Chicago Band 7
South-Side-Blues
Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›tro cken gelegte...
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Chicago Band 7
South-Side-Blues
Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›tro cken gelegte‹ Nation konsumiert mehr Alkohol als jemals zuvor. Für den Nachschub sorgen gut organisierte Gangsterbanden, gegen die die Polizei einen vergeblichen Kampf führt. Nicht zuletzt, weil auch sie oft mit am Alkoholschmuggel verdient. Die Sitten sind rau und ein Men schenleben zählt wenig, wenn es um viele Dollars geht. Die Gangster bosse unterhalten ihre Privatarmeen von Killern und leben selbst wie Könige. In Chicago versucht der Privatdetektiv Pat Connor nicht zwischen die Fronten zu geraten und trotzdem der Gerechtigkeit Geltung zu ver schaffen. Um aber in diesem Haifischbecken zu überleben, muss man selbst auch die Zähne zeigen. * Es war ein strahlender Morgen, als ich in meinem Plymouth gemütlich von der North-Side Richtung Loop zu meinem Büro fuhr. Nicht so strahlend waren die beruflichen Perspektiven. Schon seit Wochen saß ich Tag für Tag in meinem Büro, spitzte Bleistifte, starrte Löcher in die Wand und wartete auf den Moment, in dem die Tür aufging und nicht meine Sekretärin Betty hereinkam, sondern ein Klient. Betty hatte sich in den letzten Tagen zu so etwas wie meinem schlechten Gewissen entwickelt. Ihr Gesicht war Tag für Tag eine Zahlungsaufforderung, der ich im Moment beim besten Willen nicht nachkommen konnte. Selbst meine regelmäßigen Besuche bei Dunky auf den einen oder anderen Drink hatte ich einschränken müssen. Ich gondelte die North LaSalle Street hinunter und überquerte den Chicago River. Grund zur Eile gab es nicht und die Frühlingsluft, die durch das offene Autofenster hereinfächerte, war ausgesprochen mild. Ich nahm den Hut ab und ließ ihn nach kurzem Segelflug auf dem Bei fahrersitz landen. Das Stück Himmel, das die Gebäudefassaden zum Anschauen freigaben, strahlte blau und wolkenlos. Gelegentlich röchel ten Hupen und das Rattern und Räderkreischen der Hochbahn hallte von den Häusern zurück. Über allem tönte das Geschrei der Zeitungs jungen durch die Gegend. Verstehen konnte ich nichts davon, aber 4
nach der Dramatik der jugendlichen Stimmen zu urteilen mussten hin ter den Schlagzeilen dieses Morgens die größten Sensationen aller Zei ten stehen. Mit der lauen Luft wehte Benzingeruch zu mir herein und erinnerte mich daran, dass da vorn unter der Motorhaube ein weiteres un gelöstes Problem lauerte. Irgendwas stimmte mit dem Vergaser nicht, hatte der Mechaniker gedroht und wenn ich das nicht bald in Ordnung bringen ließe, würde mir mein Auto über kurz oder lang um die Ohren fliegen. An der Kreuzung North LaSalle und Randolph Street West musste ich anhalten, weil in der Mitte der Kreuzung ein Verkehrs-Cop auf sei nem Podest stand und die Arme quer zu meiner Fahrtrichtung ausbrei tete. »Tribune!«, gellte es plötzlich neben mir, links auf der Verkehrsin sel, die die Fahrbahn teilte. Und dann, als er auf meiner Höhe war, schrie so ein sommersprossiger kleiner Kerl mit Schiebermütze mich an: »Lindbergh gelandet! Atlantikflieger erreicht Paris!« Er verstummte kurz, als ich ihm einen Nickel zuwarf. Im Gegenzug segelte eine druckfrische Ausgabe der Chicago Tribune durch das offe ne Autofenster und landete auf meinem Schoß. Und schon suchte der Newspaper Boy die nächsten Zuhörer für sein Geschrei. »Klarinette für immer verstummt! Johnny Hobbs ermordet!« Die Autos vor mir fuhren an, als der Kreuzungs-Polizist uns freundlich zuwinkte. »Segeljacht gesunken!«, hörte ich den Jungen im Vorbeifahren schmettern: »Bankdirektor und Sekretärin ertrinken im Lake Michigan!« Und nach einer Atempause: »Schnapsbrennerei aus gehoben! Polizei liefert sich Feuergefecht mit Gangstern!« Solche Meldungen gab es fast täglich. In meinen Ohren klangen sie wie Durchhalteparolen des Staates, der zwar die Prohibitionsgeset ze erlassen hatte, aber immer noch nicht wusste, wie er sie durchset zen sollte. Je strikter das Alkoholverbot, desto mehr wurde illegal ge brannt und geschmuggelt. Denn die Nachfrage war gewaltig. Seit es die Prohibition gab, wurde in den Vereinigten Staaten mehr Alkohol konsumiert als je zuvor. Die Lieferanten schlossen den Staat jeden Tag in ihr Dankgebet ein und baten den lieben Gott, dieses wunderbare 5
Gesetz möglichst niemals abschaffen zu lassen. Denn die Trinker zahl ten jeden Preis. Das hatte ebenjene Schnapslieferanten innerhalb kür zester Zeit zu Multimillionären gemacht. Dass sie allesamt Gangster waren, störte im Grunde niemanden. Auch die Polizei hatte nicht wirk lich etwas gegen das boomende Fuselgeschäft einzuwenden, verdiente sie doch kräftig daran mit. Cops, die die Hand aufhielten und sich von den Gangsterbossen ein zweites Gehalt zahlen ließen, waren alles an dere als eine seltene Erscheinung. * Ich parkte den Plymouth vor dem sechsstöckigen braunen Sandstein gebäude, in dem mein Büro untergebracht war. Eine respektable Ge gend, hier, am südlichen Rand des Businessdistrikts The Loop. We nigstens mit der Miete war ich nicht in Verzug. Ich setzte den Hut auf und nahm die Zeitung vom Beifahrersitz. Nach dem Aussteigen tät schelte ich die Motorhaube zum Dank dafür, dass an diesem Tag noch nichts explodiert war. Als hätte ich es mit meinem Tätscheln ausgelöst, dröhnte plötzlich ein anderes Motorgeräusch in die Straße herab. Es kam von oben, in der Tat. Ich legte den Kopf in den Nacken und er blickte einen blitzenden und funkelnden Donnervogel, der knapp über den Dächern nach Westen lärmte. Seinen Glanz verdankte er der Mor gensonne, die er im Rücken hatte. Landen würde das Flugmonster auf dem Airfield von Maywood, im Westen der Stadt. Ich riss mich vom Anblick des Metallfliegers los und eilte ins Haus, um auf andere Gedanken zu kommen. Den Lift ignorierte ich wie üb lich und nahm zwei Treppenstufen auf einmal. Das und die Aussicht auf einen weiteren Teil meiner Tagesration Koffein machten mich munter. Oben angekommen, ließ ich das Büro des Immobilienmaklers rechts liegen. An den Anblick meiner eigenen Bürotür hatte ich mich noch immer nicht ganz gewöhnt. Zwischen PAT CONNOR und PRIVATE INVESTIGATIONS fehlte eine ganze Zeile. Ein Namenszug, genauer gesagt. Das war so, seit mein Partner Joe Bonadore ermordet worden war. Die nicht mehr vorhandene Zeile hatte starken Symbolcharakter. 6
Joe fehlte mir so sehr wie meiner Bürotür sein Name. Wir hatten uns gut verstanden, obwohl er Italiener gewesen war. Im Allgemeinen konnte ich mit den Makkaronis nämlich nicht so besonders. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Im alten Europa hat es zwischen Iren und Italienern nie ernsthafte Berührungspunkte gegeben, vermutlich weil jede Menge Wasser und genauso viel Land zwischen der grünen Insel und dem Stiefelstaat liegen. Da kam man sich kaum in die Quere. Hier in den Staaten aber sind sie richtig zusammengerasselt, mussten plötz lich auf engstem Raum miteinander auskommen. Besonders in Chicago war das der Fall. Dass das nicht gut gehen konnte, wird jedem klar sein, der schon mal mit Iren und Italienern zu tun gehabt hat. Ich öffnete die Tür mit meinem Namen so schwungvoll wie nötig, um sie nicht zu lange ansehen müssen. Die Gallone Kaffee war fertig, das sagte mir der Duft, der mich augenblicklich umhüllte. Betty arbei tete halbtags und sie hatte Frühdienst in dieser Woche. Wobei Dienst ein nicht ganz passendes Wort war, denn ob und wann sie arbeitete, entschied sie bei der augenblicklichen Gehaltslage selbst. Ich hatte kaum die Schwelle überquert und war noch gar nicht richtig drin, da vernahm ich Freudengeheul von links. Betty sprang hin ter ihrem Schreibtisch auf. »Pat!«, rief sie, total aus dem Häuschen. »O Pat! Da sind Sie ja endlich!« Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf mich zu und umschlang mich, als würde ich gerade mit etlichen Jahren Verspätung aus dem Großen Krieg heimkehren. Ihr keineswegs unangenehmes Parfüm ver drängte den Kaffeeduft aus meinem Riechorgan und staute sich als atemberaubende Wolke unter der Hutkrempe. Einen Moment lang herzte Betty mich mit voller Kraft. Nur der Wiedersehenkuss fehlte. Dann legte sie die Hände auf meine Schultern und bog den Oberkörper zurück. »Mein Gott, Pat! Er hat es geschafft! Er hat es tatsächlich ge schafft!« »Wer hat was geschafft?« 7
»Lindbergh!«, rief sie, immer noch völlig aus dem Häuschen. »Er ist glücklich gelandet. In Paris. Haben Sie es denn nicht im Radio ge hört? WMAQ bringt den ganzen Morgen nichts anderes.« Ich hob die Tribune hoch, bevor ich hinüberging und sie auf mei nen Schreibtisch warf. »Ein Zeitungsjunge hat es mir geflüstert«, be richtete ich, schleuderte den Hut auf den Haken und ließ mich auf meinem Drehsessel nieder, dem gemütlichsten Platz im gesamten Bü ro. »Heute ist ein glücklicher Tag für ganz Amerika«, philosophierte Betty. Betty machte sich daran, den Kaffee einzuschenken. Während sie in der Ecke mit den Kaffeeutensilien hantierte, drehte sie sich um und meinte: »Übrigens, heute kriegen wir einen Auftrag. Ich spüre es ganz deutlich. Ach was, ich weiß es!« Ich verdrehte die Augen und richtete den Blick himmelwärts. »Bet ty«, stöhnte ich. »Seit vier Monaten spüren Sie das jeden Tag und nicht einmal hat es was gebracht.« »Ich weiß«, antwortete sie und ließ sich von ihrer Zuversicht nicht abbringen. »Das war alles gewissermaßen die Vorbereitungsphase. Auch das Schicksal braucht seine Zeit. Aber heute ist es so weit. Be stimmt. Warten Sie einfach ab, Pat.« »Sicher.« Ich nickte. »Was das betrifft, ist Ihre Prognose immer absolut zuverlässig.« Manchmal beneidete ich sie um ihren ungebremsten Optimismus. Aber den brauchte sie wohl auch, sonst hätte sie mir ihren Stenoblock und den Bleistift längst vor die Füße geworfen. Mit zwei dampfenden Kaffeetassen kam sie zu meinem Schreib tisch, stellte mir eine vor die Nase und ließ sich dann mit der zweiten in der Hand auf dem Besuchersessel vor meinem Schreibtisch nieder. Augenscheinlich war für sie der Fall Lindbergh noch nicht abgeschlos sen, denn sie plapperte munter weiter drauflos. »Hey!«, sagte ich, »was ist, wenn ein Klient kommt?« Betty schaute mich mit einem undefinierbaren Blick an. 8
Ich faltete die Tribune auseinander und tat das, was Ehefrauen im Allgemeinen beim Frühstück von ihren Männern erwarten: Zeitung le sen und den Mund halten. Ich sagte auch nichts, als sie ihre Zigaretten herüberholte, eine Pall Mall aus der Packung zupfte und ihre Zigarettenspitze aus Eben holz damit bestückte. Allem Anschein nach hatte sie heute ihren an hänglichen Tag. Deshalb zeigte ich mich höflich, ließ die Zeitung sin ken und gab ihr Feuer. Dass ich wegen des Gehaltsrückstands eigent lich sowieso kleine Brötchen backen musste, kam mir dabei gar nicht mal in den Sinn. Nachdem wir uns drei Züge Tabakrauch und zwei Schlucke Kaffee lang die grauen Wolken zu geblasen hatten, tippte ich mit Bedacht auf die Titelseite der Tribune und zwar auf das Foto des Ermordeten - nur, um mal von Lindbergh wegzukommen. »War der berühmt?«, fragte ich. »Nach der Größe der Überschrift muss es eine Bildungslücke sein, ihn nicht zu kennen.« »Tja, wer noch nie was von Jazz gehört hat...«, sagte Betty und zuckte mit den Schultern. Etwas von ihrer gewohnt schnippischen Art kam wieder durch. »Sagen Sie es mir, Betty.« Ich leerte meine Tasse und schob sie ihr hin, weil sie es als Beleidigung aufgefasst hätte, wenn ich selbst nachgefüllt hätte. Sie schenkte ein und sprach dabei, ohne dass die Tasse überlief. »In New Orleans haben sie den Jazz erfunden, okay. Bis vor zehn Jah ren war da der Teufel los. Von Storyville hieß es sogar, dass Paris da gegen ein Provinzkaff sei. Die reichen Kerle kamen per Schiffsreise von Europa herüber. So weit hatte es sich nämlich herumgesprochen, dass es in Storyville zur heißesten Musik die heißesten Weiber gab.« »Betty!« »Männersprache«, erläuterte sie, ohne rot zu werden. Ich bedankte mich für den Kaffeenachschub und drückte meinen Zigarettenrest im Aschenbecher aus. »Storyville war das Vergnügungsviertel«, schloss ich aus Bettys bisherigen Erläuterungen. 9
»Richtig. Da haben sie auf offener Bühne vorgeführt, was manche Eheleute selbst in ihrem verschlossenen Kämmerlein nur im Dunkeln machen.« »O mein Gott!«, rief ich und grinste spöttisch. »Diesen Sünden pfuhl haben die Moralapostel hoffentlich dichtgemacht.« Betty nickte. »Vor ziemlich genau zehn Jahren, wie gesagt. Ameri ka befand sich im Krieg, New Orleans war ein Navy-Hafen und die Mo ral der Truppe durfte nicht durch Sündhaftigkeiten untergraben wer den.« »All right. Und was hatte Chicago davon? Jedenfalls keinen NavyHafen.« »Aber eine Musikerschwemme«, erwiderte Betty und schmunzelte. »Die kamen alle hier rauf. Erst bei uns haben sie aus dem Jazz das ge macht, was er heute ist.« Ich tippte erneut auf das Zeitungsfoto, das einen dunkelhäutigen jungen Mann mit glatt gekämmtem schwarzem Haar zeigte. »Und er war einer von diesen Zugereisten«, mutmaßte ich. »Richtig. Allerdings ist er erst vor einem Jahr nach Chicago ge kommen.« »Die Tat der Moralapostel wirkt also immer noch nach.« »So ist es. In New Orleans ist nichts los. Was den Jazz betrifft, spielt die Musik in Chicago.« »Woher wissen Sie das bloß alles?« »Ich bin ein Jazzfan.« »Tatsächlich?« Ich grinste. »Welche dunklen Seiten werden Sie mir noch offenbaren?« Betty verzog das Gesicht und ging nicht darauf ein. Weil es öfter vorkam, dass sie über meine Scherze nicht lachen konnte, machte ich mir nichts daraus. »Alle meine Freundinnen sind Jazzfans«, erklärte sie. »Und wenn wir ausgehen, dann nur in Jazzlokale.« »In Männerbegleitung, nehme ich an.« »Ja, was denken Sie denn, Pat? Ich kenne überhaupt keine Män ner, die sich nicht für Jazz begeistern.« »Sie kennen mich«, korrigierte ich sie. 10
»Na ja, Sie sind ja auch kein...« »Kein Mann?« Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. »Kein Mann, mit dem ich ausgehen würde.« Sie stutzte über sich selbst. »O sorry.« Sie prustete los. »So meine ich das natürlich auch wieder nicht.« Wie immer, wenn wir ein persönliches Thema zu erörtern began nen, wurden wir gestört. Anfangs kriegte ich es gar nicht richtig mit. Denn dieses Pochen war so zaghaft, als sollte es überhaupt nicht gehört werden. Als würde die Person, die da an die Tür klopfte, von der Angst vor der eigenen Courage gepackt am liebsten sofort die Flucht ergreifen. * Betty und ich sahen uns an und verstanden uns. Ich nickte ihr zu. »Herein!«, riefen wir im Duett. Keine Reaktion. »Sehen Sie nach«, sagte ich rasch. Betty handelte sofort. Vielleicht hatte unser fröhliches ›Herein‹ den Besucher abgeschreckt. Durch so viel Beherztheit, wie wir sie hin ausgeschmettert hatten, verlor eine zaudernde Natur womöglich das kleine bisschen Courage, das sie gerade zusammengerafft hatte. Betty eilte los und zeigte sich einfühlsam genug, die Tür nicht schwungvoll aufzureißen. Vielmehr drehte sie den Knauf behutsam und öffnete die Tür auf die gleiche Weise, sehr langsam und sehr vorsich tig. Draußen stand eine graue Maus. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm, das züchtig die Knie bedeckte. Der Topfhut war schwarz mit waagerechten grauen Streifen. Weil sie den Kopf gesenkt hielt, ließ die tief gezogene Vorderkante des Huts nur die Hälfte ihres Gesichts erkennen, von der Nasenmitte abwärts. Eine feine Nase war es, von der leichten Röte der Wangen eingerahmt. Überhaupt wirkte ihr Gesicht so zart wie ihre gesamte Erscheinung. Zart und zerbrechlich wie das Reh, das für diesen Vergleich immer herhalten muss. 11
Erst beim zweiten Hinsehen wurde mir bewusst, dass die Grautö ne ihrer Kleidung keineswegs aus Not geboren waren. Das Gegenteil war der Fall. Die schwarzen Schuhe, bis über die Knöchel hinauf ge schnürt, waren eindeutig Maßanfertigungen. Die hellgrauen Seiden strümpfe gehörten ganz sicher zum Teuersten, was es zum Verhüllen weiblicher Beine gab. Die Handtasche, natürlich schwarz und ebenfalls kostbar wirkend, hielt sie in der Körpermitte. Sie umklammerte den Trageriemen mit beiden Händen, wie um sich daran festzuhalten. Diese Lady war mit Sicherheit kein Flapper, wie wir die modebe wussten Girls unserer Zeit nannten. Doch andererseits trug sie die allerbesten Sachen; auch das Kostüm war bestimmt maßgeschneidert. Warum aber das viele Grau, mit ein bisschen Schwarz garniert? »Madam«, sagte Betty freundlich. »Möchten Sie Mister Connor sprechen?« Die graue Lady blickte scheu nach beiden Seiten, als fürchtete sie, bei etwas Verbotenem ertappt zu werden. Dann nickte sie und trat zögernd ein. »Wen darf ich melden?«, fragte Betty formvollendet, obwohl die Besucherin mich längst am Schreibtisch sitzen sehen konnte. Dazu brauchte sie nur den Kopf ein bisschen anzuheben, um unter der Hut krempe hervorzuspähen. »Mein Name ist Heather Shanahan«, sagte die Lady so leise, dass ich Mühe hatte, sie zu verstehen. »In welcher Angelegenheit darf ich Sie melden, Madam?« Zum ersten Mal hob Mrs. Shanahan den Kopf und sah meine Sek retärin an. Die Stimme der Besucherin war nur ein Hauch. »Sicher hat Mister Connor viel zu tun und nun erscheine ich auch noch unangemel det hier. Nur, ich konnte nicht telefonieren. Die Angelegenheit, um die es geht, lässt sich nicht am Telefon besprechen.« »Bei uns ist in jedem Fall größte Diskretion gewährleistet«, erwi derte Betty. Fürsorglich führte sie die Besucherin einen Schritt weiter herein und schloss die Tür hinter ihr. 12
»Also, ich...«, sagte Mrs. Shanahan unsicher. »Ich komme gern noch einmal wieder, falls es jetzt nicht passt und - falls Mister Connor überhaupt noch Aufträge annimmt.« Betty verschlug es fast die Sprache. »Es geht um einen Auftrag?«, hauchte sie ungläubig. »Wenn es möglich ist.« Mrs. Shanahan hörte sich fast an, als woll te sie sich für ihr Ansinnen entschuldigen. »Mister Connor!«, rief Betty in meine Richtung. Es fiel ihr sichtlich schwer, nicht in Jubelschreie auszubrechen. »Können Sie noch einen Termin dazwischen schieben?« »Wenn es jetzt gleich ist...«, antwortete ich und blätterte geschäf tig in meinem leeren Terminkalender. Ohne rot zu werden, fügte ich hinzu: »Zwanzig Minuten könnte ich erübrigen.« »Bitte, Madam«, sagte Betty und legte ihre Hand unter den Ellen bogen der Klientin in spe. »Mister Connor nimmt sich die Zeit für Sie.« Heather Shanahan bedankte sich mit einem unsicheren Lächeln und ließ sich zu dem Besucherstuhl führen. Betty räumte alles, was wir benutzt hatten, auf das Tablett und trug es hinaus. Ich benahm mich wie ein Gentleman, stand auf und ging nach vorn, vor den Schreib tisch. Dort stellte ich mich vor und begrüßte die Lady, wobei ich eine Verbeugung andeutete. Ich rückte ihr den Stuhl zurecht, wartete, bis sie sich gesetzt hatte und kehrte dann auf meinen Platz zurück. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Betty aus unserer Kaffeeecke heraus. »Gern«, antwortete Mrs. Shanahan. »Aber nur, wenn es keine Umstände macht.« »Schon in Arbeit«, rief Betty aufgekratzt. »Darf man bei Ihnen rauchen?«, fragte die Besucherin beinahe unterwürfig. »Selbstverständlich«, antwortete ich. Mrs. Shanahan klappte ihre Handtasche auf und förderte eine sil berne, ausziehbare Zigarettenspitze zutage, die mit einem leisen Kli cken Unterarmlänge erreichte. Aus einer flachen, ebenfalls silbernen Klappschatulle nahm die graue Lady eine Orientzigarette. Ich sah, dass die Silberspitze eine ovale Öffnung hatte, also eigens für die Form die 13
