Gerd Nollmann (Hrsg.) Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse
Fur Hermann Strasser
Gerd Nollmann (Hrsg.)
Sozialstr...
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Gerd Nollmann (Hrsg.) Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse
Fur Hermann Strasser
Gerd Nollmann (Hrsg.)
Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse Sozlalwlssenschaftllche Forschung zwischen Daten, Methoden und Begriffen
III
VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iJber abrufbar.
1. Auflage Januar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Sphnger Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlichgeschiJtzt.Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14935-6
Vorwort „So schon kann Soziologie sein" - fur dieses Motto hat sich Hermann Strasser ein Leben lang engagiert. Soziologie mtisse verstandlich sein, denn Soziologie wie Gesellschafl habe mit Verstehen zu tun. Zugegeben, i<:ein leichtes Unterfangen. Er wandte sich daher in Aufsatzen und Btichern so unterschiedlichen wie herausfordernden Themen zu wie „Schwer vermittelbar", „Keine Gesellschaft ohne Kriminalitat? Ohne Kriminalitat keine Gesellschaft!", „Schmidteinander ins 21. Jahrhundert", „I,mmer die Reichen" oder „Alles Hoyzer oder was?" Vielleicht weigerte er sich deshalb, sich nur einem Spezialgebiet der soziologischen DiszipUn hinzugeben. Wie sein soziologischer Lehrmeister, Werner Stark, spannt er den Bogen seines soziologischen Denkens weit. Und stets lehnte er das Literatentum ab, ohne Anspriiche der Theoriebildung zuriickzuweisen. Er betrieb uber alle Lager hinweg qualitative und quantitative Sozialforschung und blieb gegenliber den erhobenen Daten misstrauisch genug, um sie begrifflich zu reflektieren, wissenssoziologisch zu ordnen und gesellschaftspolitisch zu bewerten. Hermann Strasser studierte Nationalokonomie an der Universitat Innsbruck und der Freien Universitat Berlin, promovierte 1967 in Innsbruck, bevor er als Fulbright-Stipendiat ein Postgraduierten-Studium in Soziologie an der Fordham University, New York, absolvierte und dort 1973 seinen Ph.D. erhielt Er habilitierte sich 1976 in Klagenfurt, wurde im Dezember 1977 Lehrstuhlinhaber fur Soziologie an der damaligen Gesamthochschule Duisburg, der spateren Gerhard-Mercator-Universitat Duisburg bzw. Universitat Duisburg-Essen, und gehort seitdem zu den bekanntesten Soziologen Deutschlands. In mehr als 200 Zeitschriftenaufsatzen und 25 Buchern widmete er sich vor allem Fragen der sozialen Ungleichheit, des sozialen Wandels und der soziologischen Theorie. Zu dem von Strassers Lebenswerk erhobenen Anspruch an die soziologische Disziplin tragen in dieser Festsclirift Weggefahrten, Kollegen, Freunde und nicht zuletzt die diesem Anspruch verpflichteten Wissenschaftler bei. Das zentrale Anliegen des Bandes ist die Verbindung von Sozialforschung und begrifflicher Reflexion. Die Klammer des Bandes ist die Sozialstrukturanalyse und die Ungleichheitsforschung diesseits und jenseits von Stand und Klasse. Die zur Diskussion gestellten Themen sind daher so unterschiedliche Untersuchungsfelder wie die soziale Mobilitat, die Klassenforschung, Lebensstile, die Individualisierung, die Wissenssoziologie sozialer Ungleichheit, das soziale Kapital, die Theorie des Marktes und der Institutionen, die Globalisierung, das offentliche Selbstverstandnis moderner Gesellschaften, aber auch Kriminalitat, Korruption und Arbeitslosigkeit. Nicht zuletzt haben diese Themen auch mit der hand lungs-
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Inhalt
theoretischen Grundlegung der empirischen Soziaiforschung zu tun, die Hermann Strasser seinen Studierenden immer wieder vor Augen gefiilirt hat, dass namlich das menschliche Handeln in der Gesellschaft vor allem darauf ausgerichtet sei, Wertschatzung zu erlangen und Geringschatzung oder gar Missachtung zu vermeiden. Die Duisburger Universitats-Gesellschaft hat das Werk finanziell unterstiitzt. Roelf Bleeker-Dohmen und Stefanie Osthof haben mehrere Texte kompetent tibersetzt. Stefanie Osthof hat die Beitrage redal<:tionell fiir die Publikation vorbereitet und zusammen mit Angela Traumann Korrektur gelesen. Nicht zuletzt haben die Autoren eine Festschrift entstehen lassen, die nicht nur die Vielfalt der wissenschaftlichen Leistungen, sondern auch die akademische Wertschatzung von nah und fern flir Hermann Strasser zum Ausdruck bringt. Nicht nur den Genannten mochte ich meinen Dank aussprechen, sondern insbesondere meinem „HabiHtationsvater" Hermann Strasser flir das kulturelle und soziale Kapital, an dem ich liber die Jahre teilhaben durfte.
Duisburg, 28. November 2006
Gerd Nollman
Inhalt
Einleitung Die Praxis sozialer Ungleichheit und ihre sozialstrul<:turellen Folgen Gerd Nollmann
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Klassen und Sozialstruktur Soziale Klassen und die Differenzierung von Arbeitsvertragen John H. Goldthorpe
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Strukturelle Differenzierung, Statusinkonsistenz und soziale Integration: Mehrebenenmodelle fiir Paneldaten Uwe Engel und Julia Simonson
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Individualisierung und/oder Restrukturierung? Am Beispiel der sozialstrukturellen Verankerung der Parteienlandschaft und des Wertewandels Dieter Holtmann
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Kritik oder Rechtfertigung sozialer Ungleichheit? Die deutsche ,Sozialstrukturideologie' vom Ende der Klassengesellschaft in historischer und vergleichender Perspektive. Eine wissenssoziologische Analyse MaxHaller
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Inhalt
Zur Verbesserung der Erklarungsl<jaft vertikaler Strukturierungskonzepte in der Lebensstilforschung Petra Stein
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Paradigmen der vergleichend-historischen Methodologien: Durkheimsche vs. Weberianische Ansatze und ihre Folgen Harold Kerbo
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Kulturelle und politische Aspekte der Gesellschaftsanalyse Stadterneuerung als McDisneyisierung der Stadte George Ritzer und Michael Friedman
207
Markte als Gemeinschaftshandeln NicoStehr
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Die europaische Identitat - aber wo liegt sie? Johannes WeiB
252
Lebenszufriedenheit, Lebensbereiche und ReUgiositat Heiner Meulemann
261
Staat und Eigentumsrechte in der Entwicklung der europaischen Gesellschaft. Die Institutionentheorie von Douglass North Georg W. Oesterdiekhoff
278
Soziale Kontrolle am Rande der Gesellschaft: Polizisten und Prostituierte in Duisburg Thomas Schweer und Natalie Scherer
304
Inhalt
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Die Entertainmentfalle. Fernsehen als SpaBgesellschaft und die SpaBkultur im deutschen Fernsehen seit den 1990er Jahren Marcus S. Kleiner
Ausblick in eine ungleiche Zukunft Der neue Egalitarismus: Lehren aus der wirtschaftlichen Ungleichheit in GroBbritannien Patrick Diamond und Anthony Giddens.
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Autorenverzeichnis
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Kurz-CV von Hermann Strasser
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Einleitung: Die Praxis sozialer Ungleichlieit und ihre sozialstrukturellen Folgen Gerd Nollmann
1 Sozialstruktur und gesellschaftliches Selbstverstandnis Dass die Welt nicht das ist, was sie zu sein scheint, wurde seit Beginn der Moderne unzahlige Male gesagt. Der Widerspruch von Schein und Sein trifft nun auf besondere Weise auf das Begriffspaar Sozialstruktur und Gesellschaft zu. Wahrend Offentlichl<:eiten seit Jahrhunderten das Lied vom selbst bestimmten Individuum singen, deckt die Sozialstrukturanalyse die strukturellen und kulturellen RegelmaBigkeiten auf, nach denen die Individuen ihre Wahlerstimme abgeben (Holtmann, in diesem Band), ihre Lebenspartner „wahlen" (Blossfeld/Timm 2003), kriminell werden (Strasser/van den Brinl<: 2004, Strasser 2006), von der Polizei verhaftet und von der Justiz verurteilt werden (Schweer/Strasser 2003), Drogen konsumieren (Schweer/Strasser 1994), Einstellungen erwerben (Strasser et al. 1988), Bildungsabschltisse und berufliche Ziele erreichen (Shavit/Blossfeld 1993), Einkommen und Vermogen sammeln Oder aber unter die Armutsgrenze fallen (Groh-Samberg 2004), l
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Gerd Nollmann
rem tatsachlichen typischen Verhalten im Berufzu unterscheiden und im Anschluss zu erforschen, welche „objektiven" Konsequenzen das typische Verhalten auBerhalb der Berufswelt in sonstigen Lebenszusammenhangen hat (Nollmann/Strasser 2007). Diese neue Bescheidenheit der Klassenforschung ist moglicherweise inzwischen gar nicht mehr notwendig. Wer genau hinschaut, erkennt nicht nur ihre empirisch sorgfaltige Herausarbeitung sozialer RegelmaBigkeiten, deren Ursprung in der Differenzierung von Berufsrollen liegt, sondern auch eine kraftvoUe hermeneutische Begrundung des Klassenbegriffs. Goldthorpe (in diesem Band) erortert die Ursachen der Klassenbildung langst organisationssoziologisch und sinnverstehend. Beschafligungsverhaltnisse nehmen, so Goldthorpe, entweder die Form eines Arbeitsvertrags an, der einen direkten Austausch von Arbeitsl<jaft gegen Entlohnung (labour contract) regelt, oder sie bestehen als Dienstverhaltnis (service relationship). Die organisationssoziologische Denkfigur betrachtet beide Formen der Beziehung als Resultat von organisatorischen Steuerungsproblemen, die sich aus der UnvoUstandigkeit des Arbeitsvertrags ergeben. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Vertrag schlieBen, kann nicht erschopfend festgelegt werden, wie der spatere Arbeitsalltag en detail aussieht. Die Institutionenokonomik spricht von einem ,,agency problem", das neben vielen unbekannten Informationen auch versteckte Handlungen des Arbeitsalltags enthalt. Je nach der vorgesehenen Arbeit kann der Arbeitgeber mehr oder minder genaue Informationen iiber die genauen Handlungsmoglichkeiten und das tatsachliche Leistungsverhalten des Arbeitnehmers haben. Klassen leiten sich demgemaB aus der organisatorischen Spezifizierbarkeit von Arbeitsvertragen und deren Konsequenzen fiir praktisches berufliches Verhalten ab. Der „einfache" Arbeitsvertrag ist angemessen, wenn eine relativ hohe Kontrollierbarkeit eine einfache Austauschbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Grundlage erbrachter Stiickzahlen oder der verbrachten Zeit am Arbeitsplatz etabliert. Dieser „spot contract ist umgekehrt nicht fiir Mitarbeiter realisierbar, die der Organisation ihr Expertenwissen zur Verfugung stellen und stellvertretend Entscheidungen treffen. Auch sind deren Arbeitsleistungen nicht so einfach messbar wie die eines Arbeiters. Goldthorpe spricht in diesem Zusammenhang von einem „Dienstverhaltnis". Im Gegensatz zum einfachen Austausch von Arbeitsleistung und Gegenleistung sieht es neben der monetaren Vergtitung in Form eines Gehalts - anstatt eines an der erbrachten Leistung beruhenden Arbeitslohns - flir den Beschaftigten Karrieremoglichlceiten vor. Ferner wird diesen Arbeitnehmern auch ein langerfristig angelegtes Dienstverhaltnis angeboten, weil die Organisation auf spezifische Qualifikationen angewiesen ist und oft Investitionen in betriebsspezifisches Expertenwissen getatigt hat, die nicht an andere, etwaige Konkurrenten verloren werden durfen.
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Beschaftigungsverhaltnisse unterscheiden sich demgemaB in der Autonomie der Arbeit und Zeitverwendung am Arbeitsplatz, in den erforderlichen skills, in der Hohe der Einktinfte und der sonstigen Arten der Vergtitung bis hin zu den bestehenden Karrieremoglichkeiten. Die beiden Grundformen des Arbeitsverhaltnisses sind als Idealtypen zu verstehen. De facto fmden sich in der Praxis auch Mischformen. Grundsatzlich fiihrt aber die Form des Beschafligungsverhaitnisses zu einer Differenzierung von Arbeitsvertragen, die Goldthorpe als Grundlage des Klassenschemas betrachtet. So betrachtet verfiigt die Klassenforschung inzwischen liber ein umfassendes handlungstheoretisches, hermeneutisches Fundament. In jtingeren Publikationen und auch Forschungen erhalt die von der Theorie des Sinnverstehens immer wieder betonte Regelung menschlichen Verhaltens durch subjektive Vorstellungen, Deutungsschemata und Kausalannahmen immer mehr Aufmerksamkeit. Wird die Definition der Situation in Arbeitsorganisationen durch die beiden von Goldthorpe genannten Kontinua bestimmt, wird auch „verstandUcher" und schlieBlich auch „kausal durchsichtiger", inwiefern sich das berufliche Verhalten von Berufsgruppen tatsachHch voneinander unterscheidet und welche Konsequenzen das innerhalb und auBerhalb der Arbeitsorganisation fiir faktisches menschliches Verhahen hat. Der Jabour contract' ist beschranlct auf einen simplen Austausch von Geld und zahlbaren Leistungen. Solch ein ,,spot contract' impliziert kurze kausale Verkntipfungen - sowohl objektiv als auch subjektiv. Das AusmaB, in dem etwa ein Arbeiter subjektiv die Ursachen von organisationalen Ergebnissen - etwa Geschaftszahlen und generell die Organisationsentwicklung - auf sein eigenes Verhalten zurechnet, ist aufgrund dieser vertragsbedingten, kurzen Kausalstrange gering. Er nimmt ohne Zweifel an, dass er selbst es ist, der seinen Job macht. Aber er wird generell nicht oder selten jene kausalen Zurechnungen zwischen dem eigenen Verhalten und den iibergreifenden Zustanden der Organisation vornehmen, die sich weiter oben auf der hierarchischen Leiter haufiger finden. Die zentrale Differenz zwischen ,,/abou/' und ..service contracts'' ist nach Goldthorpe (2000: 217) das AusmaB der „Diffusheit". Der Jabour contract" sieht subjektiv eine spezifische Beziehung zwischen der Person und den Arbeitsergebnissen, die vergleichsweise wenig Interpretationsbedarf hat. Je groBer die Arbeitsorganisation und je hoher ein Dienstklassenangehoriger positioniert ist, desto indirekter, der Interpretation bedtirftiger, aber flir Selbst- und Fremdzurechnungen erwtinschter und unerwtinschter Folgen eben auch offener, erscheint demgegentiber die Klassenlage. Die Dienstklasse hat das strukturelle Privileg, in der internen und extemen Darstellung der Organisation Erfolge stark auf ihr eigenes Verhalten zu beziehen (wie realistisch das von auBen betrachtet auch sein mag), Misserfolge extern auf unbeeinflussbare GroBen zuzurechnen oder als Anlass fur unattraktive Veran-
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Gerd Nollmann
derungen der Organisation zu nehmen. Wahrend der Arbeiter einfach seinen Job macht (z. B. ,,100 Autotiiren am Tag montieren") und alles Weitere eher als externe Randerscheinung seines klar defmierten Jobs sieht, betrachtet insbesondere die obere Dienstklasse die Ursachen und Wirkungen der Welt abstrakter und stellt immer wieder auf Leistungen, Fahigkeiten und Kontrollierbarkeit in einem weiter gefassten Horizont selektiver Kausalzurechnungen ab. Auf dieser Basis kann man sich besser vorstellen, wie die jUngeren Herausforderungen, etwa der Globalisierung, im Alltag zwischen den Berufsgruppen verhandelt werden. Wenn etwa in Unternehmen daruber beraten wird, welche Produkte wann fur welche Kunden in welchen Regionen zu welchen Preisen hergestellt werden sollen, werden im Entscheidungsprozess an verschiedenen Orten, in verschiedenen Gremien und in informellen Kontakten zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten, Geschaftsfiihrung und Betriebsrat Spielraume gesucht, Argumente ausgetauscht, Bedenken geauBert, Interessen vertreten, Warnungen und Empfehlungen ausgesprochen. Im Alltag konnen Abteilungsleiter in Fiihrungsgremien im Falle von Schuldzuweisungen auf eine der anderen Abteilungen zeigen und behaupten, dass die eigene Abteilung eben nicht anders handeln konne, wenn ein gutes Produkt erstellt werden solle. Diskussionen iiber Verbesserungen verlaufen in solchen Gremien oft im Sand der Details, weil es im Zweifelsfall immer Grunde gibt, warum dieser oder jener Vorgang so und nicht anders angelegt ist. Jedoch andert das durch Konlcurrenzerlebnisse in Gang gesetzte Deutungsmuster des sich verschdrfenden Wetthewerbs die typischen Kausalzurechnungen. Mitarbeiterbesprechungen sehen in Unternehmen, die dem Einsparungsstress ausgesetzt sind, anders aus. In ihnen wird die „Wahrnehmung" verschoben. Schon der nicht-globale „Markt" stellt in der internen Zurechnungspraxis ein schwarzes Loch dar, das alle anders lautenden Argumente aufsaugt. Der Markt, so kann man in deutschen Unternehmen von oben horen, „stellt unsere Bedingungen, ausschlieBlich, und sonst niemand - wenn's der Markt aber ist, dann gibt's gar keine Diskussion. Der Markt hat immer Recht. Wir konnen uns dann nur tiberlegen, ob wir uns in diesem Fall 'nen Marktverzicht leisten" (Matthies 1999: 247). Es ist wenig sinnvoU, daruber zu diskutieren, ob diese Definition der Situation angemessen ist (vgl. Esser 1996). Wenn es um die Verteilung von Belastungen geht, rechnen sich Akteure unternehmensinternes Handeln nicht nur deshalb als alternativloses Erleben von Marktzwdngen zu, weil sie sich dann als bloBe VoUzugsbeamte formaler Programme darstellen. Sie tun das auch, weil sie ihr Verhalten als Reaktion auf Markte interpretieren. Das interne Erleben des Handelns der Konkurrenten richtet sich angstvoU und hektisch auf die Umwelt, um die dort aufgenommenen Signale als Beleg flir interne Notwendigkeiten des
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Handelns aufzunehmen. Hierin liegt die wichtigste praktische Bedeutung von Markten als sinnhafte Kausalzurechnung. Diese Lenkung von Kausalzurechniingen durch „Markte" ist deshalb auch keineswegs auf Unternehmen beschrankt. Was Unternehmen heute auf globaler Ebene tun, machen inzwischen offentliche Verwaltungen auf lokaler und regionaler Ebene nach: Mit Hilfe der Budgetierung von Einnahmen und Ausgaben verkiirzen sie ihre „Leistungstiefe"; outsourcing und subcontracting bieten Kostenvorteile. Insofern wird die Globalisierung bisweilen nicht nur als Sachzwang, sondern als willkommener Aufbruch in neue Wachstums- und Absatzgebiete gefeiert - insbesondere in der mittelstandischen Zuliefererindustrie (Fieten/Friedrich/Lagemann 1997). Dort legt - so zeigt die vom Institut fiir Mittelstandsforschung durchgefuhrte Befragung von liber 10000 Mittelstandlern - schon die vorgestellte Konkurrenzsituation vorsorgliche MaBnahmen nahe. Ist die Konl<:urrenz noch nicht aktiv, wird ihr Verhalten als nicht zu verschlafende Chance interpretiert, sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen - etwa durch Stellenabbau oder Verlagerung der Produktion ins Ausland. Marktvergesellschaftung verbindet das zwanghafte Erleben mit der sozialen Konstruktion von Handlungserfordernissen. Das heiBt nichts anderes, als dass Dienstklassenangehorige ihre von unten eingeforderte Verantwortung fiir Veranderungen extemalisieren konnen. Die Globahsierung der Markte steigert die Anziehungskrafle dieses schwarzen Loches zu einem wuchtigen Universalargument, das anders lautende Ansprtiche abschmettert. In Unternehmen, deren Preise global unterboten werden, wird es zur vornehmsten Aufgabe des Managements, mit barter Hand Ansprtiche auf hohere Gehalter, Stellen, Beforderungen und Zuwendungen so lange abzuwehren, bis die Konkurrenzfahigkeit wieder hergestellt ist. Beispiele gibt es genug, vom Staubsaugerhersteller Leifheit liber Opel bis zu den Call Centers. Globalisierungsfolgen werden nach MaBgabe bereits etablierter Hierarchien weiterverarbeitet nach dem Motto: Unten gespart, oben belohnt. Seit dem in den 70er Jahren erfolgten, jahen Ende des Traums immerwahrender Prosperitat (Lutz 1984) ist das Geld in Unternehmen, Verwaltungen, Universitaten, Schulen, Krankenhausern knapper geworden - mit der Folge, dass dieses „Zurechnungsspier' immer starker betont wurde - mit der weiteren, „objektiven" Konsequenz, dass die Verteilung von Einkommen im Zeitablauf entlang der Klassenstruktur ungleicher wird (Nollmann/Strasser 2003). Die in diesem Spiel eingenommenen Rollen sind klassenspezifisch verteilt. Diese sinnhaften RegelmaBigkeiten des praktischen Erklarens in der Berufswelt stellen keinesfalls individuell erworbene Personlichkeitsmerkmale dar, sondern werden objektiv von der Berufsklassenstruktur vorgegeben - mit wichtigen Konsequenzen fiir das sinnhafte Verhalten sowohl innerhalb als auch auBerhalb des Berufs.
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2 Das neue Interesse am kulturellen Kapital Die Vermutung drangt sich auf, dass diese strukturell determinierte, nichtsdestotrotz subjektive Varianz der klassenspezifischen Zurechnung letztlich nicht an den Grenzen der Arbeitsorganisation Halt macht, sondern gleichsam hinter dem Rucken der Akteure mehr oder minder unbemerkt in sonstige Lebenszusammenhange diffundiert und auch die intergenerationale Vererbung von Positionen mit verursacht. Sie wird insbesondere als habitueller Erklarungsstil schon in friihen Jahren der Soziahsation weitergereicht und trotz expandierter Bildung im Lebensverlauf reproduziert. Diese Sichtweise erklart das in jUngerer Zeit enorm belebte Interesse der Mobilitatsforschung am so genannten kulturellen Kapital (De Graaf 1998; OECD 2001; Bowles et al. 2001; Esping-Andersen 2004; Becker 2003). Bourdieus (1983) These dazu lautet, dass die in der sozialen Herkunft erlernte Vertrautheit mit kulturellen Symbolen eine zentrale Vorbedingung fur Erfolg in der Bildungsphase sei - nicht zuletzt deshalb, weil das Bildungssystem selbst strukturell flir Schtiler mittlerer oder hoherer Herkunft voreingenommen sei und die Ungleichheit der mitgebrachten kulturellen Ressourcen gerade nicht begradige, sonder eher verstarke. Goldthorpe (2000) hat wiederholt eine reservierte Haltung zu kulturalistischen Erklarungen dieser Art eingenommen, weil sie den strukturellen Impetus von Klassen nicht adaquat berticksichtigten. Damit ist nicht gemeint, dass die klassenstrukturelle Beweisfuhrung subjektive Elemente der intergenerationellen Transmission vollstandig zuruckweist. Die Argumentation basiert aber eher auf strukturellen Verteilungen der Berufe. Angehorige unterer Klassen wlirden in Bildungsfragen ihre nicht zu leugnende Knappheit an okonomischen Ressourcen tiberbewerten, passten sich den Verhaltnissen deshalb ubermaBig an und verkauften sich letztlich unter ihrem moglichen Wert (vgl. Goldthorpe 2000: 241 ff.). Die fur sinnverstehende Betrachtungen typische Figur der self fulfilling prophecy subjektiver Kausalhypothesen ist gleichwohl auch in dieser Argumentation prasent und wird strikt an die strukturelle Verteilung von Ressourcen gebunden - etwa auch in der Vermutung von Erikson und Goldthorpe (1992), dass die fast vollstandige Beseitigung von Kinderarmut und die Nivellierung der Familieneinkommen in Schweden zur dortigen Lockerung der intergenerationellen Transmission beigetragen hatten. Neuere Untersuchungen legen eine differenziertere Betrachtungsweise nahe. Esping-Andersen (2004: 294 ff) zeigt mit Analysen zu PISA und dem International Adult Literacy Survey (lALS), dass in Deutschland, Franl<jeich, Danemark, Schweden, Kanada, GroBbritannien und den USA Lese-, Auffassungsund Interpretationskompetenzen von SchUlern als abhangige Variable starker vom kulturellen Kapital der Familie vorhergesagt werden (~ .3) als von ihrem soziookonomischen Status (~ .2) und Wohlstand (~ .03). Schon diese Beobach-
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tung lasst vermuten, dass die Transmission nicht vom Geld allein gesteuert wird. Kognitive Kompetenzen sind auch je nach Land unterschiedUch ungleich verteilt. Ein Gini-Koeffizient fiir entsprechende Test-Scores Uegt zwischen .08 in Danemark und .158 fur die Vereinigten Staaten. Diese Kompetenz-Ginis korreHeren hoch mit den Gini-Koeffizienten fiir die nationale Einkommensverteiking und dem Einfluss des vaterlichen Bildungsgrades auf die Bildungserfoige der Kinder. Diese Ergebnisse erzahien die Geschichte der intergenerationellen Transmission zwar noch nicht vollstandig neu. Sie ermutigen aber eine weitere DetailUerung des Zusammenhangs von Geld, Klasse und Kultur. EspingAndersen vermutet in der Interaktion dieser GroBen den Schlussel zu einem noch tiefer gehenden Verstandnis von Mobilitat. Wie immer man zu den damit verbundenen Fragen steht - die jtingere empirische Forschung hat auf erstaunliche Weise einige Fronten aufgelost, die bisher als uneinnehmbar galten. Diese betrifft nicht nur den langst uberholten Gegensatz zwischen Struktur und Kultur, sondern auch den Scheinwiderspruch zwischen Individualisierung und Klassenstrukturierung des Verhaltens. Alle Begriffe sind - wie schon Weber unter Berufung auf Kant der Soziologie ausdrucklich, aber leider wohl nicht nachhaltig genug ins Stammbuch geschrieben hat - Idealtypen, also Instrumente, die der Wirklichkeitskonstruktion und dadurch auch ihrer Erfassung dienen. Uber ihre Eignung entscheiden Theorie und Empiric gewissermaBen gemeinsam - indem Begriffe so zugeschnitten werden, dass sie offen fur empirische Tests sind. Aber das Bewusstsein fiir den Wirklichkeit erzeugenden Gehalt begrifflicher Schnitte ist enorm gewachsen. Nichtsdestotrotz tragt der Klassenbegriff aufgrund seiner historisch gewachsenen Verwendung sowohl bei den meisten Sozialwissenschaftlern als auch in der Offentlichl<:eit kollektive Handlungskonnotationen, die von dem, was von der Forschung empirisch de facto erzeugt wird, eigentlich nicht mehr getragen werden. Das zeigt sich auch darin, dass, als ,,New Labour'' Goldthorpes Schema als „NS-SEC" fur die praktische Arbeit ubernommen hat, die Janguage of class'' unbedingt vermieden werden soUte. „Soziookonomischer Status" erschien neutraler. Das ist moglicherweise ein Hinweis darauf, dass der Klassenbegriff trotz aller empirischen Erfolge zu belastet ist und interessante Forschungsergebnisse nicht mehr werturteilsfrei zu transportieren vermag. Immerhin hat die Individualisierungsdebatte gezeigt, dass die theoretische Begleitreflexion des Klassenbegriffs fiir die Selbstvergewisserung der soziologischen Forschung hilfreich sein kann (Nollmann/Strasser 2002). Sie hat immerhin Gelegenheit zur Klarstellung von Missverstandnissen gegeben, sodass vielleicht nach der Debatte einige Soziologen Bedeutung und Ziele heutiger Klassenforschung mehr statt weniger wertschatzen.
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Kontinuitat, Erneuerung, Innovation der Ungleicliheitsforschung (Strasser/Goldthorpe 1985) schlieBen auch die Dynamisierung der Betrachtung ein. Sah es friiher so aus, als ob Klassen antagonistische Blocke bezeiciineten, hat die neuere Lebensverlaufsforschung den theoretischen Status des Klassenbegriffs nochmals deutlich verandert. Die transformierte Bedeutung des Klassenbegriffs zeigt sich nicht nur in der empirischen Neuausrichtung der Forschung an Berufsgruppen. Die sui<:zessiven Revisionen haben den Klassenbegriff heute zu einem Werkzeug gemacht, mit dem die Forschung in Lebensverlaufe eingelassene Kausalitaten zwischen gesellschaftlichen Feldern aufdecict. Ausbildungs- und Berufskarrieren beruhen auf sich selbst verstarkenden kausalen Prozessen. Schon die Verteilung auf Haupt-/Realschule und Gymnasium bedingt irreversible Einschrankungen, die im weiteren Lebensverlauf verstarkt werden. Moglichkeiten fur Berufskarrieren engen sich fruher ein, als man erwarten wurde (Mayer 1990: 11 f). Lebensverlaufsstudien zeigen, wie Individuen als identische Einheit in den dlfferenzierten Feldern der modernen Gesellschaft handeln und behandelt werden. Die Lebensverlaufsforschung zielt insofern auf das Verhaltnis von Milo-o und Mal<JO (Mayer 1990: 8). Ihr Begriff der Reproduktionsklasse scheint sich unausweichlich in markanten Gegensatz zur handlungstheoretischen Tradition zu stellen. Webers Soziologie hatte die Gesellschaft gerade deshalb in soziale Beziehungen aufgelost, weil seine Zwischenbetrachtung den Blick in die entgegengesetzte Richtung gelenkt hatte: weg von kontinuierlichen, ubergreifenden Einheiten, hin zur spharentypischen, durch unliberwindbare Abgrtinde gekennzeichneten Vielfalt. Der Begriff des sozialen Handelns, seine typischen Orientierungen und die aus ihm hervorgehenden sozialen Beziehungen zerschneiden die Einheit des Menschen. Die sinnverstehende Soziologie ist nicht nur - wie Tyrell (1998) Webers Wissenschaflslehre charakterisiert hat - eine Soziologie ohne Gesellschaft. Sie ist bereits bei Weber insoweit eine Soziologie ohne Mensch, als dessen Einheit im sozialen Handeln nicht auftaucht. Wo Handlungstheoretiker die Differenzierung sozialer Beziehungen hervorheben, sieht die Lebensverlaufsforschung die in der individuellen Lebensgeschichte aufbewahrten Kontinuitaten, die liber diese Differenzen hinweg gleiten. Leitmotiv ist deshalb Bourdieus LQbQnsvQrlmxfshypothese, die er in einem diachronen Klassenbegriff fasst: „Einem bestimmten Umfang ererbten Kapitals entspricht ein Bundel ungefahr gleich wahrscheinlicher, zu ungefahr gleichwertigen Positionen fuhrender Lebensldufe - das einem bestimmten Individuum objektiv gegebene Moglichkeitsfeld...'' (Bourdieu 1987: 188). Bourdieu sieht typische Lebensverlaufe nicht nur als k\diS?>Qnbedingt, sondern als k\?iSSQnkonstitutiv an. Die messbare Durchlassigkeit von Klassengrenzen erscheint als Priifstein fur die Totalitaten, die sich gegen den Anschein differenzierter Felder als zugrunde lie-
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gende BQziQhungsemheit der modernen Gesellschaft erweisen. Wenn nachgewiesen werden kann, dass die Zuweisung der Individuen zu ihren sozialen Positionen von ihrer Herkunft abhangt, erscheinen die mit dem Menschen verbundenen Verhaltenserwartungen als stdrkere Einheit als die differentiellen, erworbenen Merkmale innerhalb der eigenlogischen Beziehungsfelder, die Weber mit dem Begriff des gemeinten Sinns von Verhalten aufgearbeitet hat. Die auch im Zeitablauf stabile Identitdt des Individuums kann in diesem Fall kraftigere endogene Kausalitaten mobilisieren als die eigenlogischen Felder, die im Zentrum von Differenzierungs- und Handlungstheorien stehen (Mayer 1990: 11). Entscheidend ist nun aber, dass der in der Lebenslaufforschung verwendete Klassenbegriff seine Bedeutung geandert hat. Klassenzugehorigkeiten werden nicht primar durch sachliche Merkmalskombinationen (Einlcommen, Prestige, Weisungsbeftignisse, Ausbeutungsweise) defmiert, sondern liber die sich kumulativ verstarkende Selektivitat von Lebensverlaufen prozessfovmig konstituiert, sodass aktuelle Zustande und Ereignisse aus vergangenen Lebensgeschichten mit mehr oder minder groBer Wahrscheinlichkeit kausal erkldrbar werden. Fiir Ausbildungs- und Berufskarrieren hat sich die Klassenforschung als unverzichtbares Analyseinstrument erwiesen, well sich bildungs- und berufsbiografische Ereignisreihen den differenzierten Beziehungsfeldern der Gesellschaft wirksam einpragen. Insofern lost sich in Lebenslaufforschungen, die mit dem Klassenbegriff arbeiten, das alte Akteurproblem des Klassenbegriffs auf Es sind stets die individuellen und kollektiven Akteure innerhalb der Felder: die Individuen in ihrer Lebenslauflcontinuitat, die Schulen, die Universitaten, die Arbeitsorganisationen von Wirtschaft, Verwaltung usw., die handeln - und nicht die Klassen. Die Reproduktionsklasse wird als s'mnfremder Einfluss tiber die Kontinuitat des Individuums (meistens) unbemerkt in die Handlungslogik dieser Felder importiert. Der Klassenbegriff bezeichnet lediglich die endogene kausale Kontinuitat, die in der Herkunft und im Lebensverlauf des Individuums aufbewahrt ist. Die in der Lebenslaufforschung erfolgte Transformation des Klassenbegriffs zeigt ihren vollstandigen Abschied von veralteten Klassenpramissen nicht nur in der Auflosung des Problems des Klassenhandelns. Sie belegt diesen Abschied auch in ihrem Verzicht auf Konfliktvermutungen. Sie mochte die dynamische Einbettung von Lebensverlaufen in eine differenzierte Gesellschaft erforschen und verzichtet darauf, in Klassen einen Akteur zu sehen, der grundsatzlich oder im Einzelfall in Konflikten handelt. Sie versteht den Klassenbegriff kausal aus der Beobachterperspektive: Es geht ihr nicht um Klassen, die in Konflikten handeln, sondern um genetische Reproduktionsklassen, deren Wirkung in Lebensverlaufen nachgewiesen werden kann. Folgerichtig geht sie nicht nur davon aus, dass „Politik ftir Gruppen in besonderen Lebenslagen ... an die Stelle
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von Klassenpolitik" tritt (Mayer 1990: 14). Auch pladiert sie vorsichtig, bisweilen gar entschieden fur eine Verbindung klassenformiger Mal<JoregelmaBigkeiten mit Mtooregeln menschlichen Verhaltens, die sich als Kausal- und KontroUvorstellungen messen lassen (Mayer 2003; Diewald et al. 1996). Was aus der Sicht der interdisziplinaren Lebenslaufforschung als notwendige Verbindung von soziologischer Strukturanalyse und sozialpsychologischer Entwicklungsforschung erscheint, bezeichnet in der hier verwendeten Termino logic nichts anderes als die mogliche Erheilung sozialstruktureller Verteilungen durch die Erforschung sinnhafter, d. h. praktischer Kausalzurechnungen. Interessante Forschungsfragen, die gerade auf dem Klassenbegriff aufbauen, anstatt ihn zu verabschieden, konnten auf dieser Basis etwa lauten: Wie wandeln sich z. B. Leistungszurechnungen - also die Annahme, der eigene Berufsweg hange von eigenen Anstrengungen ab - im Lebensverlauf? Welche Grunde veranschlagen in welchem AusmaB welche Klassenangehorigen habituell an welchen Stationen, Phasen und Ubergangen des Lebenslaufs fur ihre Bildungs- und Berufsentscheidungen und fur soziale Uber- und Unterordnung? (Heinz 2000; Heckhausen/Tomasik 2002) Sind es moglicherweise gerade die Mitglieder der unteren und auch der mittleren Klassen, die anfangs dem Leistungsmythos der Arbeitswelt zu naiv aufsitzen, um den praktischen Sinn von Karriereturnieren rechtzeitig genug zu begreifen (Rosenbaum 1984)? Welche Kohorteneffekte lassen sich bei Leistungszurechnungen beobachten? Nimmt die Leistungszurechnung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zu oder ab? Wie kann der Gegenstandsbezug von Items, die Leistungszurechnungen abfragen, prazisiert werden, damit ihr Praxisgehalt wirklich erfasst wird? Wenn die Lebensverlaufsforschung den Klassenbegriff lediglich als smnfremden Kausalstrang menschlichen Verhaltens in Lebensphasen auffasst, gibt es keinen Grund, auf ihn zu verzichten, denn er steht sinnverstehenden, „subjektorientierten" Betrachtungen gerade nicht im Weg, sondem ermoglicht erst ihre empirisch kontrollierte Generalisierung in der Sozialforschung. 3 Erklaren und Verstehen als Paradigma der Ungleichheitsforschung Ganz im Sinne der scheinbar unvermeidlichen Konkurrenz von wissenschaftlichen Forschungsprogrammen sind Lebensverlaufs-, ^Status attainment'^ und Klassenforschung sowie nicht zuletzt Bourdieus kulturalistische Theorie sozialer Ungleichheit bisweilen als Rivalen betrachtet worden (Strasser 1992). Sowohl die neuere, „kulturaHstische" Wende in der Klassenforschung als auch die auf der Allianz von Soziologic und Entwicklungspsychologic basierende Lebensverlaufsforschung (Mayer 2003) deuten jedoch in eine andere Richtung. Ihr gemeinsames Paradigma ist die empirische Allianz von Erklaren und Verstehen, die Max Weber einst ins soziologische Stammbuch geschrieben hatte, ohne al-
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lerdings here its verstandlich geschildert zu haben, wie diese Allianz genau urazusetzen sei. Weber wollte beweisen, dass das Kausalitatsprinzip in den Kulturwissenschaften in vollem Umfang angewendet werden konne. Dazu mtissten probabilistische RegelmaBigkeiten durch verstehende Betrachtungen erganzt und gestUtzt werden, um zu sinn- und kausaladaquaten Aussagen zu gelangen. Welche Rolle die von der Klassenforschung gemachten Aussagen in diesem Konzert iibernommen haben, liegt auf der Hand: Klassenschemata liefern eine Typologie, die die Berechnung relativer Wahrscheinlichkeiten erlaubt - etwa des Erreichens eines Bildungsabschlusses, einer beruflichen Zielposition, des Eintritts in Armut usw. Verstandlich werden solche Wahrscheinlichkeiten durch theoretische und empirische Rekonstruktionen der „Erfahrungsregeln", nach denen die sinnhafte Praxis solche Wahrscheinlichkeiten erst hervorbringt. Die klarste Exposition Webers (1985: 327) dazu stammt nicht aus den Soziologischen Grundbegriffen, sondern aus dem Stammler-Aufsatz. Verstehbar und geregelt an menschlichem Verhalten seien „,Maximen', welche in dem einen Fall ganz ebenso wie in dem anderen in ihrer das empirische Verhalten des Individuums kausal beeinflussenden Wirksamkeit gestiitzt werden durch entweder selbst gefundene oder von anderen erlernte Erfahrungsregeln von dem Typus: wenn ich x tue, ist, nach Erfahrungsregeln, y die Folge'\ Die Menschen erwarten in ihrem Verhalten wechselseitig bestimmte kausale Idealisierungen und Generalisierungen nach „Erfahrungsregeln" oder, wie spater gesagt wurde, der Situation angemessene Kausalattributionen (Heider 1958). Ebenso wie die kasuistisch argumentierenden Juristen lassen sich die Menschen durch die „eigentliche" Unendlichkeit des kausalen Netzes keinesfalls irritieren, sondern erwarten voneinander bestimmte vorgestellte Ursachen und Wirkungen in Abgrenzung zu anderen, nicht bezeichneten Ursachen und Wirkungen und verhalten sich dementsprechend. Ausdriicklich hebt Weber dabei hervor, dass den Menschen ihre im eigenen Verhalten gezeigten kausalen Uberzeugungen nicht vollstandig und durchgangig „bewusst" sein mlissen (ebd.: 334). Es geht, wie es spater (ebd.: 393) noch deutlicher heiBt, um die kausale Betrachtung dessen, was die Menschen in ihrem aufieren Verhalten einander als geltend zeigen was immer dabei in ihren Kopfen mental passiert. Die Tauglichkeit von Webers theoretischen Anstrengungen um eine empirische Soziologie ist fiir die Ungleichheitsforschung nicht unmittelbar einsichtig. Die spatere Diskussion hat sich meist auf Webers schmale AuBerungen zum Klassenbegriff selbst konzentriert und Webers Betonung einer groBeren Klassenpluralitat herausgearbeitet. Diese Rezeption ist wichtig, legt aber allein noch nicht das ganze Potential von Webers Kausalitatstheorie frei. Es ist namlich auch moglich, seinen Beitrag zur Theorie und Empiric ungleicher Beziehungen mit einem anderen Schwerpunkt zu lesen. Nach Weber kann menschliches Ver-
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halten unter modernen Bedingungen nicht einfach aus einem Guss beschrieben werden, weil es je nach Bereich unterschiedlichen Regeln folgt. Dieses Problem grenzt er einer ersten Annaherung durch die Einfuhrung soziologischer Abstraktionen in Bezug mif soziale Beziehungen ein. Der Sinngehalt solcher Typen von Situationen kann in der modernen Gesellschaft nach Weber von mehr oder minder groBer Dauer, mehr oder minder durch formale Vereinbarungen explizit vereinbart und mehr oder minder konflikthaft oder konsensuell sein. Stets aber lasst sich die Bedeutung solcher sozialen Beziehungen, etwa des „Staats", aus den wechselseitigen Erwartungen ableiten, die die Menschen in ihrem Verhalten beziiglich dieser Gebilde zeigen. Webers Begriffsarbeit war in dieser Hinsicht darum bemtiht, eine der juristischen Kasuistik analoge Bildung von Generalisierungen und Idealisierungen zu schaffen, die die Basis fur spatere, in der Sozialforschung dann empirisch zu leistende, kausal adaquate Zurechnungen menschlichen Verhaltens schaffen. In welche Richtungen rechnen die Menschen je nach Lebensphase, Herkunft, Geschlecht, beruflicher Stellung usw. tatsachlich in politischen Offentlichkeiten, in der Schule, in der Familie, in der Berufswelt usw. zu? Wie unterscheiden sich die Gruppen in ihren Erwartungen? Welcher Wandel der Erwartungen kann beobachtet werden? Wann glauben sie z. B. an die Leistungsverursachung eines Sachverhalts, wann nicht? Welche sozialstrukturellen, unerwarteten Ursachen und Folgen hat das wiederum? Das Verstehen von Sinnzusammenhangen, das diesen Bereichsbezug von Verhalten aufdeckt, ist dabei eine Art von Anl<:er, der kausale Erklarungen menschlichen Verhaltens befestigt. Er reduziert die Zahl moglicher kausaler Besclireibungen von Verhalten durch die MaBgabe, dass die kausale Selbstdeutung des Verhaltens mit der kausalen Fremddeutung kompatibel sein muss. Behaupten wir z. B., eine bestimmte RegelmaBigkeit sei durch eine Berufsgruppe (Klasse) kausal erkldrbar, muss diese Hypothese durch Daten und Hypothesen iiber entsprechende sinnhafte Erwartungen solcher Berufsgruppenangehoriger empirisch iiberprtift werden: Inwiefern sind deren Zurechnungen ihres eigenen Verhaltens typisch? Ein weiteres Beispiel aus der Sozialforschung verdeutlicht das: Einiges spricht etwa dafur, dass sich Angehorige niedriger Klassen hautlger als so sehr von Nikotin abhangig deuten, dass sie es seltener schaffen, tatsachlich durch eigenes Wollen mit dem Rauchen aufzuhoren. Es ist die externe Zurechnung der Abhangigkeit anstelle der Zurechnung des Verhaltens auf eigenes Wollen, die kausal als Deutung eigenen Verhaltens wirksam wird. Sie zeigt, inwiefern Gesundheitsverhalten auf sinn- und kausal adaquate Weise klassenabhangig ist. Was der zu verstehende Sinn eines Verhaltens ist, hatte Weber (1985: 329) als subjektive Erwartung iiber Ursachen und Wirkungen (etwa Leistungen als geglaubte Ursache eigener oder fremder Erfolge) bezeichnet, die gemaB erlern-
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ten Erfahrungsregeln verkniipft werden. Subjektive Erwartungen liber Ursachen und Wirkungen eigenen und fremden Verhaitens waren dort so allgemein formuliert, dass jede Art von Kausaldeutung fur die Erklarung menschUchen Verhaitens interessant ist. Die Erfahrungsregeln, die das tatsachliche Verhalten nach Weber nicht nur normativ festlegen, sondern auch kausal erklaren konnen, beziehen sich dort auch auf Verhaltensweisen, die aus reiner Gewohnheit, nicht selten gar in dumpfer Halbbewusstheit vollzogen werden. Jeder, der einige Jahre an Skat- oder Doppelkopfrunden teilgenommen hat, kann das bestatigen. Das regelkonforme Legen der richtigen Karte erfolgt schlieBlich oft ohne ausdrlickliche Intentionalitat. Je starker das praktische Verhalten eine Kegel verinnerlicht, desto impliziter wird ihre Ausdrucklichkeit. Das lasst sich auch an einem der Beispiele, die Weber in den Grundbegriffen gibt, darlegen. Wer einmal die Grundrechenarten erlernt hat und mit RegelmaBigkeit die richtige Losung fur die Aufgabe „2+2" angeben kann, braucht dazu spater keine intentionale Anstrengung mehr zu erbringen. Nach den in den vorhergehenden Aufsatzen entwickelten Auffassungen ware es deshalb auch moglich gewesen zu sagen, dass der Sozialwissenschaftler die in den jeweiligen sozialen Beziehungen typischen Kausalvorstellungen quaHtativ studieren und dann in Umfragen moglichst quantitativ messen so lite, und zwar ganz gleich, ob sie auf eigenes WoUen oder aber auf geglaubte externe Zwange zielen. Der Forscher konnte z. B. zahlen, wie oft Menschen in ihrem sichtbaren Verhalten je nach Klasse, Bildung, Geschlecht, Lebensphase, zuhorendem Publikum usw. tatsachlich in besthrimten sozialen Beziehungen die Ursache fur bestimmte Sachverhalte in „Leistungen" lokalisieren und wann sie statt dessen Gliick, Schicksal, Wohlwollen Dritter, Traditionen usw. als Grund ansehen, um dann aufgrund dieser Zahlungen Hypothesen liber kausale Folgen solcher RegelmaBigkeiten aufzustellen. Die Grundbegriffe zielen auf subjektive, mit einer gewissen RegelmaBigkeit im Verhalten sichtbar werdende Kausalvorstellungen (Nollmann 2003). Die Annahme, solche Kausalvorstellungen traten mit einer gewissen RegelmaBigkeit auf, ist spater oft Icritisiert worden. Turner (1983: 513) betont, dass Weber (1985: 420) sich offenbar einfach auf die durchschnittliche Fahigkeit menschlichen Verhaitens verlasse, wahrscheinliche Ursachen und Wirkungen adaquat zu berlicksichtigen, ohne selbst liber eine entsprechende Theorie des Alltagswissens zu verfugen. Wer diese Kritik so auBert, macht zwar zu Recht geltend, dass Weber diese Regeln des Zurechnens nur postulieren, aber nicht oder nur beispielhaft empirisch konturieren konnte. Aber Weber hat auch gar nicht behauptet, diese Regeln schon zu kennen, sondern vielmehr nur dargelegt, dass es moglich sei, sie zu erforschen. Wer aber diese Prdmisse eines spater empirisch zu flillenden Forschungsprogramms nicht teilt, bezweifelt letztlich
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den Sinn des Gedankengangs, denn die Erfahrungsregeln, die geglaubte Verkntipfungen von Ursachen und Wirkungen enthalten, sind Webers Garant fiir die Anwendbarkeit der Kausalkategorie auf dem Gebiet menschlichen Verhaltens. Ohne die Annahme, dass die Erwartungen der Menschen im Alltag auf regelmaBige Weise an geglaubten Ursachen und Wirkungen eigenen und fremden Verhaltens orientiert sind, ist Webers Kausalitatstheorie nicht tragfahig. Ob das Vertrauen, das Weber in immer neuen Anlaufen praktischen Erfahrungsregeln geschenkt hat, berechtigt ist oder nicht, kann nur empirisch entschieden werden. Das von Weber in den Kritischen Studien erlauterte Beispiel der Mutter, die sich fragt, warum sie ihr Kind geschlagen habe, zeigt am deutlichsten, dass Weber kausale Zurechnungen nicht nur fur ein Merkmal der juristischen oder der wissenschaftlichen Betrachtung, sondern fur einen Grnndzng jeden Verhaltens halt. Die Kausalitatskategorie ist insofern nicht ein intellektuelles Instrument der Weltdeutung, sondern fmdet schon in der alltaglichen Selbst- und Fremddeutung Verwendung. Auch die Mutter nimmt ein Kausalurteil uber objektive Moglichkeiten und adaquate Verursachungen vor, wenn sie ihr eigenes Verhalten betrachtet. Es spieh zunachst einmal keine Rolle, ob der Sozialwissenschaftler diese Kausalaussage fur plausibel halt und nicht z. B. eher die Klassenzugehorigkeit oder den Bildungsgrad als entscheidende Determinante der mutterlichen Gewalt ansieht. Entscheidend ist fur die kausale Erklarung menschlichen Verhaltens vielmehr nach Weber, dass Urteile liber adaquate Verursachungen im Gegenstand bereits vorkommen und diese deshalb als gemeinter Sinn eines Verhaltens ein adaquater Kausalfaktor auch in der wissenschaftlichen Erklarung werden konnten. Das Verstehen von Sinnzusammenhcingen ist insofern, in der von Weber ursprtinglich verwendeten Terminologic ausgedrtickt, nichts anderes als eine kausale Zurechnung, die schon im Gegenstand der Kulturwissenschaft enthalten ist. Mit einer fur Weber (1985: 431, 545) selbst wichtigen Unterscheidung ware es auch moglich, das Begriffspaar Sinnund Kausaladaquanz mit Hilfe der Unterscheidung von sinnhaften und sinnfremden Kausalzurechnungen zu erlautern. Es geht also nicht im Geringsten um eine Gleichsetzung dieser beiden Unterscheidungen, sondern lediglich um die propadeutische Explikation der weit reichenden, extrem anspruchsvollen Voraussetzungen, die in der Theorie von Sinn- und Kausaladaquanz enthalten sind, damit deutlich wird, dass das Verstehen von Sinnzusammenhangen auf praktischen kausalen Zurechnungen beruht und Hypothesen daruber formuliert werden miissen, welche Folgen praktische Kausalzurechnungen haben und inwiefern sie sowohl strukturell erzeugt als auch erzeugend sind. Diesen sehr hohen Anspruch von Webers Kausalitatstheorie kann man nun aus der Sicht der spateren sozialpsychologischen und sozialstrukturellen Forschung darlegen.
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Es ist wichtig zu betonen, dass die Diskussion von Webers Kausalitatstheorie alles andere als eine literarische Ubung ist, sondern vielmehr zentrale Bedeutung fur die Beurteilung der von der Sozialforschung vorgelegten Daten hat. Ein spannendes Beispiel dafiir bietet die Diskussion uber die Leistungsgesellschaft. Auch wenn die verfiigbaren Daten vorsichtig hinsichtlich ihrer Validitat und Reliabilitat eingeschatzt werden miissen, zeichnet sich heute folgendes Bild ab: Als sozialpsychologisches Datum bezeichnet „Leistung" eine kausale Zurechnung menschlichen Verhaltens, die die Ursachen des zu erklarenden Sachverhalts in internen und variablen Momenten sieht. Wird ein Verhalten als Leistung bezeichnet, werden die Ursachen fiir ein erklarungsbedtirftiges Phanomen, etwa ungleiche Berufskarrieren, aus der Teilnehmerperspektive in der betreffenden Person, nicht hingegen in deren Herkunft, Milieu, Natur etc. lokalisiert. Gemeint ist damit der Blick der Praxis. So werden in Arbeitsorganisationen Vorgesetzte stets die Leistung eines Mitarbeiters hervorheben, wenn sie diesen befordern (unabhangig davon, ob die anderen Mitarbeiter das tatsachlich glauben oder gar auf Hinterbuhnen vortragen, dass soziales Kapitel ausschlaggebend war). Auch der Sinnzusammenhang menschlichen Verhaltens in Bildungsorganisationen ist dadurch gekennzeichnet, dass diese ihre Mitglieder auf Leistungen einschworen. Die Schtiler lernen, Ungleichheit der Noten als graduellen Ausdruck ihrer sich selbst zuzurechnenden Leistungen zu betrachten: Die Schtiler sollen sich ihre Noten selbst zuschreiben und ihre Anstrengungen erhohen, um bessere Noten zu erreichen (Mortimer 1996). Demgegenliber erscheinen aus der sozialstrukturell forschenden Beobachterperspektive Bildungs- und Begabungsstatistiken als sinnfremde Randbedingung von mehr oder minder durch „Leistungen" bestimmten Lebensverlaufen. „Leistung" bezeichnet hier eine sozialstrukturelle, sinnfremde RegehnaBigkeit, etwa der Verteilung von Bildungstiteln, Einkommen und beruflichen Positionen, deren kausale Wirksamkeit mit anderen Variablen, etwa der sozialen Herkunft oder des Geschlechts, zu konkurrieren scheint. Solche Verteilungen bezeichnen nicht die Sinnhaftigkeit des menschlichen Verhaltens selbst, sondern die sozialstrukturellen Ursachen und Wirkungen von menschlichem Verhalten. Der Kausalgehalt des Leistungsbegriffs ist folglich doppelter, namlich sowohl sozialpsychologischer als auch sozialstruktureller Art, und fiir die Forschung ist es nach Weber von hochster Relevanz, beide Bedeutungen sauber zu trennen. Wer erstens berufliche Erfolge aus Bildungs- und Begabungsindikatoren einerseits und Einfltissen der sozialen Herkunft andererseits aus der Beobachterperspektive zu erklaren versucht, gelangt zu einem gemischten Bild, das hochstens die Aussage erlaubt, dass beide Erklarungsrichtungen auf jeden Fall erhebliches kausales Gewicht haben, ohne dass eine Dominanz einer Variablengruppe eindeutig festgestellt werden kann (so Breen/Goldthorpe 1999;
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Bond/Saunders 1999). Fragt man jedoch zweitens in Umfragen nach sinnhaften Zurechnungsgewohnheiten, die die Menschen in ihren Lebensbereichen, etwa im Beruf, in der Bildung oder in politischen Offentlichkeiten beziiglich „Leistung" haben, zeigt sich eine im Vergleich wesenthch starkere individualistische Deutungspraferenz, die die Ungleichheit der Menschen auf gleichsam „ubertriebene" Weise in Leistungsunterschieden begrundet sieht (Kluegel/Smith 1986). Diese Sichtweise hat durch die Einfuhrung von Kosten/Leistungsrechnungen in Wirtschaft, Verwaltung, Bildung und Gesundheit nochmals erheblich an Gewicht gewonnen, well diese Leistungszurechnungen erzwingen. Die sinnhafte Erkldrung aus der Teilnehmerperspektive ist also kausal viel einseitiger als die sinnfremde Beobachterperspektive. Cum grano salis konnte man zur gesamten Kausallage sagen, dass aus der sinnfremden Beobachterperspektive die moderne Gesellschaft in einem Verhaltnis von etwa 50:50 als Meritolo-atie und als Aristolcratie erscheint. Aus der Teilnehmerperspektive scheint hingegen das Verhaltnis jedoch eher bei etwa 80:20 zugunsten des Leistungsglaubens zu liegen. Ftir die Forschung kommt es darauf an, in beiden Forschungsergebnissen nicht einen problematischen Widerspruch zu sehen oder die Praxis liber das von aufien betrachtet viel hohere Gewicht der aslmptiven Parameter belehren zu wollen. Vielmehr miissen mit Webers Kausalitatstheorie aus den sinnhaften und sinnfremden Daten die richtigen Schlussfolgerungen flir Ablauf und Wirkungen menschlichen Verhaltens gezogen werden. Die „Einseitigkeit" der sinnhaften Leistungszurechnungen in westlichen Gesellschaften bleibt namlich alles andere als folgenlos. Sie ftihrt dazu, dass der Konfliktgehalt sozialer Ungleichheit nicht selten uberraschend gering bleibt, weil die Menschen meistens und insbesondere in der Bildung sowie in fi-uhen Berufsjahren wirklich glauben, Ungleichheiten seien durch unterschiedliche Leistungen begrundet. Zumindest widersprechen sie dieser Zurechnung auch spater offentlich nicht, sondern mtissen sich mit ihren Zweifeln in Situationen begeben, in denen Widerspruch mehr oder minder folgenlos verhallt - etwa in informelle Hinterbiihnen oder private Diskussionen mit Freunden oder in der Familie oder schlieBlich in die einsame Resignation, die wiederum messbare Storungen des emotionalen und seelischen Gleichgewichts bewirkt (Liebig/Schupp 2004). Geltung und Nicht-Geltung des Leistungswerts werden im Verhalten selbst damit aber auf zwei verschiedene Gleise gesetzt. Die Auffassung, Ungleichheiten der Bezahlung, der Position und des Geschlechts seien durch unterschiedliche Leistungen kausal verursacht, stellt zwar keinesfalls die exklusive, wohl aber die geltende und als legitim beanspruchte Sichtweise dar, wenn es darauf ankommt - und das, obwohl von auBen kaum ubersehen werden kann, dass sie kausal hochst einseitig ist. Gerade das Auseinanderfallen dieser beiden Sichtweisen muss analysiert werden. Ob und wenn ja, inwieweit die kausalen Zurechnungen aus Teilnehmer- und Beob-
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achterperspektive divergieren und welche kausalen Folgen das hat, war zu Webers Zeiten natlirlich nicht im Geringsten voraussehbar, well es noch keine Sozialforschung gab, die die heute verfiigbaren Daten zu Einstellungen und sozialstrukturellen Variablen bereit stellt.^ Der Leistungswert ist also in der Lage, einen briichigen, gleichwohl wirksamen Konsens fur ungleiche Lebensverlaufe uber Klassengrenzen hinweg zu mobilisieren, gerade weil er nicht immer fur alle zu alien Zeiten in gleichem MaBe gilt. Dieses aneinander gesteigerte Wechselspiel von eingefordertem Konsens und zuruckgedrangtem Konflikt gelangt allerdings erst dann in den Blick, wenn mit Weber zwischen sinnhaften und sinnfremden kausalen Zurechnungen unterschieden wird. „Leistung" bezeichnet einmal das sinnhafte Verhalten selbst und im anderen Fall die von auBen erkannten, sinnfremden Ursachen und Wirkungen des Verhaltens. Expliziert man auf diese Weise die zu „verstehende" Sinnadaquanz eines Verhaltens als praktische, „gemeinte" Kausalvorstellung, verhalt sich diese in ihrer logischen Kausalstruktur nicht grundsatzlich anders als die s'mnfremde Kausaladaquanz eines Verhaltens. In beiden Fallen geht es um Ursachen und Wirkungen. Die sinnadaquate Beschreibung eines Verhaltens (Teilnehmerperspektive) ist nur insofern immer eine kausal adaquate Beschreibung eines Verhaltens (Beobachterperspektive), als es ohne sie nicht moglich ist, eine nicht willkilrliche kausale Erklarung von Verhalten anzufertigen. Sofern dargelegt werden kann, dass das als sinnadaquat bezeichnete Verhalten mit einer gewissen RegelmaBigkeit vorzukommen pflegt, ist die sinnadaquate Beschreibung des Verhaltens auch kausal adaquat, denn ohne das zugrunde liegende menschliche Verhalten gabe es den betrachteten Zusammenhang nicht. So betrachtet erscheint eine Allianz von Erklaren und Verstehen, von EntwicklungS'/Sozialpsychologie und Soziologie, von subjektivem und objektivem Erklaren geradezu ein „naturlicher" Fortschritt bei der sukzessiven Umsetzung von Webers Programm. Das belebte Interesse am kulturellen Kapital, der Uber' Weber (1985: 444 f.) diskiitiert dieses Problem an den nur scheinbar anders gearteten Beispielen des Diebes, des falsch spielenden Kartenspielers und des Totschlagers. Die geltenden Erwartungen sagen, dass deren abweichendes Verhalten eigentlich gar nicht vorkommen dtirt^. Gleichwohl machen Statistiken (sinnfremde RegelmaBigkeit) dieses Abweichen - zumindest fiir die Beispiele des Diebstahls und des Totschlags - sichtbar. Ahnliches gilt ftlr den „Wettbewerb" von Meritokratie und Aristokratie: Auch wenn die Forschung die immense Bedeutung der sozialen Herkunft fiir Berufskarrieren eindeutig belegt hat, scheinen die Menschen oft an der in der Praxis ublichen Fiktion testzuhalten, dass angeblich Leistungen ausschlaggebend seien. Gerade die Divergenz ist von Interesse, denn dieser „lrrglauben" hat wichtige Folgen, die man ohne seine Kenntnis nicht erkennen wiirde wie z. B. die Tatsache, dass ohne die geglaubten Fiktionen das heute iibliche AusmaB an sozialer Ungleichheit gar nicht moglich ware, weil die Menschen sonst tatsachlich offentlich widersprechen und ggf. die geltende Ordnung zerstoren wiirden.
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gang zur Lebensverlaufsforschung, das vertiefte Interesse an Milaoprozessen in Familie, Peergroups, Schule, Nachbarschaft, Schulsystem, Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Mehrebenenbetrachtungen verweisen darauf, dass sich die Klassenforschung langst der Aufgabe widmet, die probabiiistischen RegelmaBiglceiten zwischen Sozialstrui<:tur und Gesellschaft verstandlicher und damit auch kausal durchsichtiger zu machen (Hout/DiPrete 2004: 19). 4 Die Beitrage John Goldthorpe untersucht in seinem Beitrag den Zusammenhang von Beschaftigungsverhaltnissen, ihrer vertraglichen Regelung und der Bildung gesellschaftlicher Klassen. Sein Anliegen ist, ein moglichst allgemeines, werturteilsfreies Analyse-Instrument zur Verftigung zu stellen, das die Klassenstruktur moderner Gesellschaften auf der Grundlage der Theorie rationalen Handeins beschreiben und erklaren kann. Uwe Engel und Julia Simonson setzen sich mit den Auswirkungen von Statusinkonsistenz auf die soziale Integration auseinander. Grundlage ihrer Modellierung ist die Statusinkonsistenztheorie, die auf ein modernes Phanomen verweist: Individuen weisen Merkmale unterschiedlicher Statuspositionen auf und lassen sich so keiner Statusposition eindeutig zuordnen. Forschungsbedarf sehen sie bei den Fragen, ob Statusinkonsistenz heute noch bedeutsame psychosoziale und soziale Auswirkungen hat oder ob diese Auswirkungen mit zunehmender Haufung von Statusinkonsistenz in der Gesellschaft abnehmen. Das Verhaltnis von Individualisierung und Restrukturierung in sich ausdifferenzierenden Sozialstrukturen ist Gegenstand des Beitrags von Dieter Holtmann. Am Beispiel der sozialstrukturellen Verankerung der Parteienlandschaft und des Wertewandels zeigt er, dass Individualisierung und Restrukturierung sich nicht ausschlieBen, dass ihr Verhaltnis aber auch nicht durch eindimensionale Erklarungen zu bestimmen ist. An die Stelle von alteren Klassenmodellen mtissen vielmehr neuere Modelle vertikaler Strukturierung treten, die die Restrukturierungstendenzen neben den Individualisierungstendenzen angemessen abbilden konnen. Den spezifisch deutschen Blick auf die Sozialstruktur unterzieht Max Mailer in seinem Beitrag einer wissenssoziologischen Analyse. Im Vergleich mit der deutschen Soziologie friiherer Jahre aber auch mit den soziologischen Untersuchungen in Franl
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Petra Stein eroffnet eine Forschungsperspektive auf den Zusammenhang zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilen. Empirische Studien legen nahe, dass Lebensstile als neuere Konzepte zur Beschreibung sozialer Ungleichheit die klassischen strukturtheoretischen Ansatze nicht verdrangen sollten. Stein argumentiert, dass bei der Erforschung der Auswirkungen von Schicht- oder Klassenzugehorigkeit auf den Lebensstil Mobilitatsprozesse gewinnbringend einbezogen werden konnen. Es wird deutlich, dass neben der sozialen Position und den „objektiven" Lebensbedingungen auch die intergenerationelle Mobilitat eixiQn Einfluss auf die Neigung zu einem Kulturschema hat. Die Einbeziehung von Mobilitatsprozessen kann damit die Erklarungslcraft von Klassen und Schichten wesentlich verbessern. Fur eine bessere Kombination quantitativer und qualitativer Untersuchungsmethoden bei der Erforschung sozialer Ungleichheit pladiert Harold Kerbo. Am Beispiel der Erforschung gesellschaftlicher Schichtung in Japan zeigt er auf, wie westliche Vorurteile in Kombination mit quantitativen Forschungsmethoden in der Tradition Durkheims den Blick auf wichtige nationale Eigenheiten verstellen. Diese Eigenheiten konnten mithilfe einer quaHtativen vergleichend-historischen Methodologic in der Tradition Webers erkannt und berucksichtigt werden. George Ritzer und Michael Friedman machen einen Ausflug in die Kultur des globalen Dorfes. In alien GroBstadten der Welt, so argumentieren sie, sind die gleichen Prozesse der Stadterneuerung im Gange. Nach der Abwanderung von Produktionsunternehmen in „billigere" Lander orientieren sich die Stadte auf der Suche nach neuen Einnahmequellen an den liberal 1 erfolgreichen Konzepten der „McDisneyisierung". An die Stelle der Produktion tritt der Konsum, der an alien Orten der Welt in den gleichen Formen und aufgrund der gleichen Anreize vollzogen wird. Einzelne Stadte konnen sich hierbei nur noch durch den Zauber ihres Namens aus der Universalitat der Konsumlandschaften herausheben. Als Ausweg aus dem drohenden Dilemma des Konsumverfalls durch Ununterscheidbarkeit empfehlen die Autoren der Politik, einen Ausgleich zwischen Universellem und Ureigenem anzustreben, durch den sich die Stadte ein eigenes Gesicht bewahren konnen. In seiner Kritik sowohl okonomischer als auch soziologischer Sichtweisen auf den Markt als isolierten gesellschaftlichen Einzelbereich in Auseinandersetzung mit staatlichen und gesellschaftlichen Vorgaben pladiert Nico Stehr fur eine Analyse des Marktes als soziale Praxis, die in die gesellschaftliche Sozialstruktur eingebettet ist und sich durchdrungen von gesellschaftlicher Moral im Zusammenspiel kompetenter Akteure entfaltet und fortentwickelt. Die Bedeutung der Religion fur Menschen in modernen, hoch differenzierten Gesellschaften untersucht Heiner Meulemann. Er stellt zunachst die moder-
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ne Religion ais einen Teilbereich des Lebens neben anderen vor. Das Besondere an diesem Teilbereich ist aber, dass hier nicht nur eine Einzeibereichszufriedenheit erzeugt, sondern Zufriedenheit auch fiir das Leben insgesamt bere itgeste lit wird. Meulemann stellt den Einfluss der Religiositat auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt dar - einerseits in Abgrenzung zum Einfluss der ReUgiositat auf die Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen, andererseits in Abgrenzung zum Einfluss anderer Faktoren auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt. Dabei wird deutlich, dass die Religion trotz ihrer Stellung als Teilbereich des Lebens nach wie vor geeignet ist, dem Leben der Menschen insgesamt Sinn zu geben und das menschliche Bedurfnis nach „Kosmisierung" zu erfuUen. Um die Deutungshoheit liber die Trieblaafte gesellschaftlicher Entwicklung geht es im Beitrag von Georg W. Oesterdiekhoff. In einer l<Titischen Auseinandersetzung mit der Institutionentheorie von Douglass North verteidigt er bei der Bestimmung der Ursachen kultureller Entwicklung und Divergenz die Uberlegenheit soziologischer und kulturanthropologischer Erklarungsansatze gegenuber neueren, rein okonomischen Ansatzen von Markt und Eigentum. Thomas Schweer und Nicole Scherer beschreiben das schwierige Spannungsfeld zwischen Rechtsstaat und Prostitutionsszene in Deutschland. Trotz Legalisierung verscharfen sich die Lebensbedingungen der betroffenen Frauen immer weiter. Der Text lasst vermuten, dass der noch gestiegene und weiter steigende, dringende staatliche Handlungsbedarf vom modernen Rechts- und Sozialstaat nicht in seinem ganzen AusmaB erfasst und anerkannt wird. Hier bleiben Wissenschaft und Politik als Gestaltungskrafte der Gesellschaft weiterhin gefragt. Einen Blick auf die Konstruktion der SpaBgesellschaft wirft Marcus S. Kleiner. Vor dem Hintergrund des Booms von Comedy-VormSitQn im deutschen Fernsehen analysiert er die medialen und wissenschaftlichen Diskurse tiber SpaBgesellschaft und SpaBkultur. Er entlarvt diese Diskurse als weitgehend selbstreferentielle Kommunikationen, in denen eigene Bedeutungen erst produziert werden. Hier reden Medien mit Medien und Wissenschaft mit Wissenschaft, und genau durch diese Diskurse wird - letztlich vielleicht sogar an der Unterhaltungs5ffentlichkeit vorbei - die SpaBgesellschaft erst ausgerufen, an deren Bild sich die Macher der immer gleichen Unterhaltungsshows orientieren. Fur einen neuen Egalitarismus als Leitformel des modernen Sozialstaats pladieren Anthony Giddens und Patrick Diamond. Sie diskutieren exemplarisch die Politik von New Labour in GroBbritannien. An die Stelle alterer egalitaristischer Forderungen nach Umverteilung und Ergebnisgleichheit setzen sie das Ziel, soziale Gerechtigkeit durch die Herstellung von Chancengleichheit bei diversen Moglichkeiten des Ergebnisses zu erreichen. Ausgerichtet an der Vision eines Sozialstaates, der die Armut als Hypothek auf Leben und Personlichkeit
Sozialstruktur und Gesellschaft der Einzelnen bekampft, der Chancengleichheit durch bestmogliche Bildungsangebote, Arbeit, Sicherheit und Wiirde fUr alle herstellt und Wohlstandsungleichheit nur in dem MaBe bei<:ampft, wie es fur diese Ziele notwendig ist, sehen sie als wesentliche Grundlagen des neuen Egalitarismus die Forderung eines stabilen Wirtschaftswachstums, die Koppelung der Chancengleichheit an die Einforderung von Eigeninitiative und Willen zur Integration, die Gemeinwohlbindung von Unternehmen und die Forderung des Sozialkapitals in den Kommunen. Durch diese Verzahnung von Forderungen an Staat, Markt und Dritten Sektor erscheint Giddens und Diamond ein neuer Egalitarismus als geeignetes Konzept im Bestreben um soziale Gleichheit. Nach Grundlagen der europaischen Identitat sucht Johannes Weifi. Weder abstrakte Ideen und Werte noch die politische Struktur oder die gemeinsame Wahrung, so argumentiert er, konnen die fur eine kulturelle Vergemeinschaftung notwendige Solidaritat herstellen. Nur die diskursive (Ruck-)Besinnung einer lebendigen europaischen Offentlichkeit auf das spezifisch Eigene Europas, auf die geschichtlichen Quellen „Antike und Bibel" als Grundlagen des Humanismus, der politisch-rechtlichen Ordnung, des Fortschritts von Kunst und Wissenschaft, sowie die Anerkennung des christlichen Glaubens als noch heute im privaten und offentlichen Raum wirksame und pragende Kraft konnen fur WeiB die Basis sein, auf der sich eine europaische Identitat im Spannungsfeld von Gegensatzen aushandeln lasst. Literatur Beck, U., 1986: Risikogesellschaft, Frankflirt/M.: Suhrkamp. Breen, R., J. H. Goldthorpe, 1999: Class inequality and meritocracy: a critique of Saunders and an alternative analysis, in: British Journal of Sociology 50, 1-27. Bond, R., P. Saunders, 1999: Routes of success: influences on the occupational attainment of young British males, in: British Journal of Sociology 50, 2, 217-249. Becker, R., 2003: Educational Expansion and Persistent Inequalities of Education in Germany, in: European Sociological Review 19, 1-24. Blossfeld, Hans-Peter, Timm, Andreas (Hrsg.), 2003: Who Marries Whom? Educational Systems as Marriage Markets in Modern Societies, Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers. Bourdieu, P., 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, FrankHirt/M.: Suhrkamp. Bowles, S., H. Gintis, M. Osborne, 2001: The Determinants of Earnings: A Behavioural Approach, Journal of Economic Literature 39, 1137-76. Cockerham, W. C, 2001: Medical Sociology, 8. Auflage, Upper Saddle River: Prentice Hall. Cowell, F. A., G. A. Cruces, 2004: Perceptions of inequality and risk, in: Research on Economic Inequality, 12, 99-132.
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Klassen und Sozialstruktur
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Arbeitsvertragen ' John H. Goldthorpe
1 Einleitung Gegenstand dieses Kapitels ist die Theorie sozialer Klassen: Ich will zur letztendlichen Klarung der Frage beitragen, warum soziale Klassen existieren. Ich gehe dabei von einer Art der Konzeptualisierung von Klassen - und damit wiederum einer Anwendbarkeit des Begriffs „Klasse" in der empirischen Forschung - aus, die ich mit einer Reihe von Kollegen liber die letzten 30 Jahre entwickelt habe. Die grundlegende Idee, die verfolgt wurde, ist die, dass Klassenpositionen - in einer Art, die im Weiteren erklart werden soil - als Positionen verstanden werden konnen, die durch Beschaftigungsverhaltnisse defmiert werden. Schrittweise wurde ein „Klassenschema" erarbeitet, das Klassenkategorien in Bezug auf Beschaftigungsverhaltnisse unterscheidet und das in der Forschung mit Hilfe von Informationen hinsichtlich Beschaftigungsform und Arbeit durchgefiihrt werden kann. Dieses Arbeitsprogramm wurde als Grundlage ftir Studien zur sozialen Mobilitat innerhalb eines klassenstrukturellen Zusammenhangs entwickelt (Goldthorpe/Llewellyn 1977; Goldthorpe 1987; Erikson/Goldthorpe/Portocarero 1979; Erikson/Goldthorpe 1992). Aber das Klassenschema wurde - in der einen Oder anderen seiner verschiedenen Versionen^ - spater auch auf vielen anderen Forschungsgebieten gebrauchlich und vor relativ kurzer Zeit in GroBbritannien als Grundlage der NS-SEC angenommen, welche seit der Volkszahlung 2001
' Ubersetzung: Roelf Bleeker-Dohmen und Gerd Nollmann; englische Fassung in John Goldthorpe, On Sociology, 2 Bde., Stanford University Press 2006 ^ Zu Dank verptlichtet bin ich Sam Bowles, Richard Breen, Jerker Denrell, John Ermisch, Duncan Gallic, Dan Krymkowski und Aage Sorensen filr ihre Anregungen auf der Basis eines friiheren Entwurfs, und Tony Atkinson, Geoff Evans, Abigail McKnight, Colin Mills, Meg Meyer, Karen O'Reilly und David Rose fiir hilfreiche Ratschlage und Informationen. ^ Das Schema wurde infolge seiner komplexen Entstehung unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt. \m britischen Kontext wird es gewohnlich als das Goldthorpe-Schema bezeichnet; im internationalen Kontext spricht man vom EGP-Schema (Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Schema), dem Erikson-Goldthorpe-Schema oder dem CASMIN-Schema, nachdem es in den vergleichenden Analysen von Klassenmobilitat in Industriegesellschaften angewendet worden ist.
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die Klassen des Registrar General in alien amtlichen Statistiken ersetzte (vgl. auch Rose/O'Reilly 1997, 1998; Rose/Pevalin Hrsg. 2003)."^ Als Folge seiner weit verbreiteten Anwendung wurde die Konstruktvaliditat immer wieder nachgewiesen - d. h. der Beweis fiir seine Eignung, Variationen in anderen, abhangigen Variablen in theoretisch erwarteten Bereichen vorherzusagen -, z. B. bei Wahlverhalten (Heath et al. 1991; Evans/Heath/Payne 1991, 1996; Evans 1999), Bildungsungleichheit (Jonsson 1993; Muller/Haun 1994; Jonsson/Mills/Miiller 1996; Jackson et al. 2005) oder in gesundheitlicher Hinsicht (Bartley et al. 1996; Kunst 1996, Sacker et al. 2000). Ein weiterer Forschungszweig - der hier allerdings nicht Gegenstand sein soil - ist darauf gerichtet, genau zu erklaren, wie Klassen - konzeptualisiert in Begriffen von Beschaftigungsverhaltnissen - Einfluss auf solche Variablen ausiiben. Was sind die eigentlichen, ursachlichen Prozesse? Wie z. B. funktioniert die berufliche Zuordnung verschiedener Klassenpositionen, sodass sie jene empirischen RegelmaBigkeiten produzieren, die in der Verbindung zwischen Klasse und Parteienunterstutzung (vgl. Evans 1993; Weakliem/Heath 1994; Andersen/Heath 2002) oder in der Verbindung zwischen Klasse und Wahl des Bildungsweges oder Klasse und Sterblichkeit (vgl. Marmot 2004) sichtbar werden? Gleichzeitig aber haben die weit verbreitete Nutzung des Schemas und vor allem seine Ubernahme fur offizielle Statistiken Interesse an seiner Kriteriumsvaliditat geweckt, d. h. an dem AusmaB, in dem es durch Beschaftigung und Beschafligungsstatus tatsachlich jene Unterschiede in Beschaftigungsverhaltnissen abbildet, die es abbilden soll.^ Die Ergebnisse, die in dieser Sache bisher berichtet wurden und die weitgehend auf britischen Daten basieren, deuten darauf hin, dass das Schema tatsachlich gut funktioniert (vgl. Evans 1992, 1996; Evans/Mills 1998, 2000; Rose/O'Reilly 1997, 1998; und auch speziell uber NSSEC Rose/Pevalin Hrsg. 2003).^ Insbesondere scheint der Beruf als angemesse^ NS-SEC kann letztlich als ein Ersatz des Klassenschemas betrachtet werden, der die Zuordnung von Arbeitsverhaltnissen in Klassenkategorien im Lichte umfassenderer Informationen iiber Aspekte der Beschaftigungsverhaltnisse, mit denen die Arbeitsverhaltnisse typischerweise assoziiert wurden, ermoglicht, als sie friiher erhaltlich waren (Rose/Pevalin 2003). Eine sehr enge Beziehung zwischen den urspriinglichen Klassen und dem NS-SEC in seinen „analytischen" Versionen kann hergestellt werden (siehe auch Goldthorpe/McKnight2005: Tabelle 1). Die Kennzeichnung der neuen Klassifikation als „soziookonomischer Status" ist etwas ungliicklich, weil nicht sehr folgerichtig, und ist moglicherweise dem Anliegen von New Labour zuzuschreiben, Jhe language of class'' um jeden Preis zu vermeiden. "' Auch wenn die Unterscheidung, die hier zwischen Konstrukt- und Kriteriumsvaliditat gemacht wird, weitgehend anerkannt worden ist, kann die Terminologie, mit der das Schema belegt wird, oft sehr verwirrend differieren. Eine hilfreiche Erorterung fmdet sich bei Rose/O'Reilly (1998: Anhang 10). ^' Evans und Mills (1999) haben tatsachlich ihre Arbeit auf die neuen kapitalistischen Nationen in Osteuropa erweitert und sind wiederum zu allgemeinen ermutigenden Ergebnissen gekommen. Wei-
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ner proxy fur jene Merkmaie ihrer Beschaftigungsbeziehungen dienen zu konnen, welche das Schema zur Unterscheidung von Klassenpositionen verwendet. So wird dann ein weiteres Forschungsfeld nahe gelegt, und dies mochte ich hier verfolgen: namiich die Frage, warum unterschiedliche Beschaftigungen dazu tendieren, sich mit Unterschieden in Beschaftigungsbeziehungen derer zu verbinden, die in ilmen gebunden sind, und die von einer Art sind, dass sie, aus meiner Sicht, verschiedene Klassenpositionen in sich schUeBen. Insofern, als diese Frage beantwortet werden i<:ann - insoweit die involvierte empirische RegehnaBigkeit zufi-ieden stellend eridart werden icapi - wird das Klassenschema mit einer umfassenderen und eindeutigeren Begrlindung ausgestattet. \m Klassenkonzept, das dem Schema zu Grunde Hegt (siehe auch Erikson/Goldthorpe 1992: 35-47), werden grundsatzliche Unterscheidungen zwischen Arbeitgebern, Selbststandigen und Mitarbeitern gemacht: d. h. unter jenen, welche die Arbeit anderer kaufen, jenen, die sie nicht kaufen, aber auch nicht ihre eigene Arbeit verkaufen, und jenen, die ihre Arbeit an einen Arbeitgeber oder eine Arbeit gebende Organisation verkaufen. Warum diese drei Kategorien existieren sollten, ist ftir sich genommen nicht besonders umstritten, jedenfalls nicht irn Zusammenhang mit jedweder Gesellschaftsform, welche die Institutionen des privaten Eigentums und eines Arbeitsmarktes stutzt. In solchen modernen Geseilschaften Oberwiegt jedoch die Zahl der abhangig Beschaftigten, ublicherweise mit etwa 85 bis 90 Prozent der berufstatigen Bevolkerung.^ Entscheidend fur das Klassenschema ist die weitere hier eingeftihrte Unterscheidungsebene, die sich speziell auf die Beschaftigungsbeziehungen von Arbeitnehmern bezieht. Das konzentriert sich auf die Regulierungsformen ihrer Anstellung, oder, wie man auch sagen konnte, auf die ausdruckliche oder unterstellte Beschaffenheit ihrer Arbeitsvertrage. So gesehen ist der hauptsachlich aufgestellte Gegensatz derjenige zwischen dem „Arbeitsvertrag" einerseits, von dem typischerweise angenommen wird, dass er im Fall korperlicher oder niedrigrangiger nicht-korperlicher Arbeit angewendet wird, und dem „Dienstleistungsverhaltnis" andererseits, ausgetere vergleichende Ergebnisse werden infolge der laufenden Untersiichungen von David Rose von der Universitat von Essex zur Entwicklung einer gemeinsamen EU Klassifikation auftauchen, fiir die die NS-SEC als Prototyp dient. ^ Warum diese verzerrte Verteilung von Individuen auf die drei Kategorien beobachtet werden soil, fithrt natiirlich zu einem bedeutenden Problem, wie es Simon (1991) formuliert hat: warum es, extrem formuliert, iiberhaupt beschaftigende Organisationen und Beschaftigte gibt, oder anders, warum es nicht nur eine einzelne, umfassende Organisation gibt, die jede und jeden beschaftigt. Dieses Problem wird tatsachlich zentral von der organisatorischen und der Transaktionskosten-Okonomie behandelt, auf die ich mich spater beziehen werde, und ist natiirlich von einleuchtender Relevanz, um zu verstehen, wie Klassenstrukturen verschiedener „Form" sich entwickelt haben. Aber das ist hier nicht mein Thema.
