, Sonnenwolf – es zeigt Um sicht. Aber ich versicherte Euch, daß es früher schon geschehen und vollkommen sicher ist – sogar regelmäßig. Männer wie Ihr haben es mißverstanden, gefürchtet und gehaßt. Sie haben jene verleumdet, die die Macht dazu hatten. Aber jene, die verstanden, was geschah, kamen nicht zu Schaden. Heute nacht, wenn wir die Beschwörung 530
vornehmen, werdet Ihr sehen.« »Ich werde gar nichts sehen, Lady.« Sonnenwolf trat einen Schritt zurück, erfüllt von einer würgenden Angst, die ein ganzes Leben des ständigen Blutvergießens in ihm nicht hatte hervorbringen können. »Seid nicht dumm!« fuhr sie ihn an. Wütende Funken stoben in ihren Augen auf. »Ich brauche alle Kraft, die ich aufbringen kann. Wir müssen sieben sein.« »Den Siebten könnt Ihr Euch anderswo suchen. Und wenn Ihr keinen findet, um so besser.« »Wer hindert jetzt wen bei der Suche nach dem Mörder?« »Ich weiß nicht.« Sonnenwolf zog sich zur Tür zurück; er spürte Angst, und es störte ihn nicht einmal, daß sie offenbar glaubte, daß sie es war, die er fürchtete. »Aber wenn Ihr genügend Macht auf bringt, um die Geister der Toten anzurufen, wird es nicht der Mörder sein, den Ihr findet.« Später, als er zur Bibliothek hinaufging, fragte sich Sonnenwolf, was an dem Gedanken, die Toten anzurufen, ihn eigentlich mit so großem Entsetzen erfüllt hatte. Yirth von Mandrigin hatte ihn davor gewarnt – was kaum nötig gewesen war, weil unter ihren Zauber sprüchen und Beschwörungen nichts gewesen war, was ihm das ermöglicht hätte. Er sah ihr ernstes, schmales Gesicht vor sich, mit den jadekalten Augen und dem entstellenden Muttermal, das ihr wie ein zufälliger Schmierfleck über Mund und Kinn ging. Leise und sanft wie eine Rosenholzflöte hatte sie gesagt: Und was die Anrufung von Toten betrifft, so heißt es, daß, ganz egal, wie ehrenwert die Motive des Anrufers auch sein mögen, nur Böses daraus erwachsen kann… Hinter dieser Erinnerung schwebten die Bilder seiner Kindheit – etwa das des Dorfschamanen Vielstimmen in seinem Heimatdorf im bitteren Norden, der im Schein des Feuers einen Kreis aus Knochen gelegt hatte, um die Stimmen der Ahnen herbeizurufen. Schon da mals hatten ihm die Nackenhaare zu Berge gestanden, aus Angst, daß er in den Höhlen der rauchgefleckten Totenschädel wieder Pu pillen aufblitzen sehen könnte. Natürlich war das nicht geschehen. Vielstimmen war zwar ein gründlicher Scharlatan gewesen, aber der beste, den das Dorf zu dieser Zeit gehabt hatte. Der kleine Mann hatte Anzeichen gezeigt, ein skandalös hohes Alter zu erreichen – es war also gut möglich, daß er immer noch in seinem Dorf war. 531
Wenigstens war Vielstimmen harmlos gewesen, dachte Sonnen wolf, als er den ersten von mehreren stillen, schattigen Räumen über der Sonnenhalle betrat, mit vollkommen geschlossenen Sturmläden und schwarzen Bücherreihen, die in der Dunkelheit ruhten. Er hatte seine Beschwörungen gegen die Stürme vorgebracht, die das Dorf regelmäßig heimsuchten, seine Flüche gegen Kühe geschleudert, die sorglos aufwiesen wiederkäuten, die wie tiefe Samttaschen zwischen den Felsen der kalten Moore lagen, hatte die Geheimnisse seiner Unwissenheit gehütet und niemals versprochen, etwas von besonde rer Wichtigkeit zu tun. Kaletha… Sonnenwolf runzelte die Stirn. Kaletha… Ihre Bücher waren von irgendwo hergekommen, dachte er. Wenn Zauberer in Wenshar einen so schlechten Ruf genießen, wäre es nicht überraschend, daß, abgesehen von Altiokis, auch einige frühe re Magier Stillschweigen über ihre Macht bewahrt hatten. Vielleicht hielten sich noch andere Schüler dieses Magiers in fernen Gegenden auf. Um Hilfe zu holen? fragte er sich. Oder ist es einer von ihnen, nach dem wir suchen und der uns von weit her mit seinem Zauber belegt? Oder… was? Er erinnerte sich an die Dämonen in Wenshar, das blauweiße Strahlen ihres skelettenen Lichts und das Gefühl der Angst, der Ge fahr. Was für eine Gefahr? Niemand hatte je davon gehört, daß Dä monen einem Menschen körperlichen Schaden zufügten, und doch waren Milkom und der Bischof buchstäblich in Stücke gerissen wor den. Ohne wirkliche Hoffnung, etwas zu finden, begann er die türlo sen Kabinette aus geschwärzter Eiche abzuschreiten und die Bücher zu mustern. Wegen der Form der Kabinette vermutete er, daß dieses Zimmer die ursprüngliche Bibliothek und damit das Archiv der Fes tung gewesen war. Die Kammer dahinter, mit ihren breiten, südwärts auf die Wüste gerichteten Fenstern war offenbar schon immer eine Schreibstube gewesen. Zweifellos waren die Bücher damals zum größten Teil Hauptbücher gewesen, Soldbücher und Berichte von Quartiermeistern, die man liegend hinter verschlossenen Kabinettü ren verstaut hatte, zusammen mit Papier und Tinte. Er konnte die Löcher im vorderen Teil der Kabinette sehen, wo man die Türen entfernt, und die Spuren im Holz, wo man die Höhe der Regale ver ändert hatte, um die Bücher nach neuer Mode aufrecht hineinzustel len; er sah auch, wo im Laufe der Jahre neue Regale hinzugefügt 532
worden waren, um die Neuanschaffungen unterzubringen, erst hier und anschließend in der Schreibstube und in dem anderen kleinen Raum zu seiner Linken. Dort gab es neue wie ältere Bücher – enor me Wälzer aus vergilbtem Pergament, die nach Staub und Lanolin stanken, die rissigen Blätter von bunten Initialen bedeckt, als hätte jemand einen Korb Blumen darüber ausgeschüttet – und dicke, eng beschriebene Papierbände, die auf schmierigen neuen Pressen herge stellt worden waren, wie jene, die man an den Universitäten von Kwest Mralwe und auf der Halbinsel Gwarl benutzte. Er nahm eines der alten Bücher aus dem Regal und schlug den zerschlissenen und schmutzigen roten Ledereinband auf. Es war eine Abhandlung über die heiligen Wechselbeziehungen zwischen den Drei Göttern, in unnötiger Länge und dem seltsam verschlungenen, melodiösen Tonfall aus den Gebieten der östlichen Steppen jenseits der Tchard-Berge. Außerdem fand er ein romantisches Dichtwerk in dem blumenreichen alten Stil der Megantischen Bucht. Sonnenwolf konnte die meisten Dialekte der alten Sprache von Gwenth lesen, obgleich er nur in der abgehackten Schrift des Nordens und den Runen seiner eigenen Kindheitssprache schreiben konnte. Er stellte das Werk zurück, nachdem er einen raschen, kritischen Blick drauf geworfen hatte: So böse war das Antlitz des Wesens, daß Wintessa erschlaffte, und Grovand, der sie in den Armen hielt, war trotz der Gefahr, daß das Monster auf ihn zuspränge, ganz vom Zauber ihrer Locken hin gerissen, die wie ein Strom aus gesponnenem Gold über seiner Brust hingebreitet lagen, und die Lippen waren bleich wie Meermuscheln im schimmernden Rund ihrer Miene… Ich hätte den albernen Teil, die Locken aus gesponnenem Gold und das alles, weggelassen, dachte Sonnenwolf mürrisch und ging weiter. Er versuchte sich vorzustellen, wie Sternenfalke beim An blick eines Ungeheuers, das auf sie zugesprungen kam, ohnmächtig in seine Arme sänke. Ganz egal, wie böse es auch dreinschaute, sie hätte sich wahrscheinlich einen Besenstiel gegriffen und das Ding zum Stolpern gebracht, während er, Sonnenwolf, sich immer noch damit abmühte, sein Schwert endlich aus der Scheide zu bekommen. Er nahm ein kleines, schwarz eingebundenes Buch vom Tisch und stellte fest, daß es in einer ihm unbekannten Sprache geschrie ben war – die Buchstaben gehörten nicht einmal zum Alphabet von Gwenth. »Das ist die Sprache der Shirdar.« 533
Er fuhr herum und sah Jeryn, der in der Tür des kleineren Rau mes zu seiner Linken lehnte. Er versuchte sich zu erinnern, wann er den Jungen zuletzt gesehen hatte – es war heute morgen beim Frühs tück gewesen, als Sonnenwolf mit der Nachricht vom Tod des Bi schofs und Milkom hereingeplatzt war. Jeryn hatte lässig auf seinem Stuhl an der Hohen Tafel gesessen. »Die Shirdar gehörten niemals dem Reich an, also lasen und schrieben sie immer anders als jeder sonst. Die Leute reden über sie, als wären sie Barbaren, aber sie sind keine, müßt Ihr wissen.« Der Junge zögerte, ein dickes Buch unter einem seiner mageren Arme, als wüßte er nicht, ob er willkommen war. Sonnenwolf schlug langsam das Buch zu. »Ich weiß«, sagte er. Er blickte sich in den dunklen Reihen schweigenden Wissens um. »Sie scheinen aus allen erdenklichen Winkeln der Welt zu kom men.« Jeryn nickte, die dunklen Augen groß im schmalen Gesicht über der formellen kleinen Halskrause. »Ich wußte nicht, daß Ihr lesen könnt, Hauptmann.« »Na ja, schließlich reden die Leute auch über mich, als wäre ich ein Barbar.« Der Junge grinste ein wenig verlegen und neigte unwillkürlich seinen Kopf. Sonnenwolf lehnte sich an eines der Regale und drehte den Band in seinen großen, narbenbedeckten Händen. »Wie gut kennst du die Bücher hier?« Jeryn zuckte die Achseln. »Ganz gut.« Er fand seinen Gleichmut wieder, kam herein und nahm eine kurzbeinige Leiter von einem Schreibtisch, stieg hinauf und stellte den Wälzer, den er trug, wieder an seinen alten Platz auf einem hohen Regal zurück. »Die meisten kann ich lesen, aber bei einigen fällt es mir schwer – die Schrift ist zu klein, und sie handeln von Dingen, die ich nicht verstehe. Aber das hier ist eins von den guten«, fügte er hinzu und hielt den Band hoch, den er gerade zurückstellte. »Er handelt von Mineralen und Edelsteinen und dem Schmelzen von Gold. Wußtet Ihr, daß man, statt das Silbererz mit dem Hammer herauszuschlagen, auch eine Maschine bauen kann, die das für einen tut, und sie mit einer von Eseln angetriebenen Tretmühle betreiben kann?« »Wenn man bedenkt, daß man deinen Verstand damit vergeuden will, einen tumben Krieger aus dir zu machen.« Der Wolf seufzte. »Gibt es noch andere Stellen in der Festung, wo man Bücher unter 534
bringen könnte?« Der Junge dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht. In den Privatgemächern vielleicht. Wie viele Bücher?« Sonnenwolf warf einen Blick auf das Regal neben ihm. Die kleinsten Bände hätte er in der hohlen Hand verstecken können, die größten waren länger als sein Unterarm. Er hatte sich vorhin in Ka lethas zellenartigem Zimmer kurz umgesehen – es war spartanisch eingerichtet wie das einer Nonne. »Ich weiß nicht.« »Ich wette, wir können es herausfinden.« Jeryn stieg von der Lei ter herunter und zupfte schwächlich an seiner schwarzen Hose, die sich um seine mageren Schenkel wickelte. Sonnenwolf schätzte, daß jetzt die Zeit war, wo der Junge seine nachmittäglichen Schwert übungen absolvieren sollte. Er war nicht mehr sein Lehrer, also ging es ihn nichts an. Außerdem vermutete er nach alledem, was er inzwi schen von Nanciormis' Unterricht gesehen hatte, daß der Junge ohne diesen sowieso besser dran war. Da er sich im Umgang mit Kindern nicht auskannte, behandelte der Wolf Jeryn einfach so, wie er jeden anderen Mann auch behandelt hätte – in diesem Fall einen Mann, der sich in den Bibliotheken der Festung auskannte. »Es gibt hier ein Verzeichnis der Bücher.« Der Junge führte ihn in die kleine Kammer, aus der er gekommen war. Wie die eigentli che Bibliothek war auch sie dunkel, eng und roch nach Papier, Tinte und dem Staub von Stürmen, der liegengeblieben war und sich auf dem dicken Granit der Fenstersimse rings um die Scharniere der Läden aufgehäuft hatte. »Es wird alles aufgeschrieben. Das muß so sein«, fügte er hinzu, zerrte einen fetten Wälzer vom Regal und blickte Sonnenwolf an. »Wenn man nicht alles aufschreibt, erfährt man nie, wenn etwas verschwindet.« Sonnenwolf grinste. »Du solltest einmal versuchen, während des Winters einem Söldnertrupp auf der Fährte zu bleiben, wenn du dich darin üben willst, Dinge aufzuschreiben, damit sie nicht verschwin den.« Als Jeryn den Wälzer aufschlug, legte er sein Buch auf den Tischrand und beugte sich über die Schulter des Jungen, um einen Blick hineinzuwerfen. »Wir suchen Zauberbücher – Bücher der Macht. Ich weiß nicht, woher sie stammen, wie viele es waren oder wann sie herkamen, aber es ist mindestens zwei Jahre her, wahr scheinlich länger. Sie müssen von irgendwoher gekommen sein, und ich glaube, daß Kaletha ihre Hand darauf hat und sie an einem ge heimen Ort aufbewahrt.« 535
»Im leeren Viertel des Palastes?« schlug Jeryn prompt vor, wäh rend er mit seinem zarten Finger auf die Buchseite tippte, um sich die Stelle zu merken. »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte der Wolf nach kur zer Überlegung. »Aber die meisten dieser Gebäude sind ziemlich ungeschützt. Die ohne Dächer sind schon recht zerfallen. Und manchmal gehen Leute dorthin, auf der Suche nach verirrten Hüh nern oder einem ruhigen Platz, um es miteinander zu treiben…«Na prima, dachte er eine halbe Sekunde später, als die dunklen Augen zu ihm hochschreckten und dann abschweiften. Plötzlich waren es wieder die Augen eines Jungen, den es erschreckte, wenn ein Er wachsener über diese Dinge so sprach. »Ich glaube nicht, daß sie das riskiert hätte.« »Es gibt Keller unter dem leeren Viertel«, sagte Jeryn nach kur zem Schweigen. »Sie sind in die Felsen gehauen, jedenfalls einige. Sie haben sie benutzt, um Getreide und andere Sachen dort während der Zeit der Stürme zu lagern, damals, als dort die Festung war und sie immer benutzt wurden. Die meisten von ihnen sind ziemlich schmutzig«, fügte er beiläufig hinzu und wandte sich wieder den Bücherlisten vor sich zu. »Schwarzes Buch von Wenshar?« Sonnenwolf blinzelte auf die ungewohnte Handschrift. »Das klingt vielversprechend.« »Es wird nur so genannt, weil es einen schwarzen Buchdeckel hat«, antwortete Jeryn. »Es ist ein großes Buch mit den Stammbäu men des Alten Hauses von Wenshar, eines der Bücher, die Mutter als Mitgift in die Ehe brachte. Hier steht, daß es in Shirdarsprache ge schrieben ist.« »Nun, das nützt uns nicht viel.« »Oh, ich kann Shirdar lesen«, sagte der Junge. »Kaletha hat es mir beigebracht, bevor sie Zauberin wurde und begann, Magie zu unterrichten. Später halfen mir einige der Schreiber. Das Buch dort… « Er zeigte auf das kleine schwarzgebundene Buch, das Son nenwolf aus der Hand gelegt hatte, unendlich alt mit raschelnden Seiten und der fast verblaßten Tinte. »Es beginnt mit… « Er öffnete das Buch, las einen Moment auf der letzten Seite und erklärte dann: »Die Shirdar schreiben ihre Bücher von hinten. Hier steht Eine Ab handlung über den Gebrauch des Kaktus und… und… « Er suchte das treffende Wort, sagte dann: »Ich weiß das Wort nicht. Kaktus und irgend etwas anderes, jedenfalls eine Heilpflanze.« »Möglicherweise Aloe«, meinte Sonnenwolf und sah mit gewis 536
ser Bewunderung auf den Jungen herab. »Weiß dein Vater, daß du diese Sprache liest?« Jeryn schwieg bei der Erwähnung seines Vaters. Nach langer Pause sagte er: »Ich denke nicht. Ich habe es ihm einmal erzählt, und er – er sagte, ich sollte meine Zeit nicht verschwenden.« Sonnenwolf wollte sagen, ein Mann, der zwölf Stunden am Tag damit verbringt, sich mit Brandy zu betrinken, hat eine Menge Zeit, über verschwendete Zeit zu reden, aber er schwieg. Der Junge hatte genug Probleme, ohne daß man ihn an etwas erinnerte, für das er sich zweifellos ebenso schämte wie der Vater für die Bücherliebe seines Sohnes. Statt dessen sagte er einfach: »Nun, ich sage dir, es ist keine Zeitverschwendung – nicht für einen König, der sein Leben lang mit den Shirdar zu tun haben wird. Gehörte dieses Buch zur Mitgift deiner Mutter?« »Ich denke schon«, sagte Jeryn und drehte den kleinen Band nachdenklich in den Händen. »Sie brachte viele Bücher mit, und einige waren sehr alt.« Sonnenwolf überflog rasch die Liste vor sich. »Das hier ist aber nicht aufgeführt – jedenfalls nicht unter den Habseligkeiten deiner Mutter.« »Seltsam«, sagte Jeryn. »Ich dachte, alle Shirdarbücher gehörten meiner Mutter. Eigentlich weiß ich es sogar ganz sicher, weil sonst nirgendwo steht, daß sie in dieser Sprache geschrieben sind.« »Also gibt es hier Bücher, die nicht auf der Liste stehen.« Son nenwolf wiegte das fremde Kräuterbuch in der Hand und dachte an etwas, das Tazey Sternenfalke zufolge gesagt haben sollte; eine Idee nahm langsam in seinem Kopf Gestalt an. »Wo sind die anderen auf Shirdar geschriebenen Bücher?« Jeryn eilte in den größeren Raum zurück, zu einem der Kabinette, das noch eine Tür hatte. Während er sie entriegelte und aufzog, sagte er: »Sie werden alle zusammen aufbewahrt, weil außer einer Hand voll Schreiber niemand sie lesen kann.« Einige waren so gut wie neu, andere alt und fleckig, die Leder einbände von Rauch und Schmutz geschwärzt und vom öligen Griff von Händen, die schon lange zu Staub zerfallen waren. Sonnenwolf zählte sie – es waren fünfundzwanzig. »Und auf der Mitgiftliste deiner Mutter standen nur siebzehn.« Er wandte sich wieder dem Jungen zu, wobei sein einzelnes Auge im trüben Glanz des abendli chen Sonnenlichts, das durch die halbgeschlossenen Läden fiel, auf blitzte. Er nahm eines der am ältesten aussehenden Bücher herunter 537
und gab es dem Jungen, damit dieser es sich genau ansehen konnte. »Das Buch der Heilkunde«, las Jeryn die schnörkeligen und ver blichenen Symbole laut vor. »Oh, seht nur, da ist ein Skelett!« rief er eifrig aus, nachdem er es kurz durchgeblättert hatte. »Und nicht einmal ein sehr gutes«, fügte der Wolf hinzu, der ihm über die Schulter blickte. »Sein Ellenbogen beugt sich falsch herum – siehst du? Aber ich erinnere mich nicht, daß es auf der Liste stand.« Jeryn schüttelte verdutzt den Kopf. »Gibt es hier ein Verzeichnis der Gegenstände, die schon vor handen waren, als die Festung während des Aufstands übernommen wurde?« »Das müßte es eigentlich«, sagte Jeryn langsam. »Ich meine, wenn ich ein Rebellenführer wäre, der eine feindliche Festung, er obert, würde ich eine Liste der Dinge haben wollen, die es in ihr gibt, um zu wissen, was davon ich gegen den Feind benutzen kann.« Als sie sie fanden, war die Sonne schon lange hinter den Bergen versunken; in den drei stillen, nach Staub riechenden Räumen war es pechschwarz geworden, und beide Sucher waren von Kopf bis Fuß mit dem aufgewühlten Schmutz der Zeitalter beschmiert. Sonnen wolf merkte plötzlich, wie müde und hungrig er war. In der Aufre gung über den Tod Milkoms und des Bischofs hatte Osgard noch keine Zeit gefunden, den Wolf abermals aus der Festung zu jagen, doch er hatte das Frühstück verpaßt und war sich nicht sicher, ob er noch bis zum Abendessen willkommen sein würde – immer voraus gesetzt, es war noch etwas übrig, wenn er und Jeryn endlich in den Saal hinunterkämen. Aber alle Erschöpfung schwand angesichts einer ungewohnten, freudigen Erregung des Lernens, als er und Je ryn mit überkeuzten Beinen auf dem von Büchern übersäten Boden saßen, umgeben von dem blauweißen Kreis aus magischem Licht, der die knisternden Seiten des alten Wälzers erhellte, den Sonnen wolf auf den Knien hatte. »Hier ist es.« Seine Hand warf zitternde Kobaltschatten über die verblichene Seite, als er darauf deutete. »Dreißig restaurierte Bände, sechs große Häute für Einbände, und vierzig Häute für Pergament… schnelltrocknende Tinte… Tintenfässer… sechsundzwanzig Bücher der Hexen von Wenshar. So etwas dachte ich mir, als Kaletha von der Anrufung der Toten sprach. « »Sechsundzwanzig«, sagte Jeryn, und seine kleine Hand ruhte leicht auf Sonnenwolfs Schulter, als er über seinen Arm hinweg auf 538
die Buchseite blickte. »Wenn Mutter siebzehn mitgebracht hat«, sagte er, »und hier sind noch fünfundzwanzig da…« »Dann heißt das, daß es irgendwo in dieser Festung noch acht zehn Bücher gibt«, sagte Sonnenwolf leise, und sein Auge starrte nachdenklich in die Dunkelheit, »geschrieben von den Hexen von Wenshar.«
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10. Kapitel Finsternis lag über der Festung Tandieras; sie verbarg sich in den Winkeln vor dem gelben Fackelschein aus dem Saal, strich je doch, lebendig und witternd, durch das leere Viertel. Blasses Ster nenlicht säumte die zersprungenen Fliesen des alten Weberhofes, erreichte aber nicht die abgründige Schwärze des Inneren der lang gestreckten Gebäude, die den Hof umgaben. Im wabernden Schwe felglühen der mitgeführten Feuerschalen versammelte Kaletha ihre Anhänger für die Anrufung der Toten. Klar und silberhell erhob sich ihre Stimme zur Beschwörung der Mutter. »Wir bitten um Deine Hilfe, da wir alles getan haben, was wir konnten… Wir haben uns durch Fasten geläutert… Wir haben diesen Raum mit Feuer, Kräutern und Wasser gereinigt…« Sternenfalke, die zwischen Anshebbeth und dem jungen Prad born Dyer stand, ballte die schmerzenden Hände. Sie hatte seit ihrer Zeit im Kloster keine Böden mehr gefegt. »…Wir haben uns mit Kreisen aus Dunkelheit und aus Licht um geben…« Ein plötzliches Auflodern der Goldflamme in einer der Schalen erweckte den Eindruck, als würden sich die tief eingekratzten Linien des Pentagramms kräuseln und in die Länge ziehen. Es breitete sich wie ein toter Vogel auf dem Erdboden aus; der Geruch der trockenen Erde vermischte sich in seinen Linien mit dem der Lehmziegelwän de, dem von Moder und zerstampften Kräutern, dem abscheulichen Weihrauch und der elektrischen Staubigkeit des Windes. Eine Bö stöhnte durch die Mauern des leeren Viertels, das unmittelbar hinter dem Hof lag, und ließ die Flammen erzittern; Sternenfalke konnte einem kurzen Blick über ihre Schulter, in die Dunkelheit, die drau ßen zu lauern schien, nicht widerstehen. In Rauch und Räucherwerk gehüllt, bewegte sich Kaletha von Punkt zu Punkt des Pentagramms, wobei sie darauf achtete, niemals über seine Linien zu treten. Sie berührte der Reihe nach das Wasser in den ausgekratzten Vertiefungen und fuhr mit den Händen über die Feuerschalen; die Schatten ihrer Finger strichen behutsam über die Gesichter derer, die in dem engen Bereich zwischen dem inneren Pentagramm und dem äußeren Kreis des Lichts standen. »Wir haben den Kreis des Lichtes um uns gezogen, um alle Ge schöpfe der Dunkelheit fernzuhalten; wir stehen vor Dir, gegen alles 540
gewappnet, das uns schaden könnte… « Mit Ausnahme von uns selbst, dachte Sternenfalke, als sich die kalten Hände ihrer Nachbarin um die ihren schlossen. Mit Ausnahme von uns selbst. »Das gefällt mir nicht«, hatte Sonnenwolf gesagt, als sie früher am Abend unten im Saal mit ihm gesprochen hatte. Sie hatte nicht gefragt: »Warum?« Hätte er einen anderen Grund als seinen animalischen Instinkt für Gefahr gehabt, hätte er es ihr gesagt. So aber hatte sie nur gefragt: »Wie gefährlich kann es denn werden?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie mächtig Kaletha ist oder welche Art von Magie sie aus ihren Büchern gelernt haben mag. Ich weiß nicht, wieviel Macht sie in denen aus ihrer Gefolgschaft, die selbst über Macht verfügen, zu erwecken imstande ist – in Egaldus und Shelaina.« Das war vor ein paar Stunden gewesen, als Sternen falke in den Saal heruntergekommen war und Sonnenwolf und Jeryn bei einem verspäteten Abendessen mit gebackenem Käse und Por ridge angetroffen hatte. Ihr Haar und ihre Gesichter hatten nach einer hastigen Wäsche im nächsten Pferdetrog ausgesehen, und ihre Hem den und Wamse waren grau von altem Staub und Spinnweben gewe sen. »Nach den Berichten von Tazey und Nanciormis zu urteilen, wurde die Macht der Hexen von Wenshar fast ausnahmslos für das Böse eingesetzt. Es geht nicht darum, ob manche von ihnen gut und manche böse waren – sie waren einfach alle ein übler Haufen, ganz egal, wie gut sie zu Anfang gewesen sein mögen.« Auf Sternenfalkes zweifelnden Blick hin hatte Jeryn eingewor fen: »Das ist wahr.« Die brennenden Kerzen hatten sich in seinen dunklen Augen gespiegelt, als er zu ihr aufsah. »Deshalb hatte Tazey ja soviel Angst – und deshalb ist Vater auch so wütend. Der Grund ist nicht einfach der, daß Tazey nicht zu einer Hexe werden und verdammt sein will. Sie will nicht zu jemand werden, der es verdient, verdammt zu sein. Wie es ihnen geschah.« Das Essen war schon lange abgeräumt gewesen, und die Leute, die am anderen Ende des Saals geblieben waren, um zu nähen, Me tall zu schmieden oder Waffen zu schärfen, hatten in gedämpftem Tonfall miteinander gesprochen. Unter der Tür zur Sonnenhalle war ein schmaler Streifen Licht zu sehen gewesen. Eine Weile war Os gards Schatten daran vorbeigestrichen, auf- und abschreitend, als versuchte er, seinen Schmerz und den Verlust durch Laufen zu lin dern. Einige Zeit später hatte auch das aufgehört. Nur noch das leise 541
Klirren eines einzelnen Weinbechers auf dem kleinen Bronzetisch war zu hören gewesen. Sternenfalke hatte die Stirn gerunzelt, und sie hatte den großen, löwenfarbenen Barbaren mit der Augenklappe und den narbenbe deckten Unterarmen, die mit einem Dickicht aus sonnengebleichten Haaren bedeckt waren, betrachtet. Das Messing auf seinem schmut zigen Wams hatte leicht im Kerzenschein aufgeblitzt. Dann war ihr Blick zu dem zerbrechlichen Jungen neben ihm geglitten, dessen schwarze Locken vom Wind zerzaust waren und dessen übliche Zimperlichkeit wie weggeblasen erschienen war. »Ist das möglich?« hatte sie gefragt. »Daß Magie an sich böse ist?« »Sollte sie eigentlich nicht«, hatte der Wolf gesagt. »Aber schließlich sollte sie ja nicht einmal existieren. Wir wissen immer noch nicht, wieso Magie überhaupt funktioniert, Falke, nicht mehr jedenfalls, als wir wissen, was ein Blitz oder was Leben ist – wieso eine Frau in der Lage sein sollte, ein anderes menschliches Wesen lebend aus ihrem Bauch zu gebären, eine Person, die es vorher nicht gab und die Reiche errichten und auf dem Wind reiten kann… Wes halb Frauen?« »Sie sind klüger«, hatte Sternenfalke prompt mit ausdrucksloser Miene erwidert. Der Wolf hatte sie angegrinst – es war ein alter Scherz zwischen ihnen. Dann war er wieder ernst geworden und hatte gesagt: »Wir brauchen eine Sache nicht zu verstehen oder auch nur daran zu glau ben, damit sie uns tötet, Falke. Und nachdem ich jahrelang annahm, daß Magie nichts mit mir zu tun hätte, werde ich jetzt nicht glauben, ich hätte sie verstanden. Ich glaube nicht, daß Magie die, die sie ausüben, automatisch verändern muß; aber andererseits gibt es einige Gründe, zu glauben, daß dies hier der Fall war. Und vor Geisterbe schwörungen hat man mich sowieso schon immer gewarnt. Es ist nicht unbedingt nötig, daß Kaletha Böses zu tun beabsichtigt, damit aus ihrem Tun Böses erwächst.« »Sie braucht sieben«, hatte der Falke langsam gesagt, den Stiefel neben sich auf die Bank gestützt und den Ellenbogen auf den Schen kel. »Ich bin die einzige, der sie traut. Und merkwürdigerweise – es ist nicht so, daß ich ihr traue, denn sie geht ja recht verantwortungs los mit ihrer Macht und ihrem Einfluß auf andere Menschen um. Aber… merkwürdigerweise verstehe ich sie.« Für einen Moment hatte er von seinem Essen zu ihr aufgeblickt, verwirrt, als hätte er nicht erwartet, daß sie Sympathie für jemanden 542
entwickelte, den er nicht mochte. Nicht, daß es gegen seinen Willen oder seine Erwartungen war – er hatte diese Möglichkeit, seit sie Liebende waren, nur einfach nicht mehr in Betracht gezogen. Schließlich hatte er sie gefragt: »Teufel noch eins, Falke, spürst du es denn nicht?« »Ich spüre eine Gefahr, ja«, hatte sie gesagt. »Aber ich finde auch, daß einer von uns dort sein sollte. Und wenn sie wirklich aus einem von uns beiden die Macht hervorlocken kann, sollte wohl eher ich es sein, weil ich noch keine habe.« Er hatte ihre Logik akzeptiert und genickt. Aber nun in diesem Kreis kehrte das Gefühl einer Gefahr zurück, ein nervöses Prickeln; es war die unbestimmte Ahnung eines Kriegers, daß die Situation, aus Gründen, die nicht genau zu erklären waren, zum Himmel stank. Sie hatte die Stunden zwischen ihrem Gespräch mit Sonnenwolf und dem Anbruch der Mitternacht mit Meditationen verbracht, und viel leicht erschien ihr deshalb die Nacht ringsum lebendig und die Dun kelheit von halb verschmolzenen Wesenheiten erfüllt, die nur darauf warteten, beim Namen gerufen zu werden. Sie war die einzige in dem Kreis, die weder magischer Abstam mung war noch sein wollte. Als sie sich bei den Händen faßten und Kaletha das letzte Glied im glühenden Ring aus menschlicher Ener gie zwischen dem Kreis und dem Pentagramm bildete, schaute sie in die Gesichter der anderen: Luatha, das dicke Gesicht faltig von einer Konzentration, die die Linien schmollender Unzufriedenheit um ihren Mund nicht auszulöschen vermochte; Shelaina, gespenstisch und zurückgezogen, mit von der Halbtrance entstelltem Gesicht. In diesem Zustand konnte sie unter Kalethas Führung in kaltem Holz Feuer entfachen. Und Pradborn, der die Augen fest geschlossen hielt und einen von Kalethas Sprüchen der Selbsthypnose in sich hinein murmelte. Sternenfalke spürte Anshebbeth an ihrer Seite, deren ma gerer Körper aufs äußerste gespannt war, ihr Gesicht eine weiße Maske mit unausgeschlafenen, dunkel umrandeten Augen. Durch ihre Handflächen, die Shebbeths lange, kalte Fingerknochen und Pradborns schwammige Flossen umklammerten, spürte sie das He raufsteigen von Macht, ein beinahe fühlbares Gegeneinander sich bewegender Energieströme, das anders war als die sich vertiefende Stille des Unsichtbaren Kreises, in dem die Nonnen von St. Cherybi meditiert hatten. Vielleicht aber war es auch nur ihr Wissen um die Spannungen, die ihre kleine Gruppe teilte. Auf Kalethas Signal hin erhob sich Egaldus' musikalischer Tenor 543
und stimmte einen Singsang an. Die Worte kannte Sternenfalke nur von einer früheren Probe, deren hypnotische Eindringlichkeit ihren Geist benommen gemacht hatte. Kalethas Augen waren geschlossen. Draußen murmelte der Wind ferne Gerüchte vom Sturm. Wir sind Kinder der Erde, dachte Sternenfalke, deren Verstand unter dem Summen der Stimmen und ihrer eigenen Teilnahme an dem uralten Ritual zu versinken begann; ihre Gedanken würden unter dem Gewicht des Weihrauchs bald völlig zum Stillstand kom men. Mögen die Trinitarier es vielleicht auch leugnen, so ist unser Geist doch aus unserem Körper geboren, Lehm, von lebendem Feuer geformt; daraus erwächst die Macht dessen, was wir sind, nicht, was wir tun. Als ihr Bewußtsein mit dem Singsang und der drogenschweren Süße des Weihrauchs verschmolz, vibrierte der Teil von ihr, der noch Krieger war, im Gefühl der Macht, die in der Dunkelheit jen seits des schützenden Lichtkreises wuchs. Im Sternenlicht hatte das leere Viertel des Palastes das zerglie derte Aussehen eines Tierskeletts, dessen Rippen, Oberschenkelkno chen und Schienbeine die Stellen der einstigen Mauern einnahmen, inmitten eines Haufens willkürlich verteilter Rückenwirbel. Der zarte Lichtteppich hob verblichene Ecken und Ränder aus Mauern und Gestein und die seidene Wölbung von kleinen Dünen hervor, deren Grate dem suchenden Wind ausgesetzt waren. Schatten füllte die leeren Türen und Fenster und lauerten in den Eingängen von hundert Höfen und Durchgängen wie schwarze Vorhänge aus Spinnenweben. Die Luft bebte vor Elektrizität und dem üblen Schwefelgestank der Macht. Wenn er Feuerstein aufeinanderschlüge, dachte Sonnenwolf, der im sandbestreuten Hof direkt unter dem Tor stand, würde der ganze Äther explodieren. Methodisch begann er die Ruinen zu durchstreifen. Er trug kein Licht und rief auch das Fuchsfeuer der Magier nicht um Beistand an; er wollte seine Augen mit dem, was sie in Licht und Schatten sahen, nicht verwirren. Er wußte, daß es schwierig sein würde, zu sehen, wonach er suchte. Kaletha würde den Ort vor dem zufälligen Blick eines jeden Vorbeikommenden verborgen und rings um den Eingang zum Keller – wenn es ein Keller war – Bannsprüche ausgelegt haben, die den Blick zwangen, darüber hinwegzuschauen, wie man gewohnheitsmäßig über so vieles im Leben hinwegschaut. Aufgrund seiner Erfahrung als Fährtensucher und jemand, der Fähr 544
tensucher eingesetzt hatte, war ihm bekannt, wie wenige Leute jeden Gegenstand in einem Raum aufzählen konnten oder sagen, ob sich eine Tür nach außen oder nach innen öffnete; die meisten Leute wären überrascht, überhaupt von dieser Tür zu erfahren. Er hatte auch gelernt, wie einfach es war, solche Bannsprüche zu legen. Also schritt er vorsichtig durch die leeren Höfe und markierte mit einem kleinen Licht alle Türeingänge, an denen er vorbei kam – vergängliche Markierungen, die mit dem Sonnenlicht verblassen und schließlich verschwunden sein würden. Er zählte an seinen Fingern die vier Ecken jeder dachlosen Zelle ab, die er betrat – alte Werkstät ten mit den getrockneten Scherben einstiger Arbeitsbänke, die noch dort lagen, wo die Sandstürme sie entlang der Mauern hingeweht hatten. In ihren Ecken häuften sich Sand und zerschellte Dachschin deln, während das düstere Gebälk darüber von den Stimmen schla fender Tauben widerhallte. Er durchsuchte Räume, die einst Küchen gewesen waren, mit einem von Füchsen hinterlassenen Durcheinan der in den kleinen runden Feuerstellen und dachlose Ställe für Pferde und Kühe, erfüllt von einer wispernden Harlekinade der Schatten und dem flüchtigen Huschen nervöser Wüstenratten. In den Räumen weiter im Inneren lagen kreuz und quer heruntergefallene Balken; näher an den bewohnten Bereichen der Festung hatte man die Bal ken, die in diesem baumlosen Land selten waren, zu anderen Zwe cken entfernt. Trotz der spärlichen Winterregen am Fuß der Berge begannen sich die dicken Wände, die an ihrer Basis eineinhalb bis zwei Schritte maßen, zu formlosen Streifen aus Schlamm aufzulösen. Er zwang sich dazu, in jede Ecke zu gehen und die dort angeweh ten Matten aus kleinen Holzstückchen und Sand zu berühren, denn er wußte nur zu gut, wie Trugbilder glauben machen konnten, daß jede schattige Ecke genau wie die vorherige aussah. Er wußte, daß gute Belagerungskunst und gute Feldherrnkunst – und auch gute Magie – im sorgfältigen Überprüfen eines jeden Details bestand, so daß nur jene mit einer gewissen Methodik und Geduld sie meistern konnten. Doch bei alledem fühlte er stets die Magie, die sich in der Macht bewegte. Die Luft schien gegen seine Haut zu scheuern, als sei sein Körper eine offene Wunde; das magiegeladene Schweigen zerrte und nagte an seinen gespannten Nerven, bis selbst die Bewegung seines langen Haars im heißen, ruhelosen Wüstenwind ausreichte, um ihn zu erschrecken. Er konnte spüren, wie Kaletha und ihre Schüler den Knochen der Erde die Macht entzogen, sie aus der umgebenden Luft herbeiriefen; er wußte, daß seine eigene Magie daran teilhatte, Kraft 545
aus der Kraft bezog, die frei und ruhelos in der Dunkelheit umging. Er hatte die Werkstatt des Färbers mit ihren seichten, zerfallenden Lohgruben, wo man Nexués Körper gefunden hatte, einen Tag nach ihrer Ermordung aufgesucht. Doch, als er wieder in ihre vier Ecken trat und mit besonderer Aufmerksamkeit die gräßlichen Flecken auf den Steinen der eingesunkenen Mauern betrachtete, konnte er das Echo des Bösen und Entsetzlichen, das sich hier abgespielt hatte, noch immer im Boden lauern spüren. So wie die Baßsaiten einer Harfe sprechen, wenn der Wind über sie streicht, so vibrierten zerfal lende Gespenster der Magie rings um ihn her, als er vorbeiging, ein schattenloser Schatten in der Nacht. An einem anderen Ort spürte er sie erneut, wie der schwache Nachhall zu einem Geräusch. Es dauerte einige Augenblicke, bis er erkannte, daß er hier die hingeschlachteten Tauben gefunden hatte. Hand in Hand; Haut an Haut. Sternenfalke spürte durch die merkwürdig funkelnde Dunkelheit dieser Meditation hindurch die Macht, die durch Fleisch und Sehnen aus dem innersten Wesen der verknoteten Knochen des einen in das innerste Wesen des anderen überwechselte. Niemals zuvor hatte sie an einem solchen Verbund der Macht teilgenommen, aber sie konnte spüren, wie sich die Ener gie im Kreis bewegte, größer als Kalethas Macht oder Egaldus' schnell anwachsende Kraft. Es schien ihr, daß die Flammen, die über den Kräutern und dem Weihrauch brannten, in sich zusammenge sunken wären, daß Schatten über die Gesichter der Sieben zögen, daß die Linien, die in die Erde gekratzt worden waren, schwach glühten, und daß die Gesichter selbst, die ihr während der letzten zehn Tage vertraut geworden waren, sich verändert hatten. Sie waren anders und doch nicht vertraut, als hätte sie schon immer gewußt, wie sie unter der Haut aussahen. Sie sang, wiederholte immer wieder die bedeutungslosen Silben des unbekannten Ritus, wobei der Klang selbst ihren Geist mit sich trug wie der Rhythmus der Meereswogen; ihr war bewußt, daß sie alle in dieser Bewegung zu schwanken begonnen hatten. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon sangen, und es kümmerte sie auch nicht; wie in ihrer Meditation schien die Zeit ihre Bedeutung verloren zu haben und stehengeblieben zu sein, und sie wäre nicht erstaunt oder beunruhigt gewesen, hinauszugehen und zu entdecken, daß die Sterne sich nicht bewegt hatten und die Sonne nicht aufge gangen war. Doch in der Meditation war sie sich aller Dinge bewußt, bis hin zum Schweigen der tiefen Wasser. Hier aber spürte sie nur 546
den Singsang, den regelmäßigen Rhythmus seiner Kraft in ihrem Geist und die kaum kontrollierte Macht, die von Hand zu Hand glitt. Es war wie Schlaf, aber sich bewegender Schlaf. Der Geist war be freit, dachte sie verschwommen – der Geist, der wie ein Schild über der dunklen Quelle lag, aus der die Macht kam. Und gerade, als ihr Geist sich dem Singsang hingeben wollte, er kannte sie, weshalb all die Opfer auf diese Weise umgekommen waren. Aber wenn das der Fall ist… dachte sie, und Angst befiel sie so plötzlich, als wäre sie über den Rand einer Klippe getreten. Wie das Wispern des Windes hörte sie Kalethas Stimme, doch sie wußte nicht, ob in ihrem Kopf oder von außen. »Zerbrich nicht den Kreis… Entzieh deinen Geist nicht der Macht… « Die anderen verließen sich auf sie. Einen panikerfüllten Augen blick lang wollte sie die Hände loslassen, die sie hielt, in das leere Viertel fliehen… Aber die Disziplin der Meditation war stark. Sie ließ ihre Gedanken in das Nichts des Psalmodierens hinabsinken, und das Wissen verschwand in Windeseile im trockenen Flirren der frostklirrenden Nacht. Sonnenwolf legte seine Hand auf die lockere Sanddüne, die sich vor seinen Augen in substanzlosen Schatten auflöste. Fast im glei chen Moment, da er sie berührt hatte, sah er den eisernen Grill, den der Bannspruch verhüllt hatte, und riß entsetzt die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Er trat einen Schritt zurück, wobei die mur melnde Trockenheit des Wüstenwinds den Schweiß, der plötzlich auf seiner Stirn stand, eiskalt werden ließ. Sein Herz schlug wie ein Schmiedehammer… Aber es gab nichts, wovor er sich fürchten muß te. Sein Verstand sagte es ihm, während ihm noch der Atem von den Lippen flog. Nicht einmal Instinkt, dachte er, kein Hinweis, kein Anzeichen. Nur reine Furcht. Die harte Schule seines Vaters hatte es geschafft, ihn nahezu vierzig Jahre lang vergessen zu lassen, daß er magischer Abstam mung war, aber er hatte niemals ganz seine Neugierde ausgelöscht. Der alte Herr hatte ihm hundertmal gesagt: »Du bist zu neugierig für einen Krieger, mein Junge«, gewöhnlich gefolgt von einem necki schen Klaps hinter die Ohren. Er trat wieder vor. Nun konnte er die Zauberrunen auf dem Eisen erkennen. Nur Ka letha konnte dieses zarte Fries aus Zeichen, unsichtbar für das menschliche Auge, geschrieben haben. Im Bann des lebendigen Grauens, das aus jedem Schatten der Nacht wisperte, verspürte er 547
immer noch Furcht vor ihnen und vor diesem Ort, einer verlassenen Küche inmitten des leeren Viertels; aber er wußte jetzt, daß nicht nur der Grill, sondern auch die Überreste des gefliesten Bodens und der zerfallenden Lehmziegelwände mit Angstsprüchen belegt worden waren. Die Kräfte, die in der Nacht umgingen, nahmen sie auf und ließen sie in seinem Geist widerhallen wie die schrecklichen Bilder eines Alptraums. Er wischte sich den Schweiß von den Handflächen und tastete in seiner Wamstasche nach einer Wachstafel und einem Schreiber. Es waren nur die Bannsprüche der Nacht, sagte er sich, während er seine Hand zwang, ruhig und so gut er konnte die Zeichen zu kopie ren, um sie später zu studieren. Nirgendwo lauerte Gefahr… Oder doch? Er klappte die Tafel wieder zu und steckte sie in die Tasche zu rück. Nur weil seine Angst von einem Zauber herrührte, bedeutete das noch nicht, daß es nicht auch einen Grund für sie gab. Kaletha würde nach Runenzeichen in der Nähe ihres Verstecks Ausschau halten; aber vermutlich verstand sie nichts von Waid mannskunst. Er markierte die Ecke mit drei Ziegelsteinen, um sie im Falle, daß irgendein Bannspruch seinen Richtungssinn verirren soll te, wiederzufinden, und ging auf den Hof hinaus. Die Angst ließ nach, als er unter den zerbrochenen Türsturz trat. Draußen wehte der Wind kräftiger – nicht wie die harten, reißenden Vorboten der Stürme, sondern wie das ständig den Platz wechselnde Flüstern trockener Stimmen, die zwischen den uralten Steinen Fan gen spielten, wie die Dämonenstimmen in den Schluchten von Wenshar. In einer Ecke unweit eines ausgetrockneten Brunnens fand er eine Anzahl staubbedeckter Pappelschößlinge, die der alte Baum aus dem nächsten Hof in einem feuchten Jahr gesät hatte. Sie waren halb abgestorben, und es war nicht schwierig, einen davon mitsamt seinen flachen Wurzeln auszureißen. Sein Nacken prickelte wie der eines Hundes in der merkwürdigen, zunehmenden Spannung der Nacht; er zog sein Messer aus dem Gürtel und begann den Schößling von seinen dünnen Zweigen zu befreien, während er unablässig lauschte, ohne zu wissen wonach. Er fragte sich, ob es Kaletha gelingen würde, die Stimme des Toten zu beschwören. Dieser Gedanke erschreckte ihn mehr als jeder ihrer künstlichen Bannsprüche, mit denen sie diesen Ort belegt hatte, um Eindringlin ge fernzuhalten. 548
Vorsichtig betrat er wieder die Dunkelheit der Ruine. Der Schößling war fast zwei Meter lang und so spröde, wie nur trockenes Pappelholz es sein konnte. Er schob die Spitze durch das Metall des Grills und führte sie hin und her. Das Metall ruhte auf Stein; er hörte, wie sich etwas wie das Schmeicheln von Seide auf Staub in der schwarzen Dunkelheit darunter bewegte. Das Eisen war schwer, aber es hatte sich kein Erdreich an den Rändern abgelagert – und es war auch kein Rost daran zu entdecken. Er hob den Grill aus seinem eingesunkenen Bett und griff vorsichtig hinüber, um ihn auf die Seite zu kippen. Dann schaute er in das frei gelegte Loch und spürte, wie sich seine Kopfhaut zusammenzog. Die Grube unter ihm wimmelte von Schlangen. Es waren größtenteils braune Wüstennnattern. Als sein Körper sich dunkel gegen die Nacht über ihnen abhob, ließen sie ein trocke nes Rascheln ertönen, wobei sie ihre Hornnasen himmelwärts streck ten. In dieser Dunkelheit konnte er unter ihnen auch schlanke, blei farbene Felsvipern und, wie mächtige, flachköpfige Schnecken, die großen Höhlenmambas erkennen, die so lang wie ein Arm und noch einmal halb so dick waren. Noch als er hinunterstarrte, sah er, wie eine weitere aus einem Loch in der Grubenwand glitt und sich mit einem weichen, unangenehmen Schlag zu ihren Artgenossen gesell te. Der sandbedeckte Boden des Kellers schien vor schwarzen, wachsamen Augen zu funkeln. Kalethas Zauber muß sie von überall aus dem leeren Viertel hierhergelockt haben, dachte er, seit ich diesem Ort zum erstenmal nahe gekommen bin. Plötzlich konnte er die hiesige Einstellung gegenüber den Hexen von Wenshar gut verstehen. Nun, Teufel noch mal, dachte er. Dieses Spiel kann man auch zu zweit spielen. Er kauerte sich an den Grubenrand, den Pappelschößling in der Hand. Das heftige Rasseln der Nattern wurde lauter; in der Dunkel heit konnte er wimmelnde Bewegungen und ein dutzendfaches ra sches Vorschnellen gespaltener, schwarzer, fragender Zungen aus machen. Als er mit seinem Geist nach ihnen griff, spürte er das Prickeln dieser törichten fremden Wut, ein kurzsichtiges Verlangen, sich auf die Wärme und den Geruch von Blut zu stürzen. Ohne den Blick von den Schlangen zu nehmen, strich er mit seinen großen, schwertnar bigen Händen über den Pappelstecken, wie um ihn mit Magie zu 549
bestreichen. Er versah ihn mit seinem Geruch, der Wärme seines Fleisches und bedeckte ihn mit dem Schatten seines Körpers vor der Nacht. Die Dunkelheit rings um ihn her schien mit Macht aufgeladen zu sein, verstärkte in seiner Vorstellung noch das Geruchsempfinden der Reptilieninstinkte unten, die so verwirrende Echos in seinen Gedanken hervorbrachten. Er konnte die Bannsprüche spüren, mit denen sie belegt waren, die sie hierhergelockt hatten und die sie dazu bringen würden, einen Menschen anzugreifen. Auch die Sprüche arbeitete er in das Holz mit ein, während er seinem Körper die Illusi on der Kälte und Starre und des Geruchs von uraltem Gestein gab. Er schickte ein Stoßgebet an jene seiner Ahnen, die vielleicht ge rade zuhörten, und schleuderte den Stab in eine Ecke der Grube hinunter. Er schlug auf; im selben Augenblick waren die Schlangen schon über ihm, schnellten wieder und wieder auf das mit dem Bann beleg te Holz zu. Jetzt galt es, keine Zeit mit überflüssigen Gedanken zu verlieren. Doch als er sich mit den Händen abstützte und die Höhe, die ihn vom sandbedeckten Boden der Grube trennte, hinunter sprang, dachte er für einen kurzen Augenblick, daß er vielleicht den zweiten Teil der Sprüche verpatzt hatte. Nein, dachte er. Mit blutlosem Körper, der nach Stein und Staub roch, war er kalt für die Zungen der Schlangen. Er war ein toter Gegenstand; nur der Stab war jetzt lebendig und mußte getötet wer den. Sie schnellten weiter auf den Stab zu. Der Keller war sauber, maß nur wenige Schritte im Quadrat und hatte eine niedrige Decke; er roch nach Erde und Stein und der rau hen Ausdünstung von Schlangen. Die Luft war trocken und still. Kein Staub häufte sich in den Ecken – die Wände oben schützten den Eingang vor dem anhaltenden Wind. Eine kurze Leiter lag entlag einer Wand, wo man sie von oben erreichen und hinaufziehen konn te. In der Dunkelheit konnte Sonnenwolf einen Tisch, ein Lesepult und einen langbeinigen Stuhl ausmachen. Dahinter war aus der ge genüberliegenden Wand eine Nische herausgehauen, wo ein niedri ger Deckenbalken eine Art Hohlraum bedeckte. Tief drinnen sah er zwei kleine Truhen mit eisernen Schlössern, keine davon so groß, daß eine Frau sie nicht hätte tragen können. Es gab keine Lampen. Für die Augen von jemandem, der nicht magischer Abstammung war, hätte der Ort tagsüber düster und schattig und bei Nacht tief schwarz gewirkt. 550
Aber selbst in der Dunkelheit konnte er die zahllosen huschenden Bewegungen entlang der Schlösser dieser Truhen erkennen. Er warf einen raschen Blick zurück auf den kriechenden Haufen der Widerwärtigkeit über dem Stab. Seine Instinkte sagten ihm, daß die Illusion nicht mehr lange vorhalten würde; es kostete Kraft, sich unablässig darauf zu konzentrieren, daß sie weiter das Holz angriffen und ihre Sinne von der Wärme seiner eigenen Adern abgelenkt wur den. Plötzlich begriff er, weshalb Meditation so wichtig war, daß sie die Konzentration stärkte und einfacher machte. Er wußte, daß er zwei Illusionen gleichzeitig aufrechterhalten konnte, aber niemals drei. Die Schlösser der Truhen wimmelten von Skorpionen. Widerwillg suchte er in der Tasche seines Wamses nach den Handschuhen. Er hatte sie noch nicht gefunden, als Bewegungen auf dem überhängenden Balken und in seiner Umgebung Sonnenwolfs Aufmerksamkeit erweckten. Er würde darunter hindurch müssen, um an die Truhen heranzukommen. Noch während er hinsah, fiel ein Skorpion vom Balken in die Nische – einer von den großen, glän zenden braunen, die so lang wie eine Männerhand waren und deren Stiche das stärkste Leder durchdringen konnten. Kalter Schweiß legte sich auf seine Stirn, und er fuhr sich mit der Hand nervös über das Genick; er erkannte, daß er es nicht schaffen würde. Die Kisten waren verriegelt. Wenn er genügend Zeit hatte, konnte er ein Schloß aufsprengen, aber eine Truhe von dieser Größe und mit dem zusätz lichen Gewicht der Bücher war unmöglich hochzuwuchten, ohne daß er nicht wenigstens zur Hälfte unter dem Balken hindurchkroch. Kaletha hatte ihn besiegt. Ärger und Wut stiegen in ihm auf, aber der Stratege in ihm, der mit zunehmendem Alter immer mehr in den Vordergrund getreten war, riet ihm, nicht dumm zu sein. Er war schon in Situationen ge wesen, wo er lieber gestorben wäre als zuzugeben, daß eine Frau ihn besiegt hatte, aber die Dummheit der Handlungen, zu denen er sich aus einer Art Raserei hatte verleiten lassen, waren es niemals wert gewesen. Sie hatte Macht. Obwohl er fühlen konnte, daß seine eige nen Kräfte mit dem Zauber, der die Nacht erfüllte, wuchsen, sagte er sich, daß er sein Glück nicht zu weit treiben sollte. Sein empfindliches Gehör nahm den Aufruhr und das Huschen der Bewegungen hinter ihm wahr. Als er sich umdrehte, sah er, daß die Schlangen ihren Irrtum schließlich erkannt hatten. Zum größten Teil irrten sie noch ziellos umher, aber eine Mamba, ungefähr so 551
groß wie sein Bein, kam wie ein geschwollener, schmutzfarbener Wurm auf ihn zugekrochen. Schlangen stießen bei raschen Bewegungen zu; er glitt von den Truhen weg, wobei er in die Runde blickte und seine Blindheit auf dem linken Auge verfluchte. Es mochte die Hitze seiner Wut auf Kaletha gewesen sein, die die Mauer der Illusion, mit der er sich umgeben hatte, zum Einsturz gebracht hatte. Vielleicht waren es aber auch der zusätzliche Druck der Bannsprüche oder die unglaublichen Kräfte gewesen, die die Nacht wie eine halluzinatorische Flamme erfüllten. – er wußte es nicht. Doch jetzt wandten ihm auch andere Schlangen züngelnd ihre Köpfe zu. Er drehte vorsichtig mit der Spit ze seines Schuhs die Leiter herum, und ein einzelner Skorpion – von der kleinen, weißen Art, deren Stich nicht schlimmer als der einer Biene war – huschte blitzartig in die Sicherheit einer Ecke. Er riß den Fuß zurück, als die Mamba auf seine Stiefelferse zuschnellte, und brachte die Leiter in die richtige Stellung. Er wußte, wenn er in Panik ausbrach, würde sich der Bann endgültig auflösen. Bevor die Schlange noch einmal zustoßen konnte, war er schon aus der Grube hinaus in den Wind und die Schatten über ihm geflohen. Als er oben stand, zitterten seine Hände so sehr, daß er die Leiter kaum wieder in das Loch stoßen und den Grill an Ort und Stelle legen konnte. »Und wann war das?« fragte Sternenfalke mit ruhiger Stimme im Dunkel der kleinen Zelle. Sonnenwolf schüttelte den Kopf. Sie lagen zusammen in dem be helfsmäßigen Bett aus Pinienpfosten und verblichenen Decken, Haut an Haut, doch keiner von beiden hatte das Bedürfnis zur Liebe ge zeigt. Ihre Küsse waren die des Trostes vor Angst und unbestimmba ren Gedanken gewesen, und sie hielten einander, nicht wie Liebende es tun, sondern wie Bruder und Schwester, die sich im Dunkeln fürchten. »Ich weiß nicht. Ich kam gleich hierher zurück; das war mindestens eine Stunde, bevor du kamst.« Er bewegte seinen Kopf, um auf das gebräunte, feingeschnittene Gesicht hinunterzusehen, das, umrahmt, von elfenbeinfarbenem Haar, an seiner Brust ruhte. »Warum?« Ihre grauen Augen wirkten in dem dünnen Glühen des Hexen lichts, das wie eine Lampe um die Spitze des einen Bettpfostens herum brannte, ganz durchsichtig. »Weil ich… ich bin nicht sicher, aber ich glaube, das war, als etwas die Macht des Kreises durch brach. Ich kann nicht sagen, wie der Kreis war. Wie ein Kampfes 552
rausch vielleicht oder… der Höhepunkt beim Liebesspiel. Ich weiß nicht. Aber es darf keinen Bruch dabei geben, kein Nachlassen. Die Macht muß ganz aus sich selbst heraus bestehen bleiben.« Sonnenwolf nickte. »Was man nicht aus sich allein beziehen kann, läßt sich vielleicht durch den Zusammenschluß mehrerer Geis ter gewinnen – sofern man diese Geister dazu bringen kann, zusam menzuarbeiten. Ja. Aber wenn einer aufhört, betrifft das alle.« »So war es«, bestätigte Sternenfalke. »Es war, wie wenn ein Strang am Pferdegeschirr reißt oder man den anderen nicht mehr liebt. Kaletha hat versucht, es zu kitten, aber… es ist ihr nicht ganz gelungen.« Sie preßte sich leicht an ihn, harte Muskeln und harter Knochen, weißliche Narben auf seidiger Haut. Er fragte: »Ist Galdron erschienen?« Sternenfalke schüttelte den Kopf, bewegte sich unruhig und preß te sich unter der gemusterten, sandfarbenen Decke noch fester an ihn. Im Schein des Hexenlichts konnte er das feine Netzwerk der Linien um ihre Augen sehen; in seinem Arm, den er ihr um den Körper gelegt hatte, spürte er die Anspannung ihrer Muskeln. »Was hast du?« »Ich weiß nicht.« Wieder schüttelte sie den Kopf, und Sonnen wolf, der nicht nur ihre, sondern auch seine eigene Angst spürte, zog sie fester an sich. »Die Konzentration wurde gestört oder gar nicht richtig aufgebaut. Nichts. Aber ich konnte es spüren… « Sie blickte sich in der Dunkelheit um, die sich rings um das blaue Hexenlicht und in der samtenen Nacht hinter dem Fenster ballte, wo es raben schwarz war und der Morgenwind noch nicht wieder auffrischte, als würde die Welt den Atem anhalten. »Und ich spüre es immer noch.« »Ich weiß«, sagte der Wolf leise. »Ich auch. Und ich frage mich, warum. Macht wurde aufgebaut, Falke – sie ist immer noch da, schwebt über dem leeren Viertel wie eine ansteckende Krankheit. Etwas… « Sie runzelte plötzlich die Stirn, als hätte eines seiner Worte sie an etwas erinnert. »Was ist los?« »Ich weiß nicht. Etwas, das du gesagt hast… Etwas, das ich wäh rend der Anrufung dachte… es war wichtig, aber ich will verflucht sein, wenn ich mich daran erinnern kann, was es war. Nur, daß…« Etwas hinter den Fenstern erregte seine Aufmerksamkeit. Er riß seinen Kopf herum, und Falke verstummte beim plötzlichen Zu 553
sammenfahren seiner Muskeln; er löschte das blaue Glühen des Hexenlichts, dann lagen sie zusammen da und starrten aus der Dun kelheit ins Dunkel. Etwas regte sich im leeren Viertel. Er wälzte sich leise aus dem Bett und trat nackt zum Fenster. Die Luft war eisig auf seiner Haut. Wie ein Gespenst gesellte sich Ster nenfalke zu ihm, die Decke um die Schultern geworfen, das Schwert in der Hand. Keiner von ihnen sprach. Um sie herum waren die unglaublichen Kräfte der Nacht buchstäblich mit Händen zu greifen, und die schreckliche Spannung, die gewachsen war, ließ jetzt nicht nach, auch wenn jene, die den Kreis gebildet hatten, inzwischen zu Bett gegangen waren. Sonnenwolf war sich nicht sicher, aber er glaubte, die bläulichen Flammen von Dämonenlicht im Labyrinth der Skelettmauern auffla ckern zu sehen. Schweigend wandte er sich ab und suchte Stiefel, Kriegerkilt und Schwert zusammen. Als er sie anlegte, schloß sich Sternenfalke ihm an und fand ihre eigene Kleidung im Dunkeln so sicher und schnell, wie sie ihre Waffe gefunden hatte. Als sie fertig war, stand Sonnen wolf bereits an der Tür und schaute über den kleinen Hof auf das leere Viertel hinaus. Er war sich jetzt sicher. Es gab dort Dämonen. Es geht mich nichts an, sagte er sich. Aber er spürte, wie sein Herz unter der gleichen Angst schneller schlug, die er in den Schluchten von Wenshar empfunden hatte, eine Angst, die ganz anders – viel tiefer – als die Angst eines Mannes vor dem Tod war. Wovor fürchte ich mich? fragte sich der ruhige sachliche Teil seines Verstandes gleichmütig. Es hat nichts mit mir zu tun. Aber auf seltsame Weise wußte er, daß es sehr wohl mit ihm zu tun hatte. Seine Hand packte den alten Griff seines Schwertes fester. Der Falke blieb wie ein bewaffneter Schatten dicht hinter ihm, während er lautlos über den vom Sternenlicht erhellten Hof huschte. Im Labyrinth der alten Höfe spürte er die Anwesenheit der Dä monen stärker. Ihre Bösartigkeit jagte ihm einen Schauer über den Rücken, und er konnte ihre dünnen, pfeifenden Stimmen hören, die einander zwischen den Steinen zuriefen. Warum hier? fragte er sich. Warum heute nacht? Folgten sie dem Geruch der geheimnisvollen Kräfte, wurden sie aus den gleichen magischen Gründen von diesem Ort angezogen, aus denen sie die Ruinen von Wenshar heimsuchten? 554
War es das, was sie von ihm gewollt hatten, als sie draußen vor dem aus dem Fels gehauenen Tempel und in den Schluchten durch die mondlosen Nächte getrieben waren und auf ihn gewartet hatten? War es die wiedererwachte Macht der alten Hexen und Zauberer, die sie jetzt anzog wie der Gestank verwesenden Lebens die Geier? Er konnte ihre Stimmen hören, manchmal kleine pfeifende Schreie oder ein leises Wehklagen, wie von einem Kind, das sich immer wieder die einzige Zeile eines Liedchens vorsingt, das es kennt. Flüchtig kam ihm in den Sinn, daß es vielleicht ein Kind war, das sich im Labyrinth verirrt hatte; dann schüttelte er den Kopf und schob den Gedanken beiseite. Die Stimmen dienten ihnen nur als Köder. Für welche Art Falle? fragte er sich. Eine Falle für wen und wa rum? Mit Ausnahme der seltenen Beißdämonen konnten sie Men schen nichts anhaben – oder doch? Wie in den Ruinen von Wenshar fröstelte er aus Angst, nicht aus Angst um sein körperliches Wohl, sondern vor etwas, das er nicht kannte. Er fragte sich plötzlich, was aus den Hexen von Wenshar und denen geworden war, die sich ge weigert hatten, ihre Kräfte für das Böse einzusetzen – falls sie jemals eine Wahl gehabt hatten. Schwach und verwirrt hörte er von jenseits der Mauern eine Stimme rufen! »Kaletha! Kaletha!« Egaldus, dachte er… oder die Stimme eines Dämons, die wie die seine klang. Hatte Kaletha rasch ihr Versteck überprüft, sobald sie ihre Schüler abwimmeln konnte? Hatte die Konzentration des Kreises vielleicht nachgelassen, weil sie seinen Zauber gegen ihre Schlangen gespürt hatte? »Kaletha!« schrie er, und die Echos verhöhnten ihn: Kalethaka lethakaletha… »Wenn Ihr mich hören könnt, so antwortet… antwor tet… antwortet.« »Kaletha!« ertönte von drüben die andere Stimme wie ein ver zweifeltes Echo. Sonnenwolf ging weiter, das scharfe Auge vor sich auf den Bo den gerichtet, auf die Mauerkronen und die wenigen Gebäude auf allen Seiten. Sie überquerten ein altes Gestüt, dann eilten sie eine Kolonnade ohne Dach entlang, wo der Sand kniehoch gegen die rückwärtige Mauer geweht worden war. Durch eine blinde Fenster lücke sah er ein helles, sich bewegendes Flackern, eine abgelegte Insektenhülle aus chitinfarbenem Licht, gerade noch sichtbar für die gierigen, menschlichen Augen… dann war es verschwunden. Er erkannte, daß er immer noch sein Schwert in der Hand hielt, ebenso 555
wie Sternenfalke, obwohl Waffen ihnen nicht im mindesten helfen würden. Die Luft schien von Bosheit schwanger zu sein und nur auf ein Wort zu warten, um Gestalt anzunehmen… Weshalb hatte er, tief in seinem Innern, das Gefühl, als wüßte er dieses Wort? »Kaletha!« brüllte er. »Egaldus!« Weiter weg jetzt, aber immer noch als die des Novizen zu erken nen, rief die Stimme: »Kaletha? Kai… « Und dann verwandelte sich das Wort in einen Schrei.