ser noblen Glimmstängel gefertigt war. Ich erhob mich und gab der potentiellen Kundschaft Feuer. Betty stellte eine Tasse frisch gebrühten Kaffee vor Mrs. Shana han. Dann setzte sie sich mit Block und Bleistift erwartungsvoll an ih ren Schreibtisch. Die Besucherin trank einen Schluck Kaffee, rauchte genussvoll und schien sich schon deutlich besser zu fühlen. Denn ihre Stimme klang fester, als sie sagte: »Ich möchte nichts verlangen, was nicht Ihren Geschäftsgewohnheiten entspricht, Mister Connor. Aber wäre es viel leicht möglich, dass wir dieses Gespräch unter vier Augen führen?« »Selbstverständlich wäre das möglich«, entgegnete ich. »Nur ist es so, Mistress Shanahan, dass wir erstens sehr viel Zeit verlieren wür den, wenn ich mir all das, was Miss Meyer notiert«, ich deutete mit ei ner Kopfbewegung auf Betty, »selbst aufschreiben müsste. Zweitens genießt Miss Meyer mein absolutes Vertrauen. Was in diesen vier Wänden gesprochen wird, dringt nicht nach außen. Unter keinen Um ständen. Ohne eine absolut zuverlässige Sekretärin könnte ich dieses Geschäft gar nicht betreiben.« »Ich verstehe«, erwiderte Mrs. Shanahan und warf Betty einen verzeihungheischenden Blick zu. »Bitte entschuldigen Sie meine Vor sicht, aber es handelt sich um eine äußerst delikate Angelegenheit. Ich muss hundertprozentig sicher sein können, dass nichts von dem, was ich Ihnen erzählen werde, an die Öffentlichkeit dringt. Wenn das näm lich geschähe, würde mein Name - und damit der Name meines Man nes - morgen in solchen Schlagzeilen zu lesen sein.« Sie zeigte auf die Zeitung, die vor mir lag. »Ihr Mann ist also berühmt.« Ich hob überrascht die Augenbrau en. »Dann sind Sie...« »Die Ehefrau von John Joe Shanahan, ja.« Betty fiel der Bleistift herunter. Mit großen Augen blickte sie herü ber, nachdem sie ihn aufgehoben hatte. Ich sah, dass sie hinter ihrer Stirn Zahlen bewegte: mögliche Honorarforderungen, Tagesspesen, die ganze Bandbreite der finanziellen Aussichten, die sich uns auf ein mal zu eröffnen schienen. 14
»Damit wären wir schon bei einem entscheidenden Punkt«, fuhr Heather Shanahan fort. »Mein Mann darf auf keinen Fall erfahren, dass ich hier gewesen bin. Und er darf erst recht nicht erfahren, dass ich Sie beauftragt habe, für mich zu ermitteln.« Nun verstand ich. John Joe Shanahan war mehrfacher Millionär und in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund. Er hatte ganz unten angefangen, als Kopfschlachter in den Stockyards. Heute handelte er mit Rinder- und Schweinehälften an der Warenbörse. Seine Wohltätig keiten hatten vor Jahren mit dem Stiften gusseiserner Parkbänke be gonnen. Heute stiftete er gleich den ganzen Park dazu. Meines Wis sens gab es auf der North-Side bereits einen John Joe Shanahan Park. Mich ritt der Teufel. »Nun, Mistress Shanahan«, sagte ich ge dehnt. »Im Allgemeinen nehme ich Aufträge erst dann an, wenn ich weiß, um was es geht. Scheidungsangelegenheiten zum Beispiel...« »Übernehmen wir auch«, fiel Betty mir energisch ins Wort und ihr vernichtender Blick traf mich mit einer solchen Wucht, dass ich auf der Stelle an ihre fälligen Gehaltszahlungen dachte. »Nein, nein«, sagte unsere Besucherin und lächelte mild. Doch so fort wurde sie wieder ernst. »Es handelt sich nicht um eine Schei dung.« »Sondern?«, fragte ich, weil sie nicht sofort weiter sprach. »Um einen Mordfall.« Während ich noch bemüht war, den Mund wieder zuzukriegen, zeigte sich Betty forsch. »Auch das gehört zu unserem Arbeitsbe reich«, erklärte sie. Offenbar hatte sie das Gefühl, die Dinge in die Hand nehmen zu müssen, damit sie mir nicht aus Fahrlässigkeit ent glitten. »Ja«, bestätigte ich folgsam. »Bitte erzählen Sie, Mistress Shana han.« »Wenn Sie die Zeitung gelesen haben, wissen Sie das Wesentli che.« Ich runzelte die Stirn. Lindbergh konnte sie nicht meinen, denn der erfreute sich bester Gesundheit. Also blieb der einzige Mordfall auf der ersten Seite - Johnny Hobbs, über den Betty mir noch gar nicht alles berichtet hatte. »Klarinette für immer verstummt«, hatte der Zei 15
tungsjunge gerufen. Folglich musste der junge Musiker aus New Orle ans hier in Chicago als Klarinettist berühmt geworden sein. Nur - wes halb kam Heather Shanahan seinetwegen zu mir? Verwandt konnten die beiden kaum sein. »Tut mir Leid«, sagte ich. »Zum Lesen bin ich noch gar nicht ge kommen. Wenn es Ihnen recht ist, hole ich es schnell nach - nur den Artikel, um den es geht.« »Selbstverständlich, gern«, antwortete Mrs. Shanahan und nutzte die Pause, um Kaffee und Zigarette zu genießen. Währenddessen las ich den Artikel sehr gründlich. Überschrift und Text waren zweispaltig neben einem einspaltigen Bild platziert worden. Es zeigte den Ermordeten zu Lebzeiten, mit seiner Klarinette in einem Fotostudio posierend. Die Überschrift zum Bericht entsprach dem, was der Zeitungsjunge gerufen hatte. Klarinette für immer verstummt Jazzmusiker Johnny Hobbs brutal ermordet Chicago. Opfer eines grausamen Mordes im Gangland-Stil wurde gestern der erfolgreiche und bekannte Jazzklarinettist Johnny Hobbs, 26. In den frühen Morgenstunden wurde die Leiche Hobbs' von Bauar beitern im Grant Park gefunden. Der Tote lag auf dem Rücken eines der bronzenen Seepferde in der Buckingham Fountain. Bei dem Fundort des Toten, so das Chicago Police Department, handele es sich zwar nicht um den Tatort, es werde aber vermutet, dass Hobbs auf dem angrenzenden Parkgelände erschossen wurde. Es seien bislang weder Projektile noch die Tatwaffe gefunden worden. Als makaber bezeichnete ein Polizeisprecher die Tatsache, dass der oder die bislang unbekannten Mörder dem toten Musiker das Mundstück seiner Klarinette in den Mund steckten. Johnny Hobbs war erst vor einem Jahr aus New Orleans nach Chi cago gekommen. Er war allein stehend und lebte in einer bescheide nen kleinen Wohnung auf der South-Side, obwohl er als Klarinettist bereits Karriere gemacht hatte. Hobbs war zuletzt festes Mitglied der Tuxedo Syncopators, der Hausband im Storyville an der Peoria Ave 16
nue. Außerdem spielte Hobbs in mehreren Studioformationen Schall plattentitel ein. Sein aktueller Erfolgstitel ist der ›South-Side Blues‹, aufgenommen mit den Tuxedo Syncopators. Ich blickte von der Zeitung auf. »Italiener«, murmelte ich kopf schüttelnd, mehr zu mir selbst. Heather Shanahan hatte es trotzdem verstanden. »Sie meinen die Mörder?«, fragte sie. Sie drückte den Rest der Orientzigarette im Aschenbecher aus. »Die Italiener haben solche sonderbaren Angewohnheiten«, erläu terte ich. »Zumindest die, die im organisierten Verbrechen tätig sind. Das deutet der Artikelschreiber ja auch an. Ein Mord im Gangland-Stil. Es gibt natürlich auch Imitatoren. Jemand könnte mit dieser Mund stückgeschichte versucht haben, den Mord der Mafia in die Schuhe zu schieben.« Mrs. Shanahan presste die Lippen zusammen. »Was vermuten Sie?« »Bislang gar nichts. Aber dass die Mafia ihre Finger im Musikge schäft hat, ist Ihnen sicherlich bekannt.« »Nein!«, wisperte sie und sah mich mit großen, entsetzten Augen an. Grüne Augen, wie ich erst jetzt bemerkte, aus der Nähe. »Mistress Shanahan«, sagte ich. »Ich meine, es wäre jetzt an der Zeit, dass Sie mir den Grund für Ihren Besuch mitteilen. Wir können noch stundenlang über den Mord an Johnny Hobbs spekulieren. Es würde nichts dabei herauskommen. Weil wir nur das wissen, was in der Zeitung steht.« Sie nickte. »Ich möchte, dass Sie den Mörder finden«, sagte sie ernst. »So lautet Ihr Auftrag für mich?« »Ja.« Betty zückte ihren Bleistift und begann mit ihren Notizen. »Nun«, erwiderte ich gedehnt und steckte mir eine Lucky an. »Wenn ich zustimmen soll, musste ich zumindest den Grund erfahren. Ich meine, in welcher Beziehung standen Sie zu dem Verstorbenen? 17
Offenbar genügen Ihnen die Ermittlungen der Polizei nicht. Wenn das so ist - warum?« Ein strafender Blick meiner Sekretärin traf mich. ›Nun reißen Sie sich aber zusammen‹, sagten ihre Augen. ›Himmel noch mal, vor Ih nen sitzt eine Klientin, noch dazu eine betuchte und kein Fußabtreter.‹ »Meine Beziehung zu Johnny Hobbs«, erklärte Mrs. Shanahan und holte Luft, »war sehr persönlicher Natur.« Ich saß wie vom Donner gerührt und starrte sie an. Auch Betty sah aus, als würde ihr der Bleistift aus der Hand fallen. »Sie meinen...«, setzte ich an. »Ja, es war intim«, bestätigte meine Klientin. »Und jetzt bin ich Ihnen, Mister Connor und auch Ihnen, Miss Meyer...«, sie warf Betty einen Blick zu und sah dann wieder mich an, »auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.« »Bitte nennen Sie mich Pat«, sagte ich. »Betty«, folgte meine Mitarbeiterin dem guten Beispiel, das ich diesmal gegeben hatte. »Dann sagen Sie Heather zu mir.« Die Lady bestückte ihre Ziga rettenspitze mit einer neuen Orient, beugte sich vor und ließ sich von mir Feuer geben. »Verstehen Sie jetzt, warum ich auf absolute Ver traulichkeit angewiesen bin? Wenn mein Mann oder die Öffentlichkeit etwas davon erfahren, bin ich am Ende. Dann... dann...« Sie mochte die Konsequenz nicht aussprechen. Weil ich eine lebhafte Fantasie hatte, sah ich sie schon ganz oben auf dem Wolkenkratzer der Chicago Tribune, wie sie nicht zauderte, sondern sprang. Auch Betty zündete sich eine Zigarette an und rauchte hektisch. Als Frau konnte sie Heathers Lage natürlich noch viel besser verstehen als ich. »Sie können sich auf uns verlassen«, erklärte ich feierlich. »Nie mand wird erfahren, dass ich für Sie arbeite, Heather. Bei allen Ermitt lungen bleiben Sie völlig außen vor. Auftraggeber anonym. Nicht mal die Polizei könnte mich zwingen, Ihren Namen preiszugeben.« »Ich danke Ihnen«, erwiderte sie bedrückt. »Johnnys Tod war ein furchtbarer Schock für mich. Noch schlimmer ist es, mit niemandem 18
darüber reden zu können. Ich kann ja nicht einmal Trauer tragen, oh ne dass es auffallen würde. Deshalb...«, sie blickte an sich hinab, »ha be ich dieses Grau gewählt - als eine Art Kompromiss. Meine persönli chen Trauerfarben.« »Das ist wunderbar«, schwärmte Betty sanft. Heather lächelte ihr dankbar zu. »Noch eine Frage«, sagte ich. »Wie sind Sie auf mich gekommen? Chicago ist voll von Privatdetektiven.« Heather lächelte kaum merklich. »Ich habe niemanden gefragt. Das konnte ich ja nicht. Aber ich habe von Ihnen gehört.« »Wirklich?«, entgegnete ich und war gespannt, ob ich mich ge schmeichelt fühlen durfte. »Darf man erfahren, bei welcher Gelegen heit?« »Das war beim Ball des Bürgermeisters, vor drei Monaten. Mein Mann und ich standen an der Bar zufällig neben einer Gruppe von lei tenden Polizeibeamten. Die sprachen über Privatdetektive und es fielen mehrere Namen. Sie wurden erwähnt, als ein Unruhestifter, aber auch jemand, der zum Leidwesen der Beamten verschwiegen und effektiv ist.« »War vielleicht ein anderer gemeint?« »Nein, nein. Mein Mann hat ja richtig aufgehorcht. ›Hörst du das?‹, hat er mir zugeflüstert. ›Gute Leute sind immer Iren.‹« »Das klingt ausgesprochen freundlich«, sagte ich verlegen. »Ja. Für alles Irische hat John Joe ein offenes Ohr. Er ist stolz auf unsere irische Herkunft.« »Klar, wenn man Shanahan heißt. Und Sie sind auch Irin?« »Ja. Geborene O'Donovan. Dieser Polizeibeamte sagte übrigens noch etwas über Sie. Aber...« Sie zögerte und senkte den Kopf, so dass sich ihre Augen unter dem Hutrand verbargen. »Ich weiß nicht, ob ich das so wiedergeben darf.« »Sie dürfen«, entgegnete ich. »War der Beamte über 100 Kilo schwer und etwa Mitte vierzig?« »Das stimmt!«, rief Heather und sah mich wieder an. »Eigentlich war es ein weiteres Lob. Er sagte nämlich: ›Connor ist hart wie Beton, ein echter irischer Dickschädel, in dem aber eine Menge drinsteckt.‹« 19
»Captain Morgan C. Hollyfield, wie er leibt und lebt«, erklärte ich und nickte schmunzelnd. »Er leitet übrigens die Mordkommission, ist also auch der zuständige Mann für den Fall Hobbs.« »Trotzdem möchte ich mich nicht auf die Polizei verlassen, Pat. Ich befürchte, dass man versuchen wird, die Ermittlungen zu ver schleppen. Und irgendwann, wenn niemand mehr darüber spricht, klappt man den Aktendeckel zu. Man darf ja nicht vergessen, dass Johnny - bei aller Berühmtheit - die falsche Hautfarbe hat.« »Sie meinen, das Interesse, den Mord aufzuklären, dürfte nicht allzu groß sein?« Heather nickte. »Auf der Bühne wurde Johnny umjubelt, aber au ßerhalb der Auftritte war er genauso ein Mensch zweiter Klasse wie Schuhputzer oder Tellerwäscher. Dabei war er nicht mal ein Schwar zer.« Ich betrachtete das Zeitungsfoto. »Ein Kreole?« »Ja.« Heather schenkte mir zum ersten Mal ein richtiges Lächeln. »Seine Vorfahren stammten einerseits aus Frankreich und Spanien, andererseits aus Haiti und Kuba und dem Volk der Seminolen.« »New Orleans war schon immer ein Schmelztiegel der Nationen«, erwiderte ich. »Das ist wahr.« Heathers Gesicht nahm einen verträumten Aus druck an. »Wissen Sie, es gibt hier in Chicago einen Musiker, den Johnny mehr als jeden anderen Menschen verehrte.« »Mehr als Sie?« Heather errötete. »Das war etwas anderes«, sagte sie irritiert. »Nein, dieser Mann, von dem ich spreche, ist Jelly Roll Morton.« »Was für ein Name!« »Sein Künstlername. Richtig heißt er Joseph Ferdinand LaMenthe ein Kreole, wie Johnny und ebenfalls aus New Orleans. Jelly sagt, Kre olen seien die einzigen Aristokraten Amerikas. Auf jeden Fall ist er der begnadetste Pianist und Komponist in unserem Land. Er war es, der den Jazz erfunden hat - unten in New Orleans.« »Das wissen Sie alles von Johnny, nehme ich an.« »Ich habe viel von ihm gelernt«, bestätigte Heather. »Auch er war ein Genie, wie sein Idol Morton. Übrigens, auch Johnny Hobbs war ein 20
Künstlername. In Wirklichkeit hieß er Jerôme Hugues und seine Mut tersprache war Französisch.« Ich beugte mich vor. »Bei allem, was Johnny Ihnen gesagt hat hat er nie erwähnt, dass er in Gefahr war?« »Nein«, antwortete Heather überzeugt. »Niemals.« * Ich sehe es Dunky immer an der Nasenspitze an, wie er aktuell über mich denkt. Manchmal gehe ich ihm schon auf die Nerven, wenn ich nur einen Fuß über seine Türschwelle gesetzt habe. Dann macht er ein langes Gesicht wie ein Hengst, dem die Stute davon trabt. An seltenen Tagen freut er sich über mich; dann strahlt er wie ein Honigkuchen pferd. Als dritte Variante gibt es noch den gleichgültigen Dunky, der mich nicht zu sehen scheint und mich auch dann noch nicht beachtet, wenn ich den dritten doppelten Bourbon bei ihm geordert habe. All das hat natürlich damit zu tun, dass meine ständige Fragerei nicht jeder manns Sache ist. Auf so einen wie mich reagiert man je nach Stim mungslage und die ist bei Dunky überwiegend schlecht. Genau genommen hat er seinen Beruf verfehlt. Als Bestattungsun ternehmer hätte er eine bessere Figur gemacht. Gute bis hervorragen de Umsätze sind der Sargbranche in diesen rauen Zeiten garantiert und mit seiner sauertöpfischen Dauermiene hätte er die Kundschaft in Scharen angelockt. Als Wirt ist er dagegen die absolute Fehlbesetzung. Erstens trinkt er selbst keinen Tropfen Alkohol und zweitens behandelt er seine Gäste - und sogar Stammgäste wie mich - wie den letzten Dreck. Allerdings habe ich mal gehört, dass es Leute geben soll, die so was gut finden. Einen Wirt, bei dem sie sich wie Abschaum fühlen, mögen sie am meisten. Im Grunde habe ich auch keine Ahnung, wes halb es mich immer wieder zu Dunky zieht und ein Tag ohne mindes tens einen Drink in seiner Räuberhöhle für mich ein schlechter Tag ist. Ein Grund dafür, dass ich Stammgast bei Dunky bin, mag allerdings die günstige Lage seines Ladens sein, nur vier Blocks südlich meiner Woh nung in der North Clark Street. 21
An diesem Abend löste mein Erscheinen bei ihm eine Mischung aus Hengst und Honigkuchenpferd aus. Vielleicht war es zu früh, ei gentlich noch später Nachmittag, weshalb sich die Zahl der anwesen den Trinker in Grenzen hielt. Man konnte nicht mal ahnen, was für Gedanken Dunky in solchen Situationen hinter seiner hohen Stirn wälz te. Möglich, dass er die ganze Zeit nur überlegte, ob er seinen Min destumsatz an diesem Abend noch erreichte. Ich schwang mich auf einen Hocker an der Schmalseite der Theke, von wo ich den Laden überblicken konnte. Wie üblich schaute ich Dunky beim Gläserpolieren zu und wartete geduldig darauf, dass er diese wichtige Tätigkeit un terbrach, um den Dauerauftrag auszuführen, den ich bei ihm laufen hatte. Der lautete: Bei Eintreffen Connors sofort ungefragt einen Bour bon servieren. Wenn ich einen doppelten wollte, gab ich ein Zeichen mit zwei Fingern. Endlich legte er das Poliertuch weg und fuhr sich mit der Hand über die Glatze, als würde ihm das helfen, sich auf die neue Tätigkeit einzustellen. Er schenkte den Bourbon ein und wuchtete seine 100 Kilogramm Lebendgewicht in meine Richtung. Zur Begrüßung formte sein langes Gesicht ein schiefes Grinsen und das wollte schon was hei ßen. Vielleicht war es ein Zeichen von Redseligkeit. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass Dunky im Gegensatz zu seinen fortschrittlicheren Kolle gen kein Radio hinter der Theke stehen hatte. Bei ihm gab's kein Mu sikprogramm und keine Sportberichte. Hier widmete man sich dem Wesentlichen: Trinken. Und die gepflegte Unterhaltung beschränkte sich meistens auf die Pausen zwischen den abgehackten Sätzen. Er schob mir den Bourbon herüber. »Bist du aus dem Bett gefal len? Nach dem Mittagsschlaf?« Er grinste, diesmal breit und schaden froh. Wahrscheinlich stellte er sich bildlich vor, wie ich aus den Decken auf die Dielen kippte und das amüsierte ihn. Wenn er gute Laune hat te, waren solche kleinen Scherze seine große Freude. Ich kippte den Bourbon in meinen ausgedörrten Schlund. Augen blicklich breitete sich dort wärmstes Wohlgefühl aus. Ich zog einen Lincoln aus der Tasche, stellte das leere Glas darauf und schob beides zurück. Dunkys Miene wurde augenblicklich so hell wie der Sonnen schein, mit dem der Tag begonnen hatte. Er beeilte sich, meine Nach 22
schubforderung auszuführen. Der Lincoln war in den Tiefen einer sei ner Hosentaschen verschwunden, als er mit einem neuen Bourbon zurückkehrte. Die fünf Dollar waren als Gesamthonorar zu sehen, das wusste er. Bourbon plus Informationen. Gelegentlich, blendende Laune vorausgesetzt, kriegte ich von Dunky auch schon mal kostenlos Tipps. Doch vor dem Hintergrund meiner Misere der letzten Wochen war der Fünf-Dollar-Schein das sichtbare Zeichen dafür, dass ich einen neuen Auftrag erhalten hatte. Ich nippte an dem zweiten Drink, stellte das Glas ab und fragte: »Hörst du gerne Jazz?« Er runzelte die Stirn und sah mich an, als hätte ich ihn zum Tanz aufgefordert. Dann aber klickte es bei ihm. »Hobbs?« Ich nickte. »Streng vertraulich. Geheimer Auftraggeber.« Da ich von dem Auftraggeber in männlicher Form sprach, würde Dunky gar nicht erst darauf kommen, dass es sich um eine Frau handelte. An sonsten konnte ich mich auf ihn verlassen. Er hatte noch nie etwas ausgeplaudert. Er nickte zurück. »Geht mich nichts an. Dein Auftraggeber, meine ich.« »Und was erzählt man sich so?« »Über Hobbs?« Dunky hob die Schultern, als ich nickte. »Irgend was stimmt nicht an der Geschichte. Leute, die sich auskennen, mei nen, da hat jemand die Italiener nachgemacht. Mit dem Ding, das sie ihm in den Mund gesteckt haben.« »Normalerweise nehmen sie was anderes«, erwiderte ich. »Was sie ihrem Opfer in den Mund stecken, meine ich. Irgendwas, das sie dem armen Kerl vorher abgeschnitten haben. Eines seiner eigenen Körperteile.« Dunky parkte mir gegenüber seine Ellenbogen auf der Theke und zog anerkennend die Mundwinkel nach unten. »Für einen Mick weißt du gut Bescheid über die Makkaronis.« Ich quittierte das Lob mit einem Lächeln, auch wenn wir Iren uns nicht so gern als Mick bezeichnen lassen. Wirklich auf die Palme gehen wir deswegen aber nur, wenn ein Südländer es sagt. Dunky hatte ich es schon verziehen, als er das Wort über die Lippen brachte. 23