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driickt in der Art des Vertrags, der als typisch fiir profess ionelle Mitarbeiter und Manager in organisatorischen Biirokratien, offentlichen und privaten, interpretiert wird. „Durch Arbeitsvertrage geregelte Beschaftigungsverhaltnisse fiihren zu relativ kurzfristigem und spezifischem Austausch von Geld gegen Arbeit. Beschaftigte liefern unter der Aufsicht des Arbeitgebers oder seiner Vertreter mehr oder weniger eigenstandige Arbeitsmengen, als Leistung fur Lohne, die auf Stiick- oder Zeitbasis berechnet werden. Im Gegensatz dazu fiihren Beschaftigungsverhaltnisse in einem biirokratischen Zusammenhang zu einem langerfristigen und im Allgemeinen unscharferen Austausch. Beschaftigte leisten der sie beschaftigenden Organisation Dienste gegen eine ,Vergutung', die nicht nur die Form der Entlohnung fur Arbeit annimmt (per Gehalt und verschiedene Nebeneinkiinfte), sondern die auch wichtige, in Aussicht gestellte Elemente umfasst - zum Beispiel Gehaltserhohungen nach einem gangigen MaBstab, die Gewissheit einer Sicherheit sowohl in der Beschaftigung als auch - durch Rentenanspriiche - nach Eintritt in den Ruhestand, und vor allem durch klar bestimmte Karrieremoglichkeiten" (Erikson/Goldthorpe 1992: 41). Es v^ird anerkannt, dass diese zwei grundlegenden Formen der Beschaftigungsregelung mit graduellen Anderungen existieren und dass weiterhin auch Mischformen vorkommen - typischerweise verbunden mit Positionen zv^ischen biirokratischen Strukturen und ungelernten Arbeiten. Tabelle 1 fasst die Begrundung in Bezug auf die Kategorien des Klassenschemas zusammen. Die hauptsachliche Bedeutung fiir die gegenw^artigen Recherchen hinsichtlich der Kriteriumsvaliditat des Klassenschemas ist folgende: Sie sagen aus, dass die Regelung von Beschaftigung verschiedener Gruppen tatsachlich dazu tendiert, dem in der Tabelle 1 abgebildeten Muster zu folgen. Genauer: Wenn Indikatoren verschiedener einschlagiger Eigenschaften von Beschaftigungsverhaltnissen als Beispiele der wirtschaftlich aktiven Bevolkerung hinsichtlich Bezahlungsformen, Nebeneinkiinften, tlberwachung der Arbeitszeit, Arbeitsplatzsicherheit, Beforderungsmoglichkeiten usw, in Betracht gezogen w^erden, dann ist der Befund, dass nach diesen Indikatoren unterschiedene Beschaftigungen sich in den Klassenkategorien des Schemas im Ganzen iibereinstimmend mit seiner konzeptionellen Basis abbilden.^ Die zentrale Frage ist daher die, wie ^ Am wichtigsten sind bei dieser Betrachtung die jtingsten Klassenanalysen von Evans und Mills (1998, 2000; vgl. auch Birkelund/Goodman/Rose 1996). Die Indikatoren wurden auf der Basis von Antworten konstruiert, die Mitgliedern der Samples der Beschaftigten auf Fragen zu ihren Beschaftigungsverhaltnissen gestellt worden sind. Substanziell bessere Ergebnisse als die hier berichteten konnen, so glaube ich, angesichts der Schwierigkeiten, die einem beim Herausfmden der gewiinschten prazisen Informationen begegnen und ein hohes MaB an „Rauschen" in den Daten erzeugen, nicht erwartet werden. So berichteten Befragte, dass sie wochentlich bezahlt wurden, ohne dass sie damit tatsachlich ein regelmafiiges festes Wochensalar erhalten hatten, stattdessen aber, wenn sie, sagen wir, pro Stunde oder pro Schicht bezahlt wurden, sie ihren Verdienst wochentlich erhalten haben; die Befragten konnten dadurch, dass sie auf einer Vorauszahlungsliste fiir einen jahrlichen
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diese empirische RegelmaBigkeit zustande kommt. Warum sollte es eine solche Absicht von Personen mit unterschiedlichen Tatigkeitsfeldern geben, ihre Beschaftigung durch verschiedene vertragliche Abmachungen und Vereinbarungen regeln zu lassen? Tabelle 1: Kategorien des Klassenschemas und die angenommene Form der B eschaftigungsregelung Klasse Form der Beschaftigungsregelung I Hochprofessionalisierte Fach- Dienstleistungsverhaltnis leute, leitende Beamte und Angestellte II Professionalisierte Fachleute, Dienstleistungsverhahnis leitende Beamte und Angestell- (modifiziert) te niedrigerer Ebenen Nicht-manuelle Routinetatig- Gemischt Ilia keiten (hoherrangige Angestellte) Illb Nicht-manuelle Routinetatig- Arbeitsvertrag (modifiziert) keiten (Niedrigrangige Angestellte) Kleine Inhaber und ArbeitgeIVabc ber, Selbstandige ohne Mitarbeiter V Niedrigrangige Techniker und Gemischt Aufsichtsfuhrende liber Manuell Arbeitende Facharbeiter Arbeitsvertrag (modifiziert) VI An- und ungelernte Arbeiter Arbeitsvertrag Vila (auBer Landarbeiter) Vllb Landarbeiter Arbeitsvertrag Anmerkung: Die hier verwendeten Beschreibungen der einzelnen Klassen sollen als bloBe exemplarische Oberbegriffe betrachtet werden. Zur Anwendung des Schemas sind die detaillierten Beriifsgruppierungen, die jeder Klasse ziizuordnen sind, voll spezifiziert. Flir GroBbritannien siehe: Goldthorpe/Heathl992.
In frliheren Arbeiten (Goldthorpe 1982, vgl. auch 1995) habe ich versucht, diese Frage eher ad hoc mit Bezug auf die Vorstellung einer DienstleistungsLebenshaltungskostenaiisgleich stehen, irritiert sein; oder sie konnten von ihren eigenen, personlichen Aufstiegschancen ausgehen statt von den generell mit ihren Jobs verkniipften Assoziationen. Bessere qualitative Daten konnten nahezu sicher von Arbeitgebern erhaltlich sein, vorausgesetzt, dass dann Probleme der Stichprobenziehiing iiberwiinden werden konnten.
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klasse oder eines Gehaltes zu beantworten. Hier strebe ich eine systematischere und informiertere Behandlung an. Ich beziehe mich hier wie schon vorher auf die Theorie rationalen Handelns (RAT) und insbesondere auf solche Theorien, wie sie in der neueren Organisations- und Personalokonomie entwickek wurden (vgl. etwa Milgrom/Roberts 1992; Lazear 1995) und in der neuen institutionellen, insbesondere Transaktionskostenokonomie (vgl. etwa Williamson 1985, 1996). Ich wiirde diese interdisziplinaren Anleihen gar nicht so betrachten, dass sie auf einen Verzicht einer soziologischen Perspektive schlieBen lieBen, wie es z. B. von Pfeffer (1997: Kap. 9) nahe gelegt wird. Was tatsachlich an der Wirtschaftsliteratur, auf welche ich mich beziehe, auffallt, ist, wie vieles davon als eine strengere Entwicklung - vom Standpunkt einer Einzelhandlungstheorie von Beobachtungen und Einblicken gelesen werden kann, welche schon in der Industriesoziologie der spateren 1940er und der 1950er Jahre enthalten sind.^ Des Weiteren entspricht die hauptsachlich gebrauchliche Version von Rational Choice, zumindest in der Transaktionskosten-Theorie, nicht der Utilitarismustheorie der neoklassischen Orthodoxie, sondern einer Version, in der die Idee der Rationalitat als Ziel und Endziel einer subjektiven und beschrankten Rationalitat Platz macht, oder mit Simon (1961; vgl. Williamson 1985: Kap. 2) gesprochen: Akteure werden als „in Grenzen absichtsvoll rational" gesehen. Diese Anderung bringt eine offensichtliche Konvergenz mit Herangehensweisen an die Handlungstheorie mit sich, die zentraler Teil der klassischen soziologischen Tradition sind, und das umso mehr, je starker die Rationalitat als nicht nur durch psychologische und kognitive Zwange bei der Informationsverarbeitung, sondern auBerdem durch soziale Zwange hinsichtlich der Verfiigbarkeit von Informationen eingeschrankt sind. Solche Bemuhungen, wie sie Soziologen schon zuvor mit dem Ziel unternommen haben, Variationen in Arbeitsvertragen zu erklaren (vgl. etwa Edwards 1979; Wright 1985, 1989, 1997: Kap. 1), haben ihren Ursprung in hohem MaBe in der marxistischen politischen Okonomie (vgl. Marglin 1974; Stone 1974; Bowles/Gintis 1976) und sind ihrerseits gekennzeichnet von einer fast ausschlieBlichen Betonung von Macht- und Kontrollerwagungen. Die Grundannahme ist die, dass im Kapitalismus die Maximierung der „Ausbeutung" ihrer Arbeiter das Hauptanliegen von Arbeitgebern sei, d. h. die Maximierung der Gewinnung tatsachlicher Arbeitsleistung aus den Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Arbeitgeber strebten somit im Allgemeinen Vertragsformen an, die in der Hinsicht zu ihrem groBten Vorteil seien, dass sie Arbeitsleistung tatsachhch zur ^' Diese Aussage erscheint weniger iiberraschend, wenn gewisse allgemeine Quellen betrachtet werden, vor allem Barnard (1938) und die erste Edition (1946) von Simon (1961), dariiber hinaus mit ahnlichem Ausgangspunkt der Kritik die Konzepte von Arbeit, Betrieb und Beschaftigungsverhaltnissen innerhalb orthodoxer neoklassischer Okonomie.
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Ware machten. In dem MaOe wie Vertrage variieren, ist das so zu erklaren, dass Arbeitgeber versuchen, ihre Management- und Uberwachungslcrafte zu privilegieren, um damit ihre Loyalitat im Ausbeutungsprozess zu kaufen, oder um Interessenkonflikte als eine „Teile-und-Herrsche"-Strategie zu schaffen. Organisations- und Transaktionskostentheoretiker sehen solche marxistischen Interpretationen jedoch sowohl aus theoretischen als auch empirischen Griinden kritisch. Die wichtigste Gegenbehauptung ist die, dass die meisten Eigenscfiaften von Arbeitsvertragen nicht als Ausdruck von Macht und von Ausbeutungsmitteln, sondern eher mit EffizienzmaBstaben zu begreifen sind, d. h. nicht nur zur Sicherung der Lebensfahigkeit des Unternehmens im Zusammenhang mit einem konkurrierenden Markt, sondern auBerdem, um den Gesamtwert des Vertrags zum Nutzen aller Beteiligten zu erhohen (vgl. Milgrom/Roberts 1992: Kap. 10; Williamson 1985: 206-11, 1994). Im Folgenden werde ich versuchen, eine dazwischen liegende Position einzunehmen, die das vermeidet, was ich als ideologisch verursachte Schwachen sowohl in den extremeren Versionen der „Ausbeutungs"- wie auch der „Effizienz"-Argumente betrachte.^^ Ich behandle Arbeitsvertrage vornehmlich vom Standpunkt der Arbeitgeber aus, well von ihnen in alien Fallen die Initiative zu ihrer Gestaltung und Umsetzung ausgeht. Ich lege zunachst dar, was bestimmte allgemeine Probleme des Ar be its vertrags an sich sind, und versuche dann zu zeigen, wie die verschiedenen Formen, welche dieser Vertrag annehmen kann, vor allem als Reaktionen der Arbeitgeber auf spezielle Probleme verschiedener Arten von Arbeit verstanden werden konnen. Ich gehe davon aus, dass in dieser Hinsicht die „zentrale Tendenz" fur Arbeitgeber darin liegt, so rational zu handeln wie es ihnen moglich ist, mit dem Ziel, die Lebensfahigkeit und den Erfolg ihrer Organisation unter verschiedenen Einschrankungen aufrechtzuerhalten. Das kann sie dann - je nach den bestehenden besonderen Umstanden - dazu bringen, ihre vertraglichen Beziehungen mit Arbeitnehmern entweder als NuUsummen- oder als Positiv-Summen-Bedingungen zu sehen, ganz so, wie Arbeitnehmer ihre vertraglichen Beziehungen mit Arbeitgebern vielleicht ahnlich unterschiedlich sehen. Ich sehe mit anderen Worten keinen Grund, die Arbeitge-
'" Teilweise versuche ich einerseits die Hemmiingslosigkeit solcher Marxisten zu vermeiden, die unterstellen, dass in einer zukunftigen Welt die Abschaffung der kapitalistischen Institutionen die Schaffung „neuer" Manner und Frauen mit Orientierungen im Hinblick auf Arbeit moglich macht, sodass die heutigen Effizienzprobleme vollig iiberwunden werden; und auf der anderen Seite mochte ich die tibertrieben optimistischen Tendenzen solcher Okonomen vermeiden, die annehmen, dass, „was immer ist, effizient ist", und es versaumen, die konfliktbesetzten und „umstrittenen" Aspekte von Beschaftigungsbeziehungen zu beachten.
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ber- und Arbeitnehmerinteressen als „fundamentar' entweder tibereinstinimend oder konfliktbesetzt zu behandeln. ^ ^ 2 Allgemeine Fragen des Arbeitsvertrags Okonomen und Soziologen erkennen gleichermaBen seit langem an, dass der Arbeitsvertrag distinktive Eigenschaften hat (vgl. Commons 1924; Simon 1951; Baldamus 1961). Diese sind darauf zuruckzuftihren, dass die Arbeit, die von Arbeitgebern auf dem Arbeitsmarkt eingekauft wird, nicht physisch von denen abgegrenzt werden kann, die sie verkaufen. Was tatsachlich durch den Arbeitsvertrag gekauft und verkauft wird, ist keine Ware, oder jedenfalls keine im Sinne einer definitiven, objektiven Sache, sondern eher eine soziale Beziehung. Arbeitsvertrage sind Vertrage, mit welchen Arbeitnehmer sich gegen Lohn unter die Autoritat eines Arbeitgebers oder seiner Vertreter begeben.^^ Weiterhin sind Arbeitsvertrage in verschiedenem, aber oft erhebhchem MaBe implizit oder tatsachlich unvollstandig - besonders hinsichtlich der Frage, was Arbeitgeber von Arbeitnehmern verlangen konnen, und was wiederum die Pflichten von Arbeitnehmern sind. Arbeitgeber kaufen das Recht, Arbeitnehmern vorzuschreiben, was sie bei der Arbeit tun sollen, und Mindestpflichten werden vielleicht formal niedergelegt, welche z. B. die Arbeitszeiten, die Arbeitsweisen und -verfahren betreffen. Aber Vertrage versuchen nur selten, wenn uberhaupt, festzulegen, wie hart Arbeitnehmer arbeiten sollen - in welchem MaBe sie Anstrengungen machen sollen -, und schon gar nicht, welchen Grad an Verantwortung, Anpassungsfahiekeit oder Initiative sie im Interesse ihres Arbeitgebers zeigen sollen.
Ich sollte hervorheben, dass ich nicht annehme, dass die Rationalitat von Arbeitgebern beinhaltet, dass sie ihre Vertragsbeziehiingen mit Beschaftigten einem kontiniiierlichen Prozess von Ruckschaii und Revision iinterwerfen, sondern nur, dass sie bereit sind, diese Beziehungen vom Standpunivt der Organisationseffizienz aus zu iiberprufen und zu modifizieren, wenn sie sich dazu durch sich andernde Umstande angehalten sehen (vgl. Osterman 1987). Ich sehe auch, dass Arbeitgeber, obwohl sie die Ausgestaltung und Umsetzung von Arbeitsvertragen in der Hand haben, unter Beschrankungen agieren diirften, die durch Arbeitnehmerinteressen an ihre Verbande herangetragen werden, die entweder individuell oder kollektiv formuliert werden, und die auch aus dem gesetzlichen und regulativen Rahmen entstehen, die den Beschaftigungsverhaltnissen durch den Staat auferlegt werden. Von derNatur solcher Beschrankungen kann jedoch erwartet werden, dass sie zeitlich und raumlich stark variieren; und daher scheint der Fokus auf den Handlungen von Arbeitgebern, die sich mit hoch general isierten Vertragsproblemen befassen, angebracht, angesichts der Tatsache, dass mein Thema die Erklarung breiter probabilistischer RegelmaBigkeiten der Verbindungen zwischen Vertragsformen und den Typen von Arbeit ist, und weniger die Abweichungen von diesen RegelmaBigkeiten, die man sicherlich auch fmdet. ^^ Daraus folgend sollten „Arbeitgeber" so verstanden werden, dass sie tatsachlich eher einer „Beschaftigungsorganisation" entsprechen. Es sollte zudem festgehalten werden, dass ich die Bezeichnung „Vertreter" nur (explizit oder implizit) als Gegensatz zu Firmenchef und nicht als Synonym tiir „Akteur" nenne.
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Diese Dinge wiirden in der Tat groBtenteils jede Formulierung in ausdrticklichen, vertraglichen Worten uberfordern. Vom Standpuni<:t des Arbeitgebers aus muss daher ein wichtiges Ziel darin bestehen, nicht nur die Ubereinstimmung der Arbeitnehmer mit der Autoritat zu sichern, die diese prinzipiell anerkannt haben, sondern auch, ihre groBtmoglichen Anstrengungen und ihre groBtmogliche Zusammenarbeit in der Arbeitsleistung zu veranlassen, die ihnen ubertragen wurde. Man kann es auch so sagen, dass Arbeitnehmer innerhalb des Arbeitsvertrags immer betrachtHche Ermessensspielraume haben und dass es dann von offensichtlicher Bedeutung fur Arbeitgeber und ihre Vertreter ist sicherzustellen, dass diese Ermessensspielraume so we it wie mogUch auf Arten genutzt werden, welche den Zweck der Organisation eher unterstiitzen als untergraben. In der Industriesoziologie der unmittelbaren Nachkriegsjahre (vgl. Miller/Form 1951), die eine stark fuhrungsorientierte Richtung hatte, wurden Probleme, die in dieser Hinsicht auftraten, nach dem Grad der Kongruenz betrachtet, die zwischen „formaler" und „informaler" Organisation die Oberhand gewann. Je groBer die Kongruenz, die erreicht werden konnte, desto hoher, so nahm man an, wlirde das Niveau von „Mitarbeitermotivation und -moral" sein; und dieses Ziel musste dann durch Richtlinien „menschlicher Beziehungen" dmoh first-line-Manager und Aufsichtsfuhrende auf Arbeitsgruppenebene angestrebt werden - oder, wie Kritiker es sahen, durch sozialpsychologische Manipulation. In der Wirtschaftsliteratur, auf die ich mich zuvor bezogen habe, werden dieselben Fragen behandelt, also tatsachlich vor allem vom Standpunkt des Arbeitgebers aus, aber in einer anderen Sprache. Die Schliisselfrage muss die sein, wie der Arbeitsvertrag am effizientesten ausgearbeitet werden kann; nicht nur in seiner ausdriicklichen ex a/7/e-Gestaltung, die natUrlich Grenzen hat, sondern vielleicht wichtiger - in seiner ex post- und moglicherweise recht impliziten Interpretation und tatsachlichen taglichen AusfUhrung; oder in der Art, in der er im Lauf der Zeit als Basis der fortgesetzten Regelung von Beschaftigungsverhaltnissen dient.^"" Zumindest muss der Arbeitgeber gegen Driickebergerei oder Opportunismus von Arbeitnehmern geschtitzt sein; aber es ist eine weitere Voraussetzung, dass Arbeitnehmerinteressen so weit wie moglich mit denen des Arbeitgebers in eine Linie gebracht werden, oder in anderen Worten, dass angemessene Anreizstrukturen aufgebaut werden sollten. Gleichzeitig sind "' ^ Die Idee der „impliziten Vertrage" oder impliziten Provisionen in Vertragen hat teilweise Bedeutung in der Wirtschaftsliteratur erlangt. Ehrenberg und Smith (1991: 409) beziehen sich hier auf „einen Satz gemeinsamer, informeller Ubereinkommen dariiber, wie Firmen und Arbeiter auf Eventualfalle reagieren", und Gibbons (1997: 11) bezieht sich auf „ein Ubereinkommen, das anstatt vom Gesetz durch den guten Namen der Parteien untersttitzt wird".
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Transaktionskosten in Betracht zu ziehen, d. h. die Arrangements und Ablaufe, welche die tatsachliche Umsetzung mit sich bringt, mtissen im Vergleich zu den verfiigbaren Alternativen kostenwirksam sein. Die Theorie rationalen Handelns, die diese Herangehensweise leitet, versieht diese, so glaube ich, mit groBerer intellektueller Koharenz als jene, welche durch die frUhe Industriesoziologic erreicht wurde. Aber fur meine momentanen Zwecke liegt ihre unmittelbarste Anziehungslo-aft darin, dass sie auf naturliche Weise zur Anerkennung der Tatsache ftihrt, dass Arbeitsvertrage unterschiedliche Formen mit Bezug auf die verschiedenen Arten von Arbeitsaufgaben und ArbeitsroUen, fur welche Arbeitnehmer eingestellt wurden, annehmen mtissen. 3 Differenzierung des Arbeitsvertrags und Arbeitsarten Was hier erklart werden soil, ist, um es zu wiederholen, die Verbindung zwischen verschiedenen Beschaftigungsgruppen von Arbeitnehmern und der Regelungsform ihrer Beschaftigung, die, wie es scheint, empirisch wie in Tabelle 1 dargestellt demonstriert werden kann. SchlieBlich ist es notwendig, die Typen von Arbeit analytisch in einer abstrakteren Weise zu betrachten. Die Organisations- und Transaktionskostenokonomie, auf die ich mich beziehe, empfiehlt zwei Hauptdimensionen, in denen potenzielle Probleme - oder Quellen von „Vertragsrisiken" - aus Sicht des Beschaftigten ausgemacht werden konnen (vgl. Weakliem 1989): Einerseits der Schwierigkeitsgrad der Uberwachung der Arbeit, die von Beschaftigten durchgefiihrt wird, d. h. der Schwierigkeitsgrad sowohl der Messung ihrer Qualitat als auch der Uberwachung und der Kontrolle ihrer Qualitat; andererseits die Spezifitat des Humankapitals - Qualifikationen, Sachverstand, Wissen -, das die Beschaftigten bei der Austibung ihrer Arbeit nutzen, d. h. der Grad, in dem der produktive Wert sinken wtirde, wenn dieses Kapital in andere Beschaftigung flieBen wtirde. Angesichts dieses Erklarungsproblems erachte ich es als sinnvoll, mich auf den zweidimensionalen Raum, der in der Abbildung 1 beschrieben wird, zu beziehen. Von Arbeit, die in das untere linke Quadrat der Abbildung 1 fallt, konnte man erwarten, dass sie in Bezug auf den Arbeitsvertrag am wenigsten Anlass zu Gefahrdungen der Arbeitgeber bildet. Das Fehlen echter Probleme bei der Arbeitsiiberwachung bedeutet, dass Arten von Systemen „variablen Lohnes" angewandt werden, oder dass, anders gesagt, Arbeitnehmer in direkter Relation zu ihrer Produktivitat entlohnt werden konnen. Das Fehlen ernsthafter Probleme der „Faktorspezifitaf' bedeutet, dass keine Verstandigung liber die langfristige Fortsetzung des Vertrags eingegangen werden muss. Verstandigungen jener Art, welche Mitarbeiter mit Anreizen dazu versorgen mtissten, Kenntnisse spezifischen Werts fur ihre momentane Beschaftigung zu erwerben, und dann auch an
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dieser Arbeitsstelle zu bleiben, sind nicht notwendig. Unter diesen Bedingungen kann der Arbeitsvertrag je nach Ermessen einen kurzfristigen Austausch von Geld fiir Arbeit in einer Weise ermoglichen, wie sie fiir den Arbeitsvertrag, wie zuvor beschrieben, charakteristisch ist. Damit kommt er tatsachlich so nahe an den einfachen „Spotmarkt"-Vertrag heran, wie es - wenngleich vielleicht in sich wiederholender Form - fiir den Kauf einer Warenmenge moglich v/are (vgl. Kay 1993:Kapitel4). Abbildung 1:
Dimensionen von Arbeit als Quellen von Vertragsrisiken
Spezifitat des Humankapitals hoch
Schwierigkeitsgrad der Uberwachung niedrig der Arbeit
hoch
niedrig
Aber die Frage Icommt dann sofort auf, warum die Anwendung dieses Vertrags trotz seiner offensichtlichen Vorteile fur die Arbeitgeber eher eingeschrankt ist, wie Tabelle 1 zeigt; jedenfalls in seiner reinen Form fiir ungelernte korperliche Arbeit und, etwas modifiziert, fiir gelernte korperliche Arbeit und niedrigrangige, nichtkorperliche Arbeit. Was hier erortert wird, ist, dass diese Beschrankung mit verschiedenen begleitenden Eigenschaften der Art von Arbeit erklart wird, in deren Betrachtung ein Arbeitsvertrag sich als lebensfahig erweist. 4 Die berufliche Beschrankung des Arbeitsvertrags Schwierigkeiten beim Messen der von Arbeitnehmern erbrachten Arbeitsquantitat werden am geringsten und ein variables Lohnsystem daher am leichtesten dort umsetzbar sein, wo die Bemessung am tatsachlichen Output festgemacht werden kann. In diesem Fall kann zwischen Arbeit und Lohn durch Stuckraten
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irgendeiner Art eine Verbindung hergestellt werden. Aber Arbeit, die in dieser Form gemessen und bezahlt werden kann, hat wahrscheinlich noch verschiedene andere Eigenschaften. Zum Beispiel unterstellt das Messen von Arbeit nach Output, dass es einen spezifischen, klar definierten Output gibt, und eine effiziente Bezahlung nach Output unterstellt einen Produktionsprozess, der relativ einfach ist: Erstens so, dass Output klar einem Einzelnen oder jedenfalls kleinen Arbeitsgruppen zugeordnet werden kann, und zweitens so, dass der Arbeitgeber - und der Arbeitnehmer - verlasslich weiB, wie schnell die Arbeit getan werden kann, um eine angemessene Lohnrate festzusetzen. ^"^ Da Akkordarbeit die Arbeiter dazu veranlasst, sich eher auf die Menge - zu Lasten der Qualitat - zu konzentrieren, ist es vom Standpunkt des Arbeitgebers aus wichtig, dass die Qualitat des Produkts ebenso wie die Menge leicht zu tiberwachen ist - d. h. leicht beobachtbar und einzuschatzen - und ebenso Aspekte der Arbeitsqualitat wie die Benutzung von Werkzeugen, Ausrustung und Rohstoffen (vgl. Milgrom/Roberts 1992: 394-5). Man kann auch sagen, dass die Art der Arbeit, mit der Stliclaaten am ehesten verbunden sind, eine solche ist, in der Arbeiter fur sich selbst oder in kleinen Gruppen eher korperliche als geistige Arbeiten vornehmen, die in einem recht transparenten Ablauf zu getrennten, fassbaren (und nicht so sehr symbolischen) Ergebnissen fiihren. Typische Stiiclo-atenarbeiter sind tatsachlich Friichte- und Gemiiseerntearbeiter und Lader, Fuller, Packer und Maschinisten verschiedener Art in der industriellen Serienproduktion. Es kann auch moglich sein, Arbeit mehr oder weniger adaquat nach Input zu messen, im Sinne der fur die Arbeit aufgewendeten Zeit, somit ein variables Lohnsystem, das mit Zeitraten arbeitet, auf einer stiindlichen oder taglichen Basis. Aber auch hier ist - wenn es so ist, dass die Arbeitszeit Aussagen iiber den Output ermoglicht - die Anwendungsmoglichkeit entsprechend der betreffenden Arbeit begrenzt. Wenn bei Stuclaaten das hauptsachliche Uberwachungs'"* Wenn nur Arbeiter dieses Wissen batten, waren Arbeitgeber Opportunismus ausgesetzt. Arbeiter konnen sich driicken, um dieses Wissen vor ihrem Arbeitgeber zu verbergen, und auf diese Weise versuchen, eine bessere Bezahlung zu bekommen als sie erhielten, ware der Arbeitgeber besser infbrmiert (vgl. Gibbons 1987, 1997). Man hat hier eine wichtige Darstellung hinsichtlich der Ahnlichkeit des Anliegens, aber der Unterschiedlichkeit der Herangehensweise der zeitgenossischen Okonomie, auf die ich mich beziehe, und der Industriesoziologie der 40er und 50er Jahre. Letztere hat tatsachlich die Beeintrachtigung des Outputs als ein Problem des Akkordlohns betrachtet, aber als Produkt eines Versagens der „menschlichen Beziehungen" dargestellt - speziell das Management hatte es versaumt, Arbeitsgruppennormen solidarisch auf ein gemeinsames Organisationsziel aufzubauen - mit dem Ergebnis, dass Arbeiter sich irrational verhielten, indem sie nicht auf fmanzielle Anreize anspringen. Interessanterweise kommt eine viel frlihere Erklarung des Phanomens von Max Weber (1908) - selbst ausgebildet als Gesellschatltsokonom - jener seiner heutigen Kollegen viel naher, indem er die Beeintrachtigung des Outputs unter Akkordlohn als eine in vielerlei Hinsicht vollig rationale Strategic der Arbeiter behandelt - weil ein wachsender Output einfach zu einer Kiirzung der Satze fiihren konnte.
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problem des Arbeitgebers in der Qualitat besteht, dann besteht es bei Zeitraten in der Einschatzung und der Aufrechterhaltung der Arbeitsleistung. Das Problem wiegt am wenigsten schwer, und Zeitraten sind damit am attraktivsten fur Arbeitgeber, wenn Arbeiter tatsachlich nur begrenzt autonom im Tempo ihrer Arbeit sind: da, wo es z. B. in hohem MaBe von der Technologie bestimmt ist, wie bei FlieBbandfertigung oder laufenden Produktionsprozessen, oder dem Kunden- oder Menschenfluss wie im Fall von Kassiererinnen und Kassierern, Kartenverkaufern, Schalterpersonal usw. Andernfalls ist es wichtig, dass die Anforderungen von Arbeit leicht zu beobachten und damit offen fur Kontrollen durch Uberwachung sind, und das wtirde tendenziell wiederum Arbeitsaktivitaten mit einer klaren physikalischen Komponente voraussetzen, selbst dann, wenn es sich nicht notwendigerweise um eine im herkommlichen Sinne als „korperlich" klassifizierte Arbeit handelt (vgl. Fama 1991). Die Entlohnung von Arbeitnehmern fur getrennte Arbeitsmengen, ob nach Stuckzahlen oder Zeit, ist ein bestimmendes Element des Arbeitsvertrags. Das andere besteht darin, dass der Austausch kurzfristiger Art in dem Sinne ist, dass - obwohl viele Male wiederholbar - nichts im Arbeitsvertrag enthalten ist, was auf eine langfristige Beziehung Arbeitgeber - Arbeitnehmer gerichtet ware. Wie zuvor gesagt: Ein Arbeitgeber kann mit einem Vertrag arbeiten, bei dem wenig damit gewonnen ware, die Arbeiter zu Investitionen in den Erwerb von Qualifikationen zu ermutigen, die spezifisch zu ihrer momentanen Beschaftigung gehoren wiirden, und bei dem wenig verloren ware, gaben diese Arbeitnehmer diese Beschaftigung auf Das heiBt, die Kosten der Personalfluktuation sind gering. Aber auch hier kann man argumentieren, dass dort, wo solch eine Situation vorherrscht, die Wahrscheinlichkeit weiterer Folgen fur diese Arbeit groB ist. Wahrend also im Prinzip eine Belegschaft mit keinen daraus entstehenden individuellen Qualifikationen immer noch eine qualifizierte Belegschaft sein kann - d. h. eine, die einfach auf allgemeinen Fahigkeiten beruht -, scheint es empirisch der Fall zu sein, dass es da, wo allgemeine Qualifikationen in besondere Beschaftigungen eingebracht werden, sowohl moglich als auch vorteilhaft ist, weitere, spezifischere Qualifikationen, Expertisen und Wissen um diese Beschaftigungen herum zu entwickeln.^^
'^ Verschiedene Autoren haben deutlich gemacht, dass allgemeine Qualifikationen durch Arbeitgeber nicht nur hinsichtlich der Qualifikationen, Sachkenntnisse und des Wissens, welche sie direkt attestieren, bewertet wiirden, sondern dariiber hinaus und vielleicht vor allem als Indikatoren oder „Signale" der individuellen Lernkapazitdten. Damit einhergehend berichten Arbeitnehmer haufig, dass sie im Verlauf ihrer Arbeit nur in einem erstaunlich geringen AusmaB auf ihre herausragenden Qualifikationen zuriickgreifen mllssen (vgl. z. B. Thurow 1972; Wilensky/Lawrence 1980; Cohen/ Pfeffer 1986; Bills 1988).
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Folglich kann eine Situation, in der Arbeitgeber keine Aufmerksamkeit auf spezifische Qualifikationen ihrer Arbeitnehmer richten miissen, am ehesten da erwartet werden, wo Arbeitgeber die notigen Beschaftigten aus einem recht homogenen Pool rekrutieren konnen, dessen einzelne Arbeiter ohne ernsthaften Veriust an produktivem Wert ausgetauscht werden konnen, einfach auf der Basis ihrer korperlichen Fahigkeiten plus vielleicht minimaler Lese- und Rechenfertigkeiten. Damit sollte deutlich geworden sein, was den Grenzen der Beschaftigungsspielraume zugrunde liegt. Es sind Tatigkeiten mit Eigenschaften, die im Quadrat unten links der Tabelle 1 zu fmden sind, welche es Arbeitgebern erlauben, sich dieser Form der Beschaftigungsregelung zu bedienen. Arbeit, die leicht zu messen ist, auf sonstige Weise iiberwacht werden kann und fur sich genommen wenig Potenzial ftir die Entwicklung spezifischen Humanlcapitals bietet, wird auch andere Eigenschaften haben. Ihre Urform kann tatsachlich als korperliche Arbeit in ihrer grundlegendsten Form betrachtet oder als Arbeit in ihrer grundlegendsten Form gedacht werden. Mit solcher Arbeit kann der Arbeitsvertrag in seiner reinsten Form funktionieren. Die Arbeitgeber konnen die Kommodifizierung von Arbeit weit reichend vorantreiben. Entsprechend wird wohl jede Erweiterung des Arbeitsvertrags liber eine solche Arbeit hinaus dazu fuhren, dass man sich von dieser reinen Form in die eine oder andere Richtung entfernt. Wenn z. B. die Uberwachung der Arbeit nicht ganz unmittelbar ist, ob nun hinsichtlich der Menge oder Qualitat, muss das strikte Prinzip der Entlohnung fur bestimmte Arbeitsmengen zu einem gewissen Grad modifiziert werden. Daher ist wochentliche Bezahlung, vielleicht mit Vorkehrungen fur Uberstundenvergutung oder Abfeiern von Uberstunden fur Arbeit liber eine feste Stundenzahl hinaus, ein recht ubliches Arrangement flir gelernte Arbeiter oder niedrigrangige nichtmanuelle Tatigkeiten. Ebenso erhalten solche Arbeiter vielleicht bestimmte Rangprivilegien - wie z. B. Lohngarantien oder First-In-Last-Out-VQXQ'mbmmigen ftir den Fall von Stellenabbau -, unter Umstanden namlich, unter denen Arbeitgeber sich gezwungen sehen, die organisationsspezifische Notwendigkeit der Entwicklung und das Festhalten von spezifischen Mitarbeiterqualifikationen anzuerkennen (vgl. Doeringer/Piore 1971; Weakliem 1989). Die ganze Bedeutung dieser letzteren Punkte wird aber erst deutlich, wenn man die Perspektive etwas verandert. Nachdem ich gefragt habe, was zur empirisch beobachteten Beschrankung des Arbeitsvertrags auf manuelle und niedrigrangige nichtmanuelle Beschaftigung flihrt, werde ich als nachstes fragen, warum diese Form der Beschaftigungsregelung bei qualifizierter und ManagerBeschaftigung praktisch als ausgeschlossen erscheint und typischerweise durch das ersetzt werden soil, was man die Dienstleistungsbeziehung nennt. Ich werde wiederum versuchen, eine Antwort im Sinne der Arbeitgeber-Reaktionen auf
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die moglichen vertraglichen Risiken zu geben, wie sie aus Abbildung 1 ersichtlich sind, und - spezifischer - wie diese sich intensivieren, wenn man sich von dem Quadrat unten linl<:s zu dem oben rechts hin bewegt. 5 Die Begriindung fiir die Dienstleistungsbeziehung Die ailgemeinen Probleme des Arbeitsvertrags, wie ich sie zuvor ausgefiihrt liabe, werden manchmal als solciie einer ^principal-agenf'-BQziQhung dargestellt (z. B. Pratt/Zeckhauser 1984; Eggertsson 1990), d. h. einer Beziehung, in welcher der „unternehmerische Auftraggeber" (der Arbeitgeber) einen „beschaftigten Auftragnehmer" (den Arbeitnehmer) engagiert, damit dieser im Interesse des unternehmerischen Auflraggebers handelt, unter Umstanden, unter denen der Chef die Handlungen des Agenten nicht beobachten kann und auch nicht alle Informationen erhalt, welche dessen Handlungen bestimmen. Diese Darstellung mag dort etwas schwierig sein, wo Arbeit mehr oder weniger verwertbar gemacht werden kann und ein „Spotmarkt"-Vertrag daher machbar ist. Aber sie erhalt eine besondere Bedeutung, wo Arbeitnehmer als Hochqualifizierte oder Manager arbeiten.^^ Hochqualifizierte werden eingestellt, um spezialisiertes Wissen und spezialisierte Expertise anzuwenden, welche sie in einem langwierigen Training erworben haben, wahrend Manager eingestellt werden, um die an sie delegierte Autoritat des Arbeitgebers auszutiben. In beiden Fallen impliziert die Natur der erbrachten Arbeitsaufgaben und Arbeitsrollen daher gleichermaBen eine gewisse Asymmetrie der Informationen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer - und damit fur den letzteren einen autonomen Entscheidungsbereich, welcher fiir die Uberwachung durch den Arbeitgeber nicht erreichbar ist. Tatsachlich wtirde eine wirkungsvolle IJberwachung hier eine Art endlosen Regress nach sich Ziehen. Sie wtirde genau jene Nutzung spezialisierten Wissens oder spezialisierter Expertise und delegierter Autoritat erfordern, die aus dem schon beschriebenen „ agency problem" eben entstanden ist (vgl. Simon 1991). Wo solche Schwierigkeiten der Arbeitstiberwachung entstehen, wird es besonders wichtig fiir den Arbeitgeber, die Arbeitnehmer zu binden, was wiederum die Gestaltung und Umsetzung einer Vertragsform voraussetzt, die so weit wie moglich sicherstellt, dass ihre Interessen mit den Zielen der Organisation wie der Arbeitgeber sie defmiert, libereinstimmend sind und bleiben. Im Falle gewinnorientierter Organisationen ist ein nahe liegender Weg der, die Vergu"^ Es ist in diesem Ziisammenhang interessant zu bemerken, dass Coase (1937) in dem Text, der im Endetfekt die Transaktionskosten-Okonomie eingefuhrt hat, auf die im damaligen britischen Recht erfolgte Unterscheidung zwischen beschaftigtem Auftragnehmer und „Bediensteten" aufmerksam macht, welche sich nicht auf das Fehlen oder Vorhandensein eines fixen Lohns oder die Bezahlung auf Provision bezieht, sondern vielmehr „auf die Freiheit, mit der ein Vertreter seinen Dienst verrichtet".
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tung fiir die Arbeitnehmer mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens zu verbinden, z. B. durch Anteilsvergaben oder Anteilsoptionen, gewinnbezogene Boni oder andere Formen der Gewinnbeteiligung. Aber wahrend diese Arten der Bezahlung oft eine wichtige Rolle in der Bezahlung von Mitgliedern der Geschaftsfiihrung und anderen hochrangigen Mitarbeitern spielen, sind sie schwer auf die ganze Mitarbeiterhierarchie auszuweiten. Sie scheinen keine besonders effektiven Entsprechungen im offentlichen Dienst oder in NonprofitOrganisationen zu haben.^'' Ferner mogen weitere Umstande bestehen, unter denen ernste Schwierigkeiten flir jede Art leistungsbezogener Bezahlung entstehen, d. h. wo Arbeitnehmer - wie typischerweise Hochqualifizierte und Manager - verpflichtet sind, Aufgaben oder Rollen sehr vielseitiger Art auszuuben. In einer solchen Lage kann die Bezahlung kaum gleichermafien auf jeden Aspekt der geleisteten Arbeit bezogen werden. Sie wird eher auf nur einen oder hochstens zwei Aspekte bezogen sein - und zwar jene, fur die Leistungsindikatoren am leichtesten zu entwickeln sind, und die dann auch gewahlt werden. Aber solche Arrangements bringen Gefahren fur die Arbeitgeber mit sich, denn die Anreize werden in diesem Fall nicht einfach dazu dienen, groBere Anstrengungen auf Seiten der Arbeitnehmer zu erzeugen, sondern auch dazu, die Verteilung dieser Anstrengungen, von Zeit und Aufmerksamkeit unter ihren verschiedenen Verantwortungsbereichen zu beeinflussen. Das heiBt, jene Aspekte ihrer Arbeit, zu denen die Bezahlung wirklich in einer Beziehung steht, werden tendenziell zu Lasten anderer bevorzugt und das in einem Grad, der nicht notwendigerweise als optimal im Sinne des Arbeitgebers gesehen werden kann (vgl. Holmstrom/Milgrom 1991). Arbeitgeber konnen das bekommen, wo fur sie bezahlen, und das in einem allzu wortlichen Sinn (vgl. Gibbons 1997). Angesichts der Tatsache, dass Arbeitsaufgaben vielseitig sind, ware dann eine tJberwachung, welche sich genau auf die Verhinderung solch unbeabsichtigter Folgen (oder „pervertierter Wirkungen") richtet, wohl nicht kosteneffizient - nicht einmal, wenn sie generell praktisch ware. Daher konnen in der Beschaftigung von Hochqualifizierten und Managern die „principal-agent''-FroblemQ verscharft werden, die durch „multi-task"'^ Milgrom/Roberts (1992: 413) zeigen, dass, obwohl in den spaten 1980er Jahren rund 30 Prozent aller US-Firmen mit Gewinnbeteiligungen arbeiteten, der Anteil des ganzen Beschaftigteneinkommens durch diese Gewinnbeteiligungen mit wahrscheinlich nicht mehr als einem Prozent sehr klein war. Goldthorpe/McKnight (2005) vermerken, dass, obwohl 1998 um 12 Prozent des Fach- und Fllhrungspersonals in GroBbritannien (Klassen I und II) leistungsbezogen bezahlt wurden, der durchschnittliche Anteil bei nur etwa 4 Prozent ihres Gesamteinkommens lag und nur bei einer kleinen Gruppe von Geschaftsleuten sowie Marketing- und Verkaufsleitern 10 Prozent tiberschritt. Wo ein genaues Monitoring nicht moglich ist, fiihren Gewinnbeteiligungs- und gruppenbasierte Bonussysteme immer das Problem des Trittbrettfalirens mit sich.
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Agenten aufgeworfen werden. Arbeitsvertrage, in denen entweder direkte Arbeitsuberwachung oder spezifische Leistungsindikatoren die Basis fiir die Bezahlung bilden, scheinen im Wesentlichen nicht geeignet zu sein, die Erfordernisse von Arbeitgebern zu beantworten. Die alternative und ailgemein angemessene Strategie fiir Arbeitgeber wird es sein, die Verpflichtung ihrer liocii qualifizierten und Manager-Mitarbeiter zu bekommen, oder in Simons (1991: 32) treffenden Worten, ihre Entscheidungs-Pramissen mit Hilfe einer Vertragsform ganz anderer Grundlage zu gestalten. Das ware eine, die auf einer breiter und langfristiger angelegten Leistungsbewertung, wenn auch vielleicht einer vergleichenden, beruht, und die, abhangig von Beurteilungen, einen stetigen Anstieg der Bezahlung im Verlauf des Arbeitslebens des Arbeitnehmers ermoglicht. In dieser Hinsicht ermoglicht der Vertrag eine Bezahlung in erster Linie durch ein jahrliches Gehalt, von dem erwartet werden darf, dass es sowohl tibereinstimmend mit einem festen MaBstab und - substanzieller - als Ergebnis der Karriere des Mitarbeiters durch eine Laufbahnstruktur steigt. Mit der Aussicht auf ein solches „aufsteigendes Altersverdienstprofil", wie Lazear (1995: 39) es genannt hat, werden sowohl effektive Anreize fiir Arbeitnehmer als auch effektive Sanktionsmoglichkeiten fur den Arbeitgeber geliefert - ganz besonders, wie Lazear sagen wtirde (vgl. auch 1981), wenn das mit sich bringt, dass Arbeitnehmer unter ihrem Wert hinsichtlich der Produktivitat bezahlt werden, wenn sie jung oder jedenfalls in der unteren Hierarchieebene sind, und mehr als ihrem Wert entsprechend bezahlt werden, wenn sie alter oder in hoheren Positionen sind. Einerseits werden Arbeitnehmer umso schneller aus den „unterbezahlten" Levels in die „tiberbezahlten" befordert, je mehr sie in der Verfolgung der Organisationsziele leisten (oder dies jedenfalls so wahrgenommen wird). Andererseits wird die Motivation zu „uberstiirzten Ktindigungen" entmutigt, und die Drohung einer Entlassung, sagen wir im Falle offensichtlicher Druckebergerei, Inkompetenz oder Pflichtverletzungen, wirkt starker, wenn die hoheren Entgelte, die zum Teil schon durch die bisherige Unterbezahlung verdient wurden, noch vor den Mitarbeitern liegen. Auch angemessen aufgebaute Rentensysteme konnen als integraler Teil solch „verlegter Bezahlungsvertrage" betrachtet werden, welche Mitarbeiter dazu ermutigen, bis zum Hohepunkt ihres erwarteten Werts bei ihren Organisationen zu bleiben, aber sie auch davon abhalten, zu lange zu bleiben (sofern es keine vorgeschriebene Altersgrenze gibt), wenn sie in Relation zu ihrer Produktivitat iiberbezahlt sind (Lazear 1995: 42-5).'^ '^ Empirische Unterstiitziing fiir Lazears Theorie findet sich bei Medof/Abraham (1981) und Hutchens (1987). Wie Lazear (1995: 71) anmerkt, trittein „aiifsteigendes Altersverdienstprofil" vielfach auf, vergleichbar einem „Effizienzentgelt" oder, wie Marxisten wie Wright (1997) es nennen wiirden, einem „Loyalitatsentgelt". Ratenzahlungsvertrage miissen aber, wie Lazear ebenfalls erwahnt,
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Mit anderen Worten wird die Losung des Vertretungsproblems, wie es bei angestellten Hochqualifizierten und Managern entsteht, notwendigerweise in der Dienstleistungsbeziehung gesucht. Anstelle jeden Versuchs, Leistung und Bezahlung unmittelbar miteinander zu verbinden, strebt der Arbeitsvertrag so implizit wie explizit einen recht diffusen Austausch von Dienst fur die Organisation gegen Bezahlung an, in dem das Zukunftselement entscheidend ist; und entsprechend wird der Vertrag eher als lang- denn als kurzfristig betrachtet. Die Schlusselvefbindung, welche der Vertrag errichten will, ist die zwischen der Verpflichtung der Arbeitnehmer auf Ziele der Organisation und deren wirkungsvoller Verfolgung einerseits und ihrem Karriereerfolg und ihrem materiellen Wohlergehen andererseits.^^ Bisher habe ich mich in diesem Unterabschnitt mit den Vertragsproblemen der Arbeitgeber in Verbindung mit der Arbeit, die rechts in der horizontalen Dimension von Abbildung 1 zu fmden ist, befasst, d. h. denen der Uberwachung. Aber Probleme, die nach oben mit der vertikalen Dimension verbunden sind, bleiben ebenfalls relevant: d. h. solche der Besonderheit von Humankapital. Dieses Problem dilrfte sich am wenigsten dort stellen, wo Arbeitgeber zufrieden stellend mit Arbeitnehmern arbeiten konnen, die nicht mehr als allgemein verfiigbare korperliche oder kognitive Fahigkeiten haben. Sofern eine hoher qualifizierte Belegschaft notwendig ist, ist es fiir den Arbeitgeber wahrscheinlich vorteilhaft sicherzustellen, dass jegliche allgemeine Fahigkeiten der Mitarbeiter in besonderen, mit der Organisation verbundenen Zusammenhangen, in denen sie angewendet werden, auch „vertieft und spezialisiert" werden (Williamson 1985: 242). Wo das der Fall ist, da ist ein Arbeitsvertrag, der nichts tut, um das Arbeitsverhaltnis langfristig zu sichern, offensichtlich mangelhaft: Er wird keine Anreize ftir Arbeitgeber liefern, Trainingsmoglichkeiten anzubieten, und keine fiir Arbeitnehmer, weiter zu lernen, was ftir beide Seiten gleichermaBen von Nutzen ware.
keinesfalls einen Bruch mit dem Prinzip von Bezahlung im Verhaltnis zu einer marginalen Produktivitat missachten - also auch nicht unfreiwillige Arbeitslosigkeit; am Beginn des Einkommensprofils konnen Lohne hinreichend niedrig sein, um Markte zu raumen. '^ Das oben Gesagte unterscheidet sich von meinen friiheren Erorterungen zum Dienstleistungsverhaltnis (Goldthorpe 1982) hauptsachlich insofern, als es auf die Idee des „Vertrauens" als zentrales Element dieser Beziehung verzichtet. Ich habe meine eigenen wachsenden Zweifel in dieser Hinsicht stichhaltiger ausgedriickt gefunden, als ich es selbst hatte formulieren konnen, in Williamsons (1996: Kap. 10) Kritik des Konzeptes von Vertrauen, wie es auch in jlingeren soziologischen Arbeiten benutzt wurde (z. B. Gambetta 1988; Coleman 1990). Das Wesentliche von Williamsons (1996: 256) Argument ist, dass „es bestenfalls uberfliissig und irrefiihrend ist, den Begriff ,Vertrauen' zu benutzen, um geschaftliche Tauschbeziehungen zu beschreiben, fur die preisgiinstige Sicherheitsklauseln fiir einen noch effizienteren Austausch entwickelt wurden. Kalkulatorisches Vertrauen ist ein Gegensatz in sich."
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Probleme spezifischer Mitarbeiterqualifikationen sind nicht auf Hochqualiflzierte und Manager als Arbeitnehmer beschrankt. Aber solche Probleme nehmen immerhin ftir diese Gruppen eine ihrer organisationsspezifischen Bedeutung proportionale Wichtigkeit ein. Fehler entweder bei der Entwicklung oder bei der Bewahrung von organisatorisch spezifischen Qualifikationen, Expertisen und Wissen der Hochqualifizierten und Manager sind wahrscheinlich mit besonders groBem Schaden verbunden. Auch hier ist die Begrlindung der Dienstleistungsbeziehung mit ihrer Implikation fortdauernder Beschaftigung offensichtlich. Durch solch eine Beziehung konnen sich Arbeitgeber, im Gegensatz zu einer, in der eine Erneuerung eines Beschaftigungsverhaltnisses vollig offen ist, mit groBerer Sicherheit auf kostenintensives Training und auf planned experience-FrogmmmQ einlassen, die auf die Steigerung organisationsspezifischer Qualifikationen von Mitarbeitern gerichtet sind, und Arbeitnehmer wiederum konnen mit mehr Sicherheit die Zeit und Mtihe aufbringen, die mit dem Erwerb solcher Qualifikationen verbunden sind. Mit anderen Worten wird es moglich, sowohl die Kosten als auch die Returns on Investment zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern zu teilen (Milgrom/Roberts 1992: 363; Lazear 1995: 74). Der Vorteil der langfristigen Dienstleistungsbeziehung als Losung fur „agency problems'' ~ d. h. durch eine im Arbeitsleben steigende Entgeltskurve - wird daher dadurch verstarkt, dass gleichzeitig eine Losung der Probleme spezifischer Mitarbeiterqualifikationen geliefert wird.^^ ~" In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, Savage und seine Kollegen zu betrachten (Savage et al. 1992; Savage/Butler 1995), die in ihrer Kritik der Idee eines Gehaltes oder einer „Dienstleistungsklasse" eingewandt haben, dass eine Linie der Klassenabgrenzung zwischen hoch qualifizierten Spezialisten auf der einen und Managern auf der anderen Seite liegen solle. Dies baut auf die verschiedenen Vermogen auf, die sie typischerweise besitzen - im Falle der friiheren kultiirellen Vermogen und der neueren organisatorischen Vermogen. Hochqualifizierte sind dann insofern im Vorteil gegeniiber Managern, als kulturelle Vermogen weniger speziell sind als organisatorische Vermogen und deshalb besser gespeichert, d. h. bequemer in einer transferierbaren Form angehauft werden konnen. Diese Analyse kann meine Vermutung untersttitzen, Vertretungsprobleme konnten akuter sein als Probleme mit der Spezifizierung von Verm5gen von Hochqualifizierten - etwa solche in niedrigeren Fiihrungspositionen im Bereich Gesundheit, Bildung und anderen Wohlfahrtseinrichtungen, wahrend die gegenteilige Situation auf einige niedrigrangige Verwalter und Manager, deren Entscheidungsspielraum mehr lokal als strategisch ist, bezogen werden konnte. Aber was aus der von mir eingenommenen Position gegen die Annahme spricht, dass verschiedene Klassenpositionen dadurch entstehen, ist die Tatsache, dass die Dienstleistungsverhaltnisse als eine angemessene Antwort auf die vertraglichen Zufalle erscheinen, die in beiden Moglichkeiten auftreten, auch wenn bestimmte Aspekte dieser Beziehung in einigen Beispielen voUstandiger ausgedrlickt werden konnen als in anderen. Uberdies scheinen Savage und seine Kollegen den Kern der Transaktionskosten-Okonomie zu verkennen, die der VermSgensspezifizierung bilaterale Bedeutung zuschreibt. Insofern die von Managern erworbenen Fertigkeiten organisationsspezifischer Art sind, werden sie tatsachlich verloren gehen oder stark geschmalert werden, wenn diese Beschaftigten ihre Jobs verlieren; aber gleichzeitig entstehen dem Arbeitgeber, der es versaumt hat, Arbeitnehmer mit diesen Vermogen zu halten, Kosten. Ich habe an anderer Stelle (Goldthorpe 1995) eine allgemeine Kritik
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6 Mischformen AbschlieBend soil in diesem Abschnitt eine Erklarung fur die Dominanz von Mischformen des Arbeitsvertrags innerhalb bestimmter Gruppen - wie in Tabelle 1 dargestellt - versucht werden: d. h. von Formen, die auf verschiedene Weise Elemente sowohl des Arbeitsvertrags als auch der Dienstleistungsbeziehung in sich vereinen. Mit Rtickgriff auf Tabelle 1 konnte im Licht der bisherigen Erorterung eine Tendenz vermutet werden, der zufolge sich empirische Beispiele auf der Diagonalen von unten links nach oben rechts konzentrieren: oder mit anderen Worten, dass es einige Korrelationen zwischen der Intensitat von Uberv^achungsproblemen und Problemen mit den spezifischen Mitarbeiterqualifikationen gibt, zu denen unterschiedliche Arten von Arbeit Anlass geben. Trotzdem konnen sicher Beispiele abseits dieser Diagonalen erkannt werden, und der Vorschlag, den ich mache, ist der, dass die beschaftigungstechnische Verteilung von Mischformen von Arbeitsvertragen entsprechend der in dieser Weise positionierten Arbeit erklart werden muss. Von Arbeit, welche in das Quadrat unten rechts der Abbildung 1 fallt, d. h. Arbeit, die Arbeitgeber mit echten Uberwachungsproblemen, aber nicht mit ihren spezifischen Qualifikationen konfrontiert, konnte man erwarten, dass sie zu einer Vertragsform ftihrt, in der Merkmale, die eine gewisse Entfernung vom Austausch getrennter Geldbetrage und Anstrengungen mit sich bringen, wie sie charakteristisch fur den Arbeitsvertrag sind, offensichtlicher sind als solche, die auf eine Forderung einer langfristigen Beziehung gerichtet sind. Und umgekehrt konnte von Arbeit, die in das Quadrat oben links fallt, wo Probleme mit spezifischen Qualifikationen auftreten, nicht aber Uberwachungsprobleme, zu erwarten sein, dass sie zu einer Vertragsform fuhrt, in der ein recht spezifischer Austausch von Geld fiir Arbeit eingehalten wird, zumindest eine Ubereinkunft tiber die langjahrige Art des Vertrags impliziert wird. Tatsachlich kann etwas empirische Unterstutzung fur dieses Argument geliefert werden, und das fur eine eher prazisere Version davon: Namlich einer, welche die erste der zwei oben beschriebenen Situationen mit routinemaBiger nichtmanueller Arbeit in Verwaltung und Handel verbindet, die sozusagen an den Randern biirokratischer Strukturen existiert, und die zweite Situation mit korperlicher Uberwachungs- und niedrigrangiger technischer Beschaftigung.^^ einer „Vermogenstheorie" der DitTerenzieriing der Dienstleistiingsklassen formuliert. Vergleiche auch Li (1997, 2002). ^' Ergebnisse der oben und in FuBnote 6 angesprochenen Validierungsbemiihungen deuten auf einen solchen Schluss hin, wie auch Ergebnisse der laufenden Arbeit von Colin Mills (personliches Gesprach). Fiir spezielle Aspekte der variablen Entlohnungselemente vgl. Goldthorpe/McKnight (2005: Tabelle 2).
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So scheinen Mitarbeiter in routinemaBigen, nichtmanuellen Berufen - Angestelite, Selcretarinnen usw. - feste Gehalter und auch relativ entspannte oder flexible Anwesenheitsregelungen zu geniefien, fast genauso wie Hochqualifizierte und Manager, mit denen sie typischerweise als Heifer zusammenarbeiten, obwohl sie uberwiegend nur standardisierte Fahigkeiten entfalten (vgl. Fama 1991). Aber sie sind nicht im selben AusmaB an Karrierestrukturen in den sie beschaftigenden Organisationen beteiligt, die Aussicht auf stetig steigende Bezahlung tiber den Gesamtverlauf ihres Arbeitslebens enthalten wlirden,"" Umgekehrt haben Vorarbeiter und niedrigrangige Techniker eher groBere variable Elemente in ihrer Bezahlung, vor allem als Ergebnis von Uberstundenbezahlung, Schichtzulagen usw., ahnlich den ungelernten Arbeitern, tiber die sie Weisung und Kontrolle austiben. Aber ihr charakteristischer Wert fiir ihre Organisationen wird haufiger durch Vertrage oder Ubereinlciinfte Uber Beschaftigungsund Einkommenssicherheit und vielleicht durch Gelegenheiten, auf vor allem auf Senioritat basierenden Karriereleitern voranzukommen, anerkannt - d. h. auf die Art, wie sie durch die Institutionen des klassischen firmeninternen Arbeitsmarkts zur Verfugung gestellt wird (Doeringer/Piore 1971; Osterman 1987).^"' Vereint man dies mit den zuvor geauBerten Argumenten dieses Abschnitts, dann wird eine Gesamtdarstellung darliber moglich, wie die analytischen Dimensionen von Abbildung 1 als relational zu den empirischen RegelmaBigkeiten, wie in Tabelle 1 impliziert, gesehen werden, d. h. RegelmaBigkeiten in der Verbindung zwischen verschiedenen Beschafligungsgruppen von Arbeitnehmern und der Regelungsform ihrer Beschaftigung. Das geschieht in Abbildung 2. Unter der Voraussetzung, dass die in Frage stehenden RegelmaBigkeiten als nur probabilistisch betrachtet werden sollen und dass Ausnahmen von ihnen daher sicherlich gefunden werden konnen, kann diese Abbildung als eine Zusammenfassung der hier angebotenen Erklarung stehen. Diese RegelmaBigkeiten werden generiert und aufrecht erhalten durch Reaktionen von Arbeitgebern auf -^ Aus dieser Sicht (wie es mir von Jerker Denrell dargelegt wiirde) ist es dann nicht iiberraschend, dass Bilro- und ahnliche Angestellte oft zeitweise tiber Beschaftigiingsvermittlungen eingestellt werden. Eine weitere Beschaftigiingsgruppe ist in diesem Ziisammenhang die des Verkaufspersonals. Bei diesen Beschaftigten fmdet sich oft eine feste BQzahhing plus Provision. Die Begriindung scheint zu sein, dass, obwohl die Quantitat des Outputs, d. h. die abgeschlossenen Verkautb, eher leicht gemessen werden konnen und stiickbezogene Bezahlung moglich ist, Probleme der Oberwachung von Qualitat entstehen, insbesondere bezUglich der Aufrechterhaltung guter Firmenbeziehungen zu Kunden. Ich wurde daher die Hypothese aufstellen, dass Kommissionen am ehesten bei solchen Mitarbeitern von Unternehmen auftauchen, die in dieser Hinsicht am wenigsten zu verlieren haben, zum Beispiel bei Firmen, die Doppelglas ftir Ttir- und Fensterrahmen verkaufen. ^^ Es sollte jedoch festgestellt werden, dass die fraglichen Jobleitern typischerweise viel ki'irzer sind als die, die fiir Hochqualifizierten- und Managerabteilungen verfiigbar sind. Vgl. die Unterscheidung, die Osterman (1987) zwischen „industriellen" und „besoldeten" Formen innerbetrieblicher Arbeitsmarkte macht.
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die Probleme vertraglicher Regelung, die durch die Einstellung von Beschaftigten zur Durchftihrung unterschiedlicher Arbeit entstehen. Abbildung 2:
Dimensionen von Arbeit als Quellen von Vertragsrisiken, Formen des Beschaftigungsvertrages und Einordnung der Arbeitnehmerklassen des Schemas
Spezifitat des iumankapitals
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Schwierigkeitsgrad der Uberwachung der Arbeit
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Neue Arbeitgeberstrategien und die Zukunft des Dienstleistungsverhaltnisses Ein Einwand gegen die vorhergehende Analyse konnte lauten, dass sie in sehr allgemeinen theoretischen Begriffen ein Differenzierungsmuster in Beschaftigungsvertragen zu erklaren versucht, das sich durchaus als spezifisch fur eine besondere geschichtliche Ara erweisen konnte. Mehrere Autoren haben die Frage der fortdauernden Lebensfahigkeit des Dienstleistungsverhaltnisses unter Bedingungen schnellen Wandels in technologischen und Marktbedingungen sowie sich intensivierenden globalen Wettbewerbs, die immer mehr organisatorische Flexibilitat (siehe z. B. Halford/Savage 1995) erfordern, angeschnitten; und andere sind weiter gegangen und haben gesagt, dass unter diesen Bedingungen das Dienstleistungsverhaltnis tatsachlich erodiert, well im offentlichen wie privaten Sektor wettbewerbsorientierte Ausschreibungen und andere Formen der Marktdisziplin zunehmend auferlegt werden (siehe z. B. Brown 1995). Es gibt einen konstanten Druck, so wird argumentiert, Managementstrukturen „downzusizen'' Oder „flacher zu machen", qualifizierte Dienste eher einzukaufen als sie selbst
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im Hause vorzuhalten, Personal mit Zeitvertragen einzustellen und leistungsorientierte Bezahlungssysteme auf alien Ebenen der Beschaftigung einzufuhren. Von diesem Standpunkt aus erscheint dann die Dienstleistungsbeziehung nicht als eine Vertragsform mit einer eher anspruchsvollen Begrundung, sondern als ein Ausdruck einer rein konventionellen Statusunterscheidung, die als ein Aspekt „organisatorischer Tragheit" des langen Booms der Nachlcriegsjahre aufrechterhalten wurde, aber nun in einer viel mehr fordernden wirtschaftlichen Umwelt beiseite gefegt wird. Insofern als Versuche auf dem Weg sind, die Regelung der Beschaftigung von Hochqualifizierten und Managern radikal umzugestalten, ist dies eine wertvolle Gelegenheit, das, was ich zur Logik der Differenzierung von Arbeitsvertragen ausgefuhrt habe, empirisch zu priifen. Zunachst ist es vollig der allgemeinen von mir eingenommenen Position entsprechend, dass Arbeitgeber versuchen sollten, jedwede Veranderung des Arbeitsmarktes oder anderer wirtschaftlicher Bedingungen zu nutzen, die sie in die Lage versetzen konnten, Arbeitsvertrage explizit oder implizit auf Arten zu verandern, die zu ihrem Vorteil waren, oder, genauer, die ihre vertraglichen Risiken vermindern wlirden. Dem entspricht, dass solche Veranderungen dann solche sein sollten, die vom Dienstleistungsvertrag wegflihren und hin zu dem abgetrennten und kurzfristigen Austausch uber den Arbeitsvertrag; oder, anders gesagt, weg von Formen der Beschaftigungsregelung, die einen diffusen und fortgesetzten Austausch voraussetzen, und hin zu solchen, in denen Arbeit starker kommodifiziert ist. Wie Breen (1997) beobachtet hat, kann man in dieser Hinsicht Arbeitnehmer so sehen, dass sie Risiken von sich auf ihre Arbeitgeber zu Ubertragen versuchen: das heiBt, sich selbst von der Inflexibilitat zu befreien, welche die „quasi verallgemeinerte Gegenseitigkeit" der Dienstleistungsbeziehung mit sich bringt, und statt dessen eine „asymmetrische Verpflichtung" oder eigentlich eine Option auf die Lieferung von Arbeit zu erhalten, die sie dann gegebenenfalls ablehnen konnen, um Verlustrisiken zu vermeiden und sich dabei die Moglichkeiten zu erhalten, von Gewinnmoglichkeiten zu profitieren. Anhaltspunkte, dass Arbeitgeber einfach mit der Moglichlceit rechnen, Vertragsformen zu revidieren, sind daher fiir sich genommen nicht besonders folgenreich. Was eine RoUe spielt, ist, wie weit Arbeitgeber damit wirklich dahin kommen, das Dienstleistungsverhaltnis in Fallen aufzugeben, in denen es vorher bestanden hat. Damit verbunden muss auch beachtet werden, dass einige der Strategien, welche Arbeitgeber auf der Suche nach groBerer Flexibilitat verfolgen, auf die Dienstleistungsbeziehung per se nur wenig oder gar keine Einwirkung haben mussen und sogar dazu beitragen konnen, diese Dienstleistungsbeziehung pra^tikabler zu machen. Damit, durch downsizing und flachere Hierarchien der Managementstrukturen und auch durch den Einkauf professioneller Expertise kon-
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nen Arbeitgeber vielleicht den Anteil ihrer kompletten Belegschaft, auf den sich die Dienstleistungsbeziehung erstreckt, und wiederum den Grad, in dem sie an der „quasi verallgemeinerten Gegenseitigkeit" beteiligt sind, reduzieren, jedoch ohne diese Beziehung fur das professionelle und Manager-Personal aufzugeben, das sie beibehalten.^"^ Ebenso konnen Arbeitgeber dadurch, dass sie groBere Flexibilitat bei der Beschaftigung von anderen Ebenen von Arbeitern schaffen z. B. indem sie Funlctionen interner Arbeitsmarkte fur qualifizierte korperliche Arbeiter verandern (vgl. Capelli 1995) -, besser in der Lage sein, die Dienstleistungsbeziehung bei solchen Arbeitnehmern aufrechtzuerhalten, bei denen sie das flir besonders geeignet halten. In einigen einflussreichen Modellen der „flexiblen Firma" (z. B. Atkinson 1985) liegt die Betonung tatsachlich auf der Divergenz zwischen den Beschaftigungsbeziehungen, welche auf die „Kern-" und die „Randbelegschafl" zutreffen. Die Schlusselfrage erhebt sich daher, wie weit und auf welcher Basis Arbeitgeber dazu kommen, die Dienstleistungsbeziehung selbst als Ausdruck eines Vertrags zu sehen, dessen Beendigung sie eher anstreben sollten als dessen Beibehaltung. Und insoweit, als diese Beziehung im Falle professioneller und Management-Mitarbeiter z. B. durch die Einfuhrung kurzfristiger Vertrage oder leistungsbezogener Bezahlung wirklich untergraben wird, wird es wiederum wichtig zu wissen, wie Arbeitgeber dann mit jenem Problem der Arbeitsuberwachung umzugehen versuchen, aus welchem, wie ich ausgefuhrt habe, die Begriindung ftir das Dienstieistungsverhaltnis und ihrem beschaftigungstechnischen Anwendungsbereich erwachst. Breen (1997) hat darauf hingewiesen, dass es trotz des Arbeitgeberanliegens, Risiken in Arbeitsvertragen auf ihre Arbeitnehmer abzuladen, weiterhin gute Grtinde flir die Annahme gibt, dass die Dienstleistungsbeziehung sich als dauerhaft erweist, well es keine andere nahe liegende Losung fiir das Vertretungsproblem gibt, das aufgrund von asymmetrischer Information entsteht. Hochqualifizierte Mitarbeiter und Manager sind Arbeitnehmer, bei denen es im Allgemeinen weniger wichtig ist, dass der Arbeitsvertrag Flexibilitat (vom Standpunkt des Arbeitgebers aus) vorsieht, als dass er sicherstellt, dass der Arbeitnehmer Starke Anreize hat, Zielen der Organisation verpflichtet zu sein (siehe auch Gallie et al. 1998: 312-3). Und dem mochte ich hinzufugen, dass, selbst wenn verbesserte Uberwachungstechniken in einigen Fallen in der Lage sein mogen, Vertretungsprobleme zu reduzieren (Halford/Savage 1995: 129), Versu^^ Eine Verflachung wiirde das Dienstieistungsverhaltnis vielleicht schwerer iimsetzbar machen, dadurch, dass Beforderungsmoglichkeiten reduziert wtirden; aber es ware immer noch moglich, das sich aufwarts entwickelnde Altersverdienstprofil aufrecht zu erhalten, indem man zunehmende GehaltsmaBstabe oder an Beurteilungen gekoppelte Zahlungserhohungen zur Anwendung innerhalb gegebener hierarchischer Ebenen einraumt (vgl. Lazear 1995: 79-80).
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che, die Bezahlung auf Leistung zu griinden, dort immer noch zur Bedrohung durch unerwartete Folgen fiiliren konnen, wo Arbeitnehmer mit Aufgaben vieler Facetten beschafligt sind.^^ In dieser Hinsicht scheinen die Anforderungen vertraglicher Flexibilitat in direkten Konflikt mit dessen „funktionaler Flexibilitat" zu geraten (Atkinson 1985), die tatsachlich zu Forderungen an die Arbeitnehmer fiihrt, immer groBere Aufgaben- und Verantwortungsbereiche zu ubernehmen. Vielleicht plausibler als die Vorstellung der generellen Abschaffung der Dienstleistungsbeziehung ist der Vorschlag, zumindest fur einige Arbeitnehmergruppen sollte der in der Dienstleistungsbeziehung enthaltene „Z)^a/" neu formuliert werden: insbesondere damit, dass der Arbeitnehmer fiir seine Verpflichtung und Bereitschaft, organisationsspezifisches Konnen zu entwickeln, nicht die Dauerhaftigkeit seiner Beschaftigung sondern die seiner Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt geboten bekommt. In diesem Fall ist es Sache der Arbeitgeber, Arbeitnehmer mit Training und Erfahrung zu versorgen, welche sie sowohl organisationsspezifische Qualifikationen, Expertise und Wissen entwickeln lassen, als sie auch mit zukUnftigen Karrierechancen im externen Arbeitsmarkt ausstatten. Es ist jedoch noch langst nicht klar, ob selbst diese Modifizierung der Dienstleistungsbeziehung zum Vorteil des Arbeitgebers ware. Das offensichtliche Risiko, das der Arbeitgeber eingeht, besteht darin, dass dann, wenn Investitionen in die Entwicklung von nicht organisationsspezifischem, menschlichem Konnen stattfinden, und wenn die Arbeitnehmer, die von diesen Investitionen profitieren, nicht in der Organisation gehalten werden, diese Returns on Investment groBenteils verloren gehen: sie werden dann zwischen dem Arbeitgeber und dem ihm nachfolgenden Arbeitgeber geteilt. Auch hier wird die Kraft der ursprunglichen Begrtindung der Dienstleistungsbeziehung deutlich. Zusammengefasst scheinen fur ein schlagendes Argument, die Dienstleistungsbeziehung sei allgemein von abnehmender Bedeutung, zwei Voraussetzungen benotigt zu werden: erstens direkte Hinweise darauf, dass Arbeitsvertrage, die diese Beziehung ausdrticken, tatsachlich innerhalb der Arbeitnehmergruppen zu Ende gehen, fur die sie zuvor typisch waren, und zweitens Hinweise darauf, dass ein solcher Wandel als dauerhaft zu sehen ist - und nicht eine Reaktion auf kurzfristige Anforderungen oder der momentanen Mode unter Management-Consultants - weil eben die Begrtindung, die der Dienstleistungsbeziehung zuvor zugrunde lag, nun nicht mehr zutrifft oder irgendwie transzen-
Die iiltimative Schwierigkeit liegt, wie Holmstrom/Milgrom (1991) hervorheben, in der Verschiedenheit der geleisteten Aufgaben und darin, eine angemessenen Bezahlung fiir sie alle zu tlnden, mehr noch als in der Arbeitsiiberwachung und der Messung per se. Zu weiteren Problemen der leistungsbezogenen Bezahlung vgl. Prendergast (1999) und Marsden/French/Kubo (2001).
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diert wurde.^^ Die Analyse, die ich zuvor prasentiert habe, fuhrt mich offensichtlich zu der Ansicht, dass Hinweise der letzteren Sorte zumindest nicht einfach in Erscheinung treten. 8 Schlussfolgerungen In diesem Aufsatz bin ich von einer empirischen RegelmaBigkeit ausgegangen, die von Einschatzungsversuchen der Kriteriumsvaliditat des Klassenschemas ausging, das Kollegen und ich als ein Forschungsinstrument entv^ickelt haben. Zumindest ftir den britischen Fall wurde ein Verbindungsmuster unter Arbeitnehmern aufgestellt zwischen ihrer breiten, beschafligungstechnischen Gruppierung und der Form, in der ihre Beschaftigung geregelt wird. Ich habe dann mit Bezug auf in sowohl mehr als auch weniger orthodoxen Zweigen moderner Wirtschaftswissenschaften entwickelte Ideen dargelegt, wie diese RegelmaBigkeit auf der Ebene der gesellschaftlichen Handlung erklart werden konnte, namlich in den Begriffen der rational verstandlichen Reaktionen der Arbeitgeber auf Probleme, die sie beim Entwurf und der Umsetzung von Arbeitsvertragen ftir in verschiedenen Arten von Arbeit beschaftigte Arbeiter haben - insbesondere Probleme der Arbeitsuberwachung und der spezifischen Mitarbeiterqualifikationen. Ich habe auch aufgezeigt, in welcher Weise die angebotenen Tests dieser Erklarung im zeitgenossischen wirtschaftlichen Kontext am besten konzentriert werden konnten. Zum Schluss mache ich zwei Betrachtungen hinsichthch dessen, was mit dem zentralen Argument des Beitrags ftir das allgemeine Verstandnis der Stratifikation moderner Gesellschaften vorausgesetzt sein soil und was nicht - gegrtindet auf der Annahme naturlich, dass das Argument grundsatzlich stichhaltig ist. Da diese Annahme zumindest zurzeit offen ftir Herausforderungen ist, werden die Betrachtungen kurz sein, obwohl sie sich auf groBe Fragen beziehen. Zunachst muss, wenn diese von mir prasentierte Analyse valide ist, daraus folgen, dass moderne Gesellschaften, zumindest wenn sie eine Art kapitalistischer Marktwirtschaft beibehalten, eine vergleichsweise komplexe Klassenstruktur als eine begleitende und fortbestehende Funktion haben. Zusatzlich zur Differenzierung von Arbeitgebern, Selbststandigen und Arbeitnehmern wird man letztere auch unter sich nach den Beschaftigungsverhaltnissen differenzieren, in denen sie als Ergebnis einer hochst verallgemeinerten „Situationslogik" beschaftigt sind, welche Geltung hat und auf einen weiten Bereich gesellschaftlicher Zusammenhange wirken wird. Die weitere Implikation ist dann, dass, obwohl na^^' Es mag hier hinzugefugt sein, dass ein Zufriedenheitsbeweis der fraglichen Art nicht in erster Linie aus ad hoc-StudiQW abgeleitet werden Icann. Notwendig waren Untersiichungen, die auf reprasentativen Samples von Arbeitnehmerorganisationen und ihren Arbeitgebern basieren (vgl. dazu Kalleberg 1990).