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11. Kapitel »Die Dämonen waren da. Ich weiß es, ich hab' sie gesehen.« »Soll das heißen, Ihr glaubt, daß sie es getan haben?« fragte In carsyn von seinem Platz zu Osgards Linken. Nanciormis schnaubte. »Macht Euch nicht lächerlich, Mann.« Osgards blutunterlaufene, grüne Augen verengten sich. »Wenn Ihr sie gesehen habt, können es keine Dämonen gewesen sein, Hauptmann. Dämonen sind…« »Unsichtbar«, beendete Sonnenwolf den Satz, sank auf seinen schwarzen Eichenstuhl am Kaminende der Hohen Tafel zurück und musterte die drei Männer, die ihm auf der anderen Seite des dunklen Tisches gegenübersaßen. »Ich weiß.« Die Sonne warf erste harte Strahlen aus Gold durch die Reihe der hohen Südfenster, doch um sie herum war es in der Festung Tandieras ungewöhnlich ruhig. Frühestens bei Sonnenaufgang würden sich die Männer und Frauen der Wache in das leere Viertel wagen, um die Überreste von Egaldus zu holen, aber das Gerücht hatte sich bereits wie ein Lauffeuer über allhin verbreitet. Sonnenwolf konnte das Raunen hören, das sich wie der Wind in den Ecken der Gesinderäume verfing; er konnte das Schweigen spüren, wenn er oder Kaletha vorbeigingen. Er fuhr fort: »Ich weiß nicht, weshalb ich immer in der Lage war, sie zu sehen, aber ich war es. Vielleicht hat es mit meiner magischen Abstammung zu tun… « »Kaletha kann es nicht«, erwiderte Nanciormis prompt. »Und e bensowenig kann es, soweit ich weiß… « Ein wütender Blick des Königs ließ ihn verstummen, bevor er das Tort Tazey über die Lip pen gebracht hatte. »In meinem Volk heißt es«, warf Incarsyn ein, »daß jene, die Dämonen sehen können, dazu in der Lage sind, weil sie selbst Dä monengezücht sind.« »Das ist Unsinn«, fuhr der König ihn an. »Also gibt es auch bei Euch welche, die das können?« fragte Sonnenwolf nachdenklich, wobei er den Dünenlord mit seinem ein zelnen goldenen Auge anstarrte. Der junge Mann nickte, doch er schien sich bei diesem Thema nicht wohl zu fühlen. Seit gestern hatte er das blasse, erschütterte Aussehen eines Menschen, den schwerwiegende und ungewohnte Gedanken plagen. 557
Der Dünenlord war auf Osgards Einladung zu dieser Beratung gekommen, aber Sonnenwolf, dem die politischen Spannungen zwi schen den drei Männern nicht entging, sah, daß die Einladung ein Fehler gewesen war. Sonnenwolf hatte seine zweite Untersuchung des leeren Viertels in der vorigen Nacht und die Entdeckung dessen, was von Egaldus übriggeblieben war, geschildert. Incarsyn hatte dabei in seinem goldbestickten Gewand und dem schneeweißen Umhang nur stattlich, exotisch und ein wenig verblüfft dagesessen. Weder Nanciormis noch Osgard hatten ihm viele Fragen gestellt – er war nur deshalb da, vermutete Sonnenwolf, um ihn selbst daran zu erinnern, daß er sich verpflichtet hatte, Osgards Schwiegersohn zu werden, gleichgültig, welche Bedenken ihm zwischenzeitlich ge kommen sein mochten. Nanciormis sagte: »Jedenfalls ist es albern zu glauben, daß es Dämonen waren. Sie sind unfähig, Menschen Schaden zuzufügen.« »Nicht unbedingt«, erwiderte der Wolf. »Es gibt Bißdämonen, Steinwerfer… « »Aber doch bestimmt keine, die imstande wären, soviel Unheil anzurichten.« Incarsyn legte eine weiße Hand über die andere und schien einen Augenblick lang den funkelnden Feuerkreis zu mustern, der von den Facetten seines Rubinrings ausging. Dann schaute er wieder auf. »Bei meinem Volk heißt es, daß so etwas denen passiert, die sich mit den Hexen von Wenshar anlegen.« »Altweibergeschwätz!« Osgards Stimme klang rauh wie ein Peit schenschlag. »Ach ja?« fragte Sonnenwolf sanft und wandte sich dem jungen Dünenlord zu. »Sagt, Incarsyn, waren alle Hexen von Wenshar böse? Gab es denn keine unter ihnen, die ihre Macht für etwas anderes als Eigennutz oder zur Befriedigung ihrer Lust verwendete?« Der junge Mann runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Of fenbar war ihm der Gedanke an eine gute Hexe noch nie gekommen. Vielleicht war ein solcher Gedanke in der Shirdarsprache, in der er dachte, sprachlich nicht faßbar. Im kristallenen Glanz des Morgen lichts kontrastierten seine Jugend und Härte nach den Schrecknissen der Nacht noch stärker mit Nanciormis' schlaffen Wangen und Dop pelkinn – um so mehr wegen der starken Ähnlichkeit der zwei fal kenknochigen Gesichtszüge, die von der fließenden Dunkelheit ihres geflochtenen Haares umrahmt wurden. »Nein«, sagte er einfach, dann erhellte ein Lächeln seine Miene. »Ihr müßt verstehen, es wa 558
ren Frauen. Eine Frau wird naturgemäß erst ihre eigenen Belange durchsetzen, die Dinge, die sie unmittelbar betreffen, ob es materiel le Güter sind oder die Befriedigung ihrer Lust.« Er sprach wie einer, der einem einfältigen Kind seine Fehler verzeiht, und Sonnenwolf unterdrückte einen unerwarteten Drang, aufzuspringen und seinen hübschen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Er wollte etwas entgegnen, doch Osgards schwere Stimme hielt ihn ab. »Die Hexen von Wenshar haben damit nichts zu tun!« don nerte er. »Es ist so klar wie das Tageslicht, was passiert ist! Egaldus hat sich letzte Nacht mit diesem Miststück Kaletha der Ketzerei und Magie schuldig gemacht, als er, wie es so schön heißt, geistige Hö henflüge unternehmen wollte und bekam, was er verdiente. Sie hat ten beide allen Grund dazu, Galdron Schlechtes zu wünschen, wo der alte Heuchler doch gedroht hatte, ihn zu verbannen… « »Und deshalb hat er einen Zauber verfügt, der nach hinten losge gangen ist?« fragte Sonnenwolf. »Das ergibt doch keinen Sinn, Mann.« »Kaletha und Egaldus waren Geliebte«, fügte Nanciormis wütend hinzu, aber seine dunklen Augen, die Sonnenwolf musterten, blick ten nachdenklich. »Sie hätte ihm kein Haar auf seinem goldenen Haupt gekrümmt.« »Was nicht unbedingt stimmen muß«, bemerkte Sternenfalke später, als der Wolf mit überkreuzten Beinen hoch über den Granit höfen der Festung auf der Brustwehr des Wachturms saß und eine Orange schälte. »Nur weil man jemanden liebt, heißt das noch nicht, daß man ihn nicht auch fürchten, hassen und verabscheuen kann.« »Menschen schließen sich aus allen möglichen Gründen zusam men.« In der drückenden Stille der Wüstenluft roch die Orange ent setzlich süß. »Man kann auch mit jemandem schlafen, den man haßt, wenn man einen Nutzen darin sieht.« »Stimmt, aber das meine ich nicht.« Sternenfalke wandte den Blick von der bronzenen Leere der Wüste ab. Bis auf die weichen Lippen machte das in weiße Schleier gehüllte Gesicht einen hageren Eindruck – die Knochen, Narben und eisgrauen Augen waren die eines Mannes. »Liebe läßt sich nicht leicht erklären. Man kann Men schen verabscheuen, die man liebt – genug, um sie töten oder we nigstens schwer verletzen zu wollen. Menschen machen das ständig. Nicht zuletzt deshalb, weil sie diese Macht über einen haben.« Sonnenwolf schwieg einen Augenblick, dachte darüber nach und fragte sich, ob der Falke wohl aus eigener Erfahrung sprach. Er bot 559
ihr ein Stück von der Orange an, und sie schüttelte den Kopf – sie aß nie, wenn sie Dienst hatte, erinnerte er sich, selbst wenn dieser nur darin bestand, die tote Landschaft der Wüste auf Bewegungen hin abzusuchen, die niemals erfolgten. Von hier oben aus waren die Geisterberge zu sehen, eine fleckige und zerbrochene Messerklinge über dem Hitzeflirren des Schwemmlands. Hatte sie ihn in den Jah ren, als sie Stellvertreterin seiner Söldnerarmee war, verabscheut oder sogar gehaßt? Damals liebte sie ihn und mußte mitansehen, wie er mit einer Parade achtzehnjähriger Konkubinen ins Bett ging. In jener Zeit hatte er selten als Frau von ihr gedacht. Vielleicht hatte sie das nicht einmal selbst. Doch als er besorgt aufblickte, sah er das Lächeln in ihren Au gen, und er fragte statt dessen: »Glaubst du, daß Kaletha Egaldus genug verabscheut hat, um ihn zu töten?« »Stell dir vor, du bist der Lehrer.« Falke ließ ihren Blick über den Wüstenhorizont schweifen, dann wandte sie sich wieder ihm zu. »Würdest du einen Studenten unterrichten, der stark genug ist, um dich zu besiegen? Nicht nur so stark, daß er dir einen guten Kampf liefern kann, sondern daß er fähig ist, dich in Bedrängnis zu bringen, vielleicht sogar zu töten?« Wieder schwieg Sonnenwolf für eine Weile. Die Sonne, warm auf seinem lose drapierten Schleier und dem Leder auf Schultern und Schenkeln, hatte ihre sommerliche Intensität verloren, aber die Luft fühlte sich immer noch schwer und energiegeladen an, als könnte jeden Moment ein Sturm ausbrechen. Schließlich sagte er: »Das habe ich noch nie getan. Ich weiß nicht.« Er zögerte, dann fügte er, um der Wahrheit Genüge zu tun, hinzu: »Ich würde gern glauben, daß ich als Lehrer mehr Stolz hätte denn Eitelkeit als Krieger, aber… ich weiß nicht.« Sternenfalke lächelte und nahm ihre ruhige Wache wieder auf, präsentierte ihm die glatte Linie ihres Profils, das trotz der hohen Wangenknochen und des zu kräftigen Kinns feingeschnitten wirkte. »Und du bist jetzt vierzig und ein Magier«, sagte sie. »Ich kann dir Geld geben, was du nicht hattest, als du achtundzwanzig warst. Würdest du mich dann so gut unterrichten, daß ich in der Lage wäre, dich zu besiegen?« Die Worte kamen ihm nur langsam und schwer über die Lippen. »Ich ziehe es vor zu glauben, daß du es schon kannst.« Doch noch als er das sagte, wußte er, daß er es nicht tat. Ihr seid gierig, wie Egaldus, hatte Kaletha gesagt. Und Egaldus 560
hatte zu Kaletha gesagt: Du willst es immer noch für dich behalten. Er hatte Kaletha dafür verachtet – es war nicht besonders angenehm, so etwas über sich selbst herauszufinden. »Aber du bist dir ziemlich sicher, daß ich mich nicht mit dir an legen würde«, sagte Sternenfalke mit sanfter Stimme. »Ich verstehe Kaletha, Wolf. Und trotz ihrer Eigenheiten mag ich sie. Ich glaube, daß es falsch von ihr ist, die Bücher der Macht zu verstecken, aber ich kann verstehen, warum sie es tut – warum sie so den Daumen auf ihre Schüler hält – vielleicht sogar, warum sie sich von Egaldus verführen läßt. Sie weiß, daß sie nie richtig unterrichtet worden ist; sie weiß jetzt von der Großen Prüfung, von der sie bisher noch nichts gehört hatte. Was immer sie auch sagt, sie weiß, daß du sie absol viert hast und sie nicht. Sie kämpft darum, ihre Macht zu behalten – gegen dich, gegen sie, gegen Egaldus.« »Du denkst, sie könnte ihn getötet haben, um ihn von den Bü chern fernzuhalten?« Er runzelte die Stirn, wobei seine groben Fin ger mitten in der Bewegung innehielten, klebrig vom roten Orangen saft wie Blutstropfen. »Aber ich war doch auch hinter den Büchern her. Zum Teufel, ich war in der Grube. Mir ist nichts passiert.« »Vielleicht war es keine Falle für jeden«, sagte Sternenfalke ru hig. »Was immer Egaldus vernichtet hat… « Sie wandte sich ihm wieder zu, und dunkle, ebenmäßige Brauen schlossen sich über ihrer Nase. »Könnte Kaletha soviel Macht wirklich aufgeboten haben? Oder… « »Ich weiß es nicht!« Sonnenwolf schüttelte resigniert den Kopf. »Incarsyn sagte, daß die Hexen von Wenshar es könnten, aber… « Er blickte auf und sah, wie plötzlich ein geistesabwesender Ausdruck das Gesicht der Frau überschattete, als lauschte sie nach einem Ge räusch außerhalb des Hörbaren. »Was ist los?« Sie strich sich über die Stirn. »Ich… ich kann mich nicht erin nern.« Sie beugte sich über die Brustwehr, eine schlanke Geparden gestalt in dunkelgrünem Leder und weißen Hemdsärmeln, die sich vor der endlosen, fleckigen Staubigkeit des kahlen Buschlands ab zeichnete. »Es liegt mir auf der Zunge, etwas drüber, wie die Macht aufgeboten wurde… ich weiß nicht mehr.« Sie machte ein zer knirschtes Gesicht. »Manchmal fällt es mir mitten in der Nacht wie der ein.« Allein diese Worte schienen schon an einen losen Faden in ihrer Erinnerung anzuknüpfen, und sie hielt inne. Dann wandte sich ihr Blick wieder der Wüste zu, und alle Konzentration auf Träume oder Halberinnerungen verschwand in plötzlicher heller Wachsam 561
keit. Sonnenwolf fuhr auf seinem unsicheren Platz auf der Brustwehr herum und folgte ihrem Blick. Am harten Wüstenhorizont trieb eine graue Staubwolke dahin, glitzernd in der Morgenluft. »Es kann kein Sturm sein.« Tazey beschattete ihre Augen und blickte auf die Wüste hinaus. Zum Gefallen ihres Freiers und auf Anordnung ihres Vaters war sie noch immer in mädchenhafte Rü schen und Krausen gekleidet; rosa und blaßlila Farbtöne betonten noch die Züge ihres ausgemergelten und hageren Gesichts. »Natürlich kann es das«, fuhr Kaletha sie an und warf ihr von der Seite einen Blick zu. »Ich habe schon heute morgen einen Sturm gespürt…« »Wenn es ein Sturm ist, muß sein Zentrum verflucht klein sein.« Sonnenwolf drehte sich um, als Sternenfalke und Nanciormis auf der schmalen Steintreppe erschienen, die zu dem Hof unter dem Balkon des Wachhauses hinunterführte, auf dem sie, beide mit Fernrohren in den Händen, standen. »Die Winde werden nicht vor heute abend auffrischen.« Kalethas Nasenflügel bebten vor müder Empörung bei diesem Widerspruch. Wie Tazey war auch sie weiß um den Mund herum, obwohl Sonnenwolf an ihren Augen nicht erkennen konnte, ob sie geweint hatte. Sie wirkte ausgezehrt, als hätte die Magie, die in der vorigen Nacht schwer in der Luft gehangen hatte, sie ihrer Kräfte beraubt. Sonnenwolf mußte daran denken, daß Egaldus mit ihrem Namen auf den Lippen gestorben war. Die Hexen von Wenshar, dachte er und bemerkte, daß sie drei, die auf dem Wachhaus standen und über die Wüste hinaus auf die sich nähernde Staubwolke blickten, jetzt die einzigen Hexen von Wenshar waren. Sternenfalke reichte ihm das Fernglas, das von einem der besten Instrumentenmacher in Pergemis hergestellt worden war; er zog es, wie Nanciormis neben ihm, mit einem Schnappen auseinander und setzte es ans Auge. Im Staub und Hitzeflirren waren deutlich die Umrisse von Reitern auf Pferden und Dromedaren zu sehen sowie die weißen Burnusse der Shirdar und die grellgefärbten Vorhänge einer eingehüllten Sänfte. Als er Schritte auf der Treppe hinter sich hörte, nahm er das Glas vom Auge und sah, wie Osgard, Incarsyn und Anshebbeth eilig die Stufen heraufgehastet kamen, um sich zu der kleinen Menge auf der Wachhausplattform zu gesellen. 562
Anshebbeth lief rasch zu Kaletha hinüber. »Du solltest nicht hier draußen sein«, regte sie sich auf. »Du solltest dich ausruhen, du hattest einen furchtbaren Schock.« Kaletha schüttelte sie ungeduldig ab. Gekränkt wandte sich die Gouvernante an Tazey. »Und du, meine Liebe – du warst praktisch die ganze Nacht lang auf… « »Bitte, Shebbeth… « Nanciormis reichte Incarsyn das Fernglas und sagte: »Ist das der jenige, den ich vermute?« Der junge Mann stand da wie eine prächtige Statue, die losen Ärmel seines scharlachroten Umhangs wurden von dem heißen Wüs tenwind, der das krause Haar in seinem Nacken zum Zittern brachte, flach gegen seine Armmuskeln gepreßt. Eine Unmutsfalte bildete sich auf seiner Stirn. »Die Hasdrozidar«, sagte er schließlich. »Meine eigenen Leute.« Er nahm das Fernglas vom Auge, und sein Mund spannte sich in böser Vorahnung. Nanciormis sagte: »Sie werden wohl, glaube ich, von Eurer Schwester, Lady Illyra, angeführt.« Selbst auf diese Entfernung konnte Sonnenwolf nun mit bloßem Auge die verhangene Form der großen Sänfte inmitten eines Kreises von Reitern ausmachen. Sie kamen schnell voran. Entweder spürten auch sie das Herannahen des Sturms, der wenige Stunden nach Mit ternacht über die Festung hereinbrechen würde, oder sie empfanden einfach nur das instinktive Unbehagen von Wüstenbewohnern, sich in der Jahreszeit der Hexen auf offenem Gelände aufzuhalten. Neben sich bemerkte er den Ausdruck der Angst auf Tazeys Gesicht und Osgards zunehmende Wut. Incarsyns Stimme war völlig sachlich. »Es scheint so.« Er zöger te einen Moment, als müßte er nachdenken, was als nächstes zu tun sei, dann drehte er sich um und legte Tazey beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Habt keine Angst, meine Prinzessin. Sie ist nur eine Frau. Sie kann mich nicht von der Frau trennen, die ich heiraten werde.« Er verbeugte sich mit seiner üblichen Grazie, dann schritt er die Treppe hinunter. »Das sollte sie besser gar nicht erst versuchen«, grollte Osgard und folgte ihm, wobei sein weißer Übermantel im heißen Wüsten wind aufwallte, der gegen die Festungsmauern wehte. Tazey blickte noch immer auf die Wüste hinaus, das Gesicht ge gen Stürme gewappnet, die weit schlimmer waren als jener, den sie mit den Händen geteilt hatte. Ihre Finger lagen zitternd auf der 563
Brustwehr. »Nur eine Frau«, zitierte Nanciormis höhnisch. Auf einen Blick von ihm nahm Anshebbeth von ihrer Beschützerrolle Abstand und wich von Tazeys Seite. Die Stimme des großen Shirdarlords war leise, aber noch deutlich unter denen zu hören, die im hohen Schat ten der Festung auf der Brustwehr geblieben waren. »Wenn dieser junge Mann beschließt, ein Bündnis mit Wenshars Silberminen ein zugehen, gibt es nicht viel, das ihn erschüttern kann. Laß dir nichts vormachen, Tazey. Er weiß, daß dein Ansehen allein ihm den Weg ebnen kann.« »Laß sie in Ruhe«, sagte Sternenfalke ruhig. Nanciormis warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. Sie hatte, ohne etwas zu sagen, die Hände hinter den Schwertgurt geschoben und im dichten Schatten gestanden – es war leicht gewesen, ihre Anwesen heit zu vergessen. »Ich will nicht, daß meine Nichte in etwas hinein gerät, das sie später bedauern wird«, sagte er grob. »Incarsyn emp findet weniger für sie als für seine Pferde. Er hat es mir selbst ge sagt.« Tazey blickte ihn nicht an, aber Sonnenwolf konnte im drückenden Sonnenglas Tränen in ihren Augen schimmern sehen. »Ich bin in nichts hineingeraten«, sagte sie mit leiser, ruhiger Stim me. »Man hat mich gestoßen und gedrängt und gebeten und mit allem bedroht, von einer Tracht Prügel bis zur ewigen Verdamm nis… « Ihre Stimme zitterte, brach jedoch nicht. »Das einzige, was es mir ermöglicht hat, das zu ertragen, ist die Tatsache, daß er höf lich genug war, mir etwas vorzumachen.« »In Pardle Sho«, erwiderte ihr Onkel mit sanfter Brutalität, »gibt es eine Frau, die Kaninchen züchtet. Sie geht jeden Morgen aus, füttert sie, tätschelt sie, herzt sie und nennt jedes bei seinem Namen, damit es auch auf sie hört und kommt, wenn sie es ruft. Dann braucht sie es nicht zu jagen, um es zu schlachten.« Tazey fuhr herum und musterte die hochgewachsene Gestalt des Mannes neben ihr. Die Sonne brach sich in der Träne, die ihr über das Gesicht lief, und im rosa Farbenspiel der Sandperlen, die von ihren Ohren hingen. Sie flüsterte: »Ich hasse dich.« Sie drehte sich um, raffte ihre absurden Rüschenröcke zusammen und lief hinter ihrem Vater her die schmale Treppe hinunter. Die Sonne neigte sich dem Abend zu. Wind kam auf. Er sprach mit sich selbst, pfiff höhnisch um die Ecken der Festung, hinein und hinaus durch die dicken, zerfallenden Lehmziegelwände des leeren 564
Viertels; es roch nach Sand und Elektrizität und verstopfte die Poren mit Staub. Die Temperamente flammten unter dem Griff der ausdör renden Luft auf, die an Hirn und Nerven zerrte; die Leute sprachen zu oft frei von der Leber weg oder handelten, ohne an die Folgen zu denken; Haß und Wut blühten auf. In den Höfen der umliegenden Dörfer wurde ein Sturm bei Mord und Totschlag als mildernder Umstand betrachtet. Die Karawane aus der weit weg liegenden Oasenstadt Hasdroza both war eingetroffen. Hunderte schlanker, von der Sonne gestählter Reiter hatten in den hastig errichteten Unterkünften am Rande des leeren Viertels ihre Pferde und Kamele untergebracht und sich der ohnehin schon umfänglichen Leibwache des Lords hinzugesellt. Von seiner kleinen Zelle unweit der Ställe aus konnte Sonnenwolf sie in dem schwingenden Singsang der Shirdar miteinander reden hören und ihre Küchenfeuer und das würzende Fett ihrer Mahlzeiten rie chen, während er auf dem Bett seine Rüstung aus ihrer Schutzhülle packte. »Sie wird es erfahren, wenn du nicht zum Abendessen kommst«, sagte Sternenfalke ruhig. Sie verschränkte die Arme und blickte durch die halbgeschlossenen Fensterläden in das Schwefellicht des kleinen Hofes hinaus. Ein Stallbursche, dessen Kraushaar ihn als Shirdar auswies – obwohl er sich, wie die meisten Wenshirdar, die Zöpfe abgeschnitten hatte, als er den neuen Herrschern des Landes zu dienen begann – , ging vorbei in Richtung der Abtritte. Sternen falke sah ihn einen nervösen Blick auf die stumm aufragenden Mau ern des leeren Viertels werfen und seinen Schritt beschleunigen. »Es ist die einzige Zeit, in der ich sicher weiß, wo sie ist.« In der langen Hitze des Nachmittags hatten sie sich geliebt und geschlafen, obwohl Sonnenwolf in seinen Träumen wieder die kalten, körperlo sen Augen der Dämonen gesehen hatte. Ein wenig unbehaglich ent rollte er jetzt das Kettenhemd, das er seit der Belagerung von Melplith vor einem Jahr nicht mehr getragen hatte, und überprüfte die Schnallen und das Leder. Sein Gewicht fühlte sich nach so langer Zeit seltsam an, und das rauhe, musikalische Klirren der Ringe klang in seinen Ohren fremd und vertraut zugleich. Wo es an der Brust ausgebessert worden war, befand sich ein heller Fleck – es war ein ansehnlicher Riß gewesen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wo oder wann er entstanden war. »Wenn sie auf Entfernungen hin töten kann«, sagte Sternenfalke, »dürfte es egal sein.« Hinter ihr fegte ein Staubteufel über den Hof; 565
eine Windbö stöhnte um die Mauern. In den nahen Ställen konnte Sonnenwolf die Pferde nervös in ihren Boxen stampfen hören. »Im mer vorausgesetzt, Kaletha ist die Mörderin.« Sonnenwolf nickte. Dieser Gedanke war ihm auch schon ge kommen. »Du glaubst, es könnte noch jemanden geben. Jemanden, der die Tatsache verheimlicht, daß er magischer Abstammung ist. Jemanden, der irgendwann in der Vergangenheit einmal Zugang zu den Büchern gehabt haben könnte.« »So ähnlich.« Sie lehnte ihre Schultern an den Fensterrahmen, und der Lichtschein, der hindurchfiel, legte sich weiß auf ihr Haar. »Eine Hexe müßte schon furchtbar dumm sein, wenn sie in einer Gemeinschaft, wo es nicht jede Menge anderer Hexen gibt, einfach so herumgeht und durch Magie Leute tötet, aber wir haben ja schon dümmere Dinge erlebt. Erinnerst du dich an diesen Apotheker in Laedden, der die Brunnen seiner Nachbarn vergiftet hat? Es hätte doch ebensogut – ich weiß nicht – eine Art Naturgewalt sein können, so eine Bestie, die blindlings tötet. Es ist schwer, sich jemanden vorzustellen, der ein solches Gemetzel vorsätzlich herbeiführt.« »Mir fiel es schwer zu glauben, daß zwei Jungen ihre eigene Mutter getötet haben sollen, um an die Familienersparnisse heranzu kommen und sich aus der belagerten Stadt freizukaufen«, bemerkte der Wolf. »Wir leben und lernen. Aber sie haben mir das Geld todsi cher angeboten, damit ich sie bei Melplith durch die feindlichen Linien führe.« Er zog die schweren ledernen Riemenschuhe, die er sich von einem der Pferdezureiter ausgeliehen hatte, unter dem Bett hervor und legte sie neben das Kettenhemd, musterte das Ganze und überlegte, ob der gebotene Schutz die Einschränkung seiner Bewe gungsfreiheit wert wäre. Die Schuhe würden ihn sicher vor den Schlangen schützen, wenn er sich schnell genug bewegte, während die dicken Lederhandschuhe, die er erworben hatte, seinen Händen Schutz vor den Skorpionen bot. Was weitere Begegnungen anbe traf… vielleicht konnten sie ihn davor bewahren, daß seine Achilles sehne durchbissen oder er schon beim ersten Hieb niedergestreckt wurde, aber danach würde nichts den Wirbel der Gewalt verhindern können, der Egaldus vernichtet und die Überreste von Bischof Galdron und Norbas Milkom über ein Dutzend sandbedeckte Höfe verteilt hatte. »Glaubst du, du kannst Kaletha für die nächsten Stunden be schäftigen?« Wenn er angegriffen wurde, überlegte er und wog die starre Be 566
deckung in den Händen, würde er ohnedies nirgenwo mehr hinflüch ten können. Als er Sternenfalkes Schweigen spürte, blickte er auf. »Anführer«, sagte Sternenfalke langsam, »ich werde es wohl nicht tun.« Einst hätte er, wie er wußte, nach dem Grund gefragt, rasch und ziemlich aufgebracht. Nun ließ er es bei dem Schweigen bewenden; nach einem langen Augenblick ergriff sie wieder das Wort. »Ich werde sie im Auge behalten, wenn du willst, und versuchen, sie aufzuhalten oder dir Bescheid geben, wenn sie in das leere Vier tel kommt. Aber ich werde nicht ihre Freundschaft zu mir – ihr Ver trauen in mich, obwohl sie über dich und mich Bescheid weiß – gegen sie verwenden. Ich möchte nicht, daß meine Liebe zu dir ihrer Freundschaft zu mir in die Quere kommt.« Ihre Stimme war wie üblich ruhig und monoton, verriet nichts, nicht einmal ihm. Aber in den Jahren, die er sie kannte, und beson ders, seit sie Liebende geworden waren, hatte er gelernt, ihren küh len Tonfall zu deuten. Er erinnerte sich daran, wie sie auf dem Turm gesagt hatte: Aber du bist dir ziemlich sicher, daß ich es nicht tun würde, und ihm wurde bewußt, daß er sie unbedacht um etwas gebe ten hatte, wozu er kein Recht besaß. Im ersten Augenblick empfand er Wut über sich selbst und Ver ärgerung über sie, daß sie ihm das angetan hatte… und auch ein bißchen darüber, erkannte er, daß sie Kalethas Rechte über seine Launen stellte. Das brachte ihn wieder zur Vernunft, und er nickte. »Na schön«, sagte er. Und dann fügte er, obwohl sich der Ausdruck in ihren grauen Augen nicht geändert hatte, etwas unsicher hinzu: »Tut mir leid. Ich hätte dich nicht darum bitten dürfen.« Sie verbarg ihre Erleichterung und ihre nicht gerade schmeichel hafte Überraschung gleichermaßen und sagte nur: »Ich werde tun, was ich kann.« Der Zufall machte diese Frage schließlich überflüssig. Sternenfalke verließ ihn, um nach Kaletha zu sehen; die Nacht brach herein. Das Stöhnen und Murmeln des Windes verstummte, und die Stille wurde noch furchteinflößender, als sie heiß und dick über dem Hügel mit der Festung und der staubigen Stadt dahinter ruhte. Ein Sturm zog auf. Sonnenwolf, der auf der hölzernen Tür schwelle seiner Zelle saß und die Dunkelheit erwartete, sah, wie vor jedem Fenster von Tandieras die Läden geschlossen wurden. Die Sonne ging unter und tauchte den Binnig-Felsen in die Farbe von altem Blut, ließ die Türme der Kathedrale von Pardle wie Feuerfäden 567
aufblitzen. Er wußte, daß im Saal und in der Torbogenreihe auf dem Balkon des Haushalts Lampen angezündet wurden, doch nicht ein Schimmer von Licht beleuchtete das dunkle Massiv der Festung. Sie wirkte wie ein totes Gebilde, stumm wie die Felsen. Sogar die Vögel sangen nicht mehr und suchten ihre Verstecke auf. Die Stille war unheimlich, zu ähnlich der in der toten Stadt von Wenshar. Er versuchte, sich zu entspannen und seinen Geist zu sammeln, versuchte bei den Bannsprüchen zu bleiben, von denen er wußte, daß er sie würde anwenden müssen, aber immer wieder schweifte er zu Sternenfalke ab. Es hatte ihn verwirrt, daß sie sich weigerte, sich um seinetwillen gegen einen ihrer anderen Freunde zu wenden, und er merkte, daß ihn das störte, als sollte sie für keinen außer ihm selbst Loyalität aufbringen. Es war ungerecht gegenüber Sternenfalke, und er wußte es. Er seufzte und schüttelte den Kopf. Seine Vorfahren wären vor Scham gestorben. Du wirst weich, hätte sein Vater gesagt – und ihm gesagt, wo er um des eigenen Überlebens willen fester zupacken sollte. Er hatte vierzig Jahre überlebt, indem er immer weitergemacht hatte. Sein Leben war eine Faust gewesen, die nie locker ließ. Es war schwer, sich anderen Dingen zu öffnen. Als Krieger hatte er gewußt, was er war. Hier, in dieser ausge dörrten Landschaft der schwarzen Felsen und wispernden Dämonen, sah er, zu was er werden konnte; und wie Tazey wurde er davon erschreckt. Die Härte dieses schrecklichen, reglosen Himmels nahm die Weichheit eines taubengrauen Seidenlakens an. Der Geruch des Sturms war in seinen Adern, nagte und riß an seinem Geist. Es war noch nicht ganz dunkel, aber wenn er es zu Ende bringen wollte, war es besser, jetzt anzufangen. Da alle Fenster der Festung geschlossen waren, hatte er gute Chancen, nicht gesehen zu werden. Vorsichtig verriegelte er die Läden seiner eignen kleinen Zelle und legte im Halbdunkel seinen Lederwams ab; er fröstelte vor Kälte. Erst als die näherkommenden Schritte dicht am Eingang waren, erkannte er, daß sie nicht von Sternenfalke stammten. Er blickte auf, als links von der Lampe ein Schatten auftauchte. Vor dem Abend dunkel sah er zwei weißgewandete Shirdar, die Hände an den Schwertgriffen, stumm auf ihn zukommen. »Ihr seid also Sonnenwolf.« Die Hände der verschleierten Frau bewegten sich auf den Lehnen ihres zusammenklappbaren Bronze stuhls. Es waren kräftige Hände, weiß wie die von Incarsyn, über die 568
im flackernden Halbdunkel der verschlossenen Kammer wellenartig Schatten zogen. »Der Barbarensöldner.« »Mylady.« Er neigte seinen Kopf und spürte den forschenden Blick dieser bemerkenswert dunklen Augen. »Und Ihr seid Lady Illyra, Herrin des Dünen volks.« Ihr Mund war unter den indigofarbenen Schleiern verborgen, die die Gesichter aller Frauen aus den Tiefen der Wüsten bedeckten, aber die schweren Lider dieser dunklen Augen senkten sich. In ihren Winkeln sah er das kurze Runzeln der Wertschätzung über eine Be merkung, die, wie er wußte, erheblich mehr war als nur ein eitles Kompliment. Doch sie sagte: »Es ist nicht nach Art unseres Volkes, daß eine Frau herrschen sollte. Mein Bruder ist Herr der Dünen.« Ihre Stimme war tief und rauh, und es haftete ihr die Autorität von jemandem an, der nie einen anderen um Rat gefragt hatte. Anhand der trockenen, ledrigen Hautfalten um ihre Augen schätzte Sonnen wolf ihr Alter ungefähr auf das seinige – vierzig. Seit ihrem fünf zehnten Lebensjahr hatte sie, so ging das Gerücht, für ihren jüngeren Bruder Incarsyn geherrscht und, ohne jemals ihre Schleier der Be scheidenheit abzulegen, die Armeen von Hasdrozaboth befehligt. Das dünne, dunkle Gespinst bewegte sich unter ihrem Atem, als sie fortfuhr: »Die Frauen herrschten über Wenshar, und es brachte den Shirdar nichts als Kummer während all der Jahre ihrer Herrschaft und der Jahre danach. Ich spreche nur als Abgesandte meines Bru ders, der gerade einer schwierigen Aufgabe nachgeht.« Sonnenwolf dachte einen Augenblick über sie nach – der hoch gewachsene, geschmeidige Körper, in schwarze und indigofarbene Gewänder und Schleier gehüllt, die aus dem Gazeschleier herausra gende Nase und die auf ihn gerichteten blitzenden Augen, kalt wie die einer Klapperschlange. Er fragte sich, ob sie unter diesen Gaze schichten wohl häßlich oder schön war und wußte, daß es einerlei war, für sie wie für jeden anderen. Er sagte: »Nicht zufällig der, um eine Frau aus Wenshar zu freien?« »Er wird sie nicht heiraten.« »Er sagte, er würde es, obwohl er wisse, was sie ist.« In ihrer tiefen Stimme lag Zorn. »Er weiß nicht, was sie ist. Er denkt, Magie sei, was die Frauen mit Federn und Kräutern anstellen, um diesen oder jenen Mann dazu zu bringen, sie zu lieben, oder die Konkubinen ihrer Ehemänner unfruchtbar zu machen. Er denkt, es sei eine Vergnügung, wie Tanzen oder Zhendigo, die Kunst der Be rührung, und aus denselben Gründen praktiziert – um Männern zu 569
gefallen.« Die Bewegung ihres Körpers atmete ein Moschusparfüm aus, das sich mit dem Geruch der mit Weihrauch beräucherten Kohle in dem Rost hinter ihr und dem Prickeln des von den Fensterläden aufgewir belten Staubs vermischte. »So denken alle Männer, wenn sie zuerst sagen: ›Ich werde mir eine Frau nehmen, die sich auf Magie versteht. ‹ Denn das ist alles an Magie, was sie den Frauen in der Wüste er lauben werden. Ich weiß es«, fuhr sie leise fort. »Ich habe den Tod von mehr als einer Hexe in meinem Volk befohlen.« Sie nahm das Glöckchen vom Tisch, und ein winziger Laut durchdrang das Halbdunkel. Sonnenwolf, entspannt, aber kampfbe reit und nicht sicher, wohin diese Unterredung führen würde, ließ seine Hand beiläufig zum Schwertgriff gleiten, als ein Sklave herein trat, ein gutaussehender junger Bursche mit dem bartlosen Kinn und der weichen Fleischigkeit eines Eunuchen. Kniend legte der Sklave Sonnenwolf ein rotes, mit Wolle besticktes Kissen zu Füßen. Als er sich darauf nach Sitte der Wüste niederließ, überprüfte Sonnenwolf unwillkürlich alle möglichen Ausgänge des Zimmers. Die meisten davon waren wegen Durchzug geschlossen, der die Vorhänge leicht anhob wie die dunklen Totenhemden vorbeiziehender Gespenster. Sein besonderes Augenmerk galt dem Vorhang hinter seinem Rü cken. »Warum?« fragte er neugierig. »Ihr wißt, was es heißt, eine Frau zu sein und um Macht zu kämpfen.« »Aus eben dem Grund«, erwiderte sie. »Ich weiß, was ich tat, um die Macht zu erringen, die ich innehabe. Unsere Wege sind nicht die Wege der Nordländer, Lord Hauptmann. Die Wüste ist rauh. Sie verzeiht einem nicht einmal gutgemeinte Fehler. Unser Vorgehen hat sich hundert Männergenerationen lang bewährt. Es funktioniert. Wenn man eine Wüste durchquert, darf man den geraden Weg von Wasserloch zu Wasserloch nicht verlassen, selbst wenn die Leute rufen: ›Dort hinter der Düne ist Wasser. ‹« Eine Windbö bauschte einen Vorhang in den Schatten neben ihr und rüttelte an den Gaze schleiern, die ihr Gesicht und Haar bedeckten. »Das alte Vorgehen zu ändern, heißt zu riskieren, daß man sich verirrt. Das haben die Hexen von Wenshar bewiesen.« »Erzählt mir von den Hexen von Wenshar«, sagte Sonnenwolf. »Die Gerüchte, die mich herbrachten, um die Verbindung meines Bruders aufzuhalten«, sagte sie, »legten nahe, daß Ihr selbst ein Hexer seid. Ist das wahr?« Das Wort, das sie benutzte – es ent 570
stammte einem Dialekt und somit der weniger formellen Sprache von Wenshar – brachte etwas in seinen Gedanken zum Klingen. Er nickte langsam, nicht willens, dieses Wort, diesen Dialekt selbst zu benutzen. »Es stimmt.« »Gut.« Die Linien um ihre Augen spannten sich wieder, obwohl er das Gefühl hatte, daß das Lächeln ihrer Lippen unter dem Schleier keineswegs freundlich war. »Sehr gut. Hört zu, Barbarenhauptmann. Mein Bruder ist so begierig darauf, diese Verbindung mit der Toch ter des Königs von Wenshar einzugehen, weil wir nur ein kleines Volk unter den Lords der Wüste sind. Wir waren nie groß unter den Stämmen, und einige unserer Nachbarn sind sehr mächtig. Besonders werden wir, wie alle Stämme, von den großen Herren des Nordens, den Mittleren Königreichen jenseits der Berge, bedroht. Man sagte mir, daß der Zauberkönig, der alle Welt unterdrückte, jetzt tot sei, und ich habe lange genug in der Wüste gelebt, um zu wissen, daß, wenn der große Löwe stirbt, viele Kämpfe um sein Fleisch unter den Schakalen ausbrechen. Mein Volk braucht in diesen Tagen viel Kraft.« Sonnenwolf erinnerte sich an all die Kleinkriege, die im Verlauf des Frühlings und Sommers die Reste des Zauberkönigreiches zer schlagen hatten. »Das ist richtig.« Die Hände, lang und kräftig mit ihren gebogenen Fingernägeln, umklammerten die Stuhllehne. Der Wolf bemerkte, daß er darüber nachsann, ob diese Frau jemals geheiratet hatte, wie es bei den Frauen der Shirdar eigentlich Sitte war, und, falls sie es getan hatte, was aus dem armen Bastard geworden war. »Und doch sage ich, daß mein Bruder keine Hexe heiraten wird, auch wenn sie die Tochter des jetzigen – und Schwester des künfti gen – Königs von Wenshar ist und dieser König, ihr Bruder, ein kränklicher Knabe ohne viel Kraft ist. Wenn ich die Heirat zuließe und ihr danach erlaubte weiterzuleben, würde ihre Kraft wachsen, da sie nicht, wie alle unsere Frauen, gelernt hat, sich den Wünschen des Mannes unterzuordnen. Bald würde sie meine Macht herausfordern, und jene anderen, die Einwände gegen mich haben, würden sich um sie versammeln. Ob ich nun recht hätte oder nicht, es würde zu Strei tigkeiten in unserem Volk kommen, und wegen dieser Streitigkeiten würden viele, vielleicht alle, sterben. Wenn sie heiraten und kurz darauf sterben würde, wäre das noch schlimmer, denn ihr Vater, ihr Bruder oder ihr Onkel, der schon ein Auge auf die Macht in Wenshar geworfen hat, würden das zum Vorwand nehmen, um gegen uns ins 571
Feld zu ziehen, und wieder würden etliche sterben.« »Und wenn sie heiraten und trotz all Ihrer Bemühungen nicht sterben würde«, fügte Sonnenwolf hinzu, »wäre die Lage noch um einiges schlimmer.« Erneut zitterte das langsame Lächeln in ihren Augenwinkeln und kroch wie vergifteter Sirup in ihre Stimme: »Ich sehe, wir verstehen einander.« »Ich verstehe Euch, Frau«, sagte der Wolf. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was Ihr von mir wollt.« »Nein?« Die ebenmäßige, dunkle Braue neigte sich an einem En de, verschwand unter dem tiefsitzenden Streifen aus dunkler Seide. »Auch ohne dieses Mädchen braucht mein Volk immer noch Macht, eine Waffe gegen jene, die uns bedrohen. Tatsächlich werden wir, wenn sie als Hexe einen dieser Sklavensöhne ehelicht, die hier als Adel betrachtet werden, noch viel dringender Macht brauchen. Und wie mein Bruder hätte ich nichts dagegen, einen Magier in meinem Volk zu haben, besonders nicht, wenn er in den Kriegskünsten be wandert ist.« Sonnenwolfs Mund verzog sich unter seinem struppigen Schnurrbart. »Solange es nur ein Mann ist.« Sie nickte ruhig. »Ganz recht, Ihr wäret keine Bedrohung für mich, Hauptmann. Selbst in den Tiefen der Wüste sagt man, daß Ihr ein Mann seid, der jenen, die ihn bezahlen, treu ergeben ist und keine Hure, die von diesem und jenem Geld annimmt, ohne daß es sie weiter kümmert. Ihr seid ein Kämpfer und Magier, kein Herrscher über Menschen – denn wäret Ihr ein Herrscher über Menschen, hättet Ihr Menschen gefunden, um über sie zu herrschen.« Sonnenwolf schwieg eine Weile. Wie die Schneide eines Messers an seiner Haut spürte er, daß der Sturm jetzt ganz nahe war. Undeut lich hörte er gegen das lauter werdende Stöhnen des Windes, wie Männer einander draußen etwas zuriefen, hörte das Schnauben und Stampfen der gepriesenen weißen Pferde von Hasdrozaboth. Schließ lich sagte er: »Ich weiß nicht, was ich bin, Lady. Als ich mich noch bei anderen verdingte, um für sie zu kämpfen, wußte ich, was ich verkaufte. Ich weiß es nicht mehr. Ich kann nicht sagen: ›Ich werde dies tun‹ oder ›Ich werde das tun‹, weil Magie…« Er hielt inne, wohl wissend, daß sie nicht verstehen würde, was immer er über Magie sagen mochte, weil er es selbst nicht verstand. Er schüttelte den Kopf. »Erzählt mir von den Hexen von Wenshar. Was ist es, was in den Ruinen von Wenshar umgeht?« 572
Illyra erhob sich von ihrem Stuhl und trat um ihn herum, bis ihre großen Hände auf der schmalen, flachen Rückenlehne zu ruhen ka men. Hinter ihr bauschten sich nun die bestickten rotblauen Vorhän ge über den Fenstern in einer fortlaufenden Bewegung, als würden böse Wesen unsichtbar hinter ihnen umherhuschen. Sonnenwolf spürte, wie die Elektrizität in der Luft an den Härchen seines Armes knisterte und seine Schläfen zum Pochen brachte. Illyra musterte ihn eine Weile aus klugen, dunklen grausamen Augen. »Ihr wart also dort?« »Ja.« »Und was habt Ihr gesehen?« »Dämonen«, sagte Sonnenwolf. Bequem mit den Knien auf dem roten Wollkissen ruhend, blickte er zu der verschleierten Frau auf. »Die Dämonen, die aus der Erde aufsteigen.« »Das war alles?« fragte sie, und er nickte. Die Frau seufzte und entfernte sich ein paar Schritte weit von ihm, dann kehrte sie zurück. »In der Wüste«, sagte sie, »verehren und fürchten alle Männer die Dschins des Sandes und des Himmels, die Geister, die in den Felsen hausen. Aber die Frauen der Alten Häuser haben ihre eigenen Kulte, je nach dem Haus. Jeder Kult wahrt seine eigenen Geheimnisse. So auch bei den Frauen von Wenshar.« Ihre Hände ruhten wieder auf der Rückenlehne, blaß gegen das dunkle Holz. »Es sei ein verderbter Kult gewesen, heißt es. Sie reichten seine Geheimnisse von einer Generation zur anderen weiter. Sie wählten die aus, die ihre Söhne und Brüder heiraten wollten, brachten sie in den Kult ein und nahmen sich die Männer, mit denen sie sich ver gnügen wollten, wie Männer sich Konkubinen nehmen. Es heißt, daß sie Dämonen aus der Erde beschwören konnten und sich auch mit ihnen vergnügten. Sie praktizierten die Geisterbeschwörung und riefen die Geister der Toten an. Und wer sich den Hexen widersetzte, wurde in Stücke gerissen, wie Ihr es vom Bischof, von Königsfreund Milkom, der die Shirdar haßte, diesem Priester, der der Geliebte der Weißen Hexe war, und dem alten Waschweib, das sie verleumdete, berichtet. Außerdem heißt es, daß jeder Frau, die den Kult betrog, ein ähnliches Schicksal bevorstand, ganz sicher aber allen Männern, die sie ja haßten.« »Und hat diese Magie jeden verdorben, der damit in Berührung kam?« fragte der Wolf. Illyra musterte ihn neugierig, wobei sich schwere Lider über ihre 573