»Wo hat dieser Klarinettist sich so rumgetrieben?«, fragte ich. »Keine Ahnung«, antwortete Dunky sofort. »Wahrscheinlich nur in Musikerkreisen, wie das bei den Jungs so üblich ist. Und gelegentlich dürfen sie mal in den Villen der Reichen spielen, wenn die was zu fei ern haben. Aber sonst...«, er zuckte mit den Schultern, »hocken die wahrscheinlich die meiste Zeit in ihren Buden auf der South-Side.« »Schon mal vom Storyville gehört?« »Dem Jazzschuppen?« »Exakt.« »Mhm, hab mal davon gehört. Aber nur, weil der Laden Desalvo gehört.« Ich horchte auf. »Armando Desalvo? Kein Geringerer?« Der Mann war Unterboss bei Benito ›Il Cardinale‹ Rigobello, dem Oberhaupt der italienischen Mafia von Chicago. »Kein Geringerer«, bestätigte Dunky. »Kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Il Cardinale sich persönlich um einzelne Jazzlokale kümmert.« »Das überlässt er anderen«, folgerte ich. Wir wussten beide, von wem wir redeten. Salvatore Caprese, genannt ›Iceman‹, war Rigobellos rechte Hand. Durch skrupellose Morde und gnadenlose Ellenbogenarbeit hatte er sich in der Organisation hochgedient und konnte mittlerweile auch seinerseits die Dreckarbeit anderen überlassen. Dazu gehörten auch Mordaufträge, die er nicht mehr selbst erledigen musste. Dafür hatte er willige Leute, die allesamt heiß darauf waren, sich ebenfalls hoch zuarbeiten. »Wenn du mehr darüber wissen willst«, sagte Dunky, »dann rede mal mit Harry Tibbett. Der kennt sich da unten aus. Im Storyville. Und in der ganzen Gegend.« »Was macht er da?« »Ist einer von Icemans Handlangern. Kein Vollmitglied. Wenn ich die Sache richtig sehe, ist er zu Desalvo abkommandiert worden und das gefällt ihm gar nicht.« »Wo treffe ich ihn?« 24
»Hier.« Dunky blickte in die Runde. »Ist aber nicht da. Musste a ber jeden Moment kommen, wenn sie ihn noch nicht umgelegt ha ben.« Ich hob die rechte Augenbraue. »Ist der Kerl eine Ratte?« »Keine Ahnung. Wenn er voll ist, fantasiert er oft rum. Dass er mit einem Bein im Sarg steht und so.« Ich nickte nachdenklich, leerte mein Glas und übergab es Dunky zum Nachfüllen. Als Ratte bezeichnete man im Gangland einen Verrä ter. Das konnte ein Polizeispitzel sein, aber auch einer, der die Konkur renz mit Informationen belieferte. Wenn Harry Tibbett kein Vollmit glied der Mafia war, konnte das daran liegen, dass er weder italieni sche geschweige denn sizilianische Vorfahren nachweisen konnte. Nicht-Makkaronis hatten es schwer, in der ehrenwerten Gesellschaft unterzukommen; eigentlich war es die große Ausnahme. Leute wie Tibbett konnten bestenfalls assoziierte Mitglieder werden und das war dann die absolut unterste Stufe des Fußvolks. Die für die dreckigste Dreckarbeit. Manche von ihnen hatten schwer daran zu knabbern. Un gerechtigkeiten passierten gerade ihnen am häufigsten und dann be durfte es oftmals nur noch eines kleinen Zündfunkens, um diese Leute zur Ratte mutieren zu lassen. Ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein, falls ich Tibbett an diesem Abend tatsächlich noch antreffen sollte. So eine Ratte war meist mit teilsam, weil es für sie ja nichts mehr zu verlieren gab. Andererseits bestand die Gefahr, dass der Kerl über die Fragen, die ich stellte, brühwarm genau denen berichtete, für deren Ohren sie nicht bestimmt waren. Dunky brachte meinen neuen Drink und ließ mich in Ruhe. Er wusste, dass einer wie ich viel nachdenken musste. Das lag letzten Endes in der Natur meines Berufs und es erklärte, dass ein Privatde tektiv seine Fälle nicht immer draußen auf der Straße aufklärte, son dern in seinen grauen Zellen. Betty und ich hatten den Vorschuss unserer Klientin brüderlich ge teilt, nachdem Heather Shanahan gegangen war. Im Überschwang ihrer Freude war sie drauf und dran gewesen, loszumarschieren und eine Flasche Schampus zu besorgen. Ich hatte sie gerade noch zur 25
Sparsamkeit anhalten können und wir hatten den Auftrag trotzdem feiern können - mit einer neuen Runde Kaffee und einem Schuss aus meiner Geheimflasche Bourbon. Den Nachmittag hatte ich genutzt, um mich weiter mit dem Ar beitsgebiet meines neuen Falls vertraut zu machen. Ich hatte den Ply mouth an der State Street geparkt und mich in den Schallplattenläden dort umgesehen. Es gab tatsächlich etliche, die auf Jazz und Blues spezialisiert waren und jeder dieser Läden war voll von Kundschaft gewesen. Als Privatdetektiv konnte man da vor Neid erblassen. Ich kam zu dem Ergebnis, dass es neben meiner vertrauten Welt noch eine andere gab, nämlich die des Jazz - hier in Chicago mehr als ir gendwo sonst auf der Welt. Ich hatte mit Ladeninhabern, Verkäufern und Schallplattenkäufern gesprochen und erfahren, dass Jazz mehr war als nur irgendeine Musikrichtung. Es war eine Weltanschauung. Jazzmusiker und ihre Fans sprengten die Grenzen der Konventionen, zumindest in ihrem immer größer werdenden Kreis. Heather Shanahan und ihr Verhältnis mit Johnny Hobbs waren die augenfälligste Bestäti gung für diesen Freiheitsdrang. Im siebten Schallplattenladen hatte ich mich von der Begeisterung anstecken lassen und mir eine Scheibe von Johnny Hobbs und seiner Band gekauft. Die A-Seite war der ›South-Side-Blues‹, seine berühmte Komposition. Ich hatte zwar kein Grammofon, aber vielleicht würde ich meine nächste Freundin danach auswählen, ob sie so ein Gerät besaß oder nicht. Etwa eine halbe Stunde hatte ich an der Theke mit Whiskey und Warten verbracht, als Dunky mir ein Zeichen gab. Ich wandte mich zur Tür und bekam mit, dass er auch dorthin sei ne unauffälligen Signale sandte. Ein Blick und eine Kopfbewegung ge nügten, um den Eintretenden auf mich aufmerksam zu machen. Der Mann war groß und hager und hatte aschblondes Haar. Letzteres konnte ich zweifelsfrei erkennen, weil er keinen Hut trug. Der pure Leichtsinn, wenn seine Situation so aussah, wie Dunky sie mir geschil dert hatte. Dieses helle Haar musste meilenweit zu sehen sein. Er kam herüber. Der Türsteher machte den Laden wieder dicht. Der Blonde sah mich an und zeigte auf die freien Hocker links und 26
rechts von mir. Ich deutete auf den linken. Das Blickfeld zum Eingang hatte ich gern frei. Er verstand mich und erfüllte meinen Wunsch. »Harry Tibbett«, stellte er sich vor. »Sag einfach Harry zu mir.« »Pat Connor«, erwiderte ich. »Pat.« Ich winkte Dunky herbei, schob ihm zwei Eagles als Nachzahlung rüber und ließ meinem Ne benmann die freie Auswahl. Er entschied sich für Bourbon, die Haus marke, die auch ich bevorzugte. Wir prosteten uns zu, tranken. Harry stieß ein wohliges »Ah!« aus. Dann sah er mich an. »Was bist du, Pat? Bulle oder Schnüffler?« Ich grinste. »Würdest du auch mit einem Bullen reden?« »Bullen sind auch Menschen«, antwortete er listig und grinste zu rück. »Okay«, sagte ich. »Entspann dich.« »Also Privatschnüffler«, stellte Harry fest. »Und du willst mit mir reden.« »Dunky hat dich empfohlen«, erwiderte ich. »Es geht um das Sto ryville, dieses Jazzlokal auf der South-Side.« Ich hatte einen Lincoln aus der Tasche gezogen und drehte den knisternden Geldschein zwi schen den Fingern, in der Dunkelzone unterhalb der Tresenkante. Harry sah es trotzdem. Seine Augen waren scharf, seine Ohren auf die typischen Geräusche von Banknotenpapier geschult. »Dann dreht es sich um den Mord an Johnny Hobbs«, schloss er scharfsinnig. »Darüber weiß ich praktisch nichts.« »Ich fange mit dem Herumhorchen gerade erst an«, antwortete ich. »Mir geht es im Moment eigentlich nur um das Storyville. Ein biss chen Hintergrundmaterial. Das würde schon reichen.« Harry nickte und streckte die Hand aus, unter der Tresenkante, versteht sich. Ich legte den Lincoln hinein und wir waren uns einig. »Gehen wir ein Stück?«, schlug er vor. »In diesem Laden gibt es zu viele Ohren.« Rasch fügte er hinzu: »Damit meine ich natürlich nicht unseren gemeinsamen Freund.« Er ließ seinen Blick demonstrativ über die Tische schweifen, an denen sich die Zahl der Trinker mittler weile erhöht hatte. * 27
Es war dunkel geworden. Auf der North Clark schlenderten wir ein Stück in die Richtung, in der ich wohnte und bogen dann nach links in die West Chestnut ab. Eine ruhige Straße. An den Bordsteinkanten auf beiden Seiten hatten Autos ihre Laternengaragen bezogen. In den Häusern brannte noch Licht. Durch spaltbreite Fensteröffnungen dran gen die quäkenden Stimmen von Radiosprechern oder Musik aus Grammofonen. Harry und ich waren die einzigen Fußgänger auf dem Bürgersteig. Links von uns die lange Reihe der Autos, rechts handtuchgroße Vor gärten und die Fassaden der Häuser. Die meisten hatten Souterrain wohnungen, zu denen Treppenschächte hinabführten. Gleich daneben führten die breiteren und komfortableren Treppen zu den Erd geschossen. Ich erzählte meinem Begleiter, was ich von Dunky schon über das Storyville erfahren hatte. Ich fügte hinzu: »Was war da los, dass ein Musiker sterben musste? Da muss es doch Ärger gegeben haben.« »Kann schon sein«, antwortete Harry. »Aber Desalvo und der I ceman halten den Deckel drauf. Nach dem Motto: Schlimm genug, dass diese Sache passiert ist, jetzt muss es nicht noch breitgetreten werden.« »Bedeutet das, dass die beiden Hobbs nicht haben umbringen las sen?« Harry schüttelte den Kopf. »Das kann alles und nichts bedeuten. Wenn die nichts rauslassen wollen, lassen sie nichts raus. Aber wie auch immer, der Mord an Johnny Hobbs hat natürlich mächtigen Wir bel ausgelöst.« »Keine Gerüchte, wer der Killer sein könnte?« »Nicht die geringsten. Die tappen alle im Dunkeln. Keiner hat eine Ahnung.« »Du auch nicht, was?« »Sag ich doch.« Er entgegnete es beinahe trotzig. »Hör mal, Harry«, erwiderte ich. »Für fünf Bucks hatte ich mir ei gentlich etwas konkretere Informationen versprochen.« 28
Er sah mich an und wollte antworten. Doch stattdessen geschah zweierlei. Irgendwo hinter uns brummte ein Automotor auf. Ziemlich laut. Es klang nach Vollgas. Bevor ich mich danach umdrehen konnte, versetzte Harry mir einen Stoß mit beiden Fäusten gleichzeitig. Die Dinger, die er mir von der Seite her gegen Oberarm und Brustkorb rammte, hatten enorme Schubkraft - und kamen viel zu überraschend. Ich flog vom Bürgersteig weg auf das Haus neben uns zu. Doch statt gegen die Außenwand zu prallen, verlor ich plötzlich den Boden unter den Füßen. Noch bevor ich unten in dem Treppenloch der Kellerwohnung lan dete, dröhnte der Automotor ganz nahe. Ein Hämmern zerriss die Stille des Abends. Es dauerte nur Sekundenbruchteile. Und doch Sekunden bruchteile zu lange. Denn es stammte von einer Tommy-Gun. Ein ein ziger anhaltender Feuerstoß von mindestens einem Dutzend Kugeln. Ich kauerte mich in den Mauerwinkel. Über mir prasselten die Ge schosse in die Backsteine. Erstaunlicherweise ging nicht einmal ein Fenster zu Bruch. Ich kam auch nicht dazu, mich darüber zu freuen, dass ich heil hier unten angekommen war, ohne einen einzigen Kno chenbruch. Zu ebener Erde verstummte die Tommy-Gun. Der Motor brüllte auf und das Auto jagte davon. Ich verlor keine Zeit. Die Treppe überwand ich mit zwei Sprüngen. Zu ebener Erde angekommen, fand ich meine schlimmsten Befürch tungen bestätigt. Harry Tibbett lag auf dem Bürgersteig, ziemlich ge nau da, wo er mir den Stoß versetzt hatte. Die nächste Straßenlampe war nicht weit entfernt und so konnte ich in erschreckender Deutlich keit sehen, wie schnell sich die Blutlache um seinen Oberkörper herum vergrößerte. Wie durch ein Wunder lebte er noch. Das sah ich, als ich auf ihn zulief und neben ihm in die Hocke ging. Harry sah auch mich; das be wies die Tatsache, dass er mir die Hand entgegenstreckte. Es schnürte mir die Kehle zu, als ich sah, was in der Hand lag. Der zusammenge rollte Lincoln, den ich ihm gegeben hatte. 29
»Nimm es zurück, Pat«, sagte er erstaunlich klar. »Ich kann es sowieso nicht mitnehmen. Außerdem waren meine Informationen das Geld nicht wert.« Ich nahm den Geldschein, so dass er es merkte. Und ich drückte ihm die Hand und beugte mich über ihn. Seine Brust war fürchterlich zerfetzt. Mindestens die Hälfte des Geschosshagels musste ihn getrof fen haben. »Wer hat dich umgelegt, Harry?«, fragte ich rasch. »Spielt das noch... eine Rolle?« Seine Stimme wurde schwächer. »Sie haben mich... beobachtet. Weil sie wussten, dass ich... ein unsi cherer... Kandidat war?« »Icemans Leute? Oder die von Desalvo?« »Ist beides... möglich. Sie wollten, dass im... Storyville Ruhe ein kehrt, nach dem... Presserummel. Der Mord an... Hobbs... war eine... Panne. Sollte nicht... passieren.« Ich hätte Harry gern gesagt, dass er mir nun doch noch eine brauchbare Information geliefert hatte. Aber er hätte es nicht mehr gehört. Denn nachdem er den Satz zu Ende gesprochen hatte, war sein Mund offen geblieben und seine Augen starrten blicklos in den Abendhimmel. Ich legte Zeigefinger und Mittelfinger auf seine Hals schlagader, doch da war kein Puls mehr. Ich drückte Harry die Augen zu. Mehr konnte ich nicht für ihn tun. Wir hatten uns weniger als eine Stunde gekannt und jetzt konnte ich nur noch dafür sorgen, dass er abgeholt wurde, wie es sich gehörte und ein anständiges Begräbnis erhielt. Er hatte es verdient, einerlei, was er sich alles hatte zuschulden kommen lassen. Er hatte es verdient, weil er mir das Leben gerettet hatte. Alles andere zählte für mich nicht. Gleich um die Ecke, an der North Clark, gab es eine Bar. Von dort aus rief ich die Polizei an und nannte die genaue Adresse, an der ein Toter zu bergen sei. Als der Diensthabende nach meinem Namen fragte, hängte ich ein. Die West Chestnut Street war noch immer menschenleer. Niemand würde sich blicken lassen. Die Menschen in Chicago wussten, wann es besser war, seine vier Wände nicht zu verlassen. Ich ging an der Einmündung vor bei und weiter die North Clark hinunter. Es herrschte immer noch Ver 30
kehr. Ich würde keine Mühe haben, ein Taxi zu bekommen. Natürlich hätte ich auch zu Fuß nach Hause gehen können. Aber danach war mir nicht zumute. * In dem Maschinensaal herrschte ein Höllenlärm. Das Rattern und Kli cken der Linotype-Setzmaschinen war ohrenbetäubend und der Geruch des geschmolzenen Bleis legte sich beißend auf meine Atemwege. Männer in Hemdsärmeln saßen vor den stählernen Ungetümen und drückten in einem enervierend langsamen Rhythmus auf die Tasten, die im Bauch der Maschine jenes Rattern und Klicken auslösten, das aus flüssigem Blei feste Buchstabenzeilen machte. Der Redaktionsschluss war im Wolkenkratzer der Chicago Tribune bereits vorüber. Doch damit hatten sich der Lärm und das scheinbare Chaos lediglich verlagert - aus den Büros der Journalisten in das Reich der Techniker, der Setzer und Metteure. Ich kannte mich aus in dieser lauten Welt, die die ganze Nacht über nicht zur Ruhe kam. Wenn es an einer Stelle zu einem Ende kam, ging es woanders weiter. Sobald die Satztechniker Feierabend machten, war die Rotation an der Reihe, wo die Zeitungsseiten auf Rollenpapier gedruckt wurden. In der Setzerei traf ich Brendon Smith nicht mehr an. Also ging ich weiter, in den nächsten Saal, wo eine wohltuende Ruhe herrschte. Es wurde nur gedämpft gesprochen, so, als ob alle genug hatten von der Hektik des zurückliegenden Tages. In drei langen Reihen waren hier die Stahlrahmen aufgehängt, in denen die einzelnen Zeitungsseiten aus dem Bleisatz zusammengebaut wurden. Das erledigten die Metteu re. Die Schlussredakteure standen ihnen zur Seite, verglichen die pa piernen Seitenspiegel mit dem fertigen Produkt und trafen immer dann Entscheidungen, wenn ein Artikel nicht passte und Zeilen herausge nommen oder Überschriften geändert werden mussten. Ich sah Brendon schon von weitem. Er stand vor einer seiner Sportseiten, in Hemdsärmeln, die Hände in den Hüften. Immer wenn der Mann neben ihm einen Bleiblock in die Seite einpasste, nickte Brendon zustimmend. Er war erleichtert. Ich kannte ihn lange genug, 31
um ihm das ansehen zu können. Mein väterlicher Freund war eine stattliche Erscheinung mit seinen 185 Zentimetern Körpergröße. Die 55 Jahre sah man ihm nicht an. In der Senioren-Footballmannschaft hätte er noch immer eine gute Figur gemacht. Ursprünglich war er mit mei nem Vater befreundet gewesen. Dessen Rolle und die des guten Freundes hatte Brendon nach dem Tod meiner Eltern vor zehn Jahren übernommen. Auf ihn konnte ich mich verlassen. Er unterstützte mich, wo er konnte und mit seinem immensen Wissen über die Stadt und ihre Einwohner hatte er mir schon so manches Mal weitergeholfen. Ich wollte mich leise nähern, um ihn nicht bei der Arbeit zu stören, aber natürlich entdeckte er mich schon, als ich noch am Ende des Gangs war. »Pat!«, rief er dröhnend und winkte mit hoch erhobener Hand. »Hallo, mein Junge! Was hast du für uns? Noch eine Sensationsmel dung? Wer wurde erschossen? Sollen wir die Eins umbauen?« Die Eins war so was wie ein Heiligtum. Die erste Seite. Auf ihr wurden nur die allerwichtigsten Sachen abgedruckt. Zum Beispiel Lindberghs Atlantikflug oder der Mord an dem derzeit berühmtesten Jazzklarinettisten in Chicago. Noch während ich auf Brendon zuging, wedelte ich abwiegelnd mit der Hand. Ich hatte nicht vor, ihn mit ei nem Bericht über Harry Tibbetts Ende und mein Nahtoderlebnis in der West Chestnut Street in Aufregung zu versetzen. Beides war kein Stoff für die Eins. Und beides war kein Thema für meinen späten Besuch bei Brendon. Er wechselte ein paar Worte mit dem Metteur und kam mir dann entgegen. »Ich warte, wenn du keine Zeit hast«, sagte ich. »Ich will dich nicht stören.« »Das hast du aber gerade getan«, entgegnete er, schüttelte nur die Hand und hieb mir auf die Schulter, dass es krachte. Dann zwin kerte er mir zu. »Keine Sorge, ich war sowieso so gut wie fertig. Den Rest können die Jungs hier allein bewältigen. Gehen wir in die Kanti ne?« »Was für eine Frage«, sagte ich und erwiderte sein Zwinkern. Er wusste, dass es für mich im ganzen Tribune-Wolkenkratzer keinen gemütlicheren Ort gab als die Kantine. Sie war rund um die Uhr geöff 32
net und bot alles an Getränken und Speisen, was sich hart arbeitende Menschen für eine wohlverdiente Pause wünschten. Den Kaffee gab es in unterschiedlichen Brauntönen, wobei jegliche Form von Alkohol während der Arbeitszeit offiziell verboten war. Offiziell. Wir machten uns auf den Weg durch die Korridore und nahmen den Fahrstuhl. Die Kantine befand sich zwischen den technischen Ab teilungen und den Redaktionsetagen. Es herrschte noch Betrieb. Alle Anwesenden riefen Brendon Begrüßungsworte zu oder winkten ein fach. Er genoss großen Respekt bei den Kollegen und wurde von allen geschätzt, weil unter seiner rauen Schale ein weicher Kern steckte. Wenn man Rat und Unterstützung brauchte, war man bei Brendon Smith an der richtigen Adresse. Er hatte sein Handwerk als Sportre dakteur von der Pike auf gelernt und er war praktisch bei der Zeitung groß geworden. Am Tresen versorgten wir uns mit Kaffee. Wir luden einen Stapel Sandwiches auf unsere Tabletts und suchten uns einen Ecktisch, an dem wir ungestört waren. »Wie war dein Tag?«, fragte Brendon nach dem ersten mit Heiß hunger verzehrten Sandwich und einem Schluck aus der Tasse. »Abwechslungsreich«, antwortete ich. »Und wie ist es bei dir ge laufen?« Er winkte ab. »Der übliche Hürdenlauf, wie immer, wenn ich Schlussdienst habe. Es gibt einfach keinen Tag, an dem nicht irgendwas schief geht.« »Was war es heute?« »Unser Reporter beim Pferderennen hat fehlerhafte Ergebnisse geliefert und das ist ihm erst in letzter Sekunde aufgefallen. Die Seite war schon fertig. Wir konnten sie gerade noch umbauen.« Ich seufzte. »Dein Job wäre nichts für mich. Viel zu aufregend.« Brendon schmunzelte. »Und wie abwechslungsreich war es bei dir?« Ich berichtete. Brendon konnte ich alles erzählen. Was den Aus tausch von Informationen betraf, war er Geheimnisträger der aller höchsten Stufe. Er genoss mein absolutes Vertrauen. Es war kein Bruch der Vereinbarung mit Heather Shanahan, wenn ich Brendon 33