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tionale Gesellschaften in der historischen Entwicklung ihrer Klassenstrukturen durchaus groBe Variationen aufweisen konnen - d. h. in den Wachstums- oder Schrumpfungsraten verschiedener Klassen und damit in ihren anteiligen GroBen - sie gleichzeitig durch klassenbezogene Ungleichheiten charakterisiert sein werden, die auf viel vergieichbareren Linien laufen. Die Form dieser Ungleichiieiten wird walirscheinlicli niclit weniger komplex sein als die Struktur der Klassenbeziehungen, aus denen sie entstehen, und daher nicht zuganglich fiir eine angemessene Darstellung in einer eindimensionalen Form. Trotzdem darf gesagt werden, dass Arbeitnehmer so weit, als sie eher an ein Dienstleistungsverhaltnis als an einen Arbeitsvertrag gebunden sind, nicht nur darin deutlich im Vorteil sein werden, dass sie ein groBeres Einkommen aus ihrer Beschaftigung beziehen, sondern auBerdem dadurch, dass ihre Einkommen weniger Jobverlust und Arbeitslosigkeit oder kurzfristiger Fluktuation unterliegen und dazu neigen, einem steigenden Kurvenverlauf uber den langeren Teil ihres Arbeitslebens zu folgen. Die Probleme jeglicher eindimensionaler Anordnung werden bei den Mittelklassen besonders offensichtlich.^^ Zweitens aber ist es wichtig zu erkennen, dass die vorgebrachte Analyse keine besonderen Implikationen fur den Grad wirtschaftlicher Ungleichheit, einschlieBlich Ungleichheiten von Arbeitseinkommen, hat, die unter Mitgliedern unterschiedlicher Klassen zu fmden sind. Was in dieser Hinsicht tatsachlich bemerkt werden soUte, ist, dass im Lauf der Zeit ein substanzieller Wandel in dem AusmaB solcher Ungleichheiten stattfmden kann, wahrend im Wesentlichen dasselbe Muster von Klassendifferenzierung weiter besteht. In GroBbritannien z. B. haben sich die Klassenungleichheiten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts stark vergroBert, aber mit wenig Folgen fur Klassenunterschiede hinsichtlich Sicherheit und Stabilitat der Einkommen und Einkommensaussichten uber die ganze Lebenszeit gesehen (Goldthorpe/McKnight 2005). AuBerdem konnte man von einer internationalen Perspektive vielleicht erwarten, dass sie eine ana^^ wahrend zum Beispiel manuell Beschaftigte in uberwachenden und technischen Positionen (Klasse V) vergleichbare oder noch hohere Durchschnittseinkommen haben als Beschaftigte in nichtmanuellen Beriifen (Klasse HI), zeigen ihre Verdienste haiifiger kurzfristige Schwankungen (vgl. Goldthorpe/McKnight 2005); oder wahrend wiederiim kleine Arbeitgeber oder selbststandige Arbeiter (Klasse IV) generell mehr Risiken ausgesetzt sind als Mittelklasse-Beschaftigte, haben sie bessere Chancen, Kapital zu erwerben - und so weiter. Es wurde manchmal als ein Nachteil des Klassenschemas erachtet, dass seine Kategorien nicht ganz und gar unzweideutig genutzt werden konnen. Jedoch haben Studien zu seiner Konstruktvaliditat seine Moglichkeiten gezeigt, einerseits ausgepragte Klassenunterschiede hinsichtlich politischer Praferenzen, Bildungswahl, Gesundheit usw., insbesondere zwischen der Dienstleistungsklasse (Klassen I und \\) und den Arbeiterklassen (Klassen VI und VII) zu enthtillen, andererseits, subtiler, aber weiterhin verstandlich, Unterschiede in dieser Hinsicht (die die Mittelklassen [Klassen III, IV und V] einschlieBen), die verdunkelt worden waren durch die Benutzung von Instrunienten, die aufgrund ihrer Konstruktion eindimensional sind, so wie kunstliche „soziookonomische" Klassifizierungen oder Skalen.
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loge Situation enthullt, d. h. dass Variationen eher im Grad als im Muster von Klassenungleichheit ebenso wie diese entstehen, da dieselbe Situationslogik von Klassenbeziehungen sich in nationalen Gesellschaften mit unterschiedlichen politischen Okonomien, Tari^arteien und sozialstaatlichem System ausbreitet.'^ Esping-Andersen (1993: 2, 8) hat beklagt, dass Klassentheorie, von Marx und Weber bis heute, zu der Annahme neigt, dass „Klassen aus uneingeschrankten Austauschbeziehungen entstehen, sei es im Markt oder am point of production, und daher „in einer institutionell ,nackten' Welt" verschachtelt sei. Ungeachtet dessen, wie weit eine solche Charakterisierung wirklich richtig ist, ist es doch meines Erachtens ein Fehler, das als Hinweis auf eine Schwache zu sehen. Es erscheint vielmehr wichtig, dass jede Theorie sozialer Klassen versuchen sollte, so allgemein wie moglich zu sein - dass sie nur minimale Annahmen tjber die institutionellen Formen von Arbeitsmarkten und Produktionseinheiten erfordert - gerade so, dass der Einfluss weiter gefasster institutioneller Variation und ebenso zugrunde liegender politischer und kultureller Faktoren dann eingeschatzt werden kann.^^ Und die weitere Frage kann natiirlich wiederum gestellt werden, wie weit diese Variation und auch die in den verschiedenen Formen schon angesprochenen nationalen Klassenstrukturen tatsachlich selbst allgemeiner theoretischer Erklarung zuganglich sind oder in spezifischeren historischen Begriffen dargestellt werden mtissen. Literatur Andersen, R., A. F. Heath, 2002: Class Matters: The Persisting Effects of Contextual Social Class on Individual Voting in Britain, 1964-97, in: European Sociological Review 18, 125-38. Atkinson, A. B., 1999: Is Rising Inequality Inevitable? A Critique of the Transatlantic Consensus, WIDER Annual Lecture. Atkinson, J., 1985: The Changing Corporation, in: D. Clutterbuck (Hrsg.), New Patterns of Work, Aldershot: Gower. Baldamus, W., 1961: Efficiency and Effort, London: Tavistock. Barnard, C, 1938: The Functions of the Executive, Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
^^ Morris und Western (1999) haben soziologische Feldarbeit zur sozialen Schichtung aiifgrund ihres Versagens gescholten, Erklariingen fur wachsende Einkommensungleichheit iiber die letzten Jahrzehnte zu produzieren. Um jedoch solche Erklarungen zu suchen, bediirfte es einer vergleichbaren Herangehensweise, die auf mehr als nur ein Land bezogen ist (wie Morris und Western es fur die USA tun), sodass erkennbar wird, dass es groBe Unterschiede im Anstieg von Ungleichheit gibt und dass Faktoren, die nur auf bestimmte Nationen oder Gruppen zutreffen, durchaus von herausragender Bedeutung sein konnten (vgl. Atkinson 1999). "'^ Aus dieser Sicht interessant sind britisch-italienische und britisch-deutsche Vergleiche wie die von Bernadi u.a. (2000) bzw. McGinnity/Hillmert (2004).
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Strukturelle Differenzierung, Statusinkonsistenz und soziale Integration: Mehrebenenmodelle fiir Paneldaten Uwe Engel und Julia Simonson
1 Problemstellung^ Soziale Ungleichheit im Sirme stmktureller Differenzierung ist ein komplexes Phanomen. Ein Ansatz, mit dem versucht wird, dieser Komplexitat Rechnung zu tragen, ist das Konzept der Statusinkonsistenz, in dem die Lagen, die eine Person in der Sozialstruktur einnimmt, als Positionen in einem durch Elementarfaktoren sozialer Ungleichheit gebildeten analytischen Raum aufgefasst werden. Im folgenden Beitrag wird der Frage nach moglichen Auswirkungen statusinkonsistenter Lagen nachgegangen. Dabei wird ein mehrebenenanalytischer Ansatz zu Grunde gelegt. Anhand der Daten des sozio-okonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 1996 bis 2003 werden langsschnittlich angelegte Mehrebenenmodelle geschatzt, um Effekte struktureller Differenzierung auf der Individualebene (Statusinkonsistenz) und der Haushaltsebene (relational Statusinkongruenz) zu untersuchen. Zusatzlich zur Individual- und Haushaltsebene wird dabei die Region als weitere Analyseebene berticksichtigt. Als mogliche Reaktionen auf Statusinkonsistenz werden hier das politische Interesse, die Besuchsfrequenz hoch- und popularkultureller Veranstaltungen sowie die Zufriedenheit mit dem eigenen Lebensstandard und dem Haushaltseinkommen in den Blick genommen. Einbezogen werden Effekte eines Statusinkonsistenzindikators, der die jeweilige Bildung als Investitions&imQnsion und das Einkommen als Gratifi^a^/o/i^dimension beinhaltet, sowie ein MaB fiir die relationale Statusinkongruenz auf Haushaltsebene. Im Folgenden werden zunachst das Konzept der Statusinkonsistenz sowie einige Annahmen hinsichtlich der Effekte von Inkonsistenzen vorgestellt und * Die vorliegenden Analysen entstanden im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geforderten Projektes „Integrationsleistungen der Sozialstruktur. Statusinkonsistenz und strukturelle Bindungen im Wandel westlicher Gesellschaften". Im Zentrum des Projektes stand die Frage, in welcher Weise sich im Zuge sozialen Wandels die Integrationsleistungen der Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland und anderer westlicher Gesellschaften verandert haben und verandern. Wir bedanken uns bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft ftir die fmanzielle Forderung des Projektes.
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diskutiert (Abschnitt 2). Im Anschluss daran erfolgt eine Vorstellung der Daten und der verwendeten Indikatoren (Abschnitt 3) sowie des zugrunde gelegten Mehrebenenansatzes (Abschnitt 4), bevor die Ergebnisse der Analysen prasentiert werden (Abschnitt 5). Den Abschluss bilden einige zusammenfassende Schlussfolgerungen (Abschnitt 6). 2 Soziale Ungleichheit und Heterogenitat: Statusinkonsistenz Mit Hilfe des Begriffs der Statusinkonsistenz wird der Fokus bei der Beschreibung des sozialen Status von Personen nicht auf die einzelnen Statusmerkmale gelenkt, sondern auf die spezifische Verknlipfung verschiedener Merkmale. Statusinkonsistenz stellt ein mehrdimensionales Konzept dar, bei dem Statusmerkmale nicht zu Konstrukten, wie sozialer Klasse, Schicht oder Lage zusammengefasst werden, sondern als Einzelelemente in die Analysen eingehen. Solche Einzelelemente sind in der Kegel soziodemographische Merkmale, wie Bildung, berufliche Stellung, Berufsprestige, Erwerbsstatus und Einkommen. Denkbar ist aber auch die Verwendung anderer Merkmale zur Identiflkation von Statusinkonsistenz. Ausschlaggebend fur die Bestimmung von Inkonsistenz ist die Frage, ob die Elementarfaktoren sozialstruktureller Platzierung in einem stimmigen Verhaltnis zueinander stehen oder nicht. Ist das Binnenverhaltnis der Elementarfaktoren stimmig, ist StSituskomistenz gegeben, bei einem nicht stimmigen Binnenverhaltnis liegt dagegen Statusinkonsistenz vor. Was als stimmige Relation definiert wird, kann allerdings variieren. Ursprung divergierender Statusinkonsistenzkonzeptionen sind meist unterschiedliche zugrunde liegende Konsistenznormen: Wahrend bei der Orientierung an der Gleichheitsnorm die Gleichheit von Statusrangen als Grundlage fur Konsistenz gesehen wird, liegt dem auf der Erwartungsnorm basierenden Statusinkonsistenzkonzept die Annahme zugrunde, dass die Verkniipfung von Statuspositionen dann als inkonsistent erlebt wird, wenn sie von erwartbaren Kombinationen abweicht. Der Grundgedanke dabei ist, dass in einer Gesellschaft, in der niemand die Gleichheit als „normalen" Zustand erwartet, Abweichungen von diesem Zustand keine besonderen Effekte erzeugen soUten, da die Abweichungen gar nicht als Anomalien wahrgenommen werden. Es ist vielmehr dann mit Effekten zu rechnen, wenn eine Statuskonfiguration von dem Zustand abweicht, der in einer Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit vermeintlich oder begrlindet erwartet werden kann (Engel/Gattig/Simonson 2004). Auf der individuellen Ebene ist Statusinlconsistenz nach Galtung (1966) ein Ungleichgewichtszustand, den Personen zu vermeiden oder durch Mobilitat zu verandem versuchen und der verschiedene als unangenehm erlebte psychosoziale Folgen mit sich bringen kann. So sind Statusinkonsistente im Unterschied zu
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Konsistenten einer differentiellen Behandlung durch andere ausgesetzt, da von anderen ausgehende Interaktionen zum Teil auf der Wahrnehmung der inkonsistenten Person als Inhaber eines hohen Status, zum Teil aber auch auf der Perzeption als Zugehoriger zu einem niedrigen Status basieren. Aus dieser differentiellen Behandlung kann beispielsweise ein instabiles Selbstbild erwachsen. Dartiber hinaus kann es durch Vergleiche mit anderen Akteuren zu einem Geftihl der relativen Deprivation kommen. Wahrend sich ein konsistent statusniedriger Akteur aufgrund der sozialen Distanz kaum mit einem konsistent hohen Akteur vergleichen wird, ist es durchaus als wahrscheinlich anzusehen, dass sich ein inlconsistenter Akteur aufgrund der Gleichheit in der ranghohen Statusdimension mit dem konsistent statushohen Akteur misst und daraufhin ein Gefiihl der relativen Benachteiligung entwickelt. Daneben verfugt ein inkonsistenter Akteur in Form des hoheren Status liber eine Ressource, die zur Verbesserung des Status in anderen Dimensionen eingesetzt werden kann und die es wahrscheinlich werden lasst, dass er Mobilitatsversuche uberhaupt in Erwagung zieht. Aus dem internen Druck aus Mobilitatswunschen, relativer Deprivation, einem instabilen Selbstbild und der Verfiigung liber Ressourcen zur Verbesserung der eigenen Lage konnen nach Galtung zwei grundlegende Reaktionsweisen resultieren: Mobilitat oder Aggression. Aggression kann dabei sowohl nach innen gegen die eigene Person als auch nach auBen gegen die Umwelt gerichtet sein. Nach auBen gerichtete Aggressionen konnen entweder „innovativer" oder „destruktiver" Art sein. Unter innovativen Reaktionsformen sind solche zu fassen, die versuchen das System mit dem Ziel zu verandern, letztendlich auch die eigene Lage zu verbessern. Destruktiv ware dagegen abweichendes Verhalten. Nach innen gerichtete Aggression kann sich in negativen Gefiihlen, sozialer Isolation, psychosomatischen und psychischen Storungen auBern und im Extremfall im Selbstmord enden. Mobilitat als Reaktion auf Statusinkonsistenz umfasst sowohl soziale, berufliche als auch geographische Mobilitat, sofern sie darauf abzielt, die eigene Lage zu verbessern. Dabei wird zwar eine Aussage liber die Tendenz zur Mobilitat gemacht, jedoch keine liber das tatsachliche Gelingen bzw. den Erfolg der Mobilitat. Welche Reaktion tatsachlich erfolgt, hangt dabei maBgeblich von der Moglichkeit zu Mobilitat ab. Gibt es keine Moglichkeit zu Mobilitat, wird eine status inkonsistente Person eher mit nach auBen gerichteter Aggressivital reagieren, existieren Mobilitatschancen, ist dagegen eher mit Mobilitatsversuchen oder mit nach innen gerichteter Aggression zu rechnen. Dies wird damit begrlindet, dass Inkonsistente, die gute Mobilitatschancen haben, diese aber nicht zu nutzen vermogen, ihre Situation als selbstverschuldeten Misserfolg interpretieren werden. Inkonsistente, die blockierten oder nicht vorhandenen Mobilitatschancen
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gegeniiber stehen, werden die Verantwortung fur ihre Situation dagegen nicht bei sich selbst, sondern eher im umfassenden System sehen. Die internale Schuidzuweisung (bei vorhandenen, aber nicht genutzten Mobilitatschancen) wird psychischen Stress oder nach innen gerichtete aggressive Reaktionsweisen hervorrufen, die externale Schuidzuweisung (bei fehlenden Mobilitatschancen) wird dagegen eher die Tendenz fordern, die auBeren Umstande, die ilir die eigene Lage verantwortlich gemacht werden, zu bekampfen bzw. zu andern. Bei Geschwender (1967) werden die vermuteten Effekte von Statusinkonsistenzen auf eine erweiterte Version der Theorie kognitiver Dissonanzen zuriickgeflihrt. Geschwender geht davon aus, dass alle Personen iiber unterschiedliche, miteinander verbundene Kognitionen verfiigen, die entweder auf realen Gegebenheiten beruhen oder normativ begriindet sind. Da in der Gesellschaft bestimmte Vorstellungen iiber passende Statuskonfigurationen herrschen, wird ein Zustand der Statusinkonsistenz zu kognitiver Dissonanz fiihren, wenn die Wahrnehmung des realisierten Statussets nicht mehr mit der normativen Vorstellung des einzunehmenden Statussets tibereinstimmt (Geschwender 1967: 168). Da Dissonanzen intraindividuelle Spannungen erzeugen, wird angenommen, dass Individuen diese abzubauen versuchen, indem sie eine der zur Dissonanz fuhrenden Kognitionen andern. Sie versuchen also entweder die tatsachlichen Gegebenheiten (und die darauf basierende Wahrnehmung) oder ihre normativen Kognitionen zu andern. Dabei wird angenommen, dass Personen zunachst versuchen, die Realitat zu andern, und erst, wenn dies nicht moglich ist, die Moglichkeit der Dissonanzreduktion wahlen. Statusinkonsistente Individuen wtirden also zunachst versuchen, ihre Lage (und ihre darauf basierenden Kognitionen) durch individuelle Mobilitat zu andern. Erweisen sich Mobilitatsversuche als erfolglos bzw. werden dafiir keine ausreichenden Chancen wahrgenommen, wird die Bildung von Vorurteilen erwartet, um so die durch Statusinkonsistenz entstandenen Dissonanzen iiber eine Anderung der wahrgenommenen Realitat abzubauen. Erweisen sich weder Mobilitat noch Vorurteilsbildung als geeignete Mittel der Dissonanzreduktion, wird erwartet, dass Personen versuchen, eine Veranderung durch den Anschluss an soziale bzw. politische Bewegungen oder Gruppen herbeizufuhren, von denen eine Verbesserung der gesellschaftlichen und/oder der eigenen Lage erwartet wird. Fuhrt dies nicht zum gewiinschten Erfolg, so bleibt als Reaktion die soziale Isolation. Ist auch diese nicht moglich, bleibt die psychische Spannung erhalten und auBert sich in Stresssymptomen (Geschwender 1967: 169). Uberblickt man die Ergebnisse der empirischen Forschungsarbeiten, die sich mit den Auswirkungen von Statusinkonsistenz beschaftigten, so wurden die erwarteten Effekte nur teilweise bestatigt. Beispielsweise konnte Lenski (1954)
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zeigen, dass statusinkonsistente Personen mit geringerer Wahrscheinlichkeit als statuskonsistente mit ihren jeweiligen Nachbarn und ArbeitskoUegen (auBerlialb der regularen Arbeitszeit) interagieren. Es zeigte sich in seinen Untersucliungen jedoch auch, dass Statusinkonsistenz eine groBere Wahrscheinlichkeit der Mitgliedschaft in Organisationen mit sich bringt. Jackson (1962) konnte einen empirischen Zusammenhang zwischen Statusinkonsistenz und psychosomatischen Symptomen aufzeigen. Engel und Wuggenig (1990) untersuchten die Auswirkungen von Statusinkonsistenz auf die Ausbildung von Stresssymptomen. Dabei berticksichtigten sie explizit die von den Personen wahrgenommenen Mobilitatschancen, die ja in der Theoriefassung von Galtung einen maBgeblichen Einfluss auf den Modus der durch Statusinkonsistenz hervorgerufenen Reaktionen ausliben. Stresssymptome sollten sich insbesondere dann ausbilden, wenn Statusinkonsistenz in Zusammenhang mit giinstigen Mobilitatschancen vorliegt, da in solchen Fallen vom entsprechenden Subjekt eine internale Schuldattribution vorgenommen wird. Tatsachlich konnte gezeigt werden, dass der Anteil von Personen mit uberdurchschnittlich hoher Symptomhaufigkeit in der Gruppe der Statuskonsistenten am niedrigsten, in der Gruppe der Statusinkonsistenten mit schlechten Mobilitatschancen leicht erhoht und in der Gruppe der Statusinkonsistenten mit guten Mobilitatschancen am starksten ausgepragt v^ar (Engel/Wuggenig 1990: 168). Damit konnte zum einen die Annahme des Zusammenhangs von Statusinkonsistenz und Stresssymptomen und zum anderen der postulierte intervenierende Einfluss der Mobilitatschancen bestatigt werden. Treiman, der den Effekt von Statusinkonsistenz auf die Ausbildung von Vorurteilen gegentiber Farbigen untersuchte, konnte dagegen keinen von den beobachteten Statusvariablen Bildung und Einkommen losgelosten Effekt der Statusinkonsistenz zwischen beiden Merkmalen feststellen (Treiman 1966). Zu fragen ist, in welchem MaBe sich heute uberhaupt noch Statusinkonsistenzeffekte feststellen lassen. Versteht man Individualisierung als Zunahme ausdifferenzierter und damit auch statusinkonsistenter Lebenslagen (Kohler 2005; Simonson 2004), so ist zu vermuten, dass Statusinkonsistenzen mit zunehmender Haufung in der Gesellschaft alltaglicher werden und damit auch weniger Reaktionen hervorrufen. Zu vermuten ist daher, dass die Effekte von Statusinkonsistenzen heute eher schwach ausgepragt sind. 3 Daten und Indikatoren Als Datengrundlage fur die durchgeftihrten Analysen dient mit dem soziookonomischen Panel (SOEP) eine reprasentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland, die im jahrlichen Rhythmus ab 1984 bei denselben Personen und Familien in der Bundesrepublik Deutschland (inklusive Westberlin) durchgefuhrt wurde. Das Sample A umfasste dabei Personen aus
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Haushalten mit deutschem bzw. auslandischem, jedoch nicht turkischem, griechischem, jugoslawischem, spanischem oder italienischem Haiishaltsvorstand, Sample B Personen aus Haushalten mit turkischem, griechischem, jugoslawischem, spanischem oder italienischem Haushaltsvorstand. Im Juni 1990 wurde die Studie auf das Gebiet der neuen Bundeslander ausgeweitet (Sample C). 1994 wurde zusatzlich eine Stichprobe von Haushalten, bei denen mindestens ein Haushaltsmitglied seit 1984 nach Deutschland immigriert war, einbezogen (Sample D). 1998 wurde das SOEP um eine unabhangige Erganzungsprobe mit 1.923 Personen in 1.067 Haushalten erweitert (Sample E), im Jahr 2000 nochmals um ein unabhangig gezogenes Sample von 10.890 Personen in 6052 Haushalten (Sample F). Im Jahr 2002 wurde die Stichprobe schlieBlich noch um das High Income-Sample G erweitert, das Personen in Haushalten beinhaltet, deren monatliches Nettoeinlcommen im Erhebungsjahr mindestens 3835 Euro betrug. Themenschwerpunkte des sozio-okonomischen Panels sind unter anderem die Haushaltszusammensetzung, Erwerbs- und Familienbiographie, Erwerbsbeteiligung und berufliche Mobilitat, Einkommensverlaufe, Gesundheit und Lebenszufriedenheit. Durch ihren Panelcharakter erlaubt die Studie langsschnittlich angelegte Analysen auf Individual- und Haushaltsebene. Dariiber hinaus besteht die Moglichkeit, die Daten des SOEP mit den vom Bundesamt fiir Bauwesen und Raumordnung zusammengestellten Regionalindikatoren auf der Ebene der 97 Raumordnungsregionen (ROR) zu verknlipfen und damit auch regionale Charakteristika mit einzubeziehen. Grundlage der hier prasentierten Analysen sind die acht Erhebungswellen von 1996 bis 2003. Dabei wurde ein nicht balanciertes Design verwendet, d.h. einbezogen wurden alle diejenigen Personen, die an mindestens einem der acht Erhebungszeitpunkte an einer Befragung teilgenommen haben. Vorteil dieses Designs ist, dass sich damit eine relativ groBe Langsschnittstichprobe realisieren lasst, bei der Effekte der Panelmortalitat zumindest partiell durch neu aufgenommene Samples ausgeglichen werden konnen, da sich Personen und Haushalte aus alien sieben Subsamples des SOEP in der hier untersuchten Stichprobe befmden. Das Design hat aber auch zur Folge, dass sowohl die Zahl der einbezogenen Personen als auch die Verteilung der Personen und Haushalte auf die Subsamples im Zeitverlauf variiert, was bei der hier verwendeten Analysemethode jedoch unproblematisch ist. Auf eine Gewichtung der Daten wurde bei den vorliegenden Analysen verzichtet. Statusinkonsistenzindikatoren, Statusinkonsistenz wird im Folgenden anhand des bereits erlauterten Erwartungskriteriums operationalisiert, wobei mehrere Annahmen zugrunde gelegt werden. Zunachst wird unterstellt, dass Statuskombinationen erwartet werden, die typischerweise auftreten, und dass zweitens die Erwartungen durch bezugsgruppenspezifische Vergleiche gebildet werden. Per-
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sonen vergleichen sich also nicht mit alien anderen Mitgliedern einer Gesellschaft, sondern nur mit Personen in ahnlicher Lage. Zur Konstruktion der StatusinkonsistenzmaBe wurden deshalb verschiedene Bezugsgruppen gebildet, innerhalb derer der tatsachliche Status einer Person mit dem erwartbaren Status fur diese Bezugsgruppe in Beziehung gesetzt wurde. Durch die Kombination der Merkmale Geschlecht (mannlich/weiblich), National itat (deutsch: ja/nein) und Erwerbsstatus (Erwerbstatigkeit/Rentner/andere Nichterwerbstatigkeit) entstanden so zwolf relevante Bezugsgruppen. Zur Bildung des hier verwendeten InkonsistenzmaBes wurde die InvestitU o/7^dimension Bildung mit der GratifikationsdimQmiOYi Einkommen verglichen. FUr diesen Vergleich wurde ein Index der Gesamteinklinfte gebildet und in einer linearen Regression konditional fur die involvierten Bezugsgruppen auf die Anzahl der Bildungsjahre zuriickgeftihrt. Innerhalb der jeweiligen Bezugsgruppe wurden also bildungsspeziflsche Erwartungswerte des Einkommens liber bezugsgruppenspezifische Haupteffekte der Bildung anhand einer lineareren Regression geschatzt. Das StatusinkonsistenzmaB wurde dann durch einen Vergleich der bildungsspezifischen Erwartungswerte mit dem tatsachlich auftretenden Einkommenswert gebildet. Dabei wurde der Grad der Inkonsistenz durch die Residuen - also die Differenz zwischen beobachteten und geschatzten Einkommenswerten - welche durch die Standardabweichung der gruppenspezifischen Residuen dividiert wurden, bestimmt: Positive Werte zeigen an, dass die Einkiinfte tiber der bildungsbedingten Erwartung liegen, negative Werte signalisieren, dass die Einkiinfte unter der bildungsbedingten Erwartung bleiben.^ Statusinkonsistenz ist eine Eigenschaft von Statussets individueller Personen. Da individuelle Statussettrager im Kontext unserer Analysen Gruppen in Gestalt von Haushalten bilden, besteht ftir Haushalte mit zwei und mehr Personen die Moglichkeit, die zwischen individuellen Statussets bestehenden Relationen einer Analyse zu unterziehen. Dazu werden - orientiert an der klassischen Idee der Statusinkongruenz - Paare von Haushaltsmitgliedern daraufhin betrachtet, ob sie in gleicher Weise statuskonsistent oder inkonsistent sind, sodass sich die Dyade selbst in einem Zustand der Kongruenz befmdet, oder ob sich die Personen, die eine Dyade bilden, in ihrem Inkonsistenzgrad voneinander unterscheiden, sodass sich die Dyade folglich in einem Zustand schwacher oder starker ausgepragter Inkongruenz befmdet. Ftir das verwendete RelationalmaB wurden entsprechend die zwischen Paaren von Statussettragern bestehenden Relationen tiber die Distanzen zwischen den individuellen Statusinkonsistenzwerten " Ftir Aiialysen zu den Auswirkungen von Statusinkonsistenz, in denen neben der BildungsEini<:ommensinkonsistenz audi Inkonsistenzen zwischen Bildung und beruflicher Position bzw. Bildung und Erwerbsstatus berucksichtigt wurden, vgl. Simonson/Engel (2005).
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bestimmt. Anstelle der Differenz wird der Inkongruenzbestimmung die Distanz, also die absolut gesetzte Differenz, als MaB zugrunde gelegt, da es im Grunde gleichgiiltig ist, wer innerhalb eines Haushaltes als 1. Person und wer als 2. Person in einen betreffenden paarweisen Vergleich eingebunden wird, und in den angestrebten Vergleich somit auch keine begriindete Richtung gebracht werden kann. Urn Haushalte in diesem Sinne nach ihrem Inkongruenzgrad zu klassifizieren, sind zwei variable GroBen zu beachten: die HaushaltsgroBe und die Zahl der innerhalb eines jeden Haushalts klassifizierbaren Personen. Beide GroBen waren nur identisch, wenn jedes Haushaltsmitglied im Sinne des jeweiligen Status inkonsistenzkonzeptes klassifizierbar ware und bei keiner der klassifizierbaren Person fehlende Werte auftreten. Die RelationalmaBe folgen der Konstruktionslogik, jeweils alle k(k - I)/2 Distanzen zu berechnen, die zwischen k inhaltlich klassifizierbaren Haushaltsmitgliedern bestimmt werden konnen, um schlieBlich den jeweiligen Inkongruenzgrad auf dieser Grundlage tiber die innerhalb eines Haushaltes bestehende durchschnittliche Distanz zu ermitteln. Zusatzlich wird in die Analysen ein Indikator einbezogen, der dariiber informiert, ob in einem Haushalt aufgrund fehlender Werte kein Vergleich moglich ist, es sich um einen Single-Haushalt oder einen kongruenten Haushalt handelt. Explananda. Als Reaktionen auf Statusinkonsistenz werden verschiedene Indikatoren fur die soziale Integration untersucht. Als Indikatoren fiir die Zufriedenheit mit der eigenen soziookonomischen Lage werden die Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen sowie die Zufriedenheit mit dem Lebensstandard (beide gemessen auf einer 11-stufigen Skala) herangezogen. Als Indikatoren flir die Partizipation an Kultur und Politik werden das politische Interesse (gemessen auf einer 4-stufigen Skala) sowie die Besuchsfrequenz hochkultureller Veranstaltungen (Oper, Theater, Ausstellungen; gemessen auf einer 5-stufigen Skala) und popularkultureller Veranstaltungen (Kino, Popkonzerte, Disko etc.; ebenfalls gemessen auf einer 5-stufigen Skala) einbezogen. Allerdings sind nicht alle Items fur alle Erhebungswellen gleichermaBen verfugbar, sodass sich die Analysen zum Teil tiber weniger Zeitpunkte als die angegebenen acht Erhebungsjahre erstrecken, woraus wiederum unterschiedliche Fallzahlen resultieren. Wahrend die Starke des politischen Interesses sowie die Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen und dem Lebensstandard zu alien Zeitpunkten erhoben wurden, liegt die Information uber die Besuchsfrequenz hoch- und popularkultureller Veranstaltungen nur fiir die Jahre 1996 bis 1999, 2001 und 2003 vor.
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4 Mehrebenenansatz Flir die Analyse von Statusinlconsistenzeffekten wird hier ein Mehrebenenansatz zugrunde gelegt. Der Begriff „Mehrebenenanalyse" steht liblicherweise sowohl fur eine soziologische Methodologie, nach der es moglich ist, in soziologischen Analysen auf sinnvoUe Weise unterschiedliche Analyseebenen zu unterscheiden, als auch fur statistische Methoden zur Auswertung hierarchisch strukturierter Datensatze in der empirischen Sozialforschung. Solche statistischen Mehrebenenanalysen ermoglichen es, sowohl die von Eigenschaften auf der Ebene der Aggregate als auch die von individuellen Eigenschaften ausgehenden Effekte adaquat zu schatzen. Daruber hinaus konnen auch etwaige Effekte, die durch die Interaktion zwischen gruppen- und individuenbezogenen Variablen zustande kommen, so genannte „Cross-level"-Wechselwirkungen, beriicksichtigt werden (vgl. z.B.Hox/I
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Ebenen zugeordnet werden konnen. Um individuelle Einheiten, die Mitglieder eines Aggregats sind, zu beschreiben, konnen „absolute", „komparative", „relationale" und „kontextuelle" Eigenschaften herangezogen werden. Absolute Eigenschaflen konnen dabei ohne Verwendung von Informationen uber Charakteristika des Aggregats oder die Beziehungen der Mitglieder eines Aggregats untereinander ermittelt werden. Sie beziehen sich jeweils nur auf die Ebene, flir die sie defmiert wurden und sind damit genuine Merkmale der Mitglieder eines Aggregats. Betrachtet man etwa Lander als Aggregate und die Bewohner dieser Lander als Mitglieder der Aggregate, so ware z. B. die individuelle Parteipraferenz der Bewohner, bezogen auf die Mitgliederebene, ein absolutes Merkmal. Komparative Eigenschaften eines Mitglieds bezeichnen dagegen Merkmale, die durch Vergleich mit den Eigenschaften der anderen Mitglieder des Aggregats zustande kommen. Die individuelle Stellung in einer Rangreihe ware ein solches Merkmal: Die Messung erfolgt zwar jeweils ftir ein Aggregatmitglied, wird jedoch zu den Messungen der anderen Mitglieder in Bezug gesetzt. Relationale Charakteristika von Mitgliedern beziehen sich auf die zwischen den Mitgliedern eines Aggregats bestehenden Relationen, beispielsweise auf Kommunikationsnetzwerke. Kontextuelle Merkmale hingegen sind mit der jeweils iibergeordneten Einheit verkniipft. Alle Mitglieder eines Aggregats erhalten dann denselben Wert in einer Variablen, die uber eine genuine Eigenschaft des Kontextes informiert. Den absoluten, komparativen, relationalen und kontextuellen Eigenschaften von Aggregatmitgliedern stehen auf der Ebene der Aggregate „analytische", „strukturelle" und „globale" Eigenschaften gegenliber. Analytische Eigenschaften entspringen Informationen uber die Mitglieder eines Aggregats, spiegeln also beispielsweise die Verteilung eines bestimmten Merkmals innerhalb eines Aggregats wider. Eine analytische Eigenschaft eines Haushaltes ware etwa der aus individuellen Statusinkonsistenzwerten abgeleitete Inkongruenzgrad des Haushaltes. Als analytisches Merkmal einer Schulklasse ware anzusehen, wenn zu ihrer Charakterisierung aus Individualmerkmalen z. B. der Criss-Cross Grad in zwei konfliktrelevanten Statusdimensionen berechnet wird (Engel 1988). Strukturelle Eigenschaften eines Aggregats basieren dagegen auf Informationen iiber die Beziehungen zwischen den Mitgliedern eines Aggregats, konnten also z. B. die aggregatspezifische Dichte privater Netzwerke wiedergeben. Globale Eigenschaften von Aggregaten schlieBlich beruhen auf Informationen, die sich nicht auf die Eigenschaften der Mitglieder eines Aggregats beziehen, sondern genuine Aggregateigenschaften darstellen. So ware beispielsweise die Staatsform eines Landes ein globales Aggregatmerkmal, das nicht auf aggregierten Informationen einer tiefer liegenden Ebene beruht. Ebenso waren Infrastrukturmerkmale als globale Merkmale der betrachteten Aggregateinheiten anzusehen.
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Mehrebenenanalysen ermoglichen es nun, zusammen mit dem Einfluss von Individualmerkmalen auch denjenigen globaler, struktureller und analytischer Aggregatmerkmale abzuschatzen. Dies geschieht in der Weise, dass solche Merkmale als kontextuelle Merkmale in die Analyse einbezogen werden. Ein „kontextuelles" Merkmal im Sinne der Lazarsfeld-Menzel-Typologie individueller und kollektiver Eigenschaften charakterisiert eine Person durch eine Eigenschafl des Kontextes, in dem sie lebt. Als Mitglieder eines solchen Kontextes aufgefasst, erhalten somit alle Personen, die Teil dieses Kontextes sind, in der zu analysierenden Datenmatrix denselben Wert der Kontexteigenschaft zugewiesen. Wahrend die Auspragungen einfacher analytischer Aggregatkonzepte iiber Mittelwerte und durchschnittliche Streuungswerte in Individualvariablen berechnet werden konnen, beruhen komplexere Aggregatkonzepte auf der Verarbeitung von Zusammenhangsinformationen zwischen zwei und mehr Variablen einer tiefer liegenden Analyseebene. So wird z. B. die von Galtung als „CrissCross" bezeichnete Konfliktbindungskapazitat der Sozialstruktur uber eine Formel berechnet, in die fur jede Aggregateinheit (z. B. Gemeinde) die gemeinsame Haufigkeitsverteilung von zwei oder mehr Individualvariablen eingeht (z. B. okonomischer und sozialer Status). In ahnlicher Weise stellt auch die beschriebene und in die vorliegenden Analysen eingehende „relationale Statusinkongruenz" ein Aggregatmerkmal dar, dessen Auspragungen nicht aus den univariaten Verteilungen eines einzelnen Individualmerkmals hervorgehen, sondern jeweils aus dem statistischen Zusammenhang zwischen zwei Individualmerkmalen. Statistische Mehrebenenanalysen konnen unter Rlickgriff auf unterschiedliche statistische Ansatze durchgefuhrt werden. Am bekanntesten durfte der Ansatz der hierarchischen linearen Regression sein. Deren Grundgedanke lasst sich ausgehend von der in Gleichung (1) wiedergegebenen linearen Einfachregression aufzeigen. Dabei wird in der linearen Einfachregression zunachst angenommen, dass die Regressionskonstante bo und das Regressionsgewicht bj jeweils fur alle Personen des Samples gleich sind. j ; . =6o+Z?jXi.+e,. / = 1,...,^ (1) Eine 2-Ebenen-Variante dieses Modells wtirde genau an dieser Annahme ansetzen, jedoch abweichend davon beriicksichtigen, dass beide Koeffizienten im Prinzip variable GroBen darstellen konnen. Denkbar ist zum Beispiel, dass ihre Auspragung von Kontext zu Kontexty variiert. Um diese Moglichkeit zum Aus-
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druck zu bringen^ ersetzen wir bo durch boj und bj durch bjj und schreiben fur (1) yij =Kj +\i^\ii+^ii ' = i ' - , « -J = 1 , - . , / (2) Sofern die Variabilitat von b„i und bij allein Ausdrucl< zufalliger Untersciiiede von Kontext zu Kontext ist, so kann diese Annahme fiir die Konstante und den Steigungskoeffizienten Uber die beiden Ebene-2 Gleichungen boj=bo+UQj
J = l-,J
(3)
^/=^i+"i/ j = l...,J (4) spezifiziert werden. Durch Einsetzen von (3) und (4) in (2) resultiert nach Auflosen der Klammern und Umstellung der Terme mit y.j =b,+ b,x,^j + u,j + Uy^Xy^ + e^j (5) eine Schatzgleichung, die sich von einer gewohnlichen Regressionsgleichung darin unterscheidet, dass sie nicht nur e als Zufalls- bzw. Residualterm fur die Individualebene umfasst, sondern daruber hinaus die w's als Zufallseffekte fur die Aggregat- bzw. Kontextebene. Gleichung (5) beschreibt j/y entsprechend als Summe eines aus fixen Effekten, den Z?'s, bestehenden Teils und eines aus zufalligen Effekten, den w's und e, bestehenden Teils. bj ist dabei wie ein ublicher unstandardisierter Regressionskoeffizient im Sinne eines erwarteten Unterschieds bzw. einer erwarteten Veranderung interpretierbar. ejj wird als Zufallsvariable aufgefasst, deren mittlerer Wert gleich Null ist. Zugleich wird ublicherweise angenommen, dass die Ebene-1 Residuen unkorreliert sind, dass etj normalverteilt ist mit iiber die Kontexte konstanter bzw. homogener Varianz."^ Daruber hinaus wird angenommen, dass die Ebene-1 Residuen e-ij nicht mit den Ebene-2 Residuen UQJ bzw. uij korreliert sind. Auch diese u 's werden als normalverteilte Zufallsvariablen aufgefasst, jeweils mit einem Erwartungswert gleich Null, und einer zu schatzenden Varianz und Kovarianz:
^ Im Allgemeinen indiziert das doppelte Siibskript ij Variabilitat uber Ebene-1 Einheiten innerhalb einer Ebene-2 Einheit (z. B. iiber die / Personen eines Kontextesy). Das einfache Subskripty indiziert Variabilitat uber Ebene-2 Einheiten (Kontexte), wobei alle Ebene-1 Einheiten innerhalb 7 den gleichen Wert haben. Ohne / odery Subskript handelt es sich um eine Konstante fiir alle Ebene-1 und Ebene-2 Einheiten. "* Vgl. z. B. Bryl
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Mit den beiden o^ werden dabei die Varianzen der mit ho (Konstante) bzw. mit hi (Steigung) assoziierten Zufallseffekte bezeichnet, mit a die Kovarianz zwischen Konstante und Steigung. Zur Berechnung des Anteiis erklarter Varianz konnen im Rahmen des Modeils der proportionalen Reduktion des Vorhersagefehlers die Residualkomponenten zweier Modelle Mi und Mo uber 2
_
2
^(MO)
zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei unterscheiden sich die beiden Modelle in der Menge der erklarenden Variabien: Mi enthalt eine Teilmenge bestehend aus einer oder mehreren erklarenden Variabien, die in Mo fehlen, um genau deren Erklarungsbeitrag iiber den PRE-Vergieich festzustellen. Mo ist dabei haufig das leere Modell. 5 Analysen und Ergebnisse Bevor die Ergebnisse von Modellen diskutiert werden, in denen der Einfluss von Statusinlconsistenz und relationaler Statusinl<:ongruenz untersuclit wurde, sollen zuerst Ergebnisse einer Klasse einfacherer Modelle, so genannter leerer Modelle oder Empty Models vorgestellt werden. Diese Empty Models enthalten nur eine Konstante sowie Zufallskomponenten auf den unterschiedlichen Ebenen, jedoch keine Effekte fur unabhangige Variabien. In Gleichung (8) ist das Empty Model fiir den 3-Ebenen-Fall dargestellt, wobei ho die Konstante bildet, vok den Varianzterm fur die Ebene der Regionen, uojk den Varianzterm auf Haushaltsebene und e\jk die individuelle Residualkomponente darstellt. Das leere Modell schatzt qua ho den mittleren j^/yrWert sowie die Varianzkomponenten der Zufallseffekte. Ein Ziel solcher Empty Models ist es, die Gesamtvarianz einer abhangigen Variabien auf die einzelnen Ebenen zu verteilen, um zu erkennen, welche Varianzanteile jeweils prinzipiell auf den einzelnen Ebenen erklart werden konnen. Dies ist sinnvoll, um zu entscheiden, auf welcher Ebene uherhaupt relevante Varianzkomponenten erklarbar sind und wo es daher bei weiteren Analysen lohnend sein kann, Erklarungsvariablen einzubeziehen. Um Paneldaten zu analysieren, muss das Empty Model noch um eine weitere Ebene, namlich die der Messzeitpunkte, erganzt werden. Ebene 1 wird dann nicht mehr durch die Personen, sondern durch die Zeit gebildet. In Gleichung (9) ist ein Empty Model fur den 4-Ebenen-(Panel-)Fall dargestellt, wobei ho die Konstante bildet, woi den Varianzterm fur die Ebene der Regionen, voki den Varianzterm auf Haushaltsebene, uojui den Varianzterm auf der
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Individualebene und eijki die zeitpunktbezogene intraindividuelle Residualkomponente darstellt. (9) yijki = *o + ^01 + ^oki + ^ojki + ^///c/ Tabelle 1 gibt zunachst die Ergebnisse einer Varianzzerlegung auf die vier Ebenen Regionen (Ebene 4), Haushalte (Ebene 3), Personen (Ebene 2) und Zeitpiinkte (Ebene 1) fur den Zeitraum von 1996 bis 2003 fiir das politische Interesse, den Besuch hoch- und popularkultureller Veranstaltungen sowie die Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen und dem Lebensstandard wieder.^ Dabei wurden bei der Berechnung der zugrunde liegenden Empty Models jeweils nur die Falle in die Analysen einbezogen, die in alien in die spateren Erklarungsmodelle eingehenden Variablen gtiltige Werte aufwiesen, um spater fiir die Erklarungsmodelle die korrekte Bestimmung erklarter Varianzen zu ermoglichen. Festzustellen ist, dass die erklarbaren Varianzanteile auf der Ebene der Regionen bei alien funf Indikatoren relativ gering sind. Lediglich bei den Indikatoren fur die Zufriedenheit mit der sozio-okonomischen Situation ist ein nennenswerter Varianzanteil auf der oberen Ebene zu erklaren. Eine Erklarung hierfur konnte moglicherweise in dem mit 97 Regionen relativ hohen Aggregierungsgrad der Raumordnungsregionen liegen. Auf der Ebene der Haushalte sind dagegen mit 22,2 Prozent bis uber 40 Prozent relativ hohe Varianzanteile zu erklaren. Das AusmaB des politischen Interesses ist mit Uber 40 Prozent am starksten auf der Individualebene erklarbar. Fur den Besuch kultureller Veranstaltungen spielen personenbezogene Merkmale dagegen offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Zu konstatieren sind fur den Besuch kultureller Veranstaltungen erhebliche erklarbare Varianzanteile auf der Ebene der Messzeitpunkte, was auf eine hohe intraindividuelle Streuung und ei""' Als Identifier fiir die Hauslialtsebene wurde in alien Analysen die Urspriingshaushaltsnummer, also die Haushaltsnummer, die fiir eine Befragungsperson zum Zeitpunkt der ersten hier betrachteten Panelwelle eingetragen war, verwendet, unabhangig davon, ob die betreffende Person den Haushalt wahrend der Beobachtungszeit gewechselt hat oder nicht. Analog dazu wurde fiir die Bestimmung der Regionenzugehorigkeit die Region, die fiir eine Befragungsperson bzw. fiir einen Haushalt zum Zeitpunkt der ersten hier betrachteten Panelwelle eingetragen war, verwendet. hn Idealfall mtisste eigentlich sowohl die Haushaltszugehorigkeit als auch die Regionenzugehorigkeit zu jedem Messzeitpunkt neu bestimmt werden. Dies ist zwar mit den Daten des sozio-okonomischen Panels prinzipiell moglich, fiihrt allerdings zu einer so genannten cross-classified Struktur der Daten, bei der Einheiten einer unteren Aggregatebene mehreren Einheiten auf iibergeordneten Aggregatebenen zugehoren konnen, wodurch die Komplexitat und damit auch das Speichervolumen der Daten deutlich erhoht werden, was in der Konsequenz dazu gefiihrt hatte, dass die Analysen nur fiir einen Bruchteil des Samples batten durchgefiihrt werden konnen. Fiir die vorliegenden Analysen wurde daher der oben beschriebene Weg eingeschlagen. Erste Vergleichsanalysen weisen darauf bin, dass die erklarbaren Varianzanteile auf den betroffenen Aggregatebenen dadurch leicht unterschatzt werden, wodurch die generelle Aussagekraft der Analysen jedoch unberiihrt bleibt.
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ne geringe diachrone StabiHtat der Items hindeutet. Fiir die Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen sowie dem Lebensstandard lassen sich vergieichsweise hohe Varianzanteile fur die Ebene der Regionen feststellen. Fiir diese beiden Items ist es also anscheinend nicht ganz gleichgiiltig, in welcher Region man lebt. Auf die Ebene der Haushalte entfallen insbesondere bei den Indikatoren, die sich auf die Zufriedenheit mit der materiell-okonomischen Situation richten, erhebliche Varianzanteile. Dies ist durchaus plausibel, da es sich beim Lebensstandard und vor allem beim Haushaltseinkommen um Merkmale handelt, die in der Regel fiir alle Haushaltsmitglieder identisch sind und die daher auch von den Haushaltsmitgliedern ahnlich bewertet werden sollten. Tabelle 1: Varianzzerlegung der Integrationsindikatoren auf die Ebenen der Zeitpunkte, Personen, Haushalte und Regionen Politisches Interesse Feste Effekte: Konstante Zufdllige EffektQ Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n (Ebene 1) -2 Log Likelihood
Feste Effekte: Konstante Zufdllige EffektQ Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n (Ebene 1) -2 Log Likelihood
b 2,338
s.e. (0,013)
Besuch hochkulturel- Besuch popularkuller Veranstaltungen tureller Veranstaltungen b s.e. b s.e. 3,579 (0,011) 3,656 (0,011)
0,012 (1,7%) 0,167 (24,9%) 0,279 (41,4%) 0,215 (32,0%) 91.694 162296
0,008 (1,0%) 0,171 (22,2%) 0,000 (0,0%) 0,592 (76,8%) 62.478 153.868
Zufriedenheit Haushaltseinkommen b s.e. 6,895 (0,067)
Zufriedenheit Lebensstandard
0,402 (7,4%) 2,186 (40,3%) 0,821 (15,1%) 2,014 (37,ls%) 90.877 355.253
0,149 (4,5%) 1,238 (37,3%) 0,508 (15,3%) 1,417 (42,8%) 91.620 323.280
b s.e. 7,147 (0,044)
0,056 (0,6%) 0,239 (24,2%) 0,052 (5,2%) 0,693 (70,1%) 62.385 167.861
Strukturelle Differenzierung
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Ebenso wie bei Querschnittsmodellen konnen natiirlich auch in Panelmodellen Effekte berticksichtigt werden. Gleichung (10) gibt ein 4-Ebenen-PanelModell unter Berticksichtigung der Statusinkonsistenzeffekte hinsichtlich Bildung und Einkommen wieder. Dabei haben wir ein lineares Regressionsmodell mit Varianzkomponenten der Konstante ftir die einzelnen Ebenen. Die Effekte selbst werden dagegen als konstant unterstellt^. yijki = ^0 + b^t..,i + Z?,x,,^/ + b^x^.jj^i + b^x^^j^i + b,x,,,^i + w,,i + v^^^ + u,,j,^, + e.,j,^, (10) Um den Effekt der Zeit zu berucksichtigen, wird das Modell um einen Zeitindex t erweitert. Das resultierende Modell wird haufig auch als lineares Wachstumskurven- oder Wachstumsmodell bezeichnet. Dabei gibt WQI den Varianzterm fur die Ebene der Regionen, VQUJ den Varianzterm auf Haushaltsebene, Uojki den Varianzterm auf der Individualebene und eijid die individuelle Residualkomponente wieder, bf gibt den Effekt der Zeit t wieder, bj steht ftir den Effekt des Statusinkonsistenztermes x;, Z>2 gibt den Effekt der Bildung x^ und bs den Effekt ftir den Indikatorxj wieder, der dariiber informiert, ob es sich um einen Single-Haushalt handelt oder ob aufgrund fehlender Werte kein InkongruenzmaB fur diesen Haushalt gebildet werden konnte, Z?^ gibt schlieBlich den Effekt fur die relation a l Statusinkongruenz im Haushalt x^ wieder. Somit entspricht das Modell dem in den Ergebnistabellen als Modell 2 ausgewiesenen Modelltyp. Zusatzlich zu den Ergebnissen dieses Modelltyps werden im Folgenden noch die Ergebnisse dreier weiterer Modellarten vorgestellt: Modell 1 enthalt lediglich die Zeit sowie die Bildung als unabhangige Variablen, Modell 3 enthalt zusatzlich zu den im Modell 2 enthaltenen Variablen die Staatsangehorigkeit und Modell 4 zusatzlich noch einmal den durchschnittlichen Bildungsgrad des aktuellen Haushalts. Tabelle 2 informiert zunachst uber die Effekte von Statusinkonsistenz und -inkongruenz sowie die der anderen einbezogenen Merkmale auf das AusmaB des politischen Interesses. Durch Modell 1, das nur die individuelle Bildung sowie einen Zeitindex enthalt, lassen sich bereits 10,1 Prozent der Varianz des politischen Interesses erklaren, durch die Hinzunahme der Statusinkonsistenz- und -inkongruenzindikatoren in Modell 2 erhoht sich die Erklarungsleistung des Modells noch einmal um gut einen Prozentpunkt. Ftir die Bildung selbst ist dabei ein relativ schwacher, aber signifikanter, positiver Effekt auf das AusmaB des politischen Interesses zu konstatieren. Auch ftir den Zeitindex ist von einem ^' Moglich sind auch andere Varianten der Niitzung des Mehrebenenansatzes zur Analyse von Paneldaten: Ebenso wie die Schatzung einer einzigen Konstante fur alle Zeitpunkte ist beispielsweise die Spezifikation von zeitpunlctspezifischen Konstanten moglich (Snijders/Bosker 1999). Denkbar ist dariiber hinaus auch die Formulierung eines latenten Wachstumsmodells, das die im Strukturgleichungsansatz ublichen Moglichkeiten, die Giite der Modellanpassung zu beurteilen, erotfnet und auch die Integration multipler Indikatoren ermoglicht (vgl. Engel/Simonson 2004).
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positiven, allerdings sehr geringen Einfluss auszugehen, in dem Sinne, dass sich das politische Interesse im Zeitverlauf leicht gesteigert hat. Allerdings wurde hier zunachst ein linearer Effekt der Zeit unterstellt, der in dieser Form nicht unbedingt angemessen sein muss^. In Modell 3 zeigt sich, dass die Staatsangehorigkeit ebenfalls von Belang fur das politische Interesse ist: Bei Personen mit deutscher Staatsangehorigkeit ist das politische Interesse tendenziell starker ausgepragt als bei Personen mit nicht deutscher Staatsangehorigkeit. Die Erklarungsleistung des Modells verbessert sich durch die Hinzunahme der Staatsangehorigkeit jedoch nur schwach auf knapp 12 Prozent. Nimmt man daruber hinaus noch den durchschnittlichen Bildungsstand des Haushalts als erklarende Variable in das Modell auf, wie in Modell 4 geschehen, lassen sich insgesamt 12,5 Prozent der Varianz des politischen Interesses erklaren. Dabei hat der haushaltsbezogene Bildungsstand zusatzlich zur individuellen Bildung einen positiven Effekt auf die Starke des politischen Interesses. In Tabelle 3 sind die Ergebnisse der gleichen Modelle fur die Besuchsirequenz hochkultureller Veranstaltungen wiedergegeben. Auch hier ist ein positiver Effekt des Zeitindikators festzustellen. Allerdings ist die abhangige Variable hier so kodiert, dass hohere Werte eine niedrige Besuchsfrequenz indizieren und umgekehrt; der Zeiteffekt ist also so zu interpretieren, dass die Besuchsfrequenz kultureller Veranstaltungen im Zeitverlauf leicht sinkt. Wenig tiberraschend ist der Bildungseffekt in dem Sinne, dass sich hohere Bildung steigernd auf die Besuchsfrequenz auswirkt; entspricht er doch den gangigen Annahmen. Ftir Statusinkonsistenzen zwischen Bildung und Einkommen lasst sich ein zwar schwacher, jedoch signifikanter negativer Effekt feststellen. Liegt - bei statistischer Kontrolle der Bildung - das Einkommen liber der bildungsbedingten Erwartung, steigt somit die Besuchsfrequenz kultureller Veranstaltungen, liegt das Einkommen dagegen unter der bildungsbedingten Erwartung, wirkt sich dies negativ auf die Besuchsfrequenz aus. Dies deutet darauf hin, dass sich nicht nur der Bildungsstatus, sondern auch das aktuelle Einkommen auf die Haufigkeit des Besuchs von Oper, Theater, Ausstellungen oder klassischen Konzerten auswirkt. Negative Effekte sind auch fur die Statusinkongruenzindikatoren festzustellen: Mit steigendem Grad der haushaltsbezogenen Statusinkongruenz ist also auch eine etwas hohere Besuchsfrequenz der oben genannten Veranstaltungsformen zu erwarten. Insgesamt lasst sich durch die Hinzunahme der Statusinkonsistenzterme keine nennenswerte Zunahme hinsichtlich des Anteils erklarter Varianz erreichen. Auch die in Modell 3 zusatzlich aufgenommene (deutsche) Staatsan-
^ Auch die - hier nicht prasentierte - Schatzung von Polynomen ftir den Effekt der Zeit fiihrte allerdings nicht zu hoheren erklarten Varianzanteilen.
Strui
Modell 1 b s.e. 1,452(0,021) 0,017(0,001) 0,068 (0,002)
Modell 2 b s.e. 1,461 (0,023) 0,017(0,001) 0,067 (0,002) 0,033 (0,002) 0,004 (0,008) 0,001 (0,002)
0,008 0,120 0,262 0,215 91.694 10,12% 159.962 Modell 3 b s.e. 1,258(0,027) 0,017(0,001) 0,065 (0,002) 0,033 (0,002) 0,007 (0,008)
0,007 0,119 0,257 0,215 91.694 11,19% 159.786 Modell 4 b s.e. 0,846 (0,032) 0,017(0,001) 0,034 (0,002) 0,030 (0,002) 0,001 (0,008)
0,001 (0,002) 0,242(0,017)
0,001 (0,002) 0,210(0,017) 0,068 (0,003)
0,007 0,112 0,258 0,215 91.694 11,97% 159.591
0,006 0,105 0,264 0,214 91.694 12,5% 159.103
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Tabelle 3: Effekte von Statusinkonsistenz auf die Besuchsfrequenz hochkultureller Veranstaltungen: Ergebnisse linearer Wachstumskurvenmodelle
\ Fes te Effekte: iKonstante Zeit (t) Bildung (X2) SI: EK/Bildung (xi) Inkongruenzindikator kein Vgl./Kongruenz Inkongruenzgrad (X4) Staatsangehorigkeit Durchschnittliche Bildung im IHaushalt Zufdllige EffektQ Ebene 4 Region Ebene 3 Haiishalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n (Ebene 1) Erklarte Varianz (R^) -2 Log Likelihood Feste Effekte: Konstante Zeit (t) Bildung (X2) SL EK/Bildung (x,) Inkongruenzindikator kein Vgl./Kongruenz Inkongruenzgrad (X4) Staatsangehorigkeit Durchschnittliche Bildung im Haushalt Zufdllige EffektQ Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n (Ebene 1) Erklarte Varianz (R^) -2 Log Likelihood
Modell 1 b s.e. 3,979(0,021) 0,111(0,001) -0,068 (0,002)
Modell 2 b s.e. 3,921 (0,023) 0,111 (0,001) -0,067 (0,002) -0,027 (0,003) 0,062(0,010) 0,005 (0,003)
0,007 0,133 0,000 0,525 62.478 13,70% 145.668 Modell 3 b s.e. 4,080 (0,026) 0,112(0,001) -0,065 (0,002) -0,027 (0,003) 0,056(0,010)
0,006 0,131 0,000 0,525 62.478 14,11% 145.558 Modell 4 b s.e. 4,468 (0,030) 0,112(0,001) -0,028 (0,002) -0,025 (0,003) 0,066(0,010)
0,004 (0,003) -0,194(0,017)
0,005 (0,003) -0,162(0,017) -0,073 (0,003)
0,007 0,127 0,000 0,525 62.478 14,48% 145.424
0,007 0,120 0,000 0,523 62.478 15,79%
144.840
i
1
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Tabelle 4: Effekte von Statusinkonsistenz auf die Besuchsfrequenz popularkultureller Veranstaltungen: Ergebnisse linearer Wachstumskurvenmodelle Feste Effekte: Konstante Zeit (t) Bildimg (X2) SI: EK/Bildimg (xi) Inkongruenzindikator kein Vgl./Kongruenz Inkongruenzgrad (X4) Staatsangehorigkeit Durchschnittliche SI (EK/Bildimg) in der Region Zufdllige EffektQ Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n(Ebene 1) Erklarte Varianz (R^) -2 Log Likelihood
\Feste Effekte: Konstante Zeit (t) Bildimg (X2) SI: EK/Bildung (xi) Inkongruenzindikator kein Vgl./Kongruenz Inkongruenzgrad (X4) Staatsangehorigkeit Durchschnittliche SI (EK/Bildung) in der Region Zufdllige EffektQ Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n (Ebene 1) Erklarte Varianz (R^) -2 Log Likelihood
Modell 1 b s.e. 3,592 (0,025) 0,119(0,001) -0,046 (0,002)
-
Modell 2 b s.e. 3,586 (0,027) 0,119(0,001) -0,047 (0,002) 0,028 (0,004) 0,020(0,012)
-
-0,001 (0,003)
0,004 0,208 0,075 0,599 62.385 10,37% 160.665
0,004 0,209 0,075 0,598 62.385 10,41% 160.617
Modell 3 b s.e. 3,666 (0,032) 0,120(0,001) -0,045 (0,002) 0,029 (0,004) 0,018(0,012)
Modell 4 b s.e. 3,664 (0,032) 0,120(0,001) -0,045 (0,002) 0,028 (0,004) 0,016(0,013)
-0,001 (0,003) -0,100(0,021)
-
-0,002 (0,003) -0,105(0,021) -0,216(0,054)
0,005 0,209 0,073 0,599 62.385 10,42% 160.624
0,003 0,205 0,088 0,590 62.385 10,41% 160.372
-
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Tabelle 5: Effekte von Statusinlconsistenz auf die Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen: Ergebnisse linearer Waclistumskurvenmodelle \Feste Effekte: Konstante Zeit (t) Bildung (X2) SI: EK/Bildung (x,) Inkongruenzindikator kein Vgl./Kongruenz Inkongruenzgrad (X4) Staatsangehorigkeit Durchschnittliche SI (EK/Bildung) in der Region Zufdllige EffektQ Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n (Ebene 1) Erklarte Varianz (R^) -2 Log Likelihood
Feste Effekte: Konstante Zeit (t) Bildung (xi) SI: EK/Bildung (x,) Inkongruenzindikator kein Vgl./Kongruenz Inkongruenzgrad (X4) Staatsangehorigkeit Durchschnittliche SI (EK/Bildung) in der Region Zufallige Effekte Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n (Ebene 1) Erklarte Varianz (R^) -2 Log Likelihood
Modell 1 b s.e. 5,420 (0,073) 0,010(0,002) 0,085 (0,004)
-
Modell 2 b s.e. 5,273 (0,077) 0,012(0,002) 0,078 (0,004) 0,148(0,007) 0,022 (0,005)
-
0,254 (0,024)
0,239 1,887 0,788 2,017 90.877 9,08% 353.592
0,262 1,844 0,806 2,014 90.877 9,16% 353.051
Modell 3 b s.e. 4,891 (0,083) 0,012(0,002) 0,076 (0,004) 0,155(0,007) 0,021 (0,005)
Modell 4 b s.e. 4,991 (0,080) 0,012(0,002) 0,076 (0,004) 0,152(0,007) 0,266 (0,024)
0,263 (0,024) 0,370(0,048)
-
0,021 (0,005) 0,388 (0,048) 1,618(0,254)
0,189 1,611 0,831 2,018 90.877 14,27% 353.118
0,140 1,632 0,839 2,017 90.877 14,66% 353.097
-
Strukturelle Differenzierung
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Tabelle 6: Effekte von Statusinkonsistenz auf die Zufriedenheit mit dem Lebensstandard: Ergebnisse linearer Wachstumskurvenmodelle
Feste Effekte: Konstante Zeit (t) Bildung (xi) SI: EK/Bildung (xi) Inkongruenzindikator kein Vgl./Kongriienz Inkongruenzgrad (X4) Staatsangehorigkeit Durchschnittliche SI (EK/Bildung) in der Region Zufallige EffektQ Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene 1 Zeit n (Ebene 1) Erklarte Varianz (R^) -2 Log Likelihood
Feste Effekte: Konstante Zeit (t) Bildung (X2) SI: EBC/Bildung (x,) Inkongruenzindikator kein Vgl./Kongruenz Inkongruenzgrad (X4) Staatsangehorigkeit Durchschnittliche SI (EK/Bildung) in der Region Zufallige Effektt Ebene 4 Region Ebene 3 Haushalt Ebene 2 Person Ebene I Zeit n (Ebene 1) Erklarte Varianz (R^) -2 Log Likelihood
Modell 1 b s.e. 6,504 (0,057) -0,010(0,002) 0,060 (0,003)
-
Modell 2 b s.e. 6,343 (0,064) -0,007 (0,002) 0,059 (0,003) 0,060 (0,006) 0,015(0,004)
-
0,209 (0,020)
0,132 1,175 0,525 1,416 91.620 1,93% 322.976
0,199 1,032 0,512 1,416 91.620 4,66% 322.810
-
Modell 3 b s.e. 6,048 (0,067) -0,008 (0,002) 0,056 (0,003) 0,060 (0,006) 0,016(0,004)
Modell 4 b s.e. 6,062 (0,064) -0,008 (0,002) 0,056 (0,003) 0,059 (0,006) 0,215(0,020)
0,215(0,020) 0,356(0,038)
0,016(0,004) 0,362 (0,039) 1,240(0,206)
0,126 1,054 0,515 1,416 91.620 6,07% 322.713
0,094 1,052 0,527 1,416 91.620 6,76% 322.686
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Wie sieht es nun mit dem Besuch popularkuitureller Veranstaltungen wie Kinoauffiihrungen oder Popkonzerten aus? Auch hier ist die abhangige Variable wieder so kodiert, dass hohere Werte eine niedrige Besuchsfrequenz indizieren und umgekehrt. Die Effekte sind dabei ganz ahnlich wie schon in den eben betrachteten Modellen zur Besuchsfrequenz hochkultureller Veranstaltungen. Allerdings lasst sich fiir die haushaltsbezogene Statusinkongruenz kein signifikanter Effekt feststellen. Betrachtet man die erklarten Varianzanteile so kann man erkennen, dass bereits tiber 10 Prozent der Varianz durch die Bildung und den Zeitindikator erklart werden konnen und sich dieser Wert weder durch die Hinzunahme der Statusinlconsistenzterme noch durch die Staatsangehorigkeit oder den haushaltsspezifischen Bildungsgrad in nennenswerter Weise steigern lasst. Betrachten wir nun die Indikatoren ,Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen' und ,Zufriedenheit mit dem Lebensstandard'. Fiir beide Indikatoren fmdet sich ein positiver Effekt der Bildung. Statusinkonsistenz in dem Sinne, dass das tatsachliche Einl<:ommen das aufgrund der Bildung erwartete Einkommen tibersteigt, wirkt sich - ebenso wie haushaltsbezogene Inkongruenz - ebenfalls steigernd auf die Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen und dem Lebensstandard aus. Auch die deutsche Staatsangehorigkeit wirkt sich positiv auf die Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen und dem Lebensstandard aus. Moglicherweise ist dies jedoch weniger auf die Staatsangehorigkeit an sich, als auf das bei Personen deutscher Staatsbiirgerschaft im Durchschnitt hohere Einkommen, welches hier nicht kontrolliert wurde, zurtickzufuhren. Betrachtet man die erklarten Varianzanteile fUr die beiden Indikatoren, so wird deutlich, dass die Hinzunahme der Statusinkonsistenz- und -inkongruenzterme die Erklarungsleistung der Modelle in unterschiedlicher Weise erhoht. Wahrend sich die Erklarungsleistung zwischen Modell 1 und 2 bei der abhangigen Variable Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen nur um 0,16 Prozentpunkte erhoht, fallt der Zuwachs der Erklarungsleistung von Modell 1 zu Modell 2 bei der Zufriedenheit mit dem Lebensstandard mit 2,73 Prozentpunkten etwas hoher aus. 6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Gestlitzt auf die Daten der 1996er bis 2003er Wellen des SOEP wurden Mehrebenenmodelle fiir Paneldaten berechnet, um Effekte struktureller Differenzierung im Sinne von Statusinkonsistenz auf der Individualebene und relationaler Statusinkongruenz auf der Haushaltsebene zu schatzen. Zu den untersuchten Reaktionen auf Statusinkonsistenz und -inkongruenz zahlten das politische Interesse, die Frequenz kultureller Aktivitaten sowie die Zufriedenheit mit dem eigenen Lebensstandard und dem Haushaltseinkommen. Einbezogen wurden Ef-
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fekte von Statusinkonsistenz zwischen der Bildung als Investitionsstatus und dem Einkommen als Gratifikationsdimension. Dabei wurde Statusinkonsistenz anhand des Erwartungskriteriums operationalisiert und uber bezugsgruppenspezifische Erwartungswerte ermittelt. Zusatzlich zu den Effekten von Statusinkonsistenz und -inkongruenz wurden die Bildung, die Staatsangehorigkeit sowie ein Term fur den Bildungsstand des Haushalts einbezogen. Die vorgestellten Modelle zur Varianzzerlegung haben gezeigt, dass sich erhebliche Varianzanteile der betrachteten Indikatoren generell nicht nur auf der Individualebene, sondern auch auf tibergeordneten Aggregatebenen, insbesondere auf der Haushaltsebene erklaren lassen. Auf der Ebene der Regionen ist der Anteil der erklarbaren Varianz zwar vergleichsweise gering, eine Nichtbeachtung dieser Ebene konnte aber dennoch zu fehlerhaften Schlussfolgerungen fuhren. Beachtenswert ist daneben auch der bei einigen Indikatoren sehr hohe Varianzanteil auf der Ebene der Messzeitpunkte, der auf eine nur geringe intraindividuelle Stabilitat der Items hindeutet. Dartiber hinaus konnte festgestellt werden, dass Effekte von Statusinkonsistenz zwar vorhanden sind, die Erklarungsbeitrage allerdings eher gering sind. Liegt das Einkommen tiber der Bildungserwartung, sinkt beispielsweise die Besuchsfrequenz hoch- und popularkultureller Veranstaltungen; ein unter der Bildungserwartung liegendes Einkommen wirkt sich dagegen steigernd auf die Besuchshaufigkeit aus. Hinsichtlich der Zufriedenheit mit der okonomischen Situation wirkt sich ein tiber der Bildungserwartung liegendes Einkommen erwartungsgemaB positiv aus. Fur den Grad der haushaltsbezogenen Inkonsistenz lieBen sich dagegen keine systematischen Effekte im Sinne der Statusinkonsistenztheorie feststellen. Die Ergebnisse weisen damit insgesamt auf einen eher geringfligigen Einfluss statusinkonsistenter Lagen auf die betrachteten Integrationsindikatoren hin. Die empirischen Befunde sollten jedoch nicht tiberbewertet werden. Sie generell als Beleg fur eine Entlo'aftung der Statusinkonsistenztheorie zu interpretieren, erschiene uns nicht angemessen, da nicht auszuschlieBen ist, dass sich unter Verwendung einer abweichenden Statusinkonsistenzkonzeption oder bei Heranziehung anderer Statusmerkmale, Explananda, Daten oder Methoden nicht doch starkere Effekte zeigen lassen. Dieses zu iiberpriifen, bleibt weiteren Forschungsarbeiten vorbehalten. Literatur Bryk, A. S., S. W. Raudenbush, 1992: Hierarchical Linear Models: Applications and Data Analysis Methods, Newbury Park: Sage.