Augen senkten, als versuchte sie, hinter den Sinn dieser Frage zu kommen. Eine Windbö griff unter ihren gewaltigen Schleier und wirbelte ihn so auf, daß ein Ende fast über Sonnenwolfs Gesicht strich, der vor ihrem Stuhl kniete. Die Flammen im Rost wurden entfacht, so daß sie wie züngelnde Schlangen den mit Weihrauch beräucherten Kohlen zu entkommen versuchten. Als sie wieder in sich zusammensanken, wirkte das Zimmer dunkler als zuvor. »So heißt es.« Ihre Stimme war bitter und hart. »Jedes Mädchen, das die Riten der Macht sah und sich weigerte, sie zu empfangen, verschwand – aber es heißt auch, daß die Frauen von Wenshar ihre Zöglinge so gut auswählten und führten, daß nur wenige sich weiger ten. Auf diese Weise herrschten sie vermittels der Furcht über ganz Wenshar und einen Großteil der umgebenden Wüste. Und aus die sem Grund wollte keiner der Wüstenlords den Hexen helfen, als die Lords der Mittleren Königreiche über die Pässe geritten kamen, um Wenshar zu zerstören und diese Frauen mit Feuer und Schwert und ihrer eigenen Magie auszulöschen. Alle hatten durch deren Arro ganz, Gier und grenzenlose Zerstörungswut gelitten.« Sie begann wieder wie ihr Bruder auf- und abzuschreiten, wobei sie sich mit gezügelter, tierischer Anmut bewegte. »Diese Narren. Sie lassen ihre Feinde den Wein ausgießen, den sie selbst hätten trinken sollen. Die nördlichen Lords hielten die Pässe von Wenshar, und von dort war es für sie ganz einfach, auch die Wüste zu er obern.« Die Wut in ihrer Stimme war so heftig, als hätten jene Frauen ihr persönlich Schaden zugefügt und als wären sie noch am Le ben, nicht schon seit Generationen tot und zu Staub zerfallen. »Und so brachten die Hexen das Verderben über uns alle. Und selbst als die nördlichen Lords vernichtet waren, wurde es nicht mehr, wie es einst war. Ihre Macht wurde von den Sklavensöhnen übernommen, dem Abschaum der Minen, die nichts von diesem Land wissen, sich noch weniger darum kümmern – und uns, die Shirdar, unserer rechtmäßigen Herrschaft berauben. Sie wollen nur ihr Silber, wie ein Mann, der ein Pferd kauft und nur daran denkt, es zu essen, nicht aber an die Anmut seiner Läufe, die Weichheit seiner Schnauze oder die Geschwindigkeit seines Schattens auf dem Land. Sie sind Schweine, deren Nasen vom Pressen gegen die Goldhalden ganz platt sind… « Sie wandte sich ihm wieder zu, die dunklen Augen von uralter Wut erfüllt. »Und sie werben Armeen an, soviel sie wol len, um zu zerstören, was gut und schön ist, und es in Geld zu ver 574
wandeln, was sie als einziges verstehen. Es gibt keinen Shirdarlord, der nicht im Grunde seines Herzens so empfände – denn sie zerstör ten nicht nur unsere Macht, sondern auch die Ordnung der Dinge, wie sie sein sollte.« Als merkte sie plötzlich, wie weit ihr Zorn sie getrieben hatte, blieb sie unversehens stehen und blickte erneut auf ihn herunter, jetzt wieder kalt und zurückgezogen. »Deshalb sage ich Euch«, schloß sie ruhig. »Mein Bruder wird die Saat dieses doppelten Bösen, diesen Sprößling von Hexen und Sklaven, niemals heiraten. Nicht für alle Bedürfnisse in der Wüste, noch für alles Silber, das sie aus der Erde kratzen können.« Ihre Augen verengten sich, als sie sich ihm zuwandte. »Und Ihr, Sonnenwolf«, sagte sie. »Wenn Ihr mir nicht dient, wem werdet Ihr dann dienen?« Er schüttelte den Kopf und sagte: »Lady, ich weiß es nicht.«
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12. Kapitel Als die Sonne schließlich sank, hatte der Wind die Heftigkeit ei nes Sturms angenommen; Sonnenwolf mußte sich seinen Weg an dem Seil entlang bahnen, das über den Shirdarhof gespannt war, die Hände und das Gesicht von Sand und fliegenden Steinchen zerkratzt, die wie Insekten stachen. Selbst im Schutz der kleinen Höfe und mit Säulen gesäumten Kolonnaden an der Westseite des Saales war die Sicht nicht viel besser, da der dichte Schleier aus heißem grauen Staub sich mit der Schwärze der Nacht verband. Gespenstische Lichtblitze erhellten für Bruchteile von Sekunden die Dunkelheit, gaben jedoch kein klares Licht. Im Saal war der Großteil des Haushalts noch mit dem Abendes sen beschäftigt, und er verspeiste gerade die letzten Reste. In dem Augenblick, da er den großen, schattigen Raum betrat, spürte Son nenwolf schon die Spannung, den Geruch von kaum verhohlener Furcht – den Eindruck von Leben in einer von der Pest heimgesuch ten Stadt, wo kein Mensch wußte, wessen zufällige Berührung ihn das Leben kosten konnte. Vom Staub getrübter Fackelschein zuckte über die Gesichter der Wachen und Bediensteten, Gefolgsleute, E delmänner und Hofdamen, die sich normalerweise schon längst in ihre Räume zurückgezogen hätten. Hierzu und zu der nervösen Spannung des Sturms trat noch die ausgedörrte Trockenheit der Luft. Die Männer sprachen heftiger als sonst den Getränken zu, und ihre Stimmen kämpften gegen die unbehagliche Stille des Saales an. Trotz der ungewöhnlich großen Menge von Menschen im Saal fiel der freie Raum rings um Kalethas Tisch auf. Die Weiße Hexe starrte benommen vor sich hin, einen unangetasteten Teller mit Eiern und Gemüse vor sich. Anshebbeth an ihrer Seite sprach leise auf sie ein und versuchte, sie mit einer Geduld, die der Wolf von dieser alten Jungfer kaum erwartet hätte, aus sich herauszulocken. Mit dem üblichen Sinn für das Praktische, der einem Söldner eigen ist, ver zehrte Sternenfalke ihr Abendessen, aber Sonnenwolf wußte, daß sie nicht blind gegenüber den verstohlenen Blicken und dem angsterfüll ten Wispern um sie herum war. Kaletha sah schlecht aus – ausgezehrt, erschöpft und krank. Viel leicht hat sie ihren Liebhaber getötet, um ihren Stolz und ihre Macht zu bewahren, dachte der Wolf unwillkürlich, aber sie hat ihn geliebt. Einige Worte des Falken kamen ihm wieder in den Sinn, und er 576
fragte sich, was es ihm bringen würde, jemanden gegen sein besseres Wissen zu belügen, einzig und allein, um seine Macht über ihn zu erhalten. In letzter Konsequenz hieß das, um der bloßen Macht wil len eine Hure aus sich zu machen. Würde er die Person, die ihm das angetan hatte, dann töten? Könnte sie es? hatte Sternenfalke gefragt. Er wußte jetzt, was er zuvor nur vermutet hatte, daß sie es wirk lich könnte. Und mehr noch, wenn die Magie der Hexen jene, die sie benutzten, wirklich verdarb, dann hatte sie ihn auch getötet. Wie Egaldus es getan hatte, als der Bischof sich an die Hohe Ta fel setzte, hüllte Sonnenwolf sich jetzt in Schatten und Illusion und durchquerte den Saal. Dabei fragte er sich vage, ob Kaletha Galdron getötet haben könnte, um Egaldus zu beschützen, wenn sie schon auf Egaldus eifersüchtig gewesen war… oder ob, wie es so häufig in Liebesdingen der Fall war, Logik hier nicht zählte. Sternenfalke blickte überrascht zu ihm auf, als er sich neben sie setzte. Da Kaletha und Anshebbeth zu sehr miteinander beschäftigt waren, gab sie ihm aus den Schüsseln etwas Essen auf den Teller und schenkte ihm Bier ein, das er durstig trank. An der Hohen Tafel nahm Osgard davon keine Notiz. Das war kaum überraschend, da der große Mann offenbar den ganzen Nachmittag getrunken hatte und keine Anzeichen zeigte, damit aufzuhören. Seine rauhe, dröhnende Stimme erhob sich über das verängstigte Murmeln der gedämpften Gespräche rings um ihn her: »… saftloser kleiner Feigling. Er hat über dich gelogen, Nanci ormis. Weißt du, was er sagte? Was, zum Teufel, soll aus diesem Land werden, wenn ein kleiner lügender Feigling es regiert?« Nanciormis, elegant in seinem perlenbesetzten schwarzen Wams und der Spitzenkrause, wandte leicht den Kopf, um seinen Schwager mit verschleierter Empörung und Verachtung zu betrachten. Neben dem breiten, weingetränkten Riesen hockte Jeryn in zerknirschtem Schweigen, ein trauriger Anblick mit seinem ungewaschenen Haar und der schmutzigen Kleidung. Sonnenwolf erinnerte sich an Illyras abfällige Worte über die Söhne von Sklaven und fragte sich plötz lich, ob Nanciormis, der letzte Sproß des Alten Hauses von Wenshar, auch so empfand. Tazey, die rechts neben ihrem Bruder saß, legte den kleinen Fächer aus Zierfedern beiseite, langte hinüber und be rührte den Arm des Jungen, wie um ihm zu sagen, daß er nicht allein sei. In dem stimmlosen Wispern, das Fährtensucher auf ihren nächtli 577
chen Missionen verwenden, murmelte Sternenfalke: »Was hast du herausgefunden?« Der Wolf schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht gegangen. Hatte statt dessen eine Verabredung mit einer Lady.« »Ich hoffe, sie hat dich gebissen. Willst du etwas Brot?« Sie zer brach einen Laib und reichte ihm die Hälfte. Er schmeckte vage nach Staub – auch auf dem Bier schwamm eine dünne Staubschicht, die ihm beim Trinken im Bart hängenblieb. »Hätte sie es, müßte ich den Rest der Nacht damit verbringen, die Wunde auszubrennen. Irgendwas passiert, wovon ich wissen sollte?« »Zwei Kämpfe zwischen Wachen und Incarsyns Shirdar, einer zwischen einer Waschfrau und einer Küchenmagd und Gerüchte über einen Streik bei der Geier-Mine in Pardle.« »Es könnte auch bloß der Sturm sein.« »Nein. Es heißt, die Bergleute hätten Angst, den Schacht hinun terzugehen, weil sie befürchten, dort auf das zu treffen, was für die Morde verantwortlich ist. Ja, es ist dumm – aber in diesem Geschäft erhitzen sich die Gemüter sehr schnell.« Sie wischte sich die Finger an einem Stück Brot ab und griff nach einer der Orangen in der gel ben Tonschale am Rand des Tisches. Auf der anderen Seite plapperte immerzu Anshebbeths sanfte, beruhigende Stimme. Vor den Schat ten wirkte Kalethas verwüstetes Profil reglos, wie aus Elfenbein geschnitzt. Ruhig sagte der Wolf: »Es ist nur die Frage, ob die richtige Per son dran glauben muß.« Mit leiser Stimme erzählte er dem Falken von seinem Gespräch mit Lady Illyra. »Incarsyn mag reden, als gäl ten die Frauen in Shirdar nichts – und vielleicht stimmt es ja auch, in der Hinsicht, auf die die Männer Wert legen, wie Reiten und Tanzen und Windverehrung – aber es ist verdammt noch mal sicher, daß einige von ihnen große Macht haben.« »Wer weiß«, sagte Sternenfalke gleichmütig. »Ich halte es durch aus für möglich – wenn man in dem Wissen aufgezogen wird, wie man sich Macht aneignen kann, und wenn man diese Art Macht wirklich will.« Eine Windbö von draußen brachte die Kerzenflamme zum Fla ckern, und die massiven Fensterläden rappelten laut. Es gab einen Aufruhr vor den Außentüren des Saals. In den dunklen Torbögen des Vestibüls stand eingerahmt Incarsyn; Staub rieselte in grauen Fäden herunter, als er seine Schleier ablegte. Seine Krieger in ihren weißen Mänteln standen wie eine stumme Gesellschaft von Sanddschins 578
hinter ihm. »Mylord.« Osgard wuchtete sich hoch und deutete mit seinem Becher auf einen leeren Platz zu Nanciormis' Linken. »Wir fürchteten schon, Euch nicht mehr zu sehen.« Seine Baßstimme troff vor Wein. Geschmeidig wie ein Puma bahnte sich der Shirdarlord einen Weg zwischen den Bänken hindurch. Anshebbeth erhob sich bereits widerwillig von ihrem Platz neben Kaletha, um sich, wie es die Eti kette forderte, zu Tazey zu gesellen. Aber Incarsyn blieb unmittelbar vor der Empore stehen und neigte den Kopf, wobei seine Zöpfe wie goldgebundene samtene Taue nach vorn schwangen. »Mylord«, sagte er. »Es bekümmert mich sehr, das sagen zu müssen, aber meine hochgeschätzte Schwester hat mir eine äußerst dringende Nachricht von meinem Volk gebracht. Es ist erforderlich, daß ich und meine Männer, sobald der Sturm nachläßt, augenblick lich Vorbereitungen für die Rückkehr treffen. Bitte, verzeiht uns diesen unverzeihlichen Bruch der Höflichkeit und seid versichert, daß die Erinnerung an Eure Gastfreundschaft uns immer begleiten wird als die Erinnerung an ein lichtes Lagerfeuer in einer unsagbar kalten Nacht.« In dem langen Augenblick des Schweigens nahm das rote Ge sicht des Königs eine noch tiefere Färbung an. Alle im Saal wußten, was der junge Prinz wirklich gesagt hatte. Osgards Stimme war von einer trunkenen Wut erfüllt, die keine Diplomatie mehr kannte. »Und meine Tochter?« Die Bewegung von Tazeys Federfächer gefror, und ihre Brauen stachen in ihrem Gesicht, das plötzlich aschfahl geworden war, schwarz hervor. Ohne sich abgesprochen zu haben, erhoben sich Sonnenwolf und Sternenfalke geschmeidig und begannen ungehindert auf die Empore zuzugehen. Erneut verneigte sich Incarsyn, sah Tazey jedoch nicht in die Au gen. Seine Stimme war unwillig, aber immer noch sanft. »Ich fürch te, daß die Nachrichten, die meine Schwester gebracht hat, es mir unmöglich machen, Eure bezaubernde Tochter zu heiraten, Mylord.« Osgard sprang auf. »Ihr meint, Ihr wollt sie nicht – ist es das, was Ihr sagen wollt?« bellte er. »Meine Tochter, die Prinzessin von Wenshar… « »Vater… «, sagte Tazey flehentlich, und Nanciormis bereitete sich darauf vor, einzugreifen. 579
Mit zornesrotem Gesicht schleuderte Osgard seinen Stuhl zur Seite. »Du verlauster, pockennarbiger, dschinverehrender Pferdeküs ser! Meine Tochter… « Er sprang auf den Mann zu, die Hände zum Töten ausgestreckt. Nanciormis sprang völlig überrascht hinter ihm her und erwischte ihn noch am Arm, während Incarsyn zurückwich und seine Hand nach dem Dolchgriff fuhr. Sonnenwolf und Sternen falke ergriffen den anderen Arm des Königs, als Nanciormis sich auch schon unter einem Stiefeltritt gegen den Schenkel, der ihm beinahe den Knochen zertrümmert hätte, krümmte. Während er zu rückstolperte, hielt Sonnenwolf grimmig den keuchenden, fluchen den Trunkenbold fest und dachte kurz daran, daß der Kommandant offenbar alle seine Kämpfe mit dem Schwert in der Hand auf dem Schlachtfeld ausgetragen hatte. Er selbst hatte mehr Tavernenprüge leien mitgemacht, als er zählen konnte, und mit genug Betrunkenen zu tun gehabt, um eine ansehnlichere Armee aufzustellen, als die meisten Städte sich leisten konnten. Er und Sternenfalke zerrten den wild um sich schlagenden, schreienden König rückwärts über die Trümmer des Stuhls zur Tür der Sonnenhalle, die der rasch herbei springende Jeryn, die einzige Person am Tisch, die kühlen Kopf bewahrt zu haben schien, für sie öffnete. Kaum waren sie in der verdunkelten Sonnenhalle außer Sicht, riß Sonnenwolf eine Hand frei und versetzte Osgard einen kräftigen Hieb gegen das Kinn, um ihn außer Gefecht zu setzen. Er brauchte drei Versuche, bis er und Sternenfalke endlich, über und über mit Prellungen, Weinflecken und Kratzern bedeckt, den erschlafften Körper des Königs auf den Diwan hoben. »Mutter!« fluchte Sternenfalke, als Sonnenwolf seine verletzte Hand bewegte. »Ich habe gesehen, wie du mit einem Hieb ein Pferd schlafengelegt hast… « »Es war ein nüchternes Pferd«, grollte der Wolf. Noch immer seine Knöchel schüttelnd, wandte er sich empört zur Tür um. Als sie wieder aus der Sonnenhalle auftauchten, schien die Empore von Leuten überzuquellen: aufgeregt durcheinander redende Bedienstete und Wachen, die einander anblickten und sich fragten, ob sie Son nenwolf nun wegen Majestätsbeleidigung verhaften sollten oder nicht. Nanciormis stand bei Incarsyn, der sich nicht von seinem Platz vor der Hohen Tafel entfernt hatte; seine herrliche Stimme, die zu leise war, als daß sie die genauen Worte hätten verstehen können, klang entschieden und rasch, jede seiner hinreißend geformten Ges ten sprach von Versöhnung und Verzeihung für den überaus hefti 580
gen, wenngleich bedauernswerten Zorn eines Vaters, der, wie irrtüm lich auch immer, das Gefühl gehabt hatte, daß seine Tochter belei digt würde… »Und der wurde von seinen Vorgängern als König auserwählt?« fragte Sternenfalke leise, wobei sie einen Blick über die Schulter zu der aufgeschwemmten, schnarchenden Gestalt in der Kammer hinter ihr warf. »Es ist ein Wunder, daß sie nicht schon seit Jahren in stän digem Krieg miteinander liegen.« Sonnenwolf schüttelte den Kopf. »Ein solcher Trinker ist man nicht von vornherein, Falke«, sagte er leise. »Er kann es noch nicht länger als ein Jahr oder so sein. Ich wette einen Wochensold, daß es jetzt weniger braucht, ihn zur Explosion zu bringen, als früher, und er würde dir noch erzählen, daß er heute auch mehr Grund dazu hätte… « Noch immer seine schmerzende Hand reibend, blickte er hinunter und sah Jeryn neben sich in der Tür der Sonnenhalle stehen. »Bist du immer so flink, Kundschafter, oder hast du schon Erfahrung in Tavernenprügeleien?« Jeryn gab ein kleines Lachen von sich und schaute zur Seite, da mit Sonnenwolf nicht sah, daß er sich eine Träne aus den Augen wischte; der Wolf legte dem Jungen beiläufig eine Hand auf die Steppsamtschulter. Am Fuß der Empore schien Nanciormis Fort schritte zu machen. Sonnenwolf schnappte das Shirdarwort für Sturm auf. Umgeben von seinen Shirdar und den grüngekleideten Festungswachen, sah man Incarsyn nicken, widerwillig, aber besänf tigend. Im seltsamen Dunst des Lampenscheins stand Anshebbeth an Tazeys Seite und hielt, überschwenglich und beinahe selbst in Trä nen aufgelöst, dem Mädchen die Hand. Tazey, deren Fächer in ihren Fingern zitterte, war grau im Gesicht, als wäre ihr übel. Wieder schnappte er in dem Gerede der Shirdar das Wort für Sturm auf und die Wendung die Jahreszeit der Hexen. Er blickte zu dem Jungen hinunter und fragte leise: »Wie steht's mit deinen Sprachkenntnissen, Kundschafter?« Jeryn blickte überrascht zu ihm auf. »Kannst du mir den Unterschied zwischen einer Magierin und ei ner Hexe sagen?« »Sicher«, kam ihm Sternenfalke zuvor. »Eine Magierin nennen sie dich, wenn sie dich anwerben wollen, und eine Hexe, wenn sie im Begriff sind, dich aus der Stadt zu jagen.« Nanciormis und Incarsyn verbeugten sich tief voreinander. Der Dünenlord wandte sich ab. Mit entschlossenem und weißem Gesicht 581
erhob sich Tazey von ihrem Platz, reichte der verdutzten Anshebbeth ihren Fächer und glitt durch die Menge auf die beiden Herren der Wüste zu. In dem düsteren Fackelschein wirkte sie älter, ausgezehrt und erschöpft; als sie vor Incarsyn stehenblieb, konnte Sonnenwolf am leichten Beben ihres mädchenhaften Gewandes sehen, daß ihre Beine zitterten. Sie begann: »Mylord Incarsyn… « Der Dünenlord wandte sich von ihr ab, ohne ihr auch nur in die Augen zu sehen. Mit seiner Gefolgschaft im Rücken schritt er der Länge nach durch den rauchigen, stillen Raum und durch die Tür hinaus. Der Wind verfing sich in ihren weißen Mänteln, zerrte an den Flammen der Fackeln. Dann waren sie verschwunden. Erst da brandete der Lärm wieder auf, ein Wirrwarr gedämpfter Stimmen wie das Brodeln der See. Nanciormis trat zu seiner Nichte und legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern. Sie befreite sich von ihm, und die Farbe, die ihr noch einen Moment zuvor in die Wangen gestiegen war, verschwand wieder, wobei sich ihre Augen mit Tränen füllten. Nach einigen Sekunden des Schweigens verließ auch sie den Raum. »Nachdem ich Lady Illyra kennengelernt habe«, bemerkte der Wolf leise im braunen Dunkel der Empore, »glaube ich, daß Tazey so besser dran ist.« Sternenfalke rieb sich den Nasenrücken, als versuchte sie den trockenen Schmerz im Inneren ihres Schädels zu vertreiben. »Sie war schon immer gut dran«, erwiderte sie. »Sie wollte ihn ja nie.« Ein scharfes, winziges Geräusch und ein schmerzerfülltes Keu chen neben ihnen ließ sie herumfahren. Anshebbeth starrte auf ihre blutende Handfläche, wo der heftige Griff ihrer Hand die feingear beiteten Elfenbeinstäbe von Tazeys Fächer zerbrochen hatte. Mit einem unterdrückten Schluchzer der Fassungslosigkeit floh die Gou vernante aus dem Raum und ließ den zerbrochenen Fächer auf dem Boden zurück, die einzelnen Stäbe in Blut getaucht wie ein hinge schlachteter Vogel. »Du mußt zugeben«, sagte Sonnenwolf später, »daß Incarsyn so taktvoll wie möglich vorging. Die Sache mit der ›Nachricht von seinem Volk‹ war zwar ein alter Hut, könnte aber als Grund für die Abreise durchgehen. Wenn Osgard nicht der übliche betrunkene Narr gewesen wäre, darauf herumzureiten, hätten sich die Leute in sechs oder zehn Monaten an die Vorstellung gewöhnt, daß er nicht mehr zurückkehrte, um Tazey zu heiraten, ohne je Tazey beleidigt 582
haben zu müssen, indem er es aussprach. «Er nahm seine Karten auf. »Ist denn da nichts unter einer Neun?« »Hör auf, dich zu beschweren. Du hast ausgeteilt.« »Die verdammte Kaletha hat dir beigebracht, wie man das Blatt verhext.« »Ja. Und wärst du lange genug bei ihr geblieben, hättest du es auch gelernt. Wie steht's hiermit?« »Elende Mutter Verehrerin.« »Wenigstens verehre ich keine Stäbchen und alten Flaschen, wie gewisse barbarische Exkommandeure von Söldnern, die ich beim Namen nennen könnte, aber nicht werde, weil sie zugegen sind. Fünfzehn zwo, fünfzehn vier und ein Paar, macht sechs, plus die, alles ein Aufwasch…« »Ich will sehen.« »… und zwo für einunddreißig… « Triumphierend legte sie ihr Blatt in dem flackernden Ockerlicht einzeln auf dem Markierbrett ab. Wieder murmelte Sonnenwolf: »Elende Mutterverehrerin.« Es wurde langsam spät, aber nur wenige Leute hatten den Saal bisher verlassen. Der. Sturm heulte noch immer um die Mauern; die heiße Luft war zäh von Staub und Elektrizität und schwer vom Ruß der Fackeln, vom Kochen und altem Schweiß. Diener hatten die Festtische abgeräumt, aber mindestens die Hälfte von denen, die schon zu Abend gegessen hatten, waren noch hier. Hin und wieder erhoben sich ihre Stimmen, scharf und zornig, da die knisternde Luft an den Nerven zerrte und sie unbedachter reden ließ. Dann brach von neuem Stille herein, wenn sich alle wieder bewußt wurden, daß sie Angst hatten zu gehen, und der Wind im Gebälk stöhnte wie das Klagen von Verdammten. Sie hatten einen langen Weg, dachte Sonnenwolf, durch diese dunklen Korridore zu Räumen, in denen sie dann allein lagen, dem Wind lauschten und sich fragten, ob Nexué und Egaldus wohl etwas von ihrem Mörder gesehen hatten, bevor sie starben. Selbst die nie deren Bediensteten und Wachen, deren Schlafsäle direkt neben dem Hauptsaal lagen, waren noch um die schlierigen Pfuhle schlammigen Kerzenscheins versammelt, das darauf abgestimmt war, bis zum Ende des Sturms zu halten. Entgegen der Sitte standen sowohl die Türen des Männerschlafsaals wie die des Frauenschlafsaals offen. Höhere Bedienstete – der Koch, der Tanzmeister, die Musiker und Schreiber – , die ihre eigenen Kammern hatten, dösten schläfrig über Kartenspielen und Backgammon; der Oberkanzlist hatte sich einge 583
rollt und war unerschrocken in einer düsteren Ecke eingeschlafen. Sonnenwolf starrte trübsinnig an seiner unbefriedigenden Samm lung von Fünfen, Sechsen und den nicht zusammenpassenden Karten vorbei und fragte sich, ob es in jenen Sälen am Rande des leeren Viertels, die man Incarsyn und seinem Gefolge überlassen hatte, jetzt genauso zuging. Er hatte sich darin umgesehen, als man ihn zu Illy ras Quartieren gebracht hatte, und wußte, daß das Gefolge des Wüs tenlords aus gestählten Kriegern bestand, die weder Menschen noch die Grausamkeit der Wüste fürchteten. Aber das hier war etwas anderes, dieser Tod, den man nicht be kämpfen und vor dem man nicht fliehen konnte. Die Dämonen von Wenshar kamen ihm wieder in den Sinn, die wabernden, phospho reszierenden Gestalten, die er in der Stille des leeren Viertels aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen hatte, und die Art und Weise, wie sich diese kalten, glühenden Formen unter den Fenstern des Tempels in Wenshar während des Sturms versammelt hatten, dicht gepackt wie Bienen unmittelbar vor dem Ausschwärmen. Er überlegte, wo Kaletha wohl war und wann genau in dem Durcheinander sie den Saal verlassen hatte. Sternenfalke blickte ihn über ihre Handvoll Karten hinweg fra gend an, wobei sich das kleine Mal auf ihrer Stirn deutlich abhob. Er legte ruhig seine Karten hin. »Ich gehe raus und seh' mich etwas um. Der Sturm läßt nach«, fügte er hinzu, als sie protestieren wollte. »Sein Zentrum ist sowieso schon nach Süden weitergezogen.« »Sei vorsichtig.« Sie sagte es beiläufig, aber in ihren Augen sah er, daß sie nicht den Sturm meinte. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gefühl… ach, ich weiß nicht. Ich spüre keine Gefahr – nicht wie letzte Nacht. Jedenfalls ist es nicht Mitternacht, noch lange nicht. Die anderen Angriffe fanden alle zwischen Mitternacht und Morgengrauen statt. Ich bleibe nicht lange.« »Ich meine mich zu erinnern, daß ich dich zwei oder drei Monate gesucht habe, nachdem du dies das letzte Mal gesagt hast«, bemerkte Sternenfalke, sammelte die Karten ein und mischte sie fachmän nisch. »Aber mach, was du willst.« Sie begann eine Patience zu legen, während er, in Schatten und Illusion gehüllt, zum Vestibül aufbrach. Der Wind riß ihm die große Außentür fast aus der Hand, als er sie einen Spalt weit öffnete, um hindurchzuschlüpfen. Draußen boten ihm das Massiv der Festung und die Höfe und Spazierwege ringsum 584
eine gewisse Deckung; doch selbst hier brachte ihn die Gewalt des Sturms zum Taumeln. Wie ein Mann, der sich seinen Weg durch einen Sturzbach kämpfen muß, schlug er sich zu den Säulen der Kolonnade durch und preßte seinen Körper, indem er seine Arme um die naheliegendste klammerte, fest an sie. Sandbeladener Wind zerr te ihm das lange blonde Haar aus dem Gesicht und malträtierte seine Haut mit Klauen aus Kies. Der heiße Staub verstopfte ihm die Nase, und die Elektrizität in der Luft brachte sein Gehirn zum Pulsieren. Er konnte spüren, wie der Mond hoch oben über der aufgewühl ten Mauer aus Staub und Chaos tanzte. Mit zugekniffenen Augen ließ er seine Seele in der Meditation versinken, lauschte – suchte nach dem Unsichtbaren Kreis, in dem er sich überall in der sturmum tosten Zitadelle frei bewegen konnte. Langsam erkannte er die verschiedenen Strömungen des bren nenden Windes, die wie Wasser um die Türme herum fluteten, spürte er das Gewicht der Steine und Ziegeln auf den balancierten Sternen und Sparren der Dachbalken, fühlte er die von Nachtlampen gewor fenen Schatten darunter und die offenen Augen zweier Königskin der, die wach in die brüllende Dunkelheit hinauf starrten. Er spürte, wie der Blitz über den trockenen, funkelnden Türmen der Kathedrale aufzuckte und zwischen dem Binnig-Felsen und dem Morianberg erstarb. Er spürte, wie der Orkan ungestüm an den Mauern im leeren Viertel riß und zerrte. Sand fegte über die zerbrochenen Fliesen des Bodens, und Staub begrub dort die Gerüche des zerfallenden Blutes, die Schlangen in ihren Löchern träumten von ophidischem Haß und die Tauben in ihren Schlupfwinkeln nur von namenloser, wiedergän gerischer Angst… Über dem Tosen des Windes hörte er einen Schrei. Das Geräusch riß ihn aus seiner Versenkung. Im selben Augen blick war der Laut schon wieder verschwunden, verschluckt von der Wut des Windes. Seine Kriegerinstinkte rieten ihm, sofort zum Saal zurückzueilen, um Hilfe zu holen – der Magier in ihm zwang ihn in die Stille seiner Meditation zurück, um die windumtosten Räume nach der Richtung des Lautes abzusuchen. Noch ein Schrei und ein weiterer, oberhalb von ihm zu seiner Rechten. Der Balkon des Haushalts. Er fuhr herum und lief zur Eingangstür. Als er sie aufzwang, hörte er den Schrei, wie Menschen ihn hören würden, ein wogender Schrecken über dem Heulen des nachlassen den Sturmes, richtungslos, von nirgendwo, entsetzlich in seiner Un 585
gewißheit. Wie ein Echo hinter ihm aufsteigend, glaubte er einen zweiten Schrei des Grauens und der Verzweiflung zu hören, aber bei dem Wind, der in seinen Ohren dröhnte, als er die Tür wieder zu drückte, war er sich nicht sicher. Er hatte das Vestibül noch nicht durchquert, als Sternenfalke, das Schwert in der Hand und ein Dut zend ängstlicher Diener im Rücken, schon halb die Innentreppe hin aufgerannt war. Im kleinen Saal, der hinter den obenliegenden Räumen des Haushalts verlief, tobte ein Strudel von Winden. Sonnenwolf schleu derte eine glühende Kugel blauen Lichts voraus, die ihm zeigte, daß alle Türen verschlossen waren. Er fühlte, daß andere hinter ihm die schmale Treppenflucht herauf eilten: Osgard, der in seiner Nachtbe kleidung nach schalem Wein und Erbrochenem stank, zwei Wachen, deren Gesicht vor Angst aschfahl war, der Koch mit seinem Hack messer und Incarsyn, unter dem seidenen Bettgewand nackt, das Schwert in der Hand. Nahebei wurde eine Tür aufgerissen, und Ans hebbeth lief heraus, voll angekleidet, die schwarzen Augen vor Ent setzen geweitet, ihre sich bauschenden schwarzen Röcke umklam mernd. Sie keuchte: »Auf dem Balkon! Ich hab' gehört, wie… « Sonnenwolf stemmte sich gegen den Wind, während er durch ihr Zimmer und die geöffnete Tür hinaus in Finsternis und Sturm eilte. Oben auf dem langen Balkon war die Gewalt des Sturmes beina he unerträglich. Wären nicht die Mauerzinnen gewesen, hätte es den Wolf von den Füßen gefegt; doch als er fühlte, wie er unter dem mächtigen Druck des Windes nachgab, ging er rasch in die Knie und hielt sich an den Mauersteinen fest. Einen Augenblick später nahm er seine Kraft zusammen und nutzte die Hauptströmung des Sturmes, um sich auf die Beine zu kämpfen. Der Staub in der Luft warf den Großteil des Hexenlichts zurück, aber er konnte erkennen, welche der Fensterläden am Bogengang von innen aufgebrochen worden waren. Der große Vorhang schlug wie ein zerrissenes Segel im rei ßenden Strom. Er taumelte auf die Brustwehr zu und blickte hinun ter. Man konnte gerade noch den dunklen, unregelmäßig geformten Schatten eines Körpers ausmachen, der zusammengekrümmt am Fuß der Mauer lag. Kleine Ausläufer des Sturms, die als Wirbel von den Hofmauern abgetrennt worden waren, bauschten die ausgebreiteten blutigen Gewänder und zupften an den schwarzen, halb aufgetrenn ten Zöpfen des juwelenbesetzten Haars. »Hast du es deutlich gesehen?« Osgard reichte Nanciormis einen 586
Becher mit Wein. Der Kommandant zögerte einen Moment lang, und seine dunklen Augen schweiften von Osgards Gesicht zu dem von Sonnenwolf. Dann schüttelte er den Kopf und keuchte auf, als Kaletha die Wunde am Arm mit einem brennenden Sud aus Wein und Ringelblumen ausspülte. »Aber glaubt mir, ich bin nicht noch für einen besseren Anblick geblieben.« Sonnenwolf verschränkte die Arme und lehnte sich an den Ka minsims der Sonnenhalle zurück. Das letzte erschöpfte Wispern des Sturms erstarb. In der Stille klang Anshebbeths Schluchzen unange nehm laut. Als sie den bewußtlosen Nanciormis hereingetragen hat ten, war sie in hysterisches Geschrei ausgebrochen. Kaletha war, mit unordentlich den Rücken herabfließendem Haar, aus dem Nichts aufgetaucht, hatte ihrer Schülerin ein paar Ohrfeigen versetzt und sie verflucht, aus Eifersucht oder Ungeduld oder einfach nur, weil der Sturm an ihren Nerven zerrte. Gekränkt wimmerte die Gouvernante jetzt in einer Ecke vor sich hin. Während Kaletha sich vergewisserte, daß Nanciormis noch am Leben war – trotz seines Sturzes auf das Dach eines kleinen Säulen ganges und dann auf den Boden im Schutz einer Mauer – , waren Sonnenwolf und Sternenfalke behende wieder die Innentreppe hinauf und durch den engen Korridor zu Nanciormis Zimmer gerannt. Es überraschte sie nicht, dort nichts zu finden. Ein Stuhl war umgesto ßen und der bronzene Klapptisch ungestüm zur Seite gefegt worden. Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Boden. Sonnenwolf hatte es aufgehoben; es war eine Abhandlung über Falknerei gewesen. An der Steinwand zeigten ein verbrannter Fleck und ein Ring bernstein farbener Scherben, wohin die Lampe geworfen worden war, deren Flamme die Gewalt des Windes fast augenblicklich erstickt hatte. Staub und Abfall waren überall, weil man die Läden geöffnet hatte. Sonnenwolf hatte die Tür hinter sich zugezogen und verriegelt, und nur Sternenfalkes Anwesenheit an seiner Seite hatte ihn davon ab gehalten, wiederholt über seine Schulter in die Dunkelheit hinter sich zu blicken, bis sie wieder im Kerzenschein der Sonnenhalle gewesen waren. »Ich weiß nicht, was mich veranlaßt hat, aufzublicken«, sagte Nanciormis ruhig. »Ich konnte nicht schlafen, obwohl mich Stürme normalerweise nicht stören. Aber da war etwas – etwas Böses in diesem Zimmer… « Er sah kurz zu Sonnenwolf hoch und dann zu Kaletha, die 587
schweigend ihre Breiumschläge und Füllungen vorbereitete. Eine Falte furchte seine Stirn. »Was habt Ihr?« fragte der Wolf, und Nanciormis wich seinem Blick rasch aus. »Nichts«, log er. Selbst daß er nur knapp dem Tod entronnen war, schien seine Kaltblütigkeit nicht erschüttert zu haben. Er wirkte blaß und angeschlagen von seinem Sturz über die Brustwehr; aber umrahmt von den halb aufgetrennten Zöpfen und dem staubigen, offenen Hemdkragen hatte sein fleischiges Gesicht schon wieder die üblichen Züge angenommen. Incarsyn, der neben Osgard stand und dessen ungeflochtenes Haar ihm wie das einer Frau bis zu den Hüften hing, sah in dieser Krise über seinen Streit mit dem König hinweg und fragte leise: »Sprach es?« Der Kommandant blickte verblüfft zu ihm auf, als suchte er nach den richtigen Worten, um die Erinnerung an Entsetzen und Chaos auszudrücken. »Ich… ich weiß nicht genau. Ich glaube… « Er strich sich mit der Hand über den Mund. »Es… als es sich auf mich zube wegte, erkannte ich… ich wußte, daß ich in Gefahr war, aber es war wie ein Alptraum. Und als es sich bewegte, warf ich die Lampe nach ihm… « Er zögerte, blickte wieder zu Sonnenwolf, dann zur Seite. Der Wolf hatte gesehen, wie langsam Nanciormis auf Osgards be trunkenen Angriff auf Incarsyn reagiert hatte, und er war ein wenig überrascht, daß der Kommandant überhaupt davongekommen war. Offenbar sandte dieses Etwas – Zauberbann, Dämon oder Dschin – eine Warnung voraus, die zu fliehen erlaubte, wenn man überhaupt fliehen konnte. Anshebbeth bedeckte schaudernd ihre Augen mit den Händen und wisperte: »Oh, teure Mutter… « »Anshebbeth, halt den Mund!« zischte Kalethas Stimme. Son nenwolf registrierte, daß Kalethas Hände, obwohl Nanciormis sich rasch wieder erholt hatte, unkontrolliert zitterten. Sie ließ die Schere fallen und hob sie wieder auf, den Blick gesenkt. »Woher wußtest du, was zu tun war?« Osgard schenkte sich ei nen weiteren Becher Wein ein, aber es war nur eine automatische Geste; sein Gesicht war blaß vor Schrecken, und er wirkte nüchtern und krank. »Der letzte Sproß des Alten Hauses von Wenshar«, sagte Incar syn leise, »muß es wissen.« Kaletha warf Nanciormis einen scharfen Blick zu, doch dieser 588
schüttelte nur den Kopf. »Ich… ich weiß nicht genau.« Er zog das weiße Seidenhemd über den Verband. Darunter waren verschwom men die Muskeln seines Körpers zu sehen. »Aber, na ja, die Ge schichten, die ich darüber hörte – daß Männer den Hexen entkom men seien, indem sie in die Stürme hinausrannten. Auf diese Weise kamen sie natürlich auch häufig um; es war purer Zufall, daß ich auf die windabgewandte Seite der Mauer fiel.« Sonnenwolf runzelte die Stirn und ging die Angaben in Gedan ken durch. Er vermutete, daß man Nanciormis' Bericht nicht gänzlich trauen konnte, sah jedoch keinen Grund, weshalb der Kommandant in bezug auf seine Flucht hätte lügen sollen. Er war, wie Incarsyn sagte, der letzte Sproß des Alten Hauses. Der Wolf fragte sich, was Nanciormis wohl verheimlichte. Osgard fuhr sich über das stoppelige Gesicht. »Du wirst den Rest der Nacht hier verbringen«, sagte er. »Es… es scheint nicht zuzu schlagen, wenn mehrere Leute zusammen sind… « »Es hat Galdron und Milkom gemeinsam erledigt«, rief der Wolf in Erinnerung und stützte sich mit einem Arm auf den Kaminsims. »Obwohl es vielleicht nur einen wollte. Aber bis jetzt ist es auch nur zwischen Mitternacht und Tagesanbruch passiert. Jetzt schlägt es schon früher zu. Und wir haben keine Garantie, daß es das nicht ein zweitesmal versuchen wird. Es ist noch lange hin, bis es Tag wird.« Anshebbeth stöhnte und bedeckte ihr Gesicht mit langen, fein gliedrigen Fingern. Kaletha begann: »Also wirklich… « Sternenfalke warf ihr einen frostigen Blick zu und ging zu der Gouvernante hin über, um ihr tröstend die Hände auf die Schultern zu legen. »Ich ertrage das nicht«, wisperte Anshebbeth gebrochen. »Ich er trage es nicht… « »Aber Anshebbeth«, begann Nanciormis, dem die Aussicht auf einen weiteren hysterischen Ausbruch unangenehm zu sein schien. Das geschieht ihm recht, dachte Sonnenwolf mürrisch. Ein Mann sollte heimlich mit einer Frau schlafen und öffentlich davon Abstand nehmen können, besonders bei einer Frau wie Anshebbeth. Sie für ihren Teil wußte es, so verzweifelt es sie auch nach Trost verlangen mochte, sichtlich besser, als sich vor aller Augen in seine Arme zu werfen. »Ihr solltet jetzt besser auf Euer Zimmer gehen und etwas Schlaf nachholen.« »Nein!« wimmerte Shebbeth. »Ich möchte hierbleiben!« »Vielleicht ist es besser«, warf Sternenfalke taktvoll ein, »wenn Ihr bei Tazey bleibt.« Sie blickte den König an. »Wir sollten auch 589
Jeryn für den Rest der Nacht dort unterbringen. Ich werde Wache halten.« Anshebbeth sah verzweifelt und trostsuchend Kaletha an, doch diese schaute in eine andere Richtung und suchte hastig ihre Sachen zusammen, um zu gehen. Als Sonnenwolf ihr bedächtig aus dem Saal hinaus folgte, hörte er, wie Nanciormis zum König sagte: »Ich denke, wir sollten uns mal unterhalten, Osgard…« Der Wind schluchzte noch auf der engen Treppe, als Sonnenwolf hinaufstieg. Der Laut überdeckte fast das rauschende Wirbeln des seidenen Nachtgewandes hinter der Biegung über ihm und das Tap sen nackter Füße auf kaltem Stein, die in die Dunkelheit flohen. Als er Tazeys Zimmer erreichte, flackerten die Lampenflammen noch vom Windstoß eines hastig vorbeieilenden Körpers, doch das Mäd chen lag reglos auf dem Bett und gab vor, zu schlafen, das Gesicht unter den Händen verborgen. Sonnenwolf durchstreifte die Dunkelheit des leeren Viertels, bis der Morgen graute. Er spürte nichts Böses, keine Gefahr, obwohl ihm jede Faser seines Kriegerkörpers instinktiv mitteilte, daß etwas nicht stimmte. In den zwischen den zerbrochenen Mauern angehäuf ten Sandwehen suchte er nach Spuren dafür, daß Kaletha hier gewe sen war, doch er fand keine. Das hatte nichts zu bedeuten – die ner vösen Nachwirbel des Sturms konnten sie ausgelöscht haben. Ka letha hatte bis aufs Mark erschüttert gewirkt. Weil Nanciormis etwas gesehen hatte, dessen Existenz sie lieber leugnete? Weil deutlich zu werden begann, daß die magischen Sprüche der Hexen von Wenshar, so vorsichtig sie auch damit umging, Dinge enthielten, die außerhalb des Wissens und ihrer Kontrolle lagen – sie vielleicht sogar gegen ihren Willen für das Böse einnehmen könnten? Oder einfach nur, weil jemand einen Anschlag überlebt hatte? Warum Nanciormis? Als letzter Sproß des Alten Hauses von Wenshar könnte er Dinge wissen, die… Aber gab es denn ein Warum? Sonnenwolf begriff plötzlich, daß auch er zuviel wissen könnte, weil er immerhin ein Magier war – und ihn hatte man nicht angegriffen. Und der nüchterne, unvoreingenommene Teil seines Verstandes rief: Noch nicht. Die kalten Sterne verblaßten langsam vor der Schwärze des Himmels. Die Nacht wich dem Morgen. Von Lichtern erhellt, ragte die Festung über ihm im Halbdämmer auf; dahinter erhob sich, schwarz und stumm, das Massiv des Binnig-Felsens. Auf dem Ab 590
satz einer zerfallenen Lehmziegelwand stehend, breitete er die Arme aus und versank wieder in Meditation, schmeckte und roch die Nacht. Doch da war nichts, außer dem Atmen der Schlangen und den Träumen der Tauben. Als er in die kühle, gelbe Helligkeit des Morgens zurückkehrte, fand er Sternenfalke, Anshebbeth und Jeryn alle schlafend vor – und Tazeys Bett war leer. Eine Nachricht lag zusammengerollt auf dem Kissen. Sie war überschrieben mit ›Vater‹, doch er riß die rosa Haar schleife ab, die das Pergament zusammenhielt. Neben ihm wälzte sich Sternenfalke auf dem Bett schwerfällig zur Seite, die Augen von totengleichem Schlaf verschlossen – Sternenfalke, die sogar die Ehrennachtwachen des Klosters hatte halten dürfen, weil es ihr noch nie im Leben passiert war, daß sie auf Wache einschlief. Die Nachricht lautete: Vater – Ich habe Sternenfalke und Shebbeth in Schlaf gebracht, sei bitte nicht böse auf sie. Incarsyn hatte recht damit, mich von sich zu stoßen. Sonnenwolf und Sternenfalke haben recht. Ich bin eine Hexe und die Erbin der Hexen von Wenshar. Es ist alles meine Schuld – Nexué, Galdron und Norbas Milkom, Egaldus. Und Onkel Nanciormis. Ich weiß es jetzt, und ich schwöre Dir, daß es nicht wieder passieren wird. Bitte, bitte verzeih mir. Und bitte such nicht nach mir. Gib niemandem die Schuld – ich tue dies aus freiem Willen. Ich will nicht wie die Hexen von Wenshar werden, und ich weiß, daß es das ist, was sonst aus mir werden würde. Ich liebe Dich, Papa; bitte, glaub mir, daß ich Dich liebe. Ich ha be das nie gewollt. Ich wollte nie etwas anderes, als Deine Tochter sein und Dich lieb haben. Bitte sag Jeryn, daß ich weggegangen bin und auch ihn sehr lieb habe. Ich liebe Dich, und es tut mir so leid. Lebewohl Tazey