davon erzählte. Im Gegenteil. Es war in Heathers ureigenem Interesse, wenn ich den Rat meines Freundes nutzte, um meine Ermittlungen im Mordfall Hobbs voranzutreiben. Brendon brachte seine Schlussfolgerung auf den Punkt. »Und jetzt fragst du mich, ob ich John Joe Shanahan kenne und ihm eine Wahn sinnstat aus Eifersucht zutraue.« »Ich bin gespannt auf die Antwort«, entgegnete ich. »Nummer eins: Ja, ich kenne ihn. Es gibt kein Golfturnier, auf dem man John Joe nicht trifft«, sagte Brendon. »Weil es hier in Chicago wahrscheinlich auch kein Turnier gibt, das er nicht sponsert.« »Richtig. Er steht im Licht der Öffentlichkeit wie sonst nur die Poli tiker und er geht voll darin auf. Ich glaube nicht, dass er das aufs Spiel setzen würde.« »Ist das Teil zwei der Antwort?« »Ja. Ich fürchte, präziser geht es nicht. So genau kenne ich John Joe nun auch wieder nicht, dass ich genau wüsste, wie er in einer Ausnahmesituation reagiert.« »Ist er der eifersüchtige Typ?« »Eigentlich nicht. Er macht jedenfalls nicht den Eindruck. Manche, die ihn kennen, meinen sogar, dass er seine Ehe vernachlässigt.« »Das wäre dann auch ein Grund, weshalb sich seine Frau einen Liebhaber in der Jazzszene sucht.« »Nicht irgendeinen, Pat. Einen der berühmtesten.« Ich nickte versonnen. »Und nun fühlt sie sich verpflichtet, seinen Tod aufklären zu lassen. Aus Schuldgefühlen? Weil sie denkt, dass Johnny Hobbs ihretwegen ermordet wurde?« »Eher wegen des Verhältnisses mit ihr.« »Was für sie auf dasselbe herauskommt.« »Stimmt. Aber hast du auch daran gedacht, dass der Mörder ein x-beliebiger, völlig unbekannter Fanatiker sein könnte, der es einfach nicht ertragen kann, dass ein Farbiger eine weiße Frau als Geliebte hat?« 34
Ich sah meinen Freund überrascht an. »Damit könntest du Recht haben. Und ich muss zugeben, ich habe wirklich noch nicht daran ge dacht.« »Siehst du. Das haben wir Zeitungsleute euch Privatdetektiven vo raus. Bei unseren Recherchen müssen wir Möglichkeiten einkalkulie ren, von denen man annimmt, dass es sie gar nicht gibt. So was schult das Denken, sage ich dir.« »Angeber«, erwiderte ich respektlos. Brendon lachte leise. »Wie auch immer, unsere Berufe haben ge wisse Ähnlichkeiten.« Ich nickte. »Aber ein Jazzfan bist du nicht.« »Korrekt. Auf meine alten Tage will ich's auch nicht mehr wer den.« »Hör mal«, protestierte ich. »Als Methusalem bist du aber noch zu Jung.« Brendon lächelte geschmeichelt. »Was willst du wissen?« »Ein paar Informationen aus eurer Redaktionskonferenz.« »Die sind geheim.« »Das weiß ich. Aber meine Auftraggeberin wollte auch geheim bleiben.« »All right«, seufzte Brendon. »Wir haben den seltenen Fall, dass Feuilletonisten und Polizeireporter zusammenarbeiten. Das führt dazu, dass die Feuilletonisten plötzlich ihre kriminalistischen Fähigkeiten zu entdecken glauben und die Polizeireporter eine kulturelle Ader in sich bemerken.« »Und gibt es ein Ergebnis?«, fragte ich. »Keines, das die Polizei verwerten könnte. Die Herren Kollegen haben sich darauf geeinigt, dass Johnny Hobbs durch seine Liebesbe ziehung zu einer reichen weißen Frau möglicherweise völlig aus der Bahn geworfen wurde. Und daher hat er vielleicht unvernünftige Sa chen gemacht.« »Er könnte mit seinem Verhältnis angegeben und jemanden da durch provoziert haben.« »Richtig. Das ist das, was die Kollegen meinen.« 35
»Und konkrete Anhaltspunkte, die die Polizei womöglich noch ver schweigt?« Brendon schüttelte den Kopf. »Wenn ich etwas erfahre«, ver sprach er, »erfährst du es auch.« * Das Hotel Southland an der Peoria Avenue wurde von vielen Musikern bevorzugt, die sich nur für Gastspiele in Chicago aufhielten. Das hatte Betty bei ihren telefonischen Ermittlungen herausgefunden. Und sie hatte erfahren, dass der Mann, den ich aufsuchen wollte, die einzige Suite des Hotels bewohnte. Ich parkte meinen Plymouth schräg gegenüber. Das Southland war ein fünfgeschossiger Backsteinbau und machte einen gepflegten Eindruck. Gehobene Mittelklasse, schätzte ich, bodenständig, zweck betont. Den Glamour der Nobelherbergen auf der North-Side gab es hier nicht und vermutlich wollte so etwas auch niemand. Ich betrat die Lobby um viertel vor drei nachmittags. Dunkle Wandtäfelung, Orientteppiche und wuchtige Polstermöbel sorgten für Wohlgefühl vom ersten Moment an. Aus einem mit Samtportieren de korierten Durchgang zum Restaurant waren Besteckklappern und Stimmengemurmel zu hören. Musiker kamen spät aus den Federn, da war ein später Lunch die zwangsläufige Folge. Die Angestellte an der Rezeption erinnerte mich mit ihrem Pagen kopf ein wenig an Heather Shanahan. »Sir?«, sagte sie und blickte freundlich fragend zu mir auf. »Was kann ich für Sie tun?« Ich nannte meinen Namen und fügte hinzu: »Meine Sekretärin hat einen Termin für mich vereinbart. Um drei Uhr. Ich bin verabredet mit...« »O ja, Sir! Mister Morton hat mich beauftragt, Sie nach Ihren Wünschen zu fragen.« Ich runzelte die Stirn. »Warum sagen Sie ihm nicht einfach, dass ich da bin?« 36
Die Angestellte lächelte. »Nun, Sir, Mister Morton wird seine Sek retärin beauftragen, mich anzurufen, sobald er bereit ist, Sie zu emp fangen. Das wird ab drei Uhr möglich sein.« »Hören Sie, Madam«, erwiderte ich und zwang mich, ruhig zu bleiben. »Wenn ich um drei Uhr einen Termin habe, dann bedeutet das, um drei Uhr. Ein höflicher Mensch wie ich kommt etwas früher und darf dafür erwarten, dass seine Pünktlichkeit mit dem Einhalten des Termins belohnt wird.« »Das ist mir bekannt, Sir.« Ihr Lächeln nahm einen zerknirschten Zug an. »Aber Sie müssen wissen, dass Mister Morton ein berühmter Mann ist und sehr viele Verpflichtungen hat. Zurzeit hat er noch eine Besprechung mit zwei Repräsentanten der Firma Okeh. Sie werden verstehen...« Statt zu Ende zu sprechen, hob sie bedauernd die Schul tern und ließ sie gleich darauf wieder sinken. »Okeh«, sagte ich. »Ich warte. Darf ich mir einen Kaffee wün schen?« Die Angestellte lächelte wieder. Jeder kannte das Wort aus der Choctaw-Sprache, aus demnach landläufiger Meinung unser heutiges Okay hervorgegangen war. Zugleich war Okeh der Name eines bedeu tenden Jazz-Schallplattenlabels, das für die Verbreitung von Aufnah men afroamerikanischer Musiker bekannt war. Die Rezeptions-Lady versprach, meine Bestellung sofort an die Kü che weiterzugeben. Sie deutete auf die Sitzgruppen und empfahl mir, es mir gemütlich zu machen. Ich durfte mich also auf eine längere Wartezeit einrichten. Der Kaffee war diesmal pur, dafür aber so stark, dass er einen drei Tage toten Cowboy in den Sattel gehoben hätte. Ich rauchte meine Luckys, wanderte ein bisschen über die Teppiche, setz te mich wieder, wanderte erneut, setzte mich - bis endlich um kurz vor vier die erlösende Nachricht kam. Jelly Roll Morton, der Erfinder des Jazz, war nunmehr bereit, mich zu empfangen. Die beiden Gentlemen, die mir aus dem Fahrstuhl entgegenka men, mussten die Okeh-Vertreter sein. Sie wirkten angespannt. Mr. Morton schien ein harter Verhandlungspartner zu sein. Ich war froh, dass er nicht mein Klient werden wollte. 37
Der Fahrstuhl führte direkt in den Vorraum der Suite im fünften Stock. Eine zierliche dunkelhäutige Lady empfing mich mit freundli chem Lächeln. Sie hatte ihren Platz hinter einem kleinen weißen Schreibtisch und erhob sich, als ich aus dem Fahrstuhl trat. »Ich bin Mabel, Mister Mortons Sekretärin«, erklärte sie. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen...« Sie hatte einen starken französischen Akzent. Sie beschrieb eine einladende Handbewegung und führte mich ins Allerheiligste. Der Salon war ein Arrangement aus Plüsch, Samt und Teppichen. Durch die halb geschlossenen Fenstervorhänge herrschte eine düstere Atmosphäre. »Sir«, sagte Mabel in das Halbdunkel hinein. »Hier ist Mister Con nor, der Privatdetektiv.« »Ah, treten Sie ein, Mister Connor!«, ertönte eine dunkle Männer stimme mit einem Timbre, wie ich es noch nie gehört hatte. Zugleich hatte diese Stimme den singenden Tonfall der Südstaatler. »Danke«, sagte ich und sah mich suchend um, während Mabel sich zurückzog. Das Erste, was ich vom Erfinder des Jazz sah, war ein Funkeln wie vom Sternenhimmel. Es kam aus einer der dunklen Ecken des Salons und die Blendwirkung nahm etwas ab, als Mr. Morton selbst sichtbar wurde. »Bitte entschuldigen Sie das Dämmerlicht, Mister Connor«, sagte er und schüttelte mir die Hand. Sein Lächeln war die Ursache des Ster nenfunkeins. Zwei prachtvolle Diamanten, in seine Schneidezähne ein gelassen, strahlten mich an. Auch der Rest seiner Erscheinung war imposant. Sein schwarzes Haar war leicht gewellt, die Gesichtszüge eher hispanisch und die Hautfarbe nur geringfügig dunkler als die ei nes Weißen. »Wenn man nachts arbeitet«, entgegnete ich, »hat man wahr scheinlich seine Probleme mit dem Tageslicht.« »Sie sind ein einfühlsamer Mensch«, entgegnete er und winkte mich zu einer Polstersitzgruppe in Fensternähe. Dort konnte man sich wenigstens sehen, wenn man sprach. 38
»Ich habe mich ein bisschen mit dem Leben von Musikern be fasst«, antwortete ich. »Jedenfalls in den letzten Tagen.« »Ihre Sekretärin sagte, Sie würden gern mit mir über den armen Johnny Hobbs sprechen - möge er in Frieden ruhen.« Morton bekreu zigte sich. »Ja, Sir«, antwortete ich. »Ich bin beauftragt worden, den Mord fall aufzuklären. Allerdings habe ich mich verpflichtet, meinen Auftrag geber geheim zu halten.« Morton lachte und winkte ab. »Ach, wissen Sie, Ihr Auftraggeber interessiert mich überhaupt nicht. In der Tat kommt es einzig und al lein darauf an, dass sein Mörder vor Gericht gebracht wird.« »Die Polizei arbeitet daran«, erwiderte ich. »Und ich hoffe, meinen Beitrag leisten zu können.« Mabel trug ein Tablett mit zwei großen, bauchigen Tassen herein, aus denen kleine Flammen schlugen und Dampf aufstieg. »Café Brulôt«, erklärte mein Gastgeber. »Ein Nationalgetränk aus New Orleans. Zu meiner Suite gehört eine kleine Küche, sodass wir es diskret zubereiten können.« Mabel zog sich erneut zurück. Ich schnupperte nach dem Duft, der vom Tisch aufstieg. »Brandy?«, tippte ich. »Sehr gut, Mister Connor«, lobte mich mein Gastgeber. »Außer dem ein bisschen Orangenlikör, Zimt und andere Gewürze, Zucker und natürlich Kaffee, schwarz und sehr stark.« Der erste Schluck war von betörender Güte. Ich hatte den starken Verdacht, dass es mir schwer fallen würde, mich auf den eigentlichen Grund meines Besuchs zu konzentrieren. Nach dem zweiten Schluck nahm ich mir fest vor, bei der nächsten Auftragsflaute in meinen Plymouth zu steigen und nach New Orleans zu fahren. Nach dem dritten Schluck beschloss ich, aus New Orleans nicht wieder zurückzukehren. Ich sagte es Mr. Morton, wobei ich betonte, dass ich noch bei völ lig klarem Verstand sei. »Daran zweifle ich nicht«, erwiderte er. »Wissen Sie, Café Brulôt weckt diese Begeisterung bei allen Menschen, die ihn das erste Mal 39
genießen.« Er lehnte sich zurück und sah mich mit seinen dunklen Augen an. »Nun, was möchten Sie übermeinen Freund Johnny wissen? Leider kann ich Ihnen nicht sagen, wer ihn umgebracht hat. Ich würde alles dafür geben, wenn ich es könnte.« »Er hat Sie sehr verehrt, nicht wahr?« »Er hat mich besonders verehrt«, erwiderte Morton. »Alle Jazzmu siker verehren mich, weil ich Ihnen das Geschenk dieser Musik ge macht habe.« Ich nahm an, dass es noch eine Menge mehr Leute gab, die für sich beanspruchten, den Jazz erfunden zu haben. Aber Jelly Roll Mor ton war vermutlich derjenige, der es am lautstärksten tat. »Sie kennen die Band, in der er spielte?«, fragte ich. »Die Tuxedo Syncopators? O ja, ich spiele gelegentlich als Gast in der Band mit. Ich kenne die Musiker sehr gut. Im Augenblick bin ich allerdings mit Studioaufnahmen beschäftigt. Mit meiner berühmten Band, den Red Hot Peppers, nehme ich gerade einige neue Schallplat ten auf.« »Hat es in Johnnys Band Unstimmigkeiten gegeben? Auseinander setzungen vielleicht?« Morton schüttelte den Kopf. »Davon ist mir nichts bekannt. Er hat nie etwas Derartiges erwähnt. Und wir haben über alles gesprochen.« »Über alles? Hat er keine Probleme erwähnt?« »Nein.« »Wann spielt seine Band wieder im Storyville?« »Regelmäßiger Termin ist der Samstag. Ob es diesmal stattfinden wird, weiß ich allerdings nicht.« »Ich hatte vor, mich heute Abend schon mal dort umzusehen«, sagte ich. »Tun Sie das. Es spielt keine Band. Sie haben dann alle Ruhe der Welt. Im Übrigen möchte ich Ihnen noch einen guten Rat geben.« »Ja?«, entgegnete ich, trank den Rest meines Café Brulôt und sah den Erfinder des Jazz über den Rand der Tasse hinweg an. »Sprechen Sie mit dieser Frau über ihn. Sie ist an allem schuld. Sie hat ihn verführt und er war nicht mehr er selbst. Ich bin sicher, bei ihr liegt der Schlüssel für seinen tragischen Tod.« 40
Ich starrte ihn an. »Sie reden von...« Ich zögerte, wollte es nicht glauben. »Einer Mistress Shanahan«, sagte er und nickte. »Mistress Hea ther Shanahan.« * Es war wie im Kino. Rabenschwarze Nacht, nur eine einzige Straßenlampe brannte weit entfernt und meine Schritte hatten ein Echo. Blieb ich stehen, verstummte auch das Echo. Mein Plymouth parkte dort hinten, noch jenseits der Funzel auf ih rem Mast. Zwei Minuten zu laufen, schätzte ich. Jede Menge Zeit für die Verfolger, ihre bösartigen Absichten zu verwirklichen. Der Klavierspieler im Kino hätte bei einem solchen Bild gewaltig in die Tasten gegriffen, um die Dramatik der Situation hervorzuheben. Und der Pianist ließ die tiefen Töne immer machtvoller rollen und grol len, um dann mit einem Schlag abzubrechen. Jähes Entsetzen im Saal. Der Leinwandheld hatte ein Ding auf den Hinterkopf kassiert und sack te in sich zusammen. Ich hatte nicht vor, mir so was antun zu lassen. Schon gar nicht von einfallslosen Strolchen, die keine bessere Idee hatten, als eine Standard-Filmszene zu imitieren. Also machte ich kehrt und ging in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Jetzt hatte ich die ferne Straßenlampe im Rücken und ein schwacher Ausläufer des Lichts ließ mich die Schatten erkennen. Ein wenig hatten sich meine Augen auch an die Dunkelheit gewöhnt. Sie huschten nach links, in einen Hauseingang. Hundert Yard waren es bis zur Peoria Avenue. Dort, vor dem Jazz lokal, hatte ich keinen Parkplatz gefunden. Also war ich abgebogen, in die West 77th Street, statt die Peoria ein Stück weiter hinunterzufah ren. Kein vernünftiger Mensch hätte das gemacht. Jedenfalls nicht in dieser Gegend und nicht abends. Dies war immerhin die South-Side von Chicago. Aber mein irischer Starrsinn kam eben immer zum fal schen Zeitpunkt durch. 41
Ich tat das, was die Schatten garantiert am allerwenigsten erwar teten. Ich schwenkte nach links, auf ihren Hauseingang zu. Während ich das tat, glaubte ich, dort, unter all den dunklen Wohnungsfenstern, zwei erschrockene helle Flecken zu erkennen. Die Gesichter meiner Verfolger. Schnell und entschlossen rückte ich ihnen auf den Pelz. Sie konnten nicht weg. Die Tür in dem etwas zurückliegenden Eingang war abgeschlossen. Als einzige Möglichkeit blieb den beiden Kerlen, sich nach links und rechts in die Mauernischen zu drücken. »Da bin ich«, sagte ich und tippte an die Hutkrempe. »Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?« »Bist du Connor?«, fragte der in der linken Ecke zurück. »Pat Connor, Privatschnüffler?« »Ja, bin ich«, antwortete ich und staunte nicht schlecht. Doch davon ließ ich mir nichts anmerken. Mich hatte im Storyville kein einziger Mensch gekannt. Woher wussten diese Burschen meinen Namen? Dass sie mir vom Storyville aus gefolgt waren, stand für mich fest. War ich etwa schon so berühmt geworden, dass mich Leute kannten, die ich noch nie gesehen hatte? »Du bist es wirklich?« »Ja, doch.« »Nicht irgendeiner, der uns ablenken soll?« »Nein, Sie haben das Original vor sich, Gentlemen.« »Dann bist du jetzt dran«, teilte der aus der rechten Ecke mit. »Sehe ich anders«, entgegnete ich, aber das interessierte die bei den nicht. Denn der Linke startete bereits durch. Stieß sich mit dem Fuß von der Wand ab und brachte die Fäuste zur Attacke hoch. Ein matter Re flex entstand. Mich packte die kalte Wut. Der Kerl benutzte einen Schlagring, verdammt. Ich ließ ihn kommen und tauchte weg. Gleichzeitig behielt ich den Rechten im Auge. Er machte Anstalten, seinen Partner zu un terstützen. Die eisenbewehrte Faust zischte über mich hinweg und riss mir den Hut vom Kopf. Die zweite Faust traf meine Schulter. Weil der Hieb schräg von oben kam, brachte er mich kaum aus der Richtung. 42
Immer noch geduckt, warf ich mich nach links und kam neben dem Kerl hoch. Von der Seite her verpasste ich ihm einen Trommelwirbel von Fausthieben. Die Dinger erwischten ihn betonhart in der weichen Körpermitte und schleuderten ihn gegen den zweiten Schläger. Der Anprall rammte ihn mit dem Rücken an die Wand. »Hierher!«, schrie er, den Blick ins Dunkel der anderen Straßen seite gerichtet. »Manny! Willie! Hierher! Los kommt schon, beeilt euch!« Vermutlich handelte es sich um den ältesten Trick der Welt, den der Kerl da anzuwenden versuchte. Wenn es so war, existierten Manny und Willie gar nicht. Deshalb tat ich ihm nicht den Gefallen, mich um zudrehen. Vielmehr verwendete ich meine ganze Energie darauf, sei nen Schlagringpartner sicher ins Traumland zu befördern - und dann auch ihn. Der Bewusstlose kippte ihm vor die Schienbeine und der Mann von der rechten Ecke verlor das Gleichgewicht. Aufwärtshaken-freundlich sank er mir entgegen. Zweimal langte ich hin und erwischte ihn auf den Punkt. Mehr war schon nicht mehr nötig. Er faltete sich über sei nem Versager von einem Komplizen zusammen. Meine Überheblichkeit sollte mir schlecht bekommen. Hinter mir näherten sich plötzlich Schritte. Schnelle Schuhsohlen auf dem Bürgersteigbeton. »Verdammt«, fluchte ich. Manny und Willie gab es wirklich. Ich wollte herumwirbeln. Den Ansatz der Bewegung kriegte ich noch hin. Doch im selben Augenblick zischte etwas aus der Dunkelheit auf mich herab. Etwas verflucht Hartes. Das merkte ich, als der Hieb mich über dem rechten Ohr traf. Mein Kopf explodierte. Ich versank in totale Schwärze. Immerhin schwanden mit dem Bewusstsein auch die Schmerzen, die über mei nem Ohr loszubrüllen begannen. Aber sehr lange konnte dieser Traumzustand nicht angehalten ha ben, denn als ich erwachte, hatten sie mich gerade mal in den Fond eines Autos verfrachtet und mir eine Ganzkörperfesselung angedeihen lassen. 43