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Individualisierung und/oder Restrukturierung? Am Beispiel der sozialstrukturellen Verankerung der Parteienlandschaft und des Wertewandels Dieter Holtmann
1 Die Individualisierungs-Diagnose und „Decline of class voting" Eine der wichtigsten Zeitdiagnosen ist sicherlich die These Ulrich Becks, dass es im Zuge der Modernisierung von Gesellschaflen eine Entw^ickkmg in Richtung Individualisierung gibt, die er in folgende dialelctische Form fasst (vgl. Beck 1986: 115-160,205-219): 1. Freisetzungsdimension: Herauslosung aus traditionalen Zusammenhangen 2. Entzauberungsdimension: Verlust von traditionalen Sicherheiten 3. Reintegrationsdimension: Neue Art der sozialen Einbindung. Zur Zeitdiagnose wird diese Analyse eines Aspektes des Modernisierungsprozesses dadurch, dass Beck fur die Nachkriegsentwicklung einen neuen Individualisierungsschub beobachtet: Die Herauslosung aus standisch gepragten Klassen, der neue Typus der Verhandlungsfamilie auf Zeit, die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit und die Dezentralisierung des Arbeitsortes. Die These, dass durch den „Fahrstuhl-Effekt" der Wohlfahrtssteigerung, der gestiegenen Mobilitat und der Bildungsexpansion die Individuen zunehmend „jenseits von Klasse und Schicht" leben, hat angesichts der trotz relativ groBer Mobilitat gleichzeitig weiterhin beobachtbaren vertikalen Strukturierung von Bildungs-, Erwerbstatigkeits-, Einlcommens- und auch Freizeitkonsum-Chancen in der Ungleichheitsforschung zu einer kontroversen Diskussion gefuhrt. Parallel zur Individualisierungsdiskussion ist die These des Nachlassens der sozialstrukturellen Verankerung des Wahlverhaltens {..Decline of class voting'') wiederholt vertreten worden. Clark und Lipset (1991) diagnostizieren z. B. die folgenden gesellschaftlichen Trends: Mit steigendem Wohlstand und Bildung verliert die traditionelle Klassenpolitik an Bedeutung. Wohlstand schwacht Hierarchien und Kollektivismus. Markte werden wichtiger. Auf der Basis wissensbasierter Technologic nehmen Hierarchic und Klassenbeziehungen ab. Migration unterminiert die Klassenschichtung. Durch die egalitareren Geschlechtsrollen wird die hierarchische Schichtung geschwacht. Die individuelle Bildung und Ausbildung w^ird im Vergleich zur Herkunftsfamilie wichtiger
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fur den beruflichen Erfolg. All diese Faktoren begunstigen nach Clark und Lipset ein Nachlassen des ,,class voting''. Im Hinblick auf Becks dialektische Formulierung mtisste man die Frage nach Individualisierung oder Restrukturierung nicht als Alternative („entweder Oder") formulieren, sondern konnte sie als gleichzeitig verlaufende Prozesse auffassen („sowohl als auch"). Dass diese Lesart auch mit der Empirie vertraglich ist, soil im Folgenden am Wandel des Wahlverhaltens und am Wertewandel belegt v^erden. ^^Decline of class voting"' im Hinblick auf welche Spannungslinien {cleavages)! Clark und Lipset (1991) illustrieren, dass die Wahl „linker Parteien" im Zeitverlauf in westlichen Landern weniger strukturiert wird durch den Kontrast Arbeiter vs. Mittelschicht. In der deutschen Individualisierungsdiskussion (vgl. insbesondere Friedrichs 1998) hat Walter Muller darauf hingewiesen, dass man die sich ausdifferenzierenden Sozialstrukturen auch mit differenzierteren Konzepten sozialer Lagen erfassen soUte (vgl. Walter Muller 1998, 2000): Walter Muller hat zur differenzierteren Erfassung moderner Dienstleistungsgesellschaften eine Modifikation des Klassenmodells von Goldthorpe et al. vorgeschlagen, bei dem die Dienstklasse (im Sinne von Renner und Dahrendorf) ausdifferenziert wird in die administrative Dienstklasse (Manager u.a.), die Experten (professionelle Berufe v^ie Naturwissenschaftler oder Ingenieure) und die soziale Dienstklasse (Medizin, Kultur und Sozialwesen). Mit diesen differenzierteren sozialen Lagen kann Walter MUller zeigen, dass die administrative Dienstklasse (im Zeitraum 1976-1998) in der politischen Affmitat eher bei der CDU/CSU verbleibt, wahrend sich die politische Affinitat der Experten etv^as von der CDU/CSU zur SPD verlagert. Die soziale Dienstklasse schlieBlich weist die groBte Nahe zu den neuen Themen der GrUnen auf D. h. die Entwicklung des Wahlverhaltens im groben Kontrast von Arbeitern vs. Mittelschicht lasst sich zwar als partielle Entstrukturierung interpretieren, gleichzeitig aber finden Restrukturierungen {realignment) statt. Die sozialen Lagen als unabhangige Variable in der Erklarung von Clark und Lipset sind also zu grob operationalisiert. Entsprechendes gilt auch fiir die politischen Affmitaten als abhangige Variablen: In der politischen Landschaft der westlichen Demokratien wird die ideologische Konfliktlinie der alten LinksRechts-Dimension - der Verteilungskonflikt in der Polaritat wirtschaftsliberaler Positionen vs. staatlicher Umverteilung - im Zeitverlauf erganzt durch eine neue Linlcs-Rechts-Dimension - der Polaritat von gesellschaftlich liberalen/postmaterialistischen/libertaren vs. autoritaren Positionen (vgl. z. B. Inglehart 1989, 1998; Kitschelt 2001; Fraser/Honneth 2003). Wtirde man eine allgemeine 2
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Links-Rechts-Selbsteinstufung verwenden, so erhielte man eine Kombination aus alter und neuer Links-Rechts-Dimension in der jeweiligen Gewichtung der Befragten. Flir eine differenzierende Analyse der politischen Landschaft ware eine getrennte Erfassung der verschiedenen Spannungslinien notwendig. Brooks/Nieuwbeerta/Manza (2006) haben in einer sehr umfangreichen Datenanalyse westliche Demolcratien (GroBbritannien, Australien, USA, Niederlande, Deutschland, Osterreich) im Hinblick auf die moglichen „objektiven" Spannungslinien Schicht („class''), Religion und ^gender'' untersucht, wobei sie bzgl. des Wahlverhaltens sechs Parteien oder ParteifamiHen unterscheiden: 1) Linke Parteien (kommunistische, sozialistische und ^Labour'' Parteien), 2) Grune Parteien, 3) Liberale/zentristische Parteien, 4) Christlich-demokratische Parteien, 5) Konservative Parteien, 6) Andere (u.a. regionale und Parteien der extremen politischen Rechten). Als Modell sozialer Lagen verwenden sie das Modell von Goldthorpe et al. mit der Dienstklasse an der Spitze, wobei diese leider nicht wie bei Miiller in administrative, professionelle und soziale Dienstklasse ausdifferenziert wird. Zunachst zeigen Brooks et al., dass die Spannungslinie „Klasse" in den meisten Landern den groBten Effekt auf die Wahlentscheidung hat, dicht gefolgt von der Religion, wahrend „gender'' keinen groBen Effekt hat. Das heiBt, dass die vertikale Strukturierung sozialer Lagen nach wie vor relevant ist - ebenso wie die Werthaltungen, die hier vereinfachend tiber Religionszugehorigkeit erfasst werden. In den Niederlanden sind die Kontraste im Wahlverhalten zwischen den Konfessionsgruppen sogar deutlich hoher (in den USA etwas hoher) als die Kontraste zwischen den „Klassen". hi GroBbritannien konnte man von einem ^Decline of class voting''' reden, abgeschwacht auch in Deutschland. In anderen Landern (wie Niederlande und Australien) fmdet man aber keinen solchen Rtickgang. Das heiBt, die These eines generellen Trends musste man ersetzen durch landerspezifische Thesen. Uber alle Lander hinweg konnte man vielleicht von einem leichten Rtickgang des ,,class voting'' sprechen. Auch flir den Stellenwert der Werthaltungen (gemessen durch die Konfessionszugehorigkeit) muss man nach Landern unterscheiden, in den Niederlanden gibt es einen Rtickgang des Effekts der Konfessionen - allerdings von einem uberdurchschnittlichen Niveau aus, in den meisten Landern dagegen bleibt die Spannungslinie der Konfession etwa gleich stark. ,,Gender"-EffoktQ auf die Wahlentscheidung weisen nur in den USA eine nennenswerte Strukturierung auf, wobei Frauen eher linke Parteien wahlen, was
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sich mit dem groBeren Stellenwert der Politik der Anerkennung bei linken Parteien erklaren lieBe. Insgesamt ist die GroBenordnung der Effekte und der erklarten Varianz (514 Prozent) allerdings bescheiden, sodass es neben dieser Strukturierung von politischen Wahlhandlungen durch soziale Lagen, Konfession und Geschlecht noch viel Spielraum gibt fiir Kandidaten, Parteien, kontroverse Themen, soziale, kulturelle und andere Faktoren und Bestimmungsgriinde der Praferenzen von individuellen Akteuren. 3
Entstrukturierung und Restrukturierung der Parteiaffinitaten in West- und Ostdeutschland Fiir die Bundesrepublik Deutschland empflehlt es sich, bei der Analyse der Parteienlandschaft nach Ost- und Westdeutschland zu differenzieren, urn Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten zu konnen. In seiner von mir betreuten Dissertation „Klassengebundene CleavageStrukturen in den neuen und alten Bundeslandern im Zeitverlauf. Eine empirische Untersuchung" hat Tilo Gorl (2005) den Fragenkomplex der sozialstrukturellen Verankerung der politischen Afflnitaten untersucht, wobei auf der Basis der konstruktiven Kritik an Clark und Lipset das dichotome Klassenmodell durch Walter Mtillers Modell ersetzt wird und die Parteiaffinitaten differenzierter erfasst werden, indem zwischen den „alten linken" Themen der materiellen Verteilung und den „neuen linken" Themen wie „libertar vs. autoritar" (Kitschelt) unterschieden wird. Entgegen den Erwartungen schnitt die SPD nach 1989 in Ostdeutschland bei den Arbeitern unterdurchschnittlich ab, als Antipoden standen sich vielmehr die Befiirworter der raschen Wiedervereinigung in der Hoffnung auf Freiheit und Wohlstand auf der einen Seite, reprasentiert durch die CDU und iiberproportional unterstutzt von den Arbeitern, und auf der anderen Seite die Befiirworter des Sozialismus gegentiber, reprasentiert durch die PDS und iiberproportional unterstutzt von den friiheren Funktionaren und leitenden Angestellten der Ex-DDR, die man auch als „sozialistische Dienstklasse" im Geiste von Renner, Dahrendorf, Goldthorpe und anderen konzipieren konnte, wie der Autor tiberzeugend darstellt. D. h. es zeigte sich eine sozialstrukturelle Verankerung des Vereinigungs-C/eavage, wodurch sich die politische Landschaft Ostdeutschlands von der Westdeutschlands unterschied. Mit Hilfe von multinominalen Logitmodellen und mittels der Visualisierung der Zusammenhangsstruktur durch Korrespondenzanalyse zeigt der Autor fiir Westdeutschland, dass dem sozialstrukturellen Verteilungskonflikt zwischen Selbststandigen und Arbeitern in der politischen Landschaft die Polaritat der marktliberalen FDP vs. SPD entspricht. Den unterschiedlichen Rationalitaten
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von sozialer Dienstklasse und Experten vs. Arbeitern entspricht in der politischen Landschaft die Polaritat von links-libertaren Grlinen/Bundnis 90 und CDU/CSU. Ftir Ostdeutschland zeigt der Verfasser, dass die Arbeiter und die Selbststandigen die soziale Basis der Befurwortung der schnellen Wiedervereinigung sind, im Gegensatz zur sozialen und administrativen Dienstklasse, welche eher eine PDS-Praferenz aufweisen. Mit wachsendem Abstand zur DDRVergangenheit fmdet dann ein realignment statt, in dem die administrative Dienstklasse sich zunehmend der CDU annahert und die Arbeiter zunehmend der SPD und der PDS. Diese Ergebnisse sind vertraglich mit der Kristallisationshypothese (von Winter 1996), gemaB der es eine fur Ostdeutschland spezifische Konstellation von sozialstrukturell verankerten gesellschaftlich-politischen Konfliktlinien gibt, wobei im Laufe der Zeit eine Annaherung der Parteien-Wahler-Adlianzen an das westdeutsche Bezugsmodell zu beobachten ist (Konvergenzthese). Die korrespondenzanalytische Konfiguration wird von dem Autor noch mit Hilfe der Einpassung von externen Dimensionen {..property fitting'') weiter interpretiert: In Westdeutschland kontrastieren die Projektionen des Kleinblirgertums und der Arbeiter am starksten auf dem Parteien-Rating gemaB dem traditionellen sozio-okonomischen Cleavage. Die ..New-Politics"-DimQnsion ist fast orthogonal zu der traditionellen sozio-okonomischen Dimension. Auf der Dimension der „neuen Politik" kontrastieren die Werte der sozialen Dienstklasse/Experten und der Arbeiter am starksten. Fiir Ostdeutschland zeigt der Autor mit Hilfe der Korrespondenzanalyse und des ..property fitting", dass die These des ..realignment' mit schlieBlicher Tendenz zur Konvergenz am ehesten mit den Daten vertraglich ist. Mit Hilfe der Effektkoeffizienten der Klassenlagen in einem konditionalen Logitmodell flir die parteibezogene Links-Rechts-Dimension zeigt der Autor, dass die administrative Dienstklasse sich sehr stark umorientiert, von der Orientierung am traditionellen linken Pol im Laufe der Zeit zum rechten Pol, an dem parteipolitisch die Verteidigung des Status quo der Hierarchic der sozialen Lagen angesiedelt ist. (Das Kleinbtirgertum andererseits bewegt sich im Laufe der Zeit im Durchschnitt in der politischen Landschaft nach links, was evtl. eine Folge der Rekrutierung aus der ehemaligen Dienstklasse des Staatssozialismus sein konnte; diese Entwicklungen sind noch nicht abgeschlossen und konnten ktinftig mit neuen Daten analysiert werden.) Als nachstes behandelt der Verfasser die Beziehung zwischen sozialen Lagen und Wertorientierungen mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen. Sowohl ftir West- als auch fur Ostdeutschland kann der Verfasser zeigen, dass Arbeiter bei der Libertarismus-Dimension eher auf der autoritaren Seite rangieren, wahrend die soziale Dienstklasse eher auf der libertaren Seite zu fmden ist. Beziiglich des alten sozio-okonomischen Verteilungskonflikts fmdet man das Klein-
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btirgertum in West- und Ostdeutschland jeweils auf der wirtschaftsliberalen Seite und die soziale Dienstklasse bei der Befurwortung von Gleichheit und Umverteilung durch den Staat. Die Besonderheit Ostdeutschlands besteht darin, dass die administrative Dienstklasse (der Manager/Btirokraten) 1991 noch die Werte der frliheren DDR vertrat, wahrend sie sich bis 2000 in Richtung des wirtschaftsliberalen Pols bewegte, wo sie in Westdeutschland zu beiden Zeitpunkten zu fmden ist. Ferner kann der Autor aufzeigen, dass fur Ostdeutschland die Sozialismus-Dimension eine weitere wichtige Zusatzinformation ist: So beftirworteten die administrative Dienstklasse und die soziale Dienstklasse 1991 die Idee des Sozialismus starker, als dies das Kleinbtirgertum und die Experten tun. Bis 2000 lasst die sozialstrukturelle Verankerung dieser Konfliktlinie allerdings nach. Zum Zusammenhang von Wertorientierungen und Parteienwahl zeigt der Autor mit Hilfe von Boxplots und konditionalen Logitmodellen, dass die Ablehnung staatlicher Intervention eher von den FDP-Wahlern vertreten wird und die Ablehnung sozialer Gleichheit eher von den CDU/CSU-Wahlern. Bezuglich der Libertarismusdimension, die in Westdeutschland den starksten Einfluss auf die Parteienwahl hat, rangieren die Grtinen eher auf der „linken" und die FDP eher auf der „rechten" Seite. Ftir Ostdeutschland zeigt der Autor, dass die Sozialismus-Dimension den starksten Einfluss auf die Parteienwahl hat, dieser Einfluss im Laufe der Zeit allerdings nachlasst. Im Gesamtmodell mit alien drei Beziehungen zwischen sozialen Lagen, Wertorientierungen und Parteipraferenzen zeigt der Autor schlieBlich mit konditionalen Logitmodellen unter Kontrolle von Kovariaten, dass auf der soziookonomischen Dimension die Haupt-Kontrahenten das Kleinbtirgertum und die administrative Dienstklasse auf der einen Seite und die Arbeiter und Techniker auf der anderen Seite sind. Auf der Libertarismus-Dimension sind die soziale Dienstklasse und die Experten auf der einen Seite und die Arbeiter und Techniker auf der anderen Seite die Haupt-Kontrahenten. Sozio-okonomische Werte vermitteln das traditionelle „class voting", libertare vs. autoritare Werte andererseits wirken als intervenierende Variable bzgl. der neuen politischen Themen. Ftir Ostdeutschland erweist sich die Sozialismus-Dimension als am erklarungstrachtigsten, gefolgt von dem „neuen" Wertekonflikt. Allerdings erodiert die sozialstrukturelle Veranlcerung der Sozialismus-Polaritat im Laufe des Untersuchungszeitraums 1991 -2000. Insgesamt lasst sich also in West- und Ostdeutschland ein leichtes ..decline of class voting" beobachten und gleichzeitig ein ..realignment", denn die neuen politischen Themen sind wiederum partiell in sozialen Lagen verankert.
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4 Wertewandel: Individualisierung und ihre Gegenbewegungen Inglehart (1989, 1998) hatte das Vordringen postmaterialistischer Werte im Kohortenwechsel diagnostiziert. Nachdem die materiellen Bedurfnisse der Nachkriegsgeneration bearbeitet seien, erhohe sich der Stellenwert der Selbstverwirklichung, des Hedonismus und der Lebensqualitat. Da diese Wertorientierungen starker auf das Individuum als auf die Gemeinschaft fokussieren, konnte man dies als Individualisierung auf der Wertedimension interpretieren. Viele Untersuchungen des Raums gesellschaftlich-politischer Werte und Einstellungen sind eher vertraglich mit folgendem Modell als mit Ingleharts eindimensionaler Polaritat von Materialismus vs. Postmaterialismus: Abbildung I: Modell des Raums gesellschaftlich-politischer Werte und Einstellungen Individualismus („Postmaterialismus")
Sozialismus/ Wert: Gleichheit
Wirtschaftsliberalismus („Materialismus")
Ethnozentrismus/ Familismus Aus dieser zweidimensionalen Perspektive konstruiert Inglehart eine Polaritat zwischen zwei Orientierungen, die eher unabhangig variieren, als dass sie sich ausschlieBen. Der von Inglehart entwickelte Index ist kein falsifizierbares Messmodell, sondern eine operationale Festlegung der Polaritat Postmaterialismus vs. Materialismus. Auch wenn der tatsachliche Werteraum vieldimensional ist, kann man mit Informationsverlust - eine Projektion in ein eindimensionales Konzept vornehmen. Genau dies macht Inglehart mit seiner Index-Konstruktion.
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Vorgabe von Inglehart: ZwQi materialistische Ziele: 1. Ruhe und Ordnung 2. Preisstabilitat Zwei postmaterialistische Ziele: 1. Btirgereinfluss 2. Freie MeinungsauBerung. Der Befragte muss die 4 Ziele in eine Rangordnung (von 1 bis 4) bringen. Abbildung 2: Defmitorische Eindimensionalitat nach Inglehart: Postmaterialist: Beide Ziele: postmateriaHstisch PostmateriaHstischer Mischtyp: 1. Ziei: postmateriaHstisch 2. Ziei: materiaUstisch MateriaHstischer Mischtyp: 1. Ziei: materiaUstisch 2. Ziei: postmateriaHstisch Materialist: Beide Ziele: materiaUstisch
Klages (2001, 2002) schlagt wegen der Mehrdimensionalitat der Werteproblematik vor, Kombinationen von Praferenzen zu betrachten. Die InglehartMessung fuhrt dazu, dass man nicht wissen kann, wie der „eigentliche" Kombinationstyp „weder noch" geantwortet hat, den Klages „resigniert" nennt. Die Daten aufgrund des Inglehart-Index sind also streng genommen nicht strukturerhaltend („homomorph") gemessen. Wenn man sie mit diesen Abstrichen dennoch verwendet, wie Klein/Potschke (2000, 2001) dies machen, so ist die These Ingleharts in Westdeutschland bis etwa 1989 insofern mit der Empiric vertraglich, als der Anteil der Postmaterialisten steigt und der Anteil der Materialisten sinkt. Ab etwa 1989 aber sinkt der Anteil der Postmaterialisten wieder und der Anteil der Materialisten steigt. Als Erklarungsfaktor lieBe sich etwa anfuhren, dass in wirtschaftlichen Krisen bzw. Stagnationsphasen die materiellen Bedtirf-
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nisse wieder einen hoheren Stellenwert erhalten, was sogar mit einer Grundidee von Inglehart (namlich der Mangelhypothese) vertraglich ware. Hradil (2002) beriicksichtigt bei seiner Analyse des Wertewandels neben den Daten von Klein/Potschke noch die Zeitreihen von Allensbach und von Klages, wobei er ebenfalls zu dem Ergebnis kommt, dass ein Wertewandel Richtung „individualistischer" Werte kein eherner Trend ist, sondern dass es etwa in Wirtschaftskrisen - auch Gegenbewegungen gibt. Auch in der Wertediskussion diirfte die dialektische Formulierung hilfreich sein, dass es in dem Spannungsverhaltnis Individualismus und Gemeinschaftsorientierung ein Herauslosen aus traditionalen Gemeinschaftsorientierungen mit Freiheitsgewinnen und Sicherheitsverlusten gibt, was aber begleitet wird durch das Erstarken von alten Gemeinschaften zur Bearbeitung von Problemen z. B. in Wirtschaftskrisen und andererseits von neuen Gemeinschaftsbildungen zur Gesellung nach den praferierten Lebensstilelementen. 5 Schlussbemerkungen: Entstrukturierung und/oder Restrukturierung? Zur Individualisierungsthese fuhrte Hermann Strasser schon 1987 in seinem Aufsatz „Diesseits von Stand und Klasse: Prinzipien einer Theorie der sozialen Ungleichheit" aus, dass das vertikale Paradigma sowohl ftir die empirischen Beftmde als auch theoretisch ftir die Erklarung der ungleichen Verteilung erstrebenswerter Ressourcen nach wie vor unverzichtbar ist. Deshalb initiierte Hermann Strasser auch die Beteiligung des Duisburger Fachbereichs an einem internationalen Forschungsverbund zur vergleichenden Analyse der Klassen- und Schichtungsstrukturen von uber zehn westlichen Gesellschaften, der von Erik Olin Wright angeregt worden war. Zusammen mit dem Autor wurde in dem Aufsatz „Klassen in der Bundesrepublik heute: Zur Theorie und Empiric der Ausdifferenzierung von Handlungsressourcen" (1990) nicht ftir eine einfache Auflosung des Spannungsverhaltnisses von Ent- und Restrukturierung, sondern ftir die Suche nach neuen Strukturierungen votiert. Konkret haben wir in den Duisburger Projekten daftir pladiert, bei der Erklarung gesellschaftlich-politischer Einstellungen nicht einfach auf die Strukturierung nach objektiven Lagen zu verzichten, well die Erklarungskraft der Dichotomic Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer nachlasst, sondern statt dessen die wichtiger werdenden Ressourcen der Entscheidungs- und Anweisungsbefugnisse in Betrieb und Verwaltung (Organisationsressourcen) und die steigende Bedeutung der Qualifikationen in der Wissensgesellschaft (Quahfikationsressourcen) angemessen zu berticksichtigen. Inzwischen ist noch deutlicher geworden, dass insbesondere die Qualifikationsressourcen nicht nur bei der Strukturierung von Risiken wie der Arbeitslosigkeit Oder bei der zu erwartenden beruflichen Lage oder dem zu erwartenden
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Erwerbseinkommen eine sehr groBe RoUe spielen, sondern auch bei der Strukturierung von neuen Gemeinschaftsbildungen nach den praferierten Lebensstilelementen (vgl. z. B. Otte 2004). Literatur Beck, U., 1986: Risikogesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Brooks, C , P. Nieuwbeerta, J. Manza, 2006: Cleavage-based voting behavior in crossnational perspective: Evidence from six postwar democracies, in: Social Science Research 35, 88-128. Clark, T. N., S. M. Lipset, 1991: Are social classes dying? in: International Sociology 8, 397-410. Fraser, N., A. Honneth, 2003: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politischphilosophische Kontroverse, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Friedrichs, J. (Hrsg.), 1998: Die Individualisierungsthese, Opladen: Leske und Budrich. Gorl, T., 2005: Klassengebundene Cleavage-Strukturen in den neuen und aiten Bundeslandern im Zeitverlauf. Eine empirische Untersuchung, Potsdam, Dissertation an der Universitat Potsdam. Holtmann, D., H. Strasser, 1990: Klassen in der Bundesrepublik heute: Zur Theorie und Empiric der Ausdifferenzierung von Handlungsressourcen, in: Schweizer Zeitschrift fur Soziologie 16, 79-106. Hradil, S., 2002: Vom Wandel des Wertewandels - Die Individualisierung und eine ihrer Gegenbewegungen, in: W. Glatzer et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung, Opladen: Leske und Budrich, S. 31-47. Inglehart, R., 1989: Kultureller Umbruch, Frankfurt/M.: Campus. Inglehart, R., 1998: Modernisierung und Postmodernisierung, Frankfurt/M.: Campus. Kitschelt, H., 2001: Politische Konfliktlinien in westlichen Demokratien: Ethnischkulturelle und wirtschaftliche Verteilungskonflikte, in: D. Loch, W. Heitmeyer, Schattenseiten der Globalisierung, Frankfiirt/M., S. 418-442. Klein, M., M. Potschke: Gibt es einen Wertewandel hin zum „reinen" Postmaterialismus? in: Zeitschrift ftir Soziologie 2000, 202-216, 2001, 485-493. MtlUer, W.: Klassenstruktur und Parteiensystem, in: Kolner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie 1998, 3-47, 2000, 790-795. Otte, G, 2004: Sozialstrukturanalyse mit Lebensstilen, Wiesbaden: VS. Strasser, H., 1987: Diesseits von Stand und Klasse: Prinzipien einer Theorie der sozialen Ungleichheit, in: B. Giesen, H. Haferkamp, Soziologie der sozialen Ungleichheit, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 50-92. Strasser, H., 1988: Klassenstrukturen und Klassentheorie. Neue Entwicklungstendenzen in westlichen Gesellschaften, in: Osterreichische Zeitschrift fur Soziologie 13, 2033. Von Winter, T., 1996: Wahlerverhalten in den ostlichen Bundeslandern: Wahlsoziologische Erklarungsmodelle auf dem Priifstand, in: Zeitschrift fur Parlamentsfragen 27, 298-316.
Kritik oder Rechtfertigung sozialer Ungleichheit? Die deutsche 'Sozialstrukturideologie' vom Ende der Klassengesellschaft in historischer und vergleichender Perspektive. Eine wissenssoziologische Analyse Max
Haller
„Kann die Spannung, der Antagonismus zwischen den Gesellschaftsklassen noch als Charakteristikum unserer Gesellschaftsordnung verstanden werden? Oder ist die Ara der Klassengesellschaft bereits tiberwunden? Die Frage ist tausendmal abschlieBend beantwortet worden und hat sich tausendmal - alien Veranderungen der weltpolitischen Konstellation, alien Perioden wirtschaftlicher Sekuritat zum Trotz wie Phonix aus der Asche erhoben." (Heinrich Popitz 1958:93) Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass die von zeitgenossischen Soziologen entwickelten Theorien sozialer Ungleichheit in einem engen Zusammenhang mit der faktischen Sozial- und Klassenstruktur ihrer jeweiligen Gesellschaften wie auch mit deren spezifischen Institutionen und geistig-kulturellen Traditionen stehen. Dabei geht es mir insbesondere um die These von der Individualisierung und der Ablosung der traditionellen Klassen- und Schichtstrukturen durch neue, horizontale Formen sozialer Differenzierung, wie sie vor allem in Deutschland entwickelt worden ist. Ziel des Beitrags ist es, Einsichten dreifacher Art zu gewinnen: (1) in die inhaltliche Struktur und Konsistenz von verschiedenen Ungleichheitstheorien; (2) in ihre empirische Gliltigkeit und Reichweite und (3) in die Prozesse der Entwicklung, Auswahl und Akzeptanz solcher Theorien. Es geht mir dabei vor allem um eine wissenssoziologische Analyse von Theorien sozialer Ungleichheit. Betrachten wir als erstes einige Grundannahmen einer solchen Analyse.
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Elemente einer vergleichenden wissenssoziologischen Analyse von Ungleichheitstheorien Eine wissenssoziologische bzw. ideologielcritische Betrachtung von soziologischen Theorien ist ohne Zweifel besonders angebracht in einem Bereich, in dem es um die Rechtfertigung und/oder Kritik gesellschafllicher Ungleichheit, um Phanomene ungleicher Verteilung von Ansehen und Macht, um Benachteiligungen und Privilegien geht. Die Grundthese der von Karl Mannheim begrtindeten Wissenssoziologie ist jene von der „Seinsverbundenheit des Denkens". Angewandt auf den Bereich der Ungleichheitsforschung beinhaltet sie drei wichtige Gedanlcen (Mannheim 1969; vgl. auch Strasser 1976; Strasser/Goldthorpe 1985). 1) Soziologische Theorien sozialer Ungleichheit sind, wie sozialwissenschaftliche Theorien generell, Teil umfassender und vielfaltiger gesellschaftlicher Denk- und Interpretationsprozesse. Dazu gehoren auch Geschichts- und Gesellschaflsbilder, wie sie von Schriftstellern und Klinstlern, Lehrern und Joumalisten, politischen und religiosen Eliten, aber auch von Menschen in unterschiedlichen sozialen Klassen, Schichten und gesellschaftlichen Kontexten explizit oder implizit entwickelt und vertreten werden. Theoretisieren beginnt nicht erst mit der Wissenschaft; auch die vorwissenschaftliche, alltagliche Erfahrung ist theoretisch durchsetzt (Mannheim 1970:100) - zum Teil als Folge der zunehmenden Verwissenschaftlichung der modemen Welt uberhaupt (Konig 1973:6). 2) Die Weltanschauung eines Zeitalters oder einer Gesellschaft tendiert zu einer mehr oder weniger vollstdndigen „ Totalitdt", es gibt eine Tendenz zur Herausbildung einer relativen Konsistenz zwischen den verschiedenen Elementen einer (theoretischen) Wirklichkeitsinterpretation. Dieser Synthetisierungsprozess ist sowohl als geistig-immanenter wie auch als sozialer Prozess zu sehen. Dabei kampfen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen oder Quasi-Gruppen (Berufsgruppen, Bildungsgruppen, Unternehmer, soziale Klassen und Schichten) bzw. ihre Reprasentanten (Verbande, intellektuelle und politische Eliten) mit bestimmten Wissensinteressen um die Durchsetzung ihrer spezifischen Interpretationen, worauf konlcurrierende Gruppen inhaltlich reagieren durch Entwicklung von Gegenentwurfen und/oder Modifizierung ihrer eigenen geistigen „Weltsynthese" (Mannheim 1970:91 ff). 3) Die Tendenz zur Totalitat ist aber nie vollstandig, die Weltanschauung einer Gesellschaft (hier verstanden als nationalstaatliche Gesellschaft, die immer noch als wichtigste makrosoziologische Ebene zu betrachten ist; vgl. dazu Haller/Hadler 2005) ist stets auch intern differenziert, ja polarisiert. Dies ist insofern zu erwarten, als verschiedene Weltsichten miteinander oft nicht kompatibel sind und ihre Vertreter dazu tendieren, die eigene Perspektive moglichst scharf von konkurrierenden anderen abzuheben. Dabei gilt allerdings, dass die ver-
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schiedenen Denkstromungen sich nicht isoliert voneinander entwickeln, sondern sich „aneinander orientieren, voneinander lemen" (Mannheim 1970: 324 ff.). Das AusmaB der ideologischen Integration oder Zersplitterung einer Gesellschaft kann sich beziehen sowohl auf die geistige wie die sozialstrulcturelle Ebene der Trager von Weltanschauungen. Mannheim unterscheidet hier zwischen „geistigen Schichten" (den Tragern der ideellen Auseinandersetzungen) und „sozialen Schichten", Klassen und Gruppen im ublichen Sinn dieses Begriffes, die als „Rezipienten" der Auseinandersetzungen zwischen den ersteren zu sehen sind. Man kann von einem Kontinuum zwischen einer soziokulturell-ideell integrierten Gesellschaft auf der einen, einer soziokulturell stark polarisierten und fragmentierten Gesellschaft oder Epoche auf der anderen Seite sprechen. '\ durch Durch die „ Funktionalisierung eines Bedeutungszusammenhanges den Nachweis existentiell-sozialer Bedingungsfaktoren geistiger Gebilde, wird ein erweitertes, vertieftes Verstandnis des gesamten Sinnzusammenhanges ermoglicht, innerhalb dessen Theorien und Denksysteme stehen. Damit erhalt auch der immanente Gehalt der jeweiligen Theorie einen „neuen Sinn", wird selbst besser verstandlich, als er es sonst gewesen ware. Man nhnmt also keineswegs an, dass soziale Vorstellungen oder sozialwissenschaftliche Theorien falsch sein mtissen, wenn sie ein sozial verursachtes Produkt darstellen. Die Beziehung zwischen „Sozialfaktoren" und Ideen ist nicht als mechanistische Kausalitat zu verstehen, sondern eher auf eine hermeneutische Art und Weise zu entschltisseln, als Frage danach, wie sich soziale Akteure verschiedener geistigkultureller Modelle als Interpretationsmuster bedienen (Mulkay 1980: 57). Die wissenssoziologische Betrachtung hat in diesem Sinne nicht nur eine kritische (das Aufzeigen der Grenzen der Aussagekraft von Theorien), sondern auch eine positiV'konstruktiveVuvkXion. Eine wissenssoziologische Analyse stellt meiner Meinung nach einen zentralen Teil soziologischer Analyse iiberhaupt dar. Ich gehe dabei aus von der Notwendigkeit einer grundsatzlichen Unterscheidung zwischen drei Ebenen soziologischer Analyse, die man bezeichnen kann als die Ebene der faktischen Sozialstrukturen, die institutionelle Ebene der gesellschaftlichen Steuerungs- und Kontrollmechanismen und die Ebene der gesellschaftlichen Werte und Wertsysteme (vgl. auch Popper 1973). Die zeitgenossische soziologische Ungleichheitsforschung weist in dieser Hinsicht ein mehrfaches Defizit auf. Einmal insofern, als meist nur eine dieser drei Ebenen betrachtet wird, namlich jene der falctischen Sozialstrukturen, wie sie in der deskriptiven und statistisch-multivariaten Analyse von Klassenstrukturen, Einkommensverteilungen, Mobilitatsmustern usw. zum Ausdruck kommt. Analysen dieser Art, theoretisch begriindet im Rahmen einer „naturalistischen Soziologie" schon bei Comte, Spencer und Gumplowicz, neuerdings bei G. Lenski, J. Turner, P. Blau, konnen fur sich aber
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allenfalls den Rang einer Sozialstatistik beanspruchen, aber nicht den einer Soziologie als „Wirklichkeitswissenschafl" im Sinne von Max Weber, der es vor allem um die „Kulturbedeutung" sozialer Strukturen und Phanomene geht (vgl. Lepsius 1988; Tenbruck 1989; Haller 2003)/ Allgemein anerkannt als zentrales Erkenntnisobjekt der Soziologie ist die Ebene der institutionellen Analyse gesellschaftlicher Einrichtungen, Organisationen, Normen, Gesetze usw. Im Bereich der Ungleichheitsforschung sind als relevante Arbeiten hier all jene zu nennen, die sich mit der Entwicklung historisch Oder interkulturell vergleichender Typologien von Biidungs- und Beschaftigungssystemen, politischen Systemen usw. befassen. Was aber auch in diesen (noch) nicht gesehen wird, ist die Tatsache, dass die Entwicklung dieser institutionellen Formen selber bedingt ist durch allgemeine Ideen und Grundwerte wie Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit usw. Dabei geht es aber nicht nur um „objektive" Sinnsysteme (im Sinne von Popper 1973), sondern auch um deren Prasenz und Reflexion in den Mitgliedem einer Gesellschafl selber. Das „kulturelle System", in dessen Rahmen sie entwickelt werden, stellt eine bis zu einem gewissen Grade von konkreten Gesellschaften und Epochen unabhangige Realitat sui generis dar.^ Soziologische Analysen dieser Art sind bislang auBerst rar (als exzellente Beispiele auf der Ebene von gesellschaftlichen Sinn- und Deutungssystemen vgl. jedoch die Studien von Ossowski 1972 und Schwartz 1981). Diesen Beitrag mochte ich sehen als Versuch einer Analyse, die zunachst auf der Ebene des kulturellen Systems ansetzt. Dabei werden soziologische Ungleichheitstheorien als Teil der generellen Welt der Ideen, der objektiven Gedankeninhalte betrachtet; diese Ebene soil dann jedoch - mehr oder weniger systematisch - mit den beiden darunter liegenden Ebenen der Institutionen und der faktischen Sozialstrukturen verkniipft werden. 1) Die Ebene der faktischen Sozialstrukturen. Soziologische Theorien und Studien versuchen die konkreten Ungleichheiten ihrer Gesellschaften zu erklaren. Daher wird als allererstes zu prtifen sein, ob sich die international so starken Unterschiede in den verschiedenen theoretischen Orientierungen auch in den entsprechenden Sozialstrukturen fmden lassen. Die These lautet hier, dass in Gesellschaften mit starker Ausprdgung von Ungleichheiten eher kritische, in weniger ungleichen Gesellschaften eher affirmative Sozialstrukturtheorien vorherrschen.
' Ansatze zu einer solchen Betrachtimg sozialer Ungleicliheit hat jiingst Gerd Nollmann vorgelegt; vgl. Nollmann 2003, 2004. ^ Popper (1973), entwickelte in diesem Zusammenhang eine „Drei-Welten-Theorie", in deren Rahmen Ideen und Werte eine eigenstandige Realitat darstellen. Margaret Archer (1989) spriclit von einer „kulturalistischen Analyse" (vgl. zu beiden auch Haller 2003, Teil III).
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Ein wichtiger Teilaspekt der Betrachtung in diesem Zusammenhang (wie auch im vorherigen, wo es um die objektiven Strukturen geht) ist das AusmaB der Homogenitat oder Heterogenitat einer Gesellschaft. Hier lautet die These: Je kleiner und homogener eine Gesellschaft ist, desto eher werden sich einheitliche Weltbilder herausbilden. 2) Die Ebene der institutionellen Analyse gesellschaftlicher Institutionen und Steuerungsprozesse (soziaier Bewegungen, Organisationen und Verbande, staatiicher Einrichtungen usw.). Relevant sind hier die Struktur und Entwicklung von Bildungssystemen, von Arbeitsmarkt-, Beschaftigungs- und Organisationsstrukturen, von sozialen Bewegungen und politischen Parteien, von politischen Systemen. Im Rahmen dieser Institutionen werden nicht nur Diskussionen tiber Gleichheit und Ungleichheit und ihre Legitimation gefuhrt, sie tragen durch ihr Wirken selber wesentlich zu deren Entstehung und Veranderung bei. Damit bestimmen sie nicht nur das Denken der breiten Bevolkerung, sondern auch jenes von Intellektuellen und Wissenschaftlern - wenn oft auch im negativen Sinne, dass diese auf kritische Distanz zu den herrschenden Gruppen gehen. Meine These in diesem Zusammenhang lautet, dass auch Sozialwissenschaftler dann eher kritische Sozialstrukturtheorien entwickeln, wenn in ihren Gesellschaften Gruppen und Institutionen vorhanden sind, die Ungleichheiten thematisieren und Forderungen zu ihrer Reduktion entwickeln. 3) Der sozialstrukturelle Wandel und die spezifische „Problemlage ", in der sich eine Gesellschaft befindet. Dieter Seibel hat (im Anschluss an Autoren wie Ibn Chaldun, Arnold Toynbee und Max Weber) eine „Problemtheorie soziaier Schichtung" entwickelt, wonach Gesellschaften, die mit ernsthaften Problemen ihres Weiterbestandes konfi-ontiert werden, das Schichtungssystem offnen und Leistungsprinzipien bei der Rekrutierung von Personal fur hohe Positionen zum Durchbruch verhelfen, wahrend wohl etablierte Gesellschaften zunehm.end soziale Barrieren zur Sicherung der Positionen und Privilegien ftir die herrschende Klasse errichten (Seibel 1975). Meine These lautet hier, dass in aufsteigenden und wirtschaftlich-politisch erfolgreichen und mdchtigen Gesellschaften eher affirmative, das Bestehende bejahende Vorstellungen von der Sozialstruktur vorherrschen, wahrend in krisenhaften, zuruckfallenden oder von anderen abhdngigen Gesellschaften eher kritische Vorstellungen entwickelt werden. 2
Vergleichende wissenssoziologische Analyse von Sozialstrukturparadigmen in Westeuropa und den USA Ich gehe davon aus, dass man in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa und in den USA von vier dominanten Traditionen der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsanalyse sprechen kann. Diese Traditionen lassen sich auf einem Kontinuum auftragen, das von gesellschafts- und ungleichheitskritischen Positionen
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bis bin zu affirmativ-konservativen Positionen reicht. Diese dominanten Traditionen sind: • eine klassentheoretisch argumentierende, gesellschafts- und ungleichheitskritische Variante, typisch flir Frankreich; • eine klassentheoretisch argumentierende, sozialpolitisch reformatorischpragmatische Variante, typisch flir GroBbritannien; • eine differenzierungstheoretisch-kulturalistische Variante, entwickelt vor allem in Deutschland; • eine Ungleichheit legitimierende, affirmativ-konservative Perspektive, typisch flir die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Vereinigten Staaten von Amerika werden deshalb einbezogen, weil es sich um eine sehr groBe, intern stark differenzierte Gesellschaft handelt, die von ihrer Struktur her am ehesten mit der Europaischen Union vergleichbar ist. Wenn hier von „dominant" die Rede ist, beziehe ich mich auf den gesamten Zeitraum etwa seit Ende des Zeiten Weltkrieges. In jiingster Zeit - etwa auch in der Folge des Niedergangs der staatssozialistischen Regimes in Osteuropa sind in manchen Landem durchaus neue theoretische Ausrichtungen hervorgegangen. Auf sie kann ich hier nicht mehr eingehen. Ich stelle dabei die These auf, dass die unterschiedlichen Theorien sozialer Ungleichheit, wie sie in Deutschland, Frankreich, GroBbritannien und Amerika entwickelt worden sind, nicht nur mehr oder weniger allgemein gtiltige Konzepte darstellen, sondern eng mit dem jeweiligen historischen, sozialen und kulturellen Kontext verkniipft sind, in dem sie entwickelt worden sind. Die Entstehung dieser Ungleichheitstheorien hangt auch zusammen mit nationalen Besonderheiten in der Soziologieentwicklung allgemein (vgl. dazu u.a. Jonas 1968a,b, 1969; Mikl-Horke 1989).^ In der Analyse dieser Verkntipfungen werden die folgenden Fragen zu untersuchen sein: a. Welchen Umfang und welche Bedeutung besitzt die Debatte liber Sozialstruktur und soziale Ungleichheit allgemein, etwa im Vergleich mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten der Soziologie und Sozialwissenschaften? b. Welcher Art ist der vorherrschende Zugang zur Diskussion und Analyse der sozialen Ungleichheit im jeweiligen Lande (etwa eine starkere Abstraktheit oder Empiriebezogenheit, ein eher theoretisches oder praktisches, sozialreformerisches oder -revolutionares Erkenntnisinteresse)? c. Welches sind die vorherrschenden theoretischen Orientierungen? Kann eine davon als dominant bezeichnet werden? Von einer „dominanten Orientierung" wtirde ich dann sprechen, wenn sie in Forschung und Lehre den •^ Eine analoge Analyse konnte bzw. sollte man auch durchflihren fiir Theorien in anderen Sozialwissenschaften. So haben etwa Okonomen selber empirisch gezeigt, dass deren Lehrmeinungen stark vom nationalen Kontext ihrer jeweiligen Vertreter mitbestimmt sind (Pommerehne et al. 1984).
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groBten Stellenwert einnimmt und von den tonangebenden, angesehensten Sozialwissenschaftlern des jeweiligen Landes vertreten wird. d. Was ist die vorherrschende politisch-weltanschauliche Ausrichtung dieser Ansatze? Welche Wertorientierungen im Hinblick auf Grundwerte wie Gleichheit, Freiheit, soziale Gerechtigkeit usw. stehen dahinter? Im Folgenden wird - nach einer Darstellung der wissenssoziologischen Perspektive - die in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit dominierte Sozialstrukturtheorie in ihren verschiedenen Varianten dargestellt. Als Kontrast dazu betrachten wir sodann die einflussreichsten Ungleichheitstheorien in Frankreich, England und den USA. In einem weiteren Abschnitt versuche ich dann eine wissenssoziologische Erklarung fiir die klare Dominanz der These vom Aufstieg der klassenlosen Gesellschafl in Deutschland zu geben. 2.1 Die These von der Auflosung der Klassen und Schichten als dominante deutsche ,Sozialstrukturideologie' der Nachkriegszeit. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit kann man meiner Meinung nach klar von einer dominierenden These im Hinblick auf den Wandel der Sozialstruktur sprechen; es ist dies die These von der Auflosung der traditionellen Klassen und Schichten und der Durchsetzung einer Vielfalt neuer, multidimensional differenzierter Lebenslagen und -stile. Dieser Sachverhalt ist sicherlich erklarungsbedtirftig. So wurde die Klassentheorie entscheidend gepragt von einem Deutschen, Karl Marx; der Begriff der Klasse hat in diesem Lande nach Meinung mancher Autoren seit jeher eine zentrale RoUe gespielt (Nisbet 1966:20); und schlieBlich erreichte die klassenbasierte Arbeiterbewegung hier eine Starke wie kaum anderswo. Am wortgewaltigsten wurde diese These vorgetragen von Ulrich Beck in seinem auBerst erfolgreichen Buch Die Risikogesellschaft (1986); inzwischen kann man sagen, dass seine Grundthesen zur herrschenden Meinung in zahlreichen soziologischen und anderen Publikationen, Lehrbuchern usw. geworden sind. Die meisten Argumente des Beckschen Buches sind jedoch keineswegs neu; sie wurden schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgestellt."^ In diesem Faktum sehe ich die Begriindung dafiir, diese These als charakteristische und dominante „deutsche Sozialstrukturtheorie" bezeichnen zu konnen, die einer Ideologie recht nahe steht. Dabei wird Ideologic im Sinne der vorherigen Ausfiihrungen nicht als „falsches Bewusstsein" verstanden, sondern als ein Wissens- und Denksystem, das bei aller Konsistenz und Plausibilitat (die auch durch wissenschaftliche Analysen begrundet sein kann) doch auch in erheblichem ^ Dass es sich hier um eine charakteristische deutsche Theorie handelt, wurde im iibrigen auch schon von anderen Autoren festgestellt (vgl. Dahrendorf 1968: 136ff.; GeiBler 1994: 7; Dangschat 1998; Kron 2002).
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MaBe durch die Kontextzugehorigkeit seiner Trager gepragt ist und neben erkenntnisleitenden auch rechtfertigende Funktionen erftillt (vgl. dazu auch Boudonl988:45). Die Individualisierungsthese von Beck. Beck konstatiert in seinem Buch eine widerspriichliche Situation: einerseits bestehen Ungleichheitsrelationen fort, andererseits hat sich das Niveau der Lebensbedingungen radikal verandert und verbessert; gleichzeitig aber wurde „ein Prozess der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterlauft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt" (Beck 1986: 121f.). Funf Trends sind hierbei konstitutiv: (1) eine sozialgeschichtlich revolutionare Einkommensverbesserung und Anhebung des Lebensstandards, die insbesondere die Lage der Industriearbeiter wesentlich verbesserte; (2) eine Verschiebung von Lebenszeit und Arbeitszeit zugunsten viel breiterer Moglichkeiten der Entfaltung von Lebenschancen, auch infolge gestiegener Lebenserwartung; (3) eine sprunghafte Zunahme der sozialen, beruflichen und geographischen Mobilitat, vor allem durch Expansion des Dienstleistungssektors; (4) eine steigende Frauenerwerbstatigkeit, die die Machtbeziehungen in der Ehe verandert, die Bindung der Frauen an die Familie lockert; (5) eine Bildungsrevolution, die zu einem Massenkonsum an hoherer Bildung und einer Ausbreitung universalistischer Orientierungen gefuhrt hat. Die inhaltliche Kontinuitdt in den Analysen der Sozialstruktur Deutschlands in der Nachkriegszeit. Es ist verbltiffend, wie ahnlich die Aussagen zum Wandel der Sozialstruktur sind, die namhafle deutsche Soziologen recht unterschiedlicher „Schulen" bereits teilweise viel fruher als Beck getroffen haben. In seinem 1949 in Zurich erschienenen Werk „Soziologie heute" schrieb Rene Konig, an die Stelle „des alten Schemas der sozialen Klassen" sei heute ein anderes Bild zu setzen, namlich das „einer in zahllose Kreise und Teilgruppen, sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Richtung sich gliedernden Gesellschaft; innerhalb jedes dieser einzelnen Kreise gibt es ebenfalls eine Ordnung nach Hoher- und Tieferstehenden, die noch durch das Dazwischentreten regionaler Unterschiede kompliziert wird. Und das ganze System wird verschlungen durch einen unabgerissenen dynamischen Prozess des Auf- und Niedergangs..." (hier zit. nach Bolte 1966: 315). 20 Jahre spater legte Konig (1971) nochmals eine ahnliche Interpretation vor. Am bekanntesten ist die These der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" von Helmut Schelsky, die dieser etwa zur gleichen Zeit (1953) entwickelte. Man kann darin sechs zentrale Teilthesen fmden (Schelsky 1965): (1) Umfangreiche Auf- und Abstiege in der deutschen Gesellschaft der letzten zwei Generationen haben zu einem Abbau der Klassengegensatze, einer „sozialen Nivellierung in
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einer relativ einheitlichen Gesellschaftsschicht" geftihrt; (2) hieraus folgt eine „Vereinlieitlichung der kulturellen Verhaltensformen" zu einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft"; (3) soziale Mobilitat kann nicht mehr als Auf- und Abstieg verstanden werden, sondern steilt zunehmend einen Entschichtungsvorgang, einen Abbau der Bedeutung von Schichten, dar; (4) der Schichtungsbegriff behalt seine Bedeutung nur noch als irreales „soziales Leitbild"; (5) die Auflockerung der alten Statussicherheiten fiihrt zu einer paradoxen „Unerftillbarkeit der sozialen Aufstiegsbedurfmsse" und zu einem generellen Streben nach Aufstieg; (6) Resultat all dieser Tendenzen ist die Nivellierung der deutschen Gesellschaft zu einer „mittelstandisch-blirgerlichen Einheitsschicht". Drei der zentralen Trends, die Beck Mitte der 1980er Jahre konstatiert, sah Schelsky also schon in den 1930er und 1940er Jahren am Werk! Ein weiterer einflussreicher deutscher Soziologe und Sozialstrukturforscher, der kontinuierlich eine ahnliche Position vertritt, ist Karl-Martin Bolte. Er schreibt (1966: 284) in einer ersten groBen sozialstatistischen Uberblicksarbeit, kein Merkmal lege eindeutig die Stellung eines Menschen im gesellschaftlichen Statusaufbau fest; es gebe vielfaltige Statusdifferenzierungen, aber keine klar gegeneinander abgegrenzte Schichten. In einem spateren, weit verbreiteten Band, lautet die Quintessenz: „Das Ungleichheitsgefuge der Bundesrepublik lasst sich schlagwortartig charakterisieren als ,eine durch mehrdimensionale Statusabstufungen, milieuspezifische Lebensstile, individualisierte Lebenskarrieren sowie durch spezifische Randgruppenerscheinungen differenzierte, mittelschichtdominante Wohlstandsgesellschaft'" (Bolte/Hradil 1984: 5). Inzwischen hat Stefan Hradil, ebenso wie Ulrich Beck ein Schiller bzw. fruherer Mitarbeiter von Bolte, seinerseits eine Reihe von stark rezipierten Arbeiten vorgelegt, in denen er - auch in durchaus polemisierender Weise - die These vertritt, die traditionellen Klassen- und Schichtmodelle seien weitgehend unbrauchbar geworden, ja, ihr weiterer Gebrauch stelle sogar ein „soziologisches Problem" dar insofern, als sie eine zeitgemaBe Analyse sozialer Ungleichheit verhinderten (Hradil 1985, 1987). Sein bis 2002 in 8. Auflage erschienenes Lehrbuch „Soziale Ungleichheit in Deutschland" ist ohne Zweifel das einflussreichste Werk im akademischen Bereich (Hradil 1999). Ahnliches gilt fur das Werk von Bernhard Schafers „Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland" (Schafers 2004). Darin kann man lesen, dass bereits „der Begriff der sozialen Ungleichheit stark wertbehaftet" sei und man an seiner Stelle vom Begriff der „Differenzierung" ausgehen soUe (Schafers 2004: 240). Kaum ein franzosischer oder englischer, ja nicht einmal ein amerikanischer Autor wlirde auf eine solche Idee kommen. In direkter Weiterfiihrung der Beck- und Hradilschen Konzepte von Individualisierung, Lebenslagen und Lebensstilen wurden in den 1990er Jahren eine ganze Reihe von Banden zum Thema der neuen Lebensstile vorgelegt. So wer-
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den in einem neuen Literaturliberblick von Otte (2005) nicht weniger als 20 (!) Monografien angefiihrt, die den Begriff „Lebensstile" im Titel fiihren; vier davon stellen bereits zusammenfassende Arbeiten dar (Muller 1992; Konietzka 1995; Hartmann 1999; Otte 2004, vgl. auch Dangschat/Blasius 1994; MullerSchneider 1994; Drieseberg 1995; Georg 1998; WeiB 2001). In vielen dieser Werke wird an die Arbeiten von Bourdieu angekntipft, wobei bezeichnenderweise vor allem auf dessen Konzept der sozialen Distinktion, Lebensstile usw. Bezug genommen wird, jedoch viel weniger auf seine Konzepte von Herrschaft, Klassen usw.^ Das einflussreichste darunter, „Die Erlebnisgesellschaft'\ stammt von Gerhard Schulze (1992), ebenfalls einem Soziologen aus der Munchner „Schule". Auch fur Schulze, der seine Studie, ahnlich wie Bourdieu, durch eine Vielfalt von schwer uberschaubaren empirischen Fakten und Illustrationen, synthetisierenden und generalisierenden Interpretationen garniert, ist das Ende der „GroBgruppengesellschafl" eine ausgemachte Sache. Und nicht nur dies: die Menschen stehen heute nicht mehr vor der Notwendigkeit, existentielle Bedtirfnisse sichern zu miissen, suchen und fmden diese aber auf dem „Erlebnismarkt". Aus heutiger Sicht sind dies zweifellos sehr ktihne Behauptungen angesichts von etwa 4 Millionen registrierten Arbeitslosen und rund 50 Prozent der Deutschen, die sich in einer temporar oder dauerhaft prekaren wirtschaftlichen Lage befmden (Groh-Samberg 2004). Suche nach Erlebnissen kreiert den neuen Lebenssinn (vgl. auch Schimank/Volkmann 2000: 75ff). Nur uber Alter und Bildung besteht noch ein Zusammenhang zwischen den vier oder funf Hauptmilieus der deutschen Gesellschaft (Harmoniemilieu, IntegrationsmiUeu, Niveaumilieu, Unterhaltungsmilieu, Selbstverwirklichungsmilieu) und der Sozialstruktur. Die erstaunUche LFbereinstimmung in der Analyse der Wandlungen der deutschen Sozialstruktur ist nicht auf Autoren beschrankt, die zum „mainstream" der deutschen Soziologie gehoren (erfassbar u.a. dadurch, dass mehrere von ihnen zu Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft ftir Soziologie gewahlt wurden). Sie ist auch bei Gesellschaftstheoretikern ganz anderer Provenienz und Orientierung zu fmden. GroBen Widerhall fand eine neue und originelle Interpretation der deutschen Sozialstruktur, die eine Gruppe von Politik- und Sozialwissenschaftlern um Glaus Offe erstmals in Frankfurt 1968 vorgelegt hat. Diese Autoren beabsichtigten, wieder einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem System politischer Herrschaft und den materiellen Bedingungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur, ohne dabei - wie im orthodoxen Marxismus - ein einseitiges Ab^ Vgl. die Besprechung von Bourdieu „Der Staatsadel" von M. Hartmann, Kolner Zeitschrift ftir Soziologie und Sozialpsychologie 56/4,2004, 751.
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hangigkeitsverhaltnis des ersteren von den letzteren zu postuHeren. Dabei kommt ihrer Meinung nach der Klassengliederung und Schichtung zentrale Bedeutung zu. Diese stelle allerdings in ihrer traditionellen Fassung kein zureichendes Modell mehr dar, da sie mit mehr oder weniger deutUch abgrenzbaren sozialen Aggregaten mit exklusiver Mitgliedschaft, ahnlichen Lebenschancen und Handlungspotentialen rechne. Vernachlassigt werden durch dieses vertikale Schema sozialer Ungleichheit vor allem die zunehmende Bestimmung und Vereinheitlichung von Lebenschancen durch staatliche Redistribution umfassende, politische Entscheidungen. Die dominante Form der Ungleichheit sei daher immer mehr in der „horizontalen Dimension der Disparitat von Lebensbereichen, d.h. der ungleichgewichtigen Befriedigung der verschiedenen Lebensbedtirfnisse" zu suchen (Bergmann et al. 1969: 82). Ftir die Sozialstrukturforschung ergibt sich als Alternative zum Klassen- und Schichtbegriff die Vorstellung unterschiedlicher „Situationsgruppen'\ die jeweils ganz spezifischen „Deprivationen und Frustrationen ausgesetzt sind, ohne dass der Status des Einzelnen in der Einkommensskala viel zur Behebung der Probleme und Krisen bewirken konnte" (Bergmann et al. 1969: 6; ahnlich Offe 1969). Unverkennbar ist die Ahnlichkeit dieser Diagnose mit den von Stefan Hradil entwickelten Konzepten der „sozialen Lage" und „sozialen Milieus" (vgl. Hradil 1987). Die erstaunliche Konvergenz der Diagnosen der Sozialstruktur gilt aber selbst noch fiir die nach eigenem Anspruch vollig neue Perspektive der Systemtheorie von Niklas Luhmann, der sich auch an zentraler Stelle mit Fragen des Wandels der Prinzipien gesellschaftlicher Differenzierung auseinandergesetzt hat. Luhmann zufolge gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Prinzipien sozialer Differenzierung aufgrund der Tatsache, dass Ausdifferenzierung von Systemen stets die Kombination von zwei asymmetrischen Dichotomien erfordert, namlich jene von System/Umwelt und jene von Gleichheit/Ungleichheit (vgl. Luhmann 1977: 33ff; 1980: 72ff; zur Zusammenfassung auch Haller 1986; 2003: 393ff). Daraus ergeben sich die folgenden drei Differenzierungsprinzipien. Segmentierung kommt nur in archaischen Gesellschaften vor; sie differenziert diese in gleiche Subsysteme (Abstammungs- oder Siedlungseinheiten); Ungleichheit kann hier nur als Effekt unterschiedlicher Umweltbedingungen eine Rolle spielen. Schichtung differenziert eine Gesellschaft in ungleiche Subsysteme, namlich Schichten; innerhalb der Schichten bildet Gleichheit die Norm fur Kommunikation. Gegenuber segmentar differenzierten Gesellschaften stellt Schichtung einen groBen Fortschritt dar, da gesellschaftliche Bewusstseinsentwicklung und Arbeitsteilung viel komplexer werden konnen, well nicht mehr Interaktion aller mit alien vorausgesetzt ist. Ein inharentes moralisches Problem dieser Gesellschaften ist jedoch das der sozialen Ungleichheit, da die Umwelt hier in Termini der Rangordnung nach oben/unten differenziert und untere Schichten
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stets das Problem haben, sich Gehor zu verschaffen. Funktionale Differenzierung lost dieses Problem auf andere Weise: sie strukturiert gesellschaftliche Kommunikation entlang spezieller gesellschaftlicher Funktionen. Da diese alle notwendig sind, kann die Gesellschaft keine bevorzugen. Als Losung fur das Koordinationsproblem schafft die Gesellschaft spezielle Bereiche, innerhalb derer jeweils eine Funktion den Primat hat. So wird der Politik das Fallen kollektiv verbindlicher Entscheidungen iibertragen; der Wirtschaft die Sichersteilung der materiellen Bedurfiiisbefriedigung uber langere Zeithorizonte usw. Innerhalb eines jeden dieser Bereiche werden jeweils komplementare Rollen ausgebildet; die des Politikers und Burgers, des Unternehmers und Konsumenten, des Priesters und Laien. Gleichheit erhalt einen neuen Stellenwert: die Funl<:tionen miissen ungleich, der Zugang zu den Funktionsbereichen muss jedoch ftir alle gleich sein. Damit besitzen ftmktional differenzierte gegeniiber geschichteten Systemen einen entscheidenden Vorteil: die einzelnen Systeme konnen offene und sich verandernde Umwelten tolerieren, was allerdings auch eine kontinuierliche wechselseitige Abstimmung der Teilsysteme untereinander erft)rdert. Funktional differenzierte Systeme kennen „kein Zentrum und keine Spitze", sie sind in der Lage, interne Abhangigkeiten und Unabhangigkeiten gleichzeitig zu steigem; die Gesamtkomplexitat der Gesellschaft erhoht sich neuerlich enorm. Aus wissenssoziologischer Sicht ist bemerkenswert, wie auBerordentlich ahnlich diese Sozialstrukturdiagnose Luhmanns alien bisher besprochenen Ansatzen im Grunde ist. Diese Ahnlichkeit ergibt sich meiner Meinung nach aber nicht nur aufgrund tatsachlicher Entwicklungstendenzen, sondern zum guten Teil daraus, dass das erkenntnisleitende Interesse Luhmanns nicht primar in einer empirisch erklarungskraftigen soziologischen Theorie liegt, sondern in der Entwicklung einer neuen „Weltsicht", die lediglich als ein allgemeiner Interpretationsrahmen dienen soil (vgl. Haller 2003: 389ff). So bleibt weitgehend unklar, inwieweit mit den Konzepten Luhmanns tatsachlich eine konkrete Gesellschaft wie jene der Bundesrepublik zutreffend beschrieben wird; Luhmann selber halt sich mit Aussagen in dieser Hinsicht auBerordentlich zurtick. Die hier skizzierten Interpretationen sind - bei alien Unterschieden im theoretischen „Beiwerk" - in der Sache einander doch so erstaunlich ahnlich, sodass es als gerechtfertigt erscheint, sie als typische und „dominante" deutsche Sozialstrukturtheorie zu bezeichnen. Sicherlich gab es auch in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem im zeitlichen Umkreis der Studentenrebellion der 68er Jahre, eine erhebliche Literatur, die gesellschaftskritische und marxistische Sozialstrukturmodelle zugrunde legte (z. B. IMSF 1973; Tjaden-Steinhauer/Tjaden 1973). Schon damals und bis heute gibt es auch nichtmarxistisch ausgerichtete deutsche Soziologen, die Ungleichheit unter einer neoweberianischen Klassenperspektive oder aus einer macht- und privilegienkritischen Sicht analy-
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siert haben (vgl. z. B. Handl u.a. 1977; Erbsloh u.a. 1990; Blossfeld 1985; Strasser 1987; Haller 1989a, b; Kreckel 1992; vgl. auch die zusammenfassenden Beitrage von Lepsius 1979 und GeiBler 1994; Ritsert 1998).^ Besonders zu nennen ist hier das fruhe Lehrbuch „Sozialkunde der Bundesrepublik" von Claessens et al. (1973, zuerst 1965), das auch eine pointierte Kritik der These von der „nivelUerten Mittelstandsgesellschaft" enthielt und treffend feststellte, diese These habe keine neue Erklarung geliefert, wohl aber „das allgemeine Bediirfnis nach einer Erklarung ftir die gewandelte Situation vollig befriedigt". (Claessens et al. 1973: 320-321). Zu nennen ist hier auch der vielfach zitierte, in der empirischen Forschung aber kaum aufgegriffene Beitrag zur Klassentheorie von Dahrendorf (1959). Es steht aber auBer Zweifel, dass keine dieser Interpretationen einen so nachhaltigen Strom an Veroffentlichungen, eine so breite Rezeption in Wissenschaft und Offentlichkeit nach sich zog wie die vorhin besprochenen. Die EigentumUchkeit dieser „deutschen Sozialstrukturideologic" wird erst voll ersichtlich, wenn man sich die dominanten Sozialstrukturinterpretationen in den drei anderen westlichen Landern ansieht, in denen es zu diesem Thema eine umfangreiche soziologische Literatur gibt.^ 2.2 Eliten- und Klassenbegriff bzw. funktionalistische Schichtungstheorie als dominante Sozialstrukturideologien in Frankreich, GroBbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika Bourdieus „ Theorie der feinen Leute" als exemplarische Interpretation der hierarchisch-elitdren Gesellschaft Frankreichs. Im gesellschaftlichen Denken Franl
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lagen der Ungleichheit unter den Menschen" (vgl. Martin 1988; Krysmanski 1989). Wahrend die Klassenproblematik bei den Begriindern der franzosischen Soziologie in den Hintergrund tritt, spielt sie in der Nachkriegszeit wieder eine groBe Rolle. Dies gilt nicht nur filr die marxistischen Denker wie L. Althusser, E. Balibar und andere, sondern auch fiir Soziologen wie Andre Gorz, Serge Mallet, Nicos Pouiantzas und Alain Touraine. In den 1970er Jahren wurde eine relativ umfassende, politokonomisch fundierte kritische Gesellschafts- und Klassentheorie entwickelt im Rahmen der sog. „Regulationsschule" (von Autoren wie Aglietta, Boyer u.a.; vgl. dazu Hirsch/Roth 1986; Dangschat 1998: 66ff.). Sie thematisiert neben den Produktionsverhaltnissen auch die Reproduktion von Klassenstrukturen und -beziehungen durch staatliche Intervention und gesellschaftliche Ideologisierung. Eine herausragende Stellung nimmt in diesem Zusammenhang Pierre Bourdieu (1930-2002) ein (vgl. auch Lemel 1988; Swartz 1987). Dies zum einen deshalb, weil Bourdieu eine enge Verbindung zwischen neuen und originellen theoretischen Konzepten und einer Fulle empirischer Analysen herstellt und vermeidet, Sozialstrukturanalyse nur als Entwicklung abstrakter begrifflichkonzeptueller Schemata zu sehen, oder aber als bloBe (wenn auch methodisch hoch spezialisierte) Sozialstatistik, deren Bezug zu theoretischen Fragen nur mit Miihe herstellbar ist. Zum anderen haben die Arbeiten von Bourdieu weltweit einen so starken offentlichen Widerhall gefunden, wie es noch bei keinem anderen franzosischen Soziologen (vielleicht sogar uberhaupt kaum einem anderen) der Fall war. Diese bislang einmalige Rezeption des Werkes von Bourdieu^ ist auch darauf zurtickzufuhren, dass darin theoretische, empirische und normativwertende Elemente in einer Weise verkntipft sind, die es fur ein weit Uber die soziologische Zunft hinausreichendes Publikum attraktiv gemacht haben. So wurde Bourdieu zu dem vielleicht prominentesten Aushangeschild der Globalisierungskritiker. Als erstes mochte ich hier zeigen, dass die Analysen Bourdieus sehr eng sowohl mit der faktischen Struktur der franzosischen Gesellschaft wie auch mit ihren spezifischen geistigen und politischen Traditionen zusammenhangen. Es sind dies die folgenden Aspekte: die Rolle des Bildungssystems in der Reproduktion sozialer Ungleichheit, die Bedeutung der Kultur sowie der politischen Zentralisierung. 1) Es ist kein Zufall, dass sich ein erster Schwerpunkt der empirischen Arbeiten Bourdieus mit der Funktion des Bildungssystems filr die Reproduktion sozialer Dies zeigte sich nicht zuletzt nach dem Ableben von Bourdieu am 23.1.2002, als nahezu alie besseren Zeitungen der westlichen Welt ausfuhrliche Nachrufe veroffentlichten.
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Ungleichheit befasst, stellt dieses doch in Franlcreich eine einzigartige und zentrale Institution in dieser Hinsicht dar. So wird im Detail die Ungleichheit der Bildungschancen nach sozialer, aber auch regionaler Herkunft, die Wirkung schichtspezifischer Beschrankungen auch noch bei der Wahl von Fakultaten und Fachern und bei der Ausbildung und internen Differenzierung von Studentenmilieus und akademischen Fachern belegt (Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1988). Schon an diesen Studien lassen sich die Giiltigkeit, aber auch die Grenzen der Reichweite der Bourdieuschen Analysen belegen. So zeigt ein internationaler Vergleich, dass die von Bourdieu/Passeron (1971: 20ff.) fiir das Frankreich der Sechziger Jahre berechneten, sehr ungiinstigen relativen Chancen des Hochschulzugangs ftlr Kinder aus niedrigen Schichten, im internationalen Vergleich einmalig waren; in Landern wie Deutschland, England und den USA waren sie deutlich glinstiger (Levin 1976: 155; Mtiller/Karle 1993). Verantwortlich ftir die internationalen Differenzen sind vor allem Unterschiede in der Struktur der Bildungssysteme; ftir Frankreich ist typisch, dass nur ein relativ geringer Anteil der Bevolkerung eine tlber die Pflichtschule hinausgehende Bildung erreicht. Die Verteilung der fi-anzosischen Bevolkerung nach dem hochsten erreichten Bildungsabschluss ergibt nahezu perfekt das Bild einer sich nach oben verjiingenden Pyramide (Haller 1989a: 137). Dies ist vor allem darauf zurlickzufuhren, dass an jeder Entscheidungsstufe ftir den Verbleib im Bildungssystem landesweit standardisierte, stark selektive Prtiftmgen stattfmden. Aus diesem Grunde widmen Bourdieu und Passeron dem Priiftings- und Examenssystem zu Recht besondere Aufinerksamkeit, denn das franzosische Bildungssystem wird durch diese - mit zum Teil extremen Folgen - geradezu „beherrscht" (vgl. dazu auch Holmes 1983: 299ff.; Konig 1990: 41ff.). 2) Eine originare Leistung Bourdieus liegt darin, dass er die Bedeutung kultureller Symbole und Praktiken ftir die Reproduktion sozialer Klassen und Ungleichheit mit detaillierten empirischen Fakten belegt hat (Swartz 1997). Dazu hat er die Begriffe des „kulturellen Kapitals" sowie des „Habitus" gepragt, worunter dauerhafte psychosoziale Dispositionen der Menschen zu verstehen sind, die sie aufgrund ihrer Ausstattung mit spezifischen Kombinationen von okonomischem und kulturellem Kapital entwickeln. Ich wurde meinen, dass es kein Zufall ist, dass sich eine solche Theorie und Forschungsrichtung gerade in Frankreich und seiner Hauptstadt Paris entwickeln konnte, wo Kultur im Allgemeinen und eine einmalige „Hochkultur" im Besonderen historisch seit jeher prasent sind wie in wenigen anderen Hauptstadten Europas (Willms 1988). Gerade in Paris, das nicht nur politisch, sondern auch kulturell, wissenschaftlich und gesellschaftlich seit liber 200 Jahren das Zentrum Frankreichs (und bis hin zum 1. Weltkrieg in gewisser Weise sogar ganz Europas) darstellt, sind subtile Distinktionen zwischen Klassen und Schichten von groBerer Bedeutung geworden als anderswo.
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Vergleichbare Studien, die in Deutschland und den Vereinigten Staaten durchgefiihrt wurden, konnten in diesen Gesellschaften keine scharfe Differenzierung zwischen der Kultur „niedriger Klassen" und der Hochkultur bzw. die „feinen Unterschiede" innerhalb der hoheren Klassen lokaUsieren (Blasius/Winkler 1989; Gartman 1991; Lamont 1992). In der Konzentration Bourdieus auf symbolische Auseinandersetzungen um Titel und Stellen (Bourdieu et al. 1981) liegt auch eine deutliche inhaltliche Begrenzung seiner Analysen, in denen okonomisch-materielle Interessen, politische Konfliktlinien und Auseinandersetzungen sowie der Bereich von Arbeit und Wirtschaft nur eine untergeordnete Rolle spielen. Es wurde nicht ganz unzutreffend konstatiert, Klassenkonflikt werde bei Bourdieu - ahnlich wie bei Veblen - auf ein Spiel mit Symbolen und Lebensstilen um soziales Prestige reduziert (Gartman 1991). Daher ist es auch nicht Uberraschend, dass die von Bourdieu immer wieder in den Mittelpunkt gestellten Klassen in ihren Konturen letztlich recht unscharf bleiben. Auch erscheinen die Mitglieder der verschiedenen Klassen eher als passive Rezipienten denn als eigene Akteure und Schopfer von Kultur. Deutlich kommt dies etwa zum Ausdruck in der Charakterisierung der „unterdruckten Klassen" als behaftet mit einem Gefuhl der „kulturellen Unwtirdigkeit" (Bourdieu 1987: 602). Kommt hier nicht - wie vielleicht auch im erfolgreichen Buch von Andre Gorz (1983) uber den „Abschied vom Proletariat" - der spezifische Charakter der franzosischen Arbeiterklasse zum Ausdruck, die trotz zeitweise hoher Militanz im Grunde eher als relativ machtlos zu bezeichnen ist (vgl. auch Marwick 1980: 139f.)? 3) In diesen Bemerkungen ist ein weiteres Charakteristikum angeklungen, das zu einer wissenssoziologischen Wtirdigung der Arbeiten Bourdieus essentiell ist, namlich der hohe Grad der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Zentralisierung der franzosischen Gesellschaft, die auch franzosische Sozialwissenschaftler selber konstatieren. So beschreibt z. B. P. d'lribarne (1989) Franl<jeich als eine hierarchisierte „societe d'ordres", was sich bis tief in die Betriebe hinein auswirke. Dies zeigt sich auch in der stark hierarchisch-autoritar gepragten Organisationsstruktur von Unternehmen und Betrieben in Frankreich. Eine Serie von Vergleichsstudien deutscher und franzosischer Industriebetriebe in den 1970er Jahren zeigte, dass in den franzosischen Betrieben mehr Beschaftigte mit Funktionen der Kontrolle und Lenlmng befasst waren, die Arbeitsteilung zwischen Produktionsabteilungen einerseits, Planungs- und Verwaltungsabteilungen andererseits scharfer ausgepragt war, der Verwaltungsapparat umfangreicher und intern starker hierarchisch gegliedert war, und die Lohnschemata starker ausdifferenziert und die Einlcommensungleichheit hoher war als in Deutschland (Lutz 1976; Maurice et al. 1980; Sorge 1983; zusammenfassend Haller 1989a: llSff). Eine wesentliche Ursache des unterschiedlichen Grades
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an Radikalismus der Arbeiterklasse in GroBbritannien und Franlo-eich fand Duncan Gallie (1983) in der Arbeitssituation; wahrend britische Arbeiter und ihre Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg erhebliche Mitbestimmungsrechte erkampft hatten, waren franzosische Betriebe durch sehr monokratische Entscheidungsstrukturen charakterisiert; dementsprechend bezogen sich die radikaleren gesellschafls- und klassenkritischen Haltungen der franzosischen Arbeiter viel haufiger auf diese Unterordnung im Betrieb als jene der englischen Arbeiter, die klassenbezogene Ungleichheiten eher als etwas Unveranderliches hinnahmen. Hier ist nochmals hinzuweisen auf die starke Zentralisierung und Standardisierung des franzosischen Bildungswesens, die eine einmalige, auch objektivierte Elitenauslese bewirkt, wie sie kaum ein anderes fortgeschrittenes Land (vielleicht Japan ausgenommen) kennt. Die Spitzeninstitutionen der Grandes Ecoles bringen eine geschlossene und koharente wirtschaftliche Elite hervor, deren Mitglieder nicht nur relativ zwanglos aus privaten in offentliche Spitzenpositionen tiberwechseln, sondern auch in Parteien unterschiedlichster Richtung dominieren. Ein wesentliches Element hierbei ist die territorial-politische Zentralisierung Frankreichs, die bis auf das Ancien Regime zuriickzufiihren ist (de Tocqueville o.J.) und in der etwa Michel Crozier (1970: 217) in den 60er Jahren mit einen Grund flir eine „strukturelle Blockierung" der franzosischen Gesellschaft sah. Zusammenfassend wurde ich zwei Hypothesen aufstellen. Die erste lautet, dass Bourdieus Tendenz zu einer Betonung der zeittiberdauernden, beharrenden gesellschaftlich-politischen Strukturen und soziokulturellen Lebensstile sehr eng zusammenhangt mit der Jahrhunderte langen Kontinuitat der Gesellschaft Frankreichs, die trotz haufiger, auch revolutionarer Wechsel in ihren Grundstrukturen eine hohe Persistenz aufweist (vgl. als klassische Studie dazu de Tocqueville o.J.; als neuere Studie Lamont 1992). Auch die politischen Veranderungen (z. B. die wieder riickgangig gemachten Verstaatlichungen von Unternehmungen, die Wechsel zwischen einer sozialistisch-interventionistischen und einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und umgekehrt) und die auch in Frankreich spektakularen materiellen Verbesserungen seit dem Zweiten Weltkrieg (vgl. dazu vor allem Mendras 1988) mogen an diesen Tiefenstrukturen der Verteiiung von Macht und Prestige nicht allzu viel geandert haben (vgl. auch Marwick 1980: 285). In all diesen Hinsichten unterscheidet sich die Gesellschaftsgeschichte Franlaeichs grundlegend von jener Deutschlands, wie weiter unten zu zeigen sein wird. Die zweite These lautet, dass der herausragende Widerhall, den das Werk von Bourdieu weltweit gefunden hat, in hoherem MaBe dem ungleichheitsl<xitischen Impetus seiner Schriften, der geradezu industriellen Massenproduktion von Schriften sowie seinen eigenen zahllosen prononcierten politischen Aufie-
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rungen zu verdanken ist als ihrer wissenschafllichen „Substanz".^ So sind inzwischen zahlreiche Analysen seines Werkes erschienen, die auf Schwachen bzw. Widersprliche seines grundlegenden theoretischen Ansatzes (etwa einer letztlich strukturalistisch-deterministischen Weltsicht) wie seiner Begriffe (etwa der Verschwommenheit des Habitus-Begriffs) und empirischen Methoden (hier etwa dem Mangel einer Analyse von Strukturen und Subjekten der neoliberalistischen Ausbeutung, aber auch einer nur vordergrtindigen Entsprechung von Theorie und empirischen Daten) hinweisen (Gartman 1991; Barlosius 1999; Scherke 1999; Gebesmair 2004). In seiner weltanschaulichen Grundhaltung bzw. politischen Praxisperspektive bleibt Bourdieu letztlich idealistisch^^ bzw. unklar und verschwommen; er „kokettierte mit dem Gedanken an Revolution ... eine wirkliche Theorie auf diesem Gebiet oder gar eine Strategic entwickelte er aber nicht."^^ Die Kontinuitdt in der Verwendung des Klassenbegrijfs in der englischen Soziologie und Sozialforschung. Selbst im Vergleich zu Franlcreich, noch mehr aber zu jenem Deutschlands und der USA lasst sich feststellen, dass die Thematik der klassenbezogenen Ungleichheiten in der englischen Soziologie und Sozialforschung seit jeher eine zentrale Stellung einnimmt. Nahezu alle namhaften britischen Soziologen seit 1945 haben sich damit befasst; die einschlagigen Monographien und Feldstudien von David Lockwood, Walter G. Runciman, Tom Bottomore, John Goldthorpe und Mitautoren, Anthony Giddens, Frank Parkin ^' In einer unter dem treffenden Titel „HyperBourdieii" erschienenen Dokumentation seiner 1.800 (!) Arbeiten wird festgestellt, dass ein Text mit leichten Uberarbeitungen oft in bis zu sieben Varianten publiziert wiirde und der Name von Bourdieu oft nur als Etikett fiir eine Gruppenarbeit steht; vgl. http ://www. i wp. un i -1 inz. ac. at/1 xe/sektktf/bb/HyperB ourd ieu. html ^" Man vergleiche hierzu etwa die folgende These im Werk Bourdieu/Passeron (1971: 90): „Wenn es das hohe Ziel eines wirklich demokratischen Bildungswesens ware, einer moglichst grofien Zahlvon Individiien in moglichst kurzer Zeit Gelegenheit zum moglichst vollstdndigen Enverb moglichst vieler der Fdhigkeiten zu geben, die zu einem bestimmten Zeitpunkt akademische Bildung bedeuten, stande dieses in ebenso krassem Gegensatz zum traditionellen, an der Bildung und Auslese einer Elite aus den oberen Klassen orientierten, wie zum technokratischen Bildungswesen, das auf die Serienproduktion von Spezialisten nach Mafi abzielt." ' * So wurde die Haltung von Pierre Bourdieu in dieser Hinsicht in einem Nachruf folgendermaBen (wohl treffend) charakterisiert: „Gewiss, Kommunist war er nie gewesen und wurde es auch am Ende nicht, aber [er war] doch weit linksstehend und er radikalisierte sich nach dem Zusammenbruch des ,realen Sozialismus' und dem scheinbaren Siegeszug des Neoliberalismus noch...;" und weiter: Bourdieu gab zuletzt Jede Menge hiterviews, in denen er sich sehr skeptisch tiber die Zukunft der kapitalistischen Gesellschaft auBerte. Unverkennbar kokettierte er auch mit dem Gedanken an Revolution, ohne dies jedoch mehr als anzudeuten. Eine wirkliche Theorie auf diesem Gebiet oder gar eine Strategic entwickelte er aber nicht. Das hatte wohl auch seinem theoretischen Weltbild widersprochen, das, trotz der radikalen Attiide, vom Gedanken der ,Bastelei', des Sttickwerks gepragt blieb." Charly Kneffel, Tod eines Unangepassten. Der franzosische Soziologe Pierre Bourdieu wurde 71 Jahre alt, in: http://www-rbi-aktuell.de/Panorama/25012002-01/25012002-01.html
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und anderen stellen heute international rezipierte Standardwerke dar (vgl. z. B. Giddens 1973; Parkin 1979). Manche dieser Studien (so die Studie von Goldthorpe und Lockwood iiber die wohlhabenden Arbeiter in der Klassenstruktur) werden auch von britischen Soziologen selber zu den bedeutendsten ihrer Zunft gerechnet (Abrams et al. 1981: 459); ihre Autoren haben die prestigetrachtigsten Lehrsttihle inne. Aber selbst noch in den letzten zehn Jahren sind wohl iiber ein Dutzend Monographien und in den englischen Fachzeitschriften Dutzende von Artikeln erschienen, die sich mit dem Begriff der „Klasse" und seiner Aktualitat fur die zeitgenossische laitische Gesellschaft befassen (vgl. u.a. Goldthorpe/Marshall 1992; Lee 1994; Lee/Turner 1996; Scott 1996, 1997, 2001; Marshall et al. 1997; Skeggs 1997; Crompton 1998; Crompton et al. 2000; Roberts 2001). Dies ist ein frappierender Gegensatz zu der parallel dazu lawinenartig angeschwollenen Literatur zu Lebensstilen in Deutschland, aber auch zur geringen Anzahl ahnlicher Studien in Frankreich (Lemel 1988: 110). Diese Schwerpunktbildung hat eine alte Tradition. Schon im 19. Jahrhundert war GroBbritannien fiihrend in der Entwicklung der Tradition der „social surveys", in denen umfassende Daten iiber die Lebenslage benachteiligter sozialer Klassen und Schichten erhoben wurden (man denke hier an Booth, Rowntree und andere; vgl. dazu Kern 1982: 67ff.). In der Nachkriegszeit wurde diese Tradition fortgefiihrt in einer Vielzahl soziologischer Studien uber Ungleichheit in der britischen Gesellschaft, iiber den Wandel des Klassenbewusstseins der Arbeiter, iiber wirtschaftliche und politische Eliten usw. Auch der Soziologie benachbarte Disziplinen wie Erziehungswissenschaft, Sozialgeschichte, Politikwissenschaft, Soziallehre und Sozialpolitik griffen immer wieder verwandte Fragestellungen auf (man denke an so renommierte Autoren wie B. Bernstein, E.J. Hobsbawm, E.P. Thompson, T.H. Marshall). Ich kann hier nur in Stichworten auf die Griinde fiir diese erstaunliche Lebendigkeit der Befassung mit Fragen sozialer Klassen und sozialer Ungleichheit in GroBbritannien eingehen. Vier Aspekte scheinen mir dabei wesentlich. Der erste Aspekt betrifft die inhaltliche Ausrichtung des vorwiegend verwendeten Klassenbegriffes bei englischen Sozialwissenschaftlern. Die allgemeine Anerkennung und Verwendung dieses Konzeptes hangt zunachst damit zusammen, dass es sich hier um einen relativ breiten, empirisch ftmdierten, nicht auf eine spezifische theoretische Tradition eingeengten oder ideologisch vorbelasteten Klassenbegriff handelt, der daher gut fur unterschiedlichste Fragestellungen adaptiert werden kann. Betont wird die Multidimensionalitat der Klassenlage, aber auch ihre Fundierung in objektiv-materiellen und organisatorischen Strukturen (etwa im Unterschied zwischen korperlicher und geistiger Arbeit, selbstandiger und lohnabhangiger Arbeit usw.; vgl. Goldthorpe/Bevan 1977: 298). Am nachsten steht dieser Ansatz dem Weberschen Begriff der „so-
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zialen Klassen", der auch eher ein synthetisches, empirisch-induktiv defmiertes Konzept darstellt, wenn „soziale Klassen" als die Gesamtheit jener Klassenlagen definiert werden, zwischen denen inter- und intragenerationale Mobilitat moglich ist (Weber 1964/1: 223-227). Ein zweiter Erklarungsansatz fur das Verstandnis der Prominenz des Klassenbegriffes in der britischen Soziologie ist, wie in den anderen Landem, in der spezifischen Sozialstruktur der englischen Gesellschaft zu suchen. England war bekanntlich der Vorreiter der industriellen Revolution, mit alien Vor- und Nachteilen einer solchen Position. Zu den Vorteilen gehorte die wirtschaftliche Dynamik und Starke des Landes; um 1870 erzeugte das Vereinigte Konigreich noch 31,8 Prozent der industriellen Produktion der Welt (Habakkuk/Postan 1965: 25). Infolge der arbeitsintensiven Produktionsweise der frtihen Industrialisierung wuchs die britische Arbeiterklasse auf einen Umfang, wie er in keinem anderen Land der Welt mehr erreicht wurde. Die andere Seite dieser Entwicklung war eine beispiellose Verelendung der Arbeiterklasse, die vor allem Friedrich Engels in seinem Werk „Zur Lage der arbeitenden Klasse in England" eindrticklich beschrieben hat (vgl. dazu Pohlmann 1997: 87ff.). Dem stand eine luxuries lebende upper class gegentiber, mit enormen Einkiinften aus industriellen Untemehmungen und kolonialer Ausbeutung im Rahmen des Imperiums. Die Ungleichheit der Einkommensverteilung war in England Ende des 19. Jahrhunderts deutlich hoher als anderswo in Westeuropa (Kaelble 1983: 41). Es ist daher kaum verwunderlich, dass in GroBbritannien heute - neben Frankreich traditionelle klassen- und schichtspezifische Differenzen im Alltagsleben noch immer am deutlichsten spurbar sind. Historisch ist dies ein paradoxes Faktum, war ja GroBbritannien das Land, in dem sich auch die politische Demokratie zuerst entfaltet hat. Typisch fur GroBbritannien ist aber, dass sich diese Entwicklung weniger in abrupten, revolutionaren und lo*iegerischen Umbrtichen vollzog (wie in Frankreich und Deutschland), sondern in einer kontinuierlichen Abfolge von Reformen, sodass alte Institutionen neben den neuen weiter bestehen konnten. Zu nennen sind hier das Konigshaus und der Adel und aristokratische Bildungsinstitutionen. So spielen die Public Colleges und die Universitaten Oxford und Cambridge („Oxbridge") bei der Kanalisierung des Zugangs zu den Schaltstellen von Macht und Privileg trotz sozialistischer Bildungsreformen und allgemeiner Bildungsexpansion immer noch eine herausragende Rolle (Ellis 1994). Eine dritte Ursache fiir die Lebendigkeit der klassentheoretischen Diskussion und Forschung in GroBbritannien betrifft den Charakter der britischen Arbeiterbewegung und des politischen Systems Englands. Die britische Arbeiterbewegung war seit Beginn des 20. Jahrhunderts stark auf Arbeiterfragen im engeren Sinne bezogen und reformistisch eingestellt. Dies hing auch damit zusammen, dass sie - im Unterschied zur Sozialdemokratischen Partei Deutsch-
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lands - viel langer und mit nachhaltigerem Einfluss Regierungsverantwortung innehatte. Vor allem der Zweite Weltkrieg brachte eine enorme Verstarkung des Einflusses von „sozialistischen" Ideen mit sich/^ als England mit dem Beveridge-Plan eine sozialpolitische Pionierleistung erbrachte, indem ein umfassendes gesamtstaatliches Versicherungs- und Gesundheitssystem eingefUhrt wurde. Auch in GroBbritannien blieb die These von der Persistenz des Klassencharakters der Gesellschaft nicht ohne Widerspruch, wobei ihre Proponenten auf eine alte Tradition liberalistischen Denkens (z. B. Burke) zurtickgreifen konnten. In der Soziologie hat Ferdinand Zweig schon 1961 unter Verv^eis auf die gestiegenen Einkommen und die Ausbreitung ehedem (klein-)burgerlicher Lebensstile bei den Arbeitern die These von deren Verburgerlichung aufgestellt; die bekannte umfassende empirische Studie liber die „wohlhabenden Arbeiter" von Goldthorpe et al. (1971) war eine direkte Reaktion darauf; sie belegte die trotz Einkommenssteigerungen fortdauernde Bedeutung der Unterschiede zwischen den Inhabern von blue collar- und white co//ar-Berufspositionen. In jtingerer Zeit spielt der Klassenbegriff bei dem international bekanntesten englischen Soziologen, Anthony Giddens, iiberhaupt keine RoUe mehr; er hat sich sogar der Position von Beck angenahert (vgl. Beck et al. 1996). Die machtigsten neueren Proponenten der These vom Verschwinden der Klassenlosigkeit waren in jungerer Zeit aber die konservativen politischen Eliten und Regierungen (vgl. z. B. Thatcher 1993). Wie kaum eine andere westliche Demol<jatie war GroBbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg durch eine Abfolge von ideologisch stark gegensatzlich ausgerichteten Regierungen charakterisiert. Berlihmt wurde der Ausspruch von Margret Thatcher, deren Wahlsieg wesentlich zum weltweiten Aufstieg einer Periode des Neoliberalismus beitrug: „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen."^^ Margaret Thatcher belieB es bekanntlich nicht bei einer Rhetorik, sondern setzte weit reichende Reformen durch, welche die Macht der britischen Gewerkschaften und die Leistungen des britischen Wohlfahrtsstaates stark einschrankten. In das gleiche Horn wie Thatcher stieB ihr Nachfolger, John Major, als er versprach, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten. Selbst der sozialistische Nachfolger von Major, Tony Blair verblieb noch im
'^ „Warfare and welfare seemed to go together" schreibt ein englischer Sozialhistoriker (Briggs 1987:315) '^ In der Biografie tiber ihre Regierungsjahre ruckt Thatcher diesen von den Medien haufig kolportierten Satz allerdings tiberzeugend ziirecht, indem sie schreibt, ihre seinerzeitigen weiteren AiisfOhrungen seien nicht zitiert worden; darin habe sie nur klargemacht, dass es nur hidividuen sind, welche handeln, und dies auch im Rahmen von Gemeinschaften wie Gemeinde, Nation oder Staat. Dies ist eine Sicht, die vollkommen jener von Max Weber (1964/1: 10) entspricht, der genauso feststellt, soziale Gebilde wie Nation oder Staat batten nur insofern eine Existenz, als sie „Ablaufe und Zusammenhange spezifischen Handelns einzelner Menschen darstellen."