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13. Kapitel Im grausamen Glanz der späten Nachmittagssonne lag Wenshar wie ein riesiger Friedhof von Häusern da, denen es irgendwie gelun gen war, zum Fuß der geschwärzten Klippen zu kriechen, um dort zu sterben. Der Wind höhnte durch die zerfallenden Lehmziegelmauern, nicht einmal gestört vom Rasseln einer Klapperschlange; Staubteufel jagten umher wie irre Gespenster. Die wenigen Häuser, die sich rühmen konnten, noch ein Dach zu haben, starrten die zwei Suchen den aus Fenstern wie aus dunklen Augenhöhlen an. Sternenfalkes Stute scheute ohne sichtbaren Grund, riß den Kopf hoch und ließ die Ohren hin und her tanzen; die Frau beugte sich vor und strich ihr lautlos über den schwitzenden Hals. Sonnenwolf lauschte, konnte aber nichts hören – kein Echo aus einer der drei gewundenen Schluchten oder dem Felsenlabyrinth dahinter. Doch er wußte, daß sie da waren und warteten. Sie hatten auf ihn gewartet, seit er gegangen war. Wind rauschte in seinen Ohren, als er den Kopf seines Pferdes dem breiten Eingang der Hauptschlucht zuwandte. Sternenfalke folgte ihm wortlos; das blaue Leichentuch der Schatten bedeckte sie, als sie durch die enge Pforte des Eingangs ritten. In der brütenden Hitze der Schlucht stanken die Felsen nach Dämonen. Keiner sprach. Sie waren nun lange genug zusammen geritten, um keiner Worte mehr zu bedürfen; sie wußten beide, daß, was auch immer geschah, sie ihn vor allem nicht aus den Augen verlieren durfte. Nicht weit hinter dem Eingang der Schlucht führte ein schmaler Pfad eine Wand hinauf zu einer Art Straße oberhalb der ersten Ebe nen der mit Säulen versehenen Fassaden, die ihre Front bildeten. Als er zuletzt hier gewesen war, hatte Sonnenwolf sie erforscht. Entlang der Hauptstraße durch die Schlucht gab es stellenweise Knochenhau fen, wo Bergschafe, Gazellen oder streunendes Vieh von oben her untergestürzt waren. Nahe am Fuß des Pfades lagen einige Pferdeäp fel. Sie stammten von einem mit Hafer gefütterten Pferd, wie Son nenwolf sah, als er sie mit einem Stock umdrehte, nicht von einem Wildpferd, das sich von Weißdorn ernährt. Er zog seine Schleier fester über das Gesicht und begann sein eigenes Tier den schmalen Pfad hinaufzuführen. Weiter oben fanden sie die Spuren von be 592
schlagenen Hufen. Er verspürte weder Überraschung noch Triumph, daß seine Ver mutung richtig gewesen war. In gewisser Hinsicht war es der einzige Ort, an den Tazey gehen konnte, auch wenn sie nur vorhatte, sich selbst zu vernichten. Obwohl weder ihre Mutter noch ihre Großmut ter noch die Großmutter ihrer Großmutter die Dämonenstadt gekannt hatten, wußte sie, daß sie Teil ihres Erbes war. »Sie könnte oben oder unten sein«, sagte der Falke. Sie versuchte leise zu sprechen, doch ihre Stimme hallte von den engen Wänden wider. »Es gibt ein halbes Dutzend Wege hinunter zum Grund der Schlucht.« Sonnenwolf blickte über den Rand auf das herausgebro chene Pflaster, halb unter Unmengen von Kieselsteinen verborgen, das sich am ausgetrockneten Flußlauf dahinwand. »Wir bleiben hier oben.« Sternenfalke nickte. Keine Frage, daß sie sich nicht trennen durf ten – nicht in Wenshar. Zu Fuß, ihre nervösen Pferde am Zügel, gingen sie den Pfad hin auf. Sonnenwolf wußte von seinen früheren Erkundungen, daß der Pfad weder schmal noch besonders gefährlich war. Rosafarbene Türme und Kuppeln, sorgfältig von Hand aus dem Stein gehauen, ragten über ihnen und rings um sie her auf; hier und da führten Trep pen zu säulenbewehrten Eingängen unter Baldachinen aus Steinre ben hinauf. Sie traten mit ihren Pferden an den Rand des Pfades und schauten über die Schlucht zu schattigen Felsfalten hinüber, zu den blinden Türen und hinunter zum toten Oleander in den engen Tälern mit den weißen Knochenhaufen. »Weshalb?« fragte Sternenfalke leise. »Dämonen sind keine We sen aus Fleisch und Blut, oder? Sie können nicht essen, was sie tö ten, wenn sie töten.« Sonnenwolf schüttelte den Kopf. Als er dieses ruhige, reglose Gesicht in seinem weißen Schleiergeviert ansah, wußte er, daß sie nicht fühlen konnte, was er fühlte. Sie hatte vielleicht den Eindruck, beobachtet zu werden, aber nicht diese schreckliche Gewißheit, be kannt zu sein. Gerade noch in Hörweite konnte er das Wispern der Dämonen hören, wie der Schluchtwind, der in der Mähne seines Pferdes spielte, die Worte nur ein wenig zu leise, um verständlich zu sein. Er hatte Angst, intensiver zu lauschen. Seine Hand krampfte sich um die Zügel, die er hielt; unter den Schleiern lief kalter 593
Schweiß sein Gesicht hinunter. »Ich weiß nicht, was sie sind, Falke«, erwiderte er. »Ich weiß nur, daß es Beißdämonen sind, die einem körperlichen Schaden zufügen können. Jeder weiß, daß Dämonen die Menschen zum Ster ben in Sümpfe und Wüsten locken, aber… niemand hat je gesagt, wieso sie es tun.« Der Schrei ertönte im gleichen Moment, als sein gefleckter Wal lach panikerfüllt den Schädel hochriß. Das Leder der Zügel glitt ihm aus den Händen, und er griff nach dem Backenriemen am Zaumzeug. Von oberhalb des Pfades zerriß das Echo von Hufen die dichte, schattige Luft. Mit aller Kraft hielt er sein scheuendes Pferd, damit es sich nicht aufbäumte, so daß ihm keine Zeit blieb, sich umzuse hen. Der kleine Rotfuchs war über ihnen, bevor er oder Sternenfalke ausweichen konnten. Er sah die Stute aus den Augenwinkeln, wie sie mit wehender, flachsfarbener Mähne und blutenden Flanken herangeprescht kam. Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden. Er konnte knapp zur Seite springen, als sie schon gegen seinen Wallach prallte, wobei die wei ßen Augen in wildem Entsetzen rollten und Schaumflocken von der Schnauze gegen sein Gesicht spritzten, während er zwischen den zwei sich hochwuchtenden Körpern in einem verzweifelten Schlagen hackender Hufe verstrickt war. Die Hände an den Backenriemen und Ohren und der Mund trocken vom Staub der Pferdemähne, konnte er nichts anderes tun, als sich am Kopf seines eigenen Pferdes festzu klammern. Sternenfalke, die in Lebensgefahr zu großer Brutalität fähig war, hatte sich umgedreht, sich in das Zaumzeug ihres Pferdes gestemmt und zwang das tobende Tier gegen die zerklüftete Schluchtwand rechts von ihr und in die Knie. Halb zermalmt und halb auf die Beine gehoben, warf Sonnenwolf durch einen Wirbel aus Schleiern und Staub einen flüchtigen Blick auf sie. Die Stute war auf seiner blinden Seite, genau wie der Rand der Felsenklippen weit unten. Das Leder des Backenriemens schnitt in seine Hände, und er stemmte seine Füße auf den Boden. Eine Sekunde später hörte er ein Krachen, fallende Steine, das entsetzte Wiehern der Stute, dann ein Krachen irgendwo in der Schlucht unter ihm und abermals ein Kra chen. Dann nichts mehr. Er lockerte seinen Griff unter dem Kiefer des Wallachs, und das Tier riß mit einem wilden Schnauben seinen Kopf hoch, machte jedoch keine weiteren Anstalten, zu kämpfen oder zu fliehen. Das 594
Pferd stand zitternd, während er, der Wolf, seine Schleier zurück schob. Er befand sich noch auf dem Weg, nicht einmal in der Nähe des Abgrunds. Sternenfalke kam auf ihn zugeeilt, wobei sie ihr strauchelndes Pferd führte. Er wußte, daß, wenn sie es losgelassen hätte, um ihm zu helfen, sie wahrscheinlich beide Pferde verloren hätten. Obwohl es ihn tief im Innern ärgerte, daß sie ihm nicht zu Hilfe gekommen war, erkannte er grimmig, daß Sternenfalke nie das Wesentliche einer Sache aus den Augen verloren hätte. »Alles in Ordnung?« fragte sie. Er blickte an sich hinunter, staub- und schmutzbedeckt, wie er war, und sah, daß jetzt große, ungleichmäßige Schmierflecken vom Blut der Stute dazugekommen waren und sich alles mit Schweiß vermischt hatte. Er fuhr sich über das Gesicht. »Habe mich nicht mehr so gut gefühlt, seit ich das letztemal vom Bären traktiert wur de.« »Freut mich zu hören.« Mit dem Pferd am Zügel trat sie an den Rand der Klippe. Die Stute lag tot auf den Felsen unter ihnen. Etwas wie Hitzeflir ren schien über ihrem verkrümmten Körper zu tanzen; aber selbst zu dieser Nachmittagsstunde waren die Schatten der Schlucht sehr tief. Sie lag auf dem Rücken; ein dünner Schleier legte sich langsam über sie. Trotz der Tatsache, daß er wußte, wie unmöglich es war, daß Ta zeys Körper unter dem des toten Pferdes lag – abgesehen davon, daß sie ein viel zu guter Reiter war, um die zwanzig Meter bis auf die Felsen hinunterzustürzen – , schauderte ihn. Er warf Sternenfalke einen flüchtigen Blick zu. Sie schüttelte den Kopf. »Der Sattel war leer.« Er sah wieder auf die Stute hinunter. Blut lief über ihre Flanken, und Staub legte sich langsam darüber, bis ihr Körper fast völlig da von bedeckt war. Der Geruch stieg zu ihnen auf, das Staubwallen und die unvergleichlich trockene Süße von Salbei. Dann hob er den Kopf und sah Tazey, die vielleicht zwanzig Schritte entfernt stand. Sie stand, wo der Pfad sich um einen Felsvorsprung im bernstein farbenen Stein der Schluchtwand krümmte. Sie hatte die Hände ge gen den Mund gepreßt, ihr honigfarbenes Haar hing wirr und unver schleiert über das verblichene rosa Hemd, um die jungenhafte Reit hose, und die Stiefel waren staubig und zerschrammt. Als er sie sah, drehte sie sich um und lief davon. »Tazey!«
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Sie blieb stehen, ihr Gesicht ein verschwommenes weißes Oval im blauen Schatten der Felsen. Ihre Stimme bebte. »Bitte geht weg.« Sonnenwolf straffte sich und reichte Sternenfalke die Zügel sei nes Wallachs. »Sei nicht albern.« »Ich kann nicht.« Sie schluchzte schwer. Ihre Augen waren fast durchsichtig, von Ringen der Schlaflosigkeit umgeben, die sich tief in ihre Züge eingegraben hatten. »Ich will Euch nicht weh tun.« »Ich bezweifle, daß Ihr es könnt, Tazey.« Er ging auf sie zu, ganz langsam, um sie nicht zu erschrecken, aber sie floh nicht vor ihm. Die brütende Stille der Stadt drückte auf sein Gemüt, wie die Toten, die ihnen mit offenen Augen aus ihren Gräbern zusahen. Gleichzeitig empfand er das seltsame, grausige Prickeln einer anderen Warnung, der er sich schon seit Mittag bewußt war. »Heute abend zieht wieder ein Sturm auf, wißt Ihr… « »Ich weiß«, sagte sie leise. »Ich dachte…« Ihre Stimme brach. »Mit dem Sturm hat es angefangen. Ich hätte niemals versuchen sollen, ihn aufzuhalten.« »Da Ihr damit das Leben von Falke und Euer eigenes gerettet habt, bin ich froh, daß Ihr es getan habt.« Er erreichte sie. Er spürte, wie ihr ganzer Körper zitterte, als seine Hand ihre Schultern berühr te. Sie war so anders, so verschieden von dem bezaubernden Mäd chen, das den Kriegstanz aufgeführt hatte, daß es ihm fast das Herz brach. »Warum solltet Ihr mir weh tun, Taswind?« Sie schüttelte kläglich den Kopf. Tränen liefen über den Staub auf ihrem Gesicht. »Ich weiß nicht!« Sie wischte sie ab und strich sich die wirren Strähnen aus der Stirn, dann sah sie ihn an. »Ich will es nicht, nicht… nicht absichtlich. Die Hexen von Wenshar… « »Dann habt Ihr also Kalethas Bücher gesehen?« erkundigte sich Sternenfalke nüchtern und trat mit den zwei Pferden am Zügel neben sie. Das Mädchen hielt plötzlich inne. In ihren gehetzten Blick trat Verblüffung anstelle der Verzweiflung. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich…« Sie schluckte, und Angst und Kummer kehrten zu rück; mit ihnen kam ein Wissen, das kein sechzehnjähriges Mädchen ertragen sollte. »Die Hexen von Wenshar -Onkel Nanciormis hat mir immer von ihnen erzählt. Er weiß was über sie, genau wie Mutter etwas wußte. Er sagte, daß beim Familienkult, dem Hexensabbat… Sie wußten nicht immer, daß sie es waren, wißt Ihr. Leute, die sie haßten, Leute, die ihnen in die Quere kamen, Leute, die ihnen den Weg verstellten, mußten sterben, aber sie… aber sie wußten zuerst 596
nicht, daß sie selbst es taten. Sie wußten nicht, daß sie die Macht hatten. Erst später, als sie es akzeptierten und sie einsetzten… Aber es fängt mit Träumen an… « Sie holte tief Atem, versuchte sich zu fassen und fuhr sich wieder übers Gesicht, verwischte den Schweiß, die Tränen und den Staub zu braunen Flecken auf ihren Wangen. Ihre Finger zitterten; sie faltete sie, verhakte sie fest ineinander, damit sie still blieben. »Ich hatte Angst, daß es das war, was passierte, als… als der Bischof… und Vaters Freund passierte genau das gleiche. Ich hatte nichts gegen Egaldus, überhaupt nichts, aber es war soviel Macht in der Luft in jener Nacht, soviel… soviel Gewalt. Ihr habt es gespürt. Ihr wißt es. Es hätte jeder sein können. Ich habe furchtbare Dinge geträumt… « Grüne Augen starrten zu dem seinen empor. »Ich will nicht wie die Hexen von Wenshar werden. Ich wollte es nie. Und dann Onkel Nanciormis… « »Wenn Ihr mich fragt«, bemerkte Sternenfalke trocken, »ist On kel Nanciormis der einzige, der verdient hätte, was ihm beinahe zugestoßen wäre.« »Sagt das nicht!« wisperte Tazey heftig. »Ich… « Sanft sagte Sonnenwolf: »Ich dachte, Ihr mochtet Nanciormis.« Ihre Stimme wurde zu einem erstickten Seufzer. »Ja.« Sie preßte die Hände auf den Mund. »Ich tat es. Ach, ich weiß nicht. Er… « Mit behutsamer Festigkeit legte Sonnenwolf den Arm um ihre Schultern. Auf dieser Höhe des Weges gab es keine Häuserfronten, und es wäre ohnehin nicht sicher gewesen, in eines hineinzugehen; aber unweit der großen, herausragenden Nase aus erodiertem Gestein hatte man unterhalb eines Blumengewindes aus Steinlilien eine Bank in eine Nische gehauen. Er setzte sich und drückte sie tröstend an sich, bis ihr Zittern aufhörte. Schließlich gelang es ihr zu sagen: »Onkel Nanciormis… kam letzte Nacht zu mir, nachdem… nachdem Incarsyn… « Sie blickte auf und schüttelte sich wieder das Haar aus den Augen. »Er… er sagte Dinge zu mir. Er… er… er… « Die Worte versagten ihr. »Darüber, eine Hexe zu sein?« Sie schüttelte heftig den Kopf, zu rasch, dachte Sonnenwolf. »Aber ich… ich haßte ihn danach. In derselben Nacht… nur Stunden später… « Wieder schüttelte sie den Kopf, und ihr Haar glitt trocken über sein unrasiertes Gesicht, wobei Tränen ihre schmutzi gen Wangen hinabliefen. »Es wächst in mir, Sonnenwolf, und ich will nicht so sein! Ich habe solche Angst. Jeder wird manchmal wü 597
tend auf Leute. Ich auch. Aber seit dem Sturm, seit ich eine Magierin bin… « Sie klammerte sich verzweifelt an ihn und schluchzte in die staubigen Kopfschleier, die in einem Wirrwarr über seine Schulter lagen. Er strich dem Mädchen über den Rücken und wiegte es wie ein Kind, während er darauf wartete, daß das Schluchzen nachließ. Schließlich fragte er: »Tazey, sagt mir eines. Seid Ihr Euch be wußt geworden, Euren Haß gelenkt zu haben? Oder glaubt Ihr nur, es gewesen zu sein, weil Ihr einige der Leute, die gestorben sind, zu der Zeit gerade gehaßt habt?« Sie hob den Kopf von seiner Schulter, die Augen gramerfüllt. »Onkel Nanciormis… Man muß es nicht wissen. Man muß es nicht absichtlich tun. Man sieht es nicht mal in seinen Träumen, anfangs nicht, sagte er. Ich muß es gewesen sein. Es passiert erst seit dem Sturm.« »Nein, das stimmt nicht«, sagte Sonnenwolf ruhig. »Am ersten Morgen, den ich in Tandieras war, fand ich einige tote Vögel im leeren Viertel. Schon damals wuchs etwas heran, noch bevor Ihr Euch Eurer Kräfte bewußt wurdet.« Er blickte auf ihr Gesicht hinun ter und wischte ihr mit einem schmutzigen Daumen die verschmier ten Tränen unter den Augen ab. »Es war erst klein – es konnte noch keinem Menschen schaden. Später, glaube ich, spürte Sternenfalke etwas, das vielleicht auf sie oder auf mich gerichtet war – vielleicht auch nur frei im Dunkeln umher wanderte. Aber jetzt ist es ausge wachsen.« Er strich ihr die wirren Locken aus dem Gesicht. »Sagt mir noch eines, Tazey. Wußte Eure Mutter vom inneren Kult der Frauen von Wenshar?« Lange Zeit saß sie still, die Augen auf die Messingknöpfe seines Wamses gerichtet. Aber seine Worte über die toten Vögel und das Etwas, das Sternenfalke in jener Nacht am Tor gespürt hatte, schie nen ihre Wirkung zu haben. Als sie sprach, war ihre Stimme leise, aber ruhig: »Ich weiß nicht. Mutter starb, als ich sieben war. Mein Onkel erzählte mir, daß… daß Mädchen in der Familie erst in den Kult eingeführt wurden, nachdem sie ihre erste Periode hatten. Des halb weiß ich es nicht.« »Glaubt Ihr, daß sie davon wußte?« Wieder trat ein langes Schweigen ein, in dessen Verlauf der Wind leise durch die Schluchten strich und die Pferde nervös ihre Ohren aufstellten. Schließlich sagte Tazey: »Mutter war – wie der Vater immer sagt –, Mutter war süß und gut und nett. Aber…« Sie hob den Blick zu ihm. »Ich weiß nicht, ob es bei Männern genauso 598
ist wie bei Frauen. Aber wir… ich weiß, daß wir… daß Frauen… zwei oder drei Dinge auf einmal sein können, ich meine, wirklich sein können. Ich weiß, was ich tief in meinem Innern bin, und es ist… es ist nicht, wie ich mit Leuten sein will. Und die Dinge, die ich nachts denke und träume und will, sind nicht die Dinge, die ich tags über will.« Sie verstummte. Sonnenwolf nahm sie wieder in den Arm und hielt sie wie ein Kind, aber seine Gedanken beschäftigten sich jetzt mit anderen Dingen. Der Wind trug das brennende Wispern von Staub heran, das Prickeln des aufziehenden Sturms und den süßli chen Nachgeschmack des Blutes der toten Stute, das immer noch seine Kleidung beschmutzte. Während der Großen Prüfung hatte er in die Tiefen seiner eigenen Seele gesehen, und ein kurzer Blick auf das, was dort lauerte, hatte genügt, um ihn zu überzeugen, daß es nichts gab, was wahrhaft unvorstellbar war. In seine Arme geschmiegt, wisperte Tazey: »Wir sollten jetzt ge hen. Wir können es zurück nach Tandieras schaffen, bevor der Sturm aufzieht, wenn wir jetzt losgehen. Ich… ich habe kein Pferd…« »Ihr könnt Euch mit Falke eines teilen«, sagte der Wolf leise. »Was auch immer geschieht, der Schlüssel dazu liegt hier, in Wens har.« Er blickte zu Sternenfalke hoch, die schweigend, ihre Schulter gegen die geschnitzte Sandsteinsäule der Nische gelehnt, dastand. »Das Morden wird erst aufhören, wenn wir wissen, weshalb es ange fangen hat. Ich bleibe die Nacht über hier.« Die Vorbereitungen für die Rückkehr durch die Wüste waren schnell getroffen. Sternenfalke und Tazey würden langsamer als gewöhnlich vorankommen, da sie sich ein Pferd teilen mußten, dach te Sonnenwolf, und der Sturm würde irgendwann vor Mitternacht losbrechen. Während Tazey die Wasserbeutel in den Felszisternen nahe am Fuß der Schlucht füllte, ging Sternenfalke noch einmal zu der Stelle hinauf, wo der Wolf auf dem erodierten Stumpf einer zerbrochenen Balustrade saß, die aus dem Sandstein der Klippe gehauen war. Beim Klang ihrer Stiefel auf dem Kies sah er auf. »Was hast du?« fragte sie leise, und er schüttelte den Kopf, unsicher, wonach er im Mur meln des Windes zwischen den Felsen eigentlich gelauscht hatte. Die Luft atmete schon den Geruch des Abends, obwohl der Himmel über den Rändern der Schlucht noch wie polierter Stahl wirkte. Vielleicht hatte ja auch nur der Wind die Geräusche verursacht. Sie kauerte sich neben ihn. »Hauptmann«, sagte sie mit einer 599
Stimme voll Gleichmut. »Ich habe bei alledem ein schlechtes Ge fühl.« Er blickte nicht zu ihr hinunter, sondern behielt die Schlucht im Auge, aber er spürte die Berührung ihrer Schulter an seinem Schen kel. »Meiner Schätzung nach zieht das Zentrum des Sturms nach Süden weiter, über die Wüste«, sagte er. »Selbst wenn du es nicht mehr bis zur Festung zurück schaffst, sollte Tazey imstande sein, für euer beider Sicherheit zu sorgen.« »Das ist es nicht. Erinnerst du dich an damals, als wir während der Belagerung von Laedden beim Ausbruch der Pest in der Stadt gefangen waren? Erinnerst du dich noch an die Menge im Hof, die diesen einfältigen Jungen, der immer Kreidebilder auf das Pflaster zeichnete, lynchen wollte, weil jemand sagte, er sei schuld?« Sonnenwolf nickte. Er hatte seinen Männern befohlen, sich aus dem Streit herauszuhalten, als zwei von ihnen den Jungen retten wollten, wohl wissend, daß allein der Versuch schon ihrer aller Tod bedeuten konnte. Sie hatten sich in einer mit Brettern vernagelten Taverne befunden. Der Inhalt der Flaschen auf dem Regal hatte ihnen auch nicht viel weitergeholfen. Sternenfalke fuhr ruhig fort: »Das gleiche Gefühl hatte ich wie der vorige Nacht im Saal. Wenn Nanciormis sich mit Hexen aus kennt, verwette ich mein letztes Hemd, daß er nicht der einzige ist.« Der polierte Glanz der Wüste kam ihm wieder in den Sinn, die sandige Rohheit des Windes, der um die Mauern des Wachhauses gepfiffen war, als er, Kaletha und Tazey beobachtet hatten, wie sich die weiße Staubsäule aus dem Süden näherte. Die einzigen mit magi scher Begabung, die in Wenshar noch übrig sind, hatte er gedacht: er, die Frau und das Mädchen. »Um so mehr Grund für dich«, sagte er bedächtig, »ein Auge auf Tazey zu haben, wenn ihr wieder zurück seid.« Sternenfalke nickte; daran hatte sie auch schon gedacht. »Wenn du wiederkommst«, sagte sie nach einer Weile, »geh nicht durch die Tore. Kehr durch das leere Viertel zurück; da ist ein alter Durchgang im hinteren Teil. Warte auf mich in der Zelle hinter der, in der wir gewohnt haben. Das ist nahe genug, damit wir, wenn es Ärger gibt, uns schnell unsere Sachen und das Geld schnappen können, das wir hinter dem losen Ziegel verstaut haben – und dann nichts wie weg.« Er wandte den Kopf und musterte die Frau, die neben ihm kauer te und geschmeidig und sicher auf stiefelbewehrten Zehen balancier te, die Hände, so lang wie die eines Mannes, wenn auch schmaler, 600
über Kreuz. Ihr Gesicht war wie üblich ausdruckslos, mit Ausnahme der sich hinter den zinnfarbenen Augen regenden Gedanken. »Glaubst du, daß es dazu kommen wird?« »Ich habe keinen Grund dazu, nein«, erwiderte sie. »Aber man sollte es nicht erst darauf ankommen lassen.« Sie erhob sich in einer einzigen, anmutigen Bewegung. Sie würde ihm in die Kalten Höllen und zurück folgen – hatte es sogar schon getan –, aber er hatte den Gedanken daran, daß sie jemals Angst um seine Sicherheit zeigen könnte, seit langem aufgegeben. »Glaubst du, wenn du die Nacht hier verbringst, erfährst du, was dahintersteckt?« »Vielleicht nicht. Aber es ist sicher wie die Hölle, daß ich irgend etwas erfahren werde.« Das Zwielicht kam früh in die Schluchten, gefilterte Düsterkeit vertiefte sich in den Labyrinthen der rissigen Felswände, während die Sonne noch auf den Staub herunterschien, den Sternenfalke und Tazey aufwirbelten. Am Fuß der Hauptschlucht fand Sonnenwolf einen kleinen Tempel, dessen inneres Heiligtum leicht mit Schotter und Sträuchern verbarrikadiert werden konnte. Er verbrachte eine Stunde damit, es mit jedem Zauberspruch zu sichern, den er kannte, mit den Kreisen des Lichts und der Finsternis und sämtlichen Ab wehrrunen. Er wußte nicht, ob richtig war, was er tat, aber er arbeite te langsam und vorsichtig und konzentrierte all seine Kräfte auf diese Aufgabe. Er fühlte sich erschöpft, als er fertig war, als hätte er eine körperliche Arbeit verrichtet, und es verwirrte ihn, festzustellen, wieviel Zeit ihn das gekostet hatte, als er zu dem verblassenden Spalt Helligkeit weit über ihm hinaufblickte. Er tränkte sein Pferd in einer der zerbrochenen Zisternen in der Westschlucht, fütterte es, dann fesselte er ihm die Vorderläufe und band es im Heiligtum fest, ver barrikadierte die Tür und kritzelte Zeichen um Zeichen auf die Bar rikade – jene der Wachsamkeit, der Illusion und des Lichts. Im Halbdunkel dieser stillen Felskorridore ging er durch die Hauptschlucht zum Palast an ihrem Ende. Nichts wisperte ihm diesmal aus den schwarzen Höhlen der lee ren Türen und Fenster entgegen; nur Schweigen wartete in der ewi gen Dunkelheit unter den unförmigen Zypressen. In den tiefer wer denden Schatten schien die geschnitzte Fassade, die sich über dem Schluchtende erstreckte, die Farbe von getrocknetem, altem Blut zu haben. Er stieg die Treppe hinauf. Hier, allein in der stillen Stadt, hatten die Eroberer von jenseits der Berge mehr getan, als einfach nur Tü 601
ren aufzubrechen und zu plündern. Eine Doppelreihe kauernder Statuen, Löwen und Leoparden, wie es schien, hatten die Treppe bewacht. Ihre Köpfe und Vorderläufe waren vorsätzlich abgeschla gen worden – nicht nur abgeschlagen, sondern pulverisiert, denn es fanden sich keine zerbrochenen Stücke auf den sandverblasenen Stufen. Ein Tier hatte noch einen Teil seiner Klaue. Sonnenwolf sah, daß es eine Frauenhand gewesen war. Es war für ihn keine Frage, wohin im Palast er sich wenden muß te. Die kleine Tür rechts von der großen Eingangshalle lockte ihn an, wie der Zugang zu einem Grab, das man in Alpträumen sieht und von dem man weiß, daß es das eigene ist. Er hatte gehört, wie Ster nenfalkes Stimme ihm aus der finsteren Nacht zurief. Hier war nur noch Stille, mit Ausnahme des schwachen Widerhalls seiner Schritte und des fernen Murmeins der Winde außerhalb. Als Magier konnte er deutlich in die Dunkelheit des dahinterlie genden Ganges sehen, trotzdem zog er das Hexenlicht zu Rate. Von den verblichenen Fresken an den Wänden blickten Frauenaugen auf ihn herab – finster, wissend, amüsiert. Ein Raum öffnete sich vor ihm, und er blieb auf der bemalten Schwelle stehen, als ihm der Pesthauch des Bösen ins Gesicht schlug. Ich sollte nicht hier sein, dachte er, als ihm das Herz stockte und wie besessen zu hämmern begann. Ich sollte SCHLEUNIGST von hier verschwinden und einige Kreise um mich selbst ziehen… Aber das war töricht. Wenn er das tat, würde er nichts erfahren, weder über Tazey noch über dieses seltsame Gefühl, daß er es war, den sie wollten… Wozu? Der Raum breitete sich vor ihm aus. Jeder Schritt der scheunen gleichen Leere lag verlassen da. Im blauweißen Schein des Hexen lichts schien der Raum zu sagen: »Siehst du? Hier gibt es nichts zu fürchten.« Doch da war dieser Geruch, so scharf und schrecklich wie der Geruch von Blut. Rasch und flach atmend und mit in dreißig Kriegsjahren ge schärften Instinkten, die ihm den Magen umdrehen wollten, betrat er langsam den Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Tür in eine Wand eingelassen, die versperrt und uralt war. Auf halber Höhe der langen Kammer hatte einst ein Steinaltar gestanden, aber nur das Fundament war noch übrig. Wie die Statuen draußen, war auch er gewaltsam zerstört worden; doch als er sich zwang näherzutreten, sah Sonnen 602
wolf, daß selbst jene, die das getan hatten, zu ängstlich gewesen waren, um lange genug in diesem Raum zu bleiben, damit es zu Ende geführt werden konnte. Fragmente seines Frieses waren noch zu sehen. Ihn schauderte, und er wandte den Blick ab. Lady Illyra hatte ihm nicht von den Gebräuchen der inneren Kul te der Shirdarhäuser erzählt, aber auch ohne davon gehört zu haben, wußte er, daß dieser Raum ihr Tempel gewesen war. Was immer sie getan hatten, sie hatten es hier getan. Vor dem Altar war ein mehrere Schritte tiefer Graben in das Felsgestein geschlagen, dessen Boden jetzt der Schutt und Abfall von Dekaden bedeckte. Hier, dachte Sonnenwolf haßerfüllt und wurde fast gegen seinen Willen an dessen Rand gezogen. Hier. Er kniete sich auf den Boden und vergewisserte sich der Stabilität des Randes. Dann holte er tief Atem und sprang leichtfüßig in die Grube hinunter. Als wäre sie ein mit unsichtbarem Wasser gefüllter Brunnen, spürte er die Anwesenheit von Dämonen. Er nahm sie durch die Stiefelsohlen unter seinen Füßen wahr, spürte, wie sie sich Leuchtfi schen gleich in den Felswänden ringsumher bewegten. Als er nieder kniete, um die Handflächen auf den Schotter des Bodens zu pressen, krümmte sich seine Seele unter ihrem Einfluß, als hätte er heißglü hendes Eisen berührt. Durch seine Hände fühlte er ihr Wispern in seinen Gedanken, be deutungslose Geräusche wie das gutturale Murmeln des Wirides unter der Erde. Sein Begreifen schrak vor ihnen zurück, hielt Ab stand zu ihnen wie ein Liebender, der es nicht wagt, sich einer zu tiefen Ekstase zu überlassen. Dann beugte er den Kopf, und seine langen, dünnen Haare fielen ihm über das Gesicht. Er zwang sich dazu, sich zu entspannen, zu lauschen. Wie erwartet kannten sie seinen Namen. Es war nur eine Berührung; sofort verschloß er seine Gedanken vor ihnen, stand rasch auf und schüttelte sich, als hätte er sich ver brannt. Als er hinunterblickte, sah er ein schmutziges Glühen, das wie Grundwasser langsam durch den Kies unter seinen Stiefeln an stieg. Er sprang hoch, erwischte den Rand der Grube und schwang sich hinauf. Irgendwie hatte das Hexenlicht rings um ihn her versagt, aber jede Faser im Gestein der Tempelmauern und jeder verkrümmte Schatten des zerbrochenen Altars schien von etwas zu glühen, das kein Licht war. Unter sich sah er sie jetzt deutlich in der Grube. Sie 603
sickerten aus der Erde heraus und starrten ihn mit kalter und leerer Weisheit in den Augen an. Er wich ein paar Schritte vom Altar zurück, wollte davonlaufen, doch sein Verstand wußte, daß es dazu viel zu spät war. Kein Kreis, den er ziehen konnte, würde jetzt noch stark genug sein. Wie Kristallskelette von Gespenstern schwebten sie in der Luft über dem Graben. Hohngelächter flackerte an den Rändern seines Bewußtseins auf. Ihm schien, als seien darunter auch Kalethas ver ächtliche Stimme, das heisere Brüllen seines Vaters und Osgards betrunkenes Nuscheln. Andere Stimmen drangen durch – das Ki chern von Altiokos, dem Zauberkönig, und das sarkastische Lachen Sheeras von Mandrigin. Wie schwarze Flüssigkeit, die aus der Dun kelheit seiner Träume an die Oberfläche sprudelt, spürte er wieder den alten Haß, die alte Wut, und vergangener Unmut stieg bei diesen Lauten wieder in ihm auf. Die Dämonen glühten stärker. Ihr Ring um ihn herum begann sich zu schließen. Andere Dinge gingen ihm durch den Sinn, ein pestilenzartiger Gestank troff von den Wänden seiner Gedanken – dunkle Lüste und die Erinnerungen an Frauen, die er in der Raserei und im Triumph der Einnahme einer Stadt unter den Nachwirkungen einer Schlacht vergewaltigt hatte. Dinge kehrten zu ihm zurück, Dinge, von denen er wußte, daß er sie getan hatte, grausam und dumm und bestialisch – Dinge, die er getan hatte, weil er bei den Kämpfen dem Tod bis auf die Haut nahegekommen war und sein Geist nach Macht verlangt hatte, wie der Körper eines Sterbenden nach dem Lebenssaft ver langt. Aber jetzt sah er diese Dinge nicht mit Entsetzen darüber, was er anderen menschlichen Wesen angetan hatte, sondern als den blo ßen Vorgeschmack eines Tieres, das Blut geleckt hat. Als er hochblickte, sah er die Augen der Dämonen rings umher. Sie waren gelb, genau wie sein eigenes übriggebliebenes Auge. Sie waren kalt gewesen, doch jetzt, als sie sich enger und enger um ihn schlossen, glühten diese geschrumpften, spinnenartigen Gliedmaßen im Widerschein der Wärme. Nicht länger völlig durch sichtig, zeigte das schwache Ektoplasma blasse, blutende Farben, wie Wasserfarben, mit denen man Glas bemalt. Ihre Münder öffne ten sich, und er sah all diese gespenstischen roten Zähne, als hätten sie an lebendem Fleisch gerissen. Wie ein einziger Laut, der von tausend bronzenen Hohlräumen widerhallte, hörte er sie wispern: Nimm es. Es gehört dir. 604
Macht strömte wie der Hitzepuls der Lust durch sein Fleisch – die Macht, zu zermalmen und zu zerreißen, die Macht, die Winde zu teilen. Er sah sich, wie er Osgard ins Gesicht schlug, nur um des Vergnügens willen, ihn sich krümmen zu sehen; spürte das heiße Verlangen, die Bücher dieses Luders Kaletha zu nehmen und zu behalten, nicht weil er sie wollte, sondern weil sie sie wollte; die Frau zu besitzen und wegzuwerfen wie das billige Spielzeug, das sie war; eine Stadt zu Fall zu bringen, wenn er es wollte, und zuzusehen, wie ihre fetten bürgerlichen Jammerlappen ihm Gold, Frauen und mehr Macht anboten – Macht um ihrer selbst willen, damit sie wie Branntwein sein Blut wärmte – die Macht jener von magischer Ab stammung. Es gelang ihm zu wispern: »Nein.« Diese zerbrechlichen Finger berührten ihn. Die Gier nach Macht packte ihn, seinen Bauch, seine Lenden, seinen Geist, und die Dä monen schrien tausendfach auf ihn ein. Sie waren hungrig, und ihr Hunger brannte in seinem Fleisch wie Feuer in trockenem Reisig. Nähre uns, wisperten sie, und wir werden dich nähren. Wieder schrie er: »NEIN!« Und diesmal hallte seine heisere Stimme, rauh wie das Krächzen eines Geiers, vom Steindach wider und durch sämtliche bemalten Gänge der Dunkelheit. Er wandte sich vom zerbrochenen Altarstein ab, rannte blindlings durch die Innentür und stolperte in den schwarzen Korridor dahinter. Die Dämonen verfolgten ihn in einem leuchtenden Nebel, wie gierige Hunde, die den Geruch seiner Angst witterten. Er spürte sie überall in der Dunkelheit ringsumher. Doch selbst als er mit vor Entsetzen wild schlagendem Herzen vor ihnen flüchte te, bewahrte Sonnenwolf noch die kalte Kampfesruhe, die ihm schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Er wußte, daß er sich nach links wenden und den Weg zurück zur großen Eingangshalle freikämpfen mußte; und während er durch stille Kammern und Gänge floh, die mit seltsamen, steifen Szenen tierköpfiger Frauen bemalt waren, die mit bloßen Händen Rehkitze und Hasen entzweirissen, wurde ihm klar, daß man ihn wie ein Wild jagte. Stimmen pfiffen aus der Dunkelheit auf ihn ein, Stimmen, die ge spenstisch zu denen verschmolzen, die er so gut kannte – die von Sternenfalke, Tazey und Jeryn. Andere Stimmen wisperten und lach ten ihn von den Fresken der Wände aus an, die Königinnen und Prinzessinnen der Alten Häuser von Wenshar, die ihn mit nackten 605
weißen Brüsten und flutendem Haar aus der gemalten Unsterblich keit der Wände verhöhnten. Es gab noch andere Dinge in der Dun kelheit – Böses, das in den Winkeln hockte und zahlreiche Gänge ausfüllte – , doch er verschloß seinen Geist und rannte hindurch, in dem Bewußtsein, daß er sich um nichts auf der Welt in die Ecke drängen lassen durfte. Unter Einsatz seines Lebens mußte er verhin dern, daß ihn diese dürren, fleischlosen Finger und der laue Honig der Dämonenmacht berührten. Keuchend stürzte er in die offene Dunkelheit hinaus; Sternenlicht funkelte zwischen Säulen, kaum sichtbar im stygischen Glühen. Die Wüstennacht, gewöhnlich so kalt, war süßlich-warm auf seiner Haut, und Staub stieg ihm in die Nase. Der Sturm, dachte er verzweifelt, als er noch über die offene Dunkelheit des Bodens hinwegflog. Wie ein verfaulter Granatapfel, der Fliegen ausspeit, entließ die Dunkelheit um ihn herum Dämonen. Sie stiegen aus dem Boden vor ihm und materialisierten sich aus den Wänden. Die Farbe ihres Fleisches glühte, als sie seine Ängste tranken und sich an ihnen wärmten. Ihre Zähne rissen an seinen Händen und seinem Gesicht. Im Sternenlicht sah er, noch mitten im Sprung, das schwarze Glitzern fließenden Blutes. Er hatte ihnen das Recht verweigert, sich an seiner Macht zu la ben. Für sie war er jetzt nicht mehr als die Stute, die sie über die Klippe gehetzt hatten, um seine Angst und seinen Schmerz zu schü ren. Sie waren imstande, zu töten; soviel wußte er jetzt. Das Rätsel von Wenshar fügte sich in seinem Kopf mit entsetzlicher Klarheit zusammen – welchen Kult die Frauenbetrieben hatten und wie ihre Macht wiederentdeckt worden war. Er jagte die Treppe hinunter, lief, wie er noch nie zuvor gelaufen war, mit in seinen Lungen brennender Sturmhitze der Nacht, wissend, daß es trotz aller Anstrengungen keinen Ausweg gab. Immer noch lief er, stolperte auf dem zerborstenen Weg im ge spenstischen Schatten der Felsnadeln und der schwarzen Zypressen, hörte das schwache Keckem des Lachens auf seinen Fersen und beanspruchte jede Sehne seines Körpers, um sich Minuten, Sekunden zu erkaufen… Er erinnerte sich an Nanciormis, der im Schutz der Mauer gele gen hatte, als Incarsyn sagte: »Der letzte Sproß des Alten Hauses von Wenshar muß es wissen… « Sein Geist griff hinaus und fand den Sturm. 606
Wie eine panische Herde von Wildpferden brach er herein, ange lockt von der Macht eines Magiers und nur zu bereit, seinem Ruf zu folgen. Sonnenwolf spürte, welche Richtung er nahm, wie er aus dem Westen heranschnellte, und wußte, daß er die freie Ebene errei chen mußte. Hier in den Schluchten war er nicht mehr als ein Wind hauch. Das Dämonenglühen flackerte hell im Winkel seines Auges auf, und etwas riß wie ein Dornenkamm an seinem Arm; die Mus keln seiner Schenkel und Knie brannten, seine Brust schien bis zum Bersten mit heißem Salz gefüllt und der Boden zwischen seinen stampfenden Füßen ein lockerer Teppich aus kleinen Löchern und rollenden Steinen zu sein. Das schwarze Gewicht des Sturms dröhnte in seinem Kopf. Er dachte an die reißenden Steine, den Schotter und würgenden Staub; er dachte daran, was passieren würde, wenn er den Schutz der Rui nen unterhalb des Eingangs der Schlucht nicht erreichte. Aber Nan ciormis hatte richtig gehandelt, sich über die Brustwehr zu stürzen; Tazey hatte recht gehabt; und der kauzige alte Galdron, der sich immer in selbstzufriedener Rechthaberei über den seidigen Bart gestrichen war, hatte recht gehabt. Es war besser zu sterben, als zu tun, was die Hexen von Wenshar getan hatten. Jetzt war seine einzige Chance zu entkommen. Die Dämonen erwarteten ihn am Ausgang der Schlucht. Er stieß den alten Schlachtruf seines Stammes aus, als er die Stelle zu Tode erschöpft erreichte. Er spürte, wie die Zähne der Dämonen sich um seine Kehle und Kiefer schlossen, wie Klauen seine Arme packten und durch die Ärmel am Fleisch darunter rissen. Sie entzogen ihm die Hitze seines Blutes, und er hatte ein Gefühl, als fiele er nackt in eiskaltes Wasser. Seine Knie gaben nach, aber er zwang sich, nicht zu stürzen, wie er sich einunddreißig Jahre lang zu Schlachten und Gemetzel gezwungen hatte. Ihm blieb nichts weiter übrig, als zu laufen, den von Sand durchsetzten Sturmböen entgegenzulaufen… Schmerz schoß durch sein Bein, und er ging zu Boden. Kies riß an seinem Fleisch, als er sein Gesicht in den Armen vergrub. Wie Rasiermesserklingen zerrten Zähne an seiner Schulter und kratzten ihm über den Rücken; Klauen scharrten an der Hand, mit der er sein Genick bedeckt hielt. Dann verfing sich heißer Wind in seinem Haar und seiner Kleidung, und die Wut des Sturms traf ihn – er raubte ihm den Atem, trieb ihm die Tränen in die Augen und reizte ihn zum Würgen. Er spürte, wie sich die Dämonen von seinem Rücken lösten, als 607
wären es Flöhe, die man einem Hund aus dem Fell zupfte. Vor Er leichterung beinahe schluchzend, stemmte er sich auf einen Ellenbo gen und kam dann auf die Beine, die so furchtbar zitterten, daß sie kaum seinem Willen gehorchten. Vom Wind herbeigewirbelter Schotter traf ihn und fügte dem Blut, das bereits sein Gesicht und seine Hände hinunterlief, neues hinzu. Er mußte alle Kraft aufbieten, die noch in ihm war, um wenigstens den Großteil des brennenden Staubes abzuwischen. Wie ein blindes und verletztes Tier begann er in den Schutz der Ruinenmauern von Wenshar zu kriechen. Die Sonne und der Schmerz seiner trocknenden Wunden weckten ihn auf. Stöhnend wälzte er sich auf die Seite; Sand und Schotter glitten kiesig von seinen Beinen, die teilweise außerhalb des Schut zes des halb zusammengefallenen Ziegelofens lagen, in den er sich geschleppt hatte. Er blickte auf seine Hände hinunter; Blut und Dreck verstopften die halbkreisförmigen Risse in seinem Fleisch. Sein ganzer Körper schmerzte. Er war lange genug bei Bewußtsein gewesen, um den Großteil des klumpigen Staublakens von seinem Körper abzustreifen, aber er fühlte sich immer noch ausgedörrt, fiebrig und unheimlich. Er kroch aus seiner Deckung hervor und blinzelte in die Hellig keit. Als er sich aufrichtete, ergossen sich Ströme von Sand, Stein chen, Kieseln und Zweigen aus jeder Falte seines zerrissenen Hemds und Wamses und aus seinen Reithosen und Stiefeln. Das Haar, die Bartstoppeln, der Bart und sogar die Augenbrauen starrten vor Dreck, der von Blut an Ort und Stelle gehalten wurde; Sand rieselte in die leere Höhle seines linken Auges unter dem Lederflicken. Er hustete und spuckte Staub aus. Vor ihm lagen in der einen Richtung die gebleichten Knochen der Stadt, jetzt halb verborgen unter grauen Sandwehen; jenseits davon befanden sich das schwarze Schwemmland und die gespensti schen Steinstatuen, die schon in der Tageshitze flirrten. Er drehte sich um. Eine Anzahl Kamine und die Ecke einer Mauer ragten aus dem Sand wie die Rippen eines Tieres. Rings um seinen Unter schlupf wurde die Düne von einer Vertiefung unterbrochen, die Wir kung der Zaubersprüche, die ihm das Leben gerettet hatten. Alles andere war unter aschfarbenem Staub begraben. Im neuen Licht bot das zerfallene und geschwärzte Klippenantlitz der Geisterberge einen brütenden, lauernden Anblick, so fremd und grausig wie ein nach denkliches Krausen auf der Braue einer halb verwesten Leiche. 608
Er hatte sie überlistet und ihr Geheimnis erfahren. Aber die Dä monen von Wenshar waren nicht besiegt. Es erforderte großen Mut, auch nur weit genug in die Schlucht hineinzugehen, um sein Pferd zu holen. Er war erstaunt, sein Tier unverletzt dort zu finden, wo er es hinter den Barrikaden im honig farbenen Tempel zurückgelassen hatte. In den von Erschöpfung verklärten Tiefen seines Unterbewußtseins hatte er gespürt, wie der Sturm abgeflaut war und die Dämonen sich ein anderes Opfer ge sucht hatten. Die Echos ihres Triumphgeschreis, als sie es gefunden hatten, das Entsetzen und das Blut ihres Opfers steckte ihm noch mit dem Nachgeschmack des Staubes in der Kehle. Er hatte angenom men, daß er nach Tandieras würde laufen müssen. Aber statt vom verkrusteten Schweiß einer grauenhaften Nacht bedeckt und halb verrückt vor Durst, fand Sonnenwolf das Tier vor, wie er es verlas sen hatte. Langsam und stolpernd führte er es zu den Wasserspei chern im Felsen, wo sie beide tranken und der Wolf sich die zahllo sen leichten Wunden auswusch, die Arme und Gesicht bedeckten. Dann sattelte er auf, hüllte sich in seine Kopfschleier und lenkte den Kopf des Pferdes wieder in Richtung Tandieras. Er erreichte die Festung kurz vor Sonnenuntergang und wartete, bis es dunkel war, um durch die verfallenen Tore das leere Viertel zu betreten. Aber es war nicht Sternenfalke, die im Halbdunkel der verlasse nen Zellen auf ihn wartete. Es waren Nanciormis, Kaletha und über ein Dutzend Wachen und Shirdarkrieger, die ihn wegen des Mordes an Incarsyn von Hasdrozaboth und all denen, die vor ihm gestorben waren, begangen unter Zuhilfenahme von Magie, verhafteten.