Der Putzlappen, den sie mir als Knebel in den Mund gestopft hat ten, schmeckte nach Öl und Benzin. Die Augenbinde strömte den glei chen Geruch aus. Dass ich auf einer ledergepolsterten Sitzbank lag, er fuhr ich lediglich durch meinen Geruchssinn. Der Wagen fuhr los. Die Stimmen, die ich von vorn hörte, kannte ich nicht. Es mussten also Manny und Willie sein. Verstehen konnte ich sie ohnehin nicht, weil meine Schmerzen wieder einsetzten. Ich verfiel in einen seltsamen Dämmerzustand zwi schen Bewusstsein und Ohnmacht. Die Schmerzen wurden zum Dau erzustand und ich sank in eine Art Delirium. Viel Zeit blieb mir dafür nicht, denn die Fahrt war so schnell zu Ende, wie sie begonnen hatte. Wie durch einen Wattebausch kriegte ich mit, was sich abspielte. Das Auto hielt an, Manny und Willie hatten es offenbar sehr eilig mit dem Aussteigen. Denn ich kam kaum zum Nachdenken, da rissen sie schon eine der Fondtüren auf. Einer ergriff meine Fußgelenke und zog mich von dem Sitz. Der andere packte mich unter den Oberarmen, bevor ich mir den Kopf auf dem Boden einschlagen konnte. Ich hätte eigentlich darüber staunen müssen, dass sie mich anscheinend nicht töten wollten. Aber auch dazu kam ich nicht mehr. Sie warfen mich auf eine Art zerklüfteten Untergrund, der unter meiner Last schepperte und knirschte. Spitze und kantige Teile bohr ten sich in meinen Rücken. Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder hellwach. Doch bevor ich richtig zur Besinnung kam, zerrten sie an mir herum. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie die Fesseln mit einem Messer durchtrennten. Die Blutzirkulation setzte schlagartig wieder ein und verursachte stechende Schmerzen in meinen Gelenken. Bewegen konnte ich nichts. Noch fühlte ich mich wie gelähmt. Sie zo gen mich auf die Beine. »Jetzt hör gut zu, Schnüffler«, zischte der eine. Seine Stimme war tief. Ich beschloss, dass er Willie war. »Was wir dir zu sagen haben, hörst du nur dieses eine Mal«, fügte der andere - Manny also - drohend hinzu. »Ein nächstes Mal gibt es nämlich nicht.« »Weil du dann tot bist«, grollte Willie. »Du hast noch diese eine Chance. Lass dich nie wieder im Storyville blicken.« 44
Ich gab einen gurgelnden Laut von mir, den sie meinetwegen als Einverständniserklärung auffassen konnten. Denn ich war dem Zu stand nahe, in dem mir alles egal sein würde. Weil ich den verdamm ten Kerlen nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Ich war ihnen ausge liefert. Sie konnten mir den letzten Knochen im Leib brechen und ich würde es nicht verhindern können. »Diesmal kommst du noch mit einem blauen Auge davon«, zischte Manny in mein Ohr. »Aber glaube bloß nicht, dass das nächstes Mal genauso sein wird.« »Nächstes Mal«, höhnte Willie, »übernehmen unsere Kameraden von der Tommy-Gun-Fraktion deinen Fall. Und dann, Connor, bleibt von dir nichts Brauchbares mehr übrig. Darauf kannst du dich verlas sen.« Ich wusste, dass er keine leeren Versprechungen machte. Aber ich konnte es ihm ja nicht sagen. Und jetzt waren sie an einem Gespräch ohnehin nicht mehr interessiert. Denn auf einmal prasselten ihre Fäus te auf mich ein und ich verwandelte mich in einen einzigen glühenden Klumpen aus Schmerz. Dass ich wieder auf diese scharfkantigen Teile fiel, merkte ich schon nicht mehr. Denn diesmal verlor ich vollends das Bewusstsein. Auch das davonfahrende Auto hörte ich nicht mehr. * Erst als ich wieder zu mir kam, begriff ich nach und nach, dass ich allein war. Schmerzen tobten mit unverminderter Gewalt durch meinen Körper. Mein Kopf dröhnte und schien explodieren zu wollen. Ich brauchte endlos lange, bis ich kapierte, dass ich mich bewegen konn te. Um mich herum war es stockfinster und mein Mund war ausgefüllt von dieser Geschmacksmischung aus Benzin und Schmieröl. Wieder dauerte es ewig, bis mir klar wurde, dass ich eine Augenbinde trug und dass in meinem Mund ein Knebel steckte. Beides zu beseitigen war dann wiederum eine leichtere Übung. Ich lag auf einem Haufen Schrott. Es waren rostige Eisenteile, die bei jeder Bewegung ihre Lage veränderten und dabei quietschten und knarrten. Irgendwo war Licht, sehr schwach zwar, aber es half mir, 45
mich zu orientieren. Mühsam, im Schneckentempo, kroch ich von dem Schrotthaufen herunter. Ich biss die Zähne zusammen, als ich den schrundigen Betonboden am Rand des Haufens erreichte. Taumelnd kam ich auf die Beine. Etwas hämmerte von innen gegen meine Schä deldecke, in einem immer schnelleren, pulsierenden Rhythmus. Im gleichen Rhythmus wogte die Glut der Schmerzen in mir auf und ab. Aber ich mobilisierte meine Willenskraft und sie war stärker. Das Licht stammte von einer Straßenlaterne. Ich torkelte darauf zu und stieß auf einen Zaun, an dem ich mich festhalten konnte. Ich befand mich auf dem Gelände einer verlassenen Autowerkstatt. Das folgerte ich aus einer Ansammlung von dahinrostenden Fahrzeug wracks, die ich jetzt erblickte. Ich hangelte mich an dem Zaun entlang, bis ich auf das offene Tor stieß, durch das meine Peiniger herein- und hinausgefahren sein mussten. Die Umgebung bestand aus Abbruchgrundstücken, die offenbar neu bebaut werden sollten. Aber ich hörte Verkehrslärm. Motorenge räusche. Also war ich noch in der Stadt. Ich wankte auf den von Un kraut überwucherten Bürgersteig hinaus und suchte erneut Halt an dem Zaun. Auf diese Weise arbeitete ich mich in die Richtung voran, aus der ich das Rauschen des Verkehrs hörte. Meine Kräfte ließen nach. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich unterwegs gewesen war, als die Bürgersteigplatten auf mich zukamen und mir vor den Latz knallten. Ich kämpfte gegen die Schwärze der Bewusstlosigkeit an und merkte noch, dass Scheinwerferlicht mich erfasste. Erschrockene Stimmen drangen noch in mein Gehör. Als ich hörte, dass es freundliche Stimmen waren, gab ich meinen Widerstand auf. Ich ließ mich in die schmerzfreie Schwärze der Bewusstlosigkeit sinken. * Ein Leichenschauhaus ist kein angenehmer Ort. Vor allem dann nicht, wenn man trotz Kaffee, Toast und Bacon zum Frühstück immer noch Benzin und Schmieröl schmeckt. Auch eine 46
schwellende Beule über dem rechten Ohr ist alles andere als stim mungsfördernd. Wenn einem dann aber ausgerechnet noch ein Mensch wie Lieu tenant Quirrer begegnet, möchte man am liebsten auf der Stelle kehrtmachen. Ich jedenfalls. Der schlanke blonde Polizeibeamte grinste voller Vorfreude, als er mich in der Eingangshalle erblickte. Seine Vorfreude galt der Aussicht, mir einen Tritt in den Hintern zu verpassen. Symbolisch jedenfalls. Denn wo er den Palastwächter gab, hatte ich natürlich keinen Zutritt. Glaubte er. Johnny Hobbs wurde an diesem Vormittag obduziert. Es war nicht schwierig gewesen, das herauszufinden. Ein bisschen durch die Flure und Büros des Polizei-Hauptquartiers streifen, nach sehen, wer abwesend ist, den Anwesenden auf die Nerven gehen und schon hat man die Information, die man braucht. Captain Hollyfield und sein Team nahmen als Zeugen an der Ob duktion des Mordopfers Hobbs teil. »Was haben Sie hier zu suchen?«, riss der Kettenhund des Cap tains mich in die Wirklichkeit zurück. »Meinen Stock«, antwortete ich und bewegte den Kopf schnüf felnd hin und her. »Mein Herrchen hat ihn hier rein geworfen.« Quirrers Miene verdüsterte sich. »Mein lieber Connor«, knurrte er und meinte selbstredend das Gegenteil. Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, baute er sich vor mir auf. »Solche Bemerkungen könnten unter Beamtenbeleidigung fallen. Im weitesten Sinne. Also reißen Sie sich zusammen. Verstanden?« »Yes, Sir!«, schnarrte ich militärisch und war drauf und dran, die Hacken zusammenzuknallen. Doch ich ließ es lieber. Vielleicht hätte er auch das als Beamtenbeleidigung gewertet. Im weitesten Sinne. Durch Quirrers Anwesenheit war die geflieste Eingangshalle etwa so behaglich wie eine Gletscherspalte. Daran vermochte auch der Cop nichts zu ändern, der im Hintergrund neben dem Durchgang zu den Diensträumen Wache schob. Er grinste respektlos und zwinkerte mir zu. Bestimmt baute er darauf, dass ich nicht zurückgrinste. Denn dann wäre er geliefert gewesen. 47
Aber ich haute ihn nicht in die Pfanne. Die vielen Freunde im Po lice Department hatte ich deshalb, weil man sich auf mich verlassen konnte. »Also noch mal«, bellte Quirrer mich an. »Was wollen Sie hier? Ein Auftrag?« Er musste sich rückversichern. So einfach rausschmeißen konnte er mich denn doch nicht. Er wusste letzten Endes, dass ich bei seinem Vorgesetzten einen Stein im Brett hatte. »Ja«, antwortete ich und letztlich war das keine Lüge. Damit er nicht noch mal nachfragen musste, fügte ich hinzu: »Es geht um Johnny Hobbs, den ermordeten Klarinettisten. Der wird doch gerade obduziert, nicht wahr?« »Wurde«, verbesserte Quirrer mich schadenfroh. »Da müsst ihr Schnüffler schon etwas früher aufstehen, wenn ihr mit der arbeitenden Bevölkerung mithalten wollt.« Es war neun Uhr morgens, für meine Begriffe noch nicht wirklich spät. Und es war die Zeit, in der allgemein eine Pause eingelegt wur de. Das galt auch für Gerichtsmediziner und Sektionsgehilfen. Quirrer wollte mich für dumm verkaufen. Nie im Leben war die Obduktion schon beendet. Trotzdem ging ich auf sein Spiel ein. »Na, dann«, sagte ich. »Wenn nichts mehr stattfindet, gibt es ja auch nichts mehr geheim zu halten.« »Die Ermittlungen im Fall Hobbs sind noch nicht abgeschlossen«, widersprach Quirrer streng. »Es gibt noch keinen Termin für eine Pres sekonferenz. Also gibt's auch für Sie keine Informationen, Connor.« »Wollen Sie mich mit der Presse gleichstellen?« Er grinste. »Ach, Sie meinen, Sie gehören noch eine Stufe drun ter?« Ich grinste zurück. »Mal eine Frage, Lieutenant. Was wird ein Cop, wenn er nicht mehr Cop sein kann? Zum Beispiel, wenn er gefeuert wird, weil er silberne Löffel geklaut hat? Oder wenn er nach seiner Pensionierung die Rente aufbessern will?« »Kommen Sie mir nicht damit, Connor.« Quirrer machte eine un willige Handbewegung. »Ich weiß, dass viele Kollegen Privatdetektiv werden. Aber das heißt noch lange nicht, dass euch beim Police De partment alle Türen offen stehen.« 48
Ich nickte. »Sie werden schon aufpassen, dass das nicht pas siert.« »Worauf Sie sich verlassen können«, knurrte Quirrer. »Im Übrigen wüsste ich nicht, was der Fall Hobbs Sie angeht.« »Das werde ich Ihnen auch nicht auf die Nase binden«, giftete ich zurück. Allmählich ging der Kerl mir auf die Nerven. »Ich verlange...« »Sie verlangen?«, unterbrach Quirrer mich schneidend. Er wippte auf den Zehenspitzen, die Fäuste unverändert in den Hüften. Seine Stimme steigerte sich zum Brüllen. »Sie sind zur falschen Zeit am fal schen Ort, Connor. Hauen Sie endlich ab, oder ich lasse Sie wegen Be hinderung polizeilicher Ermittlungen festnehmen.« Ich blieb unbeeindruckt. »Ich verlange, Captain Hollyfield zu spre chen«, sagte ich ruhig und behauptete: »Ich bin mit ihm verabredet.« Der uniformierte Wachtposten beim Durchgang hob lässig die Hand. »Ich sehe mal nach, wo er steckt. Augenblick.« Ohne eine Ant wort abzuwarten, marschierte er los, in den Durchgang hinein. Quirrer wirbelte herum. »Officer!«, schnaubte er. »Kommen Sie sofort zurück! Was fällt Ihnen ein, einfach abzu...« Er brach ab, denn der Cop war längst in einem der abzweigenden Gänge verschwunden. »Lieutenant«, sagte ich besänftigend. »Wozu die Aufregung? Ha be ich irgendetwas getan, was den polizeilichen Dienstablauf stört? Oder glauben Sie im Ernst, dass ich etwas Derartiges vorhabe?« Er nickte. »Ich kenne Sie, Connor. Es wäre nicht das erste Mal, dass Sie uns ins Handwerk pfuschen.« Ich schüttelte den Kopf und lächelte. »Sehen Sie es doch mal sachlich. Ich habe die Ermittlungen Ihrer Abteilung noch nie behindert. Im Gegenteil. Ich habe Sie und Ihre Kollegen immer über den Stand der Dinge informiert.« In erster Linie hatte ich natürlich seinen Vorgesetzten informiert. Denn mit Captain Hollyfield konnte ich gut zusammenarbeiten. Was Lieutenant Quirrer sauer auf stieß, war die Tatsache, dass ich fast im mer der schnellere Ermittler war. Das brachte Quirrer & Co erst recht auf die Palme. »Wissen Sie was«, sagte er ärgerlich. »Sie drehen sich immer alles so hin, wie es Ihnen am besten in den Kram passt.« 49
»Zugegeben«, antwortete ich. »Das ist die wahre Kunst des Le bens, Quirrer.« Er sah mich an, als hätte ich plötzlich angefangen, Hindi zu reden. Ihm fiel kein Gegenargument mehr ein. Doch wir kamen mit unserem Austausch von Nettigkeiten ohnehin nicht weiter, denn im Korridor nä herten sich jetzt Schritte und gleich darauf erschien Captain Hollyfield in Begleitung des Cops. Ich bedankte mich bei dem Mann mit einem freundlichen Nicken, nachdem ich Lieutenant Quirrer kurzerhand stehen gelassen hatte und dem Captain entgegenging. »Guten Morgen, Connor«, sagte er und gab mir die Hand. Ich konnte den Gruß nur stumm erwidern, denn hinter mir melde te sich der Lieutenant zu Wort. »Ich hätte den Mann nicht durchgelassen, Sir, Ihren Anweisungen entsprechend.« »Danke, Quirrer«, antwortete Hollyfield väterlich. »Da haben Sie genau richtig gehandelt. Wenn ich eine Ausnahme machen will, sage ich es schon. Wie in diesem Fall.« Er wandte sich mir zu. »Ich wollte gerade einen Kaffee trinken. Wie ist es mit Ihnen?« »Genau der richtige Zeitpunkt«, antwortete ich. »Mein Koffein spiegel sinkt schon wieder.« »Na, dann«, sagte Hollyfield und wir marschierten los, in die Rich tung, aus der er gekommen war. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Quirrer uns nachstarrte und den Mund nicht wieder zukriegte. Im Anbau des Leichenschauhauses gab es eine Kantine für das Personal. Zwei Minuten nach meiner Begegnung mit Lieutenant Quirrer saßen Captain Hollyfield und ich uns dort gegenüber. Wir hatten einen Ecktisch erwischt, an dem wir ungestört reden konnten. Etwa die Hälf te der übrigen Tische war besetzt. Die meisten Angestellten hatten Zeit für eine Pause, wie ich vermutet hatte. Ich nippte vorsichtig an dem dampfenden Kaffee, verbrannte mir erwartungsgemäß die Lippen und zündete mir eine Lucky an. Hollyfield bediente sich aus seiner Camel-Packung und blickte dem kunstvollen Rauchring nach, den er produziert hatte. 50
»Bevor Sie etwas von mir erfahren«, sagte er, »höre ich erst mal zu.« Ich berichtete ihm von meinem Zusammentreffen mit Harry Tib bett und dessen unrühmlichem Ende in der West Chestnut Street. Hollyfield zog an seiner Zigarette und nickte nachdenklich. »Jetzt haben Sie mir die unwichtigen Sachen erzählt. Was ist mit den wich tigen?« »Die gibt es leider noch nicht.« »Ah, kommen Sie, Connor!« Der Captain lehnte sich zurück. »Sie haben herumgehorcht, um herauszufinden, was mit Johnny Hobbs' Leiche passiert. Jetzt erzählen Sie mir nicht, dass es ein unerklärlicher Zufall war, der Sie gestern Abend ins Storyville getrieben hat.« Ich trank einen Schluck Kaffee und lächelte über die Tasse hin weg, bevor ich sie absetzte. »Von einem Zufall habe ich nichts ge sagt.« »Okay. Lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Sie haben einen Auftrag. Richtig?« »Ja.« »Für den Fall Hobbs.« »Ja.« »Von wem?« »Der Auftrag ist anonym. Selbst wenn ich wollte, könnte ich Ihnen den Auftraggeber nicht nennen.« Hollyfield schüttelte energisch den Kopf und zerstampfte den Ziga rettenrest im Aschenbecher. »Das kaufe ich Ihnen nicht ab, Connor. Und ich warne Sie. Sie stehen mit einem Bein vor Gericht, wenn wir es hier mit Strafvereitelung oder Verdunkelung zu tun haben sollten.« »Haben wir nicht«, entgegnete ich. »Keine Sorge. Ich gebe Ihnen alles, was ich weiß. Nur den Namen des Auftraggebers nicht.« »Weil er es zur Bedingung gemacht hat?« »Exakt.« »Macht ihn das nicht verdächtig?« »Captain«, sagte ich entrüstet. »Haben Sie schon mal erlebt, dass ein Mörder einen Privatdetektiv beauftragt, um sich selbst überführen zu lassen?« 51
Hollyfield winkte ab. »Schon gut. Vergessen Sie es. Hobbs hatte keine Angehörigen, soweit ich weiß. Oder hat sich jemand aus New Orleans bei Ihnen gemeldet?« Ich verneinte. »So weit reicht mein Ruhm nicht.« »Das glaube ich Ihnen sogar«, erwiderte der Captain. »Was wir bislang haben, sind zwei Projektile aus dem Körper des Klarinettisten. Zwei Steckschüsse, von denen einer das Herz traf, der andere die linke Schulter, eine Handbreit über dem Herz. Eine dritte Kugel hat seinen Kopf durchschlagen. Aber die werden wir wahrscheinlich nie finden.« »Und die beiden sichergestellten Kugeln?«, fragte ich. »Kennen Sie das Kaliber?« »Ja. Es sind 38er-Geschosse. Revolvermunition.« »Also Teilmantelprojektile. Wahrscheinlich aus einem Smith & Wesson.« »Es sieht ganz danach aus.« »Lassen Sie sie untersuchen?« »Aber natürlich«, antwortete Hollyfield. »Wozu haben wir die Möglichkeit?« Vor zwei Jahren, im April 1925, war in New York das ›Bureau of Forensic Ballistics‹ gegründet worden. Eine Zweigstelle gab es inzwi schen auch in Chicago und den meisten anderen amerikanischen Großstädten. Diese Einrichtung bedeutete für alle Ermittlungsbehörden einen Riesenfortschritt. Denn die Wissenschaftler des Bureau hatten eine Methode entwickelt, die unverwechselbaren Merkmale einer abge feuerten Kugel mit mikroskopischen Mitteln festzuhalten. Der Vergleich mit Kugeln, die probeweise aus einer verdächtigen Waffe abgefeuert wurden, wurde bei Übereinstimmung als beweiskräftig gewertet. »Das bedeutet also«, folgerte ich, »wenn Sie die Tatwaffe haben, haben Sie den Mörder.« »Richtig«, bestätigte der Captain. »Wenn Sie das Schießeisen vor uns finden, Connor, wird Quirrer vor Wut in seinen Stetson beißen.« »Aussichten, die anspornen«, erwiderte ich und grinste. * 52
Ich war gespannt, ob es ein Wiedersehen geben würde. Diesmal fand ich einen Parkplatz an der Peoria Avenue, obwohl es ein Samstagabend war. Aber es war erst kurz nach acht, also früh für einen Jazzclub. Die Sache mit dem Wiedersehen hatte nur den einen Haken: Ich kannte meinen Gegenpart nicht. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer derjenige war, mit dem ich bei meinem letzten Besuch im Storyvil le die Ehre gehabt hatte. Zu vermuten war außerdem, dass der Betref fende sich mir nicht zu erkennen geben würde. Jemand, der einem Mitmenschen seine Kidnappertruppe auf den Hals schickt, bleibt meis tens lieber im Verborgenen. Der Eingang des Storyville war gut beleuchtet. Hinter dem bogen förmigen Schriftzug prangte ein gemaltes Wandbild, das eine Straßen szene aus New Orleans zeigte. Das bekannte Motiv. Im Vordergrund der dicke afroamerikanische Zeremonienmeister im schwarzen Anzug mit roter Schärpe und einem bunten Sonnenschirm, dahinter die Jazz band, begleitet von Tanzenden und Lachenden. Hohe Palmen säumten die Straße und die Häuser hatten Rundum-Balkone mit verschnörkel ten gusseisernen Geländern. Der Portier war eine gelungene Kopie des Zeremonienmeisters auf dem Wandbild. Auch der Sonnenschirm fehlte nicht, war allerdings an einem Ständer befestigt. Auf diese Weise schwebte der Schirm ständig wie ein großer bunter Heiligenschein über dem Mann. Außer einer Verbeugung bestand seine einzige Reaktion aus ei nem Lächeln und einem gemurmelten ›wünsche einen schönen A bend‹, nachdem ich ihm einen Quarter in die Hand gedrückt hatte. Das Storyville lag im Souterrain. Ein paar Treppenstufen, mit rotem Teppich ausgelegt, führten in ein Foyer mit matten Wandlampen, Ma hagonitäfelung und dunkelroten Samtvorhängen. Gut sichtbar aufge stellt war eine Tafel mit einem Plakat der Tuxedo Syncopators und dem Hinweis, dass sie heute Abend in diesem Lokal zu hören sein würden. Ich übergab meinen Hut einer Garderobenfrau und setzte meinen Weg fort. Der Maître im Eingang zum Club sah aus wie ein Zwillingsbruder des Portiers. Ich ließ einen weiteren Quarter springen und erklärte, 53