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Rahmen einer liberalistischen Denkweise, als er versprach, alien Englandem den Aufstieg in die Mittelklasse eroffnen zu woUen (Roberts 2001: lOff.) Die konservativen britischen Eliten scheinen sich damit sehr weit von der dominanten Meinung der Briten selber entfernt zu haben. Mehrere Soziologen haben empirisch belegt, dass die groBe Mehrheit der Briten glaubt, dass soziale Klassen und Klassenkonflikt weiterhin existieren, sich zu den einfacheren Klassen (working class) rechnet und dass die Eliten eine herrschende Klasse bilden. Gallup-Umfragen Mitte der 1960er Jahre haben erbracht, dass 48 Prozent der Briten glaubten, es gebe weiterhin einen Klassenkonflikt; 1974 waren dies schon 74 Prozent und 1996 sogar 76 Prozent (Kirby 1999: 90; Roberts 2001: 10). Aufgrund derartiger Befunde folgert der Soziologe Milner wohl zu Recht (1999: 11): „Class is to the fore among conceptions of collective identity. It is still the case that important differences in shared beliefs and values are structured most obviously by class than by other sources of social cleavage... there has been no secular decline in the tendency for collective identities and collective action to develop on a class basis" (vgl. auch Marshall et al. 1997; Evans 1999). Ken Roberts (2001: 12) argumentiert - und man muss ihm darin wohl zustimmen -, dass der Klassenbegriff seine Bedeutung nur unter den folgenden drei Umstanden verlieren wurde: (1) Wenn es nicht mehr moglich ware, die Berufe in relativ homogene Klumpen zusammenzufassen (mit Weber konnte man hier auch von „Klassenlagen" sprechen); (2) wenn die berufliche Lage eines Menschen keine wesentliche Determinante seiner sonstigen sozialen Lage und Einstellungen mehr darstellen wurde; und wenn (3) zwischen den groBen Berufsclustern oder -klassen und Politik kein Zusammenhang mehr besttinde. Eine vierte Ursache fur die herausragende Stellung des Begriffes der sozialen Klassen liegt in den spezifischen geistig-kulturellen Traditionen der britischen Gesellschaft. Hier war zum einen der starke Einfluss religioser Traditionen wichtig, zum anderen der Intellektuellen-Sozialismus der „Fabier", die - in strikter Ablehnung marxistisch-revolutionarer Ideen - auf eine Modernisierung der Gesellschaft durch Sozialreform hinarbeiteten. Ihre geistigen Wurzeln waren einerseits spezifisch englische philosophische Traditionen (wie Liberalismus, Utilitarismus, Positivismus usw.), aber auch religiose Erneuerungsbewegungen (wie Evangelikalismus, Puritanismus u.a.). Besonders wichtig war hierbei der Tatbestand, dass das evangelikale Christentum „eine Brucke zwischen den Klassen" darstellte, „zum einen rein organisatorisch durch die Struktur der Freikirchen, zum anderen durch die Schafftmg eines moralischen Grundkonsenses. Das evangelikale Gewissen kam einer offentlichen Instanz gleich, die in politischen und sozialen Fragen anrufbar war, ohne dass diese Moralitat als Ideologie einer Klasse verschrien werden konnte. Kein anderes Land hat eine ahnlich groBe Zahl von humanitaren Sozialreformern und Philanthropen aus den oberen Klas-
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sen hervorgebracht, die in unzahligen freiwilligen Hilfsorganisationen ihre soziale Wirksamkeit entfalteten" (Wittig 1982: 118). Die funktionalistische Schichtungstheorie als Kerntheorie sozialer Ungleichheit der amerikanischen Konkurrenzgesellschaft. Wieder eine vollig andere Situation zeigt sich, wenn man die Vereinigten Staaten von Amerika betrachtet. Bei aller inhaltlichen Breite und Vielfalt der Forschung in diesem Lande kann man auch hier eine klar dominante Ausrichtung erkennen - zumindest bis in die jtingere Zeit, obwohl es in den USA auch schon friiher gesellschaftskritische Positionen gab, die man aber deutlich als Abweichung vom mainstream bezeichnen muss (Thorstein Veblen, C. Wright Mills in jtingerer Zeit, Neomarxisten wie Erik O. Wright, John Roemer u.a.). Es ist dies eine Tradition, die die Offenheit und „Multidimensionalitat" der Sozialstruktur, die Bedeutung von individueller Leistung sowie die subjektiven Aspekte sozialer Schichtung (Status- und Prestigephanomene) thematisiert. Eine Betrachtung auch der „herrschenden" US-amerikanischen Ungleichheitstheorie ist in diesem Zusammenhang aus zwei Grtinden geboten: (1) Nur durch eine Einbeziehung dieser Theorie wird die ganze Bandbreite Ungleichheitstheorien und -ideologien im internationalen Kontext sichtbar. Nur in den USA wurde eine Perspektive entwickelt, der es nicht um die Analyse der Ungleichheit unter dem Aspekt ihrer Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit geht, sondern um die Legitimation solcher Ungleichheiten, um den Nachweis ihrer Unvermeidlichkeit aufgrund der biologisch-sozialen Natur des Menschen und ihrer Notwendigkeit fiir das Funktionieren und die Hoherentwicklung der Gesellschaft. (2) Die Vereinigten Staaten sind die einzige moderne und fortgeschrittene, mit der Europaischen Union vergleichbare „GroBgesellschaft." Wenn sich in den USA ein mehr oder weniger einheitliches Paradigma der Ungleichheitsforschung herausgebildet hat, konnte man folgern, dass dies - zumindest theoretisch - auch in der Europaischen Union friiher oder spater der Fall sein konnte. Hartmut Kaelble (1983: 99ff.) hat dezidiert behauptet, dass in den westeuropaischen Landern seit dem Zweiten Weltkrieg „eine rasante Angleichung" stattgefunden hat, mit dem Ergebnis, dass „die Unterschiede im Innern Westeuropas geringer geworden (sind) als zwischen den amerikanischen Bundesstaaten" (ebd.: 103). Wenn dies stimmt, dann ware auch seine Folgerung richtig, dass eine ausschlieBlich nationalhistorische Perspektive der sozialhistorischen Betrachtung fur Europa immer mehr an Berechtigung eingebuBt hat. Als ^Kerntheorie" des amerikanischen Denl<:ens liber Ungleichheit kann man die funktionalistische Schichtungstheorie bezeichnen. Ihre Grundthesen wurden 1945 in einem der international meistdiskutierten Aufsatze von den beiden fiihrenden amerikanischen Soziologen Kingsley Davis und Wilbert E. Moore („Some principles of stratification", 1970) dargelegt. Sie lauten: (1) eine
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hoch differenzierte, moderne Gesellschaft weist eine Vielfalt unterschiedlicher gesellschaftlich-beruflicher Positionen auf; die mit ihnen verkniipften Verpflichtungen sind unterschiedlich angenehm, von unterschiedlicher Bedeutung fiir die Gesamtgesellschaft und mit unterschiedlich hohen Anforderungen an Begabung und Einsatz ihrer Inhaber verloitipft; (2) daher braucht jede Gesellschaft besondere Belohnungen, die mit diesen Positionen verkntipft sind, die als Anreize ilingieren konnen (es sind dies Dinge, die das Leben sicherer und angenehmer machen, Zerstreuung und Vergntigen bieten, Selbstachtung und -entfaltung ermoglichen); (3) das begabte und leistungsfahige Personal, das diese Positionen ausflillen kann, ist grundsatzlich begrenzt, der Erwerb der notwendigen Qualifikationen setzt lange, mtihsame Ausbildung voraus; (4) aus diesen Argumenten folgt, dass Ungleichheit im Allgemeinen und vertikale soziale Schichtung im Besonderen eine funktionale Notwendigkeit jeder differenzierten Gesellschaft darstellt, weil ihre Mitglieder dadurch zur Ubernahme und Auslibung anspruchsvoller, schwieriger und verantwortungsvoller Positionen motiviert werden. Ahnliche Grundannahmen beinhalten die schichtungstheoretischen Beitrage des einflussreichsten amerikanischen Soziologen der Nachl<Tiegszeit, Talcott Parsons: „From each according to his ability, to each according to his contribution." (Tausky 1965: 138) Einen weiteren einflussreichen Theoriestrang der amerikanischen Soziologie kann man ebenfalls klar als eine legitimatorisch-affirmative Ungleichheitstheorie interpretieren. Es ist dies die Theorie der beruflich-sozialen Differenzierung. Sie wurde am systematischsten ausgebaut vom renommierten amerikanischen Soziologen osterreichischer Herkunft, Peter M. Blau (1918-2002). In seinem Werk inequality and Heterogeneity. A Primitive Theory of Social Structure" (1977) entwickelte Blau eine sehr einfache und auf den ersten Blick sehr aussagelcraftige Theorie; man fmdet sie in zahlreichen Einftihrungskursen in die Soziologie der sozialen Ungleichheit. Soziale Ungleichheit wird demnach bestimmt durch die Parameter der Sozialstruktur. „Parameter" sind all jene gesellschaftlichen Dimensionen, die zu mehr oder weniger dichter Interaktion zwischen den durch sie defmierten Gruppen beitragen. Es gibt zwei Arten von Parametem: Nominalparameter, wie Geschlecht, Alter oder ethnische Zugehorigkeit, erzeugen horizontal Ungleichheit, Gradationsparameter, wie Bildung oder Einkommen, vertikale Ungleichheit. Je mehr solcher Parameter in einer Gesellschaft existieren, und je weniger sie miteinander korrelieren, desto hoher ist der Grad an Vielfalt „multiformer Heterogenitdt"; je mehr die Parameter zusammenfallen, desto starker ist die strukturelle Konsolidierung. In diesem Fall sind die unterschiedlichen sozialen Gruppen verfestigte soziale Klassen und Schichten, im Extremfall Kasten - durch eine Vielzahl gemeinsamer Merkmale charakterisiert. Daher ist die Chance hoch, dass sie spezifische Lebensstile aus-
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bilden, sich weitgeliend voneinander abschotten, und - im Falle einer vielfaltigen Benachteiligung - moglicherweise auch revolutionare Ideologien entwickeln. Veranderungen in der soziaien Ungleichheit, so Blau (1977: 255, LFbersetzung von mir, MH) „sind vollstandig determiniert durch drei Bedingungen: (1) schichtspezifische Unterschiede in der Nettofertilitat - Geburtsraten minus Sterberaten; (2) schichtspezifische Differenzen in der Einwanderung - Einwanderung minus Auswanderung ; (3) interne Mobilitat." Der Strukturwandel sozialer Ungleichheit wird hier als ein rein demographisch-statistischer Prozess dargestellt; Interessen von Gruppen und Klassen, Fragen der Macht spielen keine RoUe. Einen Trend, der zur Zunahme der Ungleichheit der Macht fiihrt, sieht Blau allerdings im Wachstum der groBen Organisationen: Je groBer Organisationen, desto mehr Untergebene haben die Manager unter sich. Auch dieses Wachstum sieht er aber als einen, man konnte sagen, rein demographischfunktionalen Prozess. Dass eine solche Sichtweise recht mechanistisch ist, sieht man gerade heute sehr deutlich - in einer Periode, in der wir uberall auf der Welt erbitterte Machtkampfe zwischen den Spitzenmanagern der multinationalen Konzerne miterleben konnen, in denen es darum geht, moglichst viele der kleineren Mitkonkurrenten auf den jeweiligen Markten auszubooten oder zu „verschlucken", um dadurch an GroBe und Macht zu gewinnen (vgl. z. B. Korten 1995; Konig 1999; Ziegler 2003). Am unteren Ende der Schichtungshierarchie sieht Blau - wie Herrnstein und Murray (1994) in ihrer Theorie der Bell-Kurve - einen circulus vitiosus am Werk derart, dass Armut und Benachteiligung (vor allem bei Schwarzen) sich von Generation zu Generation vererben und verfestigen (vgl. auch Blau/Duncan 1967: 104). Auch diese Diagnose ist heute so nicht mehr haltbar. Dies gilt zum einen, well Armut haufig keine lebens- oder gar generationenlang persistente Lage darstellt, sondern vor allem in bestimmten Lebensphasen auftritt (Barlosius/Mayerhofer 2001; Leibfried/Voges 1992). Zum anderen gilt fur die USA, dass Armut auch bereits viele Menschen mit Vollzeitjobs oder Familien der „respektablen" Arbeiter- und Mittelschichten treffen kann; im internationalen Vergleich fortgeschrittener Lander weisen die USA nach alien moglichen Definitionen den hochsten Anteil an Armen auf (Kohl 1992). In der amerikanischen Soziologie hat die funktionalistische Schichtungstheorie heute praktisch keine Verfechter mehr, nachdem schon in den 1960er und 1970er Jahren eine umfangreiche kritische Debatte daruber stattgefunden hat, die u.a. aufzeigte, dass der Funktionalismus zum Teil Ursachen und Wirkungen verwechselt, Ungleichheit nicht nur zu Integration, sondern auch zu Konflikt fiihren und exzessive, vor allem verfestigte Ungleichheit den Aufstieg von Talentierten auch verhindern kann.
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Seit den 1970er Jahren ist die amerikanische Soziologie insgesamt deutlich kritischer geworden als der mainstream der offentlichen Meinung und insbesondere der politisch Herrschenden in den USA (Burawoy 2005). Auch im Bereich der Schichtungsforschung gibt es system- und ungleichheitskritische Ansatze (vgl. Sennett/Cobb 1972; Lenski 1973; Collins 1975; Jencks 1977; Hout et al. 1993). Im alltaglichen und offentlichen Leben ist der Funktionalismus jedoch immer noch einflussreich, wie Ken Roberts (2001) anmerkt (vgl. auch Collins 1996). Er wird heute sogar wieder starker, da wir in einer Periode leben, in der das Erzielen hoher Kapitalrenditen - was vor allem durchsetzungsfahige Manager zu erreichen scheinen - zu einem Hauptzweck von Unternehmen geworden zu sein scheint (Roberts 2001: 5). Es gibt aber weitere Autoren und Forschungstraditionen, die in den USA sehr einflussreich geworden sind, die ebenfalls sehr deutlich in diese Tradition einer affirmativen Ungleichheitstheorie und -analyse einzuordnen sind. Im alltaglichen und offentlichen Leben ist der Funktionalismus jedoch noch immer einflussreich (Roberts 2001; Danziger/Gottschalk 1993). Er wird heute sogar wieder starker, da wir in einer Periode leben, in der das Erzielen hoher Kapitalrenditen - was vor allem durchsetzungsfahige Manager zu erreichen scheinen - zu einem Hauptzweck von Unternehmen geworden ist. Es gibt noch weitere Autoren und Forschungstraditionen, die in den USA sehr einflussreich geworden sind und ebenfalls sehr dezidiert das „Ende der Klassengesellschaft" diagnostizieren. Hier ist etwa die Theorie des Industrialism mus zu nennen, die vom Okonomen Clark Kerr und Mitautoren vorgelegt wurde (Kerr et al. 1966). Demnach ist die Marxsche Interpretation der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften vollig falsch; der Radikalismus der Arbeiterklasse nimmt nicht zu, sondern ab; reife kapitalistische Gesellschaften entwickeln neue und effizientere Formen des Managements, der Technologic, der Entwicklung von Wissen und seiner Anwendung, der sozialen Mobilitat. Als Folge wird der Klassenkonflikt durch zunehmenden gesellschaftlichen Konsens ersetzt. Die Theorie von Kerr und Koautoren fand eine direkte Weiterentwicklung und Verallgemeinerung in den ebenfalls sehr einflussreichen Arbeiten des Soziologen Daniel Bell. In seinen auBerst erfolgreichen Btichern „The End of Ideology" (1975) und „The Coming of Post-Industrial Society"^"^ (1975) vertrat er die Auffassung, dass die Entwicklung der Industriegesellschaft zu einem Ende aller „Ideologien" ftihren werde. Die Entwicklung der postindustriellen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur beschreibt er ganz ahnlich wie Kerr et al.: es gibt eine fundamentale Umschichtung der Berufsstruktur von primaren und se^^ Das erste wurde, wie auch ein weiteres Buch von Bell (The Cultural Contradictions of Capitalism), vom Times Literary Supplement zu den 100 erfolgreichsten Btichern der zweiten Halfte des 20. Jalirhunderts gezahlt.
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kundaren, produzierenden, zu tertiaren Dienstleistungen; in diesen Bereichen gewinnen vor allem die neuen Wissensindustrien und die damit verbundenen Berufe an Bedeutung. Bell nimmt auch klar Stellung zur Frage der Klassen in der postindustriellen Gesellschaft. In einer radikalen Volte behauptet er aber nicht das Verschwinden der Klassen, sondern den Aufstieg einer neuen Klasse, der Wissenschaftler, zur bestimmenden Klasse. AUerdings bezeichne Klasse in der postindustriellen Gesellschaft „nicht mehr eine bestimmte Personengruppe, sondern ein System, das die Grundregeln fur die Erlangung, Erhaltung und Ubertragung von Macht samt den zugehorigen Vorrechten institutionalisiert hat" (Bell 1975: 260). Der Klassenbegriff wird hier also seines wesentlichen Elements - dass es sich um konkret identifizierbare Gruppen von Menschen handelt - beraubt. Zu erwahnen ist in diesem Zusammenhang schlieBlich, dass auch die These vom Verschwinden der Klassen schon am frlihesten in den USA vorgebracht worden ist. Schon 1959 veroffentlichte Robert Nisbet einen Aufsatz mit dem Titel „The decline and fall of social class." 1991 folgte ein ahnlicher von T. N. Clark und S. M. Lipset („Are social classes dying?"). Das Hauptargument dieser Autoren war, dass die Klassentheorie fur fruhere Zeiten Guhigkeit gehabt haben mochte, heute jedoch zunehmend unbrauchbar werde, weil sich traditionelle Hierarchien auflosen, neue soziale Differenzierungen entstehen und die Klassenzugehorigkeit das politische und soziale Verhalten der Menschen immer weniger bestimme. Es sind dies im Grunde die gleichen Argumente, die auch von den zahlreichen deutschen Differenzierungstheoretikern vorgebracht wurden und werden.^^ Im Vergleich zu alien bisher besprochenen Ansatzen haben wir bei all diesen Autoren eine vollig neuartige Argumentationsfigur vor uns: es geht nicht mehr um eine kritische Betrachtung und Analyse von klassen- und schichtbezogenen Ungleichheiten, wie sie bei den franzosischen und britischen Soziologen vorherrschte, auch nicht um die Behauptung einer zunehmenden Irrelevanz dieser Formen der Ungleichheit, wie im Falle Deutschlands, sondern um eine offensive Strategic der Rechtfertigung und Legitimierung von Ungleichheit selber. Besonders deutlich ist dieser Charakter in der besonders umfangreichen amerikanischen Forschung zur sozialen Mobilitdt, die normativ als zentral fur eine moderne, offene Gesellschaft erachtet wird, und von der man auch glaubt beweisen zu konnen, dass sie in Amerika bereits weitgehend realisiert worden ist
'•'* Die jiingste, ausftihrlichste Darlegimg der These vom „Tod der Klassen" stammt allerdings von zwei australischen Soziologen, Jan Pakulski und Malcolm Waters (1996). Zwischen der australischen und US-amerikanischen Soziologie bestehen allerdings sehr enge Beziehungen, sowohl personell wie ideengeschichtlich.
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(vgl. die Arbeiten von S. M. Lipset, H. Zetterberg, R. Bendix, P.M. Blau, O.D. Duncan, D. Treiman u.v.a.). Wie konnte es im Vergleich zu Frankreich und besonders GroBbritannien (einer kulturell sehr „verwandten" Gesellschaft) zu einer so anderen Perspektive kommen? Auch im Falle Amerikas sind, wie in alien anderen Fallen, sowohl objektive Charakteristika der Sozialstruktur, institutionelle Eigenheiten sowie geistig-ideelle Stromungen in Betracht zu ziehen. Zu alien dreien einige Stichworte. 1) Die strukturell-historischen Eigentumlichkeiten der US-amerikanischen Gesellschaft und ihrer Entwicklung im Vergleich zu Europa durften auBer Frage stehen. Dieses Land kannte die alteuropaischen Feudal-, Stande-, und Herrschaftsstrukturen von Anbeginn an nicht, ja, seine Institutionen wurden teilweise in bewusstem Gegensatz zu jenen entwickelt; es wurde von seinen Bewohnern praktisch selbst aufgebaut und bot diesen durch Jahrhunderte einen nahezu grenzenlosen Siedlungsraum; seine Einwanderer entstammten kulturell und politisch unterschiedlichsten Landern; heute ist die ethnische Vielfalt so hoch wie in kaum einem anderen Land der Welt (vgl. dazu die klassischen Darstellungen von Alexis de Tocqueville, Werner Sombart u.a. sowie von zeitgenossischen Sozialwissenschaftlern wie Lipset 1963; Willi 1966; Parsons 1972; Mtinch 1986). Die Entwicklungstrends wie auch die heutigen objektiven Eigenheiten der US-amerikanischen Sozialstruktur sind jedoch bei weitem nicht so unterschiedlich zu anderen entwickelten Landern wie die Erklarungen dafiir (fur Analysen der faktischen Ungleichheiten vgl. z. B. Erikson/Goldthorpe 1985; MUller/Kurz 1987; Haller 1989a; Danziger/ Gottschalk 1993; Hout et al. 1993; Shavit/Blossfeld 1993). 2) In institutionell-politischer Hinsicht ist vor allem die trade-unionistische Ausrichtung der amerikanischen Gewerkschaften, das Fehlen einer einflussreichen sozialistischen Partei sowie die starke politisch-regionale Differenzierung (Foderalismus) zu nennen. In einem solchen System sind landesweite Bewegungen und Proteste viel schwerer zu organisieren als in einem stark zentralisierten Land. Seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts spielt die zunehmend enge Verflechtung zwischen industriellem GroBkapital, militarischen Rtistungsinteressen und Politik eine immer bedeutendere Rolle, was einen US-Prasidenten (D. Eisenhower) bewog, von einem neuen, bedrohlichen „militarisch-industriellen Komplex" zu sprechen (vgl. dazu u.a. Baltzell 1964; Bosch 1969; Mills 1977). 3) In geistig'kultureller Hinsicht sind drei Hauptstrange typisch flir das amerikanische Geistesleben (vgl. u.a. Willi 1966; Ions 1970; Mtinch 1986): (a) die Tradition der Vorsehung und Auserwahltheit (providential tradition), die zuriickgeht auf die Pilgervater, die nicht zuletzt aus religios-politischem Selbstandigkeitsstreben und Sendungsbewusstsein Europa verlieBen und hofften, im „ge-
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lobten Land" Amerika Freiheit, Unabhangigkeit und besondere Segnungen und Gnaden erwarten zu konnen. (b) Aus diesem Sendungsbewusstsein heraus ist auch der besondere Rechtfertigungs- oder Legitimationscharakter zu verstehen, unter dem das amerikanische Denken seit jeher steht; er klingt bereits in der Unabhangigkeitserklarung von 1776 durch, in welcher der Krieg gegen und die Abtrennung vom Mutterland England begrundet und als „gerecht" dargestellt wird; dieser Zug spielt bis heute eine wesentliche Rolle in der amerikanischen Politik. (c) Die Hochschdtzung von Selbstverantwortung und Selbsthilfe, individuellem Unternehmertum usw., verbunden mit einer Ethik des Pragmatismus. Insbesondere aus der individualistischen Grundhaltung der amerikanischen Okonomie^^ und Sozialwissenschaften ist es zu erklaren, dass ein groBer Widerstand dagegen besteht, gruppenspezifische Benachteiligungen anzuerkennen oder rechtliche und politische MaBnahmen fur solche zu setzen. Genau genommen besteht dieser Widerstand aber nur gegentiber Gruppeninteressen spezifischer Art, denn - wie der Okonom Lester Thurow (1981: 171) schreibt: „Die gleichen Leute, die sich gegen spezielle HilfsmaBnahmen ftir Schwarze aussprechen, beftirworten sie ftir die Textilindustrie", die Bauern, die Auto- und Flugzeugproduzenten usw., konnte man anfiigen. Unser tour d'horizon hat gezeigt, wie unterschiedlich die Bilder und Theorien der Klassen- und Sozialstruktur sind, die Soziologen in Frankreich, GroBbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika im Vergleich zu Deutschland entwickelt haben. Wir konnen nun zuriickkommen auf den Fall Deutschland und versuchen, Erklarungen fiir die spezifische Ungleichheitsinterpretation in diesem Lande zu entwickeln. 3
Die deutsche Sozialstrukturideologie in historisch-soziologischer und vergleichender Perspelitive Ankniipfend an die wissenssoziologischen Uberlegungen am Beginn dieses Beitrages mochte ich nun auch systematisch und etwas ausfuhrlicher die in der deutschen Nachkriegssoziologie dominante These von der Ablosung der Klassen und Schichten aus zwei Perspektiven besprechen: zum einen aus einer historisch-soziologischen Sicht, zum anderen aus wissenssoziologischer Sicht, vor dem Hintergrund spezifisch deutscher politischer und geistiger Traditionen.
'^' Auch im Bereich der Okonomie haben die weltweit prominentesten und einflussreichsten Vertreter der prononciert marktliberalistischen, neoklassischen Theorie in den Vereinigten Staaten gewirkt (in der Nachkriegszeit z. B. Milton Friedman, James Buchanan, G. Becker), wahrend Okonomen, die auch Staatsinterventionen in die Okonomie oder Ziele wie Umverteilung als unerlasslich betrachten, fast nur in Europa zu fmden sind (am prominentesten dafUr wohl der Englander John M. Keynes); vgl. dazu Schneider u.a. 1983.
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Die Individualisierungsthese als zutreffende Charakterisierung objektiv-faktischer Merkmale und Trends der jungeren deutschen Gesellschaft. Man kann in der Tat behaupten, dass die deutsche Gesellschaft des 20. Jahrhunderts starker als andere fortgeschrittene Gesellschaften starke Umbruche, vielfaltige Differenzierungsprozesse und einen spektakularen Wohlstandszuwachs erlebte und dadurch in vielem von jenem Frankreichs und GroBbritanniens abwich. Ftir diese These sprechen eine Reihe von Fakten (vgl. Dahrendorf 1968; Schoenbaum 1980; Doering-Manteuffel 1983; Hettlage 1990). 1) Mit der Abfolge von vier unterschiedlichen Systemen, die Deutschland in diesem Jahrhundert durchmachte (Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, foderalistische Bundesrepublik) waren auch fundamentale wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Umwalzungen verbunden, die die Arbeitsund Lebensbedingungen fur eine Vielzahl individueller und kollektiver Akteure veranderten. 2) Damit waren insbesondere auch erhebliche Wechsel (wenn auch keineswegs vollige Austauschprozesse) in den herrschenden Eliten verbunden. Die detaillierte Analyse von Zapf (1965) belegt jedoch zweierlei: zum ersten betraf der Austausch von Eliten groBteils nur die hochsten Positionen (und selbst diese nicht alle), wahrend auf den breiten Ebenen darunter hohe personelle Kontinuitat bestand. Zum zweiten erfolgte keine generelle Offnung und Erhohung der Mobilitat, sondern im Gegenteil eine Oligarchisierung, d.h. ein zunehmender Verbleib der Inhaber von Elitepositionen in diesen bis zu ihrer Pensionierung bzw. ihrem Ableben. 3) Die Grenzverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg brachten massive Fluchtlings- und Wanderungsstrome aus den ehemaligen Ostgebieten und der DDR in den Westen; sie involvierten eine kollektive Mobilitat von nahezu 15 Millionen Menschen (Zayas 1980). Durch sie wurden nicht nur die Berufskarrieren und Lebenslaufe der Betroffenen entscheidend bestimmt, es wurden auch ehemals weitgehend homogene Gebiete Westdeutschlands deutlich heterogener (etwa in konfessioneller Hinsicht). 4) Die Etablierung einer foderalistischen, demol
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den anderen groBen westeuropaischen Landern unterscheiden. Diese iconnen hier nicht im Detail dargestellt werden. Exemplarisch ist jedoch zu verweisen auf die besondere Form des Bildungswesens (insbesondere die „duale", betrieblich-schulische Berufsausbildung sowie eine friihe schichtspezifische Selektion der Schtiler), die betriebliche Mitbestimmung, die gewerkschaftliche Zentralisierung, den spezifischen Wohlfahrtsstaat. Viele dieser Eigenheiten der deutschen Entwicklung sprechen in der Tat fur eine geringere Bedeutung bzw. eine besonders deutliche Abnahme von klassenbezogenen Ungleichheiten in diesem Lande nach 1945. Es ist jedoch nicht zu ubersehen, dass viele von ihnen keine spezifischen Phanomene dieser Zeit darstellen. Auch lassen sich soziologischempirische Einwande gegen fast alle Interpretationen vorbringen, die Schelsky, Beck und andere in Bezug auf diese Trends entwickelt haben. Soziologische Kritik der Thesen von der Individual is ierung und Ablosung der Klassen und Schichten. Ohne Anspruch auf VoUstandigkeit mochte ich hier sechs Thesen aufstellen. Fiir diese Thesen kann man inzwischen eine recht umfangreiche Literatur anfiihren, die im Detail gezeigt hat, dass die dominante deutsche Sozialstruktur-„Theorie" einer empirischen Prtifung kaum standhalt (vgl. u.a. Erbsloh 1990; Holtmann 1990; Shavit/Blossfeld 1993; GeiBler 1996; Muller et al. 1997; Muller 2000). 1) Die These von der revolutionaren Bedeutung der allgemeinen Wohlstandssteigerung verkennt zwei Aspekte: zum einen die nach wie vor zentrale Bedeutung der weitgehend konstant gebliebenen Ungleichheitsrelationen und Mobilitdtsbarrieren, Macht- und Prestigedifferentiale fiir eine Vielzahl individueller und kollektiver Prozesse (vgl. auch Hirsch 1980; Valle 1992), zum anderen die Entstehung neuer, auch absoluter Benachteiligungen und Deprivationen, die zwar haufig eine „individualisierte", schwerer fassbare Form annehmen, aber trotzdem entlang vertikaler Klassen- und Schichtstrukturen verlaufen. 2) Die Abschwachung traditioneller sozialer Kategorien bzw. Kollektive muss nicht notwendig bedeuten, dass die Sozialstruktur insgesamt „individualisiert" wird. Zwar ist z. B. das Schicksal der „neuen Armen" vielfach aus deren individuellen Lebensschiclcsalen (z. B. den Folgen einer Ehescheidung) zu erklaren und nicht als kollektives Schicksal (etwa der Folge des Niedergangs eines ganzen Industriezweigs). Dennoch ist die Entstehung neuer, dauerhafter und umfassender Konfliktlinien und „GroBgruppen" nicht grundsatzlich ausgeschlossen; Frauen, alte Menschen, Behinderte, Bewohner bestimmter Regionen (etwa in der EU) usw. haben sich z.T. bereits mit Erfolg kollektiv organisiert. Bis weit in den HochkapitaHsmus hinein war auch „das Proletariat" weit von Einigkeit und Geschlossenheit entfernt (und ist es in manchen Landern bis heute). 3) Es wird verkannt, dass viele der anscheinend „neuen" sozialstrukturellen Differenzierungen und Prozesse keineswegs eine Ablosung traditioneller Klassen-
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und Schichtstrukturen implizieren, sondem vielfach nur entlang traditioneller klassen- und schichtspezifischer Differenzierungs- und Diskriminierungsprozesse entstehen bzw. sogar deren direl
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nicht operationalisiert habe und dass die von Schulze befragten Personen seine Diagnose nicht teilen (Rossel 2003).^^ K. M. Bolte traf noch Anfang der 1980er Jahre die Feststellung, die Forschung liber Ungleichheit in der Bundesrepublik sei eigentlich eher „sporadisch" und die vorhandenen Daten blieben „weit hinter den erstellbaren und wunschenswerten zuriick" (Bolte 1983: 407); im Vergleich zur Fulle an empirischen Studien in GroBbritannien ist diese Feststellung vielleicht heute noch zutreffend. Wenn all diese empirisch so schwach fundierten Arbeiten trotzdem in der deutschen Offentlichkeit einen so starken Widerhall gefunden haben, belegt dies nur zu deutlich, dass es sich hier in erster Linie um „Gesamtschauen" handelt, die eher wertbezogene Orientierung als wissenschaftlich fundierte Analysen bieten. 6) Der Verlust des gesellschaftskritischen Impetus der Ungleichheitsforschung. Auf dieses Faktum hat sehr treffend Rainer Geissler hingewiesen, wenn er meint, dass Ungleichheitsforschung meist auch mit gesellschaftslaitischen Anliegen verbunden und teilweise als soziale Ungerechtigkeit gesehen wird. Dies sei bei den neueren Ansatzen der Sozialstrukturanalyse anders: „Statt sich tiber Ungleichheiten zu ,argern', erfreuen sie sich zunehmend an der bunten und dynamischen Vielfalt der Lebensbedingungen und Lebensformen. Aus ihren Konzepten - Differenzierung, Pluralisierung, Diversifizierung, Individualisierung, Dynamik - ist der gesellschaftskritische Gehalt entwichen. Kritische Ungleichheitsforschung verwandelt sich unter der Hand in eine gesellschaftspolitisch mehr oder weniger unverbindliche Vielfaltsforschung..'' (Geissler 1994: 15; Hervorhebung im Original). Dies scheint mir in der Tat eine recht zutreffende Charakterisierung auch fur viele empirische Studien dieser Richtung zu sein (vgl. z. B. Schulze 1992). Wissenssoziologische Diskussion der Thesen von der Individualisierung und dem Verschwinden der Klassen und Schichten. Auch fur die deutsche Diskussion der Ungleichheitsproblematik gilt, dass sie letztlich in ihrer Relevanz erst voll verstanden werden kann, wenn man sie auf dem Hintergrund der spezifischen Erfahrungen, „ideologischen Interessen" und Ideengeschichte Deutschlands betrachtet. Dies soil abschlieBend nun in vier Thesen geschehen. 1) Die These von der revolutionaren Bedeutung der allgemeinen Wohlstandssteigerung kann man als eine soziologische Variante des dominanten „sozialen Mythos" der Bundesrepublik der Nachkriegszeit sehen. Man wird etwa bei den Ausfuhrungen Becks in frappanter Weise an die zentrale Zielsetzung der bun^" In einer neuen Studie bei Jugendlichen in Siidtirol wurde gefragt: „Welche Ziele in Deinem Leben mochtest Dii erreichen?" An 1. Stelle stand „eigene Familie mit Kindern" (77 Prozent), gefolgt von Berufserfolg; an 8. Stelle stand „moglichst viel erleben", genannt von 16 Prozent. Vgl. ASTAT Landesinstitut fur Statistik (Autonome Provinz Bozen-Stidtirol), Jugendstudie, Schriftenreihe Nr.ll4,Bozen2004, S.78.
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desrepublikanischen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit von Ludwig Erhard erinnert. Das Grundziei seiner „sozialen Marktwirtschaft" hieO „Wohlstand fUr alle", der rote Faden seiner Wirtschaftspolitik war „immer breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu flihren" (Erhard 1957). Als Instrumente ftir dieses Ziel betrachtete er die Sicherung des freien Wettbewerbs, die Erhaltung der Geldwertstabilitat und das Setzen flankierender MaBnahmen zur sozialen Absicherung. Erhard dachte bei der Verpflichtung, Wohlstand ftir alle zu schaffen, „vor allem an die endgiiltige Uberwindung des Klassenkampfes, der sicherlich bei der Zerstorung der Weimarer Republik eine verhSngnisvolle Rolle spielte... Uberwindung von Armut und Uberwindung von Klassenkampf waren ftir ihn gieichgewichtige Ziele" (Langer im Vorwort zu Erhard 1957: XXVI). Die Erhardsche und Adenauersche Politik, die Errichtung und Aufbau der Bundesrepublik pragte, muss zu einem guten Teil vor dem Hintergrund der tief gehenden ideologischen Krise Deutschlands in der Weimarer RepubHk gesehen werden. Problematisch ist an dieser Interpretation allerdings die In-Einssetzung der Ressentiments und Konflikte innerhalb der besitzenden und deklassierten Klassen und die Um-Interpretation der Kampfe um die Erhaltung der Demokratie mit einem „Klassenkampf' zwischen Lohnarbeit und Kapital (vgl. Lepsius 1968; Schoenbaum 1980). Zu erinnern ist hier daran, dass auch der Nationalsozialismus vordergriindig eine „klassenlose" Gesellschait propagierte und sich als Speerspitze im Kampf gegen die marxistische Ideologic betrachtete. Der Mythos der Wohlstandssteigerung hat sich angesichts der spektakularen wirtschaftlichen Erfolge der Bundesrepublik noch bis in die jiingste Zeit herein als tragfahig erwiesen (Hettlage 1990: 58). Von einem „Mythos" kann man hier sprechen, well er zu einer Unterbelichtung der faktischen Bedingungen ftihrt, die den Aufstieg der Wirtschaftsmacht BRD mit ermoglichten; hier sind zu nennen die Wachstumsblockierung der Zwischenl<jiegszeit, die nur geringen Zerstorungen industrieller Anlagen durch den Krieg, die Hilfestellung der Besatzungsmachte, das Vorhandensein eines hoch qualifizierten Arbeitskraftpotentials u.a. (vgl. Janossy 1966; Lutz 1984). 2) Die Individualisierungsthese ist in gewisser Hinsicht zu sehen als Fortsetzung einer alteren Tradition konservativer deutscher Gesellschaftskritik. Ein Autor stellte fest, hier sei die Kritik an der „individualisierten Moderne" an die Stelle der frtiheren, konservativen Kritik der „Massengeseilschafl;" getreten. In ihr werde jene konservative Diagnose einer anonymen Masse quasi „umgedreht" und auf den Kopf gestellt: „Der Individualisierte ist ... der vohmobile, flexible, der boden-, familien- und heimatlose Einzelne ... die massenhaft Individualisierten haben die bedrohliche Masse nicht nur ersetzt, sondern zugleich ihr Erbe angetreten ..." (Konig 1988: 265). Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass eine Reihe zentraler Argumentationsfiguren in Becks „Risikogesellschaft" charakte-
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ristische Ztige konservativen Denkens tragt. Dabei muss man sich bewusst sein, dass auch konservatives Denken durchaus radikal sein kann und gesellschaftskritisch und verandernd wirken will. Zu nennen sind hier: (1) die Beschworung einer „TotaIgefahrdung" und -zerstorung der menschlichen Zivilisation durch den Fortschritt und Sieg des „Industriesystems";^^ (2) die These, dass alle Menschen, Klassen, Schichten von den neuen Gefahrdungen gleichermaBen betroffen sind; (3) die Zuschreibung der Ursachen flir diese problematischen Entwicklungstendenzen an anonyme Krafte und Machte;^^ (4) eine ambivalente, ja negative Haltung gegentiber Wissenschaft und Technik, die logisch aus dem vorherigen Punkt folgt, da es ja angeblich sie und das Industriesystem als solches sind, welche die Menschheit gefahrden, und nicht bestimmte Politiker, Militars, Wissenschaftler, Techniker usw., die Wissenschaft betreiben, steuern und fur ihre Zwecke einsetzen.^^ In all diesen AusfUhrungen ist besonders deutlich die konservative Tendenz zu erkennen, die heutige „Degeneration" mit einem vermeintlich viel positiveren frtiheren Zustand zu kontrastieren, in dem Wissenschaft anscheinend noch das Monopol des Strebens nach Wahrheit besaB (vgl. auch Muhlfeld 1996).^^ Ahnliche Varianten neokonservativer Gesellschaftskritik wurden in der Bundesrepublik der Nachlcriegszeit auch von anderen, einflussreichen Autoren vertreten. So sah der Okonom Wilhelm Ropke, einer der geistigen Vater der „sozialen Marktwirtschaft", die Gefahr einer Gesellschafts- und Sinnkrise, eine Tendenz zur „Proletarisierung", und ft)rderte MaBnahmen, die der Desintegration entgegenwirken sollten (Haselbach 1991: 172ff.). Die btirgerlich-konservative, einflussreiche Politik- und Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann veroffentlichte 1978 ein Btichlein mit dem Titel „Werden wir alle Proleta^^ Vgl. z. B. Beck (1986: 28): „Die Risikogesellschaft ist eine katastrophale Gesellschaft"; (ebd.: 72): Die „Zukunftskrise" ftihrt zu einer „Verelendung". ^^ Vgl. z. B. Beck (1986: 8/9): heute gibt es ein allgemeines „Ausgeliefertsein des Welt-IndustrieSystems an die indiistriell integrierte und verseuchte ,Natur"'; aus dem „neuen askriptiven Gefahrdungsschicksal" gibt es „kein Entrinnen"; (ebd.: 27/28): Im Modernisierungsprozess werden mehr und mehr auch Destruktivkrafte...freigesetzt..."; Modernisierungsrisiken sind „pauschales Produkt der industriellen Fortschrittsmaschinerie". ^' Vgl. z. B. Beck (1986: 67): „Die ehemals gepriesenen Quellen des Reichtums (Atom, Chemie, Gentechnologie usw.) verwandeln sich in unabsehbare Gefahrenquellen"; (ebd.: 258): „Die Uberspezialisierung der Wissenschaften"; (ebd.: 271-274): „die Irrational itat der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis"; die „Irrlehre" und „chaotische Praxis" der Hypothesenbildung; die Auflosung des „gesellschaftlichen Wahrheitsanspruches der Wissenschaften". ^^ Aus dieser Sicht wiirde ich keinesfalls Kron (2002: 272) zustimmen, der feststellt, bei den deutschen Theoretikern der Individualisierung lasse sich eine grundsatzlich positive Bewertung der Gegenwartsgesellschaft feststellen, bei den franzosischen, englischen und amerikanischen dagegen eine eher negative. Wenn schon, konnte man allenfalls von einer mehr oder weniger passiven Alczeptanz der gegebenen Verhaltnisse bei deutschen Autoren sprechen, so insbesondere bei Luhmann, den Kron hier explizit nennt.
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rier?" Zu erwahnen ist hier auch die polemische Spatschrift von Helmut Schelsky „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen (1975), sowie Helmut Schoeck's „Das Recht auf Ungleichheit" (1988). All diese Autoren fmden sich in einer charakteristischen Tradition konservativen deutschen Denlcens, die sich bis in die erste Halfte des 19. Jahrhunderts zuruckverfoigen lasst. Karl Mannheim ortete in seinem groBen Aufsatz einen typisch deutschen „konservativen Denkstil" mit einem eigenstandigen Begriff der „qualitativen Freiheit". Dieser wendet sich vor allem gegen das hinter dem Konzept der Freiheit vermutete Gleichheitsprinzip und besagt, die Menschen seien grundsatzlich ungleich und Freiheit bestehe darin, dass jeder „seinem innersten Prinzip entsprechend, das ihm eigenttimliche Wachstumsgesetz entfalte" (Mannheim 1970: 431). Hieraus ergibt sich die typische Tendenz, Freiheit vom Einzelnen abzuheben und auf Kollektivgebilde wie FamiHe oder Volk (heute: Europa, die Menschheit insgesamt) anzuwenden. 3) Die Individualisierungsthese ist des Weiteren zu verstehen vor dem traditionellen und charakteristischen Sicherheitsstreben in Deutschland. Ralf Dahrendorf (1968: 401) meint, die Formel der „Suche nach Gewissheit" sei stets das Prinzip gewesen, nach dem m Deutschland gesellschaftHche Interessengegensatze gelost worden seien; eine „autoritare Mischung von Fursorge und Unterdriickung" habe auch dem Nationalsozialismus den Weg bereitet. Dazu habe beigetragen, dass die unerwartet an die Macht gekommenen EUten der Weimarer Republik ein „Kartell der Angst" gebildet hatten, das geradezu eine Aufforderung an die weniger Angstlichen darstellte, „der Entscheidungslosigkeit durch beliebige Bestimmtheit ein Ende zu setzen" (ebd.). Zur gleichen Diagnose gelangte Karl Jaspers (1966: 141): „Seit Errichtung der Bundesrepublik ist ja wohl das machtigste Motiv: Sicherheit...Sicherheit und Ruhe fur das Dasein in Arbeit und Konsum, daher Sicherheit eines stabilen Staats und einer stabilen Regierung. Sicherheit gilt als das hochste politische Gut". Fiir dieses besondere Sicherheitsstreben der Deutschen gibt es zwei historische Ursachen: zum einen die patemalistische Tradition des poHtischen Systems und die ihr entsprechende obrigkeitsglaubige Haltung der Bevolkerung (Engelmann 1993); zum anderen die traumatischen Krisenerfahrungen in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts, in der Bevolkerung und Eliten jeweils als „Opfer" auBerer bzw. anonymer wirtschaftlich-politischer Machte erschienen. Zu nennen sind hier die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, die so etwas wie eine „Urangst" bei ordoliberalen Okonomen wie Eucken, MtillerArmack, Rustow, Ropke u.a. ausloste (Haselbach 1991: 17), und dann die Traumata von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Holocaust.
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Wenn man sich vergegenwartigt, in welcher Phase drei der fuhrenden deutschen Soziologen der Nachkriegszeit, Helmut Schelsky, Rene Konig und Karl Martin Bolte ihre entscheidende gesellschaftspolitische Pragung erfuhren (was in der Regei im Alter von 20 bis 30 Jahren erfolgt), so waren dies bei den beiden ersteren die krisenhaflen spaten 20er, frtihen 30er Jahre,^^ bei Bolte die unmittelbare Nachkriegszeit (vgl. Hartfiel/Hillmann 1982). Wenn die Bundesrepublik durch ihren wirtschaftlichen Erfolg, aber auch durch ihre grundlegend neue politische Verfassung einen positiven Gegensatz zur Weimarer Republik darstellt, ist diese Problematik der Sehnsucht nach Sicherheit in anderer Form (etwa in der starken Expansion des offentlichen Sektors und der Abschottung seiner Beschaftigungsverhaltnisse) noch immer relevant. Auch im Rahmen der inzwischen untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik spielte die alte deutsche Tradition des Sicherheitsstrebens, der umfassenden staatlichen Bevormundung, der Ausbildung einer „Miindel-Rolle" bei den Btirgern eine zentrale Rolle und fuhrte zur Entwicklung eines der autoritarsten Systeme des „realen Sozialismus" in Osteuropa (Henrich 1989). 4) Die Individualisierungsthese kann schlieBlich als eine spezifische Reaktion der deutschen Gesellschaft und Sozialwissenschaft auf Bedrohungen durch den Kommunismus verstanden w^erden. Vier Erfahrungen sind hier relevant. Die erste ist die Geschichte der Linken im Kaiserreich und bei der Entstehung der Weimarer Republik. Auf die langjahrige politische Unterdriickung der Arbeiterbewegung im Bismarckschen und Wilhelminischen Deutschland folgte bekanntlich die intern auBerst umstrittene Zustimmung der Sozialdemolo-aten zu den Kriegskrediten, was zur Spaltung der Linken und zur brutalen Ermordung von deren Fuhrern Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg fuhrte. Dahrendorf (1968: 198ff) spricht hier zutreffend von einer „Tragodie der deutschen Arbeiterbewegung". Dies begrundete bei den Kommunisten einen „unausloschlichen Hass gegen die verraterischen Sozialdemokraten" und veranlasste sie spater zu burgerlmegsahnlichen Angriffen auf die Weimarer Republik und den Parteienstaat(Nolte 1969: 27ff). Die zweite Ursache fur das tief verwurzelte Misstrauen vieler Deutscher gegentiber Bolschewismus und Kommunismus bildeten die schrecklichen Erfahrungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Zusammenhang mit den Vertreibungen aus dem Osten. Diese trafen ab 1944 nahezu sieben Millionen Menschen - der groBte Teil davon Frauen, Kinder und alte Menschen. Vielen von
"-' Hier muss man wohl auf das Faktum hinweisen, dass Schelslcy Mitglied in der SA und spater NSDAP war.
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ihnen wurde unvorstellbares Leid zugefiigt, sofem sie nicht (wie (iber eine Million) auf der Flucht umkamen oder erschossen wurden (Zayas 1980).^^ Ein drittes, bis in die jungste Vergangenheit hinein wirksames Faktum war die aus deutscher Sicht sehr nahe Bedrohung durch die Machtauslibung der von Moskau abhangigen Kommunisten in ganz Osteuropa und insbesondere in der DDR. Der „Eiserne Vorhang" war nicht in der Lage, den wirtschaftlichen Ruckfall und die politische Unterdruckung der Burger der DDR vor den Augen der Westdeutschen zu verheimlichen. Der DDR-Bevolkerung selbst war er immer klar, wie die enormen Fltichtlingsbewegungen zeigten, derer man schlieBlich nur mehr durch den Bau der Berliner Mauer einigermaBen Herr werden konnte. Man muss sich vor Augen halten, dass zur gleichen Zeit in Franl
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der USA in Westeuropa zukam. Hier ist auch auf das Programm der reeducation der Deutschen durch die US-Besatzungsmacht zu verweisen, wenngleich dieses Programm bei weitem nicht voll realisiert werden konnte. Aufgrund all dieser Erfahrungen, so meine These, bestand fiir deutsche Sozialwissenschaftler bis in die jiingste Zeit hinein ein besonderer Druck in die Richtung, sich nicht nur von den metaphysischen und total itaren Elementen im marxistischen Denken zu distanzieren, sondem von alien Konzepten und Theorien, die eine Nahe zu Marxismus und Kommunismus aufweisen. In diesem Falle bedeutet dies, dass man sich selbst noch vom Weberschen Klassenbegriff distanziert (Ritsert 1987). Selbst die ausfuhrliche Auseinandersetzung mit Marx bei prononciert liberalen Soziologen wie Theodor Geiger und Ralf Dahrendorf, fugt sich noch in dieses Bild, da sie entweder mit einer pointierten Ablehnung (wie bei Geiger) verbunden ist oder von Marx allenfalls die formalen Elemente einer Konflikttheorie bewahrt, die jedoch aller polit-okonomischen Spannungslinien entkleidet wurde (so bei Dahrendorf; vgl. Krysmanski 1989: 155). 4
Resiimee: Theorien sozialer Ungleichheit als Reflexion nationaler gesellschaftlicher Umbriiche und Problemlagen AbschlieBend soil versucht werden, zu einer zusammenfassenden Interpretation der soziologischen Ungleichheitstheorien aus wissenssoziologischer Perspektive zu gelangen. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, dass sich in den vier betrachteten, fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften in der Tat dominante, jeweils sehr unterschiedliche Zugangsweisen zur Analyse und Interpretation sozialer Ungleichheit zeigen lieBen. Diese unterschiedlichen Interpretationen sind nicht nur als „nationale Eigenheiten" zu interpretieren (und damit letztlich soziologisch nicht erklarbar), sondern stehen in einem inhaltlich konsistenten Zusammenhang mit spezifischen Problemlagen und Umbriichen, in denen sich diese Gesellschaften in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts befanden. Im Vergleich der vier Lander und ihrer charakteristischen soziologischen Interpretationen der Ungleichheit kann man zwei Gruppen unterscheiden. Im Falle Frankreichs und GroBbritanniens ist die vorherrschende Sicht der Ungleichheit eindeutig eine kritische. In Frankreich ist sie (zumindest in der Theorie) besonders radikal, thematisiert Fragen der Ideologic und (kulturellen) Macht, stellt die herrschenden Eliten generell in Frage; in England ist sie stark empirisch fundiert, politisch gemaBigt und sozialreformerisch orientiert. Im Fal^^ Fiir Claessens et al. (1973: 321) standen die zwei oben dargestellten Phanomene in einem direkten Zusammenhang: Das Wirtschaftswunder brachte reale Einkommenssteigerungen und die Erwartung, dass sich die „soziale Frage" von selbst losen werde; dies ergab „eine antikommunistische Euphorie und bedeutete Korruption auch der Sozialwissenschaftler, die - biirgerlich-traditionell - zu Wirtschaftsfaktoren nur ein hilfloses Verhaltnis hatten."
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le Deutschlands und der Vereinigten Staaten von Amerika kann man eher von einer Relativierung und Akzeptanz von Ungleichheit sprechen, die man nicht nur als Ubel, sondern als eine auch in modernen, postindustriellen Gesellschaften unvermeidliche, ja gesellschaftHch sogar notwendige Struktur sieht. Ich habe argumentiert, dass diese sehr unterschiedlichen Gewichtungen dreifach begrtindet sind: in der spezifischen Sozialstruktur und gesellschaftlichen Entwicklung der verschiedenen Gesellschaften, ihren spezifischen politischen Institutionen und Prozessen und iliren geistig-kulturellen Traditionen. Hier mochte ich noch zwei weitere Aspekte anfuhren. Die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten gehoren heute zu den wirtschaftlich weltweit ftihrenden und reichsten Landern. Deutschland (ich spreche hier von der Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung bzw. fur die alten Bundeslander nachher) liegt vor Frankreich, noch viel deuthcher vor GroBbritannien, und hat seit 1945 gegentiber diesen Landern einen erhebHchen Vorsprung gewonnen. Angesichts der krisengeschiittelten Zwischenlaiegszeit und der verheerenden Zerstorungen vieler Stadte im Zweiten Weltkrieg wurde in der Nachlaiegszeit zu Recht von einem deutschen Wirtschaftswunder gesprochen. In einer solchen Situation mogen gesellschafts- und soziaIl<jitische Theorien einen besonders schweren Stand haben, wie Herbert Marcuse feststellte: „Der Gesamtcharakter der Errungenschaften der hoch entwicl<:elten Industriegesellschaft und die Integration der Gegensatze, die sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung dieser Errungenschaften ist, fordern die materielle und geistige Stabilisierung. Die kritische Theorie fmdet deshalb keine empirische Grundlage, auf der sie den Status quo tlberwinden kann" (Marcuse 1961: 399). Ahnlich haben Autoren wie Alexis de Tocqueville oder Hannah Arendt vor einer mit steigendem Wohlstand einhergehenden Tendenz zur Ausdunnung des kritischen geistigen Potentials bzw. oppositioneller politischer Krafte gewarnt. Aus der „Problemtheorie sozialer Schichtung", die Dieter Seibel (1975) entwickelt hat, lasst sich ableiten, dass in aufsteigenden, wirtschaftlich-politisch erfolgreichen und machtigen Gesellschaften eher affirmative, das Bestehende bejahende Vorstellungen von der Sozialstruktur vorherrschen, wahrend in krisenhaften, zuriickfallenden oder von anderen abhangigen Gesellschaften eher kritische Vorstellungen entwickelt werden. Dass hier das absolute Lebensniveau eines Landes und seine relative Position im internationalen Vergleich eine erhebliche Rolle spielt, liegt auch deshalb auf der Hand, well im Hinblick auf die faktischen Verteilungsstrukturen international wohl deutlich weniger Differenzen bestehen als im Hinblick auf die dominanten Theorien und Ideologien. In ersterer Hinsicht muss man sagen, dass die Bundesrepublik sogar inegalitarer ist als etwa GroBbritannien; lediglich Franlo-eich mag noch starker inegalitar sein. Die Vereinigten Staaten weisen eine ebenso starke (wahrscheinlich sogar starkere) Un-
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gleichheit auf wie Deutschland (vgl. dazu u.a. Erikson/Goldthorpe 1985, 1992; Keister/Moller 2000; Morris/Western 2000; Spilerman 2000); dort dominieren aber tiberhaupt Theorien, die soziale Ungleichheit positiv legitimieren. Innerhalb dieser Gesellschaften sind es vor allem die Verteidiger der bestehenden Ordnung, welche zu einer „Erfassung der eigenen Gesellschaft im funktionellen Schema oder im Schema der nichtegalitaren Klassenlosigkeit" tendieren (Ossowski 1972: 213). Neben dem faktischen materiellen Lebensniveau eines Landes reflektieren sozialwissenschaftliche Theorien aber auch dessen spezifische Institutionen und geistigen Traditionen. Hier ist nun von Interesse, dass diese Differenzen auf der Ebene geistig-kultureller Stromungen ihr Gegenbild offenkundig auch in den Gesellschaftsvorstellungen der Bevolkerung haben, die sich bis hin zu den Ergebnissen der politischen Wahlen auswirken (Manza et al. 1995; Evans 1999, Brettschneider et al. 2002). So stimmen heute nur 19 Prozent der (West-)Deutschen und 23 Prozent der US-Amerikaner der Aussage stark zu, die Einlcommensungleichheit in ihrem Land sei zu groB, dagegen 29 Prozent der Briten und 59 Prozent der Franzosen; Einkommensumverteilung durch die Regierung fordern 10 Prozent der US-Amerikaner und 12 Prozent der (West-)Deutschen, aber 18 Prozent der Briten und 33 Prozent der Franzosen unbedingt (Daten aus ISSP 1999; vgl. ZA, Social Inequality III). Die Deutschen und Amerikaner sind nicht nur weniger egalitar gesinnt als die Franzosen und Briten, in ihren Gesellschaften ist eine eher konservative Art der Gleichheitsorientierung auch starker dominant als in den beiden anderen Landern (Haller/Mach/Zwicky 1995; Alwin et al. 1990; Svallfors 1997; Lemel/Noll 2002; Hadler 2003). Es zeigt sich also, dass eine international vergleichende Analyse sozialer Ungleichheit aus einer wissenssoziologischen und ideologiekritischen Perspektive, die ihrerseits eingebettet ist in eine Soziologie als „Wirklichkeitswissenschaft", Einsichten ganz neuer Art erbringen kann. Zentral daran erscheint mir, dass die Soziologie ihre laitische Funktion wieder zurtickerhalt - aber nicht im Sinne einer ftmdamentalistischen Totalkritik am „Kapitalismus" als solchem, sondern im Sinne einer echten soziologischen Aufklarung, einer Kritik eines (unreflektierten) Zusammenspiels geistiger Traditionen, gesellschaftlicher Institutionen und sozialer Strukturen.^^ Welche Konklusionen ergeben sich aus diesen Analysen ftir die Weiterentwicklung der soziologischen Ungleichheitstheorie und -forschung? Ich wiirde aus einer kritischen Wissenssoziologie der Ungleichheitsanalyse nicht folgern. ^^ Aus dieser Sicht ware auch zu bedenken, ob nicht die Wendung der deutschen Gesellschaftsdiagnose zu einer eher pessimistischen Beurteilung der Entwicklungstendenzen bei Beck und anderen ihrerseits mit beigetragen hat zu einer speziell in Deutschland beobachtbaren Ausbreitung von Resignation und Reformblockaden in den 1990er Jahren (Immerfall/ Franz 1998; Tichy 2004).
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dass sich soziologische Forschung und Theoriebildung aller Werthaltungen enthalten sollte. Wie wir gesehen haben, sind neben der deutschen auch die franzosischen und amerikanischen soziologischen Ungleichheitsdebatten nicht frei von ideologischen Elementen. Versuche, die Ungleichheitstheorie auf einem sehr allgemein-abstrakten Niveau anzusiedeln, fuhren nur zu blassen, zeit- und kontextlosen Modellen (vgl. z. B. Dahrendorf 1959; Turner 1984). Dabei geht es allerdings nicht um eine unsaubere Vermengung von erklarenden, wertenden und beschreibenden Aussagen, sondem um einen expliziten Bezug auf normative Grundannahmen und -werte, die jedoch deutlich expliziert werden sollten (vgl. auch Strasser 1976). GewissermaBen als einen Lackmus-Text daflir, ob eine Perspektive starker den Charakter einer Ideologic oder einer soziologischen Theorie besitzt, konnte man die Tatsache sehen, ob eine Theorie neue empirische Fakten zu sehen und zu erklaren ermoglicht oder nicht. „Ich glaube, das vorliegende Buch ohne Vorurteil, behaupte aber, es nicht ohne Leidenschaft geschrieben zu haben", schreibt Alexis de Tocqueville (o.J.: 7) in seinem Buch ,,Der alte Staat und die Revolution", ganz im Sinne von Weber; und weiter: „Mein Ziel war, ein Gemalde zu liefem, das streng richtig ware und zugleich lehrreich sein konnte." Die ungeschwachte Attraktivitat dieser Werke von Tocqueville bis heute erklart sich wohl daraus, dass sein Autor, von einer Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung angeleitet, selber in alaibischer Weise Material zusammentrug, das ihm ganz neue Sichtweisen und Zusammenhange eroffnete. Sein Leitprinzip dabei war die Idee, dass soziale Gleichheit ein sich unaufhaltsam durchsetzendes Phanomen darstelle. Tocqueville macht keinen Hehl daraus, dass ihm die so entstehende neue Gesellschaft in vieler Hinsicht weniger sympathisch ist als eine alt-aristolcratische Gesellschaft. Gegentiber einem Autor wie Tocqueville ist charakteristisch, dass einige der einflussreichsten Proponenten der These vom Ende der Klassen in der deutschen Soziologie von Schelsky bis Beck selber kaum eigene systematisch empirische Forschung zur Sozialstruktur betrieben haben. (Das gleiche gilt fur einflussreiche amerikanische Vertreter dieser These, wie Davis/Moore, Parsons, Bell u.a.). Technologischer Fortschritt, Globalisierung und die neoliberale Wende haben dazu gefuhrt, dass die in den 1970er Jahren entwickelten neomarxistischen Klassenmodelle fiir die „postindustrielle Gesellschaft" nicht mehr zureichend sind (wenn sie es je waren). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Klassenanalyse uberhaupt tot ist, sondem stellt eine Herausforderung dar, neue begriffliche, theoretische und methodische Instrumente zu entwickeln, um auch den Klassencharakter des globalen Kapitalismus am Beginn des 21. Jahrhunderts angemessen erfassen zu konnen (Esping-Andersen 1993; Myles/Turegun 1994; Dangschat 1998; Perrucci/ Wysong 1999; Castells 2001). Aber auch eine solche Analyse darf nicht nur normativ argumentieren und etwa neue Tendenzen
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(„Globalisierung") und Verhaltnisse per se als „ungerecht" oder „ausbeuterisch" qualifizieren.^^ Vielmehr kommt es darauf an, den Wandel objektiver Strukturen in soziologisch fruchtbarer Weise mit den in unterschiedlichen Landern (ihren Bevolkerungen wie auch intellektuellen Eliten, z. B. Soziologen) vorherrschenden, normativ mitbestimmten Gesellschaftsbildern zu konfrontieren. Die spezifische Interpretation der neueren sozialen Ungleichheit, wie sie die deutsche Soziologie entwickelt hat, kann man auch als eine positive Herausforderung fur eine solche Perspektive sehen. Literatur Abendroth, W., H. Ridder, O. Schonfeldt (Hrsg.), 1968: KPD-Verbot oder mit Kommunisten leben? Reinbek: Rowohlt. Abrams, P. et al. (Hrsg.), 1981: Practice and progress: British sociology 1950-1980, London: Allen & Unwin. Alwin, D. et al. (Hrsg.), 1990: Attitudes to Inequality and the Role of Government, Rijswijk: Sociaal en Cultureel Planbureau. Archer, M., 1989: Culture and agency. The place of culture in social theory, Cambridge: Cambridge University Press. Baltzell, E. D., 1964: The Protestant Establishment. Aristocracy and Caste in America, New York: Random House. Barlosius, E., 1999: 'Das Elend der Welt'. Bourdieus Modell fur die ,Pkiralitat der Perspektiven' und seine Gegenwartsdiagnose uber die 'neoliberale Invasion', Bios 12, 3-27. Barlosius, E., W. Ludwig-Mayerhofer (Hrsg.), 2001: Die Armut der Gesellschaft, Opladen: Leske und Budrich. Beck, U., 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfiirt/M.: Suhrkamp. Beck, U., A. Giddens, S. Lash, 1996: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfiirt/M.: Suhrkamp. Bell, D., 1975: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankftirt/M.: Campus. Berger, P. A., 1986: Entstrukturierte Klassengesellschaft? Klassenbildung und Strukturen sozialer Ungleichheit im historischen Wandel, Opladen: Westdeutscher Verlag. Bergmann, J. et al., 1969: Herrschaft, Klassenverhaltnis und Schichtung, T. W. Adorno (Hrsg.), Spatkapitalismus oder Industriegesellschaft? Stuttgart: Enke, S. 67-87. Blasius, J., J. Winkler, 1989: Gibt es die ,feinen Unterschiede'? Eine empirische Uberprufung der Bourdieuschen These, Kolner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie41, 72-94. Blau, P. M., O. D. Duncan, 1967: The American Occupational Structure, New York: J. Wiley. Blau, P. M., 1977: Inequality and Heterogeneity: A Primitive Theory of Social Structure. New York/London: Free Press/Collier Macmillan. ^'^ Ein soldier Eindruck ergibt sich vielfach bei Bourdieu.
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Zur Verbesserung der Erklarungskraft vertikaler Strukturierungskonzepte in der Lebensstilforschung Petra Stein
1 Einleitung Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob und inwieweit Kenntnisse liber Mobilitatsprozesse dazu beitragen konnen, die Erklarungslo-aft von Klassen und Schichten fur Lebensstile zu verstarken. Klassen- und Schichttheorien unterstellen, dass die Zugehorigkeit zu einer sozialen Gruppierung, deren Mitglieder ahnliche Lebensbedingungen aufweisen, die einzelnen Personen in der Sozialisation, der personlichen Erfahrung oder der selektiven Kommunikation in gemeinsamer Weise pragen. Auf diese Art erworbene Muster der Wahrnehmung, Einstellung und des Bewusstseins wtirden ahnliche Auspragungen sozialen Handelns hervorbringen. Das Problem dieser Erklarungsweisen besteht darin, dass sie mehr oder weniger stillschweigend voraussetzen, dass die Zugehorigkeit zu den jeweiligen Gruppierungen und ihren Lebensbedingungen lange genug gedauert hat, um Mentalitat, Personlichkeit und Verhaltensweisen zu pragen. Eine Beriicksichtigung sozialer Mobilitat bei der Erklarung von Lebensstilen konnte zu einer starkeren Erklarungskraft der vertikalen Strukturkonzepte beitragen. Im Folgenden wird unter Verwendung eines allgemeinen Modells zur Analyse von Effekten sozialer Mobilitat auf Einstellungen und Verhaltensweisen tiberprtift, ob die Integration intergenerationeller Mobilitat in die Analyse zu einer Verbesserung der Erklarungskraft vertikaler Strukturierungskonzepte in Bezug auf alltagsasthetische Orientierungen fuhrt. 2 Empirische Evidenz der Beziehung von Sozialstruktur und Lebensstil Die Lebensstilforschung entwickelte sich im Anschluss an die deutsche Ubersetzung von Bourdieus „Za distinction" (1982) und die im Gegenzug von Beck vertretene Individualisierungsthese (1983, 1986) zu einem Modethema in der deutschen Soziologie, das bis weit in die 1990er Jahre hineinreichte. Der Vorschlag einer Rekonzeptualisierung der traditionellen Klassen- und Schichtanalyse durch Lebensstilmodelle zahlte zu einem der Hauptthemen in der deutschen Soziologie. Im Zuge der Auseinandersetzung liber die Rolle der Lebensstile innerhalb der Sozialstruktur einer fortgeschrittenen Gesellschaft ist eine Vielzahl
Lebensstilforschung
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empirischer Studien entstanden. ^ Im Mittelpunkt dieser Studien stehen die Fragen, ob Lebensstile weiterhin Ausdruck fortbestehender Klassen- und Schichtstrukturen sind und damit Klassen- oder Schichtunterschiede iiber verschiedene Lebensstilgestaltungen zum Ausdruck kommen oder ob Lebensstile als eigene Kategorie sozialer Ungleichheit herkommliche Klassen- und Schichtmodelle abgelost haben bzw. ob Lebensstile die Differenzierungserscheinungen einer Gesellschaft und postulierte Individualisierung in fortgeschrittenen Industriegesellschaften widerspiegeln. Als Bilanz dieser Studien lasst sich herausstellen, dass Lebensstile nicht losgelost von den sozialen Positionen und den objektiven Lebensbedingungen zu verstehen sind. Vielmehr werden sie innerhalb von sozialen Strukturen hervorgebracht, die in der Kegel nicht liberschritten werden. Insbesondere die Ergebnisse der neueren Lebensstiluntersuchungen belegen, dass trotz horizontaler Differenzierungen weiterhin Unterschiede in Verhaltens- und GeschmacksauBerungen durch Merkmale vertikaler Ungleichheit bestimmt werden.^ Die Ergebnisse der neueren Lebensstilforschung bestatigen erneut die Forschungen der Vertreter des klassischen Strukturansatzes. Hermann Strassers Beitrage pragten dieses Forschungsfeld maBgeblich."' Ohne die wachsende Vielfalt der Lebensbedingungen und die gestiegene Bedeutung soziokultureller Erscheinungsformen zu bestreiten, halten Vertreter der klassischen Sozialstrukturanalyse weiterhin an dem Fortbestehen vertikal strukturierter sozialer Ungleichheit und an der Dominanz schicht- und klassenspezifischer Merkmale wie Bildung, Beruf und Einkommen fest. Zwar hatten infolge der Erhohung des materiellen Lebensstandards sowie der Bildungsexpansion die individuellen Entfaltungsmoglichkeiten insbesondere in der Privatsphare zugenommen; die zunehmende Vielfalt der Lebensstile und Lebensformen haben jedoch nicht zur Auflosung vertikaler Strukturen gefiihrt, sondem die alltaglichen Handlungen, Verhaltensweisen und Bewusstseinsformen seien weiterhin von klassischen Merkmalen sozialer Ungleichheit abhangig. Ausgegangen wird von einem deutlichen Kausalzusammenhang zwischen den soziookonomischen Lagebedingungen und den Alltagshandlungen, kulturellen Praferenzen und politischen Einstellungen (Strasser 1987). Dartiber hinaus weist GeiBler (1996) auf die Gefahr hin, dass die Umorientierung der deutschen Sozialstrukturanalyse zu Einseitigkeiten
^ Siehe exemplarisch Liidtke (1989), Schulze (1992), Klocke (1993), Konietzka (1995), Spellerberg (1996), Otte (1997), Wahl (1997, 2003), Georg (1999), Hartmann (1999), Schroth (1999). ^ Siehe exemplarisch Otte (1997, 2003), Wahl (1997), Georg (1999) und Schroth (1999). ^ Als weitere Vertreter dieses Ansatzes sind insbesondere Giddens (1979), Wright (1982, 1985), Haller (1986), Holtmann (1990), Mayer und Blosfeld (1990), Noll und Habich (1990), GeiBler (1990, 1992, 1994, 1996, 2000), Miiller (1997), Dangschat (1998), Klocke (1998) und Vester (1998) zu nennen.
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flihrt, die weiterhin bestehende Ungleichheiten unterschatzt und letztendlich verschleiert. Er warnt davor, dass sich das Erkenntnisinteresse von einer Ungleichheitsforschung der Lebensbedingungen auf eine Vielfalt von Lebensstilen richtet und dazu neigt, vertikale Ungleichheiten zu unterschatzen. Statt Zusammenhange zwischen Handlungsmustern und objektiven Ressourcen zu erforschen, fixiere sich das Interesse auf die „bunte Vielfalt" der Lebensstile. Vertikale Schichtungsmerkmale scheinen allgemein nicht in dem MaBe an Handlungsrelevanz verloren zu haben, wie es die Befurworter der so genannten Entstrukturierungsansatze sehen. Den empirischen Ergebnissen folgend, kann im Gegenteil davon ausgegangen werden, dass Lebensstile sehr deutlich als Ressourcenunterschiede interpretierbar sind. Insgesamt belegen die Befunde, dass klassische Schichtfaktoren, insbesondere die Bildung (Schulze 1992; Hartmann 1999) aber auch der Bemf (Spellerberg 1996) und die okonomischen Ressourcen (Schroth 1999) Lebensstile signifikant beeinflussen."^ Nach Wahl (1997) sind Lebensstile nach wie vor typischer Ausdruck der soziookonomischen Verhaltnisse und belegen den Fortbestand der Klassenstrukturen. Sie zeigt, dass sich Lebensstile auf die drei Klassen des sozialen Raums nach Bourdieu verteilen. Zu ahnlichen Ergebnissen gelangt Klocke (1993), der in dieser Anordnung eine Bestatigung fiir den Klassenhabitus sieht. Bei Schroth (1999) entspricht die Anordnung der Lebensstile entlang der Kultursegmente „etablierte Kultur", „Spannungskultur" und „populare, traditionelle Kultur" in grober Weise der sozialen Rangordnung. Sie restimiert aus ihren Ergebnissen, dass eindeutig die Individualisierungsthese zuriickgewiesen werden kann. Die Befunde zeigen aber auch, dass klassische Schichten beziiglich der Lebensstile ebenso wenig wie Lebensstilgruppierungen beziiglich der Schichtindikatoren keine vollig homogenen Gebilde sind. Vielmehr konnen einzelne Lebensstile sich Uber mehrere Schichten verteilen und in einer Schicht verschiedene Lebensstile gelebt werden (Klocke 1993; Otte 1997, 2004; Wahl 1997). Dies betrifft insbesondere die mittleren Statuslagen. So zeigt die Untersuchung von Schroth (1999), dass die Unterschiede im Lebensstil lediglich zwischen Personen festzustellen sind, die sich an den beiden Endpolen der Schichtungsdimension befmden, also zwischen denjenigen mit niedriger Bildung, niedrigem soziookonomischem Status, geringem kulturellem Kapital und niedrigem Einkommen auf der einen Seite und den Personen, denen bei den genannten Merkmalen die hochsten Auspragungswerte zukommen. Eine Reihe von Lebensstiluntersuchungen konnte flir die mittleren Statuslagen keine typischen Lebensstilmuster, die in einem direkten Zusammenhang mit vertikalen Merkmalen ste-
^ Siehe hierzii auch Blasius/Winkler (1989), Abel/Rlitten (1994), Kleining (1995), Pickel (1995), Steinrucke(1996).
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hen, ermitteln. In diesen Gruppen lasst sich eine Pluralitat an Lebensstilen bei ahnlicher Ressourcenausstattung fmden (Klocke 1993; Abel/Rtitten 1994; Kirchberg 1994; Spellerberg 1996; Steinrticke 1996; Otte 1997, 2004; Wahl 1997; Georg 1999; Schroth 1999). Ohne die Merkmale objektiver Lebensbedingungen zu vernachlassigen, weisen die Ergebnisse der Lebensstiluntersuchungen auch auf einen Raum individueller Wahlmoglichkeiten bin. Die Moglichkeit, individuelle Praferenzen auszubilden, fiihren auch bei gleicher Ressourcenausstattung zu unterschiedlicher Ressourcennutzung und zu entsprechend unterschiedlichen Lebensstilen. Die Ergebnisse zeigen, dass der Lebensstil zwar einerseits von Restriktionen und Ressourcen der sozialen Position abhangig ist, auf der anderen Seite aber auch subjektiven Wertvorstellungen und Valenzen eines Akteurs bei der Wahl eines Lebensstils eine entscheidende Bedeutung zukommt (Klocke 1993; Georg 1999). Die Lebensstilgestaltung ist keine reine Reflexion der sozialen Lage, sondern im starken MaBe auch von Praferenzen gesteuert (Ludtke 1989; Muller 1992; Vester et al. 2001; Spellerberg 1996). Aufgrund der empirischen Ergebnisse zur Lebensstilforschung kann daher von einem Einfluss struktureller Ungleichheit auf Lebensstile ausgegangen werden, in dessen Rahmen sich eine Pluralitat an Lebensstilen herausbildet. Der Wandel in den Strukturen sozialer Ungleichheit hat also keine Auflosung traditioneller Klassen- und Schichtkonzepte mit sich gebracht. Es handeh sich vielmehr bei der Gegenwartsgesellschaft um eine pluralisierte Form einer weiterhin existierenden Klassen- bzw. geschichteten Gesellschaft (Endruweit 2000; Meyer 2001). Klassen und Lebensstile sollten daher nicht langer als zwei historisch aufeinander folgende Konzepte betrachtet werden. Nach Meyer (2001) steht nicht die theoretische Entscheidung im Vordergrund, ob es sich gegenwartig um eine Erlebnisgesellschaft oder eine Klassengesellschaft handelt, sondern seiner Ansicht nach ist die Erlebnisgesellschaft vielmehr als eine moderne Variante der Klassengesellschaft zu sehen,^ Entsprechend pladieren Endruweit (2000) sowie Meyer (2001) in ihrer Bilanz liber zwei Jahrzehnte Lebensstilforschung daftir, Lebensstile konsequenter in den Strukturkontext sozialer Ungleichheit einzubinden, indem beide Konzepte starker aufeinander bezogen werden sollten. Eine Kritik Meyers richtet sich u.a. auch gegen die vorherrschenden Entkoppelungsund Entstrukturierungstheoreme innerhalb der Lebensstilforschung, die den Zusammenhang zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilen auseinander zerren. Er bemangelt die Kluft zwischen der vorherrschenden Theoriebildung, die an den Pramissen der Entstrulcturierungsperspektive orientiert ist, und insbeson-
In ahnlicher Weise betrachtet Chaney (1996) Lebensstile als eine „modern form of status grouping"' speziell fiir GroBbritannien.