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14. Kapitel »Wenn Ihr uns sagt, wer Euch bezahlt hat und warum«, erklärte Nanciormis ruhig, »könntet Ihr Euch eine Menge Schmerzen erspa ren.« »Einen Teufel werde ich.« Die Fesseln, die Sonnenwolfs Hand gelenke zu beiden Seiten an der Mauer hinter ihm festhielten, klirr ten schwach gegen das Gestein, als er versuchte, seine Schultern zu bewegen. Das einzige, was für das Verlies unter der Festung Tandie ras sprach – es stank nach alten Exkrementen, wimmelte von Wan zen und war vom Rauch aus der Kohlenpfanne in der Ecke seiner Zelle erfüllt – , war, daß es nicht feucht war. Sein Auge funkelte in dem würgenden Dunst. »Ihr wißt ebensogut wie ich, daß Illyra nie mandem Schmerzen ersparen wird, der für die Ermordung ihres holzköpfigen Bruders verantwortlich war. Ohne ihn kann sie die Dünen nicht länger regieren. Ein Geständnis würde mir nur statt ihres Mißtrauens ihren Haß zuziehen.« Der Wüstenlord verschränkte seine schweren Arme, und seine dicken Lippen wurden dünn wie ein Strich. »Es ist nicht nur Mißtrauen, Hauptmann«, sagte er. »Euer Bluff zieht nicht mehr. Wir wissen Bescheid.« »Ihr – was?« Hinter ihm sagte Osgard, diesmal nüchtern, schweißüberströmt in der drückenden Hitze der Zelle: »Erst als Ihr nach Tandieras kamt, fing das Ganze an. Nexué starb, kaum daß Ihr aus Wenshar zurück kehrtet – bei den Dreien, warum ist uns nicht früher klargeworden, daß Ihr… « »Ich war es nicht, zum Teufel noch mal!« brüllte der Wolf. Als er wütend an seinen Ketten riß, hoben die Wachen, die sich in dem schmalen Türrahmen drängten, ihre Armbrüste. Zu spät erkannte Sonnenwolf, daß er, als Magier, durch die geringste Bewegung sei nen Tod auslösen konnte. Er spürte bereits Kalethas Zauber über seinen Fesseln wie ein Schleier über seinem Verstand. Offenbar glaubte jemand, daß es besser war, vorsichtig zu sein. Osgards Ge sicht rötete sich angesichts des Widerspruchs, aber Nanciormis hob nur eine weiß behandschuhte Hand. »Es ist nicht nötig, die Scharade noch länger fortzusetzen, Hauptmann«, sagte er ruhig. »Ich habe Euch in der Nacht gesehen, als Ihr mich zu ermorden versuchtet.« »WAS?« Selbst in diesem ersten Augenblick des Entsetzens er 610
innerte Sonnenwolf sich daran, wie Nanciormis nach dem Anschlag gewissen Fragen ausgewichen war, seinen Blick gemieden und an schließend mit Osgard gesprochen hatte. »Herrgott noch mal, ich war im Frühstückssaal, als es passierte. Ein Dutzend Leute hat mich dort gesehen… « »Niemand hat es gesehen, wie Ihr gegangen seid«, sagte Osgard mit rauher Stimme. »Aber einige Leute haben gesehen, wie Ihr her eingestürzt kamt, ein Retter in der Not, als das Geschrei einsetzte. Ihr schient zu wissen, woher es kam, ungeachtet des tosenden Sturms.« »Und selbst wenn Ihr nicht hereingestürzt gekommen wäret«, warf der Kommandant ein, »immerhin geht es hier um Hexerei.« Er trat einen Schritt näher, und das bernsteinfarbene Glühen der Koh lenpfanne bildete kleine Flammenzungen in seinen dunklen Augen. »Als ich spürte, wie sich das Grauen in der Dunkelheit meines Zim mers verdichtete, als ich begriff, was geschah, da warf ich ihm meine Lampe entgegen. Und einen Moment lang sah ich seine Umrisse im Licht der Flamme. Es hatte Euer Gesicht, Hauptmann.« Sonnenwolf starrte ihn in entsetztem Schweigen an. Als er wie der sprechen konnte, kamen die Worte nur flüsternd über seine Lip pen: »Das kann nicht sein.« Aber die Dämonen in Wenshar hatten seine Augen gehabt. Und Tazey hatte gesagt, daß die Hexen von ihren Taten nicht immer wüßten. Doch angesichts von Entsetzen und Schrecken dachte er auch jetzt noch kühl: Ich würde es wissen. Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein«, begann er, und Nanciormis schlug ihm mit der Hand über den Mund. » Woll Ihr leugnen, daß Ihr letzte Nacht in Wenshar wart?« Die behandschuhten Finger legten sich unter sein Kinn und zwangen den Kopf nach hinten; Fackelschein tanzte über die sich überlappenden Halbmonde aus getrocknetem Blut, die Sonnenwolfs Gesicht und Hals bedeckten. Dicht an der seinen, konnte der Wolf die geplatzten Äderchen auf dieser vornehmen Nase sehen und Wein und Minze in seinem Atem riechen. »Wollt Ihr leugnen, daß Ihr mit den Dämonen in Wenshar zu tun hattet?« Er unterdrückte den Drang, dem Mann seinen Stiefel in die Ho den zu treiben. »Ich war in Wenshar, ja. Wenn Ihr mich nur anhören würdet… « Erneut schlug Nanciormis ihm über den Mund, beiläufig, aber mit einer Kraft, die seinen Kopf gegen die Mauer zurückschnellen ließ. Dann trat er zurück und sagte leise: »Es heißt, daß alle Hexen 611
von Wenshar, ob männlich oder weiblich, solche Narben haben, und zwar von der Unzucht mit den Dämonen in der Stadt. Ich hoffe um Euretwillen, Hauptmann, daß Ihr von den Feinden Wenshars für Euer Handeln bezahlt wurdet, und daß Ihr nicht einfach nur ein Ver rückter seid, der aus reinem Blutdurst handelt. Denn wenn Ihr uns sagt, wer Euch angeworben hat, um jede Hoffnung auf ein Bündnis mit den Shirdar zu zerstören, könnt Ihr vielleicht die Gnade erwar ten, daß Euch, sobald die Folter vorbei ist, nur die Kehle durch schnitten wird.« Er wandte sich ab und gab einer der Wachen ein Zeichen. Trotz seiner Benommenheit aufgebracht über die Stumpfheit des Mannes, knurrte Sonnenwolf: »Verschwendet nicht Eure Zeit damit, mir die Folterinstrumente zu zeigen. Ich habe sie oft genug gesehen, ohne daß sie mich beeindruckt hätten.« Warum? dachte er, und seine Gedanken rasten – wie konnte das möglich sein? Aber statt einer Antwort sah er nur die goldenen Augen der Dämonen. Sie wissen es nicht immer, hatte Tazey gesagt. Plötzlich entsetzt, verstand er das geheime Entsetzen des Mädchens, noch verstärkt durch die Erlebnis se der letzten Nacht in den Ruinen. Nanciormis hielt inne und wandte sich ihm wieder zu. »Viel leicht«, sagte er. »Ihr seid mutig, Hauptmann. Ich hoffe, man zahlt Euch genug.« Vor der Tür kam es zu einem Gedränge – die Zelle war ausgeho ben und mit Steinen gemauert worden, als Tandieras noch das Ver waltungszentrum für die Herrscher von Pardle gewesen war, und der Raum war nicht besonders groß. Er war schon mit Osgard, Nancior mis, zwei Wachen mit Armbrüsten, der Kohlenpfanne und Sonnen wolf selbst überfüllt. Die anderen Wachen, die nun eintraten, zwei Männer und eine Frau, trugen – was ironisch ›kleine Folter‹ genannt wurde – eine Daumenschraube, ein Sortiment eiserner Ruten, die die Frau zum Erhitzen in die Kohlenpfanne legte, rasiermesserscharfe Kneifzangen, bei deren Anblick sich Sonnenwolf der Magen um drehte, und andere Foltergeräte. Die zwei Männer führten Sternenfalke zwischen sich. Alles in Sonnenwolf zog sich zu einem einzigen, kalten Ball des Entsetzens zusammen. Absurderweise fragte er sich, weshalb er das nicht hatte kommen sehen. Während der Feldzüge hatte er mit der gleichen Methode sicher häufig genug Informationen aus Gefangenen herausgepreßt. Vielleicht wegen der Hunderte von Konkubinen, die mit ihm das 612
Bett geteilt hatten, hatte es für ihn niemals eine gegeben, für die er einen Feldzug oder auch nur einen seiner Männer in Gefahr gebracht hätte. Wäre einer seiner Freunde in der Truppe auf diese Weise ge foltert worden, hätte es ihm leid getan, aber er hätte gewußt, daß der andere, wer immer es gewesen wäre, verstanden hätte. Dies hier war etwas anderes. Sternenfalkes Gesicht war braun von Staub, in den der Schweiß Rinnen eingegraben hatte; ihre Augen schienen vor dieser Dunkel heit die Farbe von weißem Eis zu haben. Eine Prellung bedeckte die Hälfte ihres Gesichts, zog sich unterhalb des blassen, verschwitzten Haares bis zu ihrer linken Schläfe hin. Es sah nach einem Hieb mit der Schwertklinge aus; das war es wahrscheinlich gewesen, was sie ausgeschaltet hatte. Auch ihr Hals, der über dem offenen Ausschnitt des zerrissenen Hemdes zu sehen war, zeigte Wundmale, und zwar von einer Kette. Es mußte ein höllischer Kampf gewesen sein. Nanciormis sagte leise: »Wer hat Euch bezahlt, Sonnenwolf? Der Königsrat von Kwest Mralwe?« »Niemand hat mich bezahlt«, sagte er. Die Worte kamen merk würdig tonlos und ruhig heraus. »Ich hatte nichts damit zutun.« Aber er wußte voller Verzweiflung, daß dies nicht helfen würde. Er fühlte sich wie gelähmt, als hätte er einen Messerstich an eine ungeschützte Stelle bekommen; sein einziger Gedanke war, daß Sternenfalke hierfür nicht leiden durfte. Sein Mund war trocken, und seine Lippen schienen jemand ande rem zu gehören. »Wenn Ihr mir endlich zuhört, erzähle ich Euch…« »Wir sind nicht an Euren Lügen interessiert.« Nanciormis' sei denweiche Stimme wurde kalt. »Wir wissen, was dann passiert. Wir wollen ein Geständnis.« Wut über die sture Einfältigkeit dieses Mannes flammte in ihm auf. Sie war wie die verbrecherische Unfähigkeit, die Jeryn beinahe umgebracht hätte, wie der blinde Eigennutz, mit dem Nanciormis seine Gelüste nach der Gouvernante seiner Nichte befriedigte, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, die ihr daraus entstanden. Aber Sonnenwolf hielt seine Wut im Zaum. Was immer er tat, der Falke würde dafür zu bezahlen haben. Vorsichtig sagte er: »Es gibt nichts zu gestehen. Außer, daß es ohne mein bewußtes Wissen geschehen… « »Das ist eine Lüge!« Osgard stürzte vor, das Gesicht krebsrot. Seine Hände umklammerten Sonnenwolfs Hemdkragen, erdrosselten ihn beinahe. »Die Hexen und Hexenmeister wußten alle, was sie 613
taten! Es ist eine Lüge, die Ihr zu Eurer Entschuldigung vorbringt!« Hinter den massigen Schultern des Königs beobachtete Nancior mis die Szene schweigend. Natürlich, dachte der Wolf benommen, er war zu sehr Politiker, um einem Mann zu widersprechen, dessen Tochter man vielleicht der Hexerei anklagen würde. »Mylord.« Der Kommandant trat geschmeidig vor und legte eine Hand auf den Arm des Königs. »Ich denke, wir können die Wahrheit einfach genug herausfinden.« Er wandte sich um und ging zu Sternenfalke zurück. Mit der Be dächtigkeit eines Arztes riß er ihr das Hemd bis zur Hüfte auf und zog ihr die dünnen Fetzen des Stoffes über die Arme. Unter den Prellungen war Sternenfalkes Gesicht so unbekümmert wie das einer Prostituierten. Die zwei Wachen hielten ihre Arme in Stellung und verstärkten den Griff; die dritte trat hinter sie, wog eine Würge schlinge und zog sie straff um ihre Kehle. Sonnenwolf kämpfte gegen seine Fesseln an, ohne zu bemerken, wie sie in seine Handgelenke schnitten. »Sie hat nichts damit zu tun, verdammt noch mal!« Nanciormis nahm eine der Metallruten aus den Flammen in der Kohlenpfanne, deren Spitze von der Hitze kirschrot war. »Natürlich hat sie das nicht«, meinte er und musterte sie einge hend. »Ein Jammer, nicht wahr?« Als die glühende Spitze sich Sternenfalkes Brust näherte, sah Sonnenwolf, wie sie sich entspannte, den Kopf schräg legte und immer noch ausdruckslos ihre Augen schloß. Sie versank in Medita tion, schnell und tief, wie ein Tümmler im Meer, der versucht, unter die Ebene der Schmerzen wegzutauchen… »Aufhören!« Die Armbrüste hoben sich wieder, als er sich gegen die Ketten stemmte, aber er bemerkte es kaum. Alles, was er sah, war das Glühen der Hitze vor der weißen Haut von Falkes Brust und der Schweiß, der ihr ruhiges Gesicht hinabfloß. »AUFHÖREN! Na schön, ich war es! Der Königsrat von Kwest Mralwe hat mich be zahlt – mit fünfhundert Goldstücken! Laßt sie um Himmels willen gehen!« Er zitterte und keuchte, der Körper schweißüberströmt, als wäre das erhitzte Eisen auf ihn und nicht auf Falke gerichtet. Sternenfalke riß entsetzt die Augen auf – sie war nicht so tief in Trance gewesen, daß sie es nicht gefühlt hätte. »Sei kein Narr, Anführer, wir sind niemals auch nur in der Nähe von Kwest Mralwe gewesen.« Im selben Moment, als die Würgeschlinge sich fester um ihre 614
Kehle schloß, brüllte er zu ihr hinüber: »Sie haben mit mir Kontakt aufgenommen, noch bevor wir Wrynde verlassen hatten, zum Teu fel! Haltet sie still und bringt sie hier raus. Sie weiß nichts davon!« Sternenfalke wehrte sich jetzt, rang angesichts der würgenden Metallschlinge um den Hals nach Luft. Das panische Entsetzen, das Wolf empfand, als er mitansehen mußte, wie man sie systematisch prügelte und würgte, bis sie halb bewußtlos war, ließ sich mit nichts vergleichen, was er bisher empfunden hatte – es war etwas, worauf er sich in all den Jahren des Krieges niemals vorbereitet hatte. Er merkte, wie er wieder und wieder brüllte: »Aufhören! Aufhören!« Sein ganzer Körper zitterte, als sie sie schließlich aus dem Raum zerrten. Tränen liefen ihm wie Schweiß die Wangen hinunter, und er wurde sich bewußt, daß Nanciormis seine Erniedrigung mit Interes se, Verachtung und einer gewissen blasierten Genugtuung beobach tete, als bewiese dies, daß Sonnenwolf in Wirklichkeit kein besserer Mann sei als er selbst. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte das den Wolf rasend gemacht. Nun war ihm zu übel, und er zitterte zu sehr, als daß es ihn gestört hätte. Ihm war klar, daß man ihn gebrochen hatte, wie er andere Männer gebrochen hatte, und daß es mit den einfachsten Mitteln geschehen war. Ein entfernter Winkel seines Verstandes registrierte vage die Tatsache, daß ihn nicht einmal das störte; der Rest von ihm dachte nur daran, daß Sternenfalke keinen Laut von sich gegeben hatte. Die dicken Lippen des Kommandanten verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. »Also haben die Herren von Kwest Mralwe Euch dafür bezahlt, Bischof Galdron und Egaldus und Incarsyn umzubringen?« »Ja.« Er keuchte und schluchzte, als wäre er meilenweit gelaufen. Soviel, dachte er mit seltsamer Abgeklärtheit, zu dem abgehärteten Krieger, der alles wegstecken kann, was seine Feinde sich ausden ken. »Warum?« Osgard packte ihn wieder heftig am Hemdkragen und zog sein Gesicht dicht an das seine heran. Grüne Augen starrten ihn wie blutfleckige, faule Eier an. »Und Norbas Milkom starb, weil er zufällig mit Galdron zusammen war, stimmt's?« Sein Atem roch wie eine Jauchegrube; Sonnenwolf kämpfte gegen Übelkeit an. »Ein Mann, der keiner Fliege je etwas zuleide tat – ein Mann, der mein Freund und der beste Freund war, den dieses Land je hatte!« Seine großen Hände ballten sich, als er den Wolf gegen die Mauer zurück 615
stieß. »Du stinkender, mörderischer Verräter! Und dich habe ich in meinen Haushalt aufgenommen… « »Aus dem Weg, du Narr!« Nanciormis riß die Hände des Königs weg und schob ihn ungeduldig beiseite. Dann wandte er sich wieder dem Wolf zu, wobei er rasch sprach, als wollte er das alles möglichst schnell hinter sich bringen. »Ihr habt es getan, um das Bündnis zwi schen Wenshar und den Shirdar zu zerschlagen?« »Ja.« Sonnenwolf schluckte und griff nach dem, was von seinen Gedanken noch übrig war. »Ich weiß nicht«, verbesserte er sich, als er erkannte, daß dies wahrscheinlicher war – alles, dachte er, damit sie mir glauben. Er hatte Folterungen gesehen, die Folterungen von Frauen. Alles, dachte er, um dem Falken das zu ersparen. »Sie haben es mir nicht gesagt. Sie wußten, daß ich magischer Abstammung bin, wußten, daß ich die Dämonen unter Kontrolle bringen kann… « Die dunklen Augen verengten sich in ihren Fleischwülsten. »So ging das also«, murmelte Nanciormis. Dann, mit einem Blick auf Osgard: »Und der König wäre Euer nächstes Opfer gewesen.« Sonnenwolf nickte. Er fühlte sich ausgelaugt und nicht mehr er selbst, des Stolzes beraubt, den er einst mit eigener Kraft bewahrt hatte. Alles war so schnell geschehen. Er verstand plötzlich, weshalb Männer, die den Schmerz durch die Hand des Folterers ertragen hatten, weinend zusammenbrachen, wenn es vorbei war. »Du stinkender Verräter.« Der Atem des Königs fuhr zischend durch seine Nase. »Du hast mein Geld genommen, du hast mein Brot gegessen – ich habe dir das Leben meines Sohnes anvertraut.« Er sprach ruhig, und seine Wut nahm eine Härte an, die weit jenseits seines üblichen sprühenden Zorns lag. »Hexenbastard – du hast nicht mehr Stolz oder Ehre als die Hure eines Kameltreibers.« Er trat nä her und spie Sonnenwolf ins Gesicht. Als der Speichel warm und schleimig sein Kinn hinunterlief, dachte Sonnenwolf daran, daß es einst eine Zeit gegeben hatte, da er auf den Mann vor ihm losgegangen wäre, selbst wenn sie ihn dafür getötet hätten. Aber ihm war nicht einmal mehr Wut geblieben – nur Benommenheit und Angst um den Falken. Ich hätte Jeryn nie auch nur ein Haar gekrümmt, wollte er sagen, aber er konnte es nicht. Er hatte das Elend und die dummen Hoffnungen von Männern gesehen, die, wenn sie erst einmal gebrochen waren, sich an Strohhalme des Selbstbetruges und der Täuschung geklammert hatten. Sie hofften, daß denen, die sie liebten, nichts geschehen würde, wenn sie nur die Stiefel ihrer Folterer rein genug leckten. Er erinnerte sich an seine 616
Verachtung für solche Männer und was er deren Liebsten aus Trotz und Verärgerung und Perversion dennoch angetan hatte, wenn die flehentlichen Bitten des Opfers zu übertrieben gewesen waren. Das selbe sah er jetzt auch in Nanciormis' Augen. Aber das änderte alles nichts. Er war nicht mehr er selbst, als wä ren ihm Seele und Körper, in kürzerer Zeit, als man braucht, um seine Stiefel anzuziehen, umgekrempelt worden. »Wir nehmen sein Geständnis und schlagen es diesen Hunden in Kwest Mralwe um die Ohren… « Nanciormis schüttelte den Kopf. »Das würde uns nicht weiter bringen.« Elegant wischte er sein Gesicht an einem Baumwollta schentuch ab, das er sich aus dem Ärmel gezupft hatte. Trotz des stinkenden Staubs auf dem Boden und dem fleckigen und ver schwitzten braunroten Wams des Königs konnte der Wolf den Ge würzessig riechen, mit dem es getränkt war. »Sie werden es nur leugnen – leugnen, daß sie jemals die Machtquellen der Hexen kann ten. Aber als diejenigen, die diese Macht brachen, könnten sie durchaus gewußt haben, wie man sie wieder zum Leben erweckt.« Er warf noch einen Blick auf den Wolf. »Was den hier betrifft – wir haben sein Geständnis. Mehr brauchen wir nicht.« Er gab den Wachen ein Zeichen. Sie hoben erneut ihre Armbrüs te, und Nanciormis legte seine Hand auf den Arm des Königs, um ihn aus dem Weg zu ziehen. Osgard blieb, wo er war, zwischen den gespannten Eisenspitzen und Sonnenwolfs Brust. »Nachdem die entsprechende Verfügung unterzeichnet ist«, sagte er. Nanciormis starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Was?« Der König musterte ihn einen Moment lang, die grünen Augen nur dünne Schlitze. »Nachdem eine Verfügung über seinen Tod erlassen und unterzeichnet und morgen von Sonnenaufgang bis Ein bruch der Nacht überall in der Stadt angeschlagen gewesen ist«, sagte er. »Die Tatsache, daß er ein Hexenbastard und ein Mörder ist, berechtigt mich noch lange nicht, das Gesetz zu brechen und ihn ohne jede Verfügung zu töten.« Ohne Gefühl beobachtete Sonnenwolf mit vagem Interesse, daß dies eines der wenigen Male war, daß er Nanciormis aus der Fassung gebracht sah. Zwischen den samtenen Tauen seiner Zöpfe wurde sein Gesicht weiß vor Ärger, und seine Mundwinkel versteinerten. Dann erholte er sich und stammelte: »Wir haben das Geständnis des Man 617
nes! Er hat Euch betrogen und hätte Euch in Eurem Bett ermordet. Er hat Milkom wie ein Schaf abgeschlachtet… « Osgards Stimme wurde hart. »Sprich nicht von Milkom zu mir«, sagte er leise. »Es ist purer Zufall, daß mein Onkel Tyrell mich und nicht Norbas zu seinem Nachfolger ernannt hat. Wir hätten es beide werden können, weil wir beide an das Gesetz glauben. Ein Shirdar lord würde einem Mann vielleicht auf sein bloßes Wort hin die Keh le durchschneiden, im Finstern, ohne daß es jemand erfährt, aber so wird es hier nicht gemacht. Ich bin der König, und ich bin ein geset zestreuer König, etwas, was du und dein Volk niemals begreifen werdet.« »Und mein Volk«, sagte Nanciormis mit der Ruhe einer Viper, »ist deshalb nur um so stärker. Bei meinem Volk hätte das Morden nicht so lange ungestraft weitergehen können, wie es hier der Fall war.« »Dein Volk«, gab Osgard mit gleichermaßen tödlicher Stimme zurück, »war nicht imstande, diese Länder gegen ein Volk zu halten, das unter einem Gesetz vereinigt ist, Nanciormis. Bedenke das.« Und der König wandte sich ab und schritt aus der Zelle. Nanci ormis stand einen Moment lang still und sah zu, wie sein Schatten über den Fackelglanz im Treppenschacht wanderte; dann drehte er sich wieder um und musterte Sonnenwolf mit geringschätzigem Blick. Lange Zeit schwieg er. Sonnenwolf begegnete seinem Blick durch den Rauchvorhang aus der Kohlenpfanne, der die Zelle nun mit beißendem Qualm erfüllte, wobei ihm nur zu bewußt war, daß die zwei Wachen mit griffbereiten Waffen geblieben waren. Er war äußerst erschöpft, an Körper und Seele – der lange Ritt gestern und die Schrecknisse der Nacht vermischten sich mit den Schmerzen der strapazierten Schultermuskeln, dem heißen, zähen Rinnen des Blutes vom zerrissenen Fleisch seiner Handgelenke die Arme hinunter und dem Brennen des Schweißes in seinen Wunden. Sein einziger Ge danke war, wie Sternenfalke sie bekämpft hatte – stumm, verzweifelt – und wie sie stumm bewußtlos geschlagen worden war. In dem merkwürdig klaren Winkel seines Verstandes, der fern aller persön lichen Sorgen war, wußte er, daß Osgard, obwohl er die korrekte Verfügung über seinen Tod zweifellos sofort bekanntmachen und unterzeichnen würde, bis morgen wahrscheinlich zu betrunken wäre, um überhaupt nach Sonnenwolf zu fragen, damit er beim nächsten Sonnenaufgang hingerichtet werden konnte. In den Augen des 618
Kommandanten war zu lesen, daß Nanciormis ebenfalls so dachte. Sonnenwolf wußte, daß er Angst haben sollte, aber er hatte keine. Er stand nur da, den Kopf gegen die Steinmauer hinter ihm gelehnt, und blickte den Kommandanten gleichgültig an. Trotz der nahezu uner träglichen Hitze im Raum fühlte er sich seltsam kalt. Aber etwas von Osgards nüchterner und tödlicher Ruhe schien die Verachtung des Kommandanten für seinen Schwager zu durch dringen. Schließlich gab er den zwei Wachen ein Zeichen. »Behaltet ihn im Auge. Vergeßt nicht, er ist ein Magier. Seid auf der Hut. Wenn er sich bewegt oder spricht, tötet ihn sofort. Verstanden?« Die Männer nickten. Nanciormis musterte einen Moment Son nenwolfs angekettete Gestalt, wie sie ausgestreckt zwischen den Fackeln stand, deren flackernder Schein über die halbmondförmigen Wunden der Dämonenbisse waberte und den klebrigen Schweiß, der dem Mann von Brust und Rippen troff, zum Gleißen brachte. Dann verhärtete sich sein Mund bei einem verborgenen Gedanken; er dreh te sich um und verließ die Zelle. Es dauerte geraume Zeit, bis Sternenfalke endlich die Kraft auf brachte, sich zu bewegen. Der frische Schmerz vermischte sich mit dem Schmerz der mehrere Stunden alten Prellungen, die sie während des Kampfes davongetragen hatte, als man sie verhaftete, kaum daß der Junge auf dem Wachturm Sonnenwolfs Pferd gesichtet hatte. Im nachhinein fragte sie sich mit dumpfem Groll, warum sie die Tatsa che, daß sie nach ihrer Rückkehr unbehelligt blieben, nicht mißtrau isch gemacht hatte. Wahrscheinlich würde Osgard eher bereit sein, die Schuld sich oder Kaletha zu geben statt seiner Tochter. Sie fragte sich, was schließlich den Ausschlag gegeben hatte. Irgendein Umstand bei Incarsyns Ermordung? Sie schauderte und erinnerte sich an die Schreie, die die schreckliche Stille zwischen dem Ende des Sturms und der Dämmerung zerrissen hatten. Irgend ein Beweisstück, daß Kaletha unschuldig war? Oder war der Grund einfach der, daß Sonnenwolf ein Fremder war? Sie verfluchte sich dafür, nicht einen weniger offensichtlichen Treffpunkt gewählt zu haben, das leere Viertel nicht gut genug gekannt zu haben, um einen weiter im Inneren gelegenen Ort zu wählen und nicht auf die verspä tete Verhaftung gefaßt gewesen zu sein. Sie seufzte und versuchte, sich auf dem unebenen Steinboden auf die Seite zu wälzen. Er bestand aus einer Art Kopf Steinpflaster, war holprig und voll kleiner Gruben und Löcher, in denen unter hartem Stroh Schaben nisteten. Die zackigen Halme schnitten in ihre nack 619
ten Arme, und sie zuckte zusammen und lag wieder still. Sie mußte ihn da herausholen, wenn es nicht schon zu spät war. Illyra hatte demjenigen, durch dessen Magie ihr Bruder gestorben war, den barbarischsten und qualvollsten aller Tode angedroht. In den langen Stunden des frühen Abends hatte Falke, während sie mit klopfendem Herzen darauf wartete, daß die Wachen kommen würden, um sie zu holen, jeden Handbreit des mit Steinplatten ausge legten Raums untersucht. Sie hatte nichts gefunden, was sie als Waf fe oder Werkzeug hätte verwenden können. Sonnenwolf hatte gestanden. Vielleicht war er sogar schon tot. Ihr Körper schmerzte; ihre Seele war bis ins Innerste erschüttert. Sie hatte seit langem gewußt, daß sie für Sonnenwolf jeden Meineid schwören und jede Vergewaltigung ihres Körpers hinneh men würde – aber es war ihr niemals in den Sinn gekommen, daß er das gleiche für sie täte. Als sie versucht hatte, den Verstand auszu schalten und in die dunkle Stille der Meditation zu versinken, hatte sie ihn aufschreien hören, und es hatte sie ganz benommen gemacht. Sie wußte, daß er nicht gestanden hätte, wenn sie das Eisen an sein eigenes Fleisch gehalten hätten. Daß er das ihretwegen getan hatte, erschreckte sie. Sie war an die Schmerzen von Pfeilen, Schwertern und anderen Instrumenten, die dazu geschaffen waren, menschliches Fleisch zu durchstoßen oder zu zerschneiden, gewöhnt. Die Tränen, die in dieser Stille ihr Gesicht hinuntergelaufen waren, entstammten dem Kummer über seine Er niedrigung und weil sie jetzt begriff, daß er sie mehr schätzte als seinen eigenen Stolz. Er hatte gesagt, daß er sie liebte. Bisher hatte sie nicht gewußt, daß seine Liebe von derselben Qualität war wie die ihre. Das ist albern, sagte sie sich zornig, albern und dumm. Während du dich in Rührung darüber ergehst, wie sehr er dich liebt, kann es sein, daß er stirbt. Es muß etwas geben, was du tun kannst. Doch die Tränen glitten kalt ihr Gesicht hinunter. Selbst wenn sie nicht halbtot vor Erschöpfung gewesen wäre, hätte sie gewußt, daß es nichts mehr gab, was sie nicht schon versucht hätte. Irgendwo hinter sich hörte sie ein schwaches, hohles Ratsch. Ihre Muskeln spannten sich. Während des langen Wartens war ihr jeder Laut in diesen Zellen vertraut geworden – das merkwürdige, hohle Pfeifen des Windes um die Mauern und das Scharren von Ratten, die die riesigen braunen Kerkerschaben in den Ecken jagten. Dies hier war etwas anderes. 620
Ganz schwach hörte sie es wieder – das unmißverständliche Kratzen von Holz auf Stein und das leise Quietschen einer Türangel. »Kriegslady?« Ein stimmloses Wispern, wie das eines Kundschafters auf feind lichem Gebiet. Sie richtete den Blick auf das Guckloch in der Tür. Das schwache Glühen reflektierten Fackelscheins drang hindurch, aber kein Schatten von jemandem, der Wache hielt. Sie wälzte sich herum – jeder Muskel im Rücken und Bauch schien wie von Dolch stößen zu schmerzen – und setzte sich aufrecht, zog sich unwillkür lich das zerrissene Hemd über der Schulter zurecht. In der Schwärze der hinteren Wand war ein kleines Viereck aus samtigem Schwarz erschienen, in dem sich verschwommene weiße Ovale von Gesichtern zeigten. So lautlos wie möglich schob sie sich in den hinteren Bereich der Zelle. Tazey trug ihre jungenhafte Reithose und ein besticktes schwar zes Männerhemd, die mit Schmutz und Moder und etwas, das wie Ruß aussah, bedeckt waren. Jeryns übliche steife, formelle Kleidung aus langen Strümpfen, Pluderhose und einem von Schnallen zusam mengehaltenen Wams war so verrußt wie die seiner Schwester. Sternenfalke hauchte: »Tut mir leid, aber wir haben den Kamin erst gestern fegen lassen – kommt nächste Woche wieder.« Sie hiel ten sich beide die Hand vor den Mund, um nicht erleichtert loszuki chern. Sie kroch durch den engen schwarzen Spalt in der Mauer, das schwache Scharren von Holz erklang, als Jeryn die verborgene Tür wieder an Ort und Stelle setzte. Kleine Hände griffen in der Dunkel heit nach den ihren, und sie führten sie, halb gebeugt, halb krie chend, ein paar Schritte weit um etwas herum, das sich wie eine Ecke anfühlte. Dann wurde mit einem Kratzen und Ratschen von Metall der Schieber vor einer Laterne entfernt, die ihnen den Weg in einem engen Gang mit stark geneigter Decke zeigte. Schaben, länger als Sternenfalkes Daumen, versuchten eilig, dem Licht zu entkom men. Jeryn wisperte: »Der führt hinter allen Zellen vorbei.« Sternenfalke nickte. »Es ist ein alter Trick für den Fall, daß ein Gefangener sich als hartnäckig erweist. Steck ihn mit seinem Partner in eine Zelle und postiere einen Mann, der ihren Gesprächen zuhört, wenn sie allein zu sein glauben. Oder falls es ein Trinitarier ist, ver steck einen Mann hier, wenn der Priester kommt, um ihm die Beich 621
te abzunehmen. Der Gang sieht aus, als wäre er jahrelang nicht mehr benutzt worden.« Sie starrten sie aus weit aufgerissenen Augen an; Sternenfalke spürte, daß ihr Haar, das in alle Richtungen abstand, von Schweiß und Blut ganz steif war, und dachte an die geschwollenen, verfärbten Prellungen auf ihrem Gesicht und die halb entblößte Brust. »Ich bin in Ordnung«, fügte sie hinzu. »Der Hauptmann…« Jeryn wisperte: »Wir haben es gehört. Wir waren hinter der Mau er.« Tazey setzte leise hinzu: »Vater ist gegangen, um die Verfügung für die Hinrichtung zu unterschreiben, aber das Gesetz sieht vor, daß sie erst von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang angeschlagen ge wesen sein muß, bevor ein Mann getötet werden kann. Er… « Sie schluckte. »Er ist nicht verletzt worden.« Da in ihr keine Panik aufgestiegen war, hatte Sternenfalke schon halb vermutet, daß dem Wolf noch wenigstens ein paar Stunden blieben. Doch erschöpft und mitgenommen, wie sie war, führte die plötzliche Erleichterung dazu, daß ihr die Augen brannten und die Kehle schmerzte. In einer impulsiven Bewegung zog sie das Mäd chen an sich und versuchte zu verhindern, daß ihr Panzer der Ruhe zerbrach. Dafür war jetzt keine Zeit. »Ich…« Tazey zögerte und biß sich auf die Unterlippe. »Ich kann Magie einsetzen, um die Wachen von ihm fortzulocken. Ich denke nicht, daß es mir schwerfallen wird.« Sie sprach schnell, als würde sie etwas zugeben, das sie schmerzte; aber als es einmal heraus war, entspannte sie sich ein wenig. Sie sah viel besser aus als noch ges tern in Wenshar; sogar besser, als sie auf dem stummen Treck durch die Wüste zurück ausgesehen hatte – weniger zurückgezogen und gehetzt. Sternenfalke nahm an, daß sie Magie eingesetzt hatte, um aus ihrem eigenen Zimmer herauszukommen – wie ihre Freunde war sie sicher bewacht worden – , so wie sie vor zwei Nächten einen Schlafbann über ihre beiden Wachen verhängt hatte. Man kann manchmal nicht man selbst sein, dachte der Falke, aber man wird immer wissen, wenn man es nicht ist. Tazey hatte ihre Wahl getrof fen. Für sie gab es jetzt kein Zurück mehr, wenn es das überhaupt jemals gegeben hatte. Sie fuhr fort: »Wir können… « Sternenfalke schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken eilten voraus. Ihre unmittelbaren Befürchtungen für den Wolf legten sich. Sie dachte wieder wie ein Soldat. »Nein«, sagte sie. »Hört mal, welche Nachtstunde haben wir jetzt?« 622
Sie blickten einander an, dann sagte Tazey: »Etwa die dritte Stunde.« »Also gut.« Sternenfalke zog die Kinder an sich und senkte ihre Stimme, weil der Tunnel das geringste Geräusch weit trug. »Die Leute sind noch wach – sie sind noch auf der Hut. Wir können frü hestens zwei bis drei Stunden nach Mitternacht durchbrechen, wenn die meisten Leute schon schlafen und die Wachen müde und er schöpft sind – nicht nur die Wachen vor der Zelle des Wolfes, son dern auch die an den Pferchen.« Zusammengekauert in der Enge neben ihr hockend, nickten sie, akzeptierten die Weisheit der Soldatin. Sie konnte sehen, wie Jeryn dieses Stück Wissen für eine andere Gelegenheit in seinem Gedächt nis bewahrte. »Der Hauptmann hatte recht. Diese Morde werden erst aufhören, wenn wir wissen, weshalb sie angefangen haben. Wir müssen in Erfahrung bringen, was die Hexen von Wenshar wußten. Wir brau chen Kalethas Bücher.« Falke blickte sie in dem nach unten schei nenden Licht der abgedunkelten Laterne an, zwei schmutzig geklei dete Königskinder, die, das Kinn auf die Knie gestützt, im stinken den Lauschtunnel hinter den Verliesen des Vaters saßen, mit dunklen Augen und einem Schimmer von Grün im wirren Durcheinander ihres staubverfilzten Haares. »Habt ihr Karten dabei?« »Kennst du jeden Tunnel und Keller in Tandieras?« fragte Ster nenfalke. »So ungefähr«, sagte Jeryn. Eine Spur von Stolz lag in seiner lei sen, hohen Stimme. Er schaute sie über die Schulter hinweg an und schenkte ihr ein scheues Lächeln. Aus seiner üblichen Verdrossen heit gerissen, wirkte sein spitzes Gesicht gutaussehender und weni ger kindlich. Er wischte den Ruß ab, der sie alle auf ihrem Weg durch ein altes Heizgewölbe bedeckt hatte, und hinterließ einen brei ten Streifen im Gesicht. Jeryn hatte den großen, modrig riechenden Küchenkeller ohne Licht durchquert, nur durch Tasten in der Dunkelheit; er hatte die Laterne einmal kurz aufblitzen lassen, um Sternenfalke hindurchzu führen. Langes Training beim nächtlichen Spurenlesen hatte sie gelehrt, auf Anhieb den besten Weg zu finden. Sie hatte die aufge stapelten Säcke mit Kartoffeln und Weizen und die Ölkrüge aus Ton, die so groß wie Jeryn selbst waren, ignoriert und war ohne einen Laut, den jene, deren Schritte über ihren Köpfen knarrten, vielleicht hätten hören können, an den knolligen, baumelnden Knoblauchzöp 623
fen und Kräuterwedeln vorbeigehuscht. Sie konnte nun hören, wie Tazey ihr leise wie ein Magier im Dunkeln folgte. Die kalten, zerbrechlichen kleinen Finger des Jungen suchten die ihren. »Ich habe mich überall versteckt, wenn Onkel Nanciormis mich für die Schwertübungen oder zum Reiten holen wollte. Aber nicht, weil ich ein Feigling bin«, fügte er hinzu, wobei sich seine Stimme plötzlich schmerzerfüllt brach. »Das heißt – es ist doch nicht feige, wenn man etwas nicht tun will, was man gar nicht tun kann, vor allem, wenn es außerdem noch gefährlich ist, nicht wahr, Kriegs lady? Ich meine, ich fürchte mich nicht vor Pferden – es ist bloß, daß ich… daß ich die wilden, die Tazey reitet, nicht reiten kann, und ich weiß es. Aber Onkel…« Er zögerte beschämt. »Onkel Nanciormis hat Vater erzählt, ich sei ein Feigling, weil ich das nicht tun wollte, und ein Drückeberger, weil ich nicht zum Unterricht erschien. Ich habe es versucht, ich habe es wirklich versucht, Seile und Stufen wände und so hinaufzuklettern, aber ich… ich kann es einfach nicht. Deshalb… deshalb mußte ich den Hauptmann draußen in der Wüste von Wenshar finden. Weil er… er ist ein viel besserer Lehrer. Ich meine, es ist schon stinklangweilig, aber er paßt auf, daß man sich nicht verletzt, weißt du? Manchmal habe ich gedacht…« Er hielt inne, ließ ihre Hand los und fuhr sich, dem Geräusch nach zu urtei len, hastig mit einem Ärmel über die Nase, die nun noch dunkler als zuvor sein mußte. Sternenfalke fühlte diese wulstige kleine Hand in der ihren und erinnerte sich an die dünnen Beine, die Handgelenke wie Pfeifenstie le. Er hatte nicht die Kraft, die ihn sicher durch die gefährlicheren Teile des Trainings gebracht hätte, und Nanciormis war eindeutig ein Lehrer, der es einfacher fand, das Versagen seines Schülers allem möglichen, nur nicht seiner eigenen, achtlosen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben. Jeryn hatte recht, dachte sie und erinnerte sich an ihre eigenen früheren Erniedrigungen in Sonnenwolfs Kriegsschule. Es war leichter, den Unterricht zu verweigern, als sich verspotten zu lassen. »Ich habe es versucht.« Dann, als schämte er sich des Schmerzes in seiner Stimme, wandte er sich der kleinen Tür zu, die hinter einer Mauer aus Weinfässern verborgen war, deren hölzerne Seiten mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren. »Hier entlang.« Sternenfalke blieb stehen, als Tazey wie ein Gespenst in der Dunkelheit neben ihnen auftauchte. »Wartet einen Moment.« Sie nahm Jeryn die Laterne ab und leuchtete kurz in Richtung der 624
nahen Regale. Wie sie in Erinnerung an ihre Klosterzeit vermutet hatte, enthielten sie zusätzlich zu den roten Rädern von wachsbe schichtetem Käse und Beuteln mit Weizenmehl noch leere Mehlbeu tel, die für alle möglichen Zwecke in der Küche sauber gefaltet dala gen. Sie nahm einen davon, entfernte den Deckel von einem Faß gedörrter Äpfel, holte einige heraus. Dann lieh sie sich Tazeys Mes ser, um ein großes Stück aus einem der Käseräder herauszuschnei den. Nachdem sie es im Beutel verstaut hatte, den sie anschließend an ihrem Gürtel festband, drehte sie den Käse ordentlich zur Wand, so daß der fehlende Teil erst bemerkt wurde, wenn jemand sich frag te, warum alle Mäuse und Schaben der Festung sich ausgerechnet auf diesem Regal tummelten. »Wenn wir durchbrechen, wird es hier schlimmer zugehen als in einem Hornissennest«, wisperte sie. Sie band zwei weitere Beutel an ihrem Gürtel fest und folgte Jeryn zu dem schmalen Türspalt hinter den Weinfässern. »Ich werde nicht gehen, ohne etwas zu essen zu haben.« Wie Sternenfalke vermutet hatte, war das leere Viertel des Palas tes so verlassen wie die Ruinen von Wenshar. Selbst wenn man gewußt hätte, daß sie entkommen war, zweifelte sie daran, daß je mand vor Sonnenaufgang nach ihr gesucht hätte. Als sie sich wie ein Gespenst durch die verblichenen Skelette der zerfallenden Mauern und sandumlagerten Zellen bewegte, gestand sie sich ein, daß sie auch guten Grund dazu hatten. Von jenseits des verlassenen Lagers konnte sie den schwachen, Übelkeit erregenden Geruch von altem Blut wahrnehmen wie den Gestank auf einem drei Tage alten Schlachtfeld, der von neuem das Grauen in ihr wachrief, das sie empfunden hatte, als sie und der Wolf die Überreste von Egaldus fanden. Zugleich erinnerte sie sich daran, daß Incarsyns Blut nicht nur über die Wände seines Raumes verteilt gewesen war, die Laken seines Bettes getränkt hatte, in denen der größte Teil seines Körpers immer noch lag, sondern daß es auch von der Decke getropft war. Der Raum befand sich am Rand des leeren Viertels, in dem Nexué und Egaldus gestorben waren. Neben ihr wisperte Jeryn: »Onkel Nanciormis sagte, daß er… daß er das Gesicht des Anführers gesehen hätte. Könntest… könntest du dir vorstellen… « Sternenfalke wußte, worauf er hinauswollte, aber sie mißverstand ihn bewußt. »Daß dieses Etwas die Züge des Hauptmanns ange nommen hat?« Obwohl er das nicht gemeint hatte, nickte Jeryn eifrig 625
angesichts dieser erheblich besseren Möglichkeit. »Ich weiß nicht. Deshalb müssen wir mehr über die Hexen erfahren.« Sie blieb ste hen, und die Kälte der Nacht biß durch die Fetzen ihres zerrissenen Hemdes in ihren Körper, ließ die Prellungen auf Gesicht und Armen brennen und ihre strapazierten Muskeln schmerzen. Als sie den Kopf wandte, drückte die harte Stahlkrause, die sie immer noch trug, kalt gegen ihre Kehle. »Der Hauptmann sagte, es sei in einer Ecke einer großen Lehmziegelküche mit halb eingefallenem Dach und zwei Öfen gewesen, die diagonal zueinander standen.« Jeryn nickte. »Ich weiß, wo das ist.« Tazey warf einen besorgten Blick über ihre Schulter. Der Nacht wind war abgeflaut, und Schweigen schien über dem leeren Viertel zu liegen wie die Dunkelheit des Schlafes, bevor Träume einsetzen. Ihre Stimme rührte kaum an der furchtbaren Stille. »Glaubst du… glaubst du nicht, daß wir uns in Gefahr befinden?« Mit undurchdringlicher Miene sagte Sternenfalke: »Zwei von dreien, daß wir sicher sind.« »Zwei von dreien?« »Wenn du oder Wolf dahinterstecken, haben wir nichts zu be fürchten.« Tazey grinste unsicher, als sie bemerkte, daß Falke sie auf den Arm genommen hatte. »Oh, danke.« Mit Ausnahme der schwachen Windböen, die in dem streifigen Mondschein unter den zerbrochenen Dachsparren umherhuschten, war die dunkle Küche still. Nichtsdestoweniger wartete Sternenfalke einen langen Moment im Türrahmen, bevor sie eintrat. Sie hatte in Erinnerung, daß Egaldus beim nächtlichen Umherwandern im leeren Viertel getötet worden war, und man konnte davon ausgehen, daß er nicht gerade nach Kräutern gesucht hatte, um sie im Dunkel des Mondes zu pflücken. Doch nichts belästigte sie. Sie hob die Hand und gab den Kindern ein Zeichen, ihr zu folgen. Als Sternenfalke und Tazey den Rost aus der Grube hoben, ra schelten in der Dunkelheit darunter Schuppen auf Sand wie das Wis pern toten Laubs. Sie entfernte die Abschirmung von der Laterne und hielt sie seitlich in die Schwärze hinunter. Etwas zuckte in der Dunkelheit. Wie schwarze Perlen, die aus einem geplatzten Sack gefallen waren, glitzerten lidlose Augen zu ihnen empor. Sternenfalke holte tief Atem. Sonnenwolf hatte ihr davon erzählt; aber wie bei den Angstsprüchen, die auf den Rost geschrieben wa ren, gab es einen großen Unterschied zwischen Wissen und Erleben. 626
»Glaubst du, daß du's kannst?« Tazey benetzte die Lippen und zögerte eine Weile, wobei sie in das Dunkel hinunterblickte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich wüß te nicht wie. Es ist… Ich weiß, was Sonnenwolf und Kaletha über Illusionen sagen, aber… ich kann sie nicht dazu bringen zu denken, daß es so etwas wie einen Stock gibt und dein Körper ein Stock ist. Ich kann… ich kann einfach nicht fühlen, was sie fühlen. Es tut mir leid, Kriegslady.« Sie sah Sternenfalke zerknirscht an, als erwartete sie, wegen ihres Versagens gescholten zu werden – Falke fragte sich, ob ihr Vater das bei ihr praktiziert hatte. Sie legte tröstlich eine Hand auf ihre kantige, zart gebaute Schulter. »Mir tut es jedenfalls nicht leid, daß du es zugibst«, sagte sie frei heraus. »Und vor allem nicht, daß du es gar nicht erst versuchen willst.« Sie hockte sich hin, umschloß ihre Knie und starrte zu den sich unruhig bewegenden Schatten in der Grube hinunter. Das trockene Rasseln von Klapperschlangen hallte vom niedrigen Dach wider, verstärkte sich zu einem heiseren Crescendo. Sie spürte, wie sich ihr unwillkürlich der Magen umdrehte. »Und selbst wenn du mit den Schlangen fertig werden könntest«, fügte sie hinzu, »wären da immer noch die Skorpione.« »Könntest du die Schlangen nicht dazu bringen, die Skorpione zu jagen?« Jeryn beugte sich über ihre Schultern, um fasziniert in die Grube hinunterzuschauen. »Aus Hunger oder sonst irgendwas?« Tazey dachte darüber nach, und Sternenfalke zwang sich, nicht über die Zweckdienlichkeit seines Vorschlages zu grinsen. »Ich glaube nicht«, sagte das Mädchen zweifelnd. »Ich weiß nicht einmal, wie ich sie überhaupt dazu bringen soll, etwas zu denken oder zu fühlen. Ich weiß nicht, wie – ja, wie sie denken oder fühlen.« »Also kommt es auch nicht in Frage, sie einfach einzuschläfern.« Sternenfalke stützte ihr Kinn auf die Knie und erwog die Angelegen heit im Lichte dessen, was Sonnenwolf ihr über Magie erzählt hatte. »Wenn Skorpione überhaupt schlafen. Von Schlangen weiß ich es… « »Hör mal«, sagte Jeryn plötzlich. »Tazey – du hast doch einen Sturm aufgehalten oder wenigstens in eine andere Richtung gelenkt. Kannst du noch andere solche Dinge tun? Mit der Luft, meine ich?« Verblüfft über ihren jüngeren Bruder runzelte sie die Stirn. »Ich… ich weiß nicht.« Sternenfalke legte den Kopf schräg. »Was hast du im Sinn, Kundschafter?« 627
»Nun, Schlangen sollten nachts gar nicht wach sein – und Skor pione auch nicht, weil es zu kalt ist. Kannst du es kälter machen?« »Ja«, sagte Tazey, dann hielt sie inne und blickte besorgt drein. »Bist du sicher?« fragte Sternenfalke. Sie wirkte ein wenig unsicher, als sie erwiderte: »Ja. Ich… Es ist wie mit dem Wind.« Das ist keine Antwort, dachte Sternenfalke, das würde nur für jemanden, der nicht selbst Zauberer ist, einen Sinn ergeben. Aber sie hatte lange genug mit Sonnenwolf und Kaletha Umgang gehabt, um zu wissen, daß Magier untereinander in einer Art Symbolsprache redeten, mit minimalen Hinweisen, die beide verstanden, für Dinge, die keinem, der sie nicht fühlte, erklärt werden konnte. Tazey rückte näher an den Rand der Grube und stützte ihr Kinn auf die gefalteten Hände. In dem instinktiven Wissen, daß er jetzt völlig still sein mußte, trat Jeryn zurück. Das Mädchen schloß die Augen. Sternenfalke konnte nicht, wie Sonnenwolf, spüren, wenn Magie am Werk war. Alles, was sie sah, war ein junges Mädchen in einer ausgeblichenen alten Reithose und einem schwarzen, zu weiten Hemd, das in konzentrierte Trance versunken war. Sie hielt den Kopf gesenkt, so daß ihr das safrangelbe Haar über das Gesicht fiel. Aber sie sah, wie im Mondschein die schwachen, kalten Schleier in der Luft über den tintenschwarzen Schatten der Grube zu kräuseln be gannen wie Bodennebel an einem Wintermorgen, und spürte das Prickeln ihres Kopfhaares. Jeryn machte einen weiteren Schritt zu rück, ein flüchtiger Ausdruck auf seinem schmalen Gesicht, der nicht ganz Angst, nicht ganz Kummer war, als er auf diese verzauberte Fremde hinunterschaute, die einst seine Schwester gewesen war. Instinktiv wollte Sternenfalke etwas in die Grube hinabwerfen, um sicherzugehen, ob die schreckliche Kälte dort unten auch Wir kung zeigte. Aber aus ihren eigenen Anfängen der Meditation wußte sie, wie leicht die verzweifelte Konzentration des Mädchens unter brochen werden konnte. Sie wußte auch, daß es keine Möglichkeit gab zu erfahren, wie lange sie sie aufrechterhalten konnte. Sie reichte Jeryn die Laterne und steckte sich Tazeys Messer in den Gürtel, um damit das Schloß aufzubrechen. Mit einem geflüsterten Stoßgebet an die ›Mutter‹ und irgendwelche von Sonnenwolfs mythischen Vorfah ren, die gerade zuhören mochten, ließ sie sich in die Dunkelheit hinunter. Sie hing einen Moment lang am Rand der Grube und lauschte 628
nach dem verräterischen Rascheln der Schuppen im Staub. Nichts als Stille drang an ihre Ohren. Würde das Geräusch ihres Aufkommens, fragte sie sich, Tazey aus der für den Bann erforderlichen Konzent ration reißen? Es gab, wie die Söldner gerne sagten, nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Sie landete sanft, federnd, mit gebeugten Knien. Das Licht fla ckerte über ihrem Kopf, als Jeryn sich mit der Laterne zu ihr herun terneigte. Ihr Schein tanzte über schuppige Rücken – schwarze, braune, mit sandfarbenen Rauten gemusterte und wie Öl und Perlen glitzernde. Eine Mamba züngelte benommen. Das war alles. Die Kälte in der Grube war unbeschreiblich, schnitt durch die Fetzen von Sternenfalkes Hemd und traf sie bis ins Mark. Ihre Brüste schmerzten – sie war froh über die leichte Wärme des Metalls der heißen Laterne dicht an ihren Fingern. Selbst in dieser Trockenheit der Wüste war ihr Atem eine Wölke aus weißem Dampf. Auf Zehen spitzen, damit sie nicht auf eine der Schlangen trat, schlich sie quer durch den Raum und dachte daran, daß sie die Lampe weit genug von der Nische abstellen mußte, damit die Hitze der Flamme nicht eine der schlafenden Schlangen wieder zum Leben erweckte. Als sie die Nische endlich erreicht hatte, zitterte sie unkontrolliert am gan zen Leib. Skorpione bedeckten die Truhen und den Balken darüber, so daß sie aussahen wie ein mit Metallplättchen besetztes Gewand. Sternen falke hielt einen Moment inne, rieb sich die bloßen Hände, voller Abscheu bei dem Gedanken an das, was sie tun mußte. Entweder tust du es oder gehst zurück und denkst dir was anderes aus, sagte sie sich. Nach dem Schaben im Kerker und den Schlangen in manchen der Kneipen, in denen du übernachtet hast, ist jetzt nicht die Zeit, zimperlich zu sein. Mit gespreizten Fingern langte sie nach vorn, hob einen der gelenkigen braunen Körper vom Deckel und warf ihn zur Seite. Mit einem leisen Ploff landete er in der Ecke. Keiner der ande ren rührte sich. Sternenfalke nahm an, daß sie in den acht Jahren ihres Soldaten daseins schon Schlimmeres getan hatte – sie erinnerte sich, wie sie einmal eine Truhe mit Goldstücken, die eine geplünderte Gemeinde in der Latrinengrube hinter der Stadthalle versenkt hatte, wieder herausgefischt hatte. Aber während sie sich schaudernd in der kalten, verzauberten Dunkelheit niederkauerte, um die Schlösser aufzubre chen, fielen ihr nicht viele andere Beispiele ein. Sie wartete auf den 629
Wärmehauch, der ihr sagen würde, daß Tazeys Konzentration aufge braucht und sie selbst nun, trotz aller Widerstände und guten Absich ten, so gut wie tot war. In der einen Truhe waren dreizehn Bücher, in der anderen fünf. Zwei davon waren so groß und unhandlich, daß sie nur eines auf einmal tragen konnte, als sie über den widerlichen Belag der Grube stelzte, um sie Jeryn hochzureichen. Ihre Hände waren steif von der Kälte und kaum imstande, sich um die schweren Bände zu schließen, die sie an ihn weitergab, wobei sie hoffte, daß keine Skorpione im Einband versteckt waren, die in der wärmeren Luft oben wieder zum Leben erwachten. Es war nicht sehr wahrscheinlich – die Truhen waren gut gegen Feuchtigkeit, Sand und das kleine glutäugige Unge ziefer der verlassenen Stätten abgedichtet. Als sie fertig war, verschloß sie die Truhen wieder, griff nach der Leiter und huschte aus der Grube heraus, wobei ihr geschwächter Körper unter mehr als der bloßen Kälte fröstelte. Jeryn blickte sie an, die Augen vor Ehrfurcht geweitet. Als sie Tazey sanft aus ihrer Trance rüttelte, wisperte der Junge: »Du bist tapferer als Onkel Nanciormis – tapferer als mein Vater.« »Ich habe einfach nur acht Jahre mehr Übung als Plünderer«, sagte Sternenfalke. »Und jetzt wirf, um Himmels willen, mal einen Blick auf meinen Rücken, um sicherzugehen, daß auch keines dieser Tiere sich auf mir niedergelassen hat, und dann nichts wie weg. Wir haben heute nacht noch viel zu tun.«