dass mir ein Platz an der Bar genügen würde. In Wahrheit gab es nichts Besseres für mich, denn ich war ja nicht wegen der Musik hier, sondern wegen des Überblicks. Den hatte ich an der endlos langen Theke, die auf einem Podium unter einer Art Säulendach stand und rechts vom Eingang fast die ge samte Wandlänge einnahm. Gegenüber, auf der anderen Seite des schummrig beleuchteten Clubs, befand sich die Bühne. Der Vorhang war noch geschlossen. In der Senke zwischen Bar und Bühne waren die Stühle in Reihen angeordnet, fast wie im Kino, nur mit Tischen vor den Plätzen. Vor den Tischreihen gab es eine Tanzfläche, die bis zur Bühne reichte. Ich hatte die freie Auswahl aus der hingen Reihe der ledergepols terten Hocker, denn ich war hier oben tatsächlich der erste Gast. Ich entschied mich für einen Platz etwa in der Mitte, wo ich einen guten Überblick hatte. Keine der schwarzen Holzsäulen stand mir im Weg. Fünf Bardamen warteten hinter dem blank polierten Messing des Tre sens auf ihren Einsatz. Die Girls hatten einheitliche schwarze, wie ge lackt aussehende Pagenköpfe. Ihre silbern schimmernden Kleider wa ren so kurz, dass sie sich keinesfalls bücken durften, wollten sie nicht Ärger mit der Sittenpolizei bekommen. Das Storyville gehörte zu den besseren Lokalen, in denen es an nichts mangelte, vor allem nicht an alkoholischen Getränken. Hier war die Prohibition ausgesperrt, die fand nur draußen in der rauen Welt statt. Möglich wurde das einzig und allein durch Bestechung. Die Ei gentümer solcher Bars und Nachtclubs gehörten ausnahmslos der Ma fia an und zu ihren Stammgästen zählten sie die führenden Beamten der Polizei ebenso wie Politiker und leitende Verwaltungsleute. Lo gisch, dass in derart gehobenen Läden keine Razzien stattfanden. Unten in den Sitzreihen hatten sich bislang nur etwa zwei Dutzend Leute niedergelassen. Zumindest bei den Ladys herrschte Abendgarde robe vor. Neueste Hutkreationen und Stolen garnierten kostbare Klei der und Zigarettenspitzen aus Gold und Silber blitzten im matten Licht. Den Gentlemen blieb meistenteils nur der Pinguin-Look, während eini ge von ihnen sich sogar mit einfacheren Anzügen begnügten. Dazu 54
gehörte auch ich mit meinem schlichten Straßengrau plus Schlips und Kragen. Eine der Fünflinge hinter der Bar bewegte sich auf mich zu. Ich belohnte ihr Lächeln, indem ich einen Bourbon bestellte, steckte mir eine Lucky an und wandte mich dem Geschehen im Zuhörerraum zu. Der Laden füllte sich allmählich. Ich nahm meinen Drink entgegen, nippte und genoss ohne jede Reue die Wärme, die sich in mir ausbrei tete. Dank der Vorschusszahlung meiner neuen Klientin brauchte ich mir um die Bezahlung des teuren Import-Tropfens keine Gedanken zu machen. Der Geschmack von Benzin und Öl war endlich aus meinem Mund verschwunden. Auch über dem rechten Ohr war außer meinem rötlichen Haar kaum noch etwas zu sehen. Die Schwellung war nahezu vollständig abgeklungen. Bislang hatte mich niemand beachtet und mein Anblick hatte auch niemanden geschockt. Trotzdem hoffte ich weiterhin darauf, dass je mandem vor Schreck der Unterkiefer ausklinkte, wenn er mich sah. Natürlich hatte über meinen Ausflug mit den Gentlemen namens Willie und Manny nichts in der Zeitung gestanden. Aber der Auftraggeber hatte bestimmt die erwartete Vollzugsmeldung erhalten. Und er war davon ausgegangen, dass die Aktion ihre beabsichtigte Wirkung auf mich erzielt hatte. Stattdessen mich zu erblicken, noch dazu putzmun ter, musste für den Betreffenden der reinste Paukenschlag sein. Das Programm begann um halb neun, während immer noch Leute hereinströmten. Ich schätzte, dass der Laden ungefähr 200 Personen fasste. Während der Bühnenvorhang auseinander glitt, begann die Band zu spielen. Das erste Stück war schnell und mitreißend. Die Luft be gann zu vibrieren. Schon von den ersten Tönen an sprang ein Funke auf die Zuhörer über. Begeistert wippten sie im Takt, stimmten anfeu ernde Rufe an und klatschten schon nach dem ersten Chorus Beifall. Selbst ich als Laie spürte, dass diese Kapelle um Längen besser war als alles, was ich bislang gehört hatte. Ich hatte die letzten Tage genutzt, um mich ein bisschen schlau zu machen. Immerhin war der Jazz für mich unbekanntes Terrain ge wesen. Nun aber kannte ich mich schon ein bisschen besser aus. 55
Die Tuxedo Syncopators spielten jenen neuen Stil des Jazz, den der große Kornettist Joe ›King‹ Oliver und sein Schüler Louis Arm strong hierin Chicago begründet hatten. Das war vor vier Jahren ge wesen, als Olivers berühmte Creole Jazzband in den Lincoln Gardens Begeisterungsstürme entfacht hatte. Die Tuxedo Syncopators spielten in jener Acht-Mann-Besetzung, wie sie King Oliver 1923 populär gemacht hatte: zwei Kornetts, Klari nette und Posaune in der Bläsergruppe sowie Kontrabass, Klavier, Te norbanjo und Schlagzeug in der Rhythmusgruppe. An der Rückseite der Bühne hing ein Transparent mit dem Namenszug der Band, doch es gab keinerlei Hinweis auf den ermordeten Klarinettisten Johnny Hobbs. Seinen Platz in der Frontline der Band hatte ein junger schwarzhaariger Mann eingenommen. Ein Weißer. Ich schätzte ihn auf 18 bis 20 Jahre. Bis auf den Posaunisten waren die übrigen Mitglieder der Band Schwarze. Wenn ich den Posaunisten richtig einstufte, war auch er kein Weißer, sondern ein hellhäutiger Kreole. Einmal, während die Band spielte, schien er mich anzusehen. Doch das täuschte sicher lich. Nach dem ersten Stück toste der Beifall. Während die Musiker auf standen und sich verneigten, verließ ein elegant gekleideter Mann sei nen Platz in der ersten Publikumsreihe und betrat die Bühne. Ich war von den Socken. Denn ich kannte den Mann. Armande Desalvo. Was, in aller Welt, hatte der Kerl hier zu suchen? Ich drehte mich um und winkte eine Bardame heran. Ich bestellte einen zweiten Bour bon und fragte sie, wer der Mann auf der Bühne sei. »Das ist Mister Desalvo«, antwortete sie und reichte mir den neuen Drink. »Unser Chef. Ihm gehört das Storyville.« Ich bedankte mich mit einem Nicken und wandte mich wieder der Bühne zu. Desalvo hob gönnerhaft die Hände, verbeugte sich, bedank te sich. Der Beifall, der mittlerweile ihm galt, hielt an. Er war mittel groß, leicht übergewichtig und hatte pomadenglattes schwarzes Haar. Sein Gesicht glänzte speckig im Rampenlicht. Ich konnte mir nicht vor stellen, dass ein Mann wie er aufgeregt war. Doch es schien tatsäch lich so zu sein. Er zupfte ein blütenweißes Tuch aus der Brusttasche 56
seines Jacketts und tupfte sich den Schweiß von der Stirn, lachte unsi cher und machte dämpfende Handbewegungen. Armande Desalvo, der Unterboss. Soweit ich wusste, gehörte er in der Italienergang von Benito ›Il Cardinale‹ Rigobello zu den wichtigs ten seines Ranges. »Ladies and Gentlemen«, rief Desalvo, als endlich Ruhe einkehrte. »Danke, vielen Dank - auch und vor allem im Namen der Band!« Er trat zur Seite und wies mit einer ausladenden Armbewegung auf die Musiker. Das löste einen erneuten Beifallssturm aus. Die acht Männer hatten inzwischen ihre Instrumente abgestellt und erhoben sich aber mals. Dann, nachdem der Beifall verklungen war, blieb Desalvo an der Seite der Bühne stehen, ganz in der Nähe des Klarinettisten. »Nochmals - vielen, vielen herzlichen Dank, Ladies and Gentle men«, erklärte er salbungsvoll. »Mit Ihrer Anwesenheit bestätigen Sie meinen Freunden von der Band, den Mitarbeitern hier im Storyville und natürlich mir selbst, dass wir richtig gehandelt haben. The show must go on, heißt es bekanntlich und nach dem Grundsatz haben wir uns gerichtet. Ich denke, ich spreche Ihnen aus dem Herzen, wenn ich Sie jetzt erst einmal bitte, sich zu Ehren unseres lieben, verstorbenen Freundes Johnny Hobbs von Ihren Plätzen zu erheben.« Alle folgten der Aufforderung, auch ich. Links und rechts von mir taten es die sechs, sieben anderen Gäste, die mittlerweile ebenfalls an der Bar Platz genommen hatten. »Ich danke Ihnen«, sagte Desalvo nach einer Schweigeminute. Nachdem sich alle wieder gesetzt hatten, fuhr er fort: »Wir sind uns klar darüber, dass der Verlust eines hochbegabten Musikers wie John ny Hobbs nicht zu verschmerzen ist. Nach einigen Tagen der Trauer sind die Mitglieder der Band und ich jedoch zu der Überzeugung ge langt, dass der gute alte Johnny gesagt hätte: ›Los, Leute, macht ge fälligst weiter!‹ Ja, wir sind allesamt überzeugt, dass er das gesagt hätte, wenn es einen von uns erwischt hätte.« Die Musiker nickten eifrig beipflichtend. Wieder brandete Beifall auf. Jemand rief: »Bravo, Johnny!«, als ob der Verstorbene soeben aus dem Jenseits gesprochen hätte. 57
»Ich werde jetzt nicht mehr lange reden«, erklärte Desalvo. »Schließlich sind wir hier, um die Musik zu hören, die auch unser Johnny so geliebt hat. Nur eines noch: Ich darf Ihnen seinen Nachfol ger in der Band vorstellen, seinen begabtesten Schüler. Bitte begrüßen Sie als neuen Klarinettisten - meinen Sohn Massimo Desalvo!« Diesmal tobte der Saal. Bravo-Rufe erschollen und zum Klatschen wurde auch noch getrampelt. Der schwarzhaarige junge Mann stand auf und stellte sich schüch tern lächelnd neben seinen Vater. Desalvo-Senior wischte sich von neuem den Schweiß von der Stirn. Kein Wunder, dass er aufgeregt war. Er hatte seinem Sohn einen Platz in einer der besten Jazzbands Chicagos verschafft. Dazu hatte er sich die Band kurzerhand gekauft. So war es üblich. In Gangsterkreisen galt es als schick, die Kultur zu fördern und als Mä zen aufzutreten. Jazzmusiker waren besonders gefragt, weil sie eine hohe Anziehungskraft auf das Publikum hatten. Armando Desalvo hatte es gründlich gemacht und zwar mit Be dacht. Erst hatte er vermutlich das Storyville gekauft. Dann hatte er sich eine Kapelle ausgesucht, für die er als Sponsor auftrat. Was in diesem Fall sicherlich einem Abhängigkeitsverhältnis gleichkam. Die Tuxedo Syncopators waren praktisch sein Eigentum. Von einem Klarinettisten namens Massimo Desalvo hatte ich noch nie etwas gehört. Das wollte allerdings nichts heißen, weil ich ja gera de erst anfing, mich für Jazz zu interessieren. Ich bedauerte, dass Bet ty nicht bei mir war. Sie hätte mir über den Klarinette spielenden Sohn des Unterbosses Desalvo vielleicht mehr sagen können. Wie auch immer - Desalvo hatte seinem Junior einen Platz in der leibeigenen Band verschafft. So sah es jedenfalls aus. Und die Schluss folgerung lag auf der Hand: Der Platz des Klarinettisten hatte erst einmal frei gemacht werden müssen. Hatte Massimos Daddy zu dem Zweck einen Killer beauftragt? Ich traute es ihm zu. Alle Blicke richteten sich auf Mrs. Desalvo, vorn, in der ersten Rei he. Auffordernde Rufe wurden laut, sie solle sich auf die Bühne bege 58
ben. Nach einigem Zögern ließ sie sich überreden und begab sich zu ihrem Mann und ihrem Sohn. Clarabella Desalvo war eine schlanke, schwarzhaarige Schönheit mit glutvollen dunkelbraunen Augen. Sie hatte den klassischen Ge sichtsschnitt einer Römerin und in der Tat stammten ihre Eltern aus der italienischen Hauptstadt. Solche Geschichten erfuhr ich, weil ich gute Freunde bei der Poli zei und bei der Presse hatte. Kein Journalist wagte es jedoch, darüber zu schreiben. Nur positive Berichte waren erlaubt, wenn man nicht den Zorn der Mafia auf sich ziehen wollte. Was dieser Zorn bedeutete, wusste nämlich jeder nur zu gut. Man endete etwa so wie Johnny Hobbs, wenn man sich mit Männern wie Armande Desalvo anlegte. Ich bezweifelte allerdings, dass Johnny mit Desalvo in Streit gera ten war. Die Begeisterung des Publikums kannte unterdessen keine Gren zen mehr. Aus der Nähe des Eingangs stürmte ein Fotograf mit schussbereiter Kamera herbei, dann ein zweiter. Blitze zuckten, als sich die stolzen Eltern mit ihrem Sohn vor der Kapelle aufbauten. Mit strahlendem Lächeln genossen sie das Beifallsjohlen der Menschen. Ich beobachtete die Musiker während des Zeremoniells. Alle schie nen sich genauso zu freuen wie die drei Desalvos. Einige der Musiker klatschten mit dem Publikum. Doch es gab zwei, die weder klatschten noch lächelten. Das waren der Pianist und der Posaunist. Noch wäh rend ich diese Feststellung traf, bemerkte ich erneut den Blick des Po saunisten. Diesmal spielte er nicht und trotzdem sah er in meine Rich tung. Es war nur ein Moment und vielleicht gab es genügend andere Leute im Publikum, die er auf die gleiche Weise ansah. Auf der Bühne hob Armando Desalvo den Arm und sorgte für Ru he. Unter Beifallsgelächter wandte er sich an seinen Sohn, zeigte auf dessen Stuhl und kommandierte: »Auf deinen Platz!« Massimo salutierte albern und gehorchte. Armando schickte Clarabella auf die gleiche Weise an ihren Platz zurück und setzte der Albernheit die Krone auf, indem er den ausge streckten Zeigefinger auf seine eigene Brust bog und befahl: »Auf dei 59
nen Platz!« Bevor er unter donnerndem Applaus die Bühne verließ, rief er: »Viel Spaß mit den Tuxedo Syncopators!« Ich zog erneut die Bardame zu Rate, fragte sie nach einer Beset zungsliste der Band. Es gab einen Handzettel, den sie mir überreichte. Ich bestellte einen weiteren Bourbon. Der Bandleader gab kurze Erklärungen zu den Titeln. Ein Blues müsse keineswegs immer ein langsames Stück sein. So sei das erste, schnelle Stück der ›Canal Street Blues‹ von King Oliver gewesen. Auch der zweite Titel, der berühmte ›South-Side-Blues‹ von Johnny Hobbs, werde nicht langsam, sondern in jenem gemäßigten Stomp-Rhythmus gespielt. Ich verstand zwar so gut wie nichts davon, musste aber immerhin feststellen, dass es sich gut anhörte. Wenn ich den nächsten Besuch im Storyville plante, würde ich auf jeden Fall Betty bitten, mich zu be gleiten. Der Handzettel enthielt einen kurzen Text über die Entstehungs geschichte der Band, eine Beschreibung der stilistischen Merkmale ihrer Musik und letztlich die Namen der Mitglieder. Ich merkte mir den Posaunisten, Carl Otis und den Pianisten, Bill Gavin. Ich faltete den Zettel zusammen und schob ihn in die Innentasche meines Jacketts. Anschließend steckte ich mir eine neue Lucky an und wandte mich wieder dem Zuhörerraum zu. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Unter den neuen Gästen, die ins Lokal strömten, erblickte ich ein Paar, das ich kannte - die Frau persönlich, den Mann von Zeitungsfo tos. Heather und John Joe Shanahan. * Sie setzten sich in die zweite Reihe, gar nicht weit von den Desalvos entfernt. Allem Anschein nach kannten sich die beiden Ehepaare aber nicht. 60
Heather trug einen hellgrauen Topfhut mit einer schwarzen Feder an der Vorderseite. Ihr Kleid reichte bis über die Knie und war eben falls hellgrau, jedoch mit feinen schwarzen Vertikalstreifen durchsetzt. John Joe war ein großer und massiger Mann, ein Schrank von ei nem Kerl mit kantigem Kopf und straff zurückgekämmtem dunkelblon dem Haar. Als er sich beim Hinsetzen kurz umsah, stellte ich fest, dass er eisblaue Augen hatte. Ich konnte ihn mir vorstellen, wie er früher in den Stockyards ein Rind mit der bloßen Faust erschlug. Aus meinem Blickwinkel konnte ich erkennen, dass Heather und ihr Mann häufig die Köpfe zusammensteckten. Wie es aussah, erklärte sie ihm die Musik. Möglich, dass sie ihre Zuneigung zueinander neu entdeckt hatten. Ein anderer Gedanke durchzuckte mich: Was, wenn Heather ihrem Mann alles gestanden hatte? Wenn sie die Karten auf den Tisch gelegt und gesagt hatte: Okay, ich hatte ein Verhältnis mit Johnny Hobbs. Natürlich ist das jetzt alles vorbei, zwangsläufig. Lass uns gemeinsam den Ort besichtigen, an dem alles begann. Dadurch kommen wir am besten darüber hinweg. Wenn es sich so verhielt, konnte ich meinen Auftrag wahrschein lich vergessen. Ich muss es zugeben, in diesem Augenblick war mir der Auftrag wichtiger als Heathers Seelenheil. John Joe trank Bier und schüttelte mehrmals verständnislos den Kopf, nachdem Heather ihm etwas gesagt hatte. Jedes Mal trank sie einen ausgiebigeren Schluck von ihrem Rotwein. So kam es mir jeden falls vor. Nach großer Versöhnung und Neuanfang sah das eigentlich nicht aus. Irgendwann innerhalb der nächsten Stunde hatte ich plötzlich den Eindruck, dass Heather einen Blick mit Carl Otis wechselte, dem Po saunisten. Vielleicht bildete ich mir aber auch das nur ein. Überdies war es ja denkbar, dass Otis im Laufe so eines Abends einfach jeden einmal ansah. Ich vergaß meine Beobachtung daher. Das Wichtigere kam zuerst. Die Frage nämlich, weshalb Heather mit ihrem Mann im Storyville erschienen war. Versuchte sie womöglich, sich aus einem anderen Grund mit ihm zu versöhnen? Sie hatte ihm das Verhältnis gestanden 61
und er hatte ihr gestanden, dass er Johnny Hobbs aus Eifersucht um gebracht hatte? Eine absurde Möglichkeit, zugegeben. Aber die Einfälle der Men schen sind unergründlich, unvorhersehbar und unberechenbar. Ein Privatdetektiv kann noch so fantasievoll sein, mit der Fantasie der Wirklichkeit kann er niemals mithalten. Während die Band sich immer mehr steigerte und die Musik im mer heißer wurde, verlor das Ehepaar Shanahan zunehmend die Con tenance. Heathers und John Joes Gesten wurden heftiger, ihre Mienen angespannter. Heather rauchte bald eine Orientzigarette nach der an deren und noch vor der großen Pause bestellte sie die zweite Flasche Rotwein. Dass so ein guter Roter in diesen Zeiten ein Vermögen koste te, war jedem sinnenfrohen Weintrinker klar. John Joes Bier war ge ringfügig günstiger, doch durch die Mengen, die er konsumierte, kam er preislich wahrscheinlich auf ein Level mit seiner besseren Hälfte. In der Pause, als die Band die Bühne verließ, ging es in den Ge sprächen der meisten Zuhörer um die Musik, um Johnny Hobbs und um seinen Nachfolger. Heather und John Joe Shanahan dagegen hat ten garantiert ein anderes Gesprächsthema. Ich hatte den Eindruck, es fehlte nicht viel und sie würden anfangen, sich anzuschreien. Unvermittelt stand Heather auf. Es hatte den Anschein, als würde sie dabei mit dem Fuß aufstampfen. Zielstrebig eilte sie im nächsten Moment davon. Ich hatte Glück, sie nicht aus den Augen zu verlieren, denn zwischen den Tischreihen waren eine Menge Leute unterwegs. Ich sah, dass Heather dem Schild mit der Aufschrift Toiletten folgte. Ich machte mich auf, ihr zu folgen. Seit Heathers Aufbruch waren höchstens zwei Minuten vergangen. Die Stimmung im Storyville hatte sich spürbar gesteigert. Das lag sowohl an der Musik als auch am Al koholkonsum. Beides befruchtete sich gegenseitig und das wiederum wirkte umsatzsteigernd wie nichts anderes. Chicagos Gangsterbosse wussten, weshalb sie den Jazz förderten. Wenn sie überhaupt jemals eine kulturelle Leistung vollbracht hat ten, dann war es diese. Wobei die wenigsten davon vermutlich auch nur einen Schimmer hatten. In Armando Desalvos Fall mochte es et was anders sein. Als Mann, der einen Klarinettisten zum Sohn hatte, 62
war er eine Ausnahmeerscheinung. Hinzu kam, dass sein Junior ihm bestimmt ein Basiswissen an Musiktheorie vermittelt hatte. Der Korridor zu den gefliesten Räumen war plüschig dunkelrot und äußerst sparsam mit Wandlampen ausgestattet. Auch die Gespräche wurden hier gedämpft geführt, als wollte man niemanden erschrecken, der sich in die Nischen verzogen hatte. Eine Hand zupfte an meinem rechten Ärmel. Bevor ich mich von der Überraschung erholen konnte, wurde aus dem Zupfen ein handfestes Ziehen. Ich ließ es geschehen, weil meine angeborene Neugier sofort die Oberhand gewann. Es war dunkel dort, wohin ich mich ziehen ließ. Und es war keine Nische, sondern ein schmaler Seitenkorridor. Das stellte ich durch Tasten mit der freien linken Hand fest. Doch gleich darauf war es aus mit Erkundungen und ich kam aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus. Weiche, zärtliche Arme umschlangen mich plötzlich und im nächs ten Atemzug spürte ich ein Lippenpaar voller drängender Leidenschaft auf den meinen. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, zumal der Kuss einen eindeutigen Beigeschmack von Rotwein hatte. »Heather!«, stieß ich hervor, als ich zum Luftholen kam. »Komm«, sagte sie nur. Im nächsten Augenblick fand ich mich in einem Abstellraum wie der. Heather schob und zog mich herein, fest an mich geschmiegt. Sie ließ nicht davon ab, mich zu küssen. Irgendwie war ihr Topfhut auf einmal weg. Indem sie einen Arm über meine Schulter streckte, drück te sie die Tür ins Schloss und knipste Licht an. Ich kniff die Augen zu. »Du bist meine Auftraggeberin«, keuchte ich, als ich Zeit dazu be kam. »Ich möchte mehr sein als nur das«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Aber ich bin ziemlich unmusikalisch, Heather.« Sie kicherte. »So unmusikalisch wie mein Ehemann kannst du gar nicht sein, Schnüffler.« Aus ihrem Mund klang das kein bisschen wie eine Beleidigung. Wir setzten uns in eine Ecke neben einem Besenschrank. Unsere Sitzgelegenheit war eine große alte Kiste, in der die Armee oder die 63