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dere die neueren empirischen Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilen feststellen. Bin groBes Problem innerhalb der Lebensstilforschung besteht nach Meyer in der „unbefriedigenden theoretischen Fundierung", die darin zu sehen ist, dass eine Vielzahl der Lebensstiiansatze, wie beispielsweise der von Schulze (1992), ihren theoretischen Hintergrund nicht in Ankntipfung an Bourdieu (1982), sondern in der Abkehr von Bourdieu formuliert. 3 Die intergenerationale Konzeption von Lebensstilen Bourdieus Modell weist eine Reihe von Besonderheiten auf, wobei im Folgenden zwei ins Zentrum gestellt werden. Die erste liegt in seiner Kapitaltheorie als eine Ausdifferenzierung der Strukturebene in okonomisches und kulturelles Kapital. Bei Bourdieu tragt der einer sozialen Position immanente Anteil kulturellen und okonomischen Kapitals wesentlich zur Differenzierung von Lebensstilen bei. Nach Bourdieu existieren zwei - wenn auch nur scheinbar - voneinander getrennte Hierarchiestrange, die jeweils einer anderen Logik der Reproduktion sozialer Ungleichheit und Statusvererbung unterhegen. Betrachtet man die Ergebnisse der neueren empirischen Lebensstilforschung, wird deutlich, dass unterschiedliche Ressourcenkombinationen in denselben Schichten zu unterschiediichen Lebensstilen fuhren und dass diese sich auf eine Optimierung der jeweiHgen Ressourcen zuruckfLihren lassen konnen (Schroth 1999; Georg 1999). Die zweite Besonderheit liegt in der intergenerationalen Konzeption des Lebensstilansatzes. Mit seinem Habituskonzept berllcksichtigt Bourdieu auch die diachrone Perspektive der Generierung von Lebensstilen, indem er die Bedeutung der primaren Sozialisation fur die Ausbildung alltagsasthetischer Praferenzen, kultureller Orientierungen und Verhaltensweisen herausstellt. Nach Bourdieu ist die grundsatzHche asthetische Einstellung durch die sozialisationsspezifische Entwicklung des Subjekts gepragt. Jede LebensstilauBerung ist abhangig von der Position, die ein Individuum im Raum sozialer Positionen einnimmt, die dabei aber, well sie einen Niederschlag des bisherigen Lebenslaufs darstellt, auch relativ unabhangig von der im fraglichen Zeitpunkt eingenommenen Position sein kann. Zahlreiche Untersuchungen belegen die zentrale Bedeutung der primaren Sozialisation fur die Ausbildung alltagsasthetischer Praferenzen, kultureller Orientierungen und Verhaltensweisen sowie die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die kulturelle Praxis innerhalb einer Familie (Dollase et al. 1986; Ganzeboom 1990; Frank et al. 1991). Eine zentrale Annahme des Habituskonzeptes ist die relative Stabilitat von Praferenz- und Handlungsmustern, die in der primaren Sozialisation erworben wurden. Eng damit ist eine weitere Annahme des Habituskonzepts verkntipft, nam-
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lich dass die erlernten Handlungsmuster in Affmitat zu Handlungsressourcen okonomischer und kultureller Art gebildet werden. In der Bourdieuschen Theorie bestimmt die soziale Herkunft einer Person das erste Kapitaivoiumen und die erste Kapitalstruktur dieser Person. Durch die materiellen und kulturellen Ressourcen, die der Familienstruktur zugrunde liegen, und damit durch die okonomischen und kulturellen Zwange, die als Identitatsvermittler fungieren, lasst sich - so Bourdieu - der Geschmack als eine Dimension des Habitus identifizieren. Der erworbene Geschmack orientiert sich an dem der primaren Sozialisationsinstitution, der Familie. Der dort herrschende Geschmack unterliegt dem Einfluss des Erwerbsmodus und der gesellschaftlichen Verhaltnisse. Die in der primaren Sozialisation erworbenen Dispositionen werden zu manifesten Mentalitaten stabilisiert, die Verhaltensmuster in systematischer Weise auf unterschiedliche Bereiche ubertragen. Aufgrund des Hysteresis-Effektes des Habitus, der die Bestandigkeit eines in der Primarsozialisation erworbenen und in der Biographic weiter ausgeformten Lebensstils gegentiber den heutigen Strukturmerkmalen eines Individuums betont, sind vollstandige Anderungen des Habitus unwahrscheinlich. Er verandert sich nach Bourdieu zeitlebens nicht wesentlich. Bei sozialen Auf- und Abstiegen wird er lediglich modifiziert. Im Folgenden soil dem Anliegen Bourdieus gefolgt werden, auch die „diachronen Eigenschaften jeder sozialen Position" zu beriicksichtigen, da sich doch „zwei unter synchronen Gesichtspunkten offensichtlich identische Positionen als zutiefst verschieden voneinander erweisen" konnen (Bourdieu 1982). 4 Modellierung einer diachronen Perspektive bei der Generierung von Lebensstilen Die Einbeziehung der sozialen Herkunft und der sozialen Mobilitat zur Erklarung von Lebensstilen erfolgt unter Anwendung von Modellen, die auf der Grundlage von Modellen zur Analyse von Effekten sozialer Mobilitat entwickelt wurden. Im Einzelnen handelt es sich dabei um das ^diagonal mobility'' Modell von Sobel (1981, 1985) sowie eine Erweiterung dieses Modells von Weakliem (1992), die zur Uberwindung der konzeptionellen Probleme, die mit der Anwendung der traditionellen Modelle von Duncan (1966) und Hope (1971) verbunden sind, entwickelt und seit Ende der 80er Jahre verwendet werden. Beispiele lassen sich in De Graaf/Ultee (1987, 1990), Sorensen (1989), De Graaf/Ganzeboom (1990), De Graaf (1991), De Graaf/Heath (1992), Weakliem (1992), Clifford/Heath (1993), Breen/Whelan (1994), De Graaf et al. (1995) und Nieuwbeerta et al. (2000) fmden. „Diagonal mobility" Modell. In Anlehnung an Mobilitatstheorien (Blau 1956; Duncan 1966; Blau/Duncan 1967), die davon ausgehen, dass Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen einer Person sowohl durch die soziale Herkunft als
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auch durch den gegenwartigen Status beeinflusst werden, entwickelt Sobel ein Modell, das diese Effekte als Haupteffekte in einem varianzanalytischen Modell parametrisiert. Ausgangspunkt des ^diagonal mobility" Modells ist eine Mobilitatstabelle mit J Zeilen und Spalten. Die Zeilen reprasentieren die soziale Herkunft (^origin'') und die Spalten die gegenwartige soziale Stellung einer Person („destinatiort'). Die Anzahl der Kategorien ist bei beiden Variablen gleich, woraus eine quadratische Tabelle resultiert. Im Unterschied zur Standardmobilitatstabelle stellen die Werte innerhalb der Zellen nicht die Mobilitatsvorgange dar, sondern in den Zellen befinden sich die Werte der abhangigen Variablen aller Personen, die die jeweilige Kombination der Herkunftsposition und der Zielposition aufweisen. Y ist eine metrische Zufallsvariable, die sowohl von der sozialen Herkunft als auch von der aktuell eingenommenen Berufsposition abhangt. Die Hauptdiagonale umfasst die Werte derjenigen Personen, bei denen Herkunftsposition und Zielposition tibereinstimmen. Es wird angenommen, dass eine Stichprobe von Personen gezogen wird und fiir jede Person die Auspragungen der Herkunftsposition, der Zielposition und der abhangigen Variable Y aufgezeichnet werden. Die Kategorien der Herkunftsposition werden mity=/,..., J und die der Zielposition mit k^l,..., Jindiziert. Sobel (1981) geht zunachst von ft)lgendem Grundmodell aus: (1) yiik) ^ ^^Uk) ^ ^Uk) ^ ^uk) N(o^cr2) y.-^ bezeichnet den Wert der abhangigen Variable der Person / , die in der Zelley'A: der Mobilitatstabelle liegt. JLL ist der Erwartungswert der Zufallsvariablen Y der Personen, die sich in AQV jk - ten Zelle der Mobilitatstabelle befinden. £; ist ein normalverteilter Fehlerterm mit einem Erwartungswert von 0 2
und Varianz (J . Bei Personen, die ihren Status gewechselt haben und sich damit auBerhalb der Diagonalzellen der Mobilitatstabelle befinden, wird die abhangige Variable y]'^^ durch zwei Komponenten beeinflusst: ^/(/^) = TT/u^ii^ + (1 _;zr)//^''^, mit ;r E [0,1] (2) Der Erwartungswert einer Person, die von der Statusgruppey in die Statusgruppe k wechselt, setzt sich aus dem Erwartungswert JLL der Personen, die diey te Statusgruppe nicht verlassen haben und dem Erwartungswert //^ ^ der Personen, die die ^ - te Statusgruppe nicht verlassen haben in Form einer Linearkombination zusammen. n bzw. l — Tt sind Gewichte, die Auskunft dartiber geben, mit welchem Anteil der Erwartungswert der abhangigen Variablen durch
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die Herkunftsposition und mit welchem Anteil er durch die Zielposition beeinflusst wird. Der Erwartungswert der Individuen, die ihren Status gewechselt haben, besteht damit aus einer Mischung von zwei Referenzwerten. Dies ist zum einen der Erwartungswert der Personen, die den Herkunftsstatus charakterisieren und zum anderen der Erwartungswert der Personen, die den gegenwartigen Status charakterisieren. Die beiden Referenzwerte werden mit den Parametern n bzw. \ — n multipliziert, wobei die Parameter mit der Restriktion versehen werden, dass die Summe der Werte 1 ergibt und 71 im Interval! [0,1] Uegt. Die Gewichte n und \ — n geben den relativen Anteil der Referenzwerte an. Werte von ;T > 0.5 zeigen an, dass die soziale Herkunft einer Person starker Verhaltensweisen pragt als die Zielposition. „ Diagonal mobility 1" und „ Diagonal mobility 2 " Modell. Sobel (1981) erweitert das Grundmodell in zweierlei Hinsicht. Die erste Erweiterung bezieht sich darauf, dass die Anteilswerte, mit denen der Erwartungswert der abhangigen Variablen durch die Herkunftsposition gewichtet wird, nach der jeweiligen sozialen Herkunft einer Person variieren konnen. Um dies zu beriicksichtigen, wird das Modell folgendermaBen erweitert:
#)=;r,.//^'''+(l-;r,)//(**^+4'*>
(3)
Dabei ist n: ein Gewicht, das mit dem Herkunftsstatus variiert. Im Unterschied zum einfachen ..diagonal mobility''' Modell kann der Einfluss, den die soziale Herkunft auf den Erwartungswert der abhangigen Variablen austibt, je nach sozialer Herkunft unterschiedlich sein. Diese Erweiterung ermoglicht die Modellierung einer starkeren oder schwacheren Pragung einer Einstellung oder eines Verhaltens durch eine bestimmte soziale Herkunft im Vergleich zu den anderen Herkunftspositionen. Diese Erweiterung bezeichnet Sobel (1981, 1985) als ,4iagonal mobility 1" Modell. Inhaltlich betrachtet kann dieses Modell verwendet werden, um die unterschiedliche Sozialisierung eines Individuums in Abhangigkeit von der jeweiligen sozialen Herkunft darzustellen. Das Modell impliziert, dass sich die Klassen in ihrer Fahigkeit, permanente Loyalitaten zu entwickeln, unterscheiden. Die zweite Erweiterung bezieht sich darauf, dass die Effekte nach der Zielposition variieren konnen. Dies fuhrt zu folgendem Modell:
#'=;r,/^***'+(l-;r,)//''>+4«.
(4)
Dabei ist TTj^ ein Gewicht, das mit dem Zielstatus variiert. Der Unterschied zum einfachen ..diagonal mobility'' Modell besteht darin, dass der Anteil an Einfluss, den die Zielposition auf den Erwartungswert der abhangigen Variablen austibt.
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von Zielposition zu Zielposition unterschiedlich sein kann. Dies ermoglicht die Modellierung eines starkeren oder schwacheren Einflusses einzelner Zielpositionen auf Einstellungen und Verhalten im Vergleich zu den anderen Zielpositionen. Diese Erweiterung bezeichnet Sobel (1981, 1985) als ..diagonal mobility 2" Modell. Inhaltlich betrachtet geht dieses Modell davon aus, dass sich die Klassen in ihrer Fahigkeit, ihre neuen Angehorigen zu sozialisieren, unterscheiden. Weakliem-Modell Die dritte Erweiterung stammt von Weakliem (1992), der das ..diagonal mobility 1" Modell und das ..diagonal mobility 2" Modell zu einem neuen Modell verknlipft. Diese Erweiterung bezieht sich darauf, dass die Gewichte sowohl nach Herkunftsposition als auch nach Zielposition gleichzeitig variieren konnen:
//<'^W,,//('''+(l-cy,,)//"' mit
(5)
. , . = - ^ .
(6)
In diesem Modell hangen die Anteilswerte (O ^j^ bzw. \ — COjj^ erstens von ihren relativen Koeffizienten J9. und zweitens einem Gewicht der Herkunftsposition in Relation zur Zielposition, das in dem Parameter (j) reprasentiert ist, ab. Die Parameter /? geben die relative Starke, mit denen die einzelnen Statusgruppen in das Gewicht eingehen, an. Der Parameter (j) gibt das Gewicht an, mit dem die Koeffizienten pj'm die Anteilswerte eingehen. Ist der Wert < 1, hat die Herkunftsposition einen geringeren Einfluss auf die Anteilswerte. Der in Relation zur Zielposition geringere Einfluss der Herkunftsposition auf die Anteilswerte kann jedoch durch Statusgruppen, die an sich einen starken Einfluss ausiiben (dargestellt in hohen Werten in p^), wieder ausgeglichen werden. Mit dieser Formulierung ist es moglich, den Einfluss der Herkunftsposition und der Zielposition in Abhangigkeit von der Richtung der Mobilitat zu variieren. Das Modell ermoglicht damit die LFberprtifung von Hypothesen Uber asymmetrische Effekte von aufsteigender und absteigender Mobilitat wie z. B. die Annahme, Absteiger seien loyaler zu ihrer Herkunftsklasse als Aufsteiger. 5
Analyse von Einfliissen sozialer Herkunft und sozialer Mobilitat auf Lebensstile Die Anwendung des theoretisch gut begrtindeten ..diagonal mobility''' Modells und seine Erweiteruns durch Weakliem ftihren zu erheb lichen methodischen
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und statistischen Problemen.^ Die Modelle weisen jedoch eine Reihe von Vorteilen auf, die eine grundsatzliche Verwerfting aufgrund schatztechnischer Probleme nicht sinnvoll erscheinen lassen. Der erste entscheidende Vorteil liegt in der theoretischen Fundierung bzw. in dem gelungenen Transfer von theoretischen Grundannahmen in die Spezifikation eines mathematisch-statistischen Modells (vgl. Hendrickx/De Graaf/Lammers/Ultee 1993). Den Modellen liegen theoretische Annahmen hinsichtlich der Beeinflussung von Verhaltensweisen und Einstellungen durch soziale Mobilitat zugrunde. So lassen sich erstens Einstellungen und Verhaltensweisen gemeinsam durch die additiven Einfltisse von sozialer Herkunft und Zielposition sowie der sozialen Mobilitat auf Einstellungen und Verhaltensweisen erklaren. Entsprechend werden in den Modellen die Einfltisse, die von der Herkunftsposition und von der Zielposition ausgehen, als Haupteffekte parametrisiert. Zweitens bieten die Modelle bessere Moglichkeiten komplexe Mobilitatsmuster in die Analyse aufzunehmen als die traditionellen Modelle von Duncan und Hope. Der dritte Vorteil liegt darin, dass die beiden Referenzwerte mit relativen Gewichten versehen werden. Durch diese Gewichtung konnen die Auswirkungen der sozialen Herkunft und die Einfltisse der gegenwartigen sozialen Position exakter und praxisrelevanter modelliert werden. Der vierte Vorteil liegt in den Erweiterungen. Die Anwendung dieser Modelle in der Mobilitatsforschung ist u.a. deswegen so beliebt, well sie unterschiedliche Gewichte beztiglich des Einflusses der sozialen Herkunft und der aktuell eingenommenen Position zulassen. So konnen Hypothesen zu Effekten sozialer Mobilitat gepruft werden, die in dieser Form nicht in konventionelle Modelle einbezogen werden konnten (vgl. De Graaf/Ultee 1990). So lieBe sich z. B. der Frage nachgehen, ob soziale Mobilitat je nach sozialer Herkunft der Personen einen unterschiedlichen Einfluss austibt. Der spezielle Vorteil des Weakliem-Modells liegt in der Moglichkeit, variierende Gewichte gleichzeitig nach sozialer Herkunft und aktuell eingenommener Position zuzulassen. Damit lasst sich bei der Parametrisierung der Haupteffekte die Richtung der Mobilitat berticksichtigen. Femer ist es dadurch moglich, die unterschiedliche Fahigkeit sozialer Klassen, ihre Angehorigen zu pragen, sinnvoller zu modellieren als es unter Verwendung der ..diagonal mobility'' Modelle moglich ware. Stein (2003) zeigt eine Losungsmoglichkeit fiir diese zentralen methodischen Probleme. Auf der Basis des ..diagonal mobility''' Modells entwickelt sie ein allgemeines Modell, das die Vorteile des ..diagonal mobility" Modells und des Weakliem-Modells einbezieht. Im Folgenden werden zwei Erweiterungen ^' Siehe hierzii Stein (2003).
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kurz erlautert, die fur die in diesem Beitrag verfolgte Fragestellung relevant sind. Erstens wird das ..diagonal mobility" Modell auf multivariate abhangige Variablen erweitert, sodass der Einfluss sozialer Mobilitat auf mehrere abhangige Variablen analysiert werden kann. Zweitens konnen durch die Einbeziehung eines faktorenanalytischen Messmodells zusatzlich latente abhangige Variablen einbezogen werden. Das hier verwendete Modell ist somit eine Verallgemeinerung auf mehrere abhangige Variablen, wobei zusatzlich die abhangige Variable latent sein kann. Dies erlaubt die Analyse des Einflusses der sozialen Mobilitat auf theoretische Konstrukte, die nicht direkt der Beobachtung zuganglich sind - wie z. B. Lebensstile. Damit auch der Lebensverlauf bei der Erklarung sozialstruktureller Konzepte fur Lebensstile berticksichtigt werden kann, wurde das Modell um eine zeitliche Komponente erweitert.^ Im Folgenden werden die Effekte sozialer Herkunft und sozialer Mobilitat unter Verwendung des verallgemeinerten Modells spezifiziert und die Parameter unter Anwendung des dreistufigen Schatzverfahrens geschatzt. Die erforderlichen Berechnungen erfolgen mit GAUSS 3.35 sowie MECOSA 3 (Arminger et al. 1996). Datengrundlage. Die Modellierung der Einfltlsse sozialer Herkunfl und aktuell eingenommener Position sowie der Laufbahn durch den Raum sozialer Positionen und damit der Prozess der Habitualisierung setzt Langsschnittdaten zum Bereich Lebensverlauf und Lebensstil tiber einen sehr langen Zeitraum voraus. Diese Daten sind jedoch nicht erhoben, was u.a. darauf zuruckzufuhren ist, dass die Lebensstilforschung noch ein relativ neues Forschungsfeld ist, sodass im Folgenden die Pragung eines Lebensstils retrospektiv betrachtet wird. Datengrundlage fur die folgende Modellierung ist die Erhebung der Allgemeinen Bevolkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 1998, in der das Thema „Lebensstile" ein Schwerpunktthema bildete. Durch das Fehlen von Langsschnittdaten bzw. durch die fehlende retrospektive Erhebung der Zeitdauer, die Personen in einer sozialen Position verbracht haben, kann nicht der gesamte Prozess abgebildet werden. Da in die Analyse nur Personen eingehen konnen, die in alien hier verwendeten Variablen vollstandige Daten aufweisen, konnten insgesamt nur 2394 Personen in die Analyse aufgenommen werden. Spezifizierung der Forschungsfragen. Ausgehend von der allgemeinen Fragestellung werden folgende Fragen spezifiziert, die im weiteren Verlauf unter Anwendung des oben dargestellten Modells beantwortet werden soUen: ^ Zu den technischen Einzelheiten des dreistufigen Schatzverfahrens sowie Ergebnisse von Simulationssstudien siehe Stein (2003).
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Wie stark wird der Lebensstil durch die soziale Herkunft eines Individuums gepragt und wie stark durch die aktuell eingenommene Position? Diese Frage bezieht sich auf die relativen Einfltisse der sozialen Herkunft und der gegenwartigen Position zueinander. Wie verandert sich der Einfluss der sozialen Herkunft auf Lebensstile bei einem Statuswechsel? Bleiben Geschmacksmuster, die sich in der Sozialisation der ersten Lebensphasen herausgebildet haben, lebenslang wirksam, oder verandert sich der Lebensstil grundlegend mit einem Wechsel in eine andere soziale Position? Unter der Annahme, dass die Stellung im Raum sozialer Positionen einen Einfluss auf Lebensstile austibt, ist davon auszugehen, dass sich prinzipiell mit einer Veranderung der sozialen Lage auch der Lebensstil verandern wird. Auslosende Faktoren konnen dabei sowohl individuell als auch strukturell begriindet sein (vgl. Zapf 1987). Unter der Annahme, dass sich der Lebensstil durch eine Veranderung der beruflichen Position andern kann, ist zu vermuten, dass der Einfluss, den die berufliche Position auf Lebensstile auslibt, zunimmt, je langer die Person diese Position einnimmt. Je langer eine Person in der neuen Position ist, desto schwacher mllsste der Einfluss der sozialen Herkunft auf Lebensstile sein. Ist die Starke des Einflusses sozialer Herkunft abhangig von der jeweils spezifischen Herkunftsklasse? Diese Frage bezieht sich darauf, ob die Pragung von Lebensstilen durch die soziale Herkunft unterschiedlich stark ist in Abhangigkeit von den jeweiligen materiellen und kulturellen Bedingungen, denen eine Person in ihrer Primarsozialisation ausgesetzt ist. Ausgehend vom Individuum soil geklart werden, welchen Einfluss die jeweilige soziale Herkunft einer Person innerhalb einer gegebenen sozialen Klasse hat. Ausgehend von der Klassenstruktur gilt es zu klaren, ob sich die Einfltisse der sozialen Herkunft auf Lebensstile bei den einzelnen Statuswechslem innerhalb einer sozialen Klasse unterscheiden, bzw. ob sich die sozialen Klassen in ihrer Fahigkeit unterscheiden, alltagsasthetische Geschmackspraferenzen und Verhaltensweisen zu pragen, die bei einem Statuswechsel beibehalten werden. Ist die Starke des Einflusses sozialer Mobilitat abhangig von der jeweils spezifischen sozialen Klasse, in die das Individuum gewechselt ist? Im Unterschied zur vorherigen Frage bezieht sich diese Frage auf den Einfluss der jeweils aktuellen Klassenzugehorigkeit. Es soil geklart werden, ob sich die sozialen Klassen in der Starke der Beeinflussung ihrer neuen Mitglieder unterscheiden. Ist der Einfluss der sozialen Mobilitat davon abhangig, in welcher Klasse eine Person aufgewachsen ist, und hangt er gleichzeitig davon ab, in welche Klasse sie gewechselt ist? Diese Fragen beziehen sich auf die unterschiedlich Starke Effektivitat der Sozialisation einzelner sozialer Klassen in ihrer Fahigkeit,
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ihre ehemaligen Mitglieder beztiglich ihrer Lebensstile zu pragen und ihre neuen Angehorigen zu sozialisieren. Eng damit verkniipft ist die Frage, wie sich Effekte vertikaler Mobilitat auf den Lebensstil einer Person auswirken. Ist der Effekt der sozialen Herkunft starker bei Personen, die abgestiegen sind, gegentiber den Personen, die aufsteigen? Diese Frage steht im Zusammenhang mit der Frage, ob hohere Schichten einen starkeren Effekt auf Lebensstile austiben als untere Schichten, und zwar unabhangig davon, ob es sich um die jeweilige soziale Herkunftsklasse oder um die soziale Klasse handelt, in der sich das Individuum gegenwartig befmdet. Fokussiert auf das Individuum stellt sich damit die Frage, ob Personen, die sowohl mit hoheren als auch mit unteren Schichten in Kontakt stehen, eher dazu tendieren, sich an dem Lebensstil der hoheren Schichten zu orientieren. Haben inter- und intragenerationelle Mobilitat einen eigenstandigen Effekt auf Lebensstile? Diese Frage betrifft die Effekte, die von einem Statuswechsel ausgehen. In der Lebensstilforschung ist die Frage, ob und inwieweit soziale Mobilitat an sich einen eigenstandigen Effekt auf Lebensstile ausiibt, bisher nicht thematisiert worden. Die Mobilitatsforschung geht davon aus, dass vertikale Mobilitat mit speziellen sozialen Erfahrungen verbunden ist wie z. B. konfligierende Erwartungen oder Statusunsicherheit (Berger 1996). Unter Umstanden konnen es jedoch gerade die haufigen Auf- und Abstiege und nicht die konstanten EinflUsse gleich bleibender Lebensbedingungen sein, die bestimmte Muster des Denkens und Handelns erklaren. Sind die Einfltisse der sozialen Herkunft, der gegenwartig eingenommenen Position und der sozialen Mobilitat abhangig von den individuellen Merkmalen wie z. B. Alter und Geschlecht der Befragten? Eine Vielzahl empirischer Ergebnisse weist darauf hin, dass neben vertikalen Merkmalen sozialer Ungleichheit (Bildung) auch horizontale Merkmale sozialer Ungleichheit (Alter) einen starken Einfluss auf alltagsasthetische Praferenzen und Verhaltensweisen austiben (z. B. Georg 1999). Neben direkten Effekten dieser Merkmale ist es denkbar, dass die Einfltisse der sozialen Herkunft, der sozialisationsspezifischen Entwicklung und der gegenwartigen sozialen Position auf die asthetische Orientierung entlang dieser Merkmale variieren. Kategorisierung der Berufsgruppen. Als Basis fur die folgende Analyse wird eine Berufsgruppenklassifizierung zugrunde gelegt, die sich an Bourdieus Aufteilung von Klassen und Klassenfraktionen orientiert. Bei der Einteilung der Berufsgruppen wurde eine Berufsgruppenzuordnung von De Graaf et al. (1989) zu Hilfe genommen. Diese entwickelten in Anlehnung an Bourdieu eine Klassifikation, die kulturelle und okonomische Dimensionen des beruflichen Status unterscheidet und auf dieser Basis Skalen zur Messung des kulturellen und okonomischen Status entwickelt.
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Die beruflichen Tatigkeiten und Stellungen werden in sechs Kategorien eingeteilt. Im Einzelnen handelt es sich dabei um: 1) Selbstandige Akademiker wie Arzte mit eigener Praxis, Rechtsanwalte und Beamte im hoheren Dienst wie Hochschullehrer und Richter. Mit der Bildung dieser Gruppe wird die kulturelle Fraktion der herrschenden Klasse im Sinne Bourdieus reprasentiert. 2) Selbstandige ohne akademischen Abschluss in Handel, Gewerbe, Industrie und Dienstleistung (sonstige Selbstandige). Diese Einteilung orientiert sich an der Fraktion der herrschenden Klasse in der Theorie Bourdieus, die uber hohes okonomisches Kapital und weniger kulturelle Kompetenzen verfugen. Darunter werden Handelsunternehmer, Industrieunternehmer sowie staatliche und private Flihrungskrafte ohne Hochschulbildung subsumiert. 3) Leitende, hochqualifizierte Angestellte: Angestellte mit hochqualifizierten Tatigkeiten und umfassenden Leitungsaufgaben sowie Beamte im gehobenen Dienst. Hierbei handelt es sich um eine Personengruppe, die zwar der herrschenden Klasse im Sinne Bourdieus zuzurechnen ist, aber aufgrund ihres Kapitalvolumens und ihrer Kapitalstruktur (hoheres kulturelles Kapital als die okonomische Fraktion und niedrigeres okonomisches Kapital als die kulturelle Fraktion) eine untere Stellung einnimmt. 4) Angestellte mit qualifizierten Tatigkeiten und Beamte im mittleren Dienst. Bei der Zusammenstellung der „mittleren Klassen" konnten die Gruppen beztiglich ihrer spezifischen Kapitalzusammensetzung in der Differenz von okonomischem und kulturellem Kapital nicht eindeutig unterschieden werden. 5) Ausfuhrende Angestellte: Angestellte mit einfachen Tatigkeiten, sowie Industrie- und Werkmeister im Angestelltenverhaltnis und Beamte im einfachen Dienst. Diese Gruppe ist ebenfalls der mittleren Klasse im Sinne Bourdieus zuzuordnen, jedoch unterscheidet sie sich von der vorhergehenden Gruppe durch ihr niedrigeres Kapitalvolumen. 6) Arbeiter und kleine Landwirte. In Anlehnung an Bourdieu wird innerhalb der „Arbeiterklasse" nicht zwischen kultureller und okonomischer Fraktion unterschieden. In dieser Gruppe werden alle Erwerbstatigen mit manuellen Berufen in Handwerk und Industrie sowie Erwerbstatige in manuellen Agrarberufen, ausgenommen selbstandige Landwirte mit uber 20 ha Land, zusammengefasst. Es handelt sich hierbei um Erwerbstatige, die sich im Beschaftigungsverhaltnis im Sinne eines klassischen Arbeits- oder Tauschkontrakts in idealtypischer Weise befmden.
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Die sechs Statusgruppen lassen sich bezliglich verschiedener Merkmale^ auf einer vertikalen Achse sozialer Ungleichheit anordnen, wie es bei Bourdieu durch die Vorstellung eines „summarischen Kapitalvolumens" ausgedrticict wird. Da insgesamt eine hierarchische Struktur vertikaler Ungleichheit beztighch der aufgezeigten Merkmale zwischen den Statusgruppen gegeben ist, konnen bei der Modellierung auch die Effekte auf- und absteigender Mobilitat berticksichtigt werden. Aus der Konzentration auf die Erwerbssphare folgt, dass in der Analyse auch nur Erwerbstatige berucksichtigt werden und damit Studierende, Rentner, Hausfrauen und -manner sowie Arbeitslose herausfallen. Auswahl der Modellvariablen. Aus der Allgemeinen Bevolkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 1998 werden folgende Variablen ausgewahlt, die als erklarende Variablen fungieren: Die soziale Herkunft wird operationalisiert liber die Berufsposition des Vaters zum Zeitpunkt, als der Befragte 15 Jahre alt war, die gegenwartige Position des Befragten wird aus den Variablen berufliche Tdtigkeit und berufliche Stellung gebildet. Die Berufspositionen werden jeweils in die oben dargestellten sechs Kategorien zusammengefasst. Der Prozess der Habitualisierung ist ein komplexer Prozess, an dem verschiedene Gegebenheiten mit unterschiedlichen Gewichtungen und Variationen nach der sozialen Herkunft und aktuell eingenommenen Positionen in Wechselwirkung beteiligt sind. Um solche Gegebenheiten zu berticksichtigen, wird das Modell zur Erklarung des Lebensstils um weitere Variablen erganzt: Soziodemographische Merkmale: Geschlecht (0 mannlich, 1 weiblich), Alter (klassifiziert in 10 Jahresschritten), Region (0 Alte Bundeslander, 1 Neue Bundeslander), Bildung (1 „mindestens Fachhochschuireife" und 0 „hochstens Realschulabschluss"), Nettoeinkommen (kreiert durch arithmetische Transformation von Haushaltsnettoeinkommen und Anzahl der Haushaltsmitglieder).^ Variablen zur Erfassung der Karrieremobilitat: Durch arithmetische Transformation der Variablen zur Erfassung der „Berufsausbildung(en)" und „jetzige Berufsposition des Befragten" werden zwei Variablen gebildet, die Auskunft liber weitere Berufsausbildungen im Lebensverlauf einer Person geben: LAUFBAHN(+) mit den Auspragungen 1 fiir „aufsteigende Mobilitat" und 0 „sonst", LAUFBAHN(-) mit den Auspragungen 1 fiir „absteigende Mobilitat" und 0 „sonst". Variablen zur Erfassung von Effekten, die von der Mobilitat ausgehen: Durch arithmetische Transformationen der Variablen (1) jetzige Berufsposition ^ H5he des Nettoeinkommens, Bildung, Berufsprestiges nach Wegener (1988), dem International SociO'Economic Index nach Ganzeboom (1990) und der Standard International Occupational Prestige Scale nach Treiman (1977). ^' Bei der Erstellung der Variablen wurde eine Gewichtung nach den unterschiedlichen Mitgliedern (Haushaltsvorstand, Alter der Mitglieder) berucksichtigt.
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des Befragten und (2) Berufsposition des Vaters zum Zeitpunkt, als der Befragte 15 Jalire alt war, werden Variablen kreiert, mit denen der Effekt der Mobilitat an sich erfasst werden soil: MOB zur Erfassung von Mover-Stayer-KontrastQn mit den Auspragungen 1 flir „Mobilitat hat stattgefunden" und 0 „keine Mobilitat", zwei Dummy-Variablen zur Erfassung der Richtung der Mobilitat (DIR(+) fur aufsteigend und DIR(-) fiir absteigend), STEPS, mit denen die Schritte durch die Mobilitatshierarchie abgebildet werden. Operationalisierung von Lebensstil Lebensstile beziehen sich auf die alltagsasthetische Gestaltung des Lebens und auBem sich in der Form alltagsasthetischer Praferenzen. Sie zeichnen sich vorrangig durch ihren Aktivitatsgehalt aus und prasentieren sich dem Beobachter auf der Ebene subjektiven Verhaltens. In Lebensstilen auBem sich die kulturellen Praferenzen der Akteure. Die spezifischen Verhaltensweisen auf verschiedenen Handlungsfeldern des taglichen Lebens fixgen sich zu einem gemeinsamen und unverwechselbaren Stilmuster zusammen. Diese Stilmuster sind Lebensstile. Im Lebensstil drixcken sich Btindel von Praferenzen aus, mit denen die Individuen ihre Besonderheit bewusst und unbewusst aktiv darstellen. Praferenzen und Verhaltensaspekte sind dabei nicht isoliert zu sehen, sondern stehen in einem systematischen Zusammenhang. Sie sind als Handlungs-, Verhaltens- und Praferenzmuster zu betrachten. Lebensstil wird daher im Folgenden defmiert als ein System von Praferenzen, Verhalten und Handlungen im Bereich AUtagskultur und -asthetik. Operationalisiert werden Lebensstile durch die im ALLBUS 98 enthaltenen Indikatoren zur Messung alltagsasthetischer Praferenzen, kultureller Orientierungen und Freizeitverhalten: bevorzugte Freizeitaktivitaten, Musikgeschmack, Interesse an bestimmten Arten von Fernsehsendungen, Interesse an verschiedenen Inhalten der Tageszeitung. Die Indikatoren wurden anhand einer funfstufigen Skala (1= interessiert mich sehr stark; 5 = interessiert mich tiberhaupt nicht) erhoben. Die Indikatoren fiingieren als abhangige Variablen in dem Modell. Zur Entdeckung von Praferenz- oder Verhaltensmustern und damit zur Aufdeckung von Lebensstildimensionen werden die Indikatoren zunachst einer explorativen Faktorenanalyse nach der Hauptkomponentenmethode unterzogen und drei Faktoren ausgewahlt, die - in Anlehnung an Schulze (1992) - als Hochkulturschema, Trivialschema und Spannungsschema interpretiert werden. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Modellierung nur fiir das Hochkulturschema vorgestellt. 6 Effekte sozialer Mobilitat auf das Hochl^^ulturschema Die Effekte sozialer Herkunft und der sozialen Mobilitat auf das Hochkulturschema wurden zunachst unter Verwendung der verschiedenen Mobilitatsmo-
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delle (,,diagonal mobility'' Modell, ^diagonal mobility 1" Modell, ,,diagonal mobility 2" Modell, Weakliem-Modell) spezifiziert und die Modellparameter unter Anwendung des dreistufigen Schatzverfahrens geschatzt und getestet. Da das Hochkulturschema ein theoretisches Konstrukt ist, das erst unter Verwendung eines Messmodells mit den Indikatoren in Verbindung gesetzt wird, wird ein faktorenanalytisches Modell einbezogen. Zur Beurteilung der Modellanpassung wurden die auf der Minimum-Distanz-Schatzung basierende 2^ - TestStatistik sowie das Bayesianische Informationskriterium BIC herangezogen. Als Ergebnis kann zusammengefasst werden, dass das Weakliem-Modell am besten an die Daten angepasst ist. Die Minimum-Distanz-Schatzung ergibt eine ^ Test-Statistik von 187.122 bei 234 Freiheitsgraden. Daher wird die Nullhypothese, dass die Parameter der reduzierten Form durch das gewahlte Modell generiert wurden, aufgrund der Daten dieser Stichprobe auf dem Testniveau von a = 0.05 angenommen. Das Informationskriterium BIC = 295.25 ist kleiner als bei den Modellen, die starkere Restriktionen auf die Anteilswerte formulieren. Inhaltlich bedeutet dies, dass erstens das Hochlculturschema sowohl durch die soziale Herkunft als auch durch die gegenwartig eingenommene Position eines Individuums beeinflusst wird. Zweitens variiert der Anteil an Einfluss, den die soziale Herkunft auf das Hochkulturschema austibt, sowohl nach der jeweils spezifischen sozialen Herkunft als auch gleichzeitig nach der jeweils spezifischen aktuell eingenommenen Position. Die Anpassung dieses Modells an die Daten konnte noch verbessert werden durch die Einbeziehung der zusatzlichen explanatorischen Variablen Alter, Bildung, Geschlecht und Laufbahn. Es kann festgehalten werden, dass die Erklarungsl
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dieses Praferenz- und Verhaltensmusters assoziiert ist. Die Hohe der Faktorladungen zeigt an, dass das Hochkulturschema starker mit alien anderen Indikatoren zur Messung des Konstruktes als mit dem Referenzitem assoziiert ist. Die relativ hohe positive Faktorladung des Indikators „Praferenz fiir Klassische Musik" auf den Faktor Hochlmlturschema weist darauf hin, dass das Hochkulturschema in Relation zu den anderen Indikatoren starker mit dieser Musikstilpraferenz assoziiert ist. Die Ladungen der Indikatoren „Interesse an Kunst- und Kultursendungen", „Interesse am Kulturteil in der Zeitung" und die „Lekture von Btlchern in der Freizeit" unterscheiden sich nur geringfugig. Am schwachsten ist das Hochkulturschema mit dem Interesse an der aktiven kulturellen Beteiligung in Form musischer Tatigkeiten assoziiert. In der folgenden Tabelle sind die Anteilswerte CO :j^, mit denen die jeweilige soziale Herkunft in den Erwartungswert des Konstrukts „Hochkulturschema" eingeht, dargestellt. Da die Anteilswerte, die Auskunft liber die Beeinflussung durch die gegenwartige soziale Position geben, \ - 0) ^j^ sind, werden sie hier nicht explizit aufgelistet. ZuzUglich werden die Parameter pi^j = X.,.^6, die die relative Starke, mit denen die einzelnen Statusgruppen in das Gewicht eingehen, sowie der Parameter (/), der das Gewicht der sozialen Herkunft in Relation zur jetzigen Stellung im Raum der sozialen Positionen anzeigt, angegeben. Es ist zu beachten, dass die Werte aus den Parametern (j) und p^,...,p^ berechnet wurden. Alle Parameterschatzer sind auf dem 95-Prozent-Niveau signifikant von Null verschieden. Bei der Betrachtung der Koeffizienten j^j,...,/?^ wird deutlich, dass auf der einen Seite die Statusgruppe, die tiber das hochste kulturelle und okonomische Kapital verftigt {Selbstdndige Akademiker und hohere Beamte), und auf der anderen Seite die Statusgruppe, die tiber den geringsten Umfang an Kapitalien verftigt {Arbeiter und Landwirte), in Relation zu den anderen Statusgruppen einen sehr starken Effekt auf die Zuneigung oder Abneigung zum Hochkulturschema ausuben. Die Werte konnen dahingehend interpretiert werden, dass diese Statusgruppen ihre Angehorigen bezuglich des Interesses oder Desinteresses an der etablierten Kultur starker pragen als andere Statusgruppen. Im Gegensatz dazu zeigen die niedrigen Werte der Statusgruppe der Angestellten mit qualifizierten Tdtigkeiten und Beamten im mittleren Dienst sowie der Statusgruppe der AusfUhrenden Angestellten und Beamten im einfachen Dienst an, dass diese Statusgruppen hochkulturelle Geschmacks- und Verhaltensmuster weniger beeinflussen.
178 Tabelle 1:
Petra Stein Gewichte des Weakliem-Modells gegenwdrtige Position (k)
soziale Herkunft (j)
SELB.
SONST.
LEIT.
QUAE.
AUS.
^ = 0.414
AKD
SELB
ANG
ANG
ANG
ARBEIT
SELB. AKD
pi = 1.200
1.000
0.332
0.332
0.396
0.381
0.267
AND. SELB
P2= 0.999
0.257
1.000
0.293
0.354
0.339
0.233
LEIT. ANG
P3 = 0.999
0.257
0.293
1.000
0.354
0.339
0.233
QUAE. ANG
P4= 0.757
0.270
0.238
0.293
1.000
0.280
0,187
AUS. ANG
P5 = 0.807
0.250
0.251
0.360
1.000
0.196
0.320 0.361 0.361 0.427 0.412 1.000 P6= 1.364 ARBEIT Anmerkung: SELB. AKD = Selbststandige Akademiker und hohere Beamte; SONST. SELB = Nichtakademische Selbststandige; LEIT. ANG = Angestellte mit hochqualifizierten Tatigkeiten und umfassenden Leitungsaufgaben sowie Beamte im gehobenen Dienst; QUAE. ANG = Angestellte mit qualifizierten Tatigkeiten und Beamte im mittleren Dienst; AUS. ANG = Ausfiihrende Angestellte und Beamte im einfachen Dienst; ARBEIT = Arbeiter und Landwirte
Bei der Betrachtung der Anteilswerte, mit denen die soziale Herkunft in den Erwartungswert des Konstruktes „Hochkulturschema" eingeht, wird deutlich, dass die Werte bei alien Statuswechslern unter dem Wert 0.5 liegen. Die Werte zeigen an, dass die Zuneigung bzw. Abneigung zum Hochkulturschema bei alien Statuswechslern starker durch die gegenwartige Steliung im Raum sozialer Positionen als durch die soziale Herkunft beeinflusst wird. Geschmackspraferenzen modifizieren sich damit erheblich bei sozialen Auf- und Abstiegen. Der Einfluss der sozialen Herkunft ist jedoch bei den einzelnen Statuswechslern sehr unterschiedlich. Vergleicht man die Anteilswerte untereinander, ist festzustellen, dass diese relativ hoch sind bei den Personen, die aus der Statusgruppe der Arbeiter und Landwirte sowie aus der Statusgruppe der Selbstdndigen Akademiker und hoheren Beamten in andere Statusgruppen wechseln. Ebenfalls relativ hoch sind die Werte bei den Personen, die in die Statusgruppe der Qualifizierten Angestellten und Beamten im mittleren Dienst und in die Statusgruppe der Ausfilhrenden Angestellten und Beamten im einfachen Dienst wechseln. Die relativ hohen Anteilswerte zeigen an, dass diese Personen in Bezug auf ihre Neigung oder Abneigung zum Hochkulturschema starl<:er durch ihre soziale Herkunft gepragt sind als andere Personengruppen. Im Unterschied dazu zeigen die relativ niedrigen Anteilswerte der Personen, die in die Statusgruppe der Arbeiter und Landwirte oder in die Statusgruppe der Selbstandigen Akademiker undhohen Beamten wechseln, dass die soziale
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Herkunft bei diesen Personengruppen eine geringere Bedeutung hat. In diesen Werten spiegein sich zum einen der starke Einfluss der Statusgruppe der Arbeiter und Landwirte sowie der Statusgruppe der Selbstdndigen Akademiker und hohen Beamten und zum anderen der im Verhaltnis dazu schwache Einfluss der Statusgruppen der Qualifizierten Angestellten und Beamten im mittleren Dienst und AusfUhrenden Angestellten und Beamten im einfachen Dienst wider. Im weiteren Verlauf wird auf die Darstellung der einzelnen Koeffizienten, die Auskunft iiber den Grad der Ab- oder Zuneigung zum Hochkulturschema bei den ,,stayern" und „movern'' erteilen, verzichtet.^^ Anstelle dessen wird eine Interpretation des gesamten Bildes gegeben. Bezieht man zusatzlich die hier nicht explizit aufgefiihrten Koeffizienten in die Interpretation ein, lassen sich folgende Schltisse Ziehen: Die relativ hohen Anteilswerte bei den Absteigern aus der Gruppe der Selbstdndigen Akademiker und hoheren Beamten zeigen an, dass Personen, die aus dieser Gruppe abgestiegen sind, starker die fur ihre soziale Herkunft typische Neigung zum Hochkulturschema bewahren. Personen, die aus der Gruppe der Arbeiter und Landwirte in andere Statusgruppen gewechselt sind, bewahren dagegen starker das in ihrer Gruppe gering ausgepragte Interesse fiir die etablierte Kultur. Die relativ niedrigen Anteilswerte bei den Wechslern in die Gruppe der Arbeiter und Landwirte weisen darauf hin, dass Personen starker die dort vorherrschenden Geschmackspraferenzen iibernehmen. Im Unterschied dazu halten Wechsler in die mittleren Statusgruppen starker an Geschmackspraferenzen, die fur die Statusgruppe, aus der sie stammen, typisch sind, fest. Wechsler aus diesen Statusgruppen dagegen iibernehmen starker als andere Statuswechsler die Geschmackspraferenzen der Statusgruppe, in die sie gewechselt sind. Bei einem Vergleich der Anteilswerte der Personengruppen, die aus hoheren Statusgruppen in niedrigere abgestiegen sind (Werte oberhalb der Hauptdiagonalen in der Tabelle), mit denen der Personengruppen, die in hohere aufgestiegen sind (Werte unterhalb der Hauptdiagonalen), ist zu erkennen, dass die Werte bei den Absteigern im Durchschnitt etwas hoher sind. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Absteiger alltagsasthetische Geschmackspraferenzen, die im Sozialisationsprozess durch ihre soziale Herkunftsklasse vermittelt wurden, starker bewahren als Aufsteiger. Allerdings bleibt diese Interpretation der Ergebnisse nur spekulativ, da aufgrund der Querschnittsdaten keine Kausalitat unterstellt werden kann. Die Ergebnisse konnen auch bedeuten, dass alltagsasthetische Praferenzen und kulturelle Orientierungen Aufstiegsorientierungen beeinflussen Oder durch Selbstselektion wechselseitige Beziehungen zwischen Lebensstilen und sozialer Mobilitat bestehen. ^' Eine Auflistung und Interpretation der einzelnen Koeffizienten lasst sich in Stein (2005) fmden.
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7 Schlussbetrachtung Dieser Beitrag ging der Frage nach, ob die Einbeziehung von Mobilitatsprozessen die Erklarungskraft von vertikalen Strukturierungskonzepten fur Lebensstile verstarkt. Dazu wurde ein Modell verwendet, das auf der Basis von Modellen zur Analyse von Effekten sozialer Mobilitat entwickelt wurde. Theoretische Grundlagen der Modellierung lieferten das Habituskonzept sowie das Klassenkonzept von Pierre Bourdieu. Die Ergebnisse wurden fur das Hochkulturschema prasentiert. Sie zeigen, dass hochkulturelle Geschmackspraferenzen nicht losgelost von den sozialen Positionen und den objektiven Lebensbedingungen zu verstehen sind, sondern im Zusammenhang zu Merkmalen vertikaler Ungleichheit stehen. Die Zugehorigkeit zu einer Klasse alleine erklart jedoch nur begrenzt Geschmacks- und Praferenzmuster im Bereich der Alltagskultur. Es kann resUmiert werden, dass das Wissen liber Mobilitatsprozesse erheblich dazu beitragt, die Erklarungslaaft von Klassen oder Schichten zu verbessern. Zwei Inhaber gleicher Positionen konnen unterschiedliche Lebensstile haben, was zum Teil auf die materiellen und kulturellen Bedingungen, denen sie zum Zeitpunkt der primaren Sozialisation ausgesetzt waren, zurtickgefuhrt werden kann. Der Einfluss, den die intergenerationelle Mobilitat auf die Neigung zum Hochlculturschema ausubt, ist sehr stark. Die Ergebnisse zeigen, dass die Neigung zum Hochlmlturschema starker durch die gegenwartige Position als durch die soziale Herkunft beeinflusst wird. Daraus folgt, dass die Anpassungen der Personen an veranderte Ressourcenlagen sehr stark ausgepragt ist: Personen orientieren sich starker an den Statusgruppen, in die sie hineingewechselt sind, als an ihrer sozialen Herkunftsklasse. Die Ergebnisse lassen darauf schlieBen, dass sich durch einen Statuswechsel der Einfluss der sozialen Herkunft verringert. Diese Aussage ist allerdings relativ: Der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Neigung zum Hochl<:ulturschema verringert sich durch soziale Mobilitat, er verschwindet aber nicht ganzlich. Literatur Abel, T., A. Riitten, 1994: Struktur und Dynamik moderner Lebensstile: Grundlage flir ein neues empirisches Konstrukt, in: J. S. Dangschat, J. Blasius (Hrsg.), Lebensstile in den Stadten. Konzepte und Methoden, Opladen: Leske und Budrich, S. 216-234. Arminger, G., J. Wittenberg, 1996: MECOSA 3: A Program for the Analysis of General Mean- and Covariance Structures with Non-Metric Variables, User Guide, Frauenfeld, Schweiz: SLI-AG. Berger, P. A., 1996: Individualisierung, Opladen: Westdeutscher Verlag. Beck, U., 1983: Jenseits von Klasse und Stand. Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und I-
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Paradigmen der vergleichend-historischen Methodologien: Durkheimsche vs. Weberianische Ansatze und ihre Folgen^ Harold Kerbo
1 Einleitung: Reflexive und vergleichende Soziologie Soziologen, die sich schon seit den 60er und 70er Jahren mit dem Thema beschaftigen, sahen mit Belustigung zu, wie ihre Kollegen in den Bereichen der freien Kiinste und der Geisteswissenschaften wahrend der 90er Jahre die „Postmoderne" und den „Dekonstruktivismus" entdeckten. Die Soziologie ist schon seit langem „selbst-reflexiv"; eine „Soziologie der Soziologie" und eine „reflexive Soziologie" waren schon in den spaten 60er und 70er Jahren in aller Munde. Soziologen wie Strasser (1976), Gouldner (1970, 1973) und Friedrichs (1970) halfen uns zu verstehen, wie unerkannte Vorannahmen vielerlei Art unser Denken im Prozess der Forschung und der Theoriebildung umnebeln konnen. Damit warnten sie uns vor exakt denselben kulturellen und politischen Vorurteilen, von denen die heutigen „Post-Modernisten" uns erzahlen, dass wir sie „dekonstruieren" mtissten. Ebenfalls wahrend der 60er und 70er Jahre halfen uns Wissenschaftshistoriker wie Kuhn (1962) zu verstehen, welchen Einfluss „paradigmatische Vorannahmen", die nicht benannt und oft nicht erkannt werden, selbst in den harten Naturwissenschaften, etwa in der Physik, haben. Im Gegensatz zu der idealisierten Auffassung von wissenschaftlicher Methode und Theorie sind die Ansicht eines Wissenschaftlers von dem Untersuchungsgegenstand und die Theoriebildung nicht einzig und allein auf eine ktihle Auswertung der verfugbaren empirischen Daten gegrtindet. Vielmehr mtissen Wissenschaftler in ihrer Arbeit bis zu einem gewissen Grad von einem Set von vorwissenschaftlichen und ungepriiften Vorannahmen liber die zu erforschenden Phanomene ausgehen. Albert Einstein formulierte das so: „Die bloBe Ansammlung erfasster Phanomene reicht niemals aus, um eine Theorie aufzustellen; es muss immer noch eine fi'eie Erfmdung des menschlichen Geistes hinzukommen, die zum Kern der Sache vorstoBt" (zitiert nach Dukas/Hoffman 1979: 24). Gelegentlich ging Einstein noch daruber hinaus, indem er die Idee zuriickwies, dass „Tatsachen aus sich heraus, ohne die Ubersetzung: Stefanie Osthof
Paradigmen der vergleichend-historischen Methodologien
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freie Begriffskonstruktion, wissenschaftliches Wissen hervorbringen konnen und sollten" (zitiert nach Clark 1971: 63). In der zweiten Auflage seines Bahn brechenden Werkes nahm Kuhn (1970) auch die Frage nach den Paradigmen in den Soziaiwissenschaften auf. Seine nunmehr akzeptierte Ansicht war, dass viel mehr paradigmatische Vorannatimen die Arbeit der Soziologen beeinflussen als in den Naturwissenschaflen. Eine groBere Zahl der Forschungsgegenstande von soziologischem Interesse ist beladen mit kulturellen, politischen, Klassen- und religiosen Vorurteilen, die sich in unseren Kopfen wahrend des Sozialisierungsprozesses angehauft haben. Wenige Nicht-Wissenschafller haben vorgefasste Meinungen daruber, wie sich Quarks und andere subatomare Partikel verhalten; fast jeder wachst hingegen in einer Kultur auf, die ihm „sagt", warum Menschen Verbrechen begehen, arm oder Terroristen sind. Die fruheren Arbeiten von Strasser (1976), Gouldner (1970, 1973) und anderen uber soziologische Paradigmen beschaftigten sich liberwiegend mit Wertungen, politischen Vorannahmen oder einfach mit allgemeinen Vorstellungen von Gesellschaften; z. B. die Vorannahmen des funktionalen vs. des Konfliktparadigmas. Aber sie waren sich alle der vielen anderen Typen von paradigmatischen Vorannahmen wohl bewusst, die unsere Forschung und Theoriebildung beeinflussen konnen. Im vorliegenden Beitrag geht es vor allem um die konkurrierenden vergleichend-historischen methodologischen Ansatze in der Geschichte der Soziologie. Nach einer Untersuchung dieser zwei konkurrierenden methodologischen Ansatze werde ich mich damit beschaftigen, wie die dominantere Durkheimsche vergleichende Methode fur Soziologen, Okonomen und andere Sozialwissenschaftler zu Problemen bei dem Versuch gefiihrt hat, heute den Prozess der okonomischen Entwicklung und der Verringerung der Armut in den weniger entwickelten Landern zu verstehen. AuBerdem beschaftige ich mich damit, wie diese Methode es erschwert, ein richtiges Verstandnis von der genauen Art der sozialen Schichtung in Japan im Vergleich mit den anderen post-industriellen Gesellschaften zu entwickeln. Abschliefiend werde ich begriinden, warum wir einige grundlegende Lektionen der Forschungsmethodenlehre beherzigen mussen, in denen wir lemten, quantitative und qualitative Methoden soweit wie moglich zu kombinieren; Lektionen, die anscheinend in der vergleichendhistorischen Forschung weitgehend vergessen worden sind. 2
Konkurrierende vergleichend-historische Methodologien in der Geschichte der Soziologie Von Beginn des 20. Jahrhunderts an entwickelte sich die amerikanische Soziologie zu einer sich selbst beaugenden, von den anderen Wissenschaften abge-
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schnittenen und ziemlich a-historischen Wissenschaft. Vergleichend-historische Methodologien wurden, um es vorsichtig auszudrticken, selten angewendet. Erst langsam drang die globale Welt nach dem Zweiten Weltkrieg weiter ins Bewusstsein der amerikanischen Soziologie, und bedeutende Theorien wie der Funktionalismus begannen, eine starker vergleichend-historische Perspektive einzunehmen. Das Streben der amerikanischen Soziologen nach wissenschaftlichem Status bedeutete jedoch, dass sie „sich wissenschaftlicher darstellen" wollten, und das bedeutete: immer mehr statistische Analyse. Bis in die jungste Vergangenheit hinein bedeutete diese statistische Analyse fur gewohnlich die Verteilung von hunderttausenden Fragebogen oder die Gewinnung von Individualdaten durch Erhebungen der Regierung. Bei Ausdehnung der zu analysierenden Einheit auf ein nationales Niveau wurden die „Ns" zu klein fur die damaligen statistischen Methoden. Selbst unter Einbeziehung einiger Zeitdimensionen (oder „Ts") ftir jedes Land in die Analyse blieben die „Ns" zu klein fur die anerkannten Methodologien. Um „wissenschaftlich" zu bleiben, hielten sich die amerikanischen Soziologen deshalb an den Einzelnen als zu analysierende Einheit, wenngleich der Wirkungsbereich der Soziologie ein weiteres Feld der Analyse hatte umfassen sollen. Von den 70er Jahren an entwickelte oder erkannte die Soziologie jedoch neue statistische Methoden, zuerst in den Vereinigten Staaten, dann auch in Europa, welche weniger Falle (oder „Ns") erforderten und Autokorrelation von graduellen Veranderungen liber historische Zeitabschnitte hinweg kontrollieren konnten. Mit dem Vordringen der Zeitreihenanalyse waren einige der Probleme uberwunden worden, die die statistische Analyse in der Soziologie auf den Einzelnen als Analyseeinheit beschrankten. Die typische vergleichend-historische Methodologie umfasst heute ein Sample von 25 bis 50 oder sogar noch mehr Nationen oder Untereinheiten quer durch alle Nationen. Es werden Daten zu einer Reihe von unabhangigen Variablen gesammelt, wie z. B. das AusmaB von auslandischen multinationalen Wirtschaftsinvestitionen in jedem Land, die Hohe auslandischer fmanzieller Hilfe, die jedem Land zuflieBt, ausstehende Schulden, die an reichere Nationen und internationale Agenturen gezahlt werden mtissen, Handelsstrome usw. Dann werden Daten zu abhangigen Variablen gesammelt, indem so etwas gemessen wird wie das Wachstum, ausgedrtickt durch das Bruttosozialprodukt, Einkommensungleichheit und verschiedene Indikatoren fur den Lebensstandard wie Armutsniveaus, Lebenserwartung und Kindersterblichkeit. Verzogerte Zeitintervalle von 5 oder 10 Jahren werden verwendet, in denen den unabhangigen Variablen (etwa den multinationalen Wirtschaftsinvestitionen) Zeit gelassen wird, ihre theoretisch erwarteten Effekte zu bewirken; dann werden statistische Korrelationen gebildet mit dem Ziel herauszufmden, ob zwischen diesen Variablen Zusammenhange gefunden werden konnen (wie
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z. B. der Zusammenhang von internationalen Wirtschaftsinvestitionen und hoheren Niveaus von Einkommensungleichheit nach 10 Jahren). Die neue vergleichend-historische Methode hat z. B. Soziologen, die sich fur soziale Ungleichheit interessieren, geholfen, unterschiedliche oder gleiche politische und soziale Krafte zu verstehen, die Nationen tibergreifend auf die Raten von sozialer Mobilitat oder Einkommensungleichheit einwirken (Wright 1997; Erikson/Goldthorpe 1992; Alderson/Nielsen 2002). Weltsystemtheoretiker haben diese neue vergleichend-historische Methodologie genutzt, um die negativen Effekte der wirtschaftlichen Abhangigkeit fiir weniger entwickelte Nationen in der Weltwirtschaft zu verstehen (Bomschier/Chase-Dunn 1985; Firebaugh 1996, 1992). Diese Art von Forschung war schon immer komplex, well es zu Kontroversen um die korrekten MaBe der Variablen kommen kann. Trotz dieser Schwierigkeiten haben 30 Jahre Forschung mit den neuen vergleichend-historischen Methodologien in Bereichen wie soziale Ungleichheit und das moderne Weltsystem beeindruckende Ergebnisse hervorgebracht. Wir sind heute beispielsweise ziemlich sicher, dass unterschiedliche Grade von gewerkschaftlicher Organisation und der Nahe von Regierungen zur kapitalistischen Klasse quer durch alle Industrienationen hinweg signifikante Effekte auf die Grade von Einkommensungleichheit und Armut haben (Moller et al. 2003). Wir wissen, dass ein hohes Niveau von Auslandsinvestitionen von einem einzelnen reichen Land die Ursache fur weniger Wirtschaftswachstum in armeren Landern sein kann (Kentor/Boswell 2003). Aber uns muss klar sein, was diese Forschung gezeigt hat und was sie nicht gezeigt hat, und wir mtissen klar die inharenten Beschrankungen der aktuellen vergleichend-historischen Methodologien benennen. Haufig wird libersehen, dass ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen etwa multinationalen Investitionen zu einem Zeitpunkt und langsamerem Wirtschaftswachstum zu einem spateren Zeitpunkt (10 Jahre spater) einfach nur bedeutet, dass in den meisten Nationen mit groBen Betragen von multinationalen Wirtschaftsinvestitionen die okonomischen Wachstumsraten spater abgesunlcen sind. Es bedeutet nicht, dass dies in alien Nationen geschieht, vielmehr lediglich, dass so etwas tendenziell bei der Durchsicht des Samples von 50, 75 oder 100 Nationen auftritt. Das bedeutet nattirlich, dass einige Nationen in dem Sample ein hohes Niveau an auslandischen multinationalen Wirtschaftsinvestitionen und ein starkes Wirtschaftswachstum in spateren Jahren haben. Recht haufig werden die Autoren dieser Forschungsrichtung anmerken, dass einige (manchmal nicht einmal genau benannte) Lander „AusreiBer" seien, was bedeutet, dass sie auBerhalb der Bereiche liegen, in denen sich die anderen Lander gemaB den Variablen zu einer Linie versammeln. Aber damit ist dann das Thema erledigt. Warum sind diese Lander „AusreiBer"? Was ist anders an ihnen, dass sie sich nicht in den sta-
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tistisch signifikanten Zusammenhang zwischen den wichtigen untersuchten Variablen einfiigen? Zum Zweiten mlissen wir erkennen, dass die Methodologien, die iiberwiegend in der Weltsystemforschung angewendet werden, einer Durkheimschen Tradition folgen (Ragin/Zaret 1983; Smelser 1976). Es war natlirlich Durkheim, der als Erster annahm, dass es alle Gesellschaften uberspannende „naturliche Gesetze" des menschlichen Verhaltens und der sozialen Organisation gebe, und der dann in seinem meisterhaften Werk Der Selbstmord {Suicide, 1857 [1951]) zeigte, wie diese „Gesetze" aufgedeckt werden konnen. Anhand dieser Durkheimschen Methodologie kann die Forschung beispielsweise wichtige Tendenzen liber Nationen hinweg aufdecken, aber gleichzeitig bleiben viele Details darilber, was innerhalb der einzelnen Nationen passiert, im Dunkeln. Gegen diese Methodologie wurden neuerdings Vorwtirfe laut; die Weltsystemforschung ubersehe in Nationen „interne Prozesse", die dafiir mitverantwortlich seien, dass bei diesen Nationen trotz des gleichen Niveaus an auslandischen multinationalen Investitionen verschiedene Ergebnisse erzielt wtirden (Alderson/Nielsen 1999). Mit dieser „Durkheimschen" vergleichenden Methodologie konnen Soziologen immer mehr Variablen mit aufnehmen, MaBe verbessern und „robustere" Modelle bauen, um den Betrag der erklarten Varianz zu erhohen. Das Bestreben ist, in anderen Worten, bessere Modelle zu bauen, die Nationen iibergreifend zu dem Datensatz passen. Solch ein Bestreben ist ohne Zweifel wichtig dafur, unser Verstandnis der menschlichen Gesellschaften zu verbessern. Aber es besteht die Gefahr, dass Kombinationen historischer Krafte oder Kombinationen von Variablen, die mogHcherweise fur bestimmte Nationen einzigartig sind, oft unberticksichtigt bleiben. Im Gegensatz dazu wies die vergleichend-historische Forschung von Max Weber solche eindimensionalen Gesetze der Durkheimschen Perspektive zurlick und verlangte stattdessen die Anerkennung komplexer und ziemlich einzigartiger Kombinationen historischer Krafte, die durch ihr Zusammenwirken wichtige Ergebnisse flir jedes Land produzieren. Noch weitergehend erkannte Weber an, dass bestimmte Ergebnisse sogar in unterschiedHchen Landern verschiedene Grlinde haben konnten (Smelser 1976: 142). Es Hegt auf der Hand, dass bis zu dem Grad, zu dem das zutrifft, eine qualitative vergleichende und historische Analyse von bestimmten Nationen oder von Gruppen reiativ ahnlicher Nationen sich am besten dazu eignet, wichtige kausale Faktoren zu entdecken, die nicht in Nationen tiberall auf der Welt zu finden sind (Ragin 2000). Mit „qualitativer" Forschung wird eine Forschung bezeichnet, die sich nicht vorrangig auf Zahlen oder solche Dinge stlitzt, die leicht uber viele Nationen hinweg gemessen und verglichen werden konnen. Der Forscher muss sich bemlihen, spezifischere De-
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tails liber jeden einzelnen untersuchten Fall herauszufinden (wie z. B. den wirtschaftlichen Entwicklungsstand einer Nation), bevor er versucht, Vergleiche mit anderen Nationen anzustellen, die ebenfalls mit qualitativen Forschungsmethoden untersucht wurden. Dies soil nicht bedeuten, dass vergleichend-historische Forschung, die aus einer Durkheimschen Perspektive uber Nationen hinweg mit Zeitreihenanalysen arbeitet, aufgegeben und frtihere Ergebnisse verworfen werden sollten. Aus den letzten 30 Jahren existieren z. B. beeindruckende Aufzeichnungen empirischer Forschung iiber Themen im Zusammenhang mit der modernen Weltsystemtheorie und der okonomischen Entwicklung. Vieles konnte tiber die Auswirkungen in Erfahrung gebracht werden, die ein eingenommener Rang in diesem Weltsystem fiir bestimmte Lander und die Menschen in diesen Landern hat. In der zweiten Welle der Forschung zum Weltsystem in den spaten 80er und friihen 90er Jahren wurde auch vieles Uber die internen Prozesse in Erfahrung gebracht (wie z. B. die Staatsform, der Handelstypus, das Niveau des Humankapitals). Diese Variablen stehen etwa mit dem Rang im Weltsystem und dem Niveau der auslandischen multinationalen Wirtschaftsinvestitionen in Wechselwirkungen und produzieren so Ergebnisse wie mehr oder weniger okonomische Entwicklung oder mehr oder weniger Einkommensungleichheit. Um jedoch ein besseres Verstandnis davon zu bekommen, wie das moderne Weltsystem die Aussichten auf Verringerung der Armut oder auf okonomische Entwicklung fur die Massen der Welt beeinflusst, scheint es so, als ob eine dritte Forschungswelle eine viel groBere Anzahl von Fallstudien einschlieBen sollte, die mit einer mehr an Weber orientierten qualitativen vergleichenden und historischen Analyse arbeiten. 3 Westliche Voreingenommenheit in der soziologischen Theorie Wahrend die zurzeit vorherrschende vergleichende Methodologie im Sinne des Durkheimschen Paradigmas zwar keine westliche Voreingenommenheit in der soziologischen Theorie hervorbrachte, tragt sie gleichwohl zu dieser Voreingenommenheit bei. Viele, wenn nicht sogar die meisten der „AusreiBer" in den intemationalen Datensets sind asiatische Nationen. Diese Art von Methodologie ist auf die LFberprtifung von Modellen und Theorien ausgerichtet und nicht gut dazu geeignet, einzigartige Charakteristiken von Nationen oder Nationengruppen zu erkennen. Zum Beispiel deuten Daten der Weltbank und anderer internationaler Agenturen darauf hin, dass trotz (oder, wie die Weltbank behauptet, wegen) extensiver Auslandsinvestitionen einiger Kern-Nationen die okonomische Entwicklung und die Verringerung der Armut in Ost- und Siidostasien im Vergleich mit Afrika oder Lateinamerika viel groBer sind (Weltbank 2000: Kapitel 3, S. 45). Aber obwohl solche Informationen seit Jahren vorliegen, wird
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das fast nie in der modernen Weltsystemtheorie und der damit einhergehenden Forschung erwahnt. Man gewinnt oftmals den Eindruck, dass es westliche Sozialwissenschaftler voilkommen verbliifft, wenn sie mit asiatischen Nationen konfrontiert sind, die scheinbar nicht „passen". Die asiatischen „AusreiBer" stechen manchmal stark hervor. Ahnungslos hinsichtlich der internen Dynamik asiatischer Nationen merken diese Sozialwissenschaftler fur gewohnlich lediglich an, dass diese anders seien, und gehen dann zu anderen Themen tiber. In seinem neuen Buch ReOrient: Global Economy in the Asian Age zitiert Frank (1998: 7-9, 323) Marx, Weber, Simmel, Durkheim und Sombart als zentral fur die Entwicklung eurozentristischer soziologischer Theorie. Marx wird beispielsweise kritisiert fur sein Konzept des asiatischen Modus, als einer rigiden Form politischer Herrschafl, die nur den Interessen von Eliten diene und sich nicht in die asiatische Tradition einfuge, nach der politische Macht mit der vergleichsweise strengen Beschrankung selbststichtiger Ausbeutung von Burgern durch Eliten einhergeht. Genau wie Weber war auch Marx falsch tiber die chinesische Geschichte informiert und lieB viele Umbruchs- und Entwicklungszeiten unter den Tisch fallen. Aber in (Jbereinstimmung mit den Kritikern, die der westlichen Wirtschaftstheorie vorwerfen, bei dem Versuch versagt zu haben, den Aufstieg der japanischen Wirtschaftskraft im 20. Jahrhundert zu verstehen, wendet Frank den Hauptteil seiner Kritik gegen Webers Ansicht, nach der die Entwicklung des Kapitalismus individualistischen Prinzipien folge, die durch die protestantische Ethik ermoglicht wurden. Kurz gesagt fmdet sich scheinbar kein westliches theoretisches oder ideologisches Schema der Dinge, in das die gegenwartige ostasiatische Erfahrung besonders gut hineinpasste. Im Gegenteil scheint das, was im Moment in Ostasien passiert, alle Arten westlicher Lehren dartiber zu verletzen, wie etwas ,eigentlich' gemacht werden sollte. Hier wird der Anspruch des Westens deutlich, die ,westliche Art' sei zu kopieren (vgl. Frank 1998: 7). Was die groBen Soziologen fruherer Zeit angeht, so war ein GroBteil ihrer voreingenommenen Sicht auf Asien zurtickzufuhren auf Unwissenheit und Desinformation; sie lagen einfach falsch in Bezug auf viele grundlegende Tatsachen asiatischer Gesellschaften. Beispielsweise schien keiner von ihnen zu wissen, dass China vor liber 500 Jahren technologisch und wirtschaftlich im Vergleich mit Europa viel weiter entwickelt war, oder dass China von Ostafrika tiber ganz Ostasien hinweg wirtschaftlich dominant war (Levathes 1994; Frank 1998). Aber gerade diese Unwissenheit trug dazu bei, dass sie ihre Theorien mit westlichen Vorurteilen bildeten, die sie nicht durchschauen konnten. Max Weber war nattirlich einer der wichtigsten frtihen Soziologen, die versuchten, okonomische Entwicklung zu erklaren. Nach Weber konnte Japan sich
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nicht aus sich heraus wirtschaftlich entwickeln und tat es auch nicht, sondern die wirtschaftliche Entwicklung musste aus dem Westen importiert werden (Golzio 1985; Yawata 1963). Aufbauend auf seiner These in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus und zudem auf seinen Vorstellungen darliber, warum China keine wirtschaftliche Entwicklung erreichen konne, argumentierte Weber, dass es drei Hauptgrtinde dafur gebe, dass Japan sich nicht frtiher habe industrialisieren konnen: 1) Die japanische Klasse der Kaufleute habe im feudalen Standessystem Japans einen extrem niedrigen Status innegehabt und sei in einem solchen AusmaB kontrolliert worden, dass sie vom freien Handel und von der Moglichkeit zu prosperieren abgeschnitten gewesen sei. 2) Weber argumentierte auch, dass es in Japan an einem stadtischen Umfeld fehle, in dem eine Klasse von Kaufleuten sowie nicht-agrarische okonomische Aktivitat entstehen konnten. 3) SchlieBlich nahm Weber an, dass die japanischen Hauptreligionen (Buddhismus und Shinto) den Kapitalismus nicht so forderten, wie er es vom Protestantismus in Nord-West-Europa annahm. Wir wissen heute, dass Weber Unrecht hatte, besonders im Hinblick auf die letzten beiden Punkte, und, darliber hinaus, dass Weber auch Unrecht hatte in Bezug auf den Mangel an okonomischer Entwicklung im Japan der TokugawaZeit (der Zeitspanne von ungefahr 250 Jahren, in denen Japan gegen andere Nationen relativ abgeschottet war). Die neueste Geschichtsforschung hat Hinweise auf viel mehr okonomische Entwicklung in Japan gegeben als Webers westlichen Zeitgenossen bekannt war, und deshalb kann nicht behauptet werden, dass Japan sich nur wegen Interventionen von auBen hatte entwickeln konnen (Reischauer/Craig 1978: 94-98; Collins 1997). Tatsachlich begannen einige der groBen Handelshauser, die spater zur za/Z?a^5w-Unternehmensgruppe und zu den groBten Finanzfirmen werden soUten, wie etwa Mitsui und Nomura, ihre Entwicklung wahrend der Tokugawa-HQYTschafl und legten schon die Grundiage flir industrielle Expansion. Es kann kaum behauptet werden, dass die Klasse der Kaufleute in Japan unterdriickt und am Wachstum gehindert worden ware, wenn wir erkennen, dass gegen Ende der Tokugawa-ZQit im Jahre 1868 diese unterdrtickte Klasse der Kaufleute tiber 95 Prozent alien Vermogens in Japan kontrollierte (Halliday 1975: 6; siehe auch Golzio 1985: 93; Alletzhauser 1990). Was die japanische Religion angeht, machten Weber und seine Quellen die iibliche unrichtige Annahme, dass das Meiste der japanischen Kultur von China importiert worden ware und deshalb der Buddhismus wie auch der Konfuzianismus in Japan Anschauungen enthielten ahnlich den Anschauungen in diesen Religionen in China. Das bedeutete ftir ihn auch, dass diese Anschauungen die weltliche okonomische Aktivitat hemmen wtirden. Aber Weber erkannte nicht
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die Verschiedenartigkeit der buddhistischen Sekten, die sich in Japan entwickelten. Einige von ihnen konnten die okonomische Entwicklung unterstiitzen und taten das auch (Golzio 1985: 98; Collins 1997). Genauso wenig erkannte Weber, wie Bellah dargelegt hat, dass die verschiedenen japanischen Arten des Buddhismus, des Konfuzianismus und der in Japan einheimischen ShintoReligion sogar so betrachtet werden konnten, dass sie Webers Hauptthese untersttitzten, da sie einen Unterbau fiir die okonomische Entwicklung im Japan der Tokugawa-ZQithQXQiX stellten (Bellah 1985). Bis vor kurzem war die westliche soziologische Theorie keiner dieser l
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Soziale Stratifikation in Japan: Ein Beispiel fur westliche Voreingenommenheit Wie oben erwahnt wurden in der vergleichend-historischen Forschung einige beeindruckende Erfolge erzielt, was die soziale Mobilitat quer durch alle modernen Industrienationen angeht (z. B. Grusky/Hauser 1984; Erikson/Goldthorpe 1992). Wir haben viel erfahren liber jene Bedingungen, vor allem die Grundziige der Wirtschaft und die politischen MaBnahmen einer Nation, welche die Mobilitatsraten heben oder senken. Wenn jedoch wichtige Dimensionen sozialer Stratifikation nicht adaquat gemessen werden oder nicht adaquat in jene Modelle eingeftigt werden, die Mobilitatsraten voraussagen, sind - und waren die Ergebnisse irrefuhrend. Als das erste vollkommen industrialisierte Land in Asien ist Japan ein wichtiger Testfall flir westliche Vorannahmen dariiber, wie die wirtschaftliche Entwicklung ablaufen kann und wie die wichtigsten Institutionen eines Landes aussehen mtissen, wenn es den vollen Status einer Industrienation erreicht. Einer der Modernisierungstheoretiker der ersten Stunde, der in den friihen 50er Jahren mit Talcott Parsons gearbeitet hatte, raumte ktirzlich ein, dass sie mit vielen Erwagungen falsch gelegen hatten, wenn man bedenke, wie das moderne Japan sich bis zur Gegenwart entwickelt habe (Bellah 1985). Ich werde hier aber nur die soziale Schichtung in Japan als ein Beispiel daftir betrachten, wie unsere vergleichend-historische quantitative Forschung aus einer mehr Durldieimschen Perspektive uns irrefiihren kann. In westlichen industriellen und post-industriellen Gesellschaften gehen Theorien sozialer Ungleichheit davon aus, dass von Webers Dimensionen Klasse. Status und Macht die Dimension der Klasse dominant geworden sei. Als Folge davon hat sich der groBte Teil der empirischen Ungleichheitsforschung in den modernen industriellen Gesellschaflen der sozialen Mobilitat zugewandt (flir eine Zusammenfassung dieser Forschungstrends siehe Kerbo 1981, 2006b). Und bis vor gar nicht allzu langer Zeit drehten sich alle MaBe sozialer Mobilitat um Positionen des beruflichen Status. Heute gibt es den neuen Trend, Einkommensmobilitat tiber Generationen hinweg zu messen, statt nur die berufliche Mobilitat, aber selbst hier liegt der Schwerpunkt ausschlieBlich auf der okonomischen Stellung (Hertz 2004; Kerbo 2006b: 376). Die Frage fiir die vergleichende Forschung, insbesondere im Hinblick auf asiatische Gesellschaften wie Japan, muss lauten: Sind die Berufs- und Einkommensdimensionen in den modernen Systemen sozialer Ungleichheit gleich wichtig? Wissenschaftler mit umfassenden Erfahrungen in Japan stellen diese Annahme in Frage und argumentieren, dass Webers Statusdimension nach wie vor besteht. Qualitative vergleichende Forschung eignet sich am besten dazu, Fragen zur Anwendbarkeit unserer Konzepte und MaBe zu beantworten, und sollte begleitend zur oder sogar vor
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der quantitativen historischen und vergleichenden Forschung betrieben werden. Es folgt ein kurzes Beispiel dazu, was eine qualitative vergleichende Analyse sozialer Ungleichheit berucksichtigen sollte. 5 Anomalien im japanischen System der sozialen Schichtung Belege fiir eine westliche Voreingenommenheit in der aktuellen soziologischen Forschung zu Japan und zu einigen besonderen Aspekten der sozialen Ungleichheit in Japan (im Vergleich mit westlichen Industrielandern, nicht notwendigerweise im Vergleich mit anderen asiatischen Landern) drangen sich auf bei der Betrachtung von gewissen - wie ich sie nennen mochte - „Anomalien" im japanischen Schichtungssystem. Einigen dieser Anomalien wende ich mich nun fiir eine kurze Betrachtung zu. Bilrokratische Autoritdt und Status. Ein Thema, das die gesamte historische und gegenwartige wissenschaftliche Untersuchung der japanischen Gesellschaft, Wirtschaft und des japanischen politischen Systems durchzieht, ist der groBe Respekt und Status, der Amtstragern der Regierungsbtirokratie eingeraumt wird (siehe z. B. Koh 1989; Park 1986; Johnson 1982; Eisenstadt 1996; Jansen 2000)^. Der Grad der rituellen Ehrerbietung, die diesen Beamten in der sozialen Interaktion entgegengebracht wird, die beliebten Romane, die iiber „btirokratische Helden" geschrieben werden, Zeitschriften, die sich auf das Leben der obersten Biirokratiebeamten spezialisieren, und der Begriff amakudari („vom Himmel herabsteigen"), der benutzt wird, um Biirol
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die im Unternehmenssektor festgestellt werden kann, welcher lebhaft versucht, diese Absolventen anzuwerben (Koh 1989; Colignon/Usui 2003). Nach allgemeiner Auffassung ist es wahrscheinlich, dass der Status von Regierungsbtiroleaten in vielen Industriestaaten nicht annahernd so niedrig ist, wie es in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Aber selbst im Vergleich mit solchen Landern wie Frankreich wird der Status von Regierungsbtirokraten in Japan als viel hoher bezeichnet, trotz der sehr geringen Bezahlung (Koh 1989; Reischauer 1987; Kerbo/McKinstry 1995; Colignon/Usui 2003). Es trifft zu, dass diese japanischen Ministeriumsbiirokraten einiges von diesem Status in den jungsten Bestechungsskandalen eingebtlBt haben, die es vorher fast nicht gab. Aber sie ziehen immer noch die besten Absolventen von Japans Eliteuniversitaten an. Und Japan steht nicht allein unter den asiatischen Landern, die den Regierungsbtirol7M-Eingeborenen, ethnischen Chinesen und Koreanern. Aber die Situation der burakumin stellt sich ganz anders dar. Burakumin sind rassisch und ethnisch Japaner, die oft anhand ihrer Erscheinung, Sprache, Familiennamen oder Lebensstil nicht als burakumin erkannt werden konnen. Das
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macht die burakumin zu einer reinen Statusgruppe ohne rassische oder ethnische Verwicklungen, wie sie bei den Koreanem oder Chinesen in Japan, oder den Schwarzen, Hispano- oder asiatischen Amerikanern in den Vereinigten Staaten gefunden werden konnen. Die heutigen burakumin sind die Nachfahren jener Gruppe von AusgestoBenen, die urspriinglich mit eta („durch und durch verschmutzt") oder hinin („nicht-menschHch") bezeichnet wurden. In der Tokugawa-ZQit wurde der Status dieser Menschen sogar noch herabgesetzt und noch voUkommener vererblich gemacht (Neary 1997; Hane 1982: 139-163; DeVos/Wagatsuma 1966). Es wurde von ihnen verlangt, dass sie in abgetrennten Dorfern lebten und extreme Rituale der Unterschiedlichkeit praktizierten, etwa sich zu verstecken oder zu prostituieren, wenn ein Angehoriger einer hoheren Statusgruppe (jeder andere) vorbei ging (Neary 1997; Pharr 1990: 76-77). Der offizielle Status dieser Menschen wurde 1871 endgtiltig abgeschafft; das fiihrte zum Aufruhr und zu Ausschreitungen gegen sie tiberall in Japan, in einem Fall, in der sUdwestlichen Stadt Fukuoka, mit der Folge, dass 2200 ihrer Hauser niedergebrannt und viele von ihnen getotet wurden. Kurz nach dem „Befreiungs"-Gesetz von 1871 bezogen sich Regierungsdokumente auf die burakumin immer noch als „die niedrigsten aller Menschen, fast wie Tiere" (siehe Pharr 1990: 77; Hane 1982: 146). Heute gibt es immer noch zwischen zwei und drei Millionen burakumin, und sie stehen der Diskriminierung auf vielerlei Arten gegenliber. Zum Beispiel ist der Status der burakumin weiterhin so niedrig, dass eine Heirat mit einem l^icht'burakumin unwahrscheinlich ist. Vor einer Heirat wird heute in Japan gewohnlich der Hintergrund der potentiellen Partner iiberprtift, ob sich eine Spur von burakumin-Abstdimmmig fmdet; oft werden dafur Detekteien engagiert, die sich auf diese Arbeit speziahsiert haben. Ein Ergebnis davon ist laut einer Studie von 1967, dass bei den burakumin die Rate der Heiraten, die ausschlieBlich untereinander stattfmden, um die 90 Prozent betragt (Hane 1982: 149). Die gleiche Praxis fmdet sich in der Anstellung neuer Arbeitnehmer durch groBe und kleine Unternehmen - auch hier wird der personliche Hintergrund tiberprtift und werden potentielle Arbeitnehmer abgewiesen, wenn eine bura/t/m-Abstammung aufgesptirt wird. Wahrend es neuerdings einen gewissen Anstieg bei den Verheiratungsraten mit ^icht-burakumin gibt und der Bildungsund Einkommenserwerb sich verbessert hat, besteht ein betrachtlicher Anteil der Diskriminierung dieser Menschen fort. Die japanische Sprache. Das Japanische erlaubt dem Sprecher, verschiedene Ebenen von Rang, Formalitat/Informalitat und Respekt in einer komplexeren Art und Weise zu zeigen als irgendeine der westlichen Sprachen oder auch viele asiatische Sprachen. Ein Teil der japanischen Sprache, Sonkeigo genannt, wird benutzt, um Ehrung oder Formalitat im Gesprach mit Hohergestellten auszu-
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drucken, wahrend ein anderer Teil der Sprache, kenjogo, benutzt wird, um sich vor Hohergestellten demtitig zu erniedrigen. Aber es gibt nicht nur verschiedene Worte, um Rang oder Formalitat/Informalitat anzuzeigen, es gibt auch verschiedene Partikeln und Verbformen, um eine von vielen Statusebenen auszudriicken. Goldstein und Tamura (1975) behaupten, dass Japanisch mehr als jede andere Sprache auf nicht-reziproken Verben, Substantiven, Adjektiven, Adverbien und Verbformen aufgebaut ist. Das bedeutet, dass die japanische Sprache dazu benutzt werden kann, Statusunterschiede und Status-Ehrerbietung in einer sehr komplexen Art und Weise herauszustellen^, und sie dazu auch benutzt wird. Eine bedeutende Frage betrifft die Faktoren, die den relativen Status und die Formalitat oder Informalitat bei der verbalen Interaktion in Japan bestimmen. Studien legen nahe, dass Alter, Geschlecht, Beruf und die Zuordnung des Gegentibers zu Insidem oder Outsidem eine Rolle spielen (Goldstein/Tamura 1975). Collins (1975: 195) argumentiert, dass in den modernen industrialisierten Gesellschaften die Konversationsrituale informeller geworden seien. Der Gebrauch der japanischen Sprache zur Anzeige von Statusunterschieden und Formalitat ist seit den Vorkriegsjahren um einiges zurtickgegangen. Niemand hat jedoch behauptet, dass die Interaktionsrituale in Japan sich auch nur in die Nahe jener Informalitat bewegt hatten, die sich in westlichen Industrienationen fmden (siehe den Uberblick tiber relevante Studien in Mouer/Sugimoto 1986: 351-352). Es kann daher mit Recht vertreten werden, dass die japanischen Konversationsrituale ein machtvolles Instrument daflir darstellen, die Statushierarchie in dieser Nation zu verstarken und zu perpetuieren. Abschliefiende Bemerkungen zu Statusabstufungen in Japan. Die individualistische Voreingenommenheit der aktuellen Theorien sozialer Ungleichheit in postindustriellen Gesellschaften zeigt sich am deutlichsten in der aligemeinen Vernachlassigung der Status-Dimension wie auch bei Konzepten von Macht und Autoritat. Diese sind beide Gemeingut der Gruppe. Sie werden von der Gruppe aus ihrem Kontext heraus defmiert. Status-Ehre kann nur von den Gruppenmitgliedern in Abhangigkeit von den Werten der Gruppe erboten werden: Status ^ Um das zu verdeutlichen, konnen wir den Satz „Ich werde das fur dich schneiden" auf Japanisch benutzen. Die folgenden Zeilen drucken alle genau das aus, aber mit Veranderungen in den Worten, Verb-Endungen und Indikatoren fiir Status-Ehrerbietung, die den relativen Status des Sprechers zum Angesprochenen anzeigen - von der sehr formalen Ansprache eines vom Status her sehr hoch Gestellten in den oberen Satzen bis zum sehr informellen Sprechen in den letzten Satzen (Goldstein/Tamura 1975: 113): Watakushi ga o-kiri shite sashiagemasho; Watakushi ga o-kiri itashimasho; Watakushi ga o-kiri shimasho; Watashi ga o-kiri shimasho; Watashi ga kitte agemasho; Watashi ga kitte ageru way o (nur weibliche Sprecherinnen); Watashi ga kitteyaru wayo (nur weibliche Sprecherinnen); Boku ga kitte ageru yo (nur mannliche Sprecher); Boku ga kitte yaro (nur mannliche Sprecher); Ore ga kitte yaru yo (nur mannliche Sprecher); Ore ga kitte yaru sa zo (nur mannliche Sprecher).