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15. Kapitel Zum vierten- oder fünftenmal weckten Sonnenwolf Schmerzen, die ihn dem Bewußtsein noch stärkerer Schmerzen aussetzten. Er begann zu fluchen und versteifte wieder seine Knie, um den bren nenden Schultern, dem Rücken und den wunden Handgelenken et was von ihrer qualvollen Spannung zu nehmen; die Wachen auf der anderen Seite der Zelle bewegten sich nervös und hoben ihre Arm brüste. Es waren wieder der untersetzte, blonde junge Mann und das dunkle Shirdarmädchen, die er sah – er hatte zu zählen aufgehört, wie oft sie sich schon mit dem anderen Paar, das oben in der Wachstube beim Kartenlegen saß, abgewechselt hatten. Seine Knie zitterten, und der Wolf hätte ihnen gerne gesagt, daß, wenn sie der Routine überdrüssig wären, er sich das nächstemal zur Abwechslung gern für sie in die Wachstube zurückziehen würde. Es wäre schon ein Gewinn, dachte er, wenn er auch nur den kleinsten seiner Vertreibungszauber verhängen könnte, um die Scha ben und die großen, fetten, unverschämten Fliegen vom offenen Fleisch seiner Wunden fernzuhalten. Aber der Bannspruch in den Ketten hatte gute Arbeit geleistet. Alles, was er tun konnte, war, schwach seine verkrampften Arme zu schütteln und zu fluchen. Langsam wurde er so müde, daß er nicht einmal mehr das tun konn te. Es war etwa um die siebte Nachtstunde. Er mußte noch den Rest der Nacht und den ganzen morgigen Tag überstehen. Der Gedanke war erheblich schlimmer als der an jeglichen Tod, der ihn anschlie ßend erwarten mochte. Ein Luftzug aus dem Gang bewegte die faulige Luft, und sein Blick verschwamm mit dem Rauch. Er wußte, daß er morgen bei Sonnenaufgang in der Trockenheit der Wüstenluft halb verrückt vor Durst sein würde, aber jetzt war es mangelnder Schlaf, der ihm am meisten zu schaffen machte – mangelnder Schlaf und die Schmerzen, die von seinen Beinen ausgingen, das Rückgrat entlang zu den ver krampften, brennenden Schultermuskeln hinaufkrochen und zu den roten Ringen blutender Feuergruben hin ausstrahlten, die seine Handgelenke umgaben. Früher oder später würden seine Knie nach geben. Und dann, dachte er, würde er mit wehmütiger Sehnsucht an diesen Augenblick zurückdenken. Wo immer sie Falke hingebracht hatten, er hoffte, daß sie besser 631
dran war als er. Bei dem Gedanken an sie kehrte das sonderbare, entfesselnde Gefühl der Panik zurück. Sie wäre nie zusammengebrochen, so wie er. Der Grund mochte darin liegen, dachte er wehmütig, daß er bei umgekehrten Rollen wohl niemals ein unschuldiges Opfer gewesen wäre. Doch tief in seinem Inneren wußte er, daß Sternenfalke kälter und härter war als er. Seit er sich in sie verliebt hatte – und seit er sich der Magie hingegeben hatte, die seine Bestimmung war –, hatte er in sich eine immer größer werdende Bereitschaft zur Empfind samkeit entdeckt, auf die sein Vater mit Herablassung reagiert hätte – erst mit Herablassung und dann mit Prügel, bis das Blut floß. Er fragte sich, ob sie ihn dafür verachtete, daß er zusammen gebrochen war, wie er es getan hätte, oder ob sie vermutete, was er wußte – daß sein Aushalten letztlich keinen Unterschied gemacht hätte. Warum hatte der Dämon sein Gesicht gehabt? In der Dunkelheit auf dem Gang draußen regte sich etwas. Sonnenwolf hob ruckartig seinen Kopf, und eine Wache richtete ihre Armbrust auf ihn, während die andere sich umdrehte und einen raschen Blick durch den Steinbogen warf. Der Widerschein der Fa ckeln aus dem Treppenschacht oben war schon lange in rauchige Dunkelheit versunken, aber wie ein nebliger Fuchsschweif tanzte weißes Licht über die Risse im Stein. Dann war es verschwunden. Über alle Vorsicht hinaus erschöpft, drehte Sonnenwolf seinen Körper, soweit es ging, von der Tür – und diesem Licht – weg und zwang sich, nicht auf das Gefühl des brennenden Reißens an den Fesseln um seine Handgelenke zu achten. Während er dies tat, keuchte er auf und verzerrte seine unrasierten Züge zu einem, wie er hoffte, überzeugenden Ausdruck äußersten Entsetzens und Grauens, als stellte das Licht für ihn wie für die Wachen irgendeine Art von Bedrohung dar, obwohl er in Wirklichkeit nicht den Eindruck hatte, daß eine Gefahr davon ausging. Die Wachen sahen sich, dann wieder ihn an. Er warf ihnen einen verzweifelten Blick zu und hoffte in brünstig, daß sie sich erinnerten, wie er Nanciormis schluchzend um Gnade angefleht hatte. Wenn ich das schon durchmachen muß, dach te er grimmig, soll es sich wenigstens für mich lohnen… Was, zum Teufel, auch immer geschah, es war besser, als wie ein räudiger Hund erschossen zu werden. Jedenfalls hoffte er das. 632
Nach einem Augenblick des Zögerns gab die weibliche Wache der männlichen ein Zeichen, den Wolf im Auge zu behalten, dann trat sie vorsichtig in den Gang hinaus, um nachzuschauen. Sonnen wolf sah den Schatten des Mädchens an der Wand, das tanzende Leuchten, das sie davonlockte. Die zurückgebliebene Wache wapp nete sich und hielt die Armbrust auf den Wolf gerichtet, ohne den Blick von ihm zu lassen. Auf diese Weise sah der junge Mann Sternenfalke nicht, als diese leichtfüßig durch den Bogen hinter ihn trat und ihm mit einem Zie gelstein, der zur Geräuschdämpfung in einen Mehlbeutel gewickelt war, einen Schlag versetzte. Sie fing den Mann auf, bevor er fiel, und hielt auch seine Armbrust fest, um ihn dann sanft auf den Steinboden gleiten zu lassen, während Jeryn wie ein kleiner Schatten dicht auf ihren Fersen in den Raum gehuscht kam. Wehe Freude durchfuhr Sonnenwolf, schmerzhaft wie das Vor dringen von Blut in ein betäubtes Glied, als er sie am Leben und, zumindest nach den Maßstäben von Söldnern, unverletzt sah; es war so intensiv, daß er, als sie nahe genug gekommen war, um ihn zu hören, nur wispern konnte: »Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?« Sie zog die Bolzen heraus, die die Handgelenkketten mit den Ringen an der Mauer verbanden, wobei die Fetzen ihres Hemdes wie die einer Bettlerin an ihrer schlanken Gestalt herabhingen. Eine Staubschicht hatte sich über den blutigen Schmutz gelegt, der ihr geschwollenes Gesicht bedeckte. »Ich habe den königlichen Ball verlassen, bevor das Tanzen zu Ende war, um herzukommen und dich zu retten, und das ist alles, was du zu sagen hast?« Er senkte seinen Arm und fluchte heftig, um zu verhindern, daß er vor Schmerzen aufschrie. Sternenfalkes Arme waren sanft, fest und stark wie die eines Mannes. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Dann riß er sie an sich, biß angesichts der Schmerzen, die ihm diese Bewegung bereitete, die Zähne zusammen und hielt sie so fest an sich gedrückt, wie es ihm seine zitternden Arme erlaubten. Er preßte das Gesicht gegen ihr klebriges Haar, während die Armbrust unbequem zwischen ihren beiden Bäuchen eingeklemmt wurde. Er schmeckte ihr Blut und sein eigenes, als ihre rissigen und geschwol lenen Lippen sich trafen, ungeachtet der Schmerzen. Dann wisperte er: »Gehen wir.« Er wußte, daß, wenn er sie jetzt nicht losließ, er es nie mehr täte. Jeryn huschte an ihnen vorbei in die dunkelste Ecke der kleinen Zelle und drückte tief unten gegen die Wand. Eine kleine Platte wich 633
zurück, und ohne ein Wort schlüpfte der Junge hinein. Sonnenwolf, dem die Ketten noch von den zerschundenen Handgelenken hingen, glitt hinterher, und Sternenfalke, die, mit der Armbrust in der Hand, als letzte hindurchstieg, zog die Tür hinter sich zu. Tazey wartete auf sie mit gesattelten Pferden hinter dem alten Tor des leeren Viertels, das zum Paß hinunterführte. Schmutzbedeckt und verrußt, wie sie war, nahm Sonnenwolf sie in die Arme. Er wuß te, woher das lockende Licht gekommen war. »Lebewohl.« Ihre kleinen Hände fühlten sich durch die Löcher in seinem zerrissenen Hemd kalt an. »Ich wünschte, du hättest bleiben können. Ich werde einen Lehrer nötig haben…« »Von wegen Lebewohl«, sagte der Wolf schroff. »Auch wenn hier gleich die Hölle los ist, werde ich nicht gehen, bevor ich nicht weiß, was hinter alledem steckt.« »Aber du kannst doch nicht…«, begann sie. »Einen Teufel kann ich nicht.« Sein einzelnes goldenes Auge schweifte von ihr zu Jeryn, der in den Schatten des eingefallenen Tores die Pferde hielt. »Abgesehen davon, daß Lady Illyra oder Kaletha uns früher oder später aufspüren werden, glaube ich nicht, daß dieses Ding aufgehört hat zu töten. Wir wissen nicht, wer sein nächstes Opfer sein wird. Da wir nicht einmal wissen, welche Reichweite es hat, ist es durchaus denkbar, daß ich oder Falke oder wir beide es sein werden.« Aus der Richtung des Hauptgebäudes der Festung kam ein ferner Schrei, dann erhob sich Waffengeklirr, und der Schein von Fackeln zuckte wie Leuchtkäfer über die Mauern. Sternenfalke bemerkte: »Entweder ist ein Stinktier in den Saal eingedrungen, oder sie wis sen, daß wir entwischt sind.« Sonnenwolf blickte durch den zahnlückigen Schlund des Tores auf das zarte Wechselspiel von Hell und Dunkel, das der Mond schein über das hügelige Land warf. Eine Elfeneule schrie einmal von dort, wo die Nacht ihre Schatten wie eine Skeletthand über die Sandverwehungen nahe einer alten Mauer streute; auf dem Kamm des ›Rückgrats des Drachen‹ funkelte der Mond wie eine Schicht aus Rauhreif. »Gibt es einen Ort in den Bergen, wo wir uns verkriechen und die Pferde verstecken können?« Jeryn blickte ausdruckslos – er mochte jeden unterirdischen Tun nel und Geheimgang in Tandieras kennen, aber er hatte noch niemals im Leben freiwillig einen Schritt vor die Mauern der Festung getan. Tazey sagte: »Es gibt eine verlassene Kapelle hoch oben in der 634
Wand des Binnig-Felsens – etwa dort.« Sie deutete auf den ver schwommenen Umriß der Halbkuppel. »Der Pfad dahin ist recht schmal, aber man kann es auf einem Pferd schaffen.« Der Wolf wandte sich an Jeryn. »Glaubst du, du findest morgen allein dort hinauf, sobald du dich verziehen kannst? Ich werde je manden brauchen, der mir Abschnitte aus diesen Büchern vorliest.« Der Junge nickte mit dunkel glühenden Augen. »Gut. Tazey, du bleibst hier und behältst die Dinge im Auge – es ist besser, wenn ihr nicht beide gleichzeitig vermißt werdet.« Er schwang sich in den Sattel. Wenn nur Sternenfalke bei ihm gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich vor Schmerzen aufgestöhnt und ge flucht; aber so knirschte er bloß mit den Zähnen. »Und seht zu, ob ihr nicht irgendwelche Waffen für uns herausschmuggeln könnt – und eine Decke.« Er nahm die Zügel und trottete durch das enge Tor auf den in zinnfarbenen Mondschein getauchten engen Pfad dahinter zu. Tazey fragte leise: »Werdet ihr heute nacht zurechtkommen?« Sternenfalke sagte mit todernster Miene: »Ich denke, wir werden es schaffen, einander warmzuhalten.« »Hauptmann?« Er wandte schläfrig den Kopf und blickte auf die elfenbeinfarbe nen Züge der Frau hinunter, die sich an seine Seite gekuschelt hatte. Das blasse Dämmerlicht ließ ihr Haar farblos erscheinen und die Schwellungen auf ihrem Gesicht beinahe schwarz. Die Luft war bitterkalt, so daß ihnen selbst die Rauheit des Sackleinens und der Satteldecken, in die sie gehüllt waren, willkommen waren. Die Glie der der Metallkette um ihren Hals klirrten leise, als sie eine narben bedeckte Hand hob, um einen der wenigen unverletzten Bereiche seines Gesichts zu berühren, mit einer Sanftheit, die niemand vermu tet hätte, der einmal gesehen hatte, wie sie Männern in der Schlacht mit einem Knüppel den Schädel einschlug. Leise sagte sie: »Danke.« »Dachtest du nicht, ich würde ihnen geben, was sie auch haben wollten, ihnen erzählen, was immer sie hören wollten, um dich zu retten?« Sie war lange Zeit still, während sich verborgene Gedanken schmerzhaft ihren Weg an die Oberfläche bahnten. Das graue Licht, das durch die enge Tür der Kapelle sickerte und sich über die zwei zerlumpten Flüchtenden legte, versilberte ihre Augen – er sah, wie sie sich plötzlich mit Tränen füllten. »Ich hätte nie gedacht, daß es 635
jemals einer tut«, sagte sie schließlich. Als sie das nächstemal sprachen, hatte das Licht das dichte Buschwerk und Buffalogras vor der Kapellentür erwärmt, und wa bernder gelbgrüner Schimmer von den Pfützen draußen brach sich im schattigen Steinraum. Die hohen Fenster über dem kleinen Stein altar glühten in der weiten Leere der Wüstenluft, zweihundert Schrit te über der Ebene aus Schutt und Geröll am Fuß des Berges. Die Kapellen der ›Mutter‹ waren jenen vorbehalten, die darum kämpften, sie zu erreichen, anders als die leicht zugänglichen offenen Kirchen des Trigottes. »Warum hast du Jeryn nach seiner Kenntnis vom Ursprung der Wörter gefragt – nach dem Unterschied zwischen Hexen und Zaube rern?« Im Halbschlaf dahindämmernd, hätte Sonnenwolf beinahe aufge lacht. Nur Sternenfalkes logischer Verstand konnte nach der schwü len Hitze des Beischlafs auf eine solche Frage kommen. »Was ist denn der Unterschied?« Sternenfalke dachte eine Weile über die Wörter nach. »Im Dia lekt des Nordens besteht der Unterschied in der Art der Magie«, sagte sie schließlich. »Ein Zauberer ist ein Akademiker; das Wort ›Hexe‹ beinhaltet Erdenmagie, manchmal Altweibermagie – Intuiti on. Im Dialekt der Mittleren Königreiche, und hier am Fuß der Bergkette, fiel mir auf, daß ›Zauberer‹ meistens männlich und ›He xe‹ weiblich gebraucht wird – so wie Gott in der Einzahl männlich und in der Mehrzahl weiblich erscheint.« »Dicht dran«, stimmte er zu und setzte sich auf, wobei ihn die Berührung mit der kalten Luft frösteln ließ. »Aber bei den Shirdar hat sie noch eine andere Bedeutung, eine abfällige – des Inhalts, daß die Magie zu Anfang nicht von dir selbst ausgeht. Das Shirdar ist eine Sprache voller Feinheiten. In ihr ist, wie im Norden, ein Zaube rer ein Akademiker, einer, der studiert, ein Gelehrter oder ein Pio nier. Aber das Shirdarwort für ›Hexe‹ zeigt an, daß jemand seine Kraft erkauft hat, gewöhnlich im Tausch gegen seine Seele. Wenn sie von den Hexen von Wenshar reden, meinen sie nicht Macht – sie reden davon, wie Macht erworben wurde. Und ich habe das Gefühl«, sagte er, »daß diese Vorstellungen auch auf Magier bezogen werden, die sie sozusagen als ›männliche Hexen‹ ansehen.« Er saß mit über kreuzten Beinen unter der zerlumpten Decke und strich sich das ausgeblichene, dünne Haar aus dem unrasierten Gesicht. Es war etwas Ironisches an dieser äußersten Bequemlichkeit auf 636
dem nackten Steinboden, dachte Sonnenwolf. Als er noch der wohl habendste Söldnerführer im Westen gewesen war, hätte er niemals geglaubt, daß es ihm einmal gefallen könnte, ein zerlumpter, schmutziger Flüchtling zu sein und mit nichts außer einem vagen Anrecht auf eine Satteldecke und vier Satteltaschen voll gestohlener Bücher in einem Steingemäuer zu sitzen. Nichts als ein rascher Blick hinab in die Kalten Höllen, und man ist fast in jeder Hinsicht mit dem Leben ausgesöhnt. »Es sind die Dämonen von Wenshar, die die Quelle der Hexen kraft darstellten«, fuhr er fort. »Sie verkauften ihre Macht, ihre Dienste, an die Hexen und Magier – und wurden so zu ihren Die nern.« »Bist du sicher?« Sternenfalke stützte sich auf einen Ellenbogen und zog die Satteldecke über ihre nackte Schulter. »Dämonen sind doch… unsterblich. Und körperlos. Es gibt alte Legenden, wonach Leute sie beherrscht haben, aber wieso sollten sie erlauben, daß je mand sie beherrscht? Wir haben nichts, woran sie interessiert sein könnten.« »Wirklich nicht?« Seine heisere Stimme war leise im Halbdun kel. »Denk einmal nach, Falke. Dämonen haben kein Fleisch, wie wir uns Fleisch vorstellen, kein Blut, keine Leidenschaften. Es sind kalte Kreaturen, flüchtige Wesenheiten ohne Körper. Sie können niemals sterben – und deshalb leben sie auch nie. Ich habe in Wens har ihre Gedanken rings um mich her gespürt, Falke; ich spürte ihre Kälte, die nach Wärme lechzt.« Er beugte sich vor und stützte seine Ellenbogen auf die Knie. »Sie verzehren sich nach Wärme – nicht nach Wärme, wie wir sie verstehen, oder wenigstens nicht, wie wir sie im allgemeinen verstehen, sondern nach der Wärme der Seele, des Blutes – ja, sogar nach der Hitze leidenschaftlicher Angst, weshalb sie auch Tiere und Menschen in den Wahnsinn treiben, wann immer sie ihrer habhaft werden, in einen panikerfüllten Tod, damit sie sich daran laben kön nen, wenn das Leben aus ihren Opfern entweicht; nach der Hitze der Lust, die sie dazu bringt, sich im Traum mit Männern und Frauen zu paaren, ihre Partner mit den Bildern zu füttern, nach denen sie sich sehnen, um sich an diesem sterblichen Feuer zu wärmen. Und nach der Hitze des Hasses, die das beste von allem ist, weil sie nicht mit der Zeit nachläßt. Die Dämonen von Wenshar wurden süchtig nach Haß, wie Men schen nach Traumzucker süchtig werden. Die Hexen und Magier von 637
Wenshar fütterten sie, setzten ihre magischen Kräfte ein, um die Kanäle zwischen ihren und den Gedanken der Dämonen zu öffnen, und die Dämonen fanden, daß ihnen die Nahrung gefiel. Es gibt in vielen Teilen der Welt Erddämonen, aber die meisten Menschen meiden sie, wie sie die Menschen meiden. Ursprünglich hatte der Hauskult von Wenshar vielleicht nur vorgehabt, die Dämonen unter Kontrolle zu halten, weil ihre Stadt erbaut wurde, wo sie lebten. Doch später wollten sie sie beherrschen. Dann stellten sie fest, daß es dafür einen Preis zu zahlen gab. Das war die geheime Macht der Männer und Frauen von Wenshar – daß die Dämonen töteten, wen immer sie haßten. Aber andererseits durften sie nicht aufhören zu hassen.« Sternenfalke blickte zu den unberührten Büchern hinüber, die am Fuß des nackten Steinaltars aufgestapelt waren. Sonnenwolf schüttel te den Kopf. »Das sind nur Vermutungen«, sagte er. »Aber die Dämonen wuß ten von dem Augenblick an, da ich ihre Stadt betrat, daß ich magi scher Abstammung bin. Sie versuchten mich dazu zu bringen, diese Macht einzusetzen, zu benutzen, wie die Hexen und Magier es taten. Diese gaben den Dämonen ihren Haß, damit sie nicht hungerten und weiter ihr Spiel trieben, aber indem sie das taten, brachten sie sie auf den Geschmack. Bestachen sie, wenn du so willst. Heute gibt es kaum noch Magier. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum im mer nur die Rede von den Hexen von Wenshar ist. Sie haben länger überlebt – weiß der Teufel, wie. Vielleicht hat es damit zu tun, daß Dämonen unsterblich sind und sie zu Dämonen wurden. Jedenfalls, während Altiokis diesen Teil der Welt beherrschte, gaben die Leute nicht mehr zu, magischer Abstammung zu sein, nicht einmal vor sich selbst. Dämonen haben für mehr als ein Jahrhundert in dieser Stadt gelebt wie Schaben und sich von dem verrottenden Haufen alten Hasses ernährt. Sie haben sehr lange gedarbt.« Im glühenden blaugrünen Spalt des Eingangs hielt, mit zitternden Barthaaren, eine kleine Steinmaus inne, deren Umrisse sich deutlich gegen die Farben des Laubs und der Felsen abzeichneten. Eine Schar Tauben flog wie Schneegestöber hinter der Tür vorbei. Sternenfalke blickte lange Zeit auf ihre Hände hinunter. »Die Kinder sagen, Nanciormis habe dein Gesicht auf dem Dä mon gesehen, der ihn heimsuchte.« Sonnenwolf nickte und erinnerte sich, wie die Augen des Dä mons in der Dunkelheit des Tempels von Wenshar golden wie sein 638
eigenes geglüht hatten. In diesem Moment, als ihre Gedanken sich berührten…? Er hatte nicht vergessen, daß man die toten Vögel fand, nachdem er seine erste Nacht in diesem Land verbracht hatte. »Ich kann es nicht erklären«, sagte er langsam. »Aber ich glaube, ich hätte es gemerkt.« »Wie Tazey sagte, soll man es Nanciormis zufolge nicht immer gemerkt haben. Das läßt beide Möglichkeiten offen«, fügte sie nach einer Weile hinzu. »Die Tatsache, daß du die toten Vögel vor dem Sturm gefunden hast, bedeutet nicht, daß Tazey es nicht doch getan haben könnte. Vielleicht wußte sie nur nichts davon. Im Norden habe ich von Klopfdämonen gehört, und es hatte immer irgendwie mit einem jungen Mann oder einem kleinen Mädchen zu tun. Und schließlich ist sie magischer Abstammung.« »Genau wie Kaletha«, sagte der Wolf. »Und wenn Kaletha jetzt um die dreißig ist, muß sie schon weit über zehn gewesen sein, als Königin Ciannis noch lebte – alt genug, um in den Kult aufgenom men worden zu sein, wenn Ciannis ihre letzte Vertreterin war. Be sonders, wenn Ciannis so schwächlich war, wie Nanciormis sagt, und vermuten mußte, eine zweite Geburt nicht zu überleben.« »Vielleicht«, sagte Sternenfalke. »Wenn ihre eigene Eitelkeit un befriedigt blieb, würde das erklären, wieso Kaletha so darauf aus ist, Tazey zu unterrichten. Aber es gab keine Veränderung, bei Kaletha geschah nichts Neues, das all dies ausgelöst haben könnte. Warum jetzt? Warum nicht vor neun Monaten, als Altiokis starb?« »Du sprichst, als ergäbe das Morden einen Sinn. Das tut es nicht.« Sonnenwolf stand auf und stöhnte über die Schmerzen im Rücken und in den Beinen. Auch Sternenfalke richtete sich etwas auf und bewegte sich, als litte sie ebenfalls unter Schmerzen, doch ihr Gesicht blieb unbewegt. »Reg dich ab«, sagte sie mit ihrer üblichen gleichmütigen Stimme. »Morgen wird es noch viel schlimmer sein. Sehen wir mal, was die Bücher zu alledem zu sagen haben.« Von den achtzehn Büchern waren sieben in den verschiedenen Ausprägungen der alten Dialekte von Gwenth geschrieben, wie sie in den vorigen Jahrhunderten in den Mittleren Königreichen gespro chen worden waren. Gemeinsam hinkten Sternenfalke und Sonnen wolf zu den Felszisternen unterhalb der Kapelle, tränkten die Pferde und badeten in dem eiskalten, seichten Wasser. Sonnenwolf rasierte sich mit Tazeys Dolch und verband das übel zugerichtete Fleisch seiner Handgelenke mit den Resten seines Hemdes. Es war hellichter 639
Tag, als sie zu der Kapelle zurückkehrten und es sich zum Lesen bequem machten. »Das hier gefällt mir nicht«, sagte Sternenfalke leise und blickte von den verblichenen und abgegriffenen Seiten eines kultischen Buches auf. »Nanciormis hatte recht. Sie haben es nicht immer ge merkt, vor allem anfangs nicht. Aber ihre Mütter und Schwestern und Tanten hielten nach den Anzeichen Ausschau, wenn das Mäd chen magischer Abstammung war, und führten es ein, brachten ihm bei, wie es die Dämonen kontrollieren konnte, die seine Gedanken herbeiriefen. Es waren nur fünf oder sechs Generationen, weißt du«, fügte sie hinzu und lehnte sich mit den lädierten Schultern behutsam gegen die Wand. »Das ist keine lange Zeit in der Geschichte der Alten Häuser. Es sieht so aus, als hätte es vor dieser Zeit einen Fami lienkult gegeben, aber die Dämonen kamen wahrscheinlich erst, als die Linie der Magier in Erscheinung trat. Es sei denn…« Sie hielt für einen Moment inne, runzelte die Stirn und begann dann die verbli chenen, engbeschriebenen Seiten mit ihren roten und blauen An fangsbuchstaben, ihren Schnörkeln und Schlingen, wo ein eiliger Schreiber Worte abgekürzt hatte, zurückzublättern, ungeduldig auf der Suche nach etwas, das sie offenbar nicht mehr finden konnte. Sonnenwolfs gelbes Auge verengte sich. »Bei meinem ersten Ahnen, es muß furchtbar gewesen sein, in diesem Palast zu leben«, murmelte er. »Hast du jemals mit einem Klopfdämon zu tun gehabt, Falke? Selbst, wenn sie nicht gerade mit Dingen werfen oder Lärm machen, spürt man, daß sie im selben Raum sind und einen beobach ten. Kein Wunder, daß niemand zur Verteidigung Wenshars kommen wollte, als Kwest Mralwe Armeen über die Pässe schickte.« Am Vormittag kam Jeryn, schwitzend unter seinen schlechtsit zenden Kopfschleiern, eifrig auf Mauerauge den Pfad heraufgeritten, wobei er bei jedem unvertrauten Geräusch zusammenzuckte. Er rollte sich in einer Ecke der Kapelle zusammen, wo ein matter Son nenstrahl durch ein mit Unkraut überwuchertes Loch im Dach des Felskamins fiel. Während Sternenfalke sich weiter ihren Nachfor schungen widmete, setzte Sonnenwolf sich neben ihn und folgte dem Finger des Jungen über die gekritzelte schwarze Linie ausgewasche ner Schrift. Je mehr er hörte, desto größer wurde sein Unbehagen. Alle, die von Dämonen schrieben, erwähnten die Tatsache, daß sie im Traum die Züge jener tragen konnten, die sie geschickt hatten. Nirgendwo stand, daß sie zur Tarnung menschliche Gestalt annah men. 640
Sie hatten in Wenshar seinen Namen gekannt. Konnte es sein, daß sie das gleichzeitig mit seiner Gestalt versorgt hatte? Oder gab es eine andere Erklärung? Ich hätte es gemerkt, dachte er immer und immer wieder, wäh rend er spürte, wie sich die Angst in seinen Adern regte. Bei meinem Vorfahren, ich hätte es gemerkt, wenn nirgendwo sonst, dann in meinen Träumen… Aber die Stimme des Jungen sprach weiter, leierte die Namen der verschiedenen Dämonen herunter – es waren Hunderte – und die obszönen und schrecklichen Formeln ihrer Anrufung. Sonnenwolf erinnerte sich, daß vor Jahren einmal ein Mann in seiner Truppe, von plötzlichem Schnarchen gestört, seine Geliebte zu Tode gewürgt hatte, was mehrere Minuten gedauert hatte. Nach dem Aufwachen hatte er unter bitteren Tränen geschworen, daß er sich an nichts mehr erinnerte – daß, als die Männer ihn weckten, er neben ihrer Leiche gesessen habe – , und nichts konnte ihn überzeugen, daß nicht sie es gewesen waren, die es getan hatten und nun ihm die Schuld daran geben wollten. In den Hallen von Wenshar hatten ihn die gemalten Schatten der Frauen von den Wänden aus beobachtet! Heiterkeit in den dunklen Augen. Sie hatten einander eingeführt, die ältere der jüngeren gehol fen und ihr den Schock dieses schrecklichen Wissens erträglich ge macht. Was stellte es für jemanden dar, der diese Hilfe nicht hatte? Nachdem Jeryn gegangen war und er und Sternenfalke sich zu ih rer Mahlzeit aus Fleisch, Brot und Wein niedergelassen hatten, die der Junge ihnen zusammen mit Decken und einem Meißel, mit dem sie sich von ihren letzten Ketten befreien konnten, gebracht hatte, sprach er von seinen Befürchtungen. Falke überdachte die Sache, als unterhielten sie sich über eine dritte Person, die keiner von ihnen gut kannte. »Haßt du Nanciormis?« fragte sie. Sonnenwolf überlegte. Ihm wurde klar, daß angesichts dessen, was der Kommandant ihm und Sternenfalke vorige Nacht angetan hatte, er ihn eigentlich hassen sollte, aber er tat es nicht. Vielleicht, dachte er, weil er das gleiche selbst schon getan hatte. »Ich traue ihm nicht«, sagte er schließlich. »Er ist zu stark und zu schlau für die Position, die er innehat, oder jedenfalls glaubt er, das zu sein. Osgard scheint ziemlich gut beraten damit, ihn dort zu behalten, wo er ist. Er macht sich gut, aber er ist verantwortungslos – er ist ein früherer Kämpfer, und dabei könnte er doch keinem Hund beibringen, sein Bein an einem Baum zu heben. Er hätte Jeryn eines Tages umge 641
bracht, wenn er ihn weiter dazu angetrieben hätte, Pferde zu reiten, die zu stark für ihn sind. Er ist Ränkeschmied und Egoist, und er tratscht schlimmer als ein altes Weib. Aber nein, ich hasse ihn nicht. Und vor dem Anschlag habe ich ihn ganz sicher nicht gehaßt.« »Und Incarsyn?« hakte sie nach. »Dir liegt viel an Tazey und man könnte sagen, daß er sie beleidigt hat.« »An Incarsyn war nicht genug dran, daß irgend jemand ihn has sen könnte.« Der Wolf nahm einen Bissen von dem harten, körnigen Brot und starrte gedankenverloren zu der Wand der Schlucht jenseits der Tür, auf der sich in schrägen blaugoldenen Linien der Schatten des Klippenrandes abzeichnete, als wäre er, tintenschwarz und ver goldet, mit einem Lineal gezogen. Er fügte hinzu: »Außer vielleicht Tazey.« Sternenfalke schüttelte den Kopf. »Sie wollte ihn niemals heira ten«, erklärte sie. »Sie konnte es ihrem Vater nur nicht sagen – viel leicht auch sich selbst nicht eingestehen. Wenn er gestorben wäre, bevor er sich von dem Bündnis hätte zurückziehen können, viel leicht… « »Du glaubst, sie hätte nicht befürchtet, daß ihr Vater einen Weg gefunden hätte, das Bündnis trotz Illyra wiederzubeleben? Beson ders, wenn Nanciormis ihr dasselbe erzählt hatte wie uns, nämlich all das, was Incarsyn angeblich über sie gesagt hatte?« Die dunklen Brauen der Frau hoben sich nachdenklich, und sie blickte auf ihren Weinbecher hinunter, während sie diesen Gedanken verdaute. »Du redest immer noch so, als ergäben die Morde Sinn«, sagte der Wolf. »Vielleicht tun sie das gar nicht. Vielleicht hat Tazey In carsyn gehaßt und auch Galdron dafür gehaßt, daß er ihr erzählte, verflucht zu sein – offenbar glaubte sie, Nanciormis genügend zu hassen, was immer er auch zu ihr gesagt haben mag, um es gewesen sein zu können. Aber das erklärt noch nicht Egaldus' Tod.« »Außer, wenn wir es mit zwei Mördern zu tun haben«, sagte Sternenfalke ruhig. »Kaletha kann durchaus Gründe gehabt haben, Egaldus zu hassen, wenn er ihr ihre Bücher abnehmen wollte. Mit Sicherheit hatte sie einen Grund, Galdron zu hassen.« »Und Nexué?« fragte der Wolf. »Auch wenn sie eine rührige alte Klatschbase war, Falke, war sie letzten Endes doch harmlos. So jemanden schafft man sich gewöhnlich vom Hals, indem man einen Zauber über ihn verhängt, so daß seine Haare ausfallen oder sein Ischias sich regt, nicht indem man seine Eingeweide fünfzig Schritte 642
weit verstreut.« »Wenn man sechzehn ist, vielleicht schon.« Sternenfalke aß den letzten Rest eines Brotlaibs und warf die Krumen auf die Schwelle, wo drei kleine, schwarze Weizenohren sofort herbeigestürzt kamen, um darum zu kämpfen. »Und schließlich wissen wir nicht, was Ne xué wußte. Sie war ebenso eine Spionin wie eine Klatschbase. Wenn sie Kaletha und Egaldus dabei gesehen hat, wie sie es im leeren Viertel miteinander trieben, hätte Kaletha sie vielleicht tot sehen wollen, um diese Reinheit zu bewahren, die sie ständig jedermann ins Gesicht schleudert. Es würde Shebbeth umbringen, wenn heraus käme, daß ihre treue Lehrerin keineswegs so perfekt ist. So schlimm Kaletha sie auch manchmal behandelt, Hegt ihr doch nichts daran, einen so ehrerbietigen Sklaven zu verlieren.« »Dann hast du deine Meinung über sie geändert?« »Nein.« Sie lehnte sich gegen die Verkleidung des Fenstersturzes zurück. »Ich versuche nur, beiden Seiten gerecht zu werden. Es klingt nicht nach Kaletha – aber es klingt auch nicht nach dir oder Tazey.« Erneut runzelte sie die Stirn, hing dem Gedanken nach, gab ihn dann auf. »Wie ich schon sagte, es hat keine größere Verände rung in Kalethas Leben gegeben, außer einer, die mehr als alles an dere dafür spricht, daß sie es nicht war.« Neugierig legte er den Kopf schräg. »Du«, sagte der Falke. »Ein Rivale, ein Barbar, ein Bauer. Sie hat dich von Anfang an gehaßt. Du hättest der erste sein müssen. Ein möglicher Bücherdieb… « Sie deutete auf die dunklen Wälzer, die am Fuß des Altars aufgestapelt waren und über deren Einbände mattgolden und zinnfarben schillernde Fäden reflektierten Lichts fielen. »Außerdem bist du derjenige mit den größten Chancen, he rauszubekommen, was vorgeht. Aber auf dich wurde bisher noch kein Anschlag verübt.« »Wirklich nicht?« Der Wolf musterte einen Augenblick seine bandagierten Handgelenke, deren Fleisch jetzt von den Breipackun gen, die er aufgelegt hatte, um die Wunden zu reinigen, braun und fleckig war. »Weißt du, was an dem Anschlag auf Nanciormis merkwürdig war? Es war der einzige, der früh genug am Abend stattfand, daß Leute in der Nähe gewesen sein konnten.« »Richtig«, sagte Sternenfalke, »ich dachte mir schon, daß daran etwas merkwürdig ist. Etwas… ach, ich weiß nicht. Während der Anrufung von Galdrons Geist… « Ihre dunklen Brauen stießen einen Moment lang zusammen, als suchte sie nach einem verlorenen Ge 643
danken, dann schüttelte sie den Kopf. »Aber nicht nur, daß der An schlag auf Nanciormis früh genug stattgefunden hat, um Augenzeu gen zu haben, er war auch der einzige, bei dem das Opfer überlebt hat.« Sonnenwolf rieb sich die Krumen von den Händen. »Ich glaube nicht, daß Nanciormis derjenige war, der sterben sollte«, sagte er ruhig. »Ich glaube, ich sollte es sein.« »Könnte Kaletha es getan haben?« fragte sie. »Vielleicht, indem sie ein Trugbild schickte, das wie ein Dämon mit deinem Gesicht aussah?« »Gut möglich«, sagte er. »Ich kann mir keinen raffinierteren Weg vorstellen, jemanden loszuwerden, der einen bloßstellen könnte, ohne die Schuld für seinen Tod auf sich zu ziehen, und dabei das Feld noch weiter einzuengen. Wenn sie sich mit Dämonenmagie aus diesen Büchern befaßt hat, muß sie gewußt haben, wie so etwas geht, und einen zusammengebraut haben. Besonders, wenn sie Angst hatte, die wirklichen Dämonen auf mich zu hetzen, weil ich sie mei nem Willen unterwerfen könnte.« Er kam unter Schmerzen auf die Beine und hinkte zur Tür. Drau ßen versank der enge Felsspalt, den die Sonne am Mittag für eine kurze Stunde berührt hatte, wieder im kaltgrünen Halbdunkel. Von hier aus konnte er das Wasser riechen und die Laute der Vögel und Tiere hören, die zum Trinken herunterkamen, ganz anders als in den unberührten Felszisternen von Wenshar. »Im Dunklen Buch, aus dem uns unser kleiner Fährtensucher heute nachmittag vorgelesen hat, steht, daß immer ein Punkt kam, an dem die Hexe sich über ihre Macht klar wurde und erkannte, daß sie es war, die den Tod all jener verursacht hatte, die sie haßte. Ich denke, Kaletha könnte diesen Punkt mit Egaldus' Tod erreicht haben. Sie hat zweifellos nicht allzu viel Tränen darüber vergossen.« »Jedenfalls nicht in deiner Anwesenheit«, warf Sternenfalke mil de ein. »Aber Nexué, Galdron und vielleicht auch Egaldus waren alle ih re Feinde – und als Egaldus starb, muß sie erkannt haben, daß es Leute gab, die das vermuteten. Und sie mußte die Schuld abwälzen. In Nanciormis' Zimmer gab es nach dem Anschlag keinen… keinen Geruch von Bösem. Das könnte auch bloß eine Wirkung des Sturms sein, aber da bin ich mir nicht so sicher.« »Und Incarsyn?« Er blickte über die Schulter zu ihr zurück, sein Auge düster vor 644
Sorge. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Das beunruhigt mich. Vielleicht hatten die Dämonen zu diesem Zeitpunkt schon begonnen, auch Tazey zu kontaktieren. Vielleicht…« Er wandte sich halb zurück und verschloß die Haken seines zerschlissenen alten Schafslederwamses, das Jeryn ihm am Nachmittag gebracht hatte. Das südliche Fenster über dem Altar wurde trübe, als die Dun kelheit über die Wüste hereinbrach. Man konnte nichts mehr von der Festung oder der Stadt erkennen – nur die endlosen Ebenen aus Luft und Sand, die sich in eine flache Unendlichkeit hinein erstreckten, durchbrochen von der einzelnen weißlichen Staubwolke, wo einer von Nanciormis' Kundschaftern nach erfolgloser Tagessuche zur Festung Tandieras zurückgaloppierte. »Was hast du also vor?« Er seufzte schwer. »Es gibt keine Möglichkeit, meine Unschuld oder Kalethas Schuld zu beweisen. Und wenn die Dämonen begon nen haben, Tazeys Gedanken anzuzapfen… « Er wandte sich wieder ab. Sternenfalke hatte die großen Hände um ihre knochigen Knie gelegt und musterte ihn im hellblauen Glühen des Hexenlichts. »Ich glaube, wenn Tazey von hier wegginge, käme sie wieder in Ord nung«, sagte er. »Aber es sieht nicht so aus, als würde ihr Vater sie gehen oder ihr den Unterricht zukommen lassen, den sie braucht. Und ohne Unterricht weiß nur Gott, in welche Richtung ihre Kräfte sich entwickeln werden.« Er lehnte seine mächtigen Schultern gegen den Fenstersturz. »Wir müssen sie beide früh genug aufhalten.« Sternenfalke blickte erneut zu den Büchern. Das Hexenlicht, das auf den sandpolierten Edelsteinen und den merkwürdigen, verdreh ten Silberlaschen, die sie verschlossen hielten, funkelte, schien ihnen ein glühendes Halbleben zu verleihen, als hätten sie wie die Dämo nen die Jahrhunderte träumend und voll Sehnsucht nach fremden Bedürfnissen verbracht. »Glaubst du, du kannst es?« Er nickte, obwohl er sich keineswegs sicher war. »Es gibt Zau bersprüche in Dämonium, die Dämonen an einen Felsen, einen Baum oder einen Altarstein fesseln können«, sagte er. »Das Kulti sche Buch führt all ihre Namen auf. Wenn ich nur imstande wäre, einen Kreis der Finsternis zu ziehen, der groß genug ist, um sie dort hineinzulocken, würde sie das lange genug aufhalten, bis ich einen Spruch ausgearbeitet hätte, der sie für alle Ewigkeit an die Steine von Wenshar binden kann.« Die Frau, die jahrelang seine Stellvertreterin gewesen war und die es niemals versäumte, das Wasser ihrer kalten und klaren Logik 645
in seine Strategien zu gießen, musterte ihn eine Weile aus ihren rät selhaften Augen, dann sagte sie: »Wenn es funktioniert.« Sonnenwolf nickte und versuchte, das Frösteln zu ignorieren, das ihn bei dem Gedanken überkam, nochmals in diesem gespenstischen Tempel zu stehen. »Ja«, stimmte er zu. »Wenn es funktioniert.«
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16. Kapitel Normalerweise hätte es nur bis zum frühen Nachmittag gedauert, Wenshar von der kleinen Kapelle auf dem Binnig-Felsen aus zu erreichen, aber sie hatten sich verspätet, weil sie noch bestimmte Kräuter gesucht und ein Bullenkalb von einer einsam an den Ausläu fern der Berge liegenden Farm gestohlen hatten. Als sie endlich die Ruinenstadt betraten, waren die Schatten bereits umgeschlagen, und die Sonne hing strahlend, aber kalt, über dem zerfallenen Labyrinth der Unterstadt, eine funkelnde Linie auf halber Höhe der bunten Felsenschluchten. Es kostete sie einige Stunden, ihre Pferde zu trän ken, sie im Stall hinter dem Tempel unterzustellen, den Sonnenwolf zuvor schon benutzt hatte, und ihn zu verbarrikadieren. Als er dies mal die Kreise des Lichts rings um die Tür zog, merkte Sonnenwolf, wie nahe seine eigenen, halb gelernten, halb erfundenen Schutzmaß nahmen den Kreisen waren, die in den Dämonarien beschrieben wurden. Was auch immer geschah, sie wußten, daß sie ihre Pferde nicht verlieren durften. Mit kurzem Bedauern dachte er an das Versteck mit seinem und Sternenfalkes Geld, das hinter einem losen Ziegel in der staubigen kleinen Zelle, wo sie geschlafen, gesprochen und sich geliebt hatten, verborgen lag. Wenn das hier vorbei war und die Dämonen für alle Zeiten an die Steine von Wenshar gefesselt waren, würden sie flie hen müssen; ein Dutzend Silberstücke würde ihnen da gerade recht kommen und irgendwo des Weges vielleicht den Unterschied zwi schen Gefangennahme oder Entkommen ausmachen. Doch mehr als das quälte ihn ein scharfer Schmerz, wenn er dar an dachte, daß es wahrscheinlich Jahre dauern würde, bis sie Tazey und Jeryn wiedersahen, wenn überhaupt jemals. Auch dies war ein Gefühl, das ihm völlig unvertraut war, so unvertraut wie das Leid und die Schmerzen, die er für Sternenfalkes Sicherheit auf sich ge nommen hatte – als hätte durch seine Liebe irgendeine Wand in ihm einen tiefen Riß bekommen und ihm gleichzeitig die Fähigkeit ver liehen, auch noch andere zu lieben. Er hatte gelernt, diese beiden Kinder wie seine eigenen anzusehen; seine verstorbenen Ahnen waren vielleicht die einzigen, die nicht die Übersicht darüber verlo ren hatten, wie viele Bastarde er im Laufe der Jahre gezeugt hatte. Seltsam, daß das erste Kind, für das er sich verantwortlich fühlen sollte, das eines anderen war. 647
Aber Tazey würde in Sicherheit sein. Wenn es ihm schon nicht möglich war, ihr Glück herbeizuführen, so konnte er wenigstens für sie sorgen. »Das gefällt mir nicht, Führer«, sagte Sternenfalke leise, als sie beobachtete, wie er um sie herum die letzten Zeichen des Lichtkrei ses auf den glattgefegten Tempelboden malte. Der helle Fleck Tages licht, der wie ein zerknitterter Teppich neben der Tür lag, verblich langsam. Hinter den wabernden Ringen aus einem Dutzend kleiner Fackeln, deren Rauch trotz der alten Luftschächte, die in der Schwärze der Decke verborgen waren, in den Augen stach und brannte, schien das Halbdunkel immer dichter zu werden. Bald wür de es Nacht sein. Sonnenwolf setzte sich auf den Knien zurück und benutzte den fasrigen Saum seines zerrissenen Hemdes, um lose Kohle und O ckerkreide von seinen schorfigen Fingern zu wischen. »Und mir gefällt nicht, daß du überhaupt hier bist«, gab er zurück. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, wobei er lange schwarze und rostfarbene Streifen hinterließ. Die lastende Stille des dunklen Tem pels rings umher nahm die Echos seiner gebrochenen Stimme auf. »Aber es würde mir noch erheblich weniger gefallen, wenn du ir gendwo wärst, wo ich dich nicht im Auge hätte.« »Das meinte ich nicht.« Als er über die Linien des Kreises in das schmale, kräftige Ge sicht mit seinen alten Narben, den Augen wie Bergkristallen und dem sonnengebleichten Haar sah, dem der Schein des kleinen Feu ers, das sie in dem verzauberten Ring mit sich trug, die Farbe von Honig verlieh, wußte Sonnenwolf nur zu gut, was sie gemeint hatte. Sie waren beide ein dutzendmal den Beschwörungsritus im Dä monium und dem Kultischen Buch von Wenshar durchgegangen. Unweit des helleren Eingangs zum Vestibül brüllte das Bullenkalb kläglich, als wüßte es, daß es allen Grund hatte, den Einbruch der Dunkelheit zu fürchten. Die Hauptschlucht war totenstill gewesen, als sie, das wider spenstige Kalb zwischen sich, hindurchgegangen waren. Das Knir schen ihrer Schritte auf dem Kies, das Schlurfen und Kratzen der Hufe des Kalbes und sein verängstigtes Brüllen hatten in dieser schrecklichen Stille widergehallt, und Wolfs Nackenhaare hatten sich unter dem Gefühl, beobachtet zu werden, aufgestellt. Hin und wieder hatte er aus dem Augenwinkel rasche Bewegungen wahrge nommen. Mehrmals hatte er den Kopf gewandt, obwohl er wußte, 648
daß er nicht mehr sehen würde. Er hatte nichts entdeckt. Er war mit den gespenstischen Schluchten und nicht ganz leeren schwarzen Augen der aus dem Felsen gehauenen Häuser inzwischen vertraut geworden, doch sein Herz klopfte immer noch hart gegen seine Rip pen, und der Schweiß kroch angesichts dieser leisen, hastigen Bewe gungen und der Berührung dieser unsichtbaren Augen feucht seinen Rücken hinunter. Das wenige Licht, das aus der Eingangshalle bis in den Tempel drang, verschwand. Er und der Falke hatten in gemeinsamer Arbeit, so rasch es ihnen die unvertrauten Rituale erlaubten, gefegt und vorschriftsmäßig den Tempel gereinigt. Sonnenwolf hatte die alten Zaubersprüche aus dem Dämonium wiederholt, während er die Runen in die vier Ecken des Tempels gezeichnet hatte, erst langsam und unbeholfen, wobei er sich immer wieder in dem modrigen schwarzen Buch versicherte, ob er auch keinen Fehler machte, dann mit größerer Sicherheit in seiner rauhen, kratzenden Stimme. Ohne ihre Hilfe hätte er länger ge braucht, um den großen Kreis zu formen und zu weihen, was sein endgültiges Ziel war – länger, weil die Erschöpfung an seinen steifen und schmerzenden Armen zehrte und seinen Geist ermüdete; aber er wollte nicht, daß sie schutzlos war, wenn die Nacht hereinbrach. Sein Rücken und seine Arme litten Höllenqualen, und sein Geist kämpfte gegen die seltsame Schläfrigkeit der Konzentration an, die zu stark und zu lange aufrechterhalten wurde, als er umherging, und den größten Kreis von allen zog, der den Steinaltar und die Grube auf dem Boden davor einschloß. Peinlich genau malte er mit Kohle brocken, roten Ockerstiften und pulverigem weißen Sand, der hinge streut wie feinster Zucker dünne Linien hinterließ, die Zeichen auf den Steinboden – einen Kreis innerhalb des anderen, Finsternis in nerhalb des Lichts, mit Spitzen, die wie die einer Kompaßrose zu den Ecken des Universums hinausgerichtet waren, und langen ge schwungenen Kurven, die die Macht im Inneren festhalten sollten. Statt den Runenkreis an der Außenseite der Abwehrpunkte zu mar kieren, markierte er die Runen an der Innenseite, um gefangenzuhal ten statt abzustoßen. Und er ließ absichtlich zwei der Runen unbe schriftet. Er zuckte zusammen und blickte auf. Er hatte sein Wams und seine Kopfschleier zusammengeknäult in der Ecke unweit von Ster nenfalkes kleinem Kreis gelassen, und die kühle Luft kroch durch die Löcher in seinem blutfleckigen Hemd, strich über das feuchte 649
Haar auf seinem Rücken. Es war jetzt fast dunkel. Indem er wieder und wieder die Worte der Runensprüche wiederholt hatte, war sein Geist in die Trance der Konzentration versunken. Er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen war. Draußen war die Schlucht in fröstelnde Obsidiandunkelheit ge taucht. Von den kleinen Feuern, die er auf dem Tempelboden ent zündet hatte, waren alle bis auf das eine schwache Glimmen in Ster nenfalkes Kreis erloschen. Im düsteren Pulsieren dieses orangefarbe nen Lichts sah er das Glitzern ihrer Augen, die blassen Umrisse ihrer Arme, die sie immer noch um die angezogenen Knie geschlungen hatte. In der völligen Stille konnte er ihr Atmen hören, ruhig und gleichmäßig. Dann blökte das Kalb wieder, verzweifelte Angst in der Stimme. Sonnenwolf kam schnell auf die Beine, als ob er noch von einem anderen Geräusch erschreckt worden war. Seine steifen Rückenmus keln schmerzten wie von den Stichen eines verborgenen Stiletts. Er spürte schrecklichen Hunger und Durst, roch den Gestank seines ungewaschenen Körpers und den düsteren, schweren Geruch von abgestandenem Holzrauch, den Geruch von Stein, von Staub, von… Weihrauch? In der Dunkelheit war es ihm einen Augenblick so, als röche er Myrrhe, die vor zwei Jahrhunderten verbrannt worden war, wie der Dufthauch vom Haar einer Frau. Auf seiner Haut fühlte er einen Sandsturm, der sich irgendwo draußen in der Dunkelheit der Wüste zusammenbraute. Obwohl es kalt war, wirkte die Luft plötz lich stickig, wie von Erwartungen erfüllt. In der schrecklichen Stille hätte ihn der gewisperte Odem des Windes fast um den Verstand gebracht, der wie der Saum des Seidengewandes einer Frau über den Steinboden strich. Mit Schatten gefüllt lag die Grube vor ihm. Er wandte sich von ihr ab, und sein eigener Schatten huschte über die marmorierten Seiten des zerbrochenen Altars. Warum hatte er einen Moment lang geglaubt, ihn aus dem Augenwinkel heraus unversehrt zu sehen? Außerhalb des schwachen Scheins von Sternenfalkes kleinem Feuer wirkte die Dunkelheit dichter, gedrängt in den Ecken des ausgedehn ten Raumes wie die Dünste alten Zerfalls, die man nie mehr würde beseitigen können. Die Dämonen lauerten im Stein und beobachteten. Das Kalb schrie wieder, verzweifelt vor Angst. Er haßte, was, wie er wußte, als nächstes kommen mußte. 650
Sternenfalke hatte es nicht verstanden und nur Abscheu empfun den, als Jeryn in seiner kühlen kleinen Altstimme vorgelesen hatte, wie die Hexen von Wenshar einst ihre Dämonen anriefen. Nur weni ge von ihnen hatten Tiere in der Grube verwendet, nachdem sie ein mal erkannt hatten, daß mehr Dämonen kamen, wenn das Opfer ein Menschenkind war. Es schien, daß schon damals Waisen in den leeren Vierteln der Stadt billig zu haben gewesen waren. Im Kulti schen Buch hatte gestanden, daß manche der Hexen die Dämonen ohne Opfer anrufen konnten; aber als Sternenfalke vorgeschlagen hatte, es so zu machen, hatte sich der Wolf entschieden geweigert. Es stand nicht im Buch, aber er hatte gespürt, was er mit seinen Gedan ken projizieren mußte – Schmutz und Haß und die unheiligsten aller Triebe – , um sie herbeizuholen. Er tötete lieber ein Kalb, selbst wenn es auf die grausame Art und Weise geschehen mußte, die in dem Buch beschrieben war. Es kostete ihn mehr Nerven, als er geglaubt hatte, zum Rand der Grube zu gehen. Er war sich nicht sicher, was er mit dem Sehvermö gen eines Magiers in der verschwommenen Schwärze dort unten zu sehen befürchtete. Aber es war nur ein wenig Sand, der in die Ecken geweht worden war, und das Skelett von etwas, das wie eine Taube aussah, weiß wie ein Stück Spitzenbesatz auf dem losen Kies des Bodens. Er fragte sich, warum der plötzliche Gedanke, wie hoch dieser Kies über dem Grundgestein liegen mochte, gleich einer Woge der Übelkeit in ihm aufstieg. Er drehte sich um, entfachte den kleinen Haufen aromatischer Hölzer, die er auf der nackten Plattform des zerbrochenen Altars zurückgelassen hatte, und zündete damit zwei Feuerschalen an, die er an den Platz der zwei fehlenden Runen im Innenkreis stellte. Vor sichtig trat er zwischen sie, verließ den Kreis und ging dorthin, wo Sternenfalke neben ihrem kleinen Feuer saß. Ohne über die Schutzbarriere zu treten, fragte er mit leiser Stim me: »Alles in Ordnung?« Sie nickte. Sie hatte seit Stunden geschwiegen und ihn aus uner gründlichen grauen Augen beobachtet. Er war vollkommen in seiner Aufgabe aufgegangen und fragte sich jetzt, was sie in der Dunkelheit wohl gesehen hatte, als sie sich um ihn schloß. Seine Nerven prickel ten, und sein Verstand schrie ihm zu, in dieser undurchdringlichen Dunkelheit vorsichtig zu sein, in der erst in diesem Augenblick das trockene Rascheln von Gewändern und Haaren aufgehört zu haben 651
schien. »Was immer du siehst«, sagte er rasch, »was immer deiner Mei nung nach geschieht, verlaß nicht den Kreis. Wenn er einmal durch brochen ist, wird er dir keinen Schutz mehr bieten.« Sie nickte. »Ich weiß.« »Es dürfte ihnen nicht gelingen, zu dir vorzustoßen.« Wenigstens dessen war er sich sicher. »Wenn ich erst die letzten zwei Runen gezeichnet und den großen Kreis vollendet habe, dürfte es ihnen auch nicht mehr gelingen, herauszukommen. Dann sind sie gefan gen, und ich brauche nur noch die Bannsprüche aufzusagen, um sie für immer an die Felsen von Wenshar zu fesseln.« Sie legte den Kopf ein wenig schräg. Der qualmende Feuerschein vertiefte die Schatten ihrer hohlen Augen und die Linien, die auf der nicht geschwollenen Seite ihres Gesichts von ihnen ausgingen und tiefe Spuren von den Nasenflügeln bis zu den weichen Ecken dieses ruhigen Mundes hinterließen. »Wie lange wirst du brauchen?« Er verfluchte sie insgeheim für das, was sie wahrnahm: die Spu ren der Erschöpfung auf seinem Gesicht; den dunklen Ring der Mü digkeit um sein Auge und das lädierte Aussehen des Lides; den ge spannten Mund unter seinem struppigen Schnauzer; und die seltsame Blässe unter den Stoppeln seines goldenen Bartes. Er stand auf der Kippe, und er wußte es, er näherte sich dem Punkt, wo die gesam melten Anspannungen der Flucht und Konzentration zu Fehlern führten. Schon der kleinste Riß in seiner geistigen Barriere konnte für den Umgang mit den Dämonen von Wenshar fatale Folgen ha ben. »Bis kurz nach Tagesanbruch, aber was, zum Teufel, geht dich das an?« »Und der Sandsturm? Wird er nicht ausbrechen, bevor du fertig bist?« Der Wolf zögerte. Wie er und Nanciormis erfahren hatten, wür den die Sandstürme die Dämonen in alle Winde zerstreuen – aber wie sie ebenfalls erfahren hatten, waren die Dämonen, wenn sie während der Killerstürme handelten, stärker. Sie ernährten sich von Gewalt, selbst von der Gewalt des Windes. Als hätte sie die Antwort in seinem Schweigen gelesen, sagte sie: »Kannst du ihn nicht fortschicken? Oder ihn hinauszögern?« Er schüttelte den Kopf. Er konnte das Wispern in seinen Knochen spüren, ein Kribbeln, das an den Nerven entlangzog; er kam, und er war stark. Mit heiserer Stimme sagte er ruhig: »Ich habe keine Kraft dafür übrig, Falke. Nicht, wenn dies hier gelingen soll. Bei Tagesan 652