Polizei früher mal Gewehre oder Tommy-Guns transportiert hatte. Jetzt lagerte darin vermutlich Seife für die Toiletten, wie der frische Geruch vermuten ließ. Heather schmiegte sich an mich, schutzsuchend wie ein kleines Mädchen an den Brustkasten seines Vaters. »Weshalb bist du hier?«, fragte ich. »Und dann noch mit deinem Mann?« Sie seufzte tief und weinselig. »Ich hatte gedacht, es würde ihm gefallen - an einem Ort, an dem ich mich wohl fühle.« Sie blickte auf, als ich ihr über den Pagenkopf strich. »Und was machst du hier?« »Ich arbeite. Ich habe einen Auftrag. Johnny Hobb's Mörder fin den. Schon vergessen?« »Himmel, nein.« Sie seufzte abermals. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so pflichtbewusst bist.« Ich wollte ihr nicht den Abend verderben, indem ich ihr meine Ent führungsgeschichte erzählte. Stattdessen sagte ich: »Deinem Mann gefällt es hier jedenfalls nicht. Stimmt's?« »Woher weißt du das?«, entgegnete sie überrascht. »Ich habe euch beobachtet. Eure Mimik sagt alles.« Heather nickte betrübt. »Du hast Recht. Die Musik ist ihm ein Graus. Eine Beleidigung für seine Ohren, sagt er.« »Du kannst ihn nicht zu seinem Glück zwingen.« »Nein. Aber ich hatte gedacht, dass wir einen neuen Anfang ma chen könnten.« »Macht ihn woanders.« Sie sah mich verschmitzt an. »Was bist du? Nicht nur Privatdetek tiv, sondern auch Eheberater?« Ich ging nicht darauf ein. Stattdessen fragte ich: »Hast du John Joe alles erzählt? Über dein Verhältnis mit Johnny Hobbs und über deinen Auftrag an einen Privatdetektiv?« »Um Himmels willen«, erwiderte Heather. Sie blickte zu mir auf, weiterhin an meine Brust geschmiegt. »John Joe darf es niemals erfah ren. Er würde alles kurz und klein schlagen.« 64
»Mich eingeschlossen? Oder würde er mit einem 38er Smith & Wesson um sich ballern? Johnny Hobbs ist mit so einer Waffe erschos sen worden.« Heather richtete sich ruckartig auf, stemmte die Hände auf meine Schultern und starrte mich an. »Du glaubst...«, stieß sie hervor und sprach nicht weiter. »Ich glaube gar nichts«, entgegnete ich. »Ich stelle nur fest, dass dein John Joe ein gewalttätiger Mann zu sein scheint.« »Aber er würde niemanden umbringen. Vor allem nicht mit einer Schusswaffe. So etwas besitzt er gar nicht. Wenn er einen Menschen tödlich verletzen würde, dann nur mit den Fäusten - und nur ohne Absicht. Er hat mir mal gesagt, er müsse höllisch aufpassen, sich nicht aus Wut in einen Zweikampf verwickeln zu lassen. Es könnte ihm dann passieren, dass er aus Versehen jemanden erschlägt.« »So viel Dampf hat er in den Fäusten?« »Ja. John Joe ist ein unglaublich starker Mann.« Ich musterte sie sinnierend. Ich wollte nicht verletzend sein, woll te sie nicht fragen, ob sie ein neues Objekt zum Bewundern brauchte und sich dafür ihren Mann ausgesucht hatte, nachdem Johnny Hobbs für den Zweck nicht mehr herhalten konnte. »Und Desalvo?«, fragte ich. »Bei ihm brauchen wir uns über die Frage nicht zu unterhalten, ob er jemanden umbringen würde.« »Armando Desalvo?«, sagte Heather erstaunt. »Du glaubst, er könnte den Mordauftrag erteilt haben? Warum hätte er das tun sol len?« »Heather«, erwiderte ich eindringlich. »Liegt das denn nicht auf der Hand? Ich meine, du hast doch mitgekriegt, wer der neue Klarinet tist der Band ist.« »Massimo?« Heather lachte und winkte ab. »Das ist nur eine Ü bergangslösung, Pat.« »Die Rede seines Daddys hörte sich nicht so an.« Heather nickte. »Okay. Armando und Clarabella sind natürlich stolz auf ihren Junior. Aber...« »Sie halten ihn für den größten Klarinettisten aller Zeiten. So kam es mir vor.« 65
»Stimmt. Johnny hatte auch den Eindruck. Aber er fand es harm los. Die Desalvos sind nicht anders als alle Eltern. Die halten ihr Kind für ein Wunderkind, wenn es nur ein paar Töne auf einem Instrument hervorbringt.« »Aber bei Massimo sind es mehr als nur ein paar Töne.« »Das ist richtig. Johnny hat ihm Unterricht gegeben. Wusstest du das?« »Nein. Dann hat Johnny sich seinen eigenen Konkurrenten heran gezüchtet?« »Unsinn.« »Und als Massimo gut genug war«, folgte ich beharrlich meiner Theorie, »wurde er abserviert.« Heather schüttelte den Kopf. »Du meinst noch immer, Armando Desalvo könnte hinter dem Mord stehen?« »Allerdings«, bestätigte ich und erzählte ihr nun doch von meiner Entführung im nächtlichen Chicago. Sie sah mich erschrocken an, als ich schloss: »Was glaubst du wohl, wer einen Grund haben könnte, mich beseitigen zu lassen? Wer könnte herausgefunden haben, dass ich in deinem Auftrag ermittle?« »Mein Gott!« Heather schlug die Hand vor den Mund. »Du glaubst doch nicht, dass ich irgendjemandem etwas erzählt hätte? Du weißt, dass ich diejenige bin, die es unbedingt geheim halten muss.« »Und wenn uns jemand sieht? Hier im Storyville?« »Hier?«, kicherte Heather. »Was glaubst du, wie oft es hier vor kommt, dass verheiratete Frauen sich gut aussehenden Kerlen an den Hals schmeißen.« »Danke für das Kompliment«, entgegnete ich. »So was hörst du doch garantiert öfter. Von deinen Verehrerin nen, meine ich.« »Klar«, erwiderte ich und grinste amüsiert. »Jeden Tag erzählt mir eine andere, wie toll ich bin.« »Heute bin ich dran«, erklärte Heather entschlossen. »Ich und keine andere.« Sie legte die Arme um meinen Hals und küsste mich erneut. Nach einer Weile sagte sie sanft: »Du glaubst ja nicht, wie froh ich bin, dass du diese Entführung gut überstanden hast.« 66
»Kann es sein, dass dich jemand beobachtet hat?«, fragte ich. »Wann? Wobei?« »Als du zu mir ins Büro gekommen bist.« »Ich habe gut aufgepasst«, antwortete sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir jemand gefolgt ist.« »Aber du kannst es auch nicht ausschließen.« »Bist du noch immer bei deiner Desalvo-Theorie?« »Ja. Heather, hast du eine Ahnung, welche Rolle dieser Mann in der Unterwelt von Chicago spielt? Er ist ein Unterboss der Mafia.« »Das mag ja sein. Aber ich glaube, in diesem Fall überschätzt du ihn. Und außerdem: Wenn es wirklich so war, wie du denkst, dann hätten sie dich heute Abend überhaupt nicht ins Storyville hereingelas sen. Desalvo hätte doch seine Augen und Ohren überall, wenn er es wirklich auf dich abgesehen hätte.« In dem Punkt musste ich ihr Recht geben. »Einverstanden«, ant wortete ich daher. »Wenn Desalvo der einzige Gangster in Chicago wäre, der Mordaufträge erteilt, dann hätten wir eine friedliche Stadt.« Heather nickte traurig. »Ein Menschenleben ist nicht viel wert in diesen schrecklichen Zeiten. Was könnte das besser unterstreichen als der Mord an Johnny? Ich meine, jeder, der ein bisschen Verstand im Kopf hat, würde sich doch sagen, dass man einen so begnadeten Künstler nicht umbringen darf.« »Es gibt Leute«, entgegnete ich, »die Johnny und seine Musiker kollegen keineswegs für Künstler halten.« »Jetzt bist du wieder bei John Joe?« Heather sah mich vorwurfs voll an. »Hast du keine anderen Verdächtigen zu bieten?« »Bislang nicht.« Sie lachte grimmig. »Dann horche mal in Musikerkreisen herum. Was meinst du, was da los ist. Neid und Missgunst sind die ausgepräg testen Gefühle, nicht etwa die Freude am gemeinsamen Musizieren. Unter Profimusikern herrscht Eiseskälte, kann ich dir sagen. Die gön nen einander nicht die Butter auf dem Brot.« »Aber in der Band«, ich deutete mit dem Daumen über die Schul ter, »scheint ein gutes Betriebsklima zu herrschen.« 67
»Das stimmt«, bestätigte Heather. »Die Jungs sind eine Ausnah me, obwohl ich sie auch nicht so genau kenne. Johnny war ja auch nur ein knappes Jahr mit ihnen zusammen.« »Dann kommen Neid und Missgunst von außerhalb?«, mutmaßte ich. »Was glaubst du wohl«, entgegnete Heather und nickte bedeu tungsvoll. »Obwohl wir auf der South-Side in fast jeder Straße mindes tens einen Jazzclub oder eine Bar mit Tanzmusik haben, gibt es jede Menge arbeitslose Musiker - ganze Bands, die keinen Job haben. Die lassen sich schon mal was einfallen, um ein Engagement an Land zu ziehen.« »Du meinst...?« »Einschließlich Mord.« Heather nickte. »Wenn eine Band nicht mehr spielbereit ist, weil ihr ein wichtiger Musiker fehlt, hätte eine ar beitslose Konkurrenzband vielleicht Aussichten, bei dem Veranstalter zum Zug zu kommen.« »Kann ich mir nicht vorstellen«, entgegnete ich. »Sensible Künst ler sollen zu solchen Machenschaften fähig sein?« Heather lachte wieder. »Einige von denen sind ganz schön raue Burschen. Außerdem gibt es noch die Manager und die Agenten.« »Haben die Tuxedo Syncopators so was?« »Eine Agentur, die mehrere Bands vertritt.« Heather lächelte wis send. »Die Liste der Problemfiguren ist aber noch nicht zu Ende. Da gibt es nämlich noch die Musikergewerkschaften.« »Die vom organisierten Verbrechen kontrolliert werden.« »Wenn schon! Umso direkter ist der Draht, den die Gewerk schaftsbosse zu den Veranstaltern haben, um ihre Favoriten durchzu setzen.« »Verstanden«, erwiderte ich. »Du möchtest mich von den nahe liegenden Verdächtigen ablenken. Dein Mann, Armando Desalvo und die Mitglieder der Band kommen nicht in Frage. Also soll ich unter Konkurrenten, Managern und Gewerkschaftlern herumhorchen und mir dort einen aussuchen.« »Du bist der Detektiv«, schnurrte Heather und legte ihre Wange an die meine. »Ich werde mich doch nicht in deine Arbeit einmischen.« 68
»Das will ich dir auch geraten haben«, sagte ich gespielt drohend. »Übrigens«, wisperte Heather in mein Ohr, »muss ich dir bald die nächste Honorarzahlung bringen. Wann bist du denn mal allein im Büro?« »Gelegentlich«, antwortete ich, während wir gemeinsam aufstan den. Heather nahm ihren Hut, der neben der Tür in einem Regal mit Putzmitteln lag. »Ich werde dich vorher anrufen.« »Ich empfehle dir, vorsichtig zu sein«, sagte ich. »Betty ist un glaublich eifersüchtig.« Heather lachte wieder. »Deine Sekretärin und du - ihr habt nichts miteinander. Nur ein Arbeitsverhältnis. Mehr nicht.« »Woher weißt du das?«, fragte ich verblüfft. Heather blieb vor mir stehen und strich mir mit beiden Händen über die Wangen. »Ich bin eine Frau und Frauen haben einen beson deren Instinkt.« Ich ließ sie zuerst hinausgehen und wartete einen Moment. * Als ich an die Bar zurückkehrte, war noch immer Pause. Heather saß bereits an ihrem Platz. Sie drehte sich nicht um, suchte nicht mit Bli cken nach mir. Mit keinem Anzeichen gab sie zu erkennen, dass sie soeben einen guten Bekannten getroffen hatte. Nachdem sie ein paar Worte mit John Joe gewechselt hatte, stand dieser plötzlich auf und ging. Ich blinzelte ungläubig, rieb mir fast die Augen. Aber es blieb da bei. Ich sah John Joe schnellen Schrittes durch die Sitzreihen gehen und zum Ausgang hin verschwinden. Er drehte sich nicht um und Hea ther blickte ihm nicht nach. Als er nach fünf Minuten nicht zurückgekehrt war, wusste ich, dass er auf dem Heimweg war. Und Heather blieb allein hier, im Story ville, wo sie auch früher so manchen Abend verbracht haben musste ohne ihren Mann. Ich beschloss, später auch mit den Musikern zu re 69
den, um zu erfahren, wie viel sie von der Liebesbeziehung zwischen Johnny Hobbs und Heather Shanahan gewusst hatten. Es sah ganz danach aus, dass Heather bis zum Schluss bleiben würde. Die Band kehrte nach der Pause pünktlich auf die Bühne zurück und begann mit dem ›King Porter Stomp‹, einem Stück, das sogar ich kannte. Eine weitere Pause gab es nicht. Die Band spielte fleißig und nach meinem Eindruck schlug Massimo Desalvo sich prächtig. Wenn einer der Musiker ein Solo spielte, gab es Zwischenapplaus, auch für Massi mo. Bereits kurz nach der Pause begaben sich die ersten Paare auf die Tanzfläche. Auch Armando und Clarabella Desalvo gehörten dazu. Während der schnellen Stücke verrenkten sich die Leute fast die Gliedmaßen bei dem Versuch, die aktuellen Modetänze auszuprobie ren. Charleston und Shimmy beherrschten die meisten recht gut. Schwieriger wurde es für etliche der Paare dann schon beim Black Bot tom und beim Cakewalk. An ausgefallenere Sachen wie Turkey Trot und Bunny Hug wagten sich nur ganz wenige heran. Dann aber, als der Bandleader den ›Lindy Hop‹ ansagte, war die Tanzfläche schlagar tig wieder gefüllt. Ich hatte mich dem Tresen und einem neuen Drink zugewandt, als ich eine leise Stimme vernahm, die von hinten in mein rechtes Ohr sprach. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Sir?« Erstaunt drehte ich mich um. Heather stand vor mir. Sie hatte ihr bezauberndstes Lächeln aufgesetzt. Es war ein Lä cheln, dem kein Mann widerstehen konnte. Mit halbem Ohr hatte ich mitbekommen, dass als Nächstes ein Standardtanz dran war. Ein Slow fox. Ich konnte es also riskieren. »Meine bisherigen Tanzpartnerinnen haben alle über schwerste Fußverletzungen geklagt«, warnte ich meine Auftraggeberin. »Also sag hinterher nicht, dass du es nicht gewusst hättest.« »Ich nehme das Risiko in Kauf«, erwiderte sie, ohne ihr Lächeln zu unterbrechen. 70
Als wir die Tanzfläche erreichten, hatte die Band bereits zu spielen begonnen. ›Riverside Blues‹, ein ausgesprochen langsames Stück, sehr gefühlvoll und sehr melodisch. Es passte zu der Stimmung, in der Hea ther sich offensichtlich befand. Sie suchte meine Nähe und wir tanzten Wange an Wange. »Ist die Geheimhaltung jetzt aufgehoben?«, fragte ich. »Überhaupt nicht«, antwortete sie. »Aber hier spielt es keine Rol le. Einen Mann, mit dem ich tanze, muss ich doch nicht kennen, o der?« Zu dieser Logik fiel mir nichts ein. Daher wechselte ich das The ma. »Und deinen angetrauten Mann hast du nach Hause geschickt?« »Nein. Er darf eigene Entscheidungen treffen. Er steht nicht unter dem Pantoffel.« »Also konnte er die Musik nicht mehr ertragen.« »Meine Nähe auch nicht.« Ich bog den Kopf zurück und sah sie verblüfft an. »Das war nicht gerade höflich von ihm.« Heather lächelte. »Höflichkeit ist nach John Joes Überzeugung ei ne überflüssige Verhaltensweise - anstrengend und zeitraubend. Wir sind vor langer Zeit übereingekommen, uns damit nicht aufzuhalten.« »Dann bist du auch unhöflich zu ihm?« »So ist es. Wir sagen uns alles direkt ins Gesicht.« Wir tanzten weiter, so eng wie bisher. Einmal, zweimal hatte ich das Gefühl, dass uns Blicke von der Bühne her folgten. Ich war aber nicht sicher und ich konnte mich nicht vergewissern, weil die Tanzflä che zu stark frequentiert war. Nach dem langsamen folgte ein etwas schnelleres Stück, der ›Per dido Street Blues‹. Heather erwies sich als eine hervorragende Tänze rin, graziös wie jenes Reh, mit dem ich sie schon einmal verglichen hatte. Ich hielt schlecht und recht mit, kam mir aber ausgesprochen hölzern vor und rechnete jeden Augenblick mit Heathers Schmerzens schrei. Doch wider Erwarten blieben ihre Füße unversehrt - auch beim nächsten Titel, dem ›Alligator Hop‹, einem schnellen Foxtrott. »Für den Rest des Abends kennen wir uns nicht mehr«, sagte Heather, als ich sie zum Tisch zurückführte. 71
»Das passt mir gut in den Kram«, antwortete ich. »Ich habe näm lich noch zu arbeiten.« »Hier?«, entgegnete sie, bevor sie sich setzte. »Hier im Storyville«, bestätigte ich. »Ich muss doch was tun für dein Geld.« Sie lächelte und ließ sich auf ihrem Platz nieder. Der Polsterstuhl neben ihr blieb frei. Ich kehrte an die Bar zurück. Kurze Zeit später beobachtete ich, wie ein Kerl vom anderen Ende der Bar sich an Heather heranpirschte und sie aufforderte. Er holte sich einen Korb. Ich musste grinsen, als er Leine zog. Heather hatte ihn eiskalt abblitzen lassen. Das ließ sich jedenfalls an dem langen Gesicht des Mannes ablesen. Zum Ende des Programms hin brachte die Band den Saal regel recht zum Kochen. Auf der Tanzfläche ging es nun dicht gedrängt zu. Heather ließ sich bei mir nicht mehr blicken und ich hielt mich an ihre Anweisung, sie nicht mehr zu kennen - ob sie es nun so gemeint hatte oder nicht. Nach drei Zugaben spielte die Band das Wiegenlied von Brahms und dann war endgültig Schluss. Während die meisten Gäste das Sto ryville verließen, machte ich meine Beobachtungen. Heather blieb noch bei ihrem Glas Rotwein. Clarabella Desalvo verabschiedete sich von ih rem Mann und ging zur Bühne, wo die Musiker ihre Instrumente ein packten. Unterdessen steuerte Armando Desalvo auf eine Tür rechts neben der Bühne zu. Ich fragte meine freundliche Bardame, was das zu bedeuten habe. »Mistress Desalvo und ihr Sohn fahren nach Hause«, erklärte sie. »Mister Desalvo hat noch geschäftlich zu tun. Abrechnungen und all die Sachen, die nach so einem Bandauftritt erledigt werden wollen.« Ich verstand, bedankte mich mit einem Trinkgeld und machte mich auf den Weg. Es herrschte ziemliches Gedränge, doch das war genau richtig für mich. Als ich mich der Tür näherte, durch die Desalvo verschwunden war, erhaschte ich einmal einen kurzen Blick auf die Stelle, an der ich Heather zuletzt gesehen hatte. Sie war nicht mehr da. 72
Ihr Rotweinglas stand noch auf dem schmalen Tisch, nicht mal ganz geleert. Ich zwang mich, nicht über meine Auftraggeberin nachzudenken, obwohl ihr Verhalten an diesem Abend ganz schön verwirrend gewe sen war. Über ihre Absichten war ich mir nicht mehr ganz im Klaren. Davon, dass sie den Mörder ihres Liebhabers vor Gericht sehen wollte, war ich auch nicht mehr hundertprozentig überzeugt. Was sie wirklich vorhatte, war mir ein Rätsel. Vielleicht täuschte ich mich, aber allmäh lich gewann ich die Überzeugung, dass ich vordringlich Heathers Merkwürdigkeiten aufklären musste. Dann klärte sich der Mordfall Hobbs vielleicht ganz von selbst auf. Hinter der Tür begann ein schmuckloser Korridor. An den weiß ge tünchten Wänden gab es dunkle Scheuerstellen und die Lampen an der Decke waren trübe Funzeln. Die Tür auf der linken Seite führte of fensichtlich zur Bühne. Nach rechts zweigte ein Seitenkorridor ab. Hin ter der Abzweigung befanden sich zwei Türen. Bevor ich mich für eine der Möglichkeiten entscheiden konnte, schob sich ein Hindernis in meinen Weg. »Hier kommt keiner durch«, sagte der kleine Kopf oben auf dem Hindernis. Es hatte das Doppelte meines Körperumfangs und füllte den Kor ridor auf Ehrfurcht gebietende Weise. Wie ein Mensch sich diese Masse anfressen konnte, war mir schleierhaft. Andererseits ließ ich mich nicht täuschen. Der Kerl mochte seine drei Zentner wiegen. Aber Desalvo hätte ihn nicht als Aufpasser engagiert, wenn er nicht die Qualifikatio nen für den Job gehabt hätte. Dabei spielte der Kopf wahrscheinlich nur die Rolle, die seinen geringen Ausmaßen entsprach. »Mach mal Platz, Buddy«, sagte ich, ohne auf seinen Hinweis ein zugehen. Ich zeigte auf die Tür gleich hinter der Einmündung des Sei tenkorridors. »Ich muss darein, zu Mister Desalvo.« Der Massige grinste dämlich. »Da drin ist er gar nicht. Er ist hier.« Er zeigte in die Abzweigung. »Aber da kommst du nicht rein.« »Wetten, doch?« Er blinzelte verdattert. So war ihm noch keiner gekommen. »Hau lieber ab«, empfahl er, »bevor ich dich platt walze.« 73