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kann man sich nicht einfach nehmen, wie Geld, Wohlstand und andere materielle Dimensionen von Stratifikation und Glitern. Studien haben gezeigt, dass selbst dann, wenn andere Arten von Ungleichheit in einer Gruppe mit weitgehendem Wertekonsens nicht vorliegen, Statusunterschiede wichtig werden (Della Fave/Hillery 1980). Das soil nicht heiBen, dass die Vorteile einer Statusposition nicht durch Manipulation, Betrug oder Macht erreicht werden konnten: Man kann sie sich sicherlich in solcher Weise aneignen, und das wird oft der Fall sein. Aber der entscheidende Punkt liegt darin, dass man zwar den Menschen ihr Geld nehmen kann, obwohl sie sich vollkommen klar darliber sind, dass es ihnen zu Unrecht genommen wird; um ihren Respekt oder die Vorteile einer Statusposition zu erringen, darf jedoch derjenige, der sie sich aneignet, die Menschen nicht wissen lassen, dass sie bei dem Vorgang manipuliert werden. Macht, wie sie bei Weber unter utilitaristischen Annahmen defmiert wird, fmdet sich reichlich in Asien genau wie im Westen, und sie wird hier wie dort auch reichlich genutzt. Aber folgt man Folitikwissenschaftlern wie Pye (1985), scheint es, dass Weber die Art von Macht, die traditionell bei Herrschern in Asien festgestellt wird, nicht vollkommen bewusst war. Diese Art von Macht ist kombiniert mit Status und nur dann legitim, wenn der Machthaber sich an Regeln der Wohltatigkeit halt. Regeln der Wohltatigkeit konnen sich andern. Das geschieht auch und verursacht Auseinandersetzung und Revolte. Solange jedoch diese Regeln der Gefolgschaft von ihrem Anftihrer aufrechterhalten werden, oder wenigstens aufi-echterhalten zu werden scheinen, beugt sich nach der Tradition der meisten asiatischen Nationen die Gefolgschaft fi*eiwillig und ohne negative Konnotation der Autoritat (Pye 1985: X). In einer ahnlichen Kritik der individualistischen Vorannahmen hinter dem Konzept von Macht in westlichen Theorien untersuchte Hwang (1987) Kleingruppenexperimente in China und stellte fest, dass die Ergebnisse in „Macht-Spielen" sich im Vergleich oft von den Ergebnissen solcher Experimente mit westlichen Menschen unterscheiden. Das fuhrte zu der Folgerung, dass „westliche Forschung zu zwischenmenschlichen Verhaltensmustern und Regeln des Austauschs die Vorannahme iiberwinden muss, Menschen seien isolierte Individuen, die dazu sozialisiert worden seien, rationale Entscheidungen auf der Basis von Eigeninteresse zu treffen" (nach Hwang 1987: 944). Im Hinblick auf das spezifische Thema der sozialen Mobilitat in Japan konnen wir deshalb in Frage stellen, ob die StandardmaBe fur soziale Mobilitat, die uber alle Industrielander und sogar weniger entwickelte Nationen hinweg benutzt werden, hier genau passen. Welche Bewegung eines Sohnes von der beruflichen Position des Vaters zu einer anderen Position wird z. B. hoher bewertet? Ware es fiir den Sohn eines Vaters, der sich in der Position des Biiro-
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Managers auf der mittleren Ebene eines kleinen Unternehmens befindet, die Bewegung zu einer Position als Partner in einer privaten Rechtsanwaltskanzlei, oder die Bewegung zu einer Position auf der mittleren Verwaltungsebene im Finanzministerium? Wahrend die StandardmaBe fur die berufliche Rangfolge, die im Westen entwickelt wurden und in vergleichenden Studien sozialer Mobilitat verwendet werden, nahe legen wurden, dass es ein groBerer Schritt ware, Anwalt zu werden, wtirden die meisten Japaner dem widersprechen mit dem Argument, dass dieser Sohn in beachtlich hoherem MaBe an Status und Achtbarkeit gewinne, wenn er eine Karriere im Finanzministerium machen konne. Oder ein anderes Beispiel: Wlirde die Position eines Sohnes als Rechtsanwalt in einer Abteilung von Sony im Vergleich zur Position seines Vaters als Rechtsanwalt in einer kleineren Firma als keine Intergenerationenmobilitat gewertet werden? Das tJberwiegen des Status des Unternehmens, in dem jemand beschaftigt ist, uber die bloBe berufliche Tatigkeit an sich und selbst uber das Einkommen an sich wtirde viele Japaner zu dem Urteil fuhren, dass es fur diesen Sohn eine beachtliche Intergenerationenmobilitat gegeben habe. 6 Schluss Ich mochte klarstellen, dass ich nicht gegen die in zunehmendem MaBe standardisierte quantitative vergleichend-historische Forschung argumentiert habe, die heute die fuhrenden soziologischen Fachzeitschriften durchzieht. Wir haben in den letzten Jahren viel erfahren liber die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit von okonomischer Entwicklung und Verringerung der Armut in den weniger entwickelten Landern - in ihrer Anbindung an die Weltwirtschaft. GleichermaBen haben wir einiges dartiber erfahren, welche Bedingungen die soziale Mobilitat in den entwickelten Landern auf der ganzen Welt fordern oder hemmen. Das sind nur zwei Beispiele fiir Forschungsfelder, die von den neuen Techniken der Statistik profitiert haben, die die Moglichkeiten fur uns erweiterten, quantitative vergleichende und historische Forschungsmethoden anzuwenden. Was ich aber darlegen wollte, ist, dass in dem sturmischen Drang, diese neuen statistischen Werkzeuge zu benutzen und „wissenschaftlicher" zu scheinen, der Wert der mehr Weberianischen qualitativen Annaherung an die vergleichende und historische Analyse in den letzten Jahren vernachlassigt wurde. Wir mtissen uns eingestehen, dass Weber uns zu seiner Zeit mit Hilfe seines Ansatzes mehr beigebracht hat, als die aktuelle quantitative Forschung es getan hat. Wie oben schon bemerkt, lag Weber sicherlich im Hinblick auf vieles in Japan falsch. Aber hatte er in der Ara des „Jumbos" gelebt, der Lander und Wissenschaftler immer naher zusammen brachte, ware sein Einfluss auf unser Verstandnis der Welt sogar noch groBer gewesen.
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Wir konnten es so ausdrlicken, dass der Unterschied zwischen den Methodologien der Unterschied zwischen dem Beschreiben eines Landes und dem Testen einer Theorie ist. In den multivariaten Modellen, die mit quantitativen und historischen Methoden entwickelt und getestet werden, verlieren wir die einzelnen Lander aus dem Blick. Wir erfahren lediglich, dass gewisse Variablen oder Kombinationen von Variablen wahrscheinlich diesen oder jenen Einfluss haben. Aber wir mtissen einen Schritt zurticktreten und sozusagen einen oder zwei Baume in dem Wald untersuchen. Manchmal konnen wir mehr iiber unsere Theorien erfahren, indem wir analysieren, warum ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Gruppe von Landem nicht zu unseren Theorien passt, wenn es so aussieht, als handele es sich dabei um AusreiBer. Indem wir das tun, konnen wir Effekte und Variablen entdecken, an die wir vorher vielleicht nicht gedacht haben. Wir konnen dann MaBe und Indikatoren ftir diese vorher unerkannten Variablen entwickeln, sie in unsere Theorien einfiigen und dann mit den quantitativen Forschungsmethoden fortfahren, um tragfahigere Modelle zu entwickeln flir so etwas wie okonomische Entwicklung, soziale Mobilitat, Geschlechterungleichheit usw. Gute Beispiele hierftir sind die Fallstudien zur okonomischen Entwicklung oder zu deren Fehlen in stidostasiatischen Landern und im Falle von Japan wichtige Dimensionen sozialer Ungleichheit in postindustriellen Gesellschaften. Soweit Max Weber jedoch Recht hatte, konnen qualitative vergleichende und historische Methodologien vielleicht zeigen, dass es einzigartige Kombinationen historischer Krafte und aktueller Bedingungen gibt, welche es fast unmoglich machen, einige Lander in Vergleiche einzubeziehen, wenn es um so etwas wie das Wesen ihres Schichtungssystems oder die Grtinde ihrer okonomischen Entwicklung oder deren Fehlens geht. Aber in den meisten Fallen bedeutet das nicht, dass unsere multivariaten Modelle, die durch den abwechselnden Gebrauch von qualitativen und quantitativen Methoden entwickelt wurden, uns nicht einer hundertprozentigen Erklarung der Varianz immer naher bringen wtirden. Literatur Alderson, A. S., F. Nielsen, 2002: Globalization and the Great U-Turn: Income Inequality Trends in 16 OECD Countries, in: American Journal of Sociology 107, 12441299. Alderson, A. S., F. Nielsen, 1999: Income Inequality, Development, and Dependence: A Reconsideration, in: American Sociological Review 64, 606-631. AUetzhauser, A. J., 1990: The House of Nomura: The Inside Story of the Legendary Japanese Financial Dynasty, New York: Arcade. Bellah, R., 1985: Tokugawa Religion: The Cultural Roots of Modern Japan, New York: Free Press.
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Kulturelle und politische Aspekte der Gesellschaftsanalyse
Stadterneuerung als McDisneyisierung der Stadte^ George Ritzer und Michael Friedman
Vor ungefahr einem Jahr war ich^ wegen der Tagung der American Sociological Association in Chicago. Da ich am letzten-Tag vor meiner Abreise noch einige Stunden Zeit ertibrigen konnte, beschloss ich, eine kurze Stadtrundfahrt mit dem Bus zu machen, um einige der beruhmten Orte frtiherer und heutiger Zeit zu sehen (z. B. die Viehhofe, Wrigley Field usw.). Die Bustour drehte sich aber hauptsachlich um eine Reihe von Orten, die ich nicht nur in vielen anderen amerikanischen Stadten sehen konnte, sondern auch in einigen Stadten auf der ganzen Welt. Ich sah also (vom Busfenster aus) und wurde (von einem aufgeregten Fremdenfiihrer) belehrt uber solche „einzigartigen" Orte wie McDonalds im Herzen Chicagos (zugegebenermaBen mit einem ganz besonderen Rock and Roll'MotW), das Hard Rock Cafe, Planet Hollywood und das Rainforest Cafe. Von den alten Viehhofen und erst recht von der Stelle, an der Mrs. O'Learys Kuh die Laterne umtrat und damit den groBen Brand von Chicago ausloste, war weit und breit nichts zu sehen. Vor nicht allzu vielen Jahren bot ein Besuch in London viele Sehenswiirdigkeiten, die man in den Vereinigten Staaten nicht zu Gesicht bekam. Zugegeben, McDonalds und andere amerikanische Ketten sind nun schon seit langerem bedeutende Londoner Adressen, aber sie schienen, zumindest in meiner Erinnerung, doch ziemlich isoliert zu sein in einem ansonsten sehr britischen Ambiente (sie waren hochst isolierte „Inseln der lebenden Toten", aber davon spater mehr). In den letzten Jahren ist jedoch Starbucks (oder auch Klone wie Costa, das jetzt selbst tiber 300 Niederlassungen in ganz GroBbritannien hat) in meinen Augen zum Allgegenwartigsten tiberhaupt in London geworden, vor allem in Touristengegenden wie Soho, Leicester Square, Picadilly Circus und auch in Geschaflsgegenden wie der Fleet Street. Nicht nur treten diese ausgesprochen amerikanischen Coffee Shops zunehmend in den Vordergrund, auch der Kaffee, den sie verkaufen, wird immer popularer, auf Kosten von GroBbritanniens traditionellem Lieblingsgetrank - dem Tee - und den dazugehorigen Tea Shops. In ihrer Entwicklung nicht allzu weit entfernt von diesen Coffee Shops ist die Londoner Theaterszene. Zu etwa der gleichen Zeit, als die ersten Starbucks ' Ubersetzung: Stefanie Osthof ^ In diesen Anekdoten bezieht sich das „ich" auf den Erstautor.
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eroffneten, war sie immer noch dominiert von ernsthaften Stticken, viele davon ganz entschieden und einzigartig britisch. NattirHch gab es einige wenige Techno-Musicals, die echte Kntiller waren (z. B. Les Miserables) und mancherorts Hits, die lange gegeben wurden {Woman in Black), aber das Londoner Theater wurde dominiert von ernsthaften und originellen Stticken. Tatsachlich verlegte ich mich darauf, in meinen Theaterorgien eher nach London zu kommen als nach New York. Jetzt aber erscheint die Londoner Theaterszene zunehmend wie die New Yorker Theaterszene, da nun auch hier die Theater von TechnoMusical-Knlillern - zusatzlich zu Les Miserables, Das Phantom der Oper, Konig der Lowen, Mama Mia, The Producers, Chicago, Saturday Night Fever, Fame und ahnlichem - beherrscht werden. Man kann sich praktisch identische Versionen dieser Musicals in New York sowie auch auf Tournee durch alle GroBstadte in den Vereinigten Staaten, Kanada und anderswo ansehen. Als ich zuletzt in Canterbury, England, war, wurde es gerade von einer sehr einzigartigen Stadt in etwas umgewandelt, das im Grunde genommen nicht mehr als ein Freiluft-Einkaufszentrum war. Einwohner wurden umgesiedelt, und sie wurden ersetzt durch Laden aller Art. Die charakteristische Architektur wurde erhalten, sogar besonders herausgeputzt, aber jetzt im Dienste eines simulierten Canterbury, das vor allem darauf ausgerichtet war, Dinge an Touristen zu verkaufen. Die bertihmte Kathedrale war nattirlich bereits in eine Touristenattraktion umgestaltet, komplett mit Starbucks am Haupteingang (in einem Gebaude, das eine alte Gaststatte zu sein schien), und dem unvermeidlichen Andenken-Laden (voll von lauter Kitsch, der wenig oder gar nichts mit der Kathedrale Oder gar mit Religion zu tun hatte), den man beim Verlassen der Kathedrale durchqueren musste. SchlieBlich und ganz ahnlich gibt es da noch den Fall von Porto Cervo (von Aga Khan und anderen Investoren 1961 als Erholungsort gegrtindet) an der erstklassigen Costa Smeralda in Sardinien. Hier ist die Innenstadt ein sehr nobles Freiluft-Einkaufszentrum, und im Grunde sind alle Geschafte Filialen von teuren weltweiten Ketten wie Valentino, Dolce und Gabbana, Gucci, Paul und Shark und Cartier. Wie anhand dieser Anekdoten gezeigt wurde, sind zurzeit traditionelle Ansichten von Raum und Ort im Fluss. Ob in London, Chicago, Canterbury, Porto Cervo oder einer beliebigen Anzahl von Stadten rund um die Welt, die verstarkten Strome von Volkem, Ideen und Produkten (Appadurai 1990), die mit der Globalisierung verbunden sind, haben die Rolle der Stadt in ihrer Eigenschaft als Tragerin von Leistungen verandert und in kultureller Hinsicht globalen Formen erlaubt, die lokalen in einem nie gekannten AusmaB zu durchdringen. Flir Stadtplaner besteht die Herausforderung darin, ihre Stadte darauf auszurichten, in einer sich immer wieder wandelnden Umgebung bedeutend, wettbewerbsfa-
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hig und pulsierend zu bleiben, da nun der Konsum einen groBeren Einfluss auf den Erfolg einer Stadt hat als die Produktion. Stadte in der entwickelten Welt waren bedeutenden Veranderungen unterworfen, was tief greifende Foigen hatte. Innerhalb der letzten 30 Jahre haben sich viele Stadte in einem Kreislauf des Verfalls verfangen, well Fabrikationsbetriebe die Stadtzentren verlieBen und sich in Gegenden ansiedelten, in denen sie von niedrigeren Lohnkosten und einem geringeren MaB an gesetzlichen Bestimmungen profitierten (oft in der weniger entwickelten Welt) und well die Oberklasse und die Mittelklasse in die Vorstadte zogen (Goodwin 1993; Harvey 1989/2001). Als eine Folge dieser Flucht wurde die Steuergrundlage in den Stadten ausgehohlt, da die verbleibenden Einwohner (oft in Armut lebend) viel dringender stadtische Hilfsdienste von der Verwaltung benotigten und weniger Ressourcen hatten, um flir diese aufzukommen (Friedman/Andrews/Silk 2004; Mollenkopf/Castells 1991). Dazu kommt, dass die Probleme, die mit einer absinkenden Lebensqualitat und einer altemden Infrastruktur einhergehen, sich haufig gegenseitig verstarken und verscharfen - und so die Stadte in dem sich immer weiter selbst verstarkenden Kreislauf des Niedergangs festsetzen. Mit der Absicht, diesen Kreislauf zu durchbrechen, sind die stadtischen Verwaltungen unternehmerischer geworden und haben ihre Aufmerksamkeit weg von der Versorgung der Burger mit Gtitern und Dienstleistungen hin zur Gewinnung verschiedener Formen beweglichen Kapitals verschoben (Harvey 1989/2001). Wahrend David Harvey vier Strategien stadtischen Unternehmertums identifiziert: 1) die Forderung von Handels- und Produktionsvorteilen, 2) die Umwandlung zu Konsumzentren, 3) die Umwandlung zu Steuer- und Kontrollzentren fur Finanzen, Verwaltung und New Economy und 4) das Einwerben von zentral vergebenen Geldern der Regierung, konzentrieren wir uns auf die zweite: den Konsum - sowohl hinsichtlich seiner Forderung im stadtischen Umfeld als auch hinsichtlich seiner Auswirkungen auf das stadtische Umfeld. In diesem Zusammenhang umfasst, vor allem in den GroBstadten, ein GroBteil der Stadterneuerung etwas, das man als Tourismus/EntertainmentInfrastruktur bezeichnen konnte (Judd 2003) - die Erschaffung der „Touristen-" (Judd/Fainstein 1999) oder ..Fantasy-'Stdidt (Hannigan 1998) - welche einschlieBt: Sportstadien (ein Thema, das wir in gesonderten Beitragen behandelt haben, siehe Ritzer/Stillman 2001; Friedman et al. 2004), Festspielanlagen und -hallen, stadtische Vergntigungsviertel (Sassen/Roost 1999; Zukin 1995), Hafengebiete, Tagungszentren, Museen (Teedon 2001) und ahnliches. Weiter ausgreifend hat Ritzer (2005) alle diese und viele andere ahnliche Strukturen (z. B.
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Einkaufszentren, 'Superstores, Disney World, Las F^ga^-Kasinos und Rundfahrtsschiffe) unter dem Oberbegriff der Kathedralen oder der „neuen Mogiichkeiten" des Konsums behandelt. Tatsachlich umfassen viele der neuesten Veranderungen in der Tourismus/Entertainment-Infrastruktur auf die eine oder andere Art die meisten, wenn nicht alle dieser neuen Konsummoglichkeiten (sowie auch manche Teile einer grundlegenderen Infrastruktur - StraBen und Autobahnen zum Beispiel - die ftir das Funktionieren der neuen Konsummoglichlceiten notwendig sind). Dadurch bringt die Stadtemeuerung oft auch den Bau von stadtischen Einkaufszentren und Superstores mit sich (z. B. Virgin Records), die Disneyisierung vieler Gebiete (am bemerkenswertesten hier der Times Square in New York City), sowie die Eroffnung von Disney-LMQn, die Errichtung von Spielcasinos und die Einbeziehung von Schiffen in verschiedenster Weise (beispielsweise schwimmende Spielhollen oder der Ausbau von Hafen als Anlegestelle fur Schiffsrundfahrten). Es handelt sich also bei einem GroBteil der Stadtemeuerung um die Erschaffung einer breiten Palette von Konsumkathedralen mit dem Ziel, mehr Besucher - Touristen, Geschaftsreisende und Bewohner der Vorstadte - in die City zu locken und sie dazu zu bringen, mehr Geld fur den Konsum aller Arten von Gtitem und Dienstleistungen auszugeben (siehe auch Eisinger 2000). Die betreffenden Stadtplaner erhoffen sich von diesem Vorgehen zwei Ergebnisse, die sich gegenseitig verstarken. Erstens soil die erhohte wirtschaftliche Aktivitat, die mit dem Konsum einhergeht, zusatzliche Arbeitsplatze fur Stadtbewohner schaffen, Vermogenswerte steigern und die Steuereinnahmen fur die Stadtverwaltungen erhohen, was letztendlich die Verwaltungen in die Lage versetzen soil, ihre Wahler mit verbesserten Dienstleistungen zu versorgen (Harvey 1989/2001). Zweitens sollen die Stadte mit verbesserten Dienstleistungen und mehr Annehmlichkeiten (durch die sie eine bessere Lebensqualitat bieten konnen) attraktivere Wohnorte fur die Ober- und Mittelklasse werden (Mullins et al. 1999; Zukin 1995). Allgemeiner konnte man behaupten, dass vieles von der heutigen Stadtemeuerung, wie vieles andere in der heutigen Welt, sich um den Konsum und seine Ausweitung dreht. Natlirlich stellt das eine Hauptveranderung in der Stadtemeuerung in den letzten ein bis zwei Jahrhunderten dar. Vor nicht allzu langer Zeit war das erste Ziel, Produktionsanlagen in die groBeren Stadte zu holen. Wegen gestiegener Kosten aufgrund von Lohnen und Vorschriften in der entwickelten Welt hat der schnellere Fortschritt der Globalisierung nun aber den Fabriken die Moglichkeit verschafft, in weniger entwickelte Lander mit niedrigeren Kosten umzusiedeln (Sassen 1991). Wahrend die Stadte in den entwickelten Landern noch immer versuchen, Produktionsanlagen anzulocken, ist die Produktion zweitrangig ge-
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worden, da der Schwerpunkt sich zur Errichtung einer Infrastmktur hin verschoben hat, die groBenteils auf Konsum aufgebaut ist (Harvey 1989/2001; Eisinger 2000; Judd 2003). Natiirlich besteht dieser Trend nicht ausschlieBlich in entwickelten Landem. Viele Stadte in der weniger entwickelten Welt haben zusatzlich zu ihren Bemiihungen, Produktionsanlagen anzuwerben und an sich zu binden, auch einen Schwerpunkt darauf gelegt, Touristenstadte zu werden; sie bieten exotische Genlisse an, die Schonheit der Natur und Erfahmngen, die man in entwickelten Landem nicht machen kann (Hiernaux-Nicolas 1999; MuUins 1999). Im Reich des Konsums sind die oben erwahnten eher auBergewohnlichen neuen Konsummoglichkeiten nur ein Teilbereich, da Stadterneuemng auch ein zweites Set von Verandemngen einbezieht, die mehr das tagliche Leben und die taglichen Bedurfnisse nicht nur der Besucher, sondern auch der Burger betreffen. Tatsachlich gibt es noch ein, obgleich eng mit den auBergewohnlichen Formen verbundenes, weiteres ganzes Set neuer Konsummoglichkeiten, die mehr auf die alltaglichen Bedtirfnisse und das alltagliche Leben ausgerichtet sind. Dazu gehoren solche „neuen" Konsummoglichkeiten wie FastfoodRestaurants, Ketten verschiedener Art, Verbrauchermarkte (z. B. 7-Eleven), Supermarkte usw. Diese interessieren uns nicht nur deshalb, weil sie neue Konsummoglichkeiten sind, sondern auch deshalb, weil sie - vor allem die Fastfood-Restaurants - im Hinblick auf ihre hohe Rationalisiemng Musterbeispiele fiir den Prozess der McDonaldisiemng sind (Ritzer 2004a). So betrachtet hat die Stadterneuemng zu einer massiven Ansiedlung mcdonaldisierter Ketten und, vielleicht noch wichtiger, zur McDonaldisiemng unterschiedlichster bestehender Geschafte gefuhrt. Dieser Vorgang tritt besonders deutlich bei den Geschaften hervor, die eher die alltaglichen Bedlirfiiisse der Einwohner als der Touristen befriedigen. Unsere These lautet also, dass eine bestimmende Eigenschaft der heutigen Stadterneuemng die steigende geographische Prasenz von beidem in einer Gesellschaft ist: von einerseits spektakularen und andererseits alltaglichen und neuen Konsummoglichkeiten. Aber die Trennlinie zwischen den wuchtigen und spektakularen Konsumkathedralen, die eher Touristen anlocken sollen, und den weltlichen mcdonaldisierten Statten, die eher fiir die Einwohner geschaffen sind, ist nicht annahernd so scharf, wie es auf den ersten Blick scheint. Zum Beispiel werden Touristen haufig von mcdonaldisierten Statten des alltaglichen Lebens angezogen und suchen bewusst nach ihnen, und die Einwohner nutzen natiirlich die spektakulareren Konsummoglichkeiten. Ein gutes Beispiel fiir letzteres ist, dass die Einwohner von Las Vegas die ortlichen Casinos besuchen, trotz der Tatsache, dass viele Casinos jenseits des Strip entstanden sind, um die Bedurfnisse der ortsansassigen Spieler zu befriedigen. Dazu kommt, dass die spektakularen Statten oft
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ihrerseits hochgradig mcdonaldisiert sind und vielen der mcdonaldisierten Ereignisse gerne eine Plattform bieten. Die groBen Mega-Einkaufs- und LifestyleZentren {Mall of America in MinneapoHs, Minnesota, oder relativ neu Easton Town Center in Columbus, Ohio) mtissen also hochgradig mcdonaldisiert sein, und sie sind weitgehend besetzt mit mcdonaldisierten Ketten verschiedener Art. Wenn wir davon ausgehen, dass auf die auBergewohnlichen Konsumkathedralen zutrifft, was Alan Bryman (2004) Disneyisierung genannt hat, und dass die alltaglicheren Formen besser mit McDonaldisierung beschrieben werden konnen, dann konnen wir einen Ausdruck verwenden, den Ritzer in einem anderen Zusammenhang benutzt hat - „McDisneyisierung" -, um diese kombinierten und ineinander verwobenen Prozesse in der Stadtemeuerung angemessen zu charakterisieren. In anderen Worten dreht sich die Stadtemeuerung heute groBenteils um die McDisneyisierung der Innenstadte. Wir werden unten noch mehr zur McDisneyisierung zu sagen haben. Das einmal vorausgesetzt, wollen wir jetzt zu einer Reihe von Ideen (zuriick-)kommen, die Ritzer liber die Jahre in seiner Arbeit verwendet hat - einschlieBlich einiger oben schon kurz erwahnter Ideen - und sie auf das Thema der Stadtemeuerung anwenden, besonders die McDisneyisierung der Innenstadte. Indem wir Konsumexzess, Kathedralen und Landschaften des Konsums, Verzauberung und McDisneyisiemng naher betrachten, werden wir zunachst die raumlichen Auswirkungen identifizieren, die die Konsumstrategien auf die Art und Weise haben, wie Innenstadte aufgebaut, prasentiert und organisiert werden. Von dort aus erkunden wir die raumliche und soziale Bedeutung von Besucherbereichen als „Inseln der lebenden Toten". Wir beschlieBen diesen Abschnitt mit der Untersuchung von Konzepten des „Nichts" und des „Etwas", wie Politiker den Inhalt der Entscheidungen, die sie treffen, in einem globaleren Kontext begreifen mtissen. Daraufliin werden wir die Folgen dieser Analyse fur die Politik erortern und einigermaBen spezifische Empfehlungen an die Politik abgeben, wie sie mit einigen der mit der McDisneyisierung der Innenstadte verbundenen Probleme fertig werden kann. 1 Konsumexzess Es lasst sich die These aufstellen, dass die Innenstadte sich mit dem Ziel verandern, Konsumexzesse anzuheizen. Das bedeutet, dass die Innenstadte in dem MaBe erstarken, wie Besucher mehr konsumieren als sie bei ihrer Ankunft vorhatten, mehr als sie brauchen und mehr als sie sich leisten konnen. Im Klartext hangen der Erfolg einer Innenstadt und ihr relativer Wohlstand nicht nur davon ab, Touristen und Vorstadtbewohner anzulocken, sondern auch davon, sie dazu zu bringen, sich in einen Konsumexzess hineinzusteigern. Als Folge davon floriert der Handel, Synergieeffekte werden erzeugt, indem erfolgreiche Unter-
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nehmen auch anderen Unternehmen Kunden verschaffen, und die Steuergrundlage der Stadt erhoht sich, was es unter anderem moglich macht, Mittel aufzubringen zur Unterstiitzung von Infrastrukturverbesserungen und zur Gewahrung von Steuererleichterungen, die wieder neue Konsumkathedralen fiir die Innenstadte kodern sollen. Um jedoch diesen Kreislauf von Konsum und Reinvestition auszubauen und zu erhalten, mtissen die Innenstadte sich seibst als Zielorte fur Besucher vermarkten, besonders, well der Wettbewerb um deren Kaufkraft sich verstarkt hat. Um die Bewohner der Vorstadte anzulocken, muss das Stadtzentrum mit seinen Trabanten konkurrieren, in denen Einkaufszentren und EinkaufsstraBen die gleichen (wenn nicht identischen) Geschafte und Restaurants bieten wie die Innenstadte - jedoch bequemer erreichbar. Ganz ahnlich haben Touristen eine Reihe von Moglichkeiten, wenn es darum geht Zielorte auszusuchen. Deshalb versuchen die Innenstadte haufig, sich mit erkennbaren Markenzeichen wie etwa dem Big Apple oder der City of Angels, mit Ehrfurcht erregender bildhafter Architektur wie Gateway Arch oder Golden Gate Bridge oder durch kennzeichnende Veranstaltungen wie Mardi Gras oder die Olympischen Spiele auszuzeichnen, um sich das Image eines unumganglichen Zielorts zu schaffen (Gotham 2002; Roche 2000; Smith 2001). Die Stadt konnte somit genauso als ein zu vermarktendes und zu konsumierendes Produkt betrachtet werden, wie die T-Shirts und Cheeseburger, die es in den allgegenwartigen Hard Rock Cafes zu kaufen gibt, welche sich haufig in diesem besucherorientierten Umfeld befmden. 2 Kathedralen des Konsums Spatestens seit dem friihen 18. Jahrhundert haben die Stadte der Welt Konsumkathedralen beherbergt, bemerkenswert hier vor allem Arkaden (Benjamin 1999) und Kaufhauser (und eher zwischendurch Ausstellungen und Weltausstellungen, vgl. WiUiams 1982; Roche 2000), Wahrend die Arkaden heute fiir Konsumenten und Besucher der Stadte von geringerem Interesse sind, blieben in vielen Stadten die Kaufhauser wichtige Institutionen und Touristenattraktionen (London und Harrod's zum Beispiel). Zumindest in den meisten amerikanischen Stadten verlieren die Kaufhauser jedoch an Bedeutung und werden als Rtickkehr zu einer friiheren Ara des Konsums (und der Stadte) betrachtet. Das heiBt, sie werden zunehmend als „alte" statt „neue" Konsummoglichkeiten angesehen. Tatsachlich sind viele der groBen Namen in der Geschichte der amerikanischen Kaufhauser entweder verschwunden (Gimbel's, Wanamaker usw.) oder werden gerade von riesigen Konglomeraten geschluckt (z. B. sind Macy's, Bloomingdale's und Hecht's jetzt Teil der Federated Department Stores) und einander so angeglichen, dass sie kaum noch zu unterscheiden sind. Nur wenige
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Touristen oder auch nur Vorstadtbewohner besuchen die Innenstadte wegen ihrer Kaufliauser, vor allem well die groBe Mehrheit der Kaufhauser sich nun in den Einkaufszentren der Vorstadte befmden - und damit das Bedtirftiis der Vorstadtbewohner zunichte machen, sich in die Innenstadte zu wagen, um dort ihren Grundbedarf in einem der verbleibenden Kaufhauser der Innenstadt zu decken. Jedenfalls mussen Innenstadte neue Konsumkathedralen anwerben oder erschaffen, wenn sie die Hoffhung hegen, Touristen anzulocken. Diese interessieren sich zunehmend nicht nur ftir den Konsum von touristischen Erfahrungen, sondern auch ftir den Konsum von unterschiedlichen damit verwandten oder weniger verwandten Gtitern und Dienstleistungen. Die verschiedenen FranchiseUnternehmen, die sich mehr und mehr iiber das gesamte Innenstadtgebiet der groBeren Stadte verteilen (oder sich hier sogar ballen, wie in dem Fall von Starbucks) sind ein Beispiel fur solche (relativ) neuen Konsumkathedralen, die darauf ausgerichtet sind, die alltaglichen Bediirfhisse der Touristen (und der Einwohner) zu befriedigen. Dann gibt es noch die auBergewohnlicheren Konsumkathedralen wie FestspielanlagenZ-hallen, stadtische Vergntigungsviertel und Hafengebiete in wieder belebten Teilen verschiedener Stadte (Navy Pier in Chicago, Fulton Market in New York, Baltimores Innenhafen, Bostons Faneuil Hall, Sydneys Darling Harbor usw.). Dies alles sind nicht nur selbst Konsumkathedralen, sie umfassen auch andere, oft in Form einer groBen Palette von Franchise-Untemehmen. Eine weitere jiingere Entwicklung in dem sich wandelnden Wesen der stadtischen Konsumkathedralen ist die Zunahme von „Z?/g Z?ox"-Laden und Discountladen in den groBeren Stadten. Besucher und Burger der Stadte werden heutzutage viel wahrscheinlicher von einem Best ^wy-Elektroladen oder von Virgin Records angezogen als von Macy's oder Bon Marche (in Paris). So werden die Stadte schon lange von Konsumkathedralen beherrscht, aber in den letzen 50 Jahren beherrschen mehr und mehr neue Typen solcher Kathedralen die Stadte. Und von vielen dieser neuen Konsumkathedralen kann man sagen, dass sie mcdisneyisiert sind. FestspielanlagenZ-hallen, stadtische Vergntigungsviertel und Hafengebiete sind besonders gute Beispiele daftir, da sie eine Starke Ahnlichkeit mit Themenparks haben, oft mcdonaldisiert sind und mcdonaldisierte Schauplatze verschiedener Art beherbergen. Superstores wie Best Buy und Virgin sind sowohl disneyisiert - ein besonders gutes Beispiel dafiir sind die Niketowns in groBeren Stadten - und mcdonaldisiert. Wie spektakular (disneyisiert) und benutzerfreundlich (mcdonaldisiert) diese Orte auch sein mogen, sind sie doch nicht einzigartig. Das wird besonders deutlich im Vergleich mit den frtihen Konsumkathedralen (Arkaden, Kaufhauser, Ausstellungen), die einmal viele Innenstadte charakterisierten. Statt spezifisch und einzigartig ftir eine spezielle Stadt zu sein, sind die neuen Konsumka-
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thedralen eher generell vorzuflnden und vielen Stadten (und vielen anderen Orten) gemeinsam. Das ist bei dem Bestreben der Stadtplaner, ihre Innenstadte in Konsumkathedralen zu verwandeln, insbesondere deshalb der Fall, weil diese generell verbreiteten Konsumkathedralen, die sich schon in anderen Stadten als erfolgreich erwiesen haben und deshalb weniger Risiken bergen als einzigartige Attraktionen, es einer Stadt erleichtern, sich in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Durch diese serielle Wiederholung erfolgreicher Formen (Harvey 1990) gewinnen jedoch die Besucherbereiche zunehmend an Ahnlichkeit, was ihre Konsumkathedralen angeht, und das kann zu Problemen fiihren, wenn es um die Attraktivitat fur Konsumenten geht (Judd 1999; Zukin 1998). 3 Landschaften des Konsums Aus der Idee der Konsumkathedralen folgt direkt die Idee, dass zwei oder mehr zusammenhangende Konsumkathedralen eine „Landschaft des Konsums" bilden (Ritzer 2005). Stadtische Attraktionen sind nicht nur isolierte Konsumkathedralen, sondern sie sind Teil groBerer Landschaften, die viele davon umfassen, was flir eine kritische Masse an Attraktionen sorgt, die sich in einem eingrenzbaren, an Besuchern orientierten Raum entwickeln. Das ist sicherlich nichts Neues. Viele der groBen Stadte der Welt haben ja beruhmte Pracht- und EinkaufsstraBen, die schon lange solche Landschaften bilden und Touristen anlocken, die sich fur Einkaufe oder wenigstens fur Schaufensterbummel interessieren. Die Fifth Avenue in New York, die Miracle Mile in Chicago, der Rodeo Drive in Beverly Hills, die Regent Street in London, die Rue du Faubourg Saint-Honore in Paris usw. sind alle wohl bekannte Beispiele fur solche traditionellen Konsumlandschaften. Diese traditionellen Konsumlandschaften verandern sich jedoch zurzeit. Wahrend sie fruher von einzigartigen Geschaften besetzt waren, werden sie jetzt zunehmend von den generell verbreiteten Filialen von Ketten und Franchiseunternehmen beherrscht. In anderen Worten sind sie zunehmend mcdonaldisiert worden, zumindest in dem Sinne, dass es dort jetzt mehr mcdonaldisierte Geschafte verschiedener Ketten gibt. Im Falle vieler der oben genannten eleganten EinkaufsstraBen kann es sich dabei um sehr gehobene Ketten handeln (Cartier, Valentino, Dolce und Gabbana), die teure Ware und gehobene Marken im Sortiment haben, aber nichtsdestoweniger sind es Ketten, und diese sind mcdonaldisiert. Des Weiteren entstehen neue Konsumlandschaften in den Stadten, oft zusammengesetzt aus den neuen Konsumkathedralen. Die verschiedenen Stopps bei der Bustour durch die Innenstadt Chicagos, wie sie oben beschrieben wurden, konnen als Bildung einer solchen Landschaft angesehen werden.
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Bin weiteres bezeichnendes Merkmal dieser neuen Konsumlandschaften ist, dass sie oft im Detail vorausgeplant sind und Brachflachen (die vormals der Produktion dienten) ausfullen sollen. Anstatt sich zu Konsumbereichen zu entwickeln, wie die vorher erwahnten es getan hatten, wurden diese Areale speziell fur Konsumzwecke entworfen und errichtet. Zum Beispiel entwarfen die Stadtoberhaupter in Baltimore in den 60er Jahren, lange bevor das erste verlassene Lagerhaus um den Innenhafen abgerissen wurde, einen umfassenden Plan, der innerhalb eines geballten Raums von 30 Blocks Museen, Gastronomic, Verkaufsgeschafte, Wohnraum, Btiroflachen und Bildungs- und Tagungsraume vereinigte. Zudem wurde die Eroffnung dieser Einrichtungen tiber die Zeit gestaffelt (und neue wie das Camden Yards Sportstadion wurden zum Masterplan hinzugeftigt), sodass der Innenhafen immer wieder neue Attraktionen fur Besucher bereithielt (Friedman et. al. 2004). In der allgemeinsten Art und Weise konnen die Stadte selbst als Konsumlandschaften betrachtet werden. Ihr Ziel ist die Erschaffung einer allumfassenden Landschaft, die sich aus einer groBen Auswahl an spezifischeren, fiir Besucher attraktiven Landschaften und Kathedralen des Konsums zusammensetzt. Es besteht deshalb zwischen den Stadten ein Wettbewerb darum, Touristen und Vorstadtbewohnern die umfassendste(n), ntitzlichste(n), attraktivste(n) und vielleicht spektakularste(n) Konsumlandschaft(en) zu bieten. 4 Verzauberung Stadtgebiete versuchen sich zu verzaubem und auch verzauberte Kathedralen und Landschaften des Konsums anzubieten. Sie wollen damit Besucher anlocken; von diesen nehmen sie an, dass sie sehr viel eher von etwas angezogen werden, dem scheinbar ein gewisser Zauber innewohnt, als von etwas Entzaubertem. Die Stadte und ihre spezifischen Kathedralen und Landschaften verwenden in ihrer Produktion, der Pragung des Stadtbildes und dem stadtischen Marketing eine Vielzahl unterschiedlicher, sehr vertrauter Mechanismen, um dieses Geftihl von Verzauberung zu erzeugen. Es muss aber erwahnt werden, dass Stadte auBerhalb der Vereinigten Staaten, besonders die meisten groBen europaischen Stadte, mit einer Grundlage der Verzauberung ins Rennen gehen, die auf ihre lange Geschichte zuruckgefuhrt werden kann, und mit Strukturen und Monumenten (Auge 1995), die Produkt und Wahrzeichen ihrer einzigartigen Geschichte sind. Natiirlich gibt es in Europa Ausnahmen. So verlor Rotterdam den GroBteil seiner historischen Strukturen durch Bombardements im Zweiten Weltkrieg und musste eine Reihe neuer Orte und Strukturen erschaffen, um Touristen anzulocken (van den Berg/van der Borg/Russo 2003), aber Stadte wie Paris, Rom und Prag (Hoffman/Musil 1999) sind gute Beispiele fiir Touristenmagnete, die wegen der generalisierten Auffas-
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sung tiber ihre Verzauberung und ihre bezaubernden Orte so anzieliend sind. Aber selbst in diesen Stadten gentigt es nicht mehr, solche Verzauberung anzubieten oder selbst traditionelle Konsumlandschaften, sondern verzauberte neue Konsummoglichkeiten werden ebenfalls zunehmend erforderlich. Die Herausforderungen fur amerikanische Stadte sind viel groBer, weil ihnen die lange Geschichte fehlt, und wegen einer Tendenz, Schauplatze zu vernachlassigen oder zu zerstoren, die ein bisschen von der Verzauberung von Orten in europaischen Stadten haben konnten. Ein gutes Beispiel ist der Abriss des historischen Penn Station in New York City mit seiner hoch gelobten Architektur im Jahre 1964, der Platz machen musste fur den neuesten Bau einer weiteren Sportarena, Madison Square Garden (sowie auch die damit einhergehenden Btirogebaude). Mit, wenn iiberhaupt, wenigen eigenen verzauberten Orten sind amerikanische Stadte abhangiger von der Verzauberung der neuen Konsummoglichkeiten. Und Stadte anderswo auf der Welt miissen Orte, die an sich zauberhaft sind, mit solchen Konsumkathedralen erganzen. Ein wichtiger Mechanismus bei der Verzauberung solcher Konsummoglichkeiten ist die Erzeugung von Simulationen, aufgrund der Einsicht, dass viele Touristen mehr und mehr vom Fiktiven angezogen werden, besonders vom spektakularen Fiktiven. Das wird vor allem deutlich bei den groBen Touristenattraktionen Amerikas wie dem Strip in Las Vegas und den verschiedenen Dis^ey-Themenparks (Bryman 2004; Gottdiener/Collins/Dickens 1999). Der erstere wird naturlich beherrscht von seinen Simulationen von Paris, Venedig, New York, Mandalay Bay usw., wahrend die letzteren ihre simulierten Welten haben, ganz zu schweigen von der Main Street, einer Simulation, die auf Walt Disneys Erinnerungen und seinen Vorstellungen dariiber basiert, wie eine solche StraBe - um 1900 - ausgesehen haben konnte. Viele Stadterneuerungsprojekte umfassen entweder die Erschaffimg „neuer" simulierter Arrangements oder die Emeuerung traditioneller Gebiete als Touristenattraktionen. Die meisten, wenn nicht sogar alle dieser Touristenattraktionen verandern solche Gegenden schlieBlich so, dass diese selbst zu Simulationen werden (dessen, was einst war; siehe auch Goulding 2000; Graham 2002). Ein weiterer Mechanismus in der Herstellung von Verzauberung ist die Implosion, bei der vormals selbstandige Entitaten, in diesem Falle Konsumkathedralen, dazu gebracht werden, ineinander zu fallen. Damit wird eine neue Kathedrale (oder Landschaft) erschaffen, die dadurch spektakular gemacht wird, dass darin eine Vielzahl unterschiedlicher Konsummoglichkeiten vereinigt werden. So sind z. B. viele verschiedene Konsumkathedralen {McDonalds, mehrere neue Hotels, ein Virgin Megastore, Toys R' Us, Madame Tussaud's, ein AMC Filmpalast mit 25 Salen, usw.) in den Times Square hinein implodiert (Sas-
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sen/Roost 1999). Ganz Ahnliches lasst sich von dem Bereich Leicester SquarePiccadilly Circus in London sagen. Allgemeiner formuliert konnte man argumentieren, dass eine Stadt als Gesamtheit anstreben muss, der Ort der Implosion von so vielen Konsumkathedralen wie moglich zu sein, wenn sie am Wettbewerb um die Touristen teilnehmen will Eine Stadt muss also eigentiich anstreben, als Ziel fiir Touristen soweit wie moglich ein einziges Einkaufs- und Unterhaltungszentrum zu werden. Verzauberung wird auch durch die Manipulation von Raum und Zeit erzeugt. Was die Zeit betrifft, erzeugt oft das Nebeneinander vieler verschiedener Epochen in einem umgrenzten geographischen Raum Verzauberung. Das kann am besten anhand des Strip in Las Vegas illustriert werden, wo Kasino-Hotels versammelt sind, die z. B. Simulationen des alten Agypten {Luxor), des Mittelalters (Excalibur), des New Yorks der 30er Jahre (New York, New York), usw. bieten. Der iS/rzp illustriert auch gut die raumliche Manipulation, da Verzauberung und Spektakularitat durch die Koexistenz aller dieser Konsumkathedralen in dem Raum, den der Strip darstellt, erzeugt werden. Man konnte vertreten, dass der neue disneyisierte Times Square und der Bereich Piccadilly CircusLeister Square in London den Raum in ahnlicher Weise benutzen, um Spektakularitat zu erzeugen. Fiir Stadte, die Konsumzentren werden wollen, liegen in diesen Mechanismen aber viele Schwachstellen. Erstens liegt es in der Natur von Spektakularitat, dass sie nur von begrenzter Dauer ist. Selbst der gewohnlichste McDonalds wurde am Anfang, als er gerade neu eroffnet war, als ein verzauberter Raum betrachtet. Als jedoch weitere davon eroffnet wurden und die Zeit verging, wurde gewohnlich, was einmal besonders gewesen war. Zweitens ist eine Simulation zwangslaufig die Kopie eines Originals, und deshalb werden diejenigen Simulationen, die erfolgreich Besucher anlocken, rasch selbst kopiert und verlieren viel von ihrer Anziehungskraft, da sie dann nicht mehr relativ einzigartig sind. Drittens mtissen die Stadte, angesichts dieser Einschrankungen und ihres Wettbewerbs darum, sich die mit diesen Mitteln erzeugte Verzauberung zu erhalten, fortwahrend ihre Angebote verbessern und neue entwickeln. Um sich ihren Glanz zu erhalten, reinvestieren sie daher die wirtschaftliche Ausbeute aus den Konsumlandschaften oftmals wieder in diese Gegenden und verringern damit den Gewinn fur die Ubrige Kommune. 5 McDonaldisierung Soweit alle Ketten fast per Definition hochgradig mcdonaldisiert sind und Ketten einen zunehmenden Teil der Konsumlandschaften ausmachen, konnen wir
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sagen, dass Stadte zunehmend von mcdonaldisierten Schauplatzen beherrscht werden. Das ist ganz klar der Fall auf der Alltagsebene derjenigen Schauplatze, die die Einwohner versorgen, aber gilt auch fur touristische Ziele. Wenn wir zu den Beispielen zurlickgehen, die diesen Beitrag einleiteten, wird das veranschaulicht durch das Hard Rock Cafe in Chicago, Starbucks in London und Canterbury und Gucci in Porto Cervo. Selbst ausgesprochen orts-speziflsche Geschafte mtissen sich weiter mcdonaldisieren, urn mit diesen Ketten konkurrieren zu konnen. Die McDonaldisierung erstreckt sich jedoch uber diese Ketten hinaus, selbst iiber die hochwertigsten Ketten hinaus, auf Phanomene, von denen wir so etwas gewohnlich nicht annehmen. Zum Beispiel konnen die Techno-Musicals, die zunehmend die Biihnen von New York und nun auch London beherrschen, als Franchise-Unternehmen und als weitgehend mcdonaldisiert betrachtet werden, da praktisch identische Versionen der Musicals in mehreren anderen Stadten der Welt (New York, Toronto usw.) aufgefuhrt werden. Des Weiteren konnte man behaupten, dass die Stadte selbst sich weiter mcdonaldisieren mtissen, um es einer groBen Anzahl von Touristen recht zu machen, von denen viele einen mcdonaldisierten Aufenthalt erwarten und die protestieren, nicht wiederkommen und ihren Freunden vom Besuch abraten werden, wenn dem nicht so ist. Das bedeutet, die Stadte mtissen darauf ausgerichtet sein, den Besuch eines Touristen effizient zu machen, die Attraktionen mtissen vorhersagbar sein, man muss viele von ihnen schnell und kostengtinstig ansehen konnen, und die ganze Erfahrung muss umfassend organisiert und kontrolliert werden. Natiirlich ist das Irrationale an dieser ganzen Rationalitat, dass Touristen so ziemlich das Gleiche auf so ziemlich die gleiche Art und Weise sehen, wohin auch immer auf der Welt sie reisen. 6 McDisneyisierung Diese Idee besteht, wie wir oben gesehen haben, aus einer Verschmelzung von Ritzers (2004a) Konzept der McDonaldisierung und Alan Brymans (2004) Begriff der Disneyisierung. Beide Konzepte, jedes fiir sich und zusammengenommen, weisen auf steigende globale Konvergenz hin, in diesem Falle die Stadte der Welt betreffend. Zu den Grundelementen der McDonaldisierung (Effizienz, Vorhersagbarkeit, Berechenbarkeit und Kontrolle) mtissen also Brymans Dimensionen der Disneyisierung hinzugeftigt werden - Orientierung an Themen, hybrider (de-differenzierter) Konsum, Vermarktung und Effekthascherei. Aus dieser Perspektive kann Canterbury, um ein Beispiel aufzugreifen, als eine Stadt angesehen werden, die von einem religiosen Thema beherrscht wird; die Kathedrale und die umgebenden Geschafle bilden ein ineinander greifendes System von de-differenzierten Orten des Konsums; viele der ortlichen Geschafte
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verkaufen Produkte mit eigenen Logos und/oder die Produkte mit den Logos von Canterbury; und viele der Service-Angestellten, die rund um die Kathedrale, in den angrenzenden Starbucks und vielen anderen Geschaften arbeiten, tragen die Rolle und die Stimmung zur Schau, die als fur solche Schauplatze angemessen betrachtet werden, und tragen die passende Kleidung. Im allgemeinsten Sinne kann Canterbury in seiner Gesamtheit als disneyisierter Themenpark betrachtet werden, den wenig von etwa der Main Street einer Disney World unterscheidet, auBer der Tatsache, dass das Thema anders ist, und dass er irgendwann „authentisch" gewesen sein mag. Jetzt sind natlirlich beide gleichermaBen Simulationen, Tauschungen, unauthentisch. Dartiber hinaus konnen viele der Geschafte in Canterbury sowie auch Canterbury selbst als mcdonaldisiert beschrieben werden, well Schauplatze und Tatigkeiten in hohem MaBe effizient, vorhersagbar, berechenbar und kontroiiiert sind. Wenn wir dies mit der Disneyisierung zusammenbringen, konnen wir erkennen, warum Canterbury wie auch viele andere Stadte und Orte innerhalb groBerer Stadte als mcdisneyisiert beschrieben werden konnen. Die Idee der McDisneyisierung passt am besten auf das Reich des Tourismus. Fakt ist, dass ein GroBteil stadtischer Erneuerung sich vor allem um das Thema Tourismus dreht und darum, wie eine Stadt zu einem bedeutenden Anziehungspunkt flir Touristen gemacht werden kann. Viele Stadte scheinen entschieden zu haben, dass das Vordringlichste ihre ganze oder zumindest teilweise McDonaldisierung, Disneyisierung, McDisneyisierung ist. Vielleicht das bekannteste Beispiel ist die Gegend um den Times Square in der New Yorker Innenstadt. Als er in eine mcdisneyisierte Touristengegend umgewandelt wurde, ubernahm die Disney Corporation selbst die Fiihrung, als sie das New Amsterdam Theatre in der 42. StraBe sanierte (und es zum Zuhause des ,,Lion King'' machte - jetzt vielleicht auch zum ,,King" der Techno-Musical-„Franchiseunternehmen") und dadurch die Inspiration und die Grundlage fur die Verwandlung der ganzen Gegend bereitstellte, einschlieBlich eines groBen neuen McDonalds, dessen Thema so gewahlt wurde, dass es dem New Yorker Theaterdistrikt angemessen war. Natlirlich ftihrte diese McDisneyisierung des Times Square zum Verschwinden jenes Times Square, der flir New York einzigartig gewesen war. Selbst wenn man das Verschwinden von Pornokinos, StraBenstrich und Orangensaftstanden nicht bedauert, erzeugten diese doch einen Schauplatz und ein Ambiente, das das Einzigartige, wenn nicht gar das Wesen von New York City ausmachte. Der mcdisneyisierte Times Square von heute konnte iiberall auf der Welt existieren, und man ware nicht tiberrascht, letzten Endes an einem anderen Ort die Griindung von „Franchise-Unternehmen" davon zu erleben. Hinter der McDisneyisierung des Times Square stand die Uberzeugung, dass die
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Touristen von der Abgerissenheit und Schabigkeit der Gegend abgestoBen wtirden, aber in Scharen kommen wlirden, wenn der Times Square erst mcdisneyisiert ware. Der gleiche Gedanke stand hinter der Erschaffung von Disneyland und dessen Bemtihungen, sich von der Abgerissenheit Mherer Freizeitparks, wie derer auf Coney Island, zu unterscheiden. 7 Inseln der lebenden Toten Ein sozio-geographisches Bild von McDonaldisierung (und McDisneyisierung) ist das eines Archipels von mcdonaldisierten/mcdisneyisierten Inseln. Dieses Bild entstand aus einer Integration von Webers Bild des stahlernen Kafigs und Foucaults kerkerhaftem Archipel. Wahrend keines dieser beiden die mcdonaldisierte/mcdisneyisierte Welt, wie sie heute besteht, sehr gut beschreibt, ist der Begriff der Inseln der lebenden Toten (der mit Hilfe des Films ,,Dawn of the Dead' von Filmemacher George Romero und der Ideen von Weber und Baudrillard tiber den Tod gewonnen wurde) eine sehr viel genauere soziale Geographie. Und zwar gibt es dabei in einem Ozean, der ansonsten nicht oder nur wenig mcdonaldisiert/mcdisneyisiert ist, mcdonaldisierte/mcdisneyisierte Inseln (Konsumkathedralen oder Landschaften aus solchen Kathedralen), auf denen sich die lebenden Toten befmden. Das sind die Konsumenten und Arbeiter, die dem todlichen Druck derer ausgesetzt sind, die die „Inseln" besitzen oder deren Geschafte fiihren; sie sind aber, wenn sie auf diesen Inseln sind, trotzdem in der Lage, Lebenszeichen von sich zu geben, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Bei naherer Betrachtung haben diese „Inseln" einige Eigenschaften gemeinsam. Erstens folgen die Interaktionen zwischen Konsumenten und Arbeitern entgegen der Unvorhersehbarkeit des Lebens in hohem MaBe feststehenden Sl<Tipten. Das geht so weit, dass sogar die Musiker, die frtiher ohne offizielle Erlaubnis an bestimmten Haltestellen der Londoner Untergrundbahn ihre Musik spielten, jetzt eine Lizenz der ortlichen Behorden haben und von Unternehmen gesponsert werden. Zweitens haben diese Inseln strikte Verhaltenskodices; Regeln und Vorschriften umfassen Verhalten, Kleidung und Formen der verfugbaren Unterhaltung. Deshalb stehen diese Inseln auch unter scharfer Aufsicht und Kontrolle, oft durch private Sicherheitsfirmen, und sind elektronisch tiberwacht, damit bestehende Regeln ganz sicher nicht gebrochen werden (Judd 1999; Raco 2003). Man konnte heute viele Stadte als Komposition aus einer Reihe von solchen Inseln der lebenden Toten betrachten, insbesondere diejenigen, die versuchen, bedeutende Touristenattraktionen zu sein. So hat London seine Touristengegenden {Leicester Square, Piccadilly Circus), die als solche Inseln betrachtet werden konnen, aber ein Grofiteil der librigen Stadt kann als der weitgehend
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Oder vollkommen nicht-mcdonaldisierte/mcdisneyisierte „Ozean" betrachtet werden, in dem solche Inseln existieren (so ziemlich das Gleiche kann von New York City und alien anderen groBen Stadten der Welt gesagt werden). Das Gleiche gilt ftir Sardinien: Wahrend Porto Cervo als eine in hohem MaBe mcdonaldisierte/mcdisneyisierte Stadt betrachtet werden kann, ist der bei weitem groBte Teil des Landes praktisch von diesem Vorgang unberuhrt. Mcdonaldisierte/mcdisneyisierte Schauplatze in London und Sardinien breiten sich jedoch weiter aus mit der Folge, dass sie immer weiter in das Gebiet des Ozeans vordringen, der nicht-mcdonaldisiert ist, und seine Ausdehnung vermindern. Ubrigens kann die Metapher der Inseln der lebenden Toten Nutzen bringend mit Judds (1999) Idee der „Touristen-Blasen" verglichen werden. Die Touristen-Blasen, die er beschreibt, betreffen dieselben Gegenden (z. B. Times Square, Piccadilly Circus/Leicester Square), die wir als „Inseln" beschreiben. Wahrend wir uns jedoch hauptsachlich mit der touristischen Erfahrung dort beschaftigen (Leben und Tod), scheint Judd vor allem an diesen Gegenden interessiert zu sein im Hinblick darauf, bis zu welchem Grad sich die Besucher hier in einer ansonsten feindlichen und gefahrlichen stadtischen Umgebung sicher und behtitet fiihlen. Dariiber hinaus beschreibt Judd diese Blasen in ziemlich der gleichen Weise, wie Ritzer (2003) die Inseln beschreibt. Zum Beispiel wird aus beiden Perspektiven ihre Ahnlichkeit mit den Themenparks festgestellt, die den Schwerpunkt auf Unterhaltung und Aufregung legen. Judd beschreibt diese Orte auBerdem als beruhigend sauber und hiibsch; was Eigenschaften der meisten, wenn nicht aller, mcdisneyisierter Schauplatze sind. Seine Beschreibung dieser Schauplatze kommt zudem ihrer Beschreibung als mcdonaldisiert nahe, denn er argumentiert, dass sie zunehmend standardisiert, fordistisch und scheinbar in Massenproduktion entstanden sind, vor allem in den Vereinigten Staaten (der Quelle, der Heimat und immer noch dem Zentrum von McDonaldisierung, Disneyisierung und McDisneyisierung). Ob man diese an Touristen ausgerichteten Gebiete nun fur Blasen oder Inseln halt, die Auswirkungen auf die Besucher sind grundsatzlich die gleichen, da diese isolierten, an Touristen orientierten Gegenden selbst „die Stadt werden". So ist also fiir die konsumierende Offentlichkeit und (vielleicht) nach dem Entwurf der stadtischen Vermarktungsexperten Piccadilly Circus selbst London, Times Square ist New York, und der Innenhafen ist Baltimore. 8 Das Nichts, das Etwas und die Globalisierung Vier Konzepte bilden das Herzstiick der Globalisierung des Nichts (vgl. Ritzer 2004b):
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Glokalisierung: Die gegenseitige Durchdringung des Globalen und des Lokalen, die zu einzigartigen Ergebnissen in verschiedenen geographischen Gegenden ftlhrt. Grobalisierung: Die imperialistischen Bestrebungen von Nationen, Handelsgesellschaften und Organisationen und ihre Begierde oder sogar die dringende Notwendigkeit fiir sie, ihren Stempel verschiedenen geographischen Gegenden aufzudriicken. Das Nichts: Zentral konzipierte und kontrollierte Formen, die von charakteristischen Inhalten weitgehend entleert sind. Das Etwas: Am einzelnen Ort konzipierte und kontrollierte Formen, die dazu tendieren, reich an charakteristischen Inhalten zu sein. Diese Konzepte konnen in zwei Paare unterteilt werden, die in unserer Analyse Kontinua darstellen - Glokalisierung vs. Grobalisierung und Etwas vs. Nichts. Das Durchschreiten dieser beiden Kontinua enthalt das folgende Modell, das im Mittelpunkt der Analyse steht: Abbildung 3:
Die Beziehung zwischen Glokal vs. Grobal und Etwas vs. Nichts mit Beispielen fiir (Nicht-) Orte, (Nicht-) Dinge, (Nicht-) Personen und (Nicht-) Service
Glokal Ort: Werkstatt Ding: Ortliches Handwerk Person: Kunsthandwerker Service: Vorfuhrung
Etwas
Nicht-Ort: Souvenirladen Nicht-Ding: Souvenir Nicht-Person: Souvenirverkaufer Nicht-Service: Selbstbedienung
SU^i
Ort: Museum Ding: Wanderausstellung Person: Kenntnisreicher Fuhrer Service: Fiihrung durch die Ausstellung
Nichts Nicht-Ort: Disneyland Nicht-Ding: Mauseohren-Hut Nicht-Person: Schauspieler Nicht-Service: Anstehen vor Attraktionen
Grobal Worum es in diesem Modell vor allem geht, ist die Beziehung zwischen der Grobalisierung des Nichts und der Glokalisierung des Etwas, insbesondere die steigende Tendenz des Ersteren, sich gegenuber dem Letzteren durchzusetzen
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und es auszuradieren. In diesem Abschnitt wollen wir diese Dynamik im Kontext der stadtischen Erneuerung und einige politische Themen, die sich auf die Anwendung des Ersteren auf das Letztere beziehen, untersuchen. In einem ganz allgemeinen Sinne werden wir ansprechen, in welchem Grad die stadtische Erneuerung mehr die Grobalisierung des Nichts oder die Glokalisierung des Etwas widerspiegelt. Eine Moglichkeit, vieles von dem zusammenzufassen, was bisher gesagt wurde, ist die Aussage, dass die stadtische Erneuerung oft eine Steigerung dessen mit sich bringt, was wir mit dem Begriff des Nichts bezeichnet haben. Andererseits bedeutet das eine Beschleunigung der Anstrengungen, verschiedene Einheiten in die Stadte zu bringen, die zentral konzipiert, kontrolliert und ohne viel charakteristischen Inhalt sind. Vieles von dem, was oben erortert wurde Franchiseunternehmen und Ketten, Techno-Musicals, big Z?<9x-Geschafte und Discounter usw. - kann in diesem Sinne als Nichts und in vielen Stadten als Herzstiick der stadtischen Verjtingung angesehen werden. Die Kehrseite davon ist naturlich, dass jenes, was Etwas ist - am einzelnen Ort konzipiert, kontrolliert und reich an charakteristischem Inhalt - eher zerstort, ersetzt oder auf andere Art und Weise an den Rand gedrangt wird. So lautet die Eroffnung verschiedener big Z?ox-Geschafte und Discounter, vor allem Wal Mart, haufig das Ende fur viele stadtische Geschafte ein, genauso wie es schon bei ihrer Erofftiung in Vorstadten oder vor den Toren kleinerer Stadte der Fall war. Wal Mart ist naturlich beriihmt fur die Zerstorung von InnenstadtGeschaften in kleineren Stadten, und es spricht alles fur die Annahme, dass die gleiche Wirkung bei den ortlichen Geschaften in groBeren Stadten eintreten wird. Die groBeren Stadte, die sich auf diese Art erneuern wollen (und das wollen die meisten), bewegen sich fortwahrend weg von Etwas hin in Richtung Nichts. Das ist das groBe Faradoxon der stadtischen Erneuerung, wenn man sie aus dieser Perspektive betrachtet. Die Stadte verlieren selbst ihren charakteristischen Inhalt, indem sie sich zunehmend verschiedene Formen des Nichts einverleiben und dadurch mehr und mehr Formen des Etwas verlieren. Das ftihrt zu der Frage: Warum sollten Besucher von einer Stadt angezogen werden, der charakteristischer Inhalt fehlt - die grundsatzlich die gleichen Typen und die gleiche Auswahl von Nichts bietet, die sie zu Hause haben, oder nahezu die gleichen? Eine Antwort ware scheinbar, dass sie von solch einem Ort nicht angezogen wurden. Das scheint offensichtlich falsch zu sein, da die Besucher tatsdchlich scharenweise kommen; obwohl man argumentieren konnte, dass das moglicherweise in der Zukunft abnimmt - wenn sie schlieBlich bemerken, dass es sich kaum lohnt, in die groBere Stadt zu reisen (vor allem in eine in einem anderen Land), da die meisten Orte und Dinge in viel groBerer Nahe zu ihrem Wohnort
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zu bekommen sind. Moglicherweise besteht aber die Attraktion der FantasyStadt darin, dass sie so viel mehr Nicht-Orte besitzt, an denen Niclit-Dinge angeboten werden, und dass diese alle an einem geographischen Ort zu finden sind. Die Attraktion einer solchen Stadt besteht also darin, dass sie alle moglichen Arten von Nichts zu bieten hat und damit die unterschiedlichsten Vorlieben in Bezug auf Nichts bedienen kann. Es gibt aber noch eine andere Antwort, und die lautet, dass die Besucher von heute auf der Suche nach Nichts sind. Je mehr Nichts, desto besser. Sie suchen nicht nach Etwas, nach Originellem und Authentischem, und sie sind deshalb nicht enttauscht, wenn sie es in der sich darbietenden Stadt nicht finden. Zuhause an Nichts gewohnt, wtirden sie sich unbehaglich fiihlen mit Etwas, dem Originellen, dem Authentischen. Also versuchen sie, statt Etwas aufzuspuren, dieses auf jeden Fall zu vermeiden. Warum dann in die Stadt fahren, besonders, wenn sie weit weg ist, vielleicht sogar in einem anderen Land oder auf einem anderen Kontinent? Moglicherweise liegt das Interesse der Leute darin, verschiedene Formen des Nichts kennen zu lernen, aber an verschiedenen, vielleicht sogar magisch klingenden Orten wie Paris, Rom oder New York. In diesem Fall wird der magische Schauplatz zu nicht viel mehr als einer Biihne, die ftir Stellen errichtet wurde, die Nichts sind, und fur den Konsum von Nichts. So konnen die Besucher sich weiterhin beim Essen von Nicht-Essen an einem Nicht-Ort wie McDonalds wohl fiihlen. Das fmdet aber in einer dieser magischen Stadte statt. Das gleiche konnte liber die T-Shirts gesagt werden, die man in einem Hard Rock Cafe in einer beliebigen dieser Stadte kauft. Natiirlich bedeutet das fur solche Stadte, dass sie hart daran arbeiten mtissen, den Anschein ihrer Magie aufrecht zu erhalten. So wie die Stadtoberhaupter zunehmend erkennen, dass solche Stadte Marken sind, und wertvolle Logos pflegen (New Yorks ,,Big Apple''), mtissen sie viel Energie und Zeit darauf verwenden, das, was diese Stadte magisch erscheinen lasst, zu erhalten und sogar auszubauen. Gleichzeitig jagen sie aber blindlings danach, diese Magie zu verwassern, indem sie die Stadte mit entzauberten Schauplatzen anreichem. Wenn eine Stadt ihren Zauber, ihr charakteristisches Bild und Logo verliert, dann konnte es unwahrscheinlicher sein, dass Besucher dorthin reisten. Dann wird es wirklich problematisch, ob ein Tourist eine entzauberte kleine Stadt im mittleren Westen mit ihrer Mischung aus Nicht-Platzen verlasst, um in ein entzaubertes New York mit einer ahnlichen, wenn auch viel groBeren Mischung von NichtPlatzen zu reisen. Kann eine groBere Stadt wirklich uberleben, indem sie mehr Nichts anbietet? Es ist eindeutig schwierig, diese Frage zu bejahen. Das, was Etwas ist - Platze zum Beispiel - tiberlebt nicht nur weiterhin in vielen Stadten, sondern breitet sich noch aus. Zum Beispiel sind sich viele Stadtoberhaupter
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dessen sehr bewusst und streben an, Probleme, die mit diesem Trend verbunden sind, zu verringern, indem sie bewusst die Aufrechterhaltung bestehender Formen des Etwas unterstiitzen sowie auch die Schaffung neuer Formen davon. Bemerkenswert ftir das Erstere ist die Slow C/Yy-Bewegung in Italien, die versucht, das aufrecht zu erhalten, was diese Stadte bemerkenswert gemacht hat. Gute Beispiele ftir das Letztere bietet die freigiebige Unterstiitzung ftir kennzeichnende architektonische Strukturen, die Besucher auf der Suche nach Etwas in die Stadte bringen. Beispiele sind etwa das Getty Museum in Los Angeles, Frank Gehrys Disney Concert Hall in derselben Stadt und auch sein Guggenheim in Bilbao, Spanien. Wahrend einiges von der Ausweitung des Etwas vollig intentional und im Einzelnen geplant ist, entstehen andere Formen dieses Wachstums als Reaktion auf die Ausbreitung der Nichtigkeit. Zum Beispiel wurde gezeigt, dass unabhangige Restaurants, sogar gehobene, anstatt von der Ausbreitung der FastfoodRestaurants dezimiert zu werden, sich ebenfalls dramatisch ausgebreitet haben (Nelson 2001). Man konnte behaupten, dass ein ziemlich groBer Anteil der Bevolkerung von Fastfood-Restaurants eher abgestoBen wird und eine willige Zielgruppe fiir jene darstellt, die daran interessiert sind, unabhangige Restaurants zu eroffnen. Jene, die solche Restaurants eroffnen, reagieren fiir ihren Teil moglicherweise zumindest unterbewusst mit Widerstand auf die Natur und die Vorherrschaft der Fastfood-Restaurants. SchlieBlich werden verschiedene Formen des Etwas weiterhin gehegt und gepflegt, genau so, wie andere Formen ausgehohlt und zerstort werden. So versucht etwa die Slow Focxi-Bewegung, Dinge wie traditionelle Emten, Lebensmittel und Methoden der Essenszubereitung zu erhalten. Angesichts der Ausbreitung von Hybridsaaten verschiedener Sorten gibt es einige Organisationen, die sich dem LFberleben so genannter „Erbstucke" verschrieben haben. Das ist das Saatgut vieler verschiedener Friichte und Gemtisesorten, die friiher einmal gezogen wurden, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. Wahrend wir heute nur einige Apfelsorten im Supermarkt sehen, wurden einmal mehrere tausend Sorten gezogen, und viel Saatgut ist davon bis heute erhalten. Wie hangt das mit der Globalisierung zusammen? Der vorherrschende Trend, der auf die Stadte der Welt einwirkt, ist die Grobalisierung des Nichts. McDonaldisierung, Disneyisierung und McDisneyisierung konnen alle als Beispiele fiir diesen Prozess angesehen werden. Die Hauptalternative dazu, die Glokalisierung des Etwas, wird dem mehr und mehr untergeordnet. Das ist eine andere Art auszudrucken, dass die Stadte ihre Einzigartigkeit verlieren und sich ahnlicher darin werden, dass sie vom grobalisierten Nichts beherrscht werden.