bruch… « Er zuckte die Achseln und breitete die Hände aus. »Viel leicht reicht die Zeit. Mehr als eine Stunde brauchen wir nicht.« Dunkler Wind leckte am kleinen Feuer; Sonnenwolf fuhr herum, als das Bullenkalb wieder aufschrie, aus Verzweiflung und Entset zen. Die arme Kreatur riß wie wild an ihrer Leine und schlug und drosch mit den gefesselten Läufen, wobei ihre Augen im schwachen Widerschein des Feuers blitzten. Sonnenwolf sah, wie dunkel es im Tempel war, wie die Schatten vorwärts zu kriechen schienen, neu gierige, fragende Finger, die seinen Körper und seine Seele finden wollten. Erneut bewegte er die schmerzenden Schultern, und sein Herz begann bei dem Gedanken an das, was ihm bevorstand, zu klopfen. Leise sagte der Falke: »Viel Glück, Hauptmann. Mögen dir die Geister deiner Ahnen die Hand führen.« »Die Geister meiner Ahnen würden mich dafür enteignen, daß ich mich mit Dämonen herumschlage«, erwiderte er, und das Raben krächzen seiner Stimme strafte die Leichtigkeit, mit der er hatte sprechen wollen, Lügen. »Wenigstens hatten sie Verstand.« Er woll te hinüberlangen, um sie zu berühren, wie ein Mann, der sich durch die Berührung eines Talismans aus dunkelfleckigem Elfenbein und Gold seines Glücks versichern will, aber selbst das hätte schon den Kreis durchbrochen und die Schutzkräfte aufgehoben, die so zart in der kribbelnden Luft schwebten. Das kleine Feuer vor ihren Füßen fiel zusammen, und er konnte noch nicht einmal soviel Macht erüb rigen, um ein Hexenlicht zu erschaffen, damit es die gespenstische Dunkelheit vor ihr erhellte. Er fragte sich, als er sich von ihr ab wandte und auf das entsetzte Kalb neben der Tür zuging, wieviel von dem, was passieren würde, sie tatsächlich sähe. Es würde eine furchtbar lange Nacht werden. Das Kalb kämpfte so gut es konnte gegen Sonnenwolfs Griff um seine Hörner, stemmte die gefesselten Läufe in den Boden, wand sich, als er es halb zum Kreis zog, halb trug. Das gespenstische Wis pern von Wind, das in den Entlüftungsschächten winselte, hallte wie ein schauriger Choral wider. Hatten sie auch einen Choral gesungen, fragte sich Sonnenwolf, als zwei oder drei von ihnen irgendein ar mes, verängstigtes Kind zum Altar gezerrt hatten? Einen Choral, um Dämonen herbeizurufen, damit sie ihnen ihre Abwehrkräfte entge genhalten konnten? Er erinnerte sich wieder an die gemalten Augen auf diesen abge nutzten Fresken und den düsteren Zynismus ihres ironischen Blickes. 653
Ein um sich schlagender Huf traf sein Schienbein; Schaum aus der Schnauze des Kalbes verschmierte seine Hände und brannte in den halbmondförmigen Dämonenbissen; die rauhe Haut des Tieres schürfte seine Seite auf, als es sein Gewicht gegen ihn warf. In seiner Söldnerzeit hatte er Menschen gefoltert, wenn sie ihn oder einen Angehörigen seiner Truppe verwundet oder verraten hatten. Warum brachte die Opferung dieses Bullenkalbes, das bei der Viehschlach tung vor Einbruch des Winters ohnehin gestorben wäre, seine Seele dazu, sich so zu krümmen? Warum wirkten diese großen, braunen Augen, weißgerändert vor Entsetzen, so menschlich, als sie zu dem seinen hinaufstarrten? Er zerrte das Tier zwischen die zwei Feuer schalen, und wieder schrie das Kalb aus Angst vor den Flammen auf… Und aus dem Augenwinkel sah er Bewegung. Ein Glühen, das nichts erhellte, flackerte in der Dunkelheit hinter ihm. Sie kamen. Jeder Muskel seines erschöpften Körpers schmerzte und spannte, als er das Kalb auf dem unebenen Altarstein endlich zum Liegen gebracht hatte. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schlug das Tier um sich, und sein klägliches, verzweifeltes Blöken nach der Mutter ver wandelte den ausgedehnten Raum in einen klingenden Resonanzkas ten, dessen Echos durch Sonnenwolfs Schädel hallten. Er fesselte die Hinterläufe und verband die Schnur mit den bereits gefesselten Vor derläufen; Schweiß lief ihm die Rippen und den Rücken hinab, ver klebte die zerrissenen Fetzen seines Hemdes mit seiner Haut und brannte in den Wunden seiner Handgelenke unter den schmutzigen Verbänden. Obwohl er den offenen, stillen Schlund der Grube in seinem Rücken haßte, zog er ihn im Augenblick der Alternative vor und arbeitete lieber von der Vorderseite statt von der Rückseite des Altars aus. Von seinem jetzigen Standort, wo er manchmal den war men Tiergeruch des Kalbes, den Schmutz und die aromatischen Hölzer des kleinen Feuers neben den Altarstufen roch, konnte er zwischen den beiden Feuerschalen in einen höllischen Korridor schauen, der bis weit über die hintere Wand des Tempels hinaus in dessen verborgene Schatten führte, ein Korridor, der sich bis in die Schwärze der Erde hinein verlängerte, in Bereiche, die er niemals gekannt hatte und nie hatte kennenlernen wollen – in die Zeit. Er konnte sie jetzt sehen, weit hinten in diesem Korridor, wie sie gleich Irrlichtern über längst ausgetrockneten Sümpfen hüpften. Er 654
konnte das Wispern ihres keckernden Lachens hören. Das Feuer neben dem Altar schien im funkelnden Widerschein ihrer Augen zu blinken. Der Messergriff schmiegte sich in seine Hand. Mit bewußter Bru talität durchtrennte er die Sehnen zweier Läufe des Kalbes, vorne und hinten. Das Tier schrie vor Schmerz und Entsetzen auf, der Ge ruch des Blutes auf der Klinge vermischte sich mit dem Rauch und füllte die Dunkelheit des Raumes aus. Etwas Kaltes strich über Son nenwolfs Schulter. Im Herumfahren spannten sich die Muskeln des Kriegers entsetzt, und fast hätte er beim Anblick dessen, was er eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt sah, aufgeschrien – die ske letthafte Miene eines Dämons, sein Kopf halb so groß wie der des Kalbes, braune Augen, die grausig aus Höhlen hervorquollen, voll ständig bis auf die Umrandung aus weißen Wimpern – die Augen des Kalbs. Darunter lächelte der unaussprechliche Mund. Rasch wandte Sonnenwolf sich wieder um und schlitzte den Bauch des Kalbes auf, so daß das Blut heiß und glitschig über seine Haut sprudelte. Er spürte das Prickeln kalter Klauen in seinem Rü cken, das körperlose Nagen von Zähnen an der Haut seines Halses; er zwang sich dazu, nicht zu sehen, nicht zu denken, nicht in Panik zu verfallen. In dem Sekundenbruchteil, bevor die heißen Dünste des Blutes und der Geruch der herausquellenden Eingeweide ihn würgen ließen, erinnerte er sich daran, wie er bei der Belagerung von Laed den in einem zusammenbrechenden Sappeurstunnel lebendig begra ben gewesen war, und er erinnerte sich an den schwebenden Flam menball, der in der Dunkelheit der Verliese des Zaubererkönigs Altiokis gewirbelt war, und an den Schmerz, als er sich in sein linkes Auge bohrte… Auch damals war er nicht in Panik verfallen, und er hatte über lebt. Der Blutgeruch zog in sein Hirn. Sein Kopf pochte unter dem verzweifelten Brüllen des gequälten Kalbes. Sein Verstand war blo ckiert, wie von einem Kristallgriff gepackt, den er nicht zu lockern wagte. Die Frauen von Wenshar hatten all dies getan, dachte er benommen. Und es hatte ihnen Freude gemacht. Als wäre er nicht er selbst, beobachtete er, wie ein Dämon in der Gestalt eines gläsernen Schlangenskeletts sich um seinen ausge streckten Arm wand und mit einer menschlichen Zunge das Blut von seiner Hand leckte. An den Rändern des Altars drängten sich dicht 655
die Dämonen, sickerten aus dem Stein, schwebten durch die Luft herab und wisperten und kicherten in einem strohzarten Diskant zum Schmerzgebrüll des Kalbes. Einer von ihnen lächelte ihm mit einem Mund zu, der bis auf die Fänge wie der von Tazey aussah. Ein ande rer hatte Brüste wie die von Sternenfalke, einschließlich der Narbe. Ihre Kälte drang von überallher auf ihn ein, Zähne wie Stücke zer brochenen Glases kauten an den Verbänden seiner Handgelenke. Schlimmer als die Kälte war das Wissen, dessen Ursprung er nicht kannte, daß es nur eines geringen Anstoßes seiner Gedanken bedurf te, um diese Kälte als Wärme zu empfinden. Er zerrte das Kalb vom Altar, und die Dämonen schwärmten dar über, krochen darauf herum, stießen sich gewichtslos ab und schwebten mit hängenden Gliedern in der Luft wie Wespen über einem verwesenden Pfirsich. Er schnitt die Läufe des Kalbes frei und schob es über den Rand in die Grube, wobei er den Anblick dessen mied, was er dort unten wimmeln sah. Das Kalb brüllte vor Schmerz und Entsetzen, taumelte in der Grube von einer Seite auf die andere, verkrüppelt, blutend, sterbend, unfähig, den Wesen zu entkommen, die nun begonnen hatten, an ihm zu reißen. Durch den glitzernden, kriechenden Dämonenschwarm konnte Sonnenwolf die staubige Haut erkennen, die wie Tazeys Stute mit Blut bedeckt war. In der Dunkelheit der Grube blitzten die Dämonen wie Sternenlicht auf Glas auf, die Farben verdunkelten ihre Skelettgestalten, Blut besu delte sie, und ihre Augen waren die dunklen Augen von Frauen. Auf diese Weise hatten die Hexen von Wenshar Dämonen her beigerufen – und nicht mit Tieren. Von der klebrigen Spur, die vom Altar zur Grube führte, strich er genügend Blut ein, um die letzten zwei Runen zu markieren, und kniete sich zwischen den Runenkreis und die äußere Begrenzung des Lichtkreises. Dann führte er die letzten Markierungen aus, wobei sich das Blut des Kalbes mit seinem eigenen vermischte, wo ihm die Dämonen die Verbände von den Handgelenken gerissen hatten. Der Kreis war vollendet. Er würde die Dämonen halten – eine Weile zumindest. Und eine Weile konnte er außerhalb des Kreises nur auf den Knien kauern und seine blutverschmierten Hände gegen den Mund pressen, die so schrecklich zitterten, daß er nicht imstande war zu stehen, wie ein kleines Kind, das von der Flucht vor dem, was im Dunkeln wisperte, erschöpft ist. Er fröstelte, fühlte sich leer und krank und todmüde. Doch er wußte, daß ihm noch die Arbeit einer 656
Macht bevorstand, um die Dämonen auf Dauer an die Steine zu fes seln… Und er mußte gleich anfangen, bevor der Sandsturm, dessen Näherkommen an seinen Nerven nagte und zerrte, ihnen seine elekt rische Kraft gab. Er hob den Kopf und sah, daß Sternenfalkes Schutzkreis leer war. Der Schock traf ihn wie eine Faust, die man ihm in die Magen grube trieb. Er starrte einen Moment lang auf das schwache Glim men des rauchigen Feuers und die dunkle Blüte aus Spitzen, Kurven und Runen auf dem Steinboden, die mit dem inneren Glühen der Magie verschwunden war. »Hauptmann!« Er fuhr herum. Sie stand neben der Dunkelheit der Tempeltür, Gesicht und Hals und eine nackte Schulter einschließlich des Armes weiß vor diesen schrecklichen Schatten. Tazey war bei ihr. Irgendwie schaffte er es, auf die Füße zu kommen. Die zwei Frauen begannen auf ihn zuzugehen, und er winkte sie heftig zurück. Am Rande des Blickfeldes seines einzigen Auges konnte er den Wolkenschwarm beim Leichenschmaus sehen, wie er hornissen gleich über der Grube wie über einem brennenden Nest wallte und wogte. Die Frauen hatten keinen Grund, auch nur in die Nähe zu kommen. Er stolperte über den gemusterten Sandsteinboden auf sie zu. Im Widerschein ihrer Augen erkannte er, wie er aussehen mußte – blu tig, zerkratzt, mit schmutzigem Gesicht und der dunklen Linie der Augenklappe schwärzlich vor der Blässe darunter. Sternenfalke streckte ihre Hand nach seinem Hals aus, und er zuckte zusammen – zum erstenmal spürte er, daß die Dämonen ihn gebissen hatten, ober flächliche Kratzer wie Liebesbisse. Er erinnerte sich, was er über die Hexen von Wenshar gelesen hatte, und der Vergleich bereitete ihm Übelkeit. »Sie sind also gekommen.« Falke hatte natürlich nichts gesehen. Ihm fiel auf, wie sie zum Altar und zur Grube schaute; in ihren Augen entdeckte er keine Spur der Lichter des Bösen, die über dem Glühen der Grube schwebten. Er kämpfte einen Lachanfall nieder. »Ja, sie sind gekommen.« Doch an dem Entsetzen auf Tazeys Gesicht, als sie zur Grube starrte, erkannte er, daß sie etwas sah, und er fragte sich unwillkür lich, ob die Dämonen für sie dasselbe Aussehen hatten wie für ihn. Sie riß ihren Blick los und schaute ihm wieder ins Gesicht. »Du mußt fliehen«, sagte sie ruhig. »Nanciormis und seine Männer kom 657
men. Kaletha ist bei ihnen. Sie haben Jeryn heimkommen sehen und folgten seiner Spur. Ich nahm das schnellste Pferd, das ich finden konnte. Wenn du dich nur ein bißchen von hier entfernen kannst, bevor der Sturm ausbricht, wird er deine Spur verwischen.« »Und du?« Sternenfalke legte vertraulich einen Arm um die schlanken, geraden Schultern des Mädchens. »Ich… ich werde ihn hier erwarten.« »Einen Teufel wirst du«, grollte der Wolf, ein wenig verärgert darüber, daß die beiden Frauen offenbar Freundschaft geschlossen hatten. »Dieser Kreis wird die Dämonen nicht für immer halten kön nen…« »Du könntest doch einen um mich herum ziehen«, bot sie ihm an, sichtlich verängstigt, aber nicht willens, ihn zur Hilfe zu drängen, indem sie ihre Angst zugab. »Ich wäre dann nicht mehr in Gefahr.« Sonnenwolf legte seine Hände auf ihre Schultern, wobei das Blut an seinen Fingern klebrige rote Flecken auf dem verblichenen rosa Hemd hinterließ. »Du wirst in Gefahr sein, solange du lebst, wenn diese Dämonen nicht an den Felsen gefesselt werden, der sie hier und jetzt hervorbringt«, sagte er ruhig. »Genau wie jeder andere in Tandieras – und in Pardle. Wer immer sie gerufen hat… « Er zögerte und wich diesem absinthfarbenen Blick aus. »Nicht nur von ihnen droht Gefahr. Wenn der Falke und ich weiterreiten, und es kommt wieder zu einem Mord, kann es gut sein, daß man dir die Schuld daran gibt. Es tut mir leid, Tazey. Ich weiß, was sie mit den Hexen gemacht haben… « Sie zuckte zusammen – anscheinend hatte Nanciormis ihr das e benfalls gesagt. Aber sie meinte nur: »Genau dasselbe, was sie mit dir vorhaben.« »Wieviel Zeit haben wir noch?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich bin so schnell gerit ten, wie ich konnte. Ich konnte ihren Staub hinter mir sehen und ihre Fackeln, nachdem es dunkel wurde, aber ich habe sie aus den Augen verloren, als ich in die Ruinen kam. Ein, zwei Stunden vielleicht. Sie werden sich beeilen«, fügte sie hinzu, »wegen des Sturms.« Er war nahe. Er konnte spüren, wie er sich drehte, weit draußen in der Wüste – Staubsäulen, wutschwangere Bäuche, die schwarze Nacht enthielten und fleckiges Morgengrauen. Sein Kampf darum, seinen Geist vor den sondierenden Lüsten der Dämonen verschlossen zu halten, hatte ihn völlig erschöpft, er hatte kaum noch genug Nacht übrig, um die Bannsprüche zu vollenden. Innerhalb des Kreises, der 658
die Dämonen festhielt, konnte er hören, wie sie über dem leiser wer denden Brüllen des sterbenden Kalbes heftig zeterten. »Ich kann ihn nicht abwenden«, sagte er. »Aber wir können ihn vielleicht ausnutzen… « Er zögerte. Sie würden ihn für ihre Flucht brauchen, vor Nanciormis und seinen Männern und möglicherweise auch vor den Dämonen, wenn er kam, bevor die Bannsprüche ver hängt waren… Es gab zu viele Möglichkeiten, die wie das Gewicht einer zu sammenbrechenden Tunneldecke auf seinem schmerzenden Geist lasteten. Er konnte jetzt die Wut der Dämonen spüren, als sie an dem Runenkreis, der sie festhielt, zu kratzen und zu wispern begannen. Der Schein von Sternenfalkes kleinem Feuer, weit entfernt in der großen Höhle hinter ihm, ließ nach, und er wußte, daß er keine Kraft erübrigen konnte, weder um ein Hexenlicht zu erschaffen noch um die Asche wieder zu entfachen. Mit heiserer Stimme sagte er leise, damit sie nicht zitterte: »Gib auf das Feuer acht, Falke. Ich werde tun, was ich kann, um zu Ende zu kommen und uns hier herauszu bringen, aber ich darf es nicht übereilen.« Wenn die Dämonen ent weichen konnten, wären auch der Falke und Tazey in Gefahr. Sie sagte leise: »Ich weiß.« Sie drückte Tazey an sich und führte sie zum ersterbenden Glimmen der Flammen zurück. Sonnenwolf stand einen Augenblick lang da und zwang Kraft in seine tauben Muskeln und den erschütterten Geist zurück, wie er es im Laufe der Jahre schon bei etlichen Gelegenheiten in den Kriegslagern getan hatte, um seine Männer zum Kampf oder seinen eigenen zerschun denen Körper dazu zu mobilisieren, ihn doch noch aus der einen oder anderen Gefahr zu befreien… Sie wirkten so trivial, verglichen mit dem, was ihm nun bevorstand. Er konnte riechen, daß die Dämmerung nahte, nur noch Stunden entfernt war. Eine kurze Spanne Tageslicht zwischen dem zurück weichenden Rand der Nacht und dem Heraufziehen des Sturmes würde bereits helfen, aber er spürte jetzt, daß es nicht der Fall sein würde. Was auch immer geschah, es stand unmittelbar bevor. Das Bewußtsein des Sturms wuchs in ihm, als er den kleinen Pa cken mit Utensilien, die er zusammengetragen hatte, und das schwarze Dämonium mit seinem zerfallenden Ledereinband heraus zog. Die Elektrizität des Sturms nagte an seinen Knochen, während er weitere Zeichen auf den Boden malte und die Worte wiederholte, die Runen und die großen Kurven der Kraftlinien markierte, Stärke und den letzten Schimmer von Magie aus dem Mark seiner Knochen 659
bezog, um die Macht des Rituals zu festigen. Wie schon in der Schlangengrube, verfluchte er auch jetzt wieder seine Faulheit in der Ausübung von Sternenfalkes Meditationen, verfluchte seine Arroganz, die ihn dazu verführt hatte, Kalethas widerwillige Lehren zu mißachten, und spürte, wie die Macht ihm mit der Konzentration entglitt, noch während er fluchte. Er sammelte seine Gedanken wieder, richtete sie auf seine Arbeit – gezeichnete Runen, die weich in der Luft glänzten, und die süßen Harzgerüche der aromatischen Kräuter, deren Suche ihre Ankunft so verzögert hatte. Er überließ sich ganz dem Ritual und der Bereitschaft, die Realität der Lichtrunen zu sehen, die zwischen seinen Händen fla ckernd Gestalt annahmen – den klobigen, dickknochigen Händen eines Kriegers, mit Narben bedeckt und von Blut überzogen. Bei jeder Geste mußte er sich neu dazu zwingen, sie ruhig und ohne Eile auszuführen, während sein Verstand und seine Gedanken in dem sanften Singsang der Worte versanken, die erst unvertraut und dann kräftiger kamen, als seine Zunge sich an den fremdartigen Rhythmus gewöhnt hatte. Er zwang seinen Verstand, sich nicht in Gedanken über das glühende Ritual selbst zu verstrikken. Das war vielleicht das schwerste von allem. Er wiederholte die Namen der Dämonen, wie sie den Frauen des Kultes bekannt gewesen und von ihnen im Laufe der Jahre niederge schrieben worden waren, beschwor einen jeden davon, bannte und fesselte in mit der rituellen Mischung aus Kräuterwein und Blut an den honiggelben Sandstein zu seinen Füßen, befahl ihm, niemals mehr diesen Ort zu verlassen, niemals mehr die Luft zu durchschrei ten, niemals mehr ein Ende seiner Sehnsucht in der dunklen Wärme von Menschen zu suchen. Er spürte, wie ihr Ärger und ihre Wut aus der Grube emporschimmerten, als er die äußere Umrandung des Kreises abschritt und ihre einzelnen Namen wiederholte. Und er spürte, wie seine eigene Erschöpfung die Muskeln verspannte, als er nach Macht in seinem Herzen forschte und die letzten Krumen her auskratzte, wie ein Verhungernder, der den bräunlichen Niederschlag von gekochtem Reis vom Rand eines leeren Topfes kratzt. Er konnte nicht zulassen, daß er strauchelte. Er konnte nicht zu lassen, daß seine schwächer werdende Konzentration brach. Die Dämonen gingen nun in Schwärmen gegen die glühenden Barrieren des Kreises der Dunkelheit an, ihre Arme von Farben umlodert und ihre kalten Chitinkörper von rauchigem Leuchten eingehüllt, wobei sie mit dünnen Stimmen wisperten, die wie Wind durch die Risse in 660
seiner Seele drangen. Im Tempel war es heiß geworden und die Luft stickig und dick angesichts des heraufziehenden Sturms. Klebriger Wind küßte ihm die Wangen, als er zwischen dem Kreis und den Toren hindurchwehte, die heiße Elektrizität des Staubes… dann, beißend, der Geruch von Pferden. Sternenfalke war zur Tür gegangen. Es war ein schmaler Ein gang, eng und versteckt liegend; sie sollte eigentlich in der Lage sein, ihn zu halten… Er begann sich wieder zu konzentrieren. Er konnte sich nicht einmal erlauben, darüber nachzusinnen, wie lange das Ritual dauern würde, konnte nicht zulassen, daß die Stille unterbrochen wurde, die wie ein gefährlich mürber Panzer sein Herz umschloß. Die Dämo nen; der Sturm; Tazey, die unweit des zerbrochenen Schutzkreises saß und das kleine Feuer mit Zweigen nährte, den absinthfarbenen Blick dunkel vor Grauen, während sie den wallenden Hitzewirbel der Dämonen und die nagende Kälte der Dämonengedanken spürte, die einen Weg in die seinen suchten. Der weit entfernte Ruf von Stim men rührte an sein Bewußtsein, das Geklirr von Waffen, das Schlur fen unweit der Tür und der Geruch neuen Blutes. Er hörte das Ke ckem der Dämonen und das schwache Brüllen – bei seinen Ahnen, er hätte nie geglaubt, daß das Kalb so lange in der Grube würde überle ben können. Mit schmerzenden Armen malte er wieder die Zeichen in die Luft, und sein dumpfer Verstand wiederholte die Formeln, dankte allen Geistern seiner Ahnen, daß die Magie ihre meiste Kraft aus der sich aufbauenden Macht des Ritus bezog, nicht aus seinen eigenen, längst leeren Reserven. Erneut erklang ein Schrei von der Tür, dann das Zischen und Aufeinanderprallen von Schwertern. Er zog seinen Geist wieder zurück, als seine Kriegsreflexe zuckten. Es waren zu viele für sie, selbst in diesem schmalen Eingang. Die Dämonen wirbelten wie Feuerfunken über der Grube auf – ein glühender Wirbel, der gegen die Decke brandete – , schrien ihn mit Stimmen an, die, wie er wuß te, nur er allein hören konnte, und griffen mit mageren Armen nach ihm. Noch einmal hob er seine Hände, wobei seine Rückenmuskeln schmerzten, als stünde sein Rückgrat in Flammen. Dann sah er in der Dunkelheit tief im hinteren Bereich des Tem pels, wo die zweite Tür war, das Glitzern eines Armbrustbolzens – nicht auf ihn gerichtet. Ohne den Kopf zu wenden, wußte er, wo Sternenfalke, das Schwert in der Hand, stand, nicht viel mehr als eine Silhouette vor dem schwarzen Rechteck des engen Eingangs, 661
einen Toten und einen Verwundeten zu ihren Füßen. Er schrie: »DUCKEN!« – und im gleichen Moment schnalzte der Eisenbogen, ein furchtbar lautes Geräusch im widerhallenden Tem pel. Noch im Herumfahren nahm er all die zerbrechlichen Schöpfun gen aus Magie und Licht wahr, die rings um ihn her in der Luft hin gen und wie zertretenes Glas zerbrachen. Pfeilschnelles Eisen krach te gegen den Stein; Schritte dröhnten, eilten aus der Innentür über den Tempelboden auf ihn zu. Er fuhr herum, um den zwei Männern zu begegnen, die über ihn herfielen und ihn zurücktrieben. Das Op fermesser war in seiner Hand, als er verzweifelt in die Reichweite des gezogenen Schwertes von einem der Angreifer sprang. Im letzten Augenblick krümmte er sich und wich dem Schwert des zweiten Mannes aus… Und er spürte, wie der nächste Hieb ihn rückwärts über den Kreis der Dunkelheit hinaustrieb. Er schrie: »NEIN!« – als er auf den Steinboden stürzte, und einen Moment lang umschwärmten ihn die Dämonen wie Hornissen, ein Glitzern von Klauen, die gierig die Luft zerrissen. Dann waren die beiden Männer in der grünen Lederbekleidung von Tandieras-Wachen über ihm. Er versuchte sich aufzurappeln. Das Schwert fiel ihm aus der blutenden Hand, als sein Rücken gegen den Steinaltar stieß, das Gewicht menschlicher Arme und Körper zwang sein Gesicht zu Boden. Kaltes Metall schob sich unter sein Kinn. Für den Bruchteil einer Sekunde gab es nichts als den Geruch von Blut an dem Stein, gegen den sein Gesicht gepreßt war, und der dünne, harte Schlag seiner pulsierenden Ader unter dem Druck der Klinge. Dann sagte von irgendwoher Nanciormis' Stimme: »Ist da wer in der Grube?« Die schwache Vibration von Stiefeln durch Stein an seiner Wan ge. Kein Laut. Dann: »Ein totes Kalb, Sir. Ganz hübsch in Fetzen gerissen. Es wurde geopfert, kein Zweifel.« »Sonst noch was?« »Nein, Sir.« Wieder Schritte. Näher jetzt, sagte Nanciormis: »So. Es stimmt also, was wir sagten. Er ist der Mörder.« Sonnenwolf hob den Kopf vom Stein, wobei die Klinge an seiner Kehle ein wenig nachgab. Der Kommandant stand am Rand der Grube und schaute in sie hinunter, seine vollen Lippen waren in 662
einer Miene des Abscheus und Entsetzens zu einem dünnen Strich zusammengepreßt, aber jede Linie dieses dicken, muskelbepackten Rückens drückte höhnische Genugtuung aus. Und wahrscheinlich empfindet er auch so, dachte der Wolf bitter. Seine Beschuldigungen waren über jeden Zweifel erhaben. Drüben in der Dunkelheit erspähte er die Umrisse von Sternenfalke, die zwischen der schwarzgekleideten Kaletha und einigen Wachen stand, und von Tazey, die tränenerfüllt in den unsicheren Armen der getreuen Anshebbeth zitterte. In der stillen Schwärze des Tempels gab es nirgendwo eine ande re Bewegung. Auf dem Boden führten seine eigenen Fußspuren und die von Nanciormis und den Wachen durch die Linien des Kreises. Der Geruch von Blut und Rauch hing in der Luft wie der Gestank eines Schlachtfelds, aber die Dämonen waren verschwunden.
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17. Kapitel »Den Sturm abwenden?« Kalethas Lachen war voller Bitterkeit. »Er wäre besser genutzt, wenn Ihr diesem Barbarendieb Hände und Füße binden und ihn dem Sturm überlassen würdet. Es würde Illyras Folterer die Arbeit ersparen, ihm das Fleisch von den Knochen zu ziehen.« Ihre weiße Hand, spinnengleich in der Dunkelheit vor dem schwarzen Ärmel, strich über den zerfallenden Deckel des Dämoni ums, das sie wie ein Kind an die vollen Brüsten gedrückt hielt. »Am besten gleich beide«, fügte sie gehässig hinzu und schaute zu Ster nenfalke hinüber, die mit gefesselten Händen in wachsamem Schweigen dasaß. Sternenfalke begegnete ihrem Blick ruhig, ohne Entschuldigung. Es war Kaletha, die als erste den Blick abwandte. Sonnenwolf konnte ihre Finger vor Wut zittern sehen. Er seufzte und ließ seinen Kopf wieder auf den gemusterten Bernsteinboden zurücksinken, auf dem er lag. Er war froh, dem verrufenen Tempel entronnen zu sein, obwohl dieses breite, ovale Zimmer tief im Zentrum des Palastlabyrinths für ihn keine große Verbesserung darstellte. Die meisten Türen im alten Palast waren von den eindringenden Kämpfern aus Dalwirin schon vor eineinhalb Jahrhunderten aus den Angeln getreten worden; um der Wut des Sturmes zu entgehen, dessen Stimme sich in den Schluchten draußen zu erheben begonnen hatte, war es erforderlich gewesen, sich tief ins Innere zurückziehen. Das Fehlen von Sandverwehungen und Schutt hatte ihnen gesagt, daß dieser verlassene Raum eine sichere Zu fluchtsstätte war. Vor dem Sturm, ergänzte Sonnenwolf und sah zu, wie die Fa ckeln in den sich kreuzenden Luftzügen aus den Belüftungsschäch ten nervös flackerten. Vor dem Sturm. Anshebbeth benetzte ihre Lippen und warf einen kurzen Blick zu Wolf hinüber. »Seid Ihr… « Ihre Stimme wurde leiser, ein aufgereg tes Flüstern über dem verschwörerischen Murmeln des Windes in den Schächten. »Seid Ihr sicher, daß er sich nicht befreien kann?« Verärgert drehte sich Sonnenwolf in eine bequemere Lage auf den Rücken, damit ihn seine Schultern und Arme, die nach hinten gebunden waren, nicht mehr so durchdringend schmerzten. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß es, wenn man gefesselt war, so etwas wie eine bequeme Lage nicht gab. »Zum Teufel, nein, ich kann mich nicht befreien«, grollte er. »Ebensowenig wie irgendein 664
anderer von uns sich aus diesem Dämonenloch befreien kann.« »Seid still«, fuhr Kaletha ihn an. Alle waren gereizt. Die Hitze und Elektrizität des Sturmes machte sie nervös und brachte den Schädel zum Bersten. Ungeduldig und verächtlich fuhr sie fort: »Es gibt keine Dämonen. Das einzige, was wir zu fürchten haben, ist Euer Killerinstinkt und Eure gestohlene Magie, und die haben wir ja fest im Griff.« Anshebbeth, die zusammengekauert neben der schweigsamen Tazey saß, schien das wenig zu trösten, aber Sonnenwolf hätte ihr sagen können, daß sie auch ohne die Bannsprüche, die auf seine Handgelenkfesseln gelegt waren, nichts von ihm zu fürchten gehabt hätte. Er fühlte sich leer und ausgelaugt, wie nach langer Krankheit oder Hunger, wie Gras, das man bis auf die Wurzeln niedergebrannt hat. In gewisser Hinsicht bereitete ihm das größere Sorgen als die Tatsache, daß man seine Kraft gebunden hatte. Die Dämonen waren herbeigerufen worden, ihr Appetit angeregt und nicht gestillt. Sie lauerten noch irgendwo draußen in der sturmheißen, nebligen Dun kelheit der bemalten Hallen. »Ihr habt meine Magie gefesselt, Kaletha, nicht meinem Geist. Die Dämonen hier sind wirklich vorhanden.« »Wenn Ihr nicht still seid«, sagte sie leise und kühl, »lasse ich ei ne der Wachen herkommen und Euch die Zunge abschneiden. Ver steht Ihr?« Einer der verängstigten Männer blickte von der Gruppe, die um ein kleines Feuer herum unter dem Belüftungsschacht saß, auf, sah dann rasch zur Seite und tat so, als habe er nichts gehört. Nanciormis mochte sie Kalethas Befehl unterstellt haben, dachte Sonnenwolf, aber recht war ihnen das nicht. Eine Windbö fuhr in die Flammen und ließ Funken aufwirbeln. Sonnenwolf schauderte und hatte wieder vor Augen, wie die Dämo nen über dem pulsierenden Glühen der Grube herumgewirbelt wur den. Nervös rückten die Wachen näher zusammen – junge Männer und Frauen, die man in den Bergwerkstädten am Fuß des Gebirgszu ges angeworben und denen man vielleicht beigebracht hatte zu kämpfen, aber nur gegen etwas, was sie auch sehen konnten. In dem unruhigen Licht zuckten ihre Schatten über die honigfarbenen Sand steinpflaster, die ringsum von den Wänden ausgingen, und verliehen den gemalten Gestalten auf dem Verputz ein zartes und flüchtiges Leben. Obwohl die Sturmwinde hier nicht wehten, schwebte ein Vor 665
hang aus feinem Staub in der Luft, der dem Feuerschein eine ge spenstische Atmosphäre gab und Sonnenwolf Kopfschmerzen berei tete. In diesem gräßlichen Dunst schien nichts so zu sein, wie es sein sollte. Von überall her im Raum starrten sie sie höhnisch von den verblichenen Wänden herunter an – Mütter und Töchter, Großmütter und Stieftöchter, alte Weiber und junge Mädchen mit dunklen Augen und allzu wissendem Lächeln. Er spürte sie gleich Gespenstern, wie sie lauschten, auf die letzte Prinzessin des Hauses hinabstarrten, die mit gesenktem Kopf neben ihrer Gouvernante saß und nicht wagte, den Blick zu heben. Auch Kaletha schien den Druck dieser Blicke zu spüren, doch sie blieb weiterhin mit steifem Rücken wie eine Köni gin sitzen, als forderte sie sie heraus, sich zu zeigen. Und der Gedanke quälte ihn, daß sie es tun würden. Irgendwo in den Korridoren schluchzte der Wind. Anshebbeth wandte sich um und sah nach der leeren Tür, aus der das Geräusch gekommen zu sein schien, dann rückte sie näher an ihre Lehrerin. Mit schmalen, zitternden Händen zupfte sie der rothaarigen Frau am Ärmel. »Bitte«, wimmerte sie. »Kannst du… kannst du nicht etwas tun? Dies ist ein schrecklicher Ort, Kaletha. Ich weiß es, ich kann es spü ren. Wir sollten nicht hier sein. Der Hauptmann hat recht, er ist ver hext.« Kaletha riß ihren Arm frei und rieb sich die Schläfen, als könnte dies den stechenden Schmerz des Sturmes darin lindern. »Du bist es, die verhext ist«, fuhr sie sie nervös an. Ihre Augen huschten zur Tür und wieder zurück. »Deine eigenen Ängste holen dich ein, mit denen er spielt wie ein gewöhnlicher Scharlatan.« »Nein…« »Es gibt keine Dämonen.« Ihr Mund wurde vor Wut plötzlich dünn wie ein Strich. »Selbst du glaubst jetzt seinen Lügen, wie alle es tun.« Anshebbeth stammelte: »Nein… « »Wieso fürchtest du dich dann?« fuhr Kaletha sie an. »Er hat meine Magie benutzt, sie gestohlen, sie aus Gier und Verderbtheit für das Böse eingesetzt. Seine Gier hat der Hexenkunst einen bösen Ruf eingebracht, den sie nie mehr verlieren wird, so daß ich – ich – und alle, die danach kommen, darunter zu leiden haben werden. Nur darum geht es. Die Macht erwächst bei dem, der magischer Ab stammung ist, aus dem Verstand, nicht aus… aus irgendeiner Wüs tenlegende oder dem Dschinaberglauben eines Shirdar.« 666
»Aber was ist, wenn er recht hat?« Anshebbeths Augen, schwarz und feucht, Shirdaraugen, zuckten von einem leeren Türeingang zum nächsten. Sie zitterte, als sie trostsuchend näherzukommen versuchte und Kaletha wütend wegrückte. »Es gibt Dämonen in dem Tempel, wo wir ihn fanden: Ich habe sie wahrgenommen, habe sie gespürt. Und ich habe sie gespürt in der Nacht, als… als Egaldus… « »Wirst du wohl aufhören zu jammern!« Kaletha fuhr herum, und ihre blauen Augen blitzten im Feuerschein. »Ich will kein Wort von Egaldus hören! Was kannst du schon von Dämonen oder so etwas wissen?« Rote Flecken tauchten auf Anshebbeths weißen Wangen auf. »Nur weil Egaldus ein begabterer Schüler war als ich, heißt das noch nicht, daß ich keine Ahnung habe… «, begann sie mit schriller Stimme. »Begabt!« Kalethas Lachen klang wie Hundegebell, rauh und falsch. »Du weiß ja nicht, wovon du sprichst!« »Wirklich nicht?« Anshebbeths dünne Nasenflügel bebten, und ihre schwarzen Augen weiteten sich in einem Ausbruch lang unter drückter Wut, als der Sturm ihr Temperament entfachte, wie er das von Kaletha entfacht hatte. »Und wessen Schuld ist das? Weil du lieber ihn unterrichtet hast als mich… « »Er versprach mehr… er hatte die Macht… « »Er hatte dich!« Anshebbeth schrie beinahe. »Wieder und wie der, trotz all deines Gewäschs von Reinheit! Ich hörte durchs Fens ter, wie du es dem Hauptmann erzählt hast – ich hörte es! Du hast ihn unterrichtet, weil er ein Mann war, weil er dich anlog und vor gab, dich zu lieben!« Tränen standen in den dunklen Augen. »Ich liebe dich! Ich hätte dir alles geben können, was er dir gab… « »Wann? Als du für Nanciormis die Hure spieltest?« Die Tränen brachen hervor, liefen die fleckigen, verquollenen Wangen hinab. Sternenfalke, die unbemerkt an der Wand saß, beo bachtete die Szene mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, die grauen Augen plötzlich scharf vor Aufmerksamkeit. Anshebbeth schrie hysterisch: »Wenigstens mag er mich, wie ich bin – was du niemals getan hast… nie… « »Oh, um Gottes willen, fang nicht an zu jaulen!« Kaletha wandte sich ab und preßte wieder ihre Hände gegen den Kopf. Anshebbeth sank zurück, rieb sich mit der Hand nervös den Hals, wobei es in ihrem Gesicht vor Verzweiflung und Kummer arbeitete. Tazey legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. »Nicht doch. Sie 667
meint es nicht so. Jeder verliert während eines Sturmes die Geduld.« Aber in diesem Moment erklangen Schritte in der dunklen Halle. Mit einem Schluchzen sprang Anshebbeth auf und warf sich Nanciormis, als er durch den leeren Türeingang neben ihr trat, in die Arme. Eine Sekunde lang dachte Sonnenwolf, der Kommandant würde sie von sich stoßen. Sein dickes Gesicht, das unter der Anspannung teigig aussah, verzog sich in unwillkürlicher Abwehr, als Ansheb beths magere Arme sich an seine Schultern klammerten. Die zwei Wachen hinter ihm traten mit vorsichtig abgewandtem Blick weiter in den ovalen Raum hinein, um ihren Kommandanten und seine hysterische, nicht mehr junge Geliebte nicht ansehen zu müssen; auch das spiegelte sich auf Nanciormis' Gesicht. Er tätschelte flüch tig ihren heftig bebenden Rücken, während sie die flachen Brüste und die Nase im weichen, grünen Leder seines Wamses vergrub, doch der Wolf sah in seiner Miene nur das Verlangen, sie so schnell wie irgend möglich wieder loszuwerden. Sonnenwolf fand, daß er besser von dem Kommandanten hätte denken sollen, weil er wenigs tens soviel Anstand aufbrachte, nahm jedoch an, daß Nanciormis ohne die Anwesenheit eines Publikums weniger Rücksicht gezeigt hätte. Er drehte sich um und wollte einen Blick mit Sternenfalke wech seln, aber er sah, daß sie nicht Nanciormis, sondern Tazey anschaute. Das Mädchen beobachtete seinen Onkel und die Gouvernante, wobei ekelerfüllter Zynismus in ihren Augen stand. »So ist's recht, geh nur hin zu ihm!« höhnte Kaletha laut. Sie hat te die öffentliche Enthüllung über Egaldus nicht verziehen. »Du wirst es wohl niemals begreifen, was? Wenn ich nie imstande war, an die Magie in deinem Geist zu rühren, liegt das daran, daß dein Geist dazu nicht bereit war – weil du in Gedanken woanders warst. Du warst es, die gelogen hat, nicht ich!« Anshebbeth schluchzte kläglich. »Nein! Nein!« Nanciormis schob sie mit der Heftigkeit eines unsensiblen Mannes, der merkt, daß ihm eine Szene gemacht wird, beiseite, und ging zu der Hexe hinüber. Leise unter dem Schutz des Wutausbruchs des Kommandanten sagte Sternenfalke: »Tazey?« Das Mädchen wandte den Kopf. Tränen glitzerten im Schatten auf ihren Pfirsich wangen. »Was hat Nanciormis zu dir gesagt?« fragte der Falke. »Was hat dich dazu gebracht, ihn so sehr zu hassen, daß du dachtest, die Dä 668
monen herbeigerufen zu haben? Hatte es mit deiner Magie zu tun?« Selbst in der merkwürdigen Düsternis der Halbschatten wurde Tazey zuerst rot, dann weiß vor Scham. Mit erstickter Stimme sagte sie: »Nein. Er… er hat versucht, mich zu küssen.« Sie rückte näher an sie heran, wobei ihr Gesicht in der Erinnerung vor Angst und Scham alt und verzerrt aussah. Nach einer Weile berichtigte sie: »Er hat mich geküßt. Ich dachte immer, es wäre irgendwie süß, daß er und Shebbeth sich liebten. Jetzt weiß ich… daß er es nur… nur auf mich abgesehen hatte. Ich… Er…« Sie schaute flehend Sternenfalke und den Wolf an, einen Ausdruck des Abscheus auf dem Gesicht. »Er ist doch mein Onkel?« »Er ist dein Onkel«, sagte Sternenfalke sanft. »Der Bruder deiner Mutter. Außer für Jeryn, den letzten Prinzen des Alten Hauses von Wenshar.« Etwas an der Art, wie sie sprach, an dem halb mitfühlenden, halb nachdenklichen Ton ihrer leisen, gleichmütigen Stimme, veranlaßte Sonnenwolf aufzublicken. Ihre Augen sahen aus, wie sie in hundert frühmorgendlichen Besprechungen an Schlachtlinien und bei Bela gerungen ausgesehen hatten, wenn sie tausend winzige Details auf addierten und mit etwas herauskamen, das… »Taswind!« Tazey sah bei Nanciormis' Ruf auf. Ihr Onkel kam mit wehendem weißen Mantel zu ihr herüber, die Augen ölig-dunkel und hart. »Komm weg von denen.« Sie rührte sich nicht. Der große Shirdarlord zögerte einen Mo ment lang, währenddessen er die Luft anhielt, dann besann er sich eines anderen. Er ging zu der Stelle, wo sie neben Sternenfalke vor der Wand saß, und kauerte vor ihr nieder. Sie versuchte, ihren Ellen bogen seiner behandschuhten Hand zu entziehen, worauf sich die Seide und der stählerne Ledergriff spannten. »Sei keine Närrin«, sagte Nanciormis leise. Aber jetzt vernahm Sonnenwolf, als er genau hinhörte, die Liebkosung hinter der Grob heit der Worte. An der Veränderung der Lippen des Mädchens, die plötzlich dünn wie ein Strich wurden, sah er, daß sie sie ebenfalls herausgehört hatte und ihm wie eine allzu vertrauliche Berührung übelnahm. »Sie haben dir lange genug vorgemacht, deine Freunde zu sein. Bis zu diesem Punkt können Männer deine Treue noch bewun dern, selbst wenn sie irregeleitet ist. Verstehst du?« Er beugte sich zu ihr vor, legte die Hände auf ihre schlanken Schultern, wo die Finger des Wolfs bei ihrem Griff klebrige Blutspuren hinterlassen hatten. Seine Stimme wurde noch leiser, dringender, schmeichlerischer. 669
Tazeys Miene erstarrte zu Stein. »Der Beweis ist eindeutig. Denke an die Erscheinung, die mich angegriffen hat, was braucht der Mensch noch? Er wurde bei Opfer handlungen gesehen, wie die alten Hexen sie verrichtet haben. Du mußt dich von ihnen lossagen. Ich kann dich beschützen…« Tazey entwand sich seinem Griff. »Laß mich in Ruhe«, sagte sie leise. Sonnenwolf konnte sehen, daß sie zitterte. »Laß mich bloß in Ruhe.« Nanciormis blickte kalt von Sonnenwolf zu Sternenfalke und wieder zu Tazey, und in seinen dunklen Augen stand ein häßliches Glitzern. Aber er drehte sich um, um Anshebbeth zu sich zu rufen – als er sah, daß der Türeingang, in dem sie gestanden hatte, leer war. Seine Brauen stießen über der Adlernase zusammen, verärgert mur melte er in sich hinein: »Elendes Miststück…« Sternenfalke sagte ruhig: »Ihr treibt ein gefährliches Spiel, Nan ciormis. Der nächste, den sie hassen wird, seid Ihr.« Wie auf das plötzliche Sirren eines gezogenen Schwertes hin fuhr der Kommandant herum. Einen Augenblick lang schwieg er scho ckiert, dann sprang er auf und zerrte Sternenfalke dabei an ihrem zerrissenen Hemd hoch, die Hand erhoben, um die Frau gegen die Wand zu prügeln. Und in dieser Sekunde, als hätte er seinen Kopf von dem blutenden Kalb abgewandt und den Dämon über seiner Schulter grinsen gesehen, begriff Sonnenwolf. Er warf sich nach hinten gegen die Wand und kam so, ungeachtet des stechenden Schmerzes in seinen Muskeln, auf die Beine. »Das würde ich bleiben lassen«, sagte er, und seine Stimme klang wie das schwache Kratzen von Metall auf Stein. Nanciormis hielt inne. Für einen Augenblick stand er da, auf gleicher Höhe mit seinen Wachen, die sich bei dem Aufruhr rings um das Feuer halb erhoben hatten und aus Furcht, sich mit einem Magier anzulegen, nicht wagten, ihrem Herrn zu Hilfe zu eilen. Der Feuerschein glitzterte im Schweiß auf Nanciormis' Gesicht. Ganz leise sagte Sternenfalke: »Magie ist nicht der Schlüssel da zu, oder? Ich glaube, das war es, was ich begriff, was ich während Kalethas Anrufung der Toten erkannte und wieder vergaß – daß es nicht Magie sein muß. Und das ist es, was mir angst machte – daß, wenn es nicht Magie sein muß, jeder es gewesen sein konnte. Kein Wunder, daß man die Sturmperiode die Jahreszeit der Hexen nennt. Weil Magie nicht der Schlüssel ist. Es ist Haß.« »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.« Er hütete sich davor, seine 670
Stimme zu heben, so daß weder die Wachen noch Kaletha ihn hören konnten. »Wirklich nicht?« Ihr kühler grauer Blick wanderte zu Sonnen wolf, als säßen sie in einer Taverne, und der ganze Abend läge noch vor ihnen. »Du hast Kaletha eine Närrin genannt, als du sie das ers temal trafst, Hauptmann«, sagte sie. »Warum?« Bedächtig erwiderte Sonnenwolf: »Wegen ihrer Behauptung, jeden in Magie unterrichten zu können – fähig zu sein, aus jedem ei nen Zauberer zu machen. Damals nannte ich sie eine Närrin, weil ich das für unmöglich hielt, heute täte ich es, weil es möglich ist.« »Magie… « Er zögerte, suchte nach Worten, um das Feuer in seiner Seele zu erklären. »Vielleicht entspringt Magie wirklich, wie Kaletha sagt, dem Geist. Aber der Geist liegt in tiefer Dunkelheit. Magie entstammt Tiefen, in die solche, die nicht magischer Ab stammung sind, nicht vordringen, ja, die sie nicht einmal verstehen können. Es ist, als wäre in ihrem Geist ein Deckel über dieser Grube. Für jene magischer Abstammung gibt es ihn nicht. Wir können kon trollieren, was aus ihr herausströmt. In diese Grube steigen wir wäh rend der Großen Prüfung hinab.« Nanciormis schwieg, aber in seinem dicken Gesicht bewegten sich die Augen unruhig. Während der Wolf sprach, war Kaletha zu ihnen herübergekom men. Sie betrachtete ihn mit einer Intensität in ihrem Blick, die er niemals darin gesehen hatte. Im Halbdunkel schien ihr Haar aus Rauch geflochten zu sein. »Ja«, sagte sie. »Es ist dieser Deckel, den ich wegzuschieben versucht habe.« »Aber den Deckel wegzuschieben gibt der Person doch noch nicht die Kontrolle über das, was dann herauskäme, oder?« sagte der Falke. »Oder was hineinschlüpfte, um sich an der Macht dort zu nähren.« In der Dunkelheit der Hallen hinter den weit geöffneten Türen stöhnte der Wind wie eine leiderfüllte Seele, und hinter dem Wind erklang ein schwaches Keckem, so daß sich Sonnenwolfs Nackenhaare sträubten. Sternenfalke fuhr fort: »Ich bin nicht von magischer Abstammung – für mich ist die Grube meiner Seele ver siegelt. Aber mit der Meditation bin ich in der Lage, den Geräuschen auf der anderen Seite des Deckels zu lauschen und Vermutungen darüber anzustellen, was sich dort wohl befinden mag.« Tazey sagte leise: »Die Dämonen… « »Es gibt keine… «, begann Kaletha, aber ein erneutes Stöhnen des Windes ließ sie verstummen, und sie beendete den Satz nicht. 671
Unter der Dunkelheit ihrer geschwungenen Zöpfe wurde ihr Gesicht kalkweiß, als ihr zum erstenmal die Möglichkeit bewußt wurde, daß es tatsächlich Dinge gab, an die auch sie nicht rühren durfte. »Als wir den Kreis bildeten, um die Seele von Bischof Galdron anzurufen«, sagte der Falke und lehnte sich beiläufig mit dem Rü cken und den gebundenen Händen gegen den bemalten Verputz der Wand, »konnte ich die Macht spüren, die uns von Hand zu Hand durchströmte. Ihr, Egaldus und Shelaina Clerk, jedenfalls ein biß chen, konnte durch die Kraft Eures Willens Macht aus dieser Grube in Euren Seelen heraufbeschwören. Ich konnte es nicht – erst als ich mich in Träumereien verlor. Und jetzt erinnere ich mich wieder, erkannt zu haben, daß alle Morde in tiefer Nacht stattgefunden hat ten, als müßte das Bewußtsein, das die Dämonen entfesselte, erst schlafen, bevor sie sich frei bewegen konnten. Das hieß, daß der Mörder vielleicht gar nicht wußte, was er tat, ja nicht einmal von magischer Abstammung sein mußte. Die Stürme machen das genau so – lassen jeden weniger vorsichtig im Umgang mit seiner Wut werden. Später, als Ihr sagtet, Ihr hättet noch nie etwas von der Gro ßen Prüfung gehört, wußte ich, daß die Hexen sich ihrer nicht be dient haben konnten. Das hieß, sie entfesselten Macht, ohne durch die Große Prüfung gegangen zu sein; sie konnten also, wie Ihr, jedem magischer Abstammung oder nicht, beibringen, wie er diese Macht einsetzen konnte. Ich habe das später anhand der Bücher überprüft. Nirgendwo steht, daß alle Hexen als Magier geboren wer den – aber mir fiel die Bemerkung auf, daß viele der Tode mitten in der Nacht stattfanden.« »Und genauso viele fanden tagsüber statt«, fuhr Nanciormis sie an. Seine Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen und wechselten dann rasch zu der kleinen Gruppe Wachen, die sich im mer noch am Feuer wärmten. Er schien ihre neugierigen Blicke zu spüren und dämpfte seine Stimme wieder, so wie sie alle, mit Aus nahme seines Wutausbruches, mit gedämpfter Stimme gesprochen hatten. »In Tandieras waren mit Sicherheit alle wach und auf den Beinen, als ich angegriffen wurde.« »Natürlich«, sagte Sonnenwolf. »Ihr brauchtet ja auch Zeugen für die Tatsache, daß Ihr nichts mit den Morden zu tun hattet.« Nanciormis' Gesicht wurde krebsrot. »So etwas muß ich mir nicht anhören…« »Ich möchte es mir aber anhören«, sagte Tazey unerwartet. Um geben von einer Mähne löwenfarbenen Haars, wirkte ihr Gesicht 672
blaß und entschlossen. »Der Mann ist verrückt – ein vagabundierender Magier, der selbst zugegeben hat, von unseren Feinden gedungen zu sein. Du kannst doch nicht… « Die Stimme des Mädchens war kalt. »Als Königliche Prinzessin von Wenshar kann ich.« Sie wandte sich wieder Sonnenwolf zu. »Sprich weiter.« Einen Moment lang herrschte tödliches Schweigen, während Nanciormis seine Nichte mit Haß in den dunklen Augen anstarrte – Haß und offensichtlicher Überraschung. »Das muß in Euch rumort haben wie ein fauler Zahn, nicht wahr?« sagte der Wolf leise mit heiserer Stimme. »Zu wissen, daß Ihr ein Sproß des Hauses seid, das einst über Wenshar regiert hat, und es nun in den Händen eines großmäuligen Trunkenbolds zu sehen, dessen Eltern Fremde und Sklaven waren. Zu wissen, daß es an ein Gelehrtenbalg übergehen würde, das kaum ein Schwert heben kann, weil es sich den Sprachen und Gebräuchen der Shirdar hingibt wie seit drei Generationen kein König vor ihm. Osgard traute Euch niemals genug, um Euch wirkliche Macht zu geben – das behielt er sich für seinen Freund Milkom vor. Und wenn mich bei der Heim kehr ein Haufen Shirdar überfallen hätte, wäre ich auch ein wenig vorsichtig gewesen. Dieser Anschlag auf der Straße in der Nacht, als wir Osgard trafen, erschien mir nie ganz logisch, und als Prinz des Alten Hauses wäret Ihr in der Lage gewesen, so etwas mit den Shir dar auszuhandeln. Außerdem mußtet Ihr als Prinz des Alten Hauses auch über Dämonen Bescheid wissen. Und Ihr wußtet, daß es keine Möglichkeit gab, die Spur zu Euch zurückzuverfolgen.« »Natürlich nicht«, sagte Nanciormis entschieden, aber seine Hand, die immer noch um Sternenfalkes Hemd geschlossen war, zuckte nervös in kaum sichtbaren Veränderungen von Sehnen und Muskeln unter dem bestickten Leder des Handschuhs. »Weil er nichts mit mir zu tun hatte. Ein guter Versuch, du barbarischer Ma gier«, und der Wolf registrierte die Shirdarbetonung des Wortes, die Bezeichnungen von einem, der es mit den Teufeln treibt, um sich Macht zu erkaufen. »Aber dein Versuch, mich in Verruf zu bringen, wird nicht erfolgreicher sein als dein Anschlag auf mein Leben. Ich hatte sicher keinen Grund, auch nur die Hälfte der Leute zu hassen, die durch die Dämonen starben.« »Nein«, stimmte Sternenfalke gleichmütig zu. »Aber bei denjeni gen, die Ihr gehaßt habt, stelltet Ihr verdammt noch mal sicher, daß 673
Anshebbeth es auch tat.« In der furchtbaren Stille, die folgte, konnte Sonnenwolf die Sturmböen wie gequälte Seelen aufseufzen hören, die für immer in den gespenstischen Labyrinthen des Palastes gefangen waren. Drin nen huschten kleine Wirbel durch die Hallen, fegten durch die trüben Vorhänge aus Staub in der Luft der dunklen Räume, wo die bemalten Fresken mit aufgerissenen Augen in die ewige Nacht starrten. Er spürte sie – ein schrilles Lärmgezeter, ein skeletthaftes Flackern von Licht weit hinten in einem Korridor, das keiner der anderen zu sehen schien. Schweiß kroch ihm die Arme zu den Fesseln und zerknitter ten, schmutzigen Verbänden der Handgelenke hinunter. Sternenfalke fuhr fort: »Wir hatten immer den Eindruck, daß es nach zwei Mördern aussieht, nicht wahr, Hauptmann? Nicht gerech net, natürlich, der Anschlag, den Nanciormis auf sich selbst vor täuschte, und der damals schon nur wie ein Mittel wirkte, dich aus dem Weg zu räumen. Aber es war nur ein Mann, der eine Waffe trug – eine Waffe, die manchmal ganz von allein losging und tötete.« Kalethas Lippen bewegten sich; obwohl sie keinen Laut von sich gab, konnte Sonnenwolf sehen, wie sie wisperte: »Anshebbeth…« Sternenfalkes graue Augen wanderten zu ihrem aschfarbenen Ge sicht, und ihre Stimme wurde weicher. »Sie war kein geborener Magier, nicht wahr? Und Ihr wart niemals imstande, auf bewußter Ebene die Magie in ihr zu wecken. Das heißt, daß sie nicht sehen konnte, was passierte. Aber dennoch habt Ihr den Deckel über der Grube ihrer Seele durchbrochen – und die Dämonen begannen zu ihr zu sprechen. In ihr war ein Hexenkessel der Lust und des Hasses, den sie sich niemals einzugestehen wagte…« »Nein.« Das Wort kam erstickt und trocken über ihre Lippen, a ber Kalethas Augen schwammen plötzlich vor Kummer und äußers tem Entsetzen. Wie um sich selbst zu überzeugen, stammelte sie: »Es gibt keine Dämonen. Nur den Geist, die Kräfte der Magie… Es war meine Bestimmung, zu lehren, den anderen zu helfen, daß sie erken nen… Lieber Gott, was habe ich getan?« »Nichts.« Nanciormis stieß Sternenfalke von sich und wandte sich wütend der Hexe zu. »Ihr habt nichts getan. Weder diese Hure noch ihr Dämonenliebhaber können irgend etwas beweisen. Sie lügen, um ihre Haut zu retten.« »Wie wollt Ihr sonst Nexués Tod erklären?« fragte Sternenfalke, während sie leichtfüßig das Gleichgewicht wiederfand. »Aber Ihr erkanntet die Zeichen vor der Zeit, nicht wahr, Nanciormis? Die 674