»Du solltest es nicht nur ankündigen, sondern tun«, entgegnete ich. »Ein guter Leibwächter würde nicht lange fackeln. Da wäre ich schon längst wieder draußen. Aber du lässt dich besoffen quatschen und dann kippst du um.« Mit seinem offenen Mund sah er aus wie ein Riesen-Guppy, der das Glas seines Aquariums beschmatzte. »Umkippen!«, blökte er. »Ich doch nicht!« »Genug diskutiert«, entschied ich und machte einen Ausfallschritt in seine Richtung. Er wertete es als Angriff. Dass das eine folgenschwere Fehlein schätzung war, wurde ihm nicht einmal mehr bewusst. Denn dazu ließ ich ihm keine Zeit. Schnaubend riss er die Fäuste hoch, wuchtete sich auf mich zu und setzte sein ganzes Lebendgewicht hinter eine Doublette, die mich in Brei verwandelt hätte, wenn sie denn getroffen hätte. Doch da, wo er mich einen Lidschlag vorher noch gesehen hatte, war ich nicht mehr. Seine Fäuste zischten ins Leere. Er quiekte vor Enttäuschung und Ärger. Im selben Atemzug riss die Fliehkraft ihn vor wärts. Sein eigener, ungebremster Schwung setzte die träge Masse von 150 Kilogramm in Bewegung. Er stürzte ins Nichts und im nächs ten Moment kriegte er noch mehr Tempo drauf, als ich ihm die Beine unter dem Körper weghebelte. Ich stand mit dem Rücken an der Wand, wo ich gerade noch Platz hatte, um ihn vorbeischrammen zu lassen. Er landete weich auf sei nem mächtigen Bauch und sein Kopf erreichte nicht einmal den Fuß boden, sodass er sich kaum weh tat. Mit dem Aufstehen würde er Schwierigkeiten bekommen. Ich hatte also Zeit, den Nebenkorridor aufzusuchen und dort zunächst die Tür auf der linken Seite auszupro bieren. Ich hatte die richtige Wahl getroffen, wie ich gleich darauf fest stellte. Höflich, wie man selbst in Mafiakreisen sein sollte, klopfte ich. »Draußen bleiben!«, erscholl eine ärgerliche Stimme. Ich drehte den Knauf und trat ein. Armando Desalvo saß hinter einem monströsen Schreibtisch, weit zurückgelehnt, mit verzerrtem Gesicht. Seine geschäftliche Tätigkeit 74
reichte ihm knapp bis zum Bauchnabel und war aus meinem Blick winkel nur an dem seidig schimmernden blonden Haar zu erkennen. In rhythmischem Auf und Ab erschien es mal knapp über der Schreib tischplatte, um dann gleich wieder abzutauchen. »Verdammt!«, brüllte Desalvo. »Was fällt Ihnen ein, Mann? Raus! Los, verschwinden Sie, oder es passiert was.« Die Blondine stieß angstvolle Laute aus und wich geduckt von ihm weg. Ich erinnerte mich, sie hinter der Bar gesehen zu haben. Als ich auf den Schreibtisch zuging, hastete sie an mir vorbei. Gleich darauf klappte die Tür hinter mir zu. Desalvo raffte seine Sachen hoch und beugte sich nach vorn, um eine der Schubladen aufzureißen. Ich flankte seitlich über den Schreibtisch, war mit einem Satz bei ihm und hieb seine Hand von der Schublade weg. Desalvo schrie auf und rieb sich das schmerzende Handgelenk. Ich trat die Schublade zu, dass es krachte. Der Unterboss fiel in seinen Drehsessel zurück und rang keuchend nach Atem. Unter der schwarzen Pomadenmatte traten Schweißperlen auf seine Stirn. Ich öffnete die Schublade wieder und warf einen Blick hinein. De salvos Schießeisen war ein Revolver von Smith & Wesson, das kurzläu fige Modell im Kaliber .38. Ich fischte ein Taschentuch aus meiner Ja ckentasche und benutzte es, um die Waffe aus der Schublade zu he ben. Anschließend zog ich mir einen Stuhl heran und setzte mich ne ben den Schwitzenden. Ich wickelte das Taschentuch so um den Griff des Revolvers, dass ich ihn benutzen konnte, wenn es sein musste, die vorhandenen Fingerabdrücke aber nicht zerstörte. Vor drei Jahren hatte der Kongress in Washington DC das ›Bureau of Investigation‹, kurz BI, reformiert und mit neuen Kompetenzen ausgestattet. Unter anderem hatte das BI eine Identification Division Identifikationsabteilung - erhalten, in der Fingerabdrücke zentral ge sammelt wurden. Bisher war das nur bei den verschiedenen Polizeiund Strafvollzugsbehörden geschehen. Ein junger, tatkräftiger BI-Direktor namens J. Edgar Hoover war ebenfalls vor drei Jahren vom Kongress eingesetzt worden. Er machte bereits von sich reden, hatte das 1908 gegründete BI binnen kürzester 75
Zeit in eine schlagkräftige Ermittlertruppe verwandelt, die für alle Bun desstaaten der USA zuständig war. Ich wusste von Captain Hollyfield, dass er sämtliche Fingerabdrü cke, die er bei Kriminalfällen in Chicago sicherstellte, sofort an das Hauptquartier des BI in Washington weiterleitete. Desalvos Smith & Wesson würde ihm deshalb in seiner Sammlung gefallen - auch, um die Waffe probeweise in einen Wassertank abzufeuern und die Projek tile mit jenen vergleichen zu lassen, mit denen Johnny Hobbs getötet worden war. Während Desalvo noch keuchte, schwang die Tür auf. Das Schwergewicht von vorhin versuchte, sich durch den Türrahmen zu quetschen. »Stopp!«, befahl ich schneidend und richtete den Revolver auf ihn. Die Anordnung, in Verbindung mit einer dunkel glotzenden Lauf mündung, war ihm geläufig. Er gehorchte. Seine Wangenmuskeln zuckten unkontrolliert. »Boss«, sagte er wehleidig. »Sorry, aber ich konnte den Kerl nicht...« Desalvo schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Schon gut, Leo. Geh wieder auf deinen Posten. Pass einfach auf, dass nicht noch einer kommt. Verstanden?« »Ja, Boss.« Der Drei-Zentner-Mann bedachte mich mit einem has serfüllten Blick, dann zog er die Tür zu. Ich wandte mich zur Seite, sodass ich sowohl Desalvo als auch die Tür im Blick hatte. Den angewinkelten rechten Arm schob ich auf die Schreibtischplatte und ließ den Revolver dort ruhen - so, dass ich ihn buchstäblich im Handumdrehen in beide Richtungen schwenken konn te. »Wer sind Sie?«, knurrte Desalvo. »Was wollen Sie?« »Mich für eine Entführung bedanken«, antwortete ich. »Wie bitte?« Er starrte mich an, als hätte ich ihm angeboten, über das Liebesleben der Maikäfer zu berichten. 76
Ich erklärte ihm alles über den Trip, der eigentlich eine Reise ohne Wiederkehr hatte sein sollen. Ich nannte ihm meinen Namen und fügte hinzu, dass ich Privatdetektiv sei. »Jetzt hören Sie mir mal zu«, blaffte Desalvo mich an. »Ihre Ent führung können Sie in die Schuhe schieben, wem Sie wollen, aber nicht mir. Ist das klar?« »Nein«, gestand ich. »Dann lassen Sie die Bullen diese Mistkerle namens Manny und Willie auftreiben. Sie werden feststellen, dass ich mit denen nichts zu tun habe. Solche Burschen kann doch heutzutage jeder anheuern. Die Preise für so was sind im Keller, das wissen Sie genau wie ich. In die sen Zeiten kriegt man niedere Dienstleistungen für ein Butterbrot.« »Hm«, brummte ich. »Und was den Mord an Johnny Hobbs betrifft«, fuhr er fort, »schlage ich vor, dass wir uns zusammentun und den Mörder finden. Ich fürchte, die Bullen werden dazu nicht in der Lage sein.« Ich sah den Unterboss entgeistert an. »Das ist nicht Ihr Ernst«, entfuhr es mir. »Ihnen kam der Tod von Johnny Hobbs doch sehr ge legen. So konnten Sie Ihren Sohn in der Band unterbringen.« Desalvo blickte eine Sekunde lang so entgeistert wie ich. Dann tippte er sich an die Stirn. »Wer hat Ihnen denn diesen Nonsens er zählt? Johnny und Massimo waren gute Freunde - abgesehen davon, dass Johnny meinen Junior unterrichtet hat. Und verdammt, Massimo und ich sind genauso scharf darauf, diesen Bastard von einem Mörder zu erwischen, wie Sie.« Er machte eine Pause und bellte dann: »Wer hat Sie überhaupt beauftragt?« »Darf ich Ihnen nicht sagen«, antwortete ich. »Aha.« Desalvo grinste spöttisch. »Die Lady möchte nicht genannt werden, was?« Diesmal klappte mir die Kinnlade herunter. »Welche Lady?«, stieß ich hervor. »Connor«, sagte der Unterboss und schüttelte mitleidig den Kopf. »Die Spatzen pfeifen es zwar nicht gerade von den Dächern, aber hier im Storyville haben etliche Leute mitgekriegt, dass Johnny Hobbs und die besagte Lady was miteinander hatten. Dass sie heute Abend ihren 77
Mann vorgeführt hat, war wohl ziemlich daneben. Finden Sie nicht auch?« »Ich habe keine Ahnung, was sie damit erreichen wollte«, gestand ich. »Warum wurde sie von niemandem hier beachtet, wenn sie doch so bekannt war?« »Weil sie sich unbeliebt gemacht hat.« »Wie denn das?« »Johnny war Kreole.« »Ich weiß.« »Sehen Sie. Alle haben ihm abgeraten, sich mit der Lady einzulas sen. Weil alle wussten, dass sie nur mit ihm spielen würde. Eine ernst hafte Beziehung konnte das nicht werden. Dass wissen Sie genauso gut wie ich, Connor. Sie eine Weiße, er ein Kreole. Das konnte über haupt nicht gut gehen. Mistress Shanahan hätte das wissen müssen. Und wenn sie verantwortungsbewusst gewesen wäre, hätte sie dem armen Jungen nicht den Kopf verdreht.« Ich atmete tief durch. »Aber wer hat Johnny ermordet? Und wa rum?« Armando Desalvo beugte sich vor und sah mich eindringlich an. »Wissen Sie was, Connor?« »Sagen Sie es mir.« »Wenn ich auch nur die leiseste Ahnung hätte, wer dieser Schwei nehund ist...« »Ja?«, drängte ich, weil er nicht sofort weiter sprach. »Dann wäre dieser Mistkerl schon nicht mehr am Leben. Glauben Sie mir das?« »Unbesehen«, sagte ich. Ich legte den Revolver zurück in die Schublade, bevor ich ging. * Meine Bude an der North Clark Street war alles andere als eine Kom fortwohnung. Ein Ein-Zimmer-Apartment mit Bad. Die Inneneinrich tung war so spartanisch, wie das Gebäude von außen aussah. Ein vier stöckiges Sandsteingebäude ohne jeden Schnörkel, mit besten Aus 78
sichten für einen Wettbewerb um das hässlichste Haus Chicagos - falls es den mal geben sollte. Immerhin hatte die Bude aber ein Fenster zur Straße. Und etwas, das mir keine Luxusbleibe besser bieten konnte: die Geborgenheit ei ner Höhle, in die ich mich nach einem unerbaulichen Tag zurückziehen konnte wie ein Neandertaler, dem das erhoffte Mammut schon wieder durch die Lappen gegangen war und den auf dem Heimweg dann noch ein Säbelzahntiger durch die Gegend gescheucht hatte. Weil ich nach den Überraschungen des Tages ohnehin noch kein Auge zubekommen würde, brühte ich mir in der Kochnische einen Kaf fee auf. Als der Lebenswecker im Becher dampfte, gab ich einen Schuss aus der Spezialflasche dazu. Die war dunkelbraun und das war auch schon das Einzige, was daran stimmte. Der Inhalt stimmte nicht mit der Aufschrift ›Magenelixier‹ überein, war aber umso besser ge eignet, einem anständigen Kaffee eine ordentliche Geschmackssteige rung zu geben. Es ging auf ein Uhr morgens zu, als ich mich an den Tisch meines einzigen Zimmers setzte und darüber nachzudenken begann, was Hea ther Shanahan in ihrem hübschen Kopf an Seltsamkeiten bewegte. Der erste Schluck aus dem Becher besserte meine Laune. Dann hörte ich einen Automotor, obwohl ich im dritten Stock wohnte. Um diese Zeit war es in der North Clark Street so ruhig, dass jedes Geräusch sofort auffiel. Und noch eins fiel auf: Das Auto, das da unten brummte, hielt vor dem Haus, in dem ich wohnte. Eine Tür wurde zugeschlagen, Stimmen waren zu hören. Eine Frau, ein Mann. Eine weitere Tür klappte. Als ich ans Fenster trat, sah ich ein Taxi, das gerade abfuhr. Wegen der Feuertreppe konnte ich nur einen Teil des Bürgersteigs einsehen. Aber ich sah genug, um wie der einmal festzustellen, dass an den ganz alten Sprichwörtern meis tens etwas dran ist. In diesem Fall handelte es sich um den Teufel, der dann kommt, wenn man von ihm spricht. Ich hatte zwar nur gedacht, aber die Wirkung war die gleiche. Unten trat Heather auf die Haustür zu und klingelte. Sie trug noch den Topfhut, den sie im Storyville getragen hatte. Aber ich hätte sie natürlich auch ohne den Hut erkannt. Ihre Haltung, 79
ihre schlanke Statur und ihr Gesicht waren mir auch aus der Vogelper spektive vertraut. Ich wartete, um festzustellen, ob sie John Joe mitgebracht hatte, der einen Privatdetektiv mit der bloßen Faust ins Jenseits befördern konnte. Als ich sicher war, dass sie keinen Begleiter hatte, nahm ich mein Schlüsselbund vom Haken und lief hinunter, so leise wie ich konnte. Ich war wie immer der Einzige im Haus, der noch nicht schlief. Ich schloss die Haustür auf und blickte durch den Spalt, den die Sicherungskette ermöglichte. Heather hatte geweint. Sie sah mich mit traurigen Augen an. »Hey«, sagte ich. »Was ist los?« »Tut mir Leid«, antwortete sie bedrückt. »Tut mir Leid, dass ich dich so spät noch störe. Ich will dir alles erklären. Darf ich hereinkom men?« Eine Frau wie Heather abzuweisen wäre für mich die schlimmste vorstellbare Sünde gewesen. Also löste ich die Sicherungskette. Und kriegte die Tür an den Kopf. Es knallte, als die schwere Eichenholzfüllung meine Stirn traf. Mehr als diesen explosionsartigen Knall hörte ich aber nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam, brannte Licht im Treppenhaus. Ich lag auf dem Rücken, vor der untersten Treppenstufe. In meinem Schädel dröhnte es wie in einem Glockenstuhl kurz vor dem Sonntagsgot tesdienst. Über mir kniete ein Kerl und hielt mir eine Revolvermündung ins Gesicht. Ich brauchte eine Sekunde, um mich zu erinnern. Das Dröhnen stammte entweder von der Tür, oder ich war mit dem Hinterkopf auf den Steinfußboden geschlagen. Und den Kerl mit der Kanone kannte ich nicht. Oder doch? Ich versuchte angestrengt nachzudenken, aber mir fiel im Moment nicht sofort ein, ob ich den Hurensohn schon mal gesehen hatte. Weil er so bildfüllend über mir hockte, konnte ich Heather nicht sehen. Aber sie musste in der Nähe sein, denn ich hörte sie schluchzen. 80
Und im selben Augenblick fiel mir der Name ein. Carl Otis. Was hatte er mit Heather zu tun? Was mit mir? Sein Revolver war ein 38er Smith & Wessen. Wozu brauchte ein Musiker so ein Ding? Um Privatdetektive zu erschießen, du Idiot, sagte meine innere Stimme, Privatdetektive und Klarinettisten. Ich musste an Betty denken. Sie verschlang Detektivgeschichten, Kriminalromane, all dieses Zeug. Die besonders spannenden Sachen erzählte sie mir und wenn sie eine Story zu Ende gelesen hatte, be klagte sie sich regelmäßig über den Schluss. »Es ist immer dasselbe, Pat. Der Bösewicht zielt mit seinem Revol ver auf den Helden und sagt, dass er ihn jetzt erschießen werde. Aber dann tut er es doch nicht sofort, weil er dem Helden noch alle Verbre chen erzählen muss, die er begangen hat. Und dann, bevor der Böse fertig erzählt hat, kommen noch ein paar gute Jungs und retten den Helden.« Aber Carl Otis und sein 38er waren Wirklichkeit. Carl Otis sagte nichts, erklärte nichts. Sein Zeigefinger begann sich zu krümmen. Seine Augen waren schmal und hasserfüllt, die Lippen nur ein Strich. Weder die guten Jungs noch die Kavallerie waren in Sicht. Ich würde sterben, ohne zu erfahren, was passiert war. Das war die gottverdammte Wirklichkeit. Hölle und Teufel! Ich hätte schreien können. Nachdenken konnte ich nicht mehr. Überlegtes Handeln war nicht möglich. Ich wusste nicht, was ich tat. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dass ich beide Beine anzog und dem Kerl die Knie ins Gesäß rammte, erfuhr ich erst später von Heather. Er brüllte vor Wut, als es ihn nach vorn schleuderte. Der Revolver schrammte mir über das Gesicht, zog eine blutige Spur über Nasenrücken und Stirn. Und krachte. Der Schuss donnerte direkt über meinem Haaransatz. Die Kugel, die mich töten sollte, fuhr ins Treppenholz. Meine Trommelfelle klirr ten. Trotzdem hörte ich Heather schreien, hörte Otis brüllen und spür 81
te zugleich nichts als den glühend heißen Schmerz und das warme Blut im Gesicht. Von der wilden Entschlossenheit in mir spürte ich nichts. Was ich tat, lief ebenso unbewusst ab wie der Rammstoß mit den Knien. Meine Fäuste funktionierten, ebenso meine Armmuskeln. Ich schlug dem Kerl die Waffe weg, als er sie erneut auf mich anlegen wollte. Ich schrie ihn an wie ein Besessener und prügelte ihn von mir weg. Aus seinem Gebrüll wurden Schmerzensschreie. Das weckte Tri umphgefühl in mir. Ich schlug heftiger zu, immer wieder, bis der Mist kerl nur noch wimmerte. Dann hörte ich, wie es im Haus lebendig wurde. Männer halfen mir auf die Beine. Einer lief los, zum Polizeirevier um die Ecke. Von Otis drohte keine Gefahr mehr. Er war bewusstlos und er würde am Leben bleiben - für die Gerichtsverhandlung. Eine Nachbarin kümmerte sich um Heather, kochte ihr einen Tee. Obwohl ich durch das Blut von meiner Stirn alles nur durch einen roten Schlei er sah, achtete ich darauf, dass der 38er auf dem Fußboden liegen blieb und nicht angerührt wurde. Dann kamen die guten Jungs doch noch. Sie trugen die Uniform des Chicago Police Department. Aber anders als in den erfundenen Geschichten brauchten sie nur noch aufzuräumen. * Als Betty mich am nächsten Tag aus dem Hospital abholte, erzählte ich ihr, was ich noch in der Nacht von Heather erfahren hatte. Carl Otis hatte sie beobachtet, als sie zu uns ins Büro gekommen war. Deshalb hatte er gewusst, wer ich war. Schon bei meinem ersten Auftauchen im Storyville hatte er die Notbremse gezogen und mir die Kerle auf den Hals gehetzt, die er dank vieler Auftritte in den Jazzloka len der verschiedensten Gangstergrößen kannte. Diese Kontakte hatte er offenbar ganz bewusst gepflegt. Aber warum?, hatte ich Heather gefragt. Warum ausgerechnet der
Posaunist einer ganz normalen Jazzband?
Nur stockend war sie damit herausgerückt.
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Das Schlimmste für sie war, dass sie sich indirekt am Tod von Johnny Hobbs schuldig fühlte. Als sie mir den Auftrag erteilt hatte, hatte sie mir den entschei denden Teil der Geschichte bewusst verschwiegen. Einmal, als sie sich mit Johnny heimlich hinter der Bühne getroffen hatte, war Carl Otis zufällig Zeuge ihres Tête-à-Tête geworden. Hea ther und Johnny hatten ihn beschworen, sie nicht zu verraten. Otis hatte scheinheilig zugestimmt. Weder Heather noch ihr Liebhaber hat ten geahnt, dass Otis neidisch auf Johnnys Erfolg als Musiker gewesen war. Schon nach kurzer Zeit hatte Otis die Situation ausgenutzt und Heather erpresst. Doch nicht mit Geld hatte er sich von ihr bezahlen lassen, sondern mit Sex. Dieses Zwangsverhältnis war eskaliert, als Heather den entscheidenden Fehler begangen hatte. Um ganz sicherzugehen, dass Otis schweigen würde, hatte sie ihm andeutungsweise Hoffnung gemacht, dass sie zu mehr bereit sein könnte, wenn er absolut zuverlässig Stillschweigen bewahren würde. Otis aber hatte nicht nur den kleinen Finger gewollt, sondern die ganze Hand. Weil er Johnny Hobbs sowieso gehasst hatte, war es für ihn nur noch ein kleiner Schritt gewesen, den Konkurrenten umzubringen - in der aberwitzigen Hoffnung, Heather ganz für sich zu haben. Dass er der Mörder ihres Geliebten war, hatte sie ja nicht einmal geahnt. Sie hatte John Joe überredet, mit ihr ins Storyville zu gehen, weil sie Carl Otis hatte zeigen wollen, was für einen starken Ehemann sie hatte. Das war, wie ich mitbekommen hatte, völlig schief gegangen. Als ich bei Armando Desalvo gewesen war, hatte Otis Heather zu sich hinter die Bühne geholt. Und anschließend hatte er sie gezwun gen, sie zu meiner Privatwohnung zu begleiten. Dass er die Adresse an einem der vorangegangenen Tage ausgekundschaftet hatte, hatte ich nicht einmal mitbekommen. Er war mir einfach nach Feierabend vom Büro aus gefolgt. Drei Tage nach dem nächtlichen Horror im Treppenhaus erhielt ich einen Anruf von Captain Hollyfield. Die ballistische Untersuchung der Projektile hatte eindeutig ergeben, dass Otis' 38er die Waffe war, mit der Johnny Hobbs erschossen worden war. Dass der Revolver Otis ge 83
hörte, bewiesen seine Fingerabdrücke, die sich überall auf der Waffe befanden. Ende
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