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9 Auswirkungen auf die Politik Das alles vorausgesetzt, welche Folgerungen ergeben sich dann unter anderem fur die Stadtplaner? 1) Die Verantwortlichen ftir die Politik miissen sich mehr der Vorteile und Nachteile bewusst sein, die es mit sich bringt, einen stadtischen Bereich zu haben, der zunehmend von der McDisneyisierung (dem Nichts) beherrscht wird, und deshalb immer weniger unterscheidbar von anderen Stadten zu sein, die die gleichen oder sehr ahnliche mcdisneyisierte Formen haben. 2) Es gibt gute Griinde (niedriger Preis, verlasslicheres Produkt, Spektakularitat, hohe Profite) fur die Ausbreitung der McDisneyisierung in unseren Stadten, und die Stadtplaner sollten nicht danach trachten, ihre Verbreitung in verschiedensten Formen abzublocken. 3) Dennoch miissen politische MaBnahmen ergriffen werden, die verhindem, dass sie die ganze Konkurrenz ausloschen, insbesondere die nicht-mcdisneyisierten, glokalisierten Formen von Etwas. Das ungefahr ist in Mailand und Briissel geschehen. Diese Stadte erhielten sich nicht verschiedene Formen des Etwas und wurden als Folge davon zu touristischem Brachland. 4) Auf einer Ebene kann das bedeuten, dass die Anzahl solcher mcdisneyisierter Entitaten eingeschrankt werden muss; oder dass sie auf bestimmte Orte beschranlct und/oder daran gehindert werden, sich in andere auszudehnen. 5) Es miissen auch politische MaBnahmen ergriffen werden, die existierende nicht-mcdisneyisierte Formen von Etwas untersttitzen, die Schaffung weiterer fordern und wieder andere von anderen Orten anziehen. Das umfasst vor allem Formen, die mit der Glokalisierung des Etwas verbunden sind (z. B. Bauernmarkte, Handwerkermessen) und der Grobalisierung des Etwas (das Anwerben von tourenden Popkonzerten, Philharmonien, Museumsausstellungen, usw.). 6) Es ist wahrscheinlich, dass die Wucherung mcdisneyisierter Formen des Nichts und der Schutz des Etwas eine sehr verschiedenartige Klientel anziehen. Die Verantwortlichen ftir die Politik miissen sehr genau priifen, welche Gruppen von Besuchern sie in ihre Stadt Ziehen wollen und zu welchen Anteilen. 10 Schluss Alles in allem ist es eindeutig, dass alle Stadte auf dem Weg dahin sind, zu einer Mischung aus nicht-mcdisneyisierten Formen des Etwas und mcdisneyisierten Formen des Nichts zu werden. Da beides attraktiv ist, zumindest flir bestimmte Gruppen, muss beides unterstiitzt werden. Wahrend nicht-mcdisneyisierte Formen des Etwas jedoch kaum eine Moglichkeit haben, mcdisneyisierte Formen des Nichts zu verdrangen, ist dies umgekehrt nicht der Fall. Deswegen ist die wichtigste Folgerung, die die Politik aus dieser Analyse Ziehen kann, dass die Stadtplaner Wege fmden miissen, die Ausbreitung der mcdisneyisierten Formen
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des Nichts zu beschranken und dadurch die nicht-mcdisneyisierten Formen des Etwas zu schiitzen. Nur in dieser Weise ist es moglich, dass sich Stadte genug von jener Einzigartigkeit erhalten, die fUr ihre Verzaubemng notwendig ist, und es ist ja gerade diese Verzaubemng, die die wichtigste Quelle einer Stadt auf diesem Gebiet ist. Wir mochten abschlieBen damit, die hier dargelegte Argumentation mit der Argumentation in Beziehung zu setzen, die Henri Lefebvre (1991) in The Production of Space vertritt. In einer neo-marxistischen Anstrengung, die der heutigen stadtischen Welt (in einer sehr weiten Definition) im GroBen und Ganzen kritisch gegeniiber steht, hebt Lefebvre Venedig und Paris aus der Masse der anderen Stadte heraus und bedenkt sie wenigstens mit etwas Lob. Von Venedig sagt er, dass dort nicht alles reduziert wurde von Werken (was das Handwerk einschlieBt) auf Produkte (die zumeist massenproduziert werden); dass nicht alle Kreativitat auf Wiederholung reduziert wurde. In unseren Worten hat sich Venedig wenigstens einen gewissen Grad an Etwas-Artigkeit (Werke, Kreativitat) erhalten, im Angesicht der Ausbreitung der Nichtigkeit (Produkte, Wiederholung). Paris betrachtet Lefebvre als eine Stadt, die nicht alles von ihrer Erregung, ihrem Lebensfunken, ihren Festival-ahnlichen Qualitaten verloren hat. In anderen Worten hat sich Paris Elemente der Etwas-Artigkeit erhalten; es wurde nicht ganz mcdonaldisiert, disneyisiert, mcdisneyisiert. Diejenigen, die in diesen Orten an der Macht sind, haben den Wert und die Wichtigkeit davon erkannt, sich diesen Trends und allgemeiner der Ausbreitung der Nichtigkeit zu widersetzen; es ist aber zumindest fraglich, wie lange und wie gut sie sich diesen Trends widersetzen werden konnen. Das bringt uns noch einmal zu dem zentralen Dilemma, das wir hier behandelt haben. Einerseits ist es klar, dass Besucher gezielt nach McDonaldisierung, Disneyisierung, McDisneyisierung und Nichtigkeit suchen. Was soil aber andererseits einen Ort vom anderen unterscheiden, wenn stadtische Behorden diesen Erwartungen dadurch begegnen, dass sie ihre Orte mcdonaldisieren, disneyisieren, mcdisneyisieren und „nicht-isieren"? Warum sollten die Touristen mit groBerer Wahrscheinlichkeit eher zu dem einen Ort der Nichtigkeit kommen als zu dem anderen? Das Verlangen der Konsumenten nach Gleichheit mit der Notwendigkeit auszubalancieren, zumindest irgendwie unterscheidbar zu sein, ist das Dilemma, dem jeder Stadtplaner heute gegentibersteht. Literatur Appadurai, A., 1990: Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy, in: Theory, Culture and Society 7 (2-3), 295-310. Auge, M., 1995: Non-places: Introduction to an Anthropology of Supermodernity, London: Verso.
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Markte als Gemeinschaftshandeln Nico Stehr Markets are where prices are established. (Stigler/Sherwin 1985: 555) Okonomen sind stolz auf die Effizienz eigensinniger Markte. Je groBer die Eigensinnigkeit der Markte, so wird postuliert, desto effizienter nicht nur die einfach zu quantifizierenden unmittelbaren Funktionen des Marktes, sondern auch die mittelbaren „Nebenwirkungen" fiir die Gesellschaft. LFber die Nebenwirkungen kann man sich nur sehr schwer verstandigen - je nachdem welche Folgen herausgestrichen werden, beispielsweise die angeblich befreienden Wirkungen oder die anscheinend soziale Ungleichheiten starkenden Konsequenzen eigensinniger Markte. Zu den unmittelbaren Aufgaben der Markte gehoren etwa ihre Preisbestimmungsfunktion und die effiziente Allokation von Ressourcen. Die Kritik an der typischen Darstellung der Hauptfunktionen der von Markten geleisteten „Arbeit" und ihrer Folgen ist vielschichtig. Im Rahmen dieser Abhandlung konzentriere ich mich zunachst auf eine Beschreibung der wesentlichen Kritikpunkte des herkommlichen Marktverstandnisses durch die moderne Soziologie. Da diese Kritik bekannt ist, kann ich sie kurz zusammenfassen. Es lassen sich bestimmte Gemeinsamkeiten der Kritik, aber auch starke Widerspriiche erkennen. Zugleich mochte ich im Zusammenhang der Darstellung der verbreiteten Kritik des traditionellen Konzeptes der Markte auch auf die signifikante praktisch-politische Bedeutung dieser Sicht des Markthandelns verweisen. Die widerspruchliche soziologische Kritik des Marktverstandnisses in der Okonomie gibt mir in den folgenden Abschnitten meiner Abhandlung Gelegenheit, eine daruber hinaus zielende Darstellung der Markte als eine Form des Gemeinschaftshandelns zu formulieren. Dies geschieht zunachst in der Form von funf kurzen Stipulationen zum Marktverhalten in modernen Gesellschaften.^ Diese Formen des Gemeinschaftshandelns werden schlieBlich aus' Der Begriff der „Stipulation" wird von mir in Anlehnung an den von Robert K. Merton ([1975] 1975) verwendeten gleichnamigen Begriff aiis seinem Aufsatz „Structural analysis in sociology'' benutzt. Merton importiert den Begriff der ^stipulation'' in die Soziologie aus der Rechtswissenschaft, um auf die vorlaufig bleibende Stimmigkeit bestimmter Diskursergebnisse zu verweisen. In diesem Kontext handelt es sich bei den von mir formulierten fiinf Stipulationen der Markte als Gemeinschaftshandeln somit um eine Reihe von provisorisch formulierten Eigenschaften der Markte als soziale Phanomene.
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fiihrlich charakterisiert. Sie entwickeln eine weniger einseitige, dynamischere und kontextsensitive Darstellung des Marktes als Gemeinschaftshandeln. 1 Zur Kritik und zur praktischen Bedeutung eigensinniger Markte Nicht nur Okonomen, sondern auch Soziologen, Psychologen und Anthropologen haben die ubliche okonomische Konzeption des Marktes immer wieder kritisiert.^ Diese Kritik ist heute schon mehr als ein Jahrhundert alt. Es sei an dieser Stelle beispielsweise auf einen der Begrunder der modernen Soziologie verwiesen. Emile Durkheim ([1888] 1981: 32; siehe auch Durkheim [1887b] 1986) moniert schon Ende des 19. Jahrhunderts, dass Okonomen ein restriktives, wirklichkeitsfremdes begriffliches Verstandnis dessen pflegen, was sie dann als „rationales Handeln" bezeichnen: „die Okonomen haben die Realitat eingeengt, um die Dinge zu vereinfachen. Sie haben nicht nur von alien Umstanden der Zeit, des Ortes und des Volks abgesehen, um sich den abstrakten Typ des Menschen im allgemeinen vorstellen zu konnen, sondern sie haben auBerdem in diesem Idealtyp selbst das alles vernachlassigt, was sich nicht strikt auf das individuelle Leben beziehen lasst, so dass ihnen von Abstraktion zu Abstraktion nichts weiter in Handen gebheben ist als das traurige Bild eines reinen Egoisten... Der wirkliche Mensch, der, den wir kennen, und der wir selber sind, ist eben komplex: er entstammt einer Zeit und einem Land, er hat eine Familie, eine Stadt, ein Vaterland, einen politischen und religiosen Glauben." Der fundamentale Einwand Durkheims (z. B. 1887b: 337) gegentiber ahistorischen Pramissen und rein egoistischen Motiven okonomischen Denkens und Handelns illustriert einerseits die Grundpramisse seines eigenen Werkes: die dominante Moral einer Gesellschaft andert sich Hand in Hand mit einer grundlegenden Transformation der sozialen Milieus der Menschen. Andererseits wehrt sich Durkheim gegen die Annnahme, dass typische soziale Beziehungen auf rein okonomischen Uberlegungen und weithin geteilten Motiven basieren. Sollte dies in der Tat der Fall sein, so der Einwand Durkheims ([1930] 1988: 260), dann ware die Gesellschaftsordnung dem von Thomas Hobbes beschriebenen brutalen „Naturzustand" nahe, und wir batten uns sehr weit von dem entfernt, was man eine Gesellschaft nennen kann:
^ Ich verzichte aus Platzgrtinden auf eine separate Darstellung der iiblichen okonomischen, d. h. neo-klassischen Konzeption des Marktes; die herkommliche Konzeption lasst sich in ihren wesenUichen Punlcten aus der Kritik an diesem Modell ablesen. Zweifellos wird diese Kritik nicht alien in der Zwischenzeit von Okonomen herausgearbeiteten, komplizierenden Eigenschaften des Marktes gerecht. Die Kritik simplifiziert, wahrend der okonomische Diskurs von der vielfaltigen Kritik nicht vOllig unberiihrt geblieben ist. Holton (1992) und Slater/Tonkis (2001) bieten eine Ubersicht der Ideengeschichte traditioneller Marktkonzeptionen.
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„Wenn man tiefer schaut, dann sieht man, daB jede Interessenharmonie einen latenten Oder einfach nur vertagten Konflikt verdeckt. Denn wo das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenuberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf dem KriegsfuB, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf langere Zeit unterbrechen." In der Tat nicht nur die Ideengeschichte, sondem auch die Geschichte selbst offeriert viele Wege und Beispiele, wie Markt und Zivilgesellschaft sich gegenseitig verandernd beeinflussten (Bevir/Trentmann 2004). In der Zwischenzeit haben Sozialwissenschaftler ihre Anstrengungen verdoppelt, um zu zeigen, dass „nicht-okonomische" Werte und gesellschaftliche Entwicidungen das Marktgeschehen beeinflussen (siehe Zelizer 1978 [1979, 1983]). Allerdings ist das Ergebnis der internen Kritik der Okonomen oder der empirisch fundierten Kritik des vorherrschenden okonomischen Modells durch Soziologen, Anthropologen und Psychologen kein einheitliches Gegenmodell des Marktes, auf das sich die Kritiker verstandigen konnten.^ Auch kann die verbreitete Kritik des idealisierten Marktmodells dariiber hinwegtauschen, dass es sich bei diesem Modell um ein in der politischen und okonomischen Praxis sowie im offentlichen Bewusstsein sehr einflussreiches Konzept handelt. Der Mythos des „guten" Marktes ist von erheblicher Bedeutung in vielen politischen Auseinandersetzungen"^ und als Bezugspunkt von Forderungen der Wirtschaft (oder auch der Gewerkschaften) an Staat und Gesellschaft. Das neoklassische Modell des Marktes spielt dariiber hinaus eine wichtige ideologische und praktische Rolle in der Globalisierungsdebatte. Der Einfluss des dominanten Marktverstandnisses als Weltsicht, die Schwierigkeit, in offentlichen Diskussionen oder in den Medien Alternativen zu artikulieren, sowie der besonders in jtingster Zeit unablassig wiederholte Ver^ Einen Uberblick tiber eine Anzahl von neueren Ansatzen zu einer Theorie des Marktes als kultureller Praxis findet sich in Zelizer (1988). ^ Es sei in diesem Zusammenhang nur an die mit Recht beriihmte abschliefiende Formulierung aus John Maynard Keynes' (1936: 323-324) Allgemeiner Theorie erinnert: „die Gedanken der Okonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie im Recht, als wenn sie im Unrecht sind, [sind] einflussreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einfliissen glauben, sind gewohnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Okonomen. Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft horen, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste. Ich bin iiberzeugt, dass die Macht erworbener Rechte im Vergleich zum allmahlichen Durchdringen von Ideen stark iibertrieben ist. Diese wirken zwar nicht immer sofort, sondern nach einem gewissen Zeitraum; denn im Bereich der Wirtschaftslehre und der Staatsphilosophie gibt es nicht viele, die nach ihrem fiinfundzwanzigsten oder dreiBigsten Jahr durch neue Theorien beeinflusst werden, sodass die Ideen, die Staatsbeamte und Politiker und selbst Agitatoren auf die laufenden Ereignisse anwenden, wahrscheinlich nicht die neuesten sind. Aber friiher oder spater sind es Ideen, und nicht erworbene Rechte, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten Oder zum Bosen". Vgl. auch Bourdieu ([1966] 1998: 53).
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weis auf die heilenden Krafte eines in bestimmter Weise organisierten Marktes symbolisieren nicht nur die Bedeutung des Marktes als politische Ikone, sondern verweisen auch auf den erheblichen Einfluss und den auBergewohnlichen gesellschaftlichen Status von Okonomen als Experten. Die gesellschaftliche Expertenrolle der Okonomen ist, wenn man an die insgesamt erfolgreiche Demythologisierung von Experten mit angeblich hocheffizientem Spezialwissen im modernen Gesellschaflen denkt, weitaus weniger „beschadigt" als die anderer Expertengruppen. Die neoklassische Konzeption des Marktes wird in strittigen offentlichen Auseinandersetzungen immer wieder affirmativ oder laitisch als Waffe verwendet, ohne dass die tatsachliche Existenz eines solchen Marktes, der diesem Idealtypus nahe kommt, selbst in Frage gestellt wird. Dies gilt z. B. fiir wiederholt gefuhrte Diskussionen iiber eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, den Wunsch, den Einfluss des Marktes entweder zu verstarken oder seinen angeblich tibermachtigen Einfluss zu mildern, die Regulierung von anscheinend besonders effizienten oder ineffizienten Finanzmarkten, den Sinn oder die massiven Nachteile von internationalen Vertragen wie denen des North American Free Trade Agreement (NAFTA) oder die Auswirkungen international verbindlicher Regeln des General Agreement on Tarifs and Trade (GATT). SchlieBlich spielt die Idealvorstellung der gesellschaftlichen Arbeit, die Markte leisten konnen, eine gewichtige Rolle in theoretischen Diskussionen und PolitikmaBnahmen auf dem Gebiet der Umweltpolitik sowie in Bemlihungen in jtingster Zeit und in Zukunft, die praktische Verwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Artefakte zu regulieren (Stehr 2003). 2 Soziologische Perspektiven Eine triviale Begriffsbestimmung des Marktes ware der vereinfachende Hinweis auf einen Ort, an dem, wie es die Autoren des Mottos dieses Aufsatzes formulieren, Entscheidungen getroffen und Preise ausgehandelt werden. Bemiihungen von Nicht-Okonomen, eine eigenstandige oder nicht-absolutistische Sicht des Marktes zu entwickeln (Barber 1977), sind vielfaltig und strittig. Unstrittig ist unter Nicht-Okonomen wohl die Tatsache, dass man die neoklassische Theorie des Marktes zu iiberwinden versucht und man sich dabei einig ist, dass das Marktverhalten komplexer und dynamischer sei, als es etwa in den Textbuchem der mainstream economics dargestellt wird (z. B. Block 1987; Campbell/Lindberg 1999). Das Marktgeschehen ist, so kann diese soziologische und kulturwissenschaftliche Kritik an dem herkommlichen Bild des Marktes zusammengefasst werden, eine kulturelle Veranstaltung (z. B. Law 2002: 21), von der man daruber hinaus sagen kann, dass sie sowohl auf der Angebots- als auch auf der
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Nachfrageseite eine Form des Gemeinschaftshandelns ist. Die Form des Gemeinschaftshandelns am Markt ist ein durch gemeinsame, verbindende und bindende Sinnbeziige und Werte bestimmtes Handeln, ohne dass es sich dabei unbedingt immer um konkrete soziale Gruppen wie etwa Konsumentenvereine Oder Produzentenverbande handeln muss. Die imaginaren, als Gruppen am Markt auftretenden Gemeinschaften haben eher eine Verwandtschaft zu dem soziologischen Begriff der Generation Oder der sozialen Klasse. Generationen tritt man auch nicht explizit bei, noch kann man sie einfach verlassen (Mannheim [1928] 1964). Dennoch ist ihr gemeinschaftliches, kumulatives Handeln von erheblicher systemspezifischer, aber auch gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Eine l<Titische Analyse des homo oeconomicus, des kulturellen Eingebettetseins okonomischen Verhaltens, kann allerdings nicht durch ein Verstandnis systemimmanenten okonomischen Handelns ersetzt werden, in der der Idealtyp des Akteurs des Wirtschaftslebens durch eine Art homo sociologicus ersetzt wird (Granovetter 1985). SchlieBlich kann sich die Kritik des herkommlichen Modells des Marktes darauf verstandigen, dass eine sozialwissenschaftliche Analyse des okonomischen Systems vor allem deshalb relevant und signifikant fiir ein Verstandnis der modernen Gesellschaft ist, weil die Wirtschaft in vielfaltiger Weise nicht unbedingt die wie auch immer definierte ultimative „Basis" gesellschaftlichen Handelns und sozialer Entwicklungen ist, sondern weil sie vielfaltig auf andere Gesellschaflssysteme einwirkt und deren Besonderheiten stark mit beeinflusst. Der Konsens der kritischen Analyse des herkommlichen theoretischen Verstandnisses des Marktes endet in der Regel mit der ambivalenten Betonung der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Markte. Sieht man von den wenigen, von mir aufgelisteten Gemeinsamkeiten ab, dann ist das Bild des Marktes aus soziologischer Sicht zugleich widersprtichlich bezUglich der Bewertungen der Rolle und insbesondere der sozialen Folgen des Marktes. Die tiber die unmittelbaren Funktionen des Marktes hinausreichenden Konsequenzen des Markthandelns sind nicht erst in jtingster Zeit ausgearbeitet worden. Einer der Ans^tze beschreibt den tiberwiegenden Teil der Marktteilnehmer, namlich die Konsumenten, als Opfer des Marktes als der korporativen Kontrollinstanz. Sie seien unfahig, sich zu organisieren und Widerstand zu leisten. Gleichzeitig betont der konkurrierende Ansatz die progressiv-konstruktiven wirtschaftlichen, aber auch zivilisatorischen, politischen und psychologischen Folgen des Marktes fiir die groBe Mehrheit der Akteure und der Gesellschaftsordnung insgesamt. Die Ausstrahlung bzw. die Folgen des Marktes fiir die Befmdlichkeit der Gesellschaft und ihre zivilisatorische und moralische Entwicklung werden dementsprechend unterschiedlich wahrgenommen. Auf der einen Seite betont man die progressiven, wenn nicht sogar die befreienden Einfltisse
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des Marktes auf die Lebenswelt und die Lebensstile der Menschen, auf der anderen Seite die restriktiven, irrationalen und repressiven Konsequenzen des Marktgeschehens fur die Mehrlieit der Gesellschaftsmitglieder, sei es in ihrer Rolle ais Konsumenten, als Arbeitnehmer, als Familienangehorige oder als Bezieher von Transferleistungen. Meine Kritik an beiden soziologischen Ansatzen, die das Dogma des herkommlichen Marktverstandnisses iiberwinden mochten, entzlindet sich an der Tatsache, dass sie, wie auch das neoklassische Paradigma, die Kultur und in ihrem Gefolge die aus ihr abgeleiteten Handlungsfahigkeiten weitgehend ais Externalitat des Marktverhaltens und seiner gesellschaftlichen Folgen begreifen. Im Kontext beider kritischen Positionen werden kuiturelle Phanomene, wenn auch nicht im gleichen Sinn, zum passiven Spielbali der Okonomie, und der Markt wird als ein statischer, wenn auch beherrschender soziaier Prozess beschrieben. Nachdem ich die widersprtichHchen soziologischen Thesen zum Stellenwert des Marktes in modernen Gesellschaften genauer skizziert habe, werde ich meine Kritik an diesen gegensatzlichen Perspektiven naher erlautern. 3 Die widerspruchliche Kritik des Standardmodells des Marktes Aus soziologischer Sicht, so eine der widersprlichlichen Besclireibungen, sind Markte fragile soziale Phanomene. Konsumenten und Firmen mtissen Wetten auf eine unsichere Zukunft abschlieBen. Firmen machen Vermutungen tiber den Geschmack von Konsumenten, Konsumenten mtissen Annahmen liber das Verhalten anderer Konsumenten machen. Investoren und Sparer schlieBen Vertrage, die zum Totalverlust ihres Kapitals ftihren konnen. Arbeiter und Angestellte werden Mitarbeiter von Firmen, die Banlcrott machen. Trotz der mit ungeheuren Unsicherheiten und Risiken verbundenen individuellen Teilnahme am Marktgeschehen sind die kollektiven Erfolge und Folgen des Marktes auBerordentlich. Diese Effizienz des Marktes garantiert eine, wenn auch insgesamt fragile Eigensinnigkeit. Der sich selbst regulierende, dezentralisierte Markt ist, um nur die wichtigsten Erfolge dieser Sichtweise zu erwahnen, fur wachsenden Wohlstand einer Gesellschaft und ihre Freiheit von staatlicher Planung verantwortlich. Der Markt dient nicht nur dazu, die vielfaltigen individuellen Bedlirftiisse der Menschen zu befriedigen, sondem generiert zudem noch eine gute Portion Wohlgefiihl und Wir-Geftihl, sowie verbesserte Chancen zur Entwicklung der eigenen Personlichkeit. Aus soziologischer Sicht ist der Markt andererseits aber auch eine harsche, unpersonliche Institution, in der sich in reinster Form das verwirklicht hat, was manche klassischen Sozialwissenschaftler schon immer befiirchteten. Der Markt reprasentiert in ihren Augen nichts anderes als eine soziale Machtbeziehung:
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Eine ungleiche Machtbeziehung zwischen Produzenten und Konsumenten, Kapitaleignern und Arbeitnehmern oder Kreditgebern und Kreditnehmern. Der Markt expandiert eigengesetzlich und haltlos, er oktroyiert seine Logik sozialen Beziehungen auf, die eigentlich von Beziehungsmustern, Normen oder Regeln bestimmt sein sollten, die marktfern sind. In diesem Bild von der naturwtichsigen, grenzenlosen Macht des Marktes verschranken sich nicht nur die bekannten warnenden Bilder von Karl Marx iiber Georg Lukacs, Walter Benjamin bis zu den Vertretern der ersten Generation der Franl<:furter Schule, sondern auch vergleichbare Darstellungen konservativer Provenienz, wie etwa die von Werner Sombart bis zu Helmut Schelsky, und schlieBlich viele Urteile iiber die Folgen des Marktes in gegenwartigen sozialv^issenschaftlichen Befunden. Der Staat wird zum Handlanger der kapitalistischen Marktordnung. Der Ausbeutungscharakter des kapitalistischen Marktes wird durch die Herausbildung von Oligopolen und Monopolen nur noch intensiviert. Die Folgen der Herrschaftsverhaltnisse und damit der Macht des Marktes sind eindeutig und einseitig. Sie reichen von seelischer Verkriippelung, der Instrumentalisierung der Arbeitslcraft, tiefen Ungleichheitsstrukturen, etwa in der Form unterschiedlicher Lebenserwartung, dem Verlust der Lebensqualitat, politischer Machtlosigkeit, der Zerstorung von Authentizitat, anerzogenem Konformismus und schmerzlicher Ausbeutung bis zur vorenthaltenen Bildung der Eigentumslosen. Eine diese psychologischen und sozialen Zwange des Marktes kompensierende Sozialpolitik des Staates kann der Macht des Marktes nur begrenzt Einhalt gebieten. Aktuelle Reformen der Sozialpolitik sind nichts anderes als eine Kapitulation vor der Macht des Marktes. Eine Okonomisierung der Gesellschaft verhindert die Entwicklung genuiner solidarischer und partizipativer Demokratie. Der Markt wird als eine objektive, unverriickbare Realitat wahrgenommen, und die groBe Mehrheit der Marktteilnehmer ist unfahig, sich vorzustellen, dass es anders sein konnte. Der Markt ist wie eine schmerzhafte Zwangsjacke. Wie Andre Gorz (1989: 34) als einer der wortgewaltigen Vertreter dieser Kritik des Marktes deshalb feststellt: Der Markt Jmposes its laws from without on individuals who are then ruled by them and are forced to adapt and to inodify their conduct and projects according to an external, statistical and totally involuntary balance of forces!"' Der Konsument, der Kleinanleger, der Lohnempfanger, der Kreditnehmer usw. wird im Kontext der Perspektive von der auBerordentlichen gesellschaftlichen Macht des Marktes haufig als ein hilflos verstricktes und manipuliertes Opfer der Werbung portratiert. Seine Motive sind, da nicht authentisch, suspekt. Man konsumiert z. B. aus fadenscheinigen Statusgriinden oder zur Befriedigung
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eines primitiven Narzissmus. Der Konsument ist nicht in der Lage, seinen Drang nach Befriedigung unerheblicher Bedtirfiiisse normativ zu zugeln.^ Die Mehrheit der Burger wird von Anhangem einer Gesellschaftstheorie, die wie ihre Kontrahenten von der Ubermacht des Marktes und seiner gesellschaftlichen Vorzugsstellungen uberzeugt ist, als weitgehend schutzloses „Opfer" umfassender, machtiger, nicht nur am Markt agierender sozialer Kollektive portratiert. In Bezug auf ihr Alltagsleben sind solche Individuen einfach handlungsunfaliig und ohne vorausschauende Sensibilitat flir einengende soziale Verstrickungen. Das Narrativ von der Macht des Marktes ist zugleich „fasziniert" von den oft auBerst repressiven MaBnahmen und Folgen der Politik des Staates, der Wissenschaft, des Erziehungswesens, der Kirchen, der Medien oder der Medizin. Der Einzelne wird insgesamt als weitgehend hilflose Person beschrieben, sei es in der Rolle des Staatsbtirgers, genau wie die des Konsumenten, Arbeitnehmers, Wahlers, Patienten, Touristen, Schtilers usw. Man beklagt und bedauert nicht nur, dass er sich im Alltag der machtigen Institutionen dem Markt hilflos unterwerfen mtisse, sondern auch, dass sein Leben eine durchgehend entfremdete Existenz sei.^
^ Der Soziologe Alfred Weber (1956: 151) argumentiert in einem Vortrag in diesem dezidiert kulturkritischen Sinn, wenn er sich mit den Folgen der Automatisierung der Warenproduktion beschaftigt und von einer unvermeidlichen Verstarkung des „Problems der Arbeitsfreizeit" spricht und fragt: was „fangt die gesamte Masse der Arbeiterschaft mit der erweiterten Freizeit an?" Wie kann man vor allem verhindern, dass sie dem „Trunksuchtsgefalle der Zivilisationselemente", d. h. insbesondere der „Sensationsapparatur" der Medien, verfallen? Weber (1956: 152) verlasst sich darauf, dass das Problem der Freizeitverwendung zumindest im Fall der wachsenden Zahl der „Pendler" durch die die Freizeit auffressende Prioritat der Hausarbeit, die keine Zeit zur Konsumption von Sensationen mehr erlaubt, aufgehoben wird. ^ Es gibt zweifellos Unstimmigkeiten unter Sozialwissenschaftlern, die sich mit der auBergewohnlichen Macht des Marktes auseinandergesetzt haben; eine der mangelnden Ubereinstimmungen umfasst beispielsweise die Frage, genau welche Motive, in einer radikal anders organisierten Gesellschaftsordnung, Handlungsmaximen der am Markt agierenden Akteure sein sollten. Wenn es schon nicht das von der neoklassischen Perspektive beschriebene rationale Kalkiil ist, dann kommen beispielsweise als Motiv Zufriedenheit oder Gliick (Lane 1991), Selbstrespekt, Anerkennung, SpaB, Freude oder Zuneigung in Frage. Talcott Parsons (1940a: 191-195) hat den Versuch unternommen, das abstrakte psychologische Motiv des Eigeninteresses der Okonomen im Sinn umfassender Handlungsmaximen aufzulosen und ein „System moralischer Vorstellungen" zu entwickeln. Wie man an der moglichen Handlungsrelevanz einer Reihe gegenwartig intensiv diskutierter Motive okonomischen Handelns erkennen kann, dazu gehort etwa das Motiv der „Nachhaltigkeit", der „Gesundheit", des ^precautionary principle'' oder der gesellschaftlichen „Sicherheit" (etwa in Form von „gated communities''), sind relevante moralische Vorstellungen keineswegs nur psychologischer Art bzw. unveranderlich, universell, gleichwertig und unumstritten.
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4 Funf Stipulationen des Marktes Zusammenfassend mochte ich die folgenden Eigenschaften der Markte in der Form von ftinf Stipulationen als Ergebnis meiner Betrachtung der Kritik des neoklassischen Paradigmas festhalten. Sie reprasentieren den Versuch, eine weniger einseitige, daftir aber dynamischere und kontextsensitive Darstellung des Marktes als Gemeinschaftshandeln zu entwickeln. Es lasst sich nicht vermeiden, dass einige dieser Aussagen, so z. B. die erste Stipulation zu den Eigenschaften des Marktes in modernen Gesellschaften, wie ein Klischee klingen. Die Aussagen sind selbstverstandlich nicht insgesamt neu. Der wechselseitige Einfluss von Kultur und Wirtschaft existierte auch in Gesellschaftsformationen, liber die Sozialwissenschaftler noch haufig in Kategorien wie denen des Unter- und Uberbaus, unterschiedlicher, undurchlassiger sozialer Klassen oder voneinander abgeschotteter Sektoren wirtschaftlicher Aktivitaten dachten. Die Wirtschaft moderner Gesellschaften entwickelt und verandert sich standig. Die spezifischen Transformationen der modernen Okonomie wiederum rechtfertigen es, dass bestimmte Eigenschaften des Marktes betont werden, die als Resultat exakt dieser systemimmanenten sowie gesamtgesellschaftlichen Veranderungen ein groBeres Gewicht in der Betrachtung der Markte als einer Form des Gemeinschaftshandelns haben sollten. 1) Markte sind nicht transzendental. Sie stehen nicht allein da. Markte sind stratifizierte soziale Gebilde. Die Marktteilnehmer sind in bestimmten sozialen Kollektiven verankert. Manche dieser sozialen Gruppen haben einen groBeren Einfluss auf das Marktgeschehen als die anderen Gruppen. Die Motive der Marktakteure sind nicht einfach individuell bestimmt. Die Motive, wie auch die Markte, sind soziale Konstrukte. Handlungsmotive haben beispielsweise eine multiple zeitliche und soziale Dimension: Sie sind sowohl nach vorn als auch in die Vergangenheit gerichtet und orientieren sich naturlich auch an zeitgenossischen Bedingungen. 2) Die Marktdynamik ist kein ahistorischer Prozess oder isoliertes soziales System, immun gegentiber der Zukunft, signifikanten sozialen Phanomenen und wichtigen gesellschaftlichen und historischen Veranderungen; so bewegen wir uns gegenwartig beispielsweise in Richtung einer wissensbasierten Okonomie. Die Existenz unterschiedlicher Generationen macht deutlich, dass es immer wieder zu neuen Kontakten mit der kulturellen Tradition kommt (Mannheim [1928] 1964). Der Markt bestimmt mit liber gesamtgesellschaftliche Transformationen, genau wie gesamtgesellschaftliche Prozesse das Marktgeschehen mitbestimmen. Das neoklassische Standardmodell des Marktes lasst keinen wesentlichen Wandel zu und interessiert sich deshalb auch kaum ftir einen fundamentalen Wandel des Marktes durch eine Emergenz neuer moralischer Handlungsmaximen. Auch kann es diese nicht erklaren.
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3) Der Markt ist nicht homogen; das Marktgeschehen und seine Folgen sind stratifiziert und keineswegs uniform. Die neoklassische Sicht des Marktes verbietet eine Analyse der Ungleichzeitigkeit von Marktformen. Die ungleiche Geschwindigkeit, mit der sich Markte verandern, wie auch das ungleiche Gewicht unterschiedlicher Gruppen von Marktteilnehmern ist eine bemerkenswerte Eigenschaft von Markten. Markte fiihren nicht unbedingt zu okonomisch „effizienten" Ergebnissen fur die Gesamtheit der Marktteilnehmer. 4) Okonomische Akteure sind aktiv und bewusst handelnde Personen; dies gilt auch fur das Stratum der Konsumenten. Okonomische Akteure sind keinesfalls zeitlich, raumlich oder sozial isolierte und autonome Personen. Man organisiert sich sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite. Der begriffliche Dualismus von moralisch relevantem (oder kulturell gepragtem) und strikt rationalem Verhalten lasst sich in der Praxis nicht aufrecht erhalten. Der Markt ist weder zeitlich noch raumlich indifferent. Markte halten sich nicht unbedingt an das neoklassische Drehbuch. 5) Es gibt - und nicht erst in der Gegenwart - umfassende hybride Formen okonomischen Handelns: Hybride Formen okonomischen Handelns umfassen nicht nur die von Kenneth Boulding (1973, 1981) beschriebenen Regionen okonomischen Marktgeschehens wie die der Unterstiitzungs- und Subventionsokonomie, sondern auch komplexe Handlungsmotive, in denen sich in der Praxis idealtypisch konzipierte Motive vermischen, wie z. B. die in politischen Diskussionen nicht selten geforderte Verschmelzung des Profitmotivs mit dem des Patriotismus,^ des Motivs des Sparens mit dem des Konsumierens, der Markt- und Planrationalitat, der Ambivalenz und des Stolzes auf wirtschaftliche Erfolge, re-
^ Die rhetorische Behauptung oder Forderung, dass dem Profit und dem Patriotismus verbundene Motive wirtschaftlichen Handelns untrennbar miteinander verbiinden sein sollten, fmdet sich in der Regel in nationalen offentlichen Diskussionen uber die generelle Lage der Wirtschaft, den Arbeitsmarkt oder den drohenden Verkauf einer Firma bzw. die Verlageriing von Produktionsstatten an auslandische Interessenten oder Standorte. Ob es in der Praxis solche hybriden Ziele gibt, ist eine empirische Frage, die bisher wohl unerforscht bleibt. Kontroverse normative Erwartungen fiber eine notwendige Kopplung dieser Motive, oder Klagen, dass dies bisher nur ungeniigend geschieht, werden fast nur von Politikern gemacht und eingefordert. So wirft der damalige CDU-Generalsekretar Laurenz Meyer den Managern deutscher GroBkonzerne z. B. einen eklatanten Mangel an Patriotismus vor: „Wir haben heute leider eine Vielzahl von Managern, denen es vollig egal ist, wo sie produzieren, wie viele Arbeitsplatze noch in Deutschland sind, und die keine emotionale Bindung an das Land haben. Das ist eine vollig falsche Grundeinstellung" {Financial Times Deutschland, 18. November, 2004, S. 1). Die Zeitung kommentiert die Forderungen Meyers eher niichtern und lakonisch, indem sie behauptet, dass „die Liebe zum Vaterland gutes Management nicht ersetzen" kann, denn die Aufgabe eines Managers ist es nicht, hybride Ziele zu realisieren, sondern „Gewinne zu erzielen und seine Firma in eine moglichst bluhende Zukunft zu fiihren" {Financial Times Deutschland, 18. November, 2004, S. 35).
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ligioser Glaubensvorstellungen mit Nachhaltigkeitsbestrebungen und altruistischer Gedankenexperimente mit denen von politisch motivierten Zielsetzungen. 6) Eine Reihe wichtiger sozialer Institutionen der modemen Gesellschaft wie das Gesundheitswesen, das Bildungssystem, die Familie oder die Religion werden in ihrem Alltag zwar zunehmend von marktbestimmten Kriterien mit beeinflusst. Man mag dies bedauern. Dennoch bedeutet dies bisher jedenfalls nicht, dass wir es in diesen Institutionen mit rein okonomischen Verhaltensweisen zu tun haben. Forderungen nach Deregulierung und mehr Wettbewerb sowie einer Expansion marktwirtschaftlichen Denkens in diesen Institutionen hatten bisher nicht zur Folge, dass man dort idealtypische Formen okonomischen Handelns antrifft. Marktwirtschaftlich bestimmte Handlungsmaximen, sofern sie in diese Institutionen vordringen, sind eingebettet in und angepasst an typisch systemimmanente kulturelle und soziale Beziehungen dieser gesellschaftlichen Institutionen. 5 Zur Erlauterung der fiinf Stipulationen Die grundlegenden kurz skizzierten Eigenschaften des Marktes mochte ich in den folgenden Abschnitten - in der oben angefiihrten Reihenfolge der Charakteristiken moderner Markte - naher erlautem: 1) Markte sind kollektive Praktiken; d. h., sie reprasentieren eine Form des Gemeinschaftshandelns, oder, um zunachst einen ahnlich offenen Begriff zu verwenden, Netzwerke (Rauch/Casella 2001; Zuckerman 2003; Granovetter 2005), die wiederum in bestimmte gesellschaftsspezifische (d. h. nationale) und transnationale Rahmenbedingungen eingebettet sind (Heinemann 1976: 49). Diese Definition des Markthandelns steht in enger Verwandtschaft zu dem von Max Weber ([1921] 1964: 489) formulierten, pragnanten Begriff des Marktes: „Von einem Markt soil gesprochen warden, sobald auch nur auf einer Seite eine Mehrheit von Tauschreflektanten um Tauschchancen konkurrieren ... Dass sie sich ortlich ... zusammenfmden, ist nur die konsequenteste Form der Marktbildung, welche allerdings allein die voile Entfaltung der spezifischen Erscheinung des Marktes: des Feilschens, ermoglicht." Umfassender formuliert, so ftigt Weber ([1921] 1964: 489) hinzu, ist nicht nur das Feilschen ein Gemeinschaftshandeln, sondern ,Jeder Tausch mit Geldgebrauch (Kauf) ist iiberdies Gemeinschaftshandeln kraft der Verwendung des Geldes, welches seine Funktion lediglich kraft der Bezogenheit auf das potentielle Handeln anderer versieht." Malcrookonomische Folgen individuellen Handelns begreift man am besten als nicht intendierte Folge der Summe von individuellen Handlungen (siehe Miller 2002b). Dass moralische tJberlegungen im Sinne von sozial sanktionierten Normen Handlungsverlaufe mitbestimmen, ist eine banale Feststellung. In-
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folgedessen gibt es eine unmittelbare Verbindung von moralischen Codes und okonomischem Handeln.^ Die neoklassische Pramisse, dass (hier wie tiberall) es nur ein rational bestimmtes Handeln isolierter Personen sein kann, das eine erfolgreiche Koordination komplexer okonomischer Prozesse moglich macht, erweist sich - empirisch hinterfragt - als auBerst kurzsichtig. Das Koordinationsproblem kann mit Hilfe ganz unterschiedlicher Motive gelost werden (vgl. Koponen 2002). Unterschiedliche Motive sind nicht, wie die neoklassische okonomische Theorie unterstellt, zufalliger Pragung. Insbesondere kann man unterschiedliche Motive in Relation zur Sozialstruktur der Gesellschaft nicht als zufallige Phanomene begreifen. Konsumenten und Produzenten agieren nicht als gesellschaftlich isolierte Agenten, die sich entweder aus Uberzeugung oder aus Angst vor Sanktionen gezwungenermaBen an ein Drehbuch halten, das nicht aus ihrer Feder stammt (Granovetter 1985: 487). Das Konsumverhalten einzelner Akteure orientiert sich, wie Thorstein Veblen ([899] 1992: 9, 10, 110-111) als einer der ersten Beobachter des gesellschaftlich bestimmten Konsums in modernen Gesellschaften herausgearbeitet hat, keineswegs ausschlieBlich an absoluten und einfach zu quantifizierenden MaBstaben, sondern immer auch in Relation zu Nutzenvorstellungen, die sich an den besonderen sozialen Beziigen eines Akteurs (Handlungskontexten) ~ etwa dem seines sozialen Status - messen mussen.^ Sofern man Veblens Begriff des „demonstrativen Konsums" {conspicuous consumption) als Ausdruck der Tatsache interpretiert, dass es sich um ein an anderen Akteuren orientiertes Verhalten handelt, dann Wirdjede Form der Konsumption notwendigerweise zum demonstrativen Konsum. Jede Art der Konsumption eines Menschen dient dazu. ^ Daniel Hausman und Michael McPherson (1993) haben in einer umfangreichen ideengeschichtlichen Darstellung die verschiedenartigen Beziehungen von Ethik und Okonomie beschrieben. Sie verweisen auf eine umfangreiche Literatur, Positionen und Personen, die zur Diskussion dieses Themas beigetragen haben. Wer an einem Uberblick der gegenseitigen Einlassungen und Uberschneidungen der Positionen von Okonomen und Moralphilosophen zum Thema Ethik und Wirtschaft interessiert ist, dem sei dieser Beitrag empfohlen. Die Autoren dieser Ideengeschichte beobachten allerdings nicht die Veranderung gesellschaftlicher moralischer Standards gerade aufgrund okonomischer Entwicklungen oder den Wandel moralischer Zielvorstellungen in der Okonomie als Reaktion auf gesellschaftliche Veranderungen. '^ Colin Campbell (1995) hat auf die Ambivalenz von Veblens Begriff des demonstrativen Konsums aufmerksam gemacht. Campbell macht deutlich, dass es zwei Deutungen des Begriffs des demonstrativen Konsums gibt; einmal die subjektive Komponente des Begriffs (Motiv), und zum anderen die funktionale Interpretation (Konsequenzen). Im okonomischen Diskurs kommt dem Begriff des demonstrativen Konsums weiterhin eine eher marginale Rolle zu, gleichwohl ist er nicht vollig vergessen (Mason 2002). Man muss dem Begriff des demonstrativen Konsumenten eine geringe Rolle zugestehen, um nicht Gefahr zu laufen, den vorrangigen Sinn des rationalen Konsumverhaltens zu verwerfen.
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sich seiner Rolle als Teil einer sozialen Gruppe zu versichern oder als Fremder zu bestatigen (siehe Mayhew 2002). Und wie es die Anthropologen Mary Douglas und Baron Isherwood (1979: 5) viele Jahrzehnte nach Veblen ausdriickten, die Habseligkeiten einer Person lassen sich als ..physical, visible statements about the hierarchy of values to which their chooser subscribes'' verstehen. Der Okonom James Duesenberrys (1949) wiederum formulierte die entsprechende Relation iiber wohl universell manifeste Bezugspunkte jeglichen Konsumverhaltens zu anderen sozialen Tatsachen als die so genannte „relative Einkommenshypothese" (siehe auch Hirsch 1976). Die Beobachtungen uber relative Einkommenseffekte okonomischen Handelns sind in der Zwischenzeit empirisch sehr gut belegt (z. B. Frank 1989). Die genaue gesellschaftliche Verbreitung oder Dominanz der Handlungsmaxime, die nicht nur das Marktverhalten nach gangigen Erwartungen neoklassischer okonomischer Modelle dominieren sollte, ist moglicherweise empirisch gesehen keineswegs so umfassend, wie oft unterstellt wird; dies gilt insbesondere dann, wenn das Modell des rationalen Akteurs liberal auf eine Vielzahl von marktexternen sozialen Situationen ausgedehnt wird. Aber selbst im Wirtschaftssystem werden die Aktivitaten, beispielsweise zwischen Firmen, nicht ausschlieBlich von egoistischen Marktgepflogenheiten, sondem auch von kooperativen Momenten mitbestimmt. Enge Netzwerke, kooperative Aktivitaten werden liber Vertrauen, Freundschaft, Loyalitat, feste Verpflichtungen usw. mitgesteuert. ^^ 2) Der Markt ist Teil gesamtgesellschaftlicher, zivilisatorisch-historischer Prozesse. Einst dominierte der munizipale Charakter des Marktes (siehe Sherman 1933). Dann wurde er national und international. In der Gegenwart kann man sich den Markt fast nur noch als eine globale Veranstaltung vorstellen. Dies heiBt aber nicht, dass unser Verstandnis des Marktes nicht mehr von historischen Vorlaufern beeinflusst wird und wir uns z. B. in nostalgischer Weise an Wochen- oder Bauernmarkten erfreuen als Erinnerung an den munizipalen Marktcharakter vergangener Epochen. Der soziale Stellenwert des Marktes in modernen Gesellschaften verandert sich nicht nur, sondern seine Bedeutung in der Reproduktion einer bestimmten Gesellschaftsform, sei es die kapitalistische Gesellschaft oder, wie man zunehmend formuliert, die Wissensgesellschaft, nimmt zu; z. B. wird Wissen in einem neuartigen Kontext relevant und tragt zur Auflosung der primaren sozialen Funktion anderer gesellschaftlicher InstitutioG. B. Richardson (1972: 886; siehe auch Dore 1983) hat die Unterscheidung von marlctbestimmten und kooperativen Transaktionen zwischen Firmen in die wissenschaftliche Literatur eingeftihrt: „The essence of co-operative arrangements ... would seem to be fact that the parties to them accept some degree of obligation - and therefore some degree of assurance - with respect to their future conduct.''
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nen bei. Wie aber besonders aus der evolutionaren Theorieperspektive okonomischen Denkens abgeleitet werden kann, sind es gesamtgesellschaftliche und zivilisatorische Trends, die das Handeln okonomischer Akteure und das okonomische System selbst beeinflussen. Politische Entscheidungen, die nicht nur als Rahmenbedingungen okonomischen Verhaltens relevant werden, sind von unterschiedlichen Weltbildern und Wertvorstellungen mitgepragt, die das Wirtschaftssystem auch auf dem Umweg Uber das Rechtssystem, durch Regeln und Vorschriften beeinflussen. Der reziproke Verkehr zwischen Okonomie und den anderen gesellschaftlichen Systemen wird kaum jemals geleugnet. Allerdings konzentriert sich das Interesse haufig einseitig auf den Einfluss des Wirtschaftssystems auf den Rest der Gesellschaft und ihre Besonderheiten, in Abhangigkeit von okonomischen Entwicklungen. Dies gilt auch fur den Verkehr zwischen okonomischem Denken und den Denkvorstellungen in anderen sozialen Systemen. Zu dem Einfluss, den das Wirtschaftsgeschehen auf die Gesellschaft ausiibt, gehort naturlich auch die sozialpsychologische Bedeutung konjunktureller Verlaufe, sei es fur ein verbreitetes Gefiihl des Wohlbefmdens oder das Geftihl eines grassierenden Pessimismus, wenn nicht sogar von Zukunftsangst in der Gesellschaft (Borgmann 2000: 418). Nicht nur, dass man von einer Okonomisierung der Gesellschaft einschlieBlich der Weltanschauung ihrer Gesellschaftsmitglieder spricht,'^ sondern man verweist auch auf die dezidierten Auswirkungen okonomischer Ideen auf die herrschende Moralphilosophie, wenn man z. B. an das Pareto-Optimum denkt, das Unmoglichkeitstheorem von Kenneth Arrow oder an das liberale Paradoxon von Amartya Sen und die damit eng verbundenen moralischen Implikationen. Die These eines scharfen Konfliktes von moral-ethischen Imperativen und der Wirtschaftsentwicklung wird ebenfalls haufiger thematisiert (z. B. Polanyi [1944] 1978; Hirsch 1976; Hirschman 1985; Sen 1977). Andererseits werden viele der Besonderheiten des Marktes auBerhalb des Marktes „gemacht".^^ ^' Konkreter formuliert: Die Okonomisierung der Gesellschaft heiBt z. B. die Verdrangung der Politik durch das Marktgeschehen (siehe Habermas 1998). Es wird im Rahmen dieses Argumentationskontextes davor gewarnt, dass sich - verlangert man die gegenwartigen Trends in die Zukunft - die gesellschaftlichen Verhaltnisse insgesamt nach denen des Wirtschaftssystems ausrichten miissen. Andere gesellschaftliche Subsysteme (wie der Staat, das Bildungssystem der Gesellschaft oder die Wissenschaft) werden zu reinen Erftillungsgehilfen der okonomischen Rationalitat degradiert, insbesondere die der besonders einflussreichen und machtigen Wirtschaftsakteure wie die der multinationalen Konzerne. Die „neue" Eindimensionalitat gesellschaftlichen Handelns muss inft)lgedessen, so die warnende Folgerung, durch gezielte ordnungspolitische Eingriffe des Staates oder „globaler Behorden" ausgebremst werden. ^^ Die sich mit unterschiedlichen Auswirkungen marktfremder Institutionen auf den Markt beschaftigende sozialwissenschaftliche Literatur ist Legion: Die Rolle des Staates bei der Entwicklung und Auspragung des Marktes untersuchen z. B. Campbell/Lindberg (1990) oder Dobbin (1994); Swamninatthan/Carrol (1995) sowie Fligstein (1996b) beschaftigen sich mit dem Einfluss politisch-
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Das idealtypische neoklassische Modell des Marktes hat Ahnlichkeiten mit anderen gesellschaftlichen Utopien, die ebenfalls unfahig sind zu erklaren, warum bestimmte soziale, kulturelle oder okonomische Veranderungen tiberhaupt notwendig sind, in welche Richtung sich der Wandel des selbstgentigsamen Marktes bewegen mag oder warum es unter Umstanden zu signifikanten Veranderungen im angebHch eigensinnigen Marktgeschehen kommen kann (Dahrendorf [1966] 1968:227). 3) Eines der Probleme jeder Analyse des Marktes, nicht nur in modernen Gesellschaften, liegt darin, dass „der" Markt nicht homogen ist (Samuels 2004). Unterschiedliche am Markt reprasentierte Gruppen mit unterschiedlichen Lebensstilen (Bourdieu [1979] 1982: 211-219) oder Zeithorizonten, verschiedene am Markt beobachtbare Interaktionsformen und -konventionen (Campbell 1987; Biggart/Beamish 2003), von materiellen (Stahlmarkte) bis zu symbolischen Transaktionsbezugen (Heiratsmarkte), stellen sicher, dass Markte nur selten ein homogenes Gemeinschaftshandeln generieren. Die Kontrollmoglichkeiten der Marktteilnehmer unterscheiden sich signifikant, je nachdem, mit welcher Marktform man es z. B. zu tun hat (offentliche Monopole, private Oligopole, intensiver Wettbewerb). Die uneinheitlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen okonomischen Handelns sind nicht nur zu unterschiedlichen historischen Abschnitten und in verschiedenen Gesellschaften prasent (Kay 2003), sondern auch zur gleichen Zeit in der gleichen Gesellschaft. Man denke in diesem Zusammenhang allein an die Vielfalt der Marktformen von modernen Finanzmarkten, die ihrerseits intern stark differenziert sind, bis zu Flohmarkten in Privathausern {garage sales), Marktflecken, Dorfern und Stadten, an Arbeitsmarkte, an Heiratsmarkte (siehe Harknett/McLanahan 2004: 791-794), an Markte fiir Adoptivkinder oder menschliche Organe (siehe Healy 2004). Marktteilnehmer versuchen das Marktgeschehen zu „manipulieren", indem sie z. B. an den Staat appellieren oder mit der Macht des Rechtssystems drohen. Es gibt keinen einheitlichen Meta-Standard, auch nicht das Geld, um antizipierte oder tatsachliche Marktergebnisse vielfaltigster Markte vergleichbar zu machen, um sie endlich in ein umfassendes Kalklil der Nutzenfunktion zu pressen (Collins 2004: 144). 4) Genau wie die Anhanger der Planwirtschaft selten zogerten, die herausragenden moralischen Folgen der sozialistischen Wirtschaftsform hervorzuheben, haben Vertreter der Marktwirtschaft sie fiir eine Vielzahl positiver moralischer Entwicklungen und Eigenschaften der Marktteilnehmer verantwortlich gemacht (etwa Ropke [1958] 1998). Im Eigeninteresse zu handeln, so die These der kultureller Prozesse, Hamilton/Biggart (1988) verweisen auf die Bedeutung von Familienstrukturen und Guillen (1994) auf die Rolle professioneller Assoziationen fiir die jeweiligen Besonderheiten von MarktstrulctLiren.
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Markt- bzw. Planwirtschaftler, dient der moralischen Qualifikation. Eine realistische Analyse der Moral der Marktteilnehmer versucht aber nicht, dem okonomischen Akteur a priori bestimmte moralische Codes aufzuerlegen, sondern muss bemiiht sein, die soziale Konstruktion unterschiedlicher handlungsrelevanter Motive aus der sich verandemden Praxis okonomischer Aktivitaten abzulesen. Das okonomische Handeln orientiert sich an den Verhaltenscodes einer Anzahl von Institutionen, aber auch an der Vergangenheit und antizipierten Zukunftschancen und somit nicht nur an dem angeblich eigensinnigen, systemspezifischen Code des Marktes. Dagegen unterschatzen die sich Verschworungstheorien verschreibenden Beobachtungen der Konsumentenkultur, wenn sie diese als eine minderwertige Zwangskultur beschreiben, mit Sicherheit die Macht und Souveranitat dieser Marktpartei. Narrative vom passiven, hedonistischen, gedachtnislosen, leicht manipulierbaren Konsumenten, die noch in der sozialwissenschaftlichen Literatur in der zweiten Halfte des vergangenen Jahrhunderts dominant waren, werden nicht nur, was ihre historische Gultigkeit angeht (z. B. Braudel [1979] 1982; McKendrick et al. 1982), immer haufiger in Frage gestellt, sondern auch als Abbild der gegenwartigen Konsumkultur mehr und mehr angezweifelt (Campbell 1987; Agnew 1990).^^ Konsum setzt Aneignung voraus. Der Konsument tragt selbst zur Konstitution des von ihm konsumierten Produktes bei (Bourdieu [1979] 1982: 172). Die Krafteverhaltnisse haben sich verschoben: In der gegenwartigen Welt sind Konsumenten sowohl als Individuen als auch als organisierte Akteure eine deutlich vernehmbare und fordemde Macht/"^ Konsumenten und Produzenten treten nicht isoliert auf. Werte und Weltanschauungen genau wie Wissen als Handlungsfahigkeit fiihren zu organisiertem Marktverhalten. Wie die gesellschaftli'^ Naturlich ist eine differenzierte Analyse des Konsumverhaltens angebracht: Dazu gehort beispielsweise, dass die Ungleichzeitigkeit gleichzeitiger Phanomene anerkannt wird und damit bestimmte Trends in den Verhaltensweisen der Konsumenten. Dies schliefit deshalb nicht aus, dass herkOmmliche Einstellungen in Teilmarkten und in Teilen der Konsumentenschicht weiter eine Rolle spielen. Sofern man aber Thesen wie die der „Konsumentensouveranitat" oder die der Emanzipation der Konsumenten von einmal existierenden Marktkontingenzen (siehe Sayer 1995: 121-123) im Kontext einer Beschreibung der Marktbeziehungen in einem bestimmten historischen Ausschnitt des Marktgeschehens prinzipiell in Frage stellt, skizziert man mit Sicherheit ein falsches Bild komplexer emergenter und dynamischer Vorgange in modernen Markten. Zu jedem Zeitpunl
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che Umwelt, z. B. der Staat und andere gesellschaftliche Institutionen, auf Konsumenten reagieren, wird durch die von organisierten Konsumenten artikulierten Bediirfhisse, Rechtsvorstellungen und von ilinen eigenstandig zugerechneten Verantwortlichl<:eiten mitbestimmt. Dazu zahlen das Selbstverstandnis der Produzenten und Konsumenten insgesamt und das bestimmter, dominanter Schichten unter den Produzenten und Konsumenten nicht nur innerhaib, sondern auch auBerhalb des Wirtschaftssystems (Maclachan/Trentmann 2004). Markte sind nicht indifferent gegentiber ihrer eigenen Geschichte oder einer bestimmten Zukunft. Es gibt z. B. das Phanomen der sich liber Generationen hinweg erhaltenden Konsummuster (Waldkirch et al. 2004) oder auch ein Konsumverhalten, das durch Generationskonflikte mitgepragt ist. Auch in der Sozialdimension ist der Markt nicht indifferent. Markte entstehen nicht aus dem Nichts. Markte sind Produkte ihrer Sozialgeschichte. Sie kontrollieren zwar das Verhalten ihrer Teilnehmer, tun dies aber nicht einseitig. 5) Markte sind hybride soziale Gebiide, weil sich in ihnen eine Vielfalt von subjektiven Einstellungen manifestiert und eine Vielzahl von Individuen mit Bindungen an unterschiediiche soziale Institutionen am Markt aktiv ist (siehe Gallon et al. 2002). Unterschiediiche Handlungsmotive und Konventionen als Grundlage der okonomischen Koordination sind komplexe kulturelle und historische Konstrukte (siehe Biggart/Beamish 2003). Das Profitmotiv z. B. ist wohl fast immer an andere Motive gekoppelt (vgl. Lazarsfeld 1959). So hat Max Weber auf die historisch zwar begrenzte enge Verkniipfung von religiosen Motiven und Profitstreben aufmerksam gemacht. Die Chance, einen Gewinn zu erzielen, wird in der Regel kaum hinreichend sein, um eine Wirtschaftsform in ein anderes Wirtschaftssystem zu verwandeln - genau wie das Profitmotiv selten aus einem Geldverleiher einen Banker machen wird. Andererseits war der Stolz auf wirtschaftliche Erfolge und Reichtum immer wieder an Geftihle der Ambivalenz oder sogar der Verlegenheit und Verwirrung gekoppelt. ^^ Handlungsmotive sind eng mit den jeweiligen kulturellen, sozialen und politischen Gegebenheiten einer Gesellschaft verbunden. Die idealtypische Formulierung von formaler und substantieller Rationalitat (von formalen Spielregeln und inhaltlicher Normierung) offnet oder verkniipft sich in der Praxis in vielfacher Weise (siehe auch Heinemann 1976). Aus praktischen Beobachtungen der Verkniipfung von Marktrationalitat (Unsicherheit) und Planrationalitat (Gewissheit) folgt, dass es Krafle gibt, die eine Realisierung „rein" formaler oder substantieller Rationalitat verhindern. Die Omniprasenz der Macht ist flir Ralf Dahrendorf ([1966] 1968: 225) flir die praktische Koppelung unterschiedlicher *^ Simon Shama (1987) hat die hybriden Okonomischen Motive der reichen hollandischen Gesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts eindrucklich dargestellt (siehe auch Agnew 1990).
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Handlungsmaximen verantwortlich. Es ist die soziale Macht Jhat persistently interferes with the realization of market-rational principles. Something that makes it impossible to lay the market-rational game according to purely formal rules.'' Macht verhindert etwa einen gleichen Zugang zum Markt bzw. soziale Ungleichheiten und Privilegien behindern uniforme Partizipationschancen am Marktgeschehen.
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Europa - aber wo liegt es? Johannes Weifi 1) Identifikation heiBt immer Abgrenzung. Was also auch immer unter „europaischer Identitat" verstanden wird: Es bedeutet mit Notwendigkeit, dass Bestimmtes eingeschlossen und Anderes im selben Zuge ausgeschlossen wird. Das ware allerdings kein Problem, sondern geradezu wunschbar, wenn zu unterstellen ware, das Eingeschlossene decke sich mit dem - moralisch, politisch oder auch kulturell - Guten, das Ausgeschlossene mit dem Schlechten. Eine solche Unterstellung aber ist sehr unplausibel und tatsachlich unhaltbar. Trotzdem spielt sie, aus leicht verstandlichen Grunden, bei den Auseinandersetzungen uber die kulturelle „Identitat" der Europaerinnen und Europaer eine bestimmende Rolle. So etwa bei dem Versuch, die Menschenrechtskonvention des European Council, ein entsprechendes Dokument der Europaischen Union oder eine zukiinftige europaische „Verfassung", deren Kern in einer erneuten Bekraftigung der allgemeinen Menschen- und Biirgerrechte bestehen mtisste, als Quelle oder Medium einer neuen europaischen Identitat zu etablieren (siehe Schwimmer 2000). Doch offenbar lasst sich die differentia specifica, also die spezifische Herkunfl, Eigenart und Bestimmung einer Gemeinschaft von Europaem, nicht, jedenfalls nicht allein, vermittels derart strikt universalistischer Ideen und Werte bestimmen. Auf diese Weise wtirde ja nur das bekraftigt, was die Gemeinschaft der europaischen Staaten mit alien demolo*atischen (National-)Staaten, zumal den Vereinigten Staaten von Amerika, und sogar mit den Vereinten Nationen verbindet. Dasselbe gilt auch fur den Versuch, den Antifaschismus und Antirassismus zum Kernstuck eines neuen europaischen Credos zu machen (Konferenz der EU-Staaten in Stockholm; Ausgrenzung und Bestrafung Osterreichs wegen der Regierungsbeteiligung der FPO).^ Zwar ergeben sich fur eine moralischpolitische Identifikation solcher Art sehr spezifische Motive aus der europaischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, doch sind ihr Gehalt und ihre Bedeutung im Kern wiederum identisch mit den Postulaten der allgemeinen Menschen- und Biirgerrechte. 2) Bei einer Beschrankung auf universalistische, also fur alle Menschen giiltige und alien Menschen zuzumutenden Werte ergibt sich eine spezifische Identitat und Bestimmung Europas nur dann, wenn entscheidendes Gewicht auf die euro* „Osterreich verletzt den europaischen Pakt", hatte der gauUistische Abgeordnete Pierre Lelouche (in Liberation) geauBert, und er hat gefordert, dem Land das Stimmrecht in Briissel zu entziehen.
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paische Herkunft und Natur dieser Werte gelegt wird und behauptet wird, das universalistische Credo sei in Europa auf exemplarische Weise verwirklicht und eben deshalb sei Europa auch berufen, liber eine weltweite Beachtung und Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte zu wachen und zu richten. Eine solche Auffassung bringt Europa nicht nur in Konflikt mit den Vereinigten Staaten, die ja eine entsprechende Rolle - reinste und vollkommenste Realisierung universalistischer Ideen - seit jeher fiir sich beansprucht haben. Sie sieht vielmehr, und das ist viel schwerwiegender, auch die sehr verbreitete Kritik an der europaischen resp. amerikanischen oder aber „westlichen" Uberheblichkeit im Recht, wie sie in den vergangenen Jahren vor allem in vielen Landern Ostasiens (Malaysia, Singapur, Volksrepublik China), aber auch in Russland geauBert wurde, und zwar nicht nur von Politikern, sondern auch von Seiten der Kulturintelligenz. Diese Kritik richtet sich eben nicht auf die europaische oder westliche Kultur als solche, sondern darauf, dass diese mit der allgemeinmenschlichen Kultur gleichgesetzt werde. Kritisiert wird also genau das, was in Europa - zum Zwecke der Herausbildung oder Starkung eines europaischen Kollektivbewusstseins immer wieder gefordert und in Erklarungen der EU und der einzelnen Regierungen propagiert wird: die Selbstidentifikation Europas liber das „gemeinsame Vorhandensein moderner Errungenschaften", also als Hort von „Demokratie, Beachtung der Menschenrechte, freie Marktwirtschaft, freie Gewerkschaften, Rechtsstaatlichkeit" (Kopke 1999: 25, 26). 3) Eine solche Gleichsetzung des Eigenen und Besonderen mit dem fiir alle Menschen Gultigen und Guten scheint nicht - oder jedenfalls nicht so eindeutig - vorzuliegen, wenn als Kernsttick dieses Eigenen das so genannte „europaische Sozialmodell" ausgegeben wird, wie es Mitte der 90er Jahre von Jacques Delors propagiert und vor einigen Jahren (bei einer Konferenz der sozialdemokratischen Regierungschefs in Rom) von Prodi bekraftigt wurde („Die europaischen Btirger wollen nicht, dass das europaische Sozialmodell abgewickelt wird. Sie wollen, dass es sowohl fair als auch effizient wird"). Es ist offenkundig, wovon sich das europaische Bewusstsein und Selbstbewusstsein hier in erster Linie abgrenzen sollen: von dem US-amerikanischen „Modeir' (und nattirlich von innereuropaischen Tendenzen, die auf einen Abbau wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen und Leistungen zielen).^ Das Problem liegt aber darin, dass das europaische Sozialmodell bisher nur - oder fast nur - auf der Ebene der einzelnen Staaten institutionalisiert ist und funktioniert und dass selbst in diesem nationalen Rahmen das Gefiihl der Solidaritat und der Verpflichtung zur Unterstiitzung der Bedtirftigen, dessen ein sol^ Zur Oberwindung der von ihm diagnostizierten „augenblicklichen europaischen Sinnkrise" fordert Johannes Willms einen „europaischen Patriotismus", der „notwendig eine gegen Amerika gerichtete Spitze" besitze (Willms 2000: 17).
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ches Modell bedarf, im Abnehmen begriffen ist. Ein alle Staaten - oder besser: alle Individuen und Gruppen - Europas oder auch nur der Europaischen Union umfassendes Solidaritatsgefiihl dieser Art ist durchaus nicht in Sicht. 4) Solidaritat bedeutet die Bereitschaft, Miihen gemeinsam zu tragen und Erfolge zu teilen, in Notlagen fureinander einzutreten und gegen Bedrohungen von auBen zusammenzustehen. Partikulare, also in der einen oder anderen Weise begrenzte Solidaritatsbeziehungen, griinden im Bewusstsein einer spezifischen Verbundenheit, Zusammengehorigkeit und gemeinsamen Verantwortung. Was konnte bei den Bewohnem der europaischen Staaten dieses Bewusstsein einer spezifischen Zusammengehorigkeit erzeugen oder tragen? Nicht abstrakte Ideen und Werte, schon gar nicht solche universalistischer Art, aber auch nicht von Regierungen oder Eliten entworfene politische Programme oder „Verfassungen". Andererseits aber auch nicht die „harten Tatsachen", die in den vergangenen Jahrzehnten durch die Etablierung okonomischer, rechtlicher und politischer Superstrukturen geschaffen worden sind. Wenig plausibel ist so auch die von manchen Politikern, aber auch z. B. von dem Philosophen Peter Koslowski, geauBerte Erwartung, dass insbesondere die Einfiihrung der gemeinsamen Wahrung nicht nur die politische, sondern auch und vor allem die soziale und kulturelle Vergemeinschaftung der Europaer entscheidend voranbringen werde. Das hieBe ja nichts anderes, als das Durkheimsche Theorem von den nichtkontraktuellen Voraussetzungen des Vertrags (und des Marktes) durch die Behauptung zu ersetzen, dass vertrags- und marktformige Strukturen sich ihre kommunitare und kulturelle „Einbettung" selbst schaffen konnten/ 5) Der franzosische Historiker Jacques Le Goff (1995) hat bemerkt, dass die kulturelle Vergemeinschaftung Europas Antworten auf drei Fragen erfordere: „Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?" Mir scheint, dass die mittlere dieser Fragen weiterhin von konstitutiver Bedeutung ist, dass das gesuchte „europaische Bewusstsein" also nicht ohne eine Besinnung auf die gemeinsame Geschichte der europaischen Volker zu gewinnen und fortzuentwickeln sein wird."^ „Europaismus heiBt (auch) Geschichtsbewusstsein - ein tiefes gemeinsames Gedachtnis" (K. Zanussi 1990). Dieses gemeinsame Gedachtnis aber beschrankt sich keineswegs auf die aus heutiger Sicht „positiven" Er•^ Solidaritat erfordert, zumindest kurz- und mittelfristig, auf eine egoistische Abwagung von Gewinnen und Verlusten zu verzichten. Eine gemeinsame Wahrung wie der Euro aber appelliert geradezu an ein grenzuberschreitendes Kalkulationsbedurfnis. ^ Tatsachlich ware die geschichtlich-kulturelle Einheit Europas Iceine nachtragliche Erfmdung. Friedrich H. Tenbruck hat zurecht bemerkt, dass Europa unter alien Kontinenten der einzige ist, in dem es tiber die Jahrhunderte und Jahrtausende und iiber alle Briiche, Konflikte und auch Kriege hinweg so etwas gegeben hat wie ein iibergreifendes Bewusstsein kultureller Besonderheit und Einheit. Dass, wie z. B. John Lukacs (1990) sagt, der „Europagedanke" im engeren Sinne nicht viel alter als 200 Jalire ist, steht dem nicht entgegen.
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eignisse und Taten, und schon gar nicht lasst es sich auf die Hervorbringungen der europaischen Geschichte reduzieren, denen tatsachlich oder vermeintlich eine universelle Bedeutung zukommt. Ganz im Gegenteil: Die kulturelle Identitat Europas kann sich nur aus dem ableiten, was an dieser Geschichte partikular, ja singular ist, also als solches gerade ohne universellen Geltungsanspruch. 6) Worin liegt dieses Besondere, dem Rest der Welt weder Zukommende noch Zuzumutende? Auf diese Frage gab und gibt es sehr unterschiedliche und in Vielem einander widersprechende Antworten. Doch dtirfte Karl Jaspers etwas sehr Wichtiges und Unbestreitbares getroffen haben, als er „die Antike und die Bibel" als Kern des gemeinsamen, identitatsstiftenden europaischen Erbes benannte. LFber die Gegenwartigkeit, die Bedeutung und die eventuelle Revitalisierbarkeit der griechisch-romischen Antike will ich nur ganz wenig sagen. Es fallt auf, dass, wenn heute das „humanistische Erbe" als tragendes Element der europaischen Vergemeinschaftung genannt wird, und das geschieht ja immer wieder, in der Kegel unerwahnt bleibt, wie konstitutiv die Aneignung und Fortbildung der antiken Geisteswelt ftir den europaischen Humanismus (insbesondere in der Neuzeit und in der Aufklarung, aber auch spaterhin) gewesen sind. Weil das so ist, miisste man erwarten, dass die Verlebendigung und lebendige Auseinandersetzung mit diesem geistigen Kosmos als zentrales und ganz unverzichtbares Element einer auf die Starkung des „europaischen Bewusstseins" zielenden Bildung (resp. Bildungs- und Kulturpolitik) aufgefasst und behandelt wurde. Davon kann aber durchaus keine Rede sein. Es ist jedenfalls schwer, in den vielen Verlautbarungen und Programmen der Europaischen Union auch nur die geringste Spur davon zu entdecken, und in den einzelnen Staaten geht die Vermittlung der entsprechenden historischen Kenntnisse, und der beiden alten Sprachen zumal, bisher unaufhaltsam zuriick. Ware dies nicht eine Tendenz, der eine europdische Bildungspolitik entgegenwirken miisste - wenn eine solche tiberhaupt existierte? 7) Nicht nur auf unglaubiges Staunen, sondem auf geradezu aggressive Ablehnung stoBt man - nicht immer, aber sehr oft - wenn man behauptet, dass die spezifische religiose Fragung Europas ein unverzichtbares Element seiner kulturellen Identitat sei und auch in Zukunft bleiben miisse. Diese Behauptung wird von vielen als Zumutung empftmden, gerade so, als wtirde angesichts der fortgeschrittenen Sakularisierung der europaischen Gesellschaften zu Rechristianisierung, gar zu einem neuen Kreuzzug nach innen aufgerufen. Auch wird regelmaBig gesagt, dass die nicht-europaischen Kulturen es als Affront und als deutlichsten Ausdruck einer europaischen Festungsmentalitat auffassen mtissten, wenn dem religiosen Faktor eine mehr als marginale Bedeutung zugemessen wtirde. Und ganz besonders inakzeptabel ist solches fur die, welche die Ttir-
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kei als potentielles oder erwiinschtes EU-Mitglied nicht „vor den Kopf stoBen" und ausgrenzen wollen. Immerhin hatte der derzeitige ttirkische Ministerprasident ja erklart, die EU dtirfe sich nicht als „christlicher Verein" auffassen; bei seinem letzten Besuch hat er das zu der Behauptung verallgemeinert, die Europaische Union konne Uberhaupt keine „eigene Kultur" reprasentieren. Es ist nicht publik geworden, dass einer unserer Politiker oder eine unserer Politikerinnen ihn zumindest daraufhin gefragt hatte, wie er das meine - und die Argumente eines fachlich so hoch angesehenen und politisch gewiss nicht dislcreditierten Historikers wie Hans-Ulrich Wehler scheinen auf der politischen Ebene nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn ernsthaft gepriift zu werden. Mit diesem letzten Argument will ich mich nicht naher beschaftigen, aber doch anmerken, dass auf Seiten der nicht-europaischen Kulturen diese religiose oder religios-ethische Dimension regelmaBig als ganz bestimmend ftir das eigene kulturelle Selbstbewusstsein und als Gegengewicht, Korrektiv oder kulturelle „Einbettung" des Globalisierungsprozesses hervorgehoben wird, und dass man dies, ganz anders als die erwahnte innereuropaische Selbstkritik unterstellt, auch der Gegenseite, also den Europaem, nicht nur zugesteht, sondern geradezu abverlangt. 8) Wichtiger als dieser Punkt erscheint mir aber, dass offenbar eine sehr groBe Unklarheit daruber besteht, was mit der Rede von einer fortdauernden und auch furderhin wesentlichen religiosen Pragung Europas gemeint ist. Es soUte sich eigentlich von selbst verstehen, dass damit nicht gemeint ist, die europaischen Gesellschaften seien durch und durch religios impragniert oder die Idee einer solchen christlichen „Einheitskultur" (E. Troeltsch) mixsse ihnen als Ideal und Zukunftsbild entgegen gehalten werden (etwa so wie es der Romantiker Novalis vor 200 Jahren in seiner Schrift „Die Christenheit oder Europa" unternommen hatte). Vielmehr geht es um Tatsachen wie die folgenden, die nach MaBgabe der abnehmenden direkten Bedeutung des Religiosen geordnet sind: 1) In alien Staaten (zumindest West- und Stideuropas) gehort eine starke Mehrheit der Menschen, es ist zu unterstellen: bewusst und willentlich, einer der christlichen Kirchen oder Sekten an. Sehr viele Menschen wollen offenbar auch weiterhin nicht auf die spezifischen Sinngebungen, Herausforderungen und Trostungen, die die christliche Uberlieferung mit ihren Texten, Symbolen und Ritualen anbietet, verzichten. 2) Trotz der verfassungsrechtlichen Trennung von Staat und Kirche besitzen kirchliche Einrichtungen und Reprasentanten im offentlichen, poHtischen und kulturellen Leben dieser Staaten immer noch viel Gewicht und Einfluss, dies allerdings, vor allem in der Bundesrepublik, mit abnehmender Tendenz.
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3) Der Jahreskreislauf, und nattirlich auch die Gliederung der Woche, orientiert sich an den GroBfesten und den zugehorigen Periodisierungen des heilsgeschichtlichenKalendariums. 4) Oberste Wertideen und damit verkntipfte unbedingte Ge- und Verbote, die auch als Axiome der pohtisch-rechtlichen Ordnung flingieren und deren unverbriichliche Geltung immer wieder betont wird (etwa: die Menschenwilrde und ihre Unantastbarkeit; die Idee der IndividuaHtat, der individuellen Autonomie und des individuellen Gewissens als Quell- und Zielpunkt nicht nur der Moral, sondern auch rechtlich-politischen Handelns; die Naturwelt als „Schopfung") haben durch die jtidisch-christliche Religion und Theologie nicht nur ihre spezifische Ausformung erfahren, sondern sind in ihrem Sinngehalt kaum aus diesen Entstehungs- und Deutungskontexten abzulosen.^ Auch das Gebot der Nachstenliebe oder die Weissagungen der Bergpredigt gehoren, trotz ihres „akosmistischen" (Max Weber) Charakters, noch immer zum Sinn- und Werthorizont unserer Gesellschaften, und selbst in politischen Reden und Programmen kommen sie, und sei es nur als Ideologem, gelegentlich vor. 5) Die groBen Schopfungen der europaischen Kultur seit der Spatantike auf dem Felde der Musik, der bildenden Kunst und Architektur, aber auch der Philosophic und der Wissenschaften, sind ohne die produktive Kraft, die Energie und das Argernis des Religiosen in ihrer Entstehung und ihrer Entwicklungsdynamik nicht vorstellbar und nicht erklarbar. Dies gilt - und dies hervorzuheben ist sehr wichtig - auch dann noch, wenn sie, wie haufig, aus einer zweifelnd-skeptischen, kritischen oder auch ganz ablehnenden Auseinandersetzung mit diesen religios-theologischen „Vorgaben" und Herausforderungen hervorgegangen sind. 6) Ein zu wenig erforschtes, aber wohl sehr ergiebiges Untersuchungsfeld ergibt sich aus der Frage, wie viel der geistigen oder intellektuellen Energie, die auBerordentliche Leistungen in ganz profanen Handlungsfeldern (insbesondere in Wissenschaft und Technik, in der Politik, aber auch in der Okonomie) hervorgebracht hat, aus der „Konversion" von zuvor religiosen oder religios-ethischen Uberzeugungen und Handlungsbereitschaften hervorgegangen ist. Hier ware z. B. daran zu erinnern, was Nietzsche liber die christlichen Wurzeln desjenigen „Willens zur unbedingten Wahrhaftigkeit" sagt, dessen paradoxes Endresultat der europaische Nihilismus ist, oder auch an Webers bekannte These tiber den genetischen Zusammenhang von innerweltlicher Askese und kapitalistischem Geist. Vermutlich wird es sehr spiir^ Eben dies hat Jiirgen Habermas in einer bemerkenswerten und bemerkenswert redlichen Revision fruherer Aiiffassungen jungst hervorgehoben.
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bare Folgen haben, wenn diese Sinn- und Motivationsressourcen einmal erschopft, also auch nicht mehr zu konvertieren sind. Jedenfalls ist nicht zu erkennen, was dann als funktionales Aquivalent fur sie dienen konnte. Diese wenigen Hinweise sollten genligen, verstandlich zu machen, dass religiose Uberlieferungen in der europaischen Kultur der Gegenwart noch wirksam sind, und auch, warum die Erinnerung, und zwar die institutionalisierte Erinnerung, an diese Zusammenhange ganz unverzichtbar ist, wenn es so etwas wie eine kulturelle Identitat Europas oder ein europaisches Bewusstsein in der Zukunft geben soil. Die hier zusammengestellten Beobachtungen widersprechen nicht der Ansicht, dass die europaischen Staaten insgesamt