Zeichen, nach denen die Hexen Ausschau zu halten pflegten, wenn einer ihrer Schüler zum erstenmal Bekanntschaft mit diesen dunklen Träumen der Macht und des Hasses machte. Hat sie Euch davon erzählt? War das, als Ihr dieses erste Mal in ihr Zimmer auf dem Balkon gingt, und sie aus ihrem ersten Haßtraum gegen mich und den Wolf gerissen habt? Sie war die ideale Waffe. Ihr habt sie mit Lügen und Tratsch vollgestopft und mit ihrer Liebe zu Tazey, ihrer Angst um Kalethas Sicherheit gespielt, wohl wissend, daß Milkom mit Galdron davonreiten würde – Milkom, der nie Eurer Werbung um Tazeys Hand zugestimmt hätte. Und Ihr habt doch um Ihre Hand angehalten, nicht wahr, kaum daß Incarsyn aus dem Weg geräumt war?« Nanciormis schwieg, aber Tazeys schwelende grüne Augen ant worteten deutlicher als alle Worte. Sternenfalke fuhr fort: »Zu diesem Zeitpunkt hätte Incarsyn si cher sein sollen. Aber Ihr hattet den Keim des Hasses in Anshebbeth gesät, mit Eurem Geschwätz darüber, was er über Hexen gesagt und wie er Tazey behandelt habe. Ob etwas davon stimmte oder nicht – der arme Kerl schien mir immer recht harmlos zu sein, und er hatte immerhin den Anstand, höflich zu ihr zu sein – , diesen Haß konnte nichts mehr auslöschen. Und außerdem hätte er die Königskrone von Wenshar vielleicht stark genug gewollt, um gegen das Geheiß seiner Schwester zu verstoßen.« »Die Königskrone?« Tazeys dunkle Brauen wölbten sich ver blüfft über ihren Augen. »Aber ich bin nicht die Erbin. Jeryn… « Sie hielt inne. In der plötzlichen Stille hörte Sonnenwolf es erneut: das gewisperte Keckem, ein Geräusch wie das Schleifen eines Frauen gewandes auf Stein. Rasch blickte er sich in dem ovalen Raum um und fragte sich, ob er wirklich einen Schatten gesehen hatte, der über das ruhelose Züngeln der Flammen hinweggehuscht war. Tazeys Gesicht verdüsterte sich vor einer Wut, die alle Angst vor ihrem Onkel vertrieb. Sie sagte ruhig: »Du Schwein. Kein Wunder, daß er sich fürchtete, seine Schwertübungen mit dir zu machen. Kein Wunder, daß er seine ganze Zeit damit verbrachte, sich zu verste cken. Kein Wunder, daß er sein Leben riskiert hat, um einen anderen Lehrer zu bekommen.« Er packte fest ihren Arm, und sie entwand sich ihm, als habe er sie mit Kot beschmiert. »Du wirst den Lügen dieses Mannes doch nicht glauben?« »Warum nicht?« fragte Tazey rauh. »Ich weiß, daß mein Bruder 675
kein Feigling ist. Er wußte es auch, bis du angefangen hast, es ihm – und meinem Vater – einzureden. Bis Sonnenwolf kam, hätte er alles getan, um zu beweisen, daß das nicht stimmte, selbst wenn er dazu die viel zu starken Pferde hätte reiten müssen, die du für ihn ausge sucht hast, oder in die Wüste hinausgehen mußte. Das hast du ihm doch auch eingeredet, oder nicht?« »Als letzter Prinz des Alten Hauses«, sagte Sternenfalke, »hätte Eure Ehe mit Tazey Euch zum Erben gemacht, wenn der unvermeid liche Unfall schließlich eingetreten wäre. Aber ich bin sicher, das wißt Ihr.« »Ich weiß nur eines«, sagte Nanciormis, »nämlich, daß Ihr und dieser Mann, wie aus seinem eigenen Geständnis hervorgeht, als Agenten aus Kwest Mralwe hierhergeschickt wurden, um Verwir rung und Zwietracht in Wenshar zu säen, und es ist Euch über die kühnsten Hoffnungen des Königsrates hinaus gelungen. Ihr habt das Bündnis zwischen den Shirdarlords und dem Lord von Wenshar zerstört und mich in Verruf gebracht, den einzigen Menschen, der fähig gewesen wäre, an Stelle dieses pathetischen Trunkenbolds auf dem Thron zu herrschen.« Tazey schlug heftig nach ihm. Mit der Schnelligkeit eines Krie gers fing er ihr Handgelenk ab, bevor ihre Hand sein Gesicht berüh ren konnte. Mit einem Griff wie Stahl um das schlanke, gebräunte Fleisch fuhr er leise fort: »Du hast alle Chancen auf das einzige Bündnis verdorben, das das Königreich retten könnte.« Er wandte wieder den Kopf und sah Sonnenwolf an. »Ihr habt Euer Blutgeld gut verdient. Was diese Schlampe Anshebbeth angeht… « Er schaute sich um. Die Wachen, die mit gedämpften Stimmen über dem Feuer in ein Gespräch vertieft gewesen waren, blickten jetzt, wie auf irgendein Geräusch hin, auf. Ihre Gesichter, männlich und weiblich, bärtig und bartlos, wirkten in dem flackernden Licht ausgezehrt und abgespannt, und ihre Augen huschten nervös von einer schwarzen, gähnenden Türöffnung zur anderen. Weder Kaletha noch Anshebbeth befanden sich noch im Raum. Sternenfalkes Gesicht wurde unter ihren Schwellungen kalkweiß. »Sie ist ihr nachgegangen.« Wie eine Katze durch eine halbgeschlos sene Tür wand sie sich an Nanciormis vorbei und wollte auf das Rechteck aus tiefster Dunkelheit zueilen. »Kaletha!« Nanciormis packte sie heftig am Arm und schleuderte sie mit al ler Kraft gegen die Wand zurück. Sonnenwolf, der das Herannahen der Dämonen wie Säure auf seinen Nerven spürte, sprang auf ihn zu 676
und trat Nanciormis, als dieser sich gerade wegdrehen wollte, um ihm auszuweichen, mit dem Knie in die Hoden. Während der Kom mandant mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden ging, rannte Son nenwolf auf die leere Augenhöhle der Dunkelheit zu. Nur langsam kam Leben in die Wachen, und wie eine Hunde meute stürzten sie hinter dem Wolf her und brachten ihn, obwohl er sich wand und unablässig gegen ihre Griffe ankämpfte, auf dem Steinboden zu Fall. Ein Stiefel trat in seine Rippen, und er spürte, wie eine brach und sich wie ein Splint in seine Seite bohrte. Er konn te gerade noch einem weiteren brutalen Tritt gegen seinen Schenkel entgehen, als er das schneidende Wimmern von gezogenem Stahl und Nanciormis' Stimme hörte, die rauh vor Schmerzen und Wut schrie: »Tötet ihn!« Sonnenwolf wandte so weit wie möglich den Kopf und sah, wie Sternenfalke dem Griff des einen Mannes, der sie hielt, entglitt, irgendwie mit ihren gefesselten Händen sein Knie packte und wieder hochkam, so daß dieser nach hinten überstürzte. Ihr Rundumtritt brach der weiblichen Wache, deren Schwert gerade auf den Nacken des Sonnenwolfs herunterzischte, das Handgelenk. Klirrend fiel die Waffe zu Boden, und die Wache fluchte vor Schmerz, während an dere Sternenfalke zurückzogen und Tazeys Stimme durch die Ver wirrung schnitt. »Ich verbiete es! Laßt sie in Ruhe!« »Hört nicht auf sie!« rief der Kommandant. Sonnenwolf konnte sehen, wie er schwankend auf die Beine kam und mit aller Kraft darum kämpfte, gerade zu stehen. »Sie steht unter dem Bann dieses Magiers.« »Ich dachte, Kalethas Fesseln nähmen seinen Zauberkräften die Wirkung«, gab Sternenfalke zurück, und Nanciormis schlug sie mit heftiger Brutalität. Blut tropfte von ihrer Lippe, aber sie hob den Kopf, um seinem Blick standzuhalten. »Tötet sie beide!« »Nein!« Er fing Tazey ab, als sie vorspringen wollte, und hielt sie in sei nem eisernen Griff. Die Wachen zögerten, mit den Waffen in der Hand, deren Ränder im züngelnden Feuerschein aufblitzten. Keu chend versuchte Sonnenwolf, der jetzt bei jedem Atemzug das Ge fühl hatte, als würde ein Messer in ihn getrieben, sich zu bewegen, und eine der zahlreichen Wachen über ihm verdrehte ihm den Arm und drückte seine Wange gegen den Steinboden. Selbst da konnte er durch den Schmerz hindurch noch die Dämonen spüren und hören, 677
wie sie einen Namen wisperten. Nanciormis sagte: »Tötet sie.« Sonnenwolf spürte, wie sich ein Knie in seinen Rücken bohrte und die Hand in tödlichem Griff sein dünnes, schweißdurchnäßtes Haar packte. Seine nächste Empfindung war ein Feuer in seinem Geist, das ihn selbst den Tod vergessen ließ, der im nächsten Augen blick kommen mußte – das Huschen und Wispern von Dämonen, die Woge des Grauens und der Macht. Eine Frau schrie auf – für einen Sekundenbruchteil glaubte er der einzige zu sein, der es hörte. Das Gewicht, das seinen Körper zu Boden drückte, zuckte zu sammen, erstarrte, dann wurde es schlaff. Das Messer fiel an seinem Gesicht vorbei und kam trotz des Klirrens unbemerkt auf dem Stein auf. Die Schreie hielten an und hallten durch die Irrgänge dieses ge spenstischen Labyrinths wider, doch keiner in der vom Feuerschein erhellten Halle rührte sich. Beinahe verdeckt von den Schreien glaubte er noch andere Dinge zu hören: das schrille Zetern der Dä monen, das leise Flüstern eines schrecklichen Lachens, das wie ein Echo vom Ende eines lichtlosen Korridors zurückkehrte. Er war sich nicht sicher, glaubte jedoch, eine zweite Stimme irgendwo in weiter Ferne ebenfalls schreien zu hören. Dann sagte Tazey leise: »Helft ihnen auf. Befreit sie von den Fesseln. Wir werden jede Art von Magie benötigen, die wir kriegen können.«
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18. Kapitel Sie fanden Anshebbeth auf dem Altar sitzend vor, umgeben von den Fragmenten des zerbrochenen Kreises der Finsternis. Die Luft hier war heiß, dick von Staubteilchen und roch nach Rauch und fri schem Blut. Anshebbeths Gewand war an den Stellen, wo es den Altar berührte, mattiert und fleckig, und in dem schwachen Hexen licht, das Tazey und er gemeinsam heraufbeschworen hatten, sah Sonnenwolf fingerbreite Schmierspuren, die unter dem strähnigen Wirrwarr aus Haaren die weißen Wangen der Frau bedeckten. Sie richtete den Blick auf ihn, große und strahlende Augen in den Schatten, als sie im Eingang zur Tempelhalle stehenblieben. Son nenwolf sah, daß sie wahnsinnig geworden war. »Kommt herein«, sagte sie und lächelte, wie der Dämon gelächelt hatte, als Sonnenwolf dem Kalb den Bauch aufschlitzte. »Kommt herein. « Nanciormis und die Wachen zögerten, aber Sonnenwolf trat in den schattigen Tempel hinein, wobei seine Schritte leise Töne in der Dunkelheit verursachten. Wie auf Katzenpfoten folgte ihm Sternen falke. Einen Augenblick später befreite sich Tazey von dem anhal tenden Griff ihres Onkels und ging ebenfalls hinein, ihre Reithosen und Stiefelkrempen verschwammen wie die Fetzen von Falkes Hemd als weiße Flecken im Halbdunkel. Überall konnte Sonnenwolf nun die Dämonen wahrnehmen, sie riechen und ihre gierige Erwartung spüren, ihre halbgestillte Begierde, die sich nach immer mehr ver zehrte, an dem sie sich laben konnten. Der Staub schluckte den blauweißen Glanz des Hexenlichts, verwandelte es in einen gespens tischen Nebel; manchenorts schien es zu glühen, obwohl er nicht sehr weit sehen konnte – Rottöne und ein bläulicher Schimmer, der ihn an Kalethas Augen erinnerte. Hinter dem Altar strahlte die Grube ein fauliges Licht aus, das die Dunkelheit und den Staub durchdrang; davor zeichnete sich Anshebbeths schlanke, dunkle Gestalt ab. »Sie ist tot, nicht wahr? Kaletha.« Die Blutspur, über Wände und Boden verspritzt, hatte sich min destens hundert Meter weit durch die zahlreichen Korridore und bemalten Räume gewunden. »Ja«, sagte der Wolf. »Sie ist tot.« Anshebbeth zuckte zusammen und schlug die Hände vor das Ge sicht. Als sie sie wieder herunternahm, hinterließen sie klebrige Blutstreifen auf ihren Augenlidern und dünnen Nasenflügeln. »Ich 679
mußte es tun«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Sie war eifersüchtig auf mich. Sie wollte nur, daß ich… daß ich ihr folge. Sie sagte, ich könnte ihr helfen, die Bücher zurückzutragen. Sie traute sonst nie mandem. Es störte sie nicht, daß hier Gefahren lauerten, daß ich Angst haben würde. Aber nun habe ich keine Angst mehr.« Wieder lächelte sie, wie ein Totenschädel. »Nun kann ich ande ren Leuten angst machen.« »Wenn es das ist, was Ihr wollt«, sagte Sonnenwolf. Er stand mit hängenden Armen da, und der struppige, goldene Flaum auf ihnen prickelte unter dem heißen Gewicht des Bösen in diesem Raum. Sie hatten die Fesseln von seinen Handgelenken entfernt, aber seine Magie war immer noch geschwächt. Er fühlte dies mehr als alles andere, als er in die dunklen Augen der Wahnsinnigen sah. »Nun wird Nanciormis mich lieben müssen.« Sie ließ ihre Beine vom Altar baumeln, kickte ein paarmal vor und zurück wie ein Kind, und verdrehte eine Locke ihres glatten schwarzen Haars mit dem Zeigefinger zu einem klebrigen Ring. »Ich kann ihm geben, was immer er will. Ich habe ihn vor Galdrons Haß und Intrigen bewahrt. Nun braucht er Tazey nicht mehr zu heiraten. Nun wird er mich heiraten.« »Anshebbeth…«, begann Tazey, und ihre Gouvernante wandte sich ihr zu, das spitze Gesicht flammend vor Trotz. »Ich werde ihn heiraten!« beharrte sie heftig. »Du willst ihn doch gar nicht! Ich habe dich davor bewahrt, Incarsyn heiraten zu müssen, nach all den schrecklichen Dingen, von denen Nanciormis sagte, daß er sie über dich erzählt hat! Du bist ja bloß eifersüchtig auf mich!« »Nein«, sagte das Mädchen ruhig. Das Hexenlicht glitt wie ein goldener Schimmer über ihre dichten Locken, als sie den Kopf schüttelte. »Nein, Anshebbeth, ich bin nicht eifersüchtig auf dich.« »Nun, das solltest du aber!« Die dicke Luft war erfüllt vom tro ckenen Wispern der Dämonen. Licht flackerte am äußersten Rand von Sonnenwolfs Blickfeld – er wandte rasch den Kopf, aber da war nichts. Im gleichen Moment traten Nanciormis und seine Wachen hastig unter der dunklen Tür hervor, als hätten sie in der Schwärze des Korridors hinter sich etwas gehört, das sie mehr fürchteten als den verrufenen Tempel vor sich. Anshebbeth streckte die Hände aus, dünn und weiß wie Knochen. »Nanciormis«, wisperte sie, und das Wort wurde vom Echo und den Schatten verschluckt. Sonnenwolf konnte den weißen Ring des Grauens in den dunklen 680
Augen des Shirdarlords sehen. Der letzte Prinz des Hauses von Wenshar kannte die Geschichten darüber, was auf diesem Altar stattgefunden hatte und anschließend mit den Menschen passiert war. Anshebbeths Gesicht umwölkte sich. »Was ist?« fragte sie leise. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nicht weh tun.« In den Winkeln rings umher regten sich die Dämonen. Sonnen wolf bewegte wieder heftig den Kopf, aber das skelettene Flackern von Licht war verschwunden. Sie wissen um deine Einäugigkeit, dachte er. Er sah, wie Tazey gleich einem erschreckten Kitz herumfuhr und ihn aus ängstlichen Augen anstarrte. Nanciormis rührte sich immer noch nicht. »Ich liebe dich«, beharrte Anshebbeth mit Schmerz in der Stim me. »Ich habe alles für dich getan.« Dann änderte sich ihr Tonfall, und leichter Ärger schwang mit. »Es geschah alles nur für dich.« Das Glühen hinter ihr wurde zu einer Art zitterndem Schimmern, und der Wolf glaubte, helle Farbflecken zu sehen, die wie Funken eines Feuers in der Luft über der Grube zu wirbeln begannen. »Komm her!« Sein Gesicht war eine Marmormaske, als Nanciormis vortrat. Er blieb stehen, schluckte schwer und warf Sonnenwolf einen entsetzten und flehenden Blick zu. Sein ganzes Leben lang, dachte der Wolf, hatte Nanciormis nicht an die Folgen seines Handelns gedacht, außer, wo es seinen Zwecken diente. Jetzt glich er einem Mann, der im Ozean den Grund unter den Füßen verliert und sich plötzlich in tiefem Wasser wiederfindet und wild um sich schlägt, voll Angst vor den Dingen, die darin wohl schwimmen mögen. Hilflos flüsterte er: »Bitte…« »Du fürchtest dich vor mir«, sagte Anshebbeth leise. »Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten.« Umrahmt von ihrem unge bändigten Haar war ihre blutverschmierte Fratze schrecklich anzuse hen, und die Wut, die in den vergangenen Wochen immer leichter in ihr aufgestiegen war, flammte plötzlich in ihren Augen auf. »Sag, daß du mich liebst.« Er kämpfte verzweifelt darum, das Gesicht zu wahren und nicht auch noch den letzten Anschein von Selbstbeherrschung zu verlie ren. Kaum hörbar wimmerte er: »Ich… ich liebe dich, Anshebbeth.« Ihre Miene verzerrte sich wieder. »Lügner! Du hast mich belo gen!« Entsetzt fiel Nanciormis auf die Knie, hob flehend die Hände. Er wußte eben, dachte der Wolf über dem Pochen in seinem Kopf 681
und den Dolchstößen seiner Atemzüge, wozu sie imstande ist. »Ihr alle habt mich belogen!« Anshebbeth fuhr herum und starrte mit wilden, verrückten Augen um sich. »Keiner von euch liebt mich! Ihr liebt alle nur euch selbst.« Tazey war fast unbewußt zu Sonnen wolf getreten, als sie das Grauen spürte, das sich in den Ecken des Tempels sammelte, und Sonnenwolf hatte schützend den Arm um sie gelegt. Sternenfalke hatte sich nach links begeben, so die mögliche Zielfläche, die sie boten, vergrößert und sich gleichzeitig mehr Be wegungsfreiheit verschafft. Anshebbeths Stimme brach in Selbstmitleid aus. »Aber keiner liebt mich! Und keiner wird mich je lieben.« Mit erhobenen Händen brabbelte Nanciormis: »Natürlich lieben wir dich, Shebbeth. Wir alle lieben dich.« »Es ist schwer, den Haß zu lieben, Anshebbeth«, sagte der Wolf wie ein dünner Sandwirbel in der Dunkelheit. Angesichts ihrer Wut war das blaue Glühen des Hexenlichts über seinem Kopf zu einer kleinen, schwachen Perle geworden, wie die Sonne an einem nebli gen Tag; er konnte jetzt die Dämonen sehen, wie sie aus dem Ges pensterwabern des Staubs hervortraten. Ihre Augen waren die dunk len Augen von Shirdarladys, ihre Lippen wie die von Frauen, die gerade Blut getrunken hatten. »Ihr seid abhängig geworden vom Haß, genau wie die Dämonen. Er wärmt euch beide.« »Das ist nicht meine Schuld!« schrie sie auf. Ihre mageren Finger stießen vor, und Nanciormis zuckte vor ihnen zurück, sein feistes Gesicht teigfarben, als müßte er sich vor Entsetzen übergeben. »Es ist die seine! Er hat mir das angetan! Er hat mich dazu gebracht, das zu tun! Und nun wird mich keiner je lieben!« Sie vergrub ihr Gesicht wieder in den Händen, und ihre weißen Finger spielten mit ihren Locken, während ihr ganzer knochiger Körper von Schluchzen geschüttelt wurde. Nanciormis verlor die Nerven, drehte sich auf den Knien herum und kroch über seinen fleckigen weißen Mantel auf den dunklen Eingang zu, der in das Labyrinth des Palastes zurückführte. Aber als er dort ankam, hielt er inne, und das kränkliche Hexenlicht zeigte, wie ihm der Schweiß zischen den herunterhängenden Zöpfen über das Gesicht strömte. Die Wachen drängten sich bereits etwas abseits der Tür und drückten sich in einer kleinen Gruppe an die Wand, Rücken an Rücken, wobei ihre Waffen nach außen deuteten. Der dicke Mann kam schwerfällig auf die Füße, stolperte schutzsuchend auf sie zu, und das leichen blasse Licht brach sich an den Schwertspitzen, als sie sich ihm zu 682
wandten. Der Zorn der Dämonen hing wie ein Pestgestank an seinem Fleisch und seiner Kleidung. Keiner von ihnen war bereit, ihn unter sich aufzunehmen. »Sonnenwolf, helft mir!« Er wandte sein tränen überströmtes Gesicht der dunklen Gestalt auf dem Altar zu, während er um einen Hauch seiner früheren Beherrschung rang. »Anshebbeth, ich… ich habe es nicht gewollt. Ehrlich. Es… es tut mir leid.« »Du hast mich dazu gebracht, es zu tun!« schrie sie. »Ich wollte eine gute Zauberin sein, damit Kaletha mich lieben würde, mich wie ihresgleichen behandeln würde! Aber du hast mich dazu gebracht, Menschen zu hassen! Du hast mir zugeflüstert und immer wieder zugeflüstert, was diese Person über diese und jene Person gesagt hat. Und dann habe ich von ihnen geträumt – von ihrem Tod geträumt, und als ich am nächsten Morgen davon hörte, war ich froh… « Nanciormis bedeckte sein Gesicht, ging in die Knie und brach zusammen, als würde sein ganzer Körper von Entsetzen heimge sucht. Anshebbeth kam auf die Füße, und in ihrem Gesicht arbeitete es; Windböen wirbelten das geisterhafte Flirren des Staubs rings um sie her auf, brachten die Dunkelheit ihres Kleides und Haares zum Flattern. Die Schüler wußten nicht immer gleich zu Anfang um ihre Macht, erinnerte sich Sonnenwolf, aber es gab immer einen Augen blick, an dem sie sie erkannten. Welches Ritual hatten sie verwendet, welche letzte Windung der Seele, welche grausige Selbstrechtferti gung, um das Mädchen mit List und Tücke in ihre Reihen zu locken? Hatten viele von ihnen so lange widerstanden und geschrien, wie Anshebbeth jetzt schrie? Tränen strömten über ihre Wangen, Tränen der Wut und des äu ßersten Elends, die ihre Spuren auf dem blutverschmierten Gesicht hinterließen. Schrill und kaum menschlich schluchzte sie: »Ich fühle sie hier… ich höre sie wispern. Es war wie in meinen Träumen, aber ich schlief nicht! Kaletha… Kaletha… « Wie ein tollwütiges Wiesel fuhr sie zu Nanciormis herum, und er barg aufstöhnend sein Gesicht in den Armen. »Du hast mich dazu gemacht! Du hast mich dazu gebracht, daß ich hasse!« Die Luft rings um Sonnenwolfs Körper schien zu brennen. Wind, der aus dem Nirgendwo kam, riß an seinem Haar und den Fetzen seines Hemdes und befingerte Nanciormis' Mantel und Zöpfe, wäh rend er auf dem Boden lag. Tazey keuchte, und ihre Hand umklam merte Sonnenwolfs nackten Arm, als glühende Gestalten aus der Grube herauszuströmen schienen und über den Steinboden, um den Altar und um Anshebbeths Füße flossen. Sie trieben mit baumelnden 683
Füßen in der Luft, wie tödliche Insekten mit Anshebbeths Augen. Nanciormis rappelte sich auf und wollte fliehen, schlug blindlings auf die Luft ringsumher ein, dann schrie er auf, als eine der Gestalten seinen Arm bis auf den Knochen freilegte. »Nein!« kreischte er. »Sonnenwolf! Anshebbeth! Es tut mir leid! Ich tue alles – bitte, helft mir!« Haß läßt sich nicht aufhalten, dachte Sonnenwolf merkwürdig ruhig. Wenn er mit ihm fertig ist, wird er über uns alle herfallen. Rasch befreite er sich von Tazeys Hand und schritt mit leeren Händen auf den Altar zu, auf dem Anshebbeth saß. Er spürte, wie der winzige glühende Lichtfleck über seinem Kopf endgültig er losch. Nur der düstere Schein von Tazeys Macht schimmerte noch auf diesen blauen, skelettenen Rücken und auf dem Rund der gieri gen Fänge, die den dunklen Schatten der Hexe umgaben. Nanciormis schrie erneut und rannte verzweifelt, als die Dämo nen ihn durch den Raum zu hetzen begannen, wie sie das Kalb in der Grube gehetzt hatten. Fleisch schimmerte opalweiß, leuchtete durch die Klauenrisse in seiner Kleidung, während er lief; Blut strömte, floß glitzernd über seine Hosenbeine und Stiefel. Er schluchzte, Tränen des Grauens auf den Wangen. Sonnenwolf packte Anshebbeth bei den Armen, und sie schaute verdutzt zu seinem Gesicht hinauf, so vertieft in ihrem Haß, daß sie ihn nicht hatte kommen sehen. Ihre Miene war kaum menschlich, von Tränen und Blut bedeckt; sie starrte ihn aus einem Rahmen groben schwarzen Haares heraus an, das bis über seine Hände hinab fiel, ohne ihn zu sehen. »Niemand zwingt Euch zu hassen, Ansheb beth. Ihr könnt immer noch nein sagen.« »So ist das nicht!« Sie keuchte, griff sich an die Kehle, als würg te sie. »Ich liebe ihn, und er hat mir das angetan, mich zu dem ge macht, was… « Dunkelheit schloß sie ein, ein Strudel der Macht und des Grau ens, der in diesen aufgerissenen schwarzen Augen wirbelte. Son nenwolf schüttelte sie, heftig, brutal, versuchte diese starre Zentriert heit des Hasses aufzubrechen, und der Kopf rollte ihr auf den Schul tern umher, der Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet. In der Schwärze wußte er, daß die Dämonen ihn umgaben, und er spürte das leichte Nagen von Fängen an seinem Hals. »Liebt Ihr ihn?« woll te er wissen. »Oder liebt Ihr Euren Haß mehr als ihn?« »Das tue ich nicht!« schluchzte sie. Dann zerbrach etwas in ihr, und sie keuchte: »Das will ich nicht!« 684
An den Mauerstein gedrückt, schrie Nanciormis und flehte, wäh rend er mit der blutenden Luft kämpfte. »Sprecht es aus!« befahl der Wolf. Anshebbeth starrte wie ein hysterisches Kind zu ihm auf, unfä hig, zu sprechen oder Luft zu holen. Wieder schüttelte er sie, und ihr Hals peitschte umher. Ein Schluchzen erklang, als risse es ihren Körper entzwei. Er sah, wie der Wahnsinn aus ihren Augen wich und Wissen an seine Stelle trat – das Wissen und das Entsetzen darüber, was aus ihr geworden war. Ihr Schrei zerriß die Luft. »Das will ich nicht! Laßt ihn in Ruhe! Ich will es nicht!« Gegen die Wand gedrückt, kreischte Nanciormis erneut auf, als der glühende Ring sich um ihn schloß. In Sonnenwolfs Griff fühlte sich Anshebbeths Körper so zerbrechlich und skelettartig an wie die der Dämonen. Verzweifelt rief Anshebbeth: »Ich bringe sie nicht dazu, ihn in Ruhe zu lassen! Ich schaffe es nicht! Ich will es, aber ich schaffe es nicht… « Sie entwand sich ihm und schlug die Skeletthände vor das Gesicht. Dann schrie sie – nicht mit der angespannten Schrillheit ihrer er stickten Schreie zuvor, sondern laut, schmerzhaft, lauter und lauter, während der Strom befreiter Klänge ihren Körper zu zerreißen schien. Wie aufgeschreckte Hornissen stiegen die Dämonen von Nanciormis auf, funkelten schrecklich in der dunklen Luft. Sonnen wolf warf sich zur Seite, als sie in einem pfeifenden Schwarm auf den Altar niederfuhren, er wußte, daß er zu spät gekommen war. Anshebbeth hielt den Kopf gesenkt, aber sie schrie weiter und wei ter, schaukelte wie ein verletztes Kind vor und zurück, als wäre schließlich auch noch der letzte Rest Verstand ihrem Griff entglitten. Aus dem Augenwinkel sah er Sternenfalke, die auf ihn zugelaufen kam, als er sich ohne Waffen und ohne Magie wieder umwandte, um sich dem leuchtenden Sturm des Todes zu stellen. Anshebbeths Schrei schwoll an, erschütterte die Dunkelheit, als die Dämonen sich auf ihr niederließen. In einem blitzartigen Augen blick der Erkenntnis begriff Sonnenwolf, daß sie den Verstand eher wiedergewonnen als verloren hatte. Sie wußte, was sie getan hatte. Blindlings mit den Händen auf die glühenden Fänge einschla gend, die an ihrem Fleisch rissen, lief sie vorwärts, als die Dämonen sie in die Grube trieben. Sternenfalke tauchte im selben Moment an Sonnenwolfs Seite auf, als Anshebbeth hineinfiel, und die glühenden 685
Geisterschemen wirbelten hinter ihr her, während ein gellender Schrei nach dem anderen die Luft zerriß. Sie brauchte zwanzig Minuten, um zu sterben. Als es vorüber war, senkte sich Stille über den dunklen Tempel, wie sie seit einhun dertfünfzig Jahren auf ihm gelegen hatte. »Bist du wach, Anführer?« Sonnenwolf wollte sich herumdrehen, doch er hielt mit schmerzerfülltem Aufkeuchen inne. Vage erinnerte er sich, daß Ster nenfalke einen Notverband um seine gebrochenen Rippen angelegt hatte, als er in dem kränklich gelben Licht nach dem Sturm in tiefen Schlaf versunken war, aber die Erinnerung daran war undeutlicher als die Träume, die darauf gefolgt waren. Er fröstelte, fühlte sich klebrig und wie erschlagen; jeder Knochen im Leib tat ihm weh, und Staub hatte sich auf seine Haare, den Schnauzer und seine Bartstop peln gelegt. Er spürte, wie sich jemand über ihn beugte, leicht und rasch, und Lippen die seinen berührten. Als er das Auge öffnete, sah er Sternen falke, die sich neben seinem Bett gerade aufrichtete. »Nun, dieses Märchen stimmt also immer noch«, bemerkte sie. Sie trug über einem schwarzen Hemd den dunkelgrünen Leder wams der Tandieras-Wachen, was ihre sonnengebräunte helle Haut wie Elfenbein aufschimmern ließ. Sie hatte gebadet und wirkte sau ber, ruhig und, abgesehen von der handspannenlangen schwarzen Schwellung im Gesicht, äußerst gelassen. Als er an ihr vorbeispähte, sah er über der eingestürzten Mauer des Ruinenhauses, in dem er geschlafen hatte, die Klippenwände von Wenshar, ein schwärzliches Braun im Licht der untergehenden Sonne, die ihren Schatz aus Ro sen und Aprikosen im Inneren bewachten. Wie eine seltsame und ferne Musik hörte er die gedämpften Stimmen von Nanciormis' Wa chen und das behagliche Wiehern der Pferde. Am frühen Nachmittag hatte der Sturm aufgehört. Trotz einer Er schöpfung, die so tief gewesen war, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, hatte Sonnenwolf darauf bestanden, daß sie sich erst aus den Schluchten heraus zu den Geröllhalden und dem zerfallenen Mauerwerk des Unteren Turms begeben sollten, bevor er sich schlafen legte. Er und Tazey hatten zwei Stunden gebraucht, um sämtliche Bannsprüche auszuarbeiten, die die Dämonen für immer an die Felsen von Wenshar fesseln sollten; erschöpfende, nerven zermürbende Stunden, in denen er mit soviel Aufmerksamkeit, wie er gerade noch aufbringen konnte, gelauscht hatte, um das Erwachen 686
der Dämonen in der Grube zu hören, in der Anshebbeths zerfetzter Körper lag. Sie waren nicht aufgewacht. Wie Betrunkene waren sie vollauf gesättigt und suhlten sich im Nachglühen. Er hatte Tazey nicht dem Wissen darüber aussetzen wollen, was die Dämonen waren und wel che schrecklichen Kräfte nötig waren, um sie an die Steine zu bin den, aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Er war einfach zu er schöpft, zu ausgelaugt gewesen, um das Ritual noch einmal allein durchzustehen. Später war das Mädchen sehr still gewesen, als es neben ihm im abflauenden Sturm die sandverwehte Schlucht ent langgegangen war, aber er nahm an, daß sie über die Scheußlichkeit der Dämonen bereits weniger schockiert war, als sie es noch vier undzwanzig Stunden zuvor gewesen wäre. Nun, da die Dämonen an den Felsen gefesselt waren, der sie her vorgebracht hatte, wäre es möglich gewesen, beruhigt und sicher zu schlafen, sogar im Innern des Tempels, aber Sonnenwolf hatte die Träume nicht riskieren wollen, die sich vielleicht einstellten. Er murmelte: »Was ist?« An der Farbe des Lichts sah er, daß er vier oder fünf Stunden geschlafen hatte. »Reiter nähern sich«, sagte sie. »Noch ein paar Stunden weit draußen in der Wüste, aber ich schätze, daß es Verstärkung ist. « »Gut.« Er setzte sich auf. Sternenfalke sah wie üblich davon ab, ihm zu helfen; er wußte nicht, ob er über das damit verbundene Kompliment für seine übermenschliche Ausdauer verärgert oder erfreut sein sollte. Das Stechen und Kneifen des verhärteten Verban des war beinahe so schlimm wie die gebrochenen Rippen darunter. »Sie können Nanciormis mit zurücknehmen.« Sternenfalke schüttelte den Kopf. »Er ist verschwunden«, sagte sie. »Du hattest schon mit den Bannritualen begonnen, als seine Wachen ihn aus dem Tempel holten. Er war völlig zerschnitten, weißt du, und blutete wie ein gehäuteter Ochse. Lange Zeit lag er nur schreiend in einer Ecke… « »Ich verstehe«, sagte der Wolf müde. »Sie dachten, der arme Bastard sei ziemlich harmlos, da wo er war.« Sternenfalke zuckte die Achseln. »Nach allem, was im Tempel vorgefallen ist, waren sie nicht sehr erpicht darauf, die Schluchten nach ihm abzusuchen. Ich hätte ihnen ja Beine gemacht, aber es geht mich nichts an.« Seufzend lehnte Sonnenwolf den Rücken an die zerfallene Mauer des Gebäudes. Trockener Wind verfing sich auf seiner nackten Brust 687
und trug den Geruch von Staub und Pferden heran. Er fragte sich, warum trotz allem – seine Erniedrigung unter den Händen des Kommandanten, die Schläge, die sie Sternenfalke ver setzt hatten, der Schmerz in seinen Handgelenken und Seiten – sein Zorn auf den Mann einzig daher rührte, was er Anshebbeth angetan hatte. Und Jeryn antun wollte. Dabei erzürnte ihn weniger, daß er ihn hatte umbringen wollen, als daß er in seinen Gedanken die Angst gesät hatte, ein Feigling zu sein, und seinen Vater gegen ihn aufge bracht hatte. Es fiel ihm schwer, Nanciormis dafür zu hassen. Nachdem er Anshebbeth hatte sterben sehen, fiel es ihm im Augenblick schwer, überhaupt jemanden zu hassen. Als er zurückdachte, wurde ihm klar, daß er immer gehaßt hatte – und daß er darin Nanciormis gleich gewesen war. »Er hat nur ein Spiel getrieben, weißt du«, sagte er nach einer Weile. »Es war nur Eigennutz und Gier, ohne jeden Haß darin. Er hätte die Dämonen nicht herbeirufen können, selbst wenn er es ge wollt hätte, und vielleicht wußte er das. Es war nichts Persönliches damit verbunden. Keiner von ihnen, weder Tazey noch Anshebbeth, noch Incarsyn, waren für ihn wirklich. Nur er selbst und seine Wün sche waren es.« »Das hat mich abgestoßen, weißt du.« Sternenfalke kauerte sich auf die Fersen, und ein Sonnenstrahl fiel schräg durch das zerbro chene Dach, verwandelte ihr Haar in Platin, während ihr kühles, narbenbedecktes Gesicht im Schatten blieb. »Du hast Nanciormis wie ein Mann gesehen, aber ich habe ihn gesehen, wie eine Frau ihn sieht. Er war ein Mann, der Frauen benutzte. Er benutzte auch andere Menschen – ihren Haß, ihre Liebe, ihre Angst – und ihre Magie. In gewisser Hinsicht war seine Verderbtheit größer als Anshebbeths Haß oder Kalethas Eitelkeit und Verantwortungslosigkeit dem ge genüber, was sie in den Büchern fand, die seit Jahrhunderten verges sen in der Bibliothek gelegen hatten. Und natürlich wußte die arme Ciannis weniger von dem Kult als Nanciormis. Hätte sie mehr ge wußt, hätte sie Kaletha vielleicht davor gewarnt – wenn sie über haupt jemals wußte, daß Kaletha die alten Bücher gefunden hatte. Aber Nanciormis kümmerte das einfach nicht.« Sonnenwolf nickte. »Das Schlimme daran ist«, sagte er ruhig, »daß auch meine Verderbtheit dazu beitrug. Das machte mich ja erst zu einem guten Söldner. Wie das Abschlachten dieses armen Kalbes – man tut, was man tun muß, wie ein Tier, das frißt. Ich weiß nicht, 688
wie viele Menschen ich getötet habe, nicht für ein Königreich oder aus Liebe oder Stolz oder sonst etwas – sondern einfach, weil ir gendein Politiker mich dafür bezahlte, eine Stadt zu erobern, in der sie zufällig lebten.« Ihre Mundwinkel verzogen sich leicht, weniger aus Ironie als aus simpler Reue. »Ja, ich weiß«, sagte sie. Ihre Augen trafen sich. Er sah in den ihren das Verstehen, daß er Böses getan hatte und daß sie die ganze Zeit gewußt hatte, daß es böse war, und daß sie ihm den noch als Stellvertreterin in die Schlacht gefolgt war. Plötzlich wurde ihm klar, daß es dasselbe war, was Nanciormis Anshebbeth angetan hatte. Es war dasselbe, und sie hatte es gewußt. Es dauerte eine Weile, bevor er wieder etwas sagen konnte. Und dann war es nur: »Es tut mir leid, Falke.« In ihren Augen sah er, daß sie verstand. Sie schüttelte nur den Kopf. »Das ist Geschichte«, erwiderte sie aufrichtig. »Wie Anshebbeth hatte ich keine andere Wahl. Aber im Gegensatz zu ihr hasse ich mich nicht für die Wahl, die ich getroffen habe.« Er erinnerte sich daran, daß sie Kalethas Freundin geblieben war. »Verstehst du das?« »Oh, ja. Sie erkannte zuletzt, was aus ihr geworden war – und diejenige, die sie am meisten haßte, war sie selbst. Ich nehme an, das passiert allen Mädchen, wenn ihnen bewußt wird, was ihnen zuge stoßen ist.« Sie spannte ihren kauernden Körper und kam auf die Beine, beobachtete mit ihrem üblichen sanften Mitleid, wie Sonnen wolf es ihr unter Schmerzen gleichtat. »Es sind immer die Bösen, die überleben.« »Ich kann nicht behaupten, daß ich diejenigen rüge, die es nicht taten«, sagte er. Sie traten durch eine Lücke in der Wand, die einmal eine Tür gewesen sein mochte, und gingen am plattgetrampelten staubigen Rand einer Sanddüne entlang zu einer der alten Regenzisternen in der Nische eines Felsens, abseits des ständig wehenden Windes. »Hättest du an ihrer Stelle dasselbe getan? Wenn du erfahren hättest, daß du es warst?« Sonnenwolf blickte zu den dunklen, erodierten Krippen der Geis terberge hinauf, die das Regenbogenlabyrinth des Bösen in ihrem Innern bewachten. »Ich würde gern glauben, daß ich es hätte.« In drei der alten Zisternen war Wasser. Sonnenwolf badete in der flachsten; Sternenfalke gesellte sich zu ihm, und später lagen sie 689
gemeinsam auf der ausgebreiteten Decke, die er wie einen Mantel um seine Schultern geschwungen mit sich geführt hatte. »Kein Wun der, daß Soldatenfrauen vielseitig und kreativ sein müssen«, bemerk te sie, als er unter den Schmerzen in seinen Rippen zusammenzuckte. Nach einiger Zeit streiften sich beide die Kleidung aus dem Bün del über, das Tazey nach Wenshar mitgebracht hatte, damit sie ihre Flucht fortsetzen konnten. Außerdem enthielt das Bündel noch eini ge Lebensmittel, ihre Waffen und ihre Rüstung, aber nicht den klei nen Vorrat an Geld. »Kopf hoch«, sagte Sternenfalke und steckte mit der Freude von jemandem, der ein vielgeliebtes Kleidungsstück wiedererlangt hat, mehrere verborgene Dolche in ihre Stiefel. »Jetzt, wo du die Dämonen gebannt hast, werden sie uns irgendeine Beloh nung geben müssen – und wenn es nur der Lohn eines Exorzisten ist.« »Wetten?« murmelte der Wolf. Sie ritten aus Wenshar hinaus, als es dunkel zu werden begann, und begegneten eineinhalb Stunden später der ankommenden Grup pe aus Tandieras, die auf der kiesigen Einöde des winddurchtosten Schwemmlands einen Kreis aus Fackelschein um sich herum ver breitete. Als sie näherkamen, konnte Sonnenwolf im flackernden Licht Osgards grobes, blondgraues Haar erkennen und neben seinem gro ßen Pferd die dickliche, trottende Gestalt von Mauerauge und seinem kleinen Reiter. Tazey rief: »Vater!« – und gab ihrem gescheckten Wallach die Sporen, um sich ihrem Vater in die Arme zu werfen. »Es scheint, als müßte ich Euch dafür danken, daß ich nicht eines Nachts Skorpione in meinem Bett finden werde.« Im Schein des züngelnden Lagerfeuers sah Osgard nüchtern und besser aus, als er es jemals getan hatte, seit der Wolf nach Tandieras gekommen war. Die Schleier, die sein rauhes, stoppeliges Gesicht umgaben, waren zurückgeschoben und fielen über den sandfarbenen Mantel nach hinten. Mit seinem groben Hemd und den abgenutzten Stiefeln hätte er ebensogut irgendein Befehlsempfänger sein können, wie er es ja auch gewesen war, bevor sein Kriegeronkel ihn zum König gemacht hatte. »Oh, ich wußte, daß er gefährlich war, aber… « Er zögerte, dann blickte er in den bernsteinfarbenen Kern des Feuers, und sein dicker Mund verzog sich vor Verlegenheit. »Ich nehme an, ich war wie der Besitzer eines aufs Töten dressierten Hundes. Man wird unvorsichtig.« Sonnenwolf nickte. »Ich weiß.« Auf der anderen Seite des Lager 690
feuers erzählte eine Wache einen Witz, aber das Gelächter war ge dämpft. Draußen auf der schimmernden Schwärze des Schwemm lands war es viel einfacher, die Dämonen und Dschins der Wüsten sagen als bloßen Aberglauben hinzustellen, einerlei, was die Priester von Tandieras sagten. »Ihm ging es in gewisser Hinsicht ähnlich.« »Er war schon immer unvorsichtig«, sagte Osgard. »Er war ein guter Kämpfer, aber verantwortungslos – er dachte immer, daß nichts ihm etwas anhaben könnte. Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht lieber gestorben wäre, als öffentlich gebrochen und wie ein geprügelter Hund in die Wüste geschickt zu werden. Er bildete sich etwas auf sich ein und liebte seine Vergnügungen. Aber ich hätte nicht zugelassen, daß er Hand an Tazey legt… « Er hielt inne, und seine Wut legte sich wieder. Weit entfernt saßen am anderen Lager feuer Tazey und Jeryn zusammen und unterhielten sich leise mit Sternenfalke, während sie die Arme um sie gelegt hielten. Über Os gards Schulter hinweg konnte der Wolf Jeryns dunkle Augen sehen, die vor Spannung und Begeisterung strahlten, als Tazey von den Geschehnissen im Tempel erzählte. Der König seufzte. »Aber Gott weiß, daß ich geschworen habe, es nie mehr so weit kommen zu lassen. Diese verdammten Hexen mit ihrer stinkenden Magie… « Er unterbrach sich wieder und blick te zum Wolf hinüber. Sonnenwolf schüttelte den Kopf. »Magie hat damit nichts zu tun«, sagte er. »Nanciormis gehörte zu jenen, denen jede Waffe recht ist. Er hatte schon Anschläge auf Euer – und Jeryns – Leben unter nommen, bevor er erfuhr, daß Anshebbeths Geist von den Dämonen berührt worden war. Ihre Macht kam ihm gerade gelegen. Wäre sie als Magierin geboren und nicht nur ein Opfer ihrer eigenen und Ka lethas Eitelkeit gewesen, hätte sie verstanden, was mit ihr geschah, und es unter Kontrolle behalten können. Ich habe es gespürt – ich glaube, Tazey auch. Wenn man Macht hat, muß man sich ihr stellen, daran arbeiten und lernen, sie zu gebrauchen, oder sie eitert in einem wie eine schwärende Wunde.« Er verstummte, musterte den König über das Lagerfeuer hinweg, und Osgard, der seine Gedanken kann te, blickte wieder weg. Er murmelte: »Ich… ich weiß.« Widerstrebend kehrte sein Blick zu Wolf zurück. »Aber das kann man mir doch nicht vorwerfen, oder? Ich wollte eine Tochter haben, auf die ich stolz sein kann…« »Guter Gott, Mann«, sagte Sonnenwolf zornig. »Ihr habt eine der besten natürlichen Magierinnen, von denen ich je gehört hatte, zur 691
Tochter und einen Sohn, der einmal politisch kluge und gewinnbrin gende Verträge mit den Shirdar und den Mittleren Königreichen aushandeln wird, und das einzige, worüber Ihr Euch beschweren könntet, ist, daß die beiden keine hirnlose Zuchtstute und kein tum ber Ochse wie Ihr und ich sind. Ich kann mir nur zwei Dinge in mei nem Leben vorstellen, die ich nicht gegen Eure Kinder eintauschen möchte. Könnt Ihr nicht stolz sein auf das, was sie sind, statt auf das, was Ihr in ihnen sehen wollt?« Osgard starrte ins Feuer und rieb sich mit einer großen, von Schwerthieben vernarbten Hand die andere. Sonnenwolf erinnerte sich, daß auch sein Vater es immer getan hatte. Dann blickte er wie der auf und grinste, ein wenig verlegen über sein Zugeständnis: »Je ryn ist schon ein gerissener kleiner Bastard, was?« »Es sind Männer wie Jeryn«, sagte Sonnenwolf, »die Männer wie mich anwerben. Laßt sie sein, wie sie sind, Osgard. Es wird ihnen schon schwer genug fallen, gegen den Strom anschwimmen zu müs sen.« Der König seufzte und rieb sich das stoppelige Kinn. »Ich weiß«, sagte er ruhig. Dann, nach einer langen Pause: »Wohin soll ich Ta zey schicken?« Sie war bereit gewesen, erinnerte sich Sonnenwolf, alle ihre Wünsche aufzugeben, um ihm zu gefallen. Er erinnerte sich an den schimmernden Fackelschein auf ihrem Haar, als sie den Kriegstanz aufgeführt hatte, und an den Stolz, den Osgard so sichtlich ausge strahlt hatte, als er von ihr als der süßesten Tochter, die ein Mann sich nur wünschen kann, gesprochen hatte. Am nahen Lagerfeuer saßen sie und Jeryn zusammengekauert in ihren Steppjacken und Kopfschleiern, mit leuchtenden Augen, während sie mit Sternenfalke sprachen, wiedervereint für dieses eine letzte Mal. »Ihr könnt sie zu Yirth von Mandrigin schicken«, sagte er schließlich. »Sie ist so ziemlich die einzige Hexe, die genug weiß, um zu unterrichten.« Als er sah, wie die Miene des Vaters bei dem Gedanken daran, wie weit weg Mandrigin war, versteinerte, fügte er hinzu: »Aber wenn Tazey es vorzieht, könnte ich auch erst einmal für eine Weile hierbleiben und ihr beibringen, was ich weiß. Es ist nicht der Unterricht, den sie von Yirth bekäme, aber es würde ihr zeigen, was sie zu erwarten hat. Und es gäbe ihr hier mehr Zeit.« »Nein.« Osgard seufzte. »Tazey kann nicht hierbleiben. Und auch Ihr könnt es nicht.« Ein halbverbranntes Scheit zerbrach im Feuer; er nahm einen Ast 692
von dem dünnen Holzbündel, den sie vom fernen Rand des Schwemmlands mitgebracht hatten, und schob die auseinandergefal lenen Brocken wieder zusammen. Die auflodernde Flamme zeigte tiefe Linien in seinem unrasierten Gesicht – von Ärger und Scham. »Ihr kennt das Temperament der Menschen in Pardle nicht, Hauptmann. Alles in allem sind sie ein abergläubischer Haufen, und geborene Magier hatten schon immer einen schlechten Ruf in Wens har. Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn man Euch auf dem Rück weg gelyncht hätte, aber als ich hörte, daß Illyras Männer ausge schwärmt und auf Euer Blut aus waren, hielt ich es für besser, zu kommen und sicherzugehen, daß Tazey gut heimkommt. Wenn die Bergarbeiter und die Trinitarier wieder mal auf Hexenjagd sind, ist das eine Sache, aber Illyra…« Sonnenwolf spürte, wie sein Gesicht vor Ärger rot wurde. »Ich habe nicht das geringste mit diesen Morden zu tun.« Der König hielt eine Hand hoch. »Das ist einerlei«, sagte er. »Und ich denke, das wißt Ihr.« Die grausamen Geieraugen der Dünenlady kamen Sonnenwolf wieder in den Sinn und die aufgestaute Spannung im Großen Saal in der Nacht, als Nanciormis den Anschlag auf sich inszeniert hatte. Und man konnte Goldstücke gegen grüne Äpfel wetten, daß Nanci ormis die Geschichte von seinem Geständnis bis in die Stadt verbrei tet hatte. Wut stieg wie eine heiße Woge in ihm auf, aber er wußte, daß Osgard recht hatte. »Ich denke, Ihr reitet besser noch heute nacht weiter.« Osgard sammelte alle überzähligen Nahrungsmittel und Wasser vorräte von seinem Wachtrupp ein, und Jeryn und Tazey halfen ihm, sie auf ihren Pferden zu verstauen. »Wir können Illyra für eine Weile aufhalten«, sagte der König, als Sonnenwolf die Bündel mit seinen Besitztümern verschnürt hatte, die er am Sattel des gescheckten Wallachs untergebracht hatte. »Aber Ihr reitet besser geradewegs nach Norden und passiert so schnell wie möglich das Rückgrat des Drachen.« »Der hat leicht reden«, brummte Sonnenwolf, als der große Mo narch davonging, um dem kleinen Haufen dunkelgekleideter Wachen den einen oder anderen Befehl zu erteilen. »Weißt du, daß jede Münze, die wir besitzen, noch immer hinter dem Ziegel in unserer Zelle im leeren Viertel versteckt ist?« Sternenfalke musterte ihn amüsiert im schwachen Glühen des Kugelblitzes, der über seinem Kopf auf züngelte. »Willst du es holen 693
gehen und dabei riskieren, Illyra zu begegnen?« Sonnenwolf murmelte einen gottlosen Wunsch in bezug auf Illy ras künftige Männer und spannte den Sattelgurt des Braunen. Er fügte hinzu: »Ich hätte dich niemals vom einfachen Rekruten beför dern sollen.« »Du hast immer gesagt, ein Krieger muß vielseitig sein.« »Ich sprach nicht davon, von hier bis Farkash Böden zu fegen und Schweine zu füttern.« »Hauptmann?« Das helle Flackern des Hexenlichts tanzte in der Nacht; schwarzer Schwemmlandkies knirschte unter ihren Füßen, als Tazey und Jeryn, mit Säcken beladen, von den Gepäckhalden zu rückkamen. Es entging dem Wolf nicht, daß die Wachen mißtrauisch auf das weiche Licht blickten, daß das Mädchen umgab, und einen weiten Bogen um sie machten. »Dies sind alle Dämoniarien und Zauberbücher, die nicht auf Shirdar geschrieben sind.« Sonnenwolf hob den Sack an, dann öffnete er ihn und nahm die drei größten Bücher heraus. Er reichte sie an Tazey zurück. Auf ihren fragenden Blick hin erklärte er: »Sie sind zu groß, um sie not falls rasch an sich nehmen zu können. Sie dürfen nicht zufällig zer stört werden, nur weil ich sie unterwegs bei mir haben wollte. Nimm sie mit nach Mandrigin, zusammen mit den anderen. Du und Yirth könnt dann Übersetzungen der auf Shirdar geschriebenen Bücher anfertigen.« Sie nickte und preßte die Bücher an ihre Brust. Ihr Mund zuckte ein wenig, und sie blickte weg. Er sah das Hexenlicht in ihren Augen glitzern. Sanft griff er nach ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Yirth wird dir gefallen«, sagte er leise. »Sie ist eine gute Frau.« Grinsend fügte er hinzu: »Und grüß mir auch Sheera von Mandrigin schön.« »Aber dann sei darauf vorbereitet, daß sie dir ins Gesicht spuckt«, warf Sternenfalke respektlos ein. Jeryn, der sich drüben bei Sonnenwolfs Pferd zu schaffen ge macht hatte, kam in den Doppelring aus Fuchsfeuerlicht zurück, und der Wolf konnte auch in seinem Gesicht den Kummer über die Tren nung sehen. Tazey fragte zögernd: »Werde ich euch wiedersehen?« »Nicht, wenn man uns weiterhin ständig aus jedem Königreich hinauswirft, das wir besuchen.« Sonnenwolf ignorierte seine Stellvertreterin. »Eines Tages, ja.« 694
Er umarmte sie beide, die Tochter und den Sohn, denen er niemals ein Vater sein konnte, und er spürte, wie Jeryns dünne Arme heftig seine Hüften umschlangen und Tazeys Tränen auf seinem unrasier ten Kinn brannten. Weder Söldnerführer noch wandernde Zauberer konnten sich erlauben, Kinder großzuziehen. Es war das erstemal, daß er bewußt bedauerte, welches Leben er führte. Es war das erstemal, daß er vollkommen begriff, was er eigent lich aufgegeben hatte. Das schwache Glühen von Tazeys Hexenlicht war noch lange über dem Schwemmland sichtbar, während sie durch die atemlose Stille ritten. »Es wird schwer für sie werden«, sagte Sternenfalke nach einer Weile. »Schwer für sie beide. Aber sie wollte nie wirklich ein gebo rener Magier sein, weißt du. Sie wollte lieber sein, was ihr Vater in ihr sehen wollte – ein hübsches Mädchen, das gut tanzt, alles reitet, was vier Beine hat, irgendwann einmal einen gutaussehenden Mann heiratet und dann glücklich lebt bis ans Ende ihrer Tage. Es gab einmal eine Zeit, da drohte sie sich von dem abzuwenden, was sie jetzt ist, und wieder damit anzufangen, sich zu belügen. Sie hat es für uns aufgegeben.« »Nein.« Sonnenwolf warf über seine Schultern einen Blick zu rück auf dieses Irrlicht, ein Elmsfeuer in der flachen, schwarzen Steinwüste. »Man kann sich nie davon abwenden oder sich selbst darüber belügen. Niemals.« Der Mondschein schimmerte in ihrem elfenbeinfarbenen Haar, als sie den Kopf wandte. »Würdest du es gern?« Er dachte wieder an Tazey und Jeryn, an all die Jahre, die ihnen noch bevorstanden und in denen sie lernen mußten zu werden, was sie endlich sein würden, Jahre, an denen er nicht teilhaben konnte. »Manchmal.« Sein Pferd stolperte ein wenig auf dem groben Kies, so daß er fluchte, weil seine gebrochenen Rippen ihn schmerzten, und etwas, das an das Sattelhorn gebunden war, schlug gegen sein Knie. Er wußte, daß er dort nichts hingehängt hatte, langte neugierig hinunter und brachte einen kleinen Waschlederbeutel zum Vorschein. Es klirrte leise, als er ihn öffnete und den Inhalt auf seine Handfläche ausschüttete. »Na so was, das gibt es doch nicht.« Sternenfalke führte ihre schlanke braune Stute näher, um über 695
seine Schulter auf die Handvoll Silber zu schauen, das schwach im staubigen Mondschein glänzte. »Das muß von Jeryn sein«, sagte sie. Sonnenwolf lachte vor Erleichterung, Triumph und Freude auf. »Neun Jahre alt und weiß schon, daß man seine angeworbenen Truppen nicht ohne Lohn wegschickt!« »Ach ja?« Ihre Augenbrauen hoben sich. »Und wie lange, glaubst du, werden die Truppen seines Herrn Vater unsere Spuren wohl noch vor Illyra verwischen, wenn ihnen erst klar geworden ist, daß er im Lager herumlief und jede erreichbare Hemd- und Satteltasche ausge leert hat?« Sonnenwolf fröstelte und schob das Geld in die Tasche seines Schafsiederwamses. »Der Kleine wird tüchtig was losmachen, wenn er erst Wenshar übernimmt«, sagte er. »Laß uns weiterreiten.« »Und denk nur«, sinnierte Sternenfalke, als sie ihren Pferden die Sporen gaben und in nördlicher Richtung weiterritten, auf die zer klüftete Linie der Berge unter dem sandfarbenen Mond zu. »Die nächste Lehrerin, auf die du vielleicht triffst, könnte noch schlimmer sein.« ENDE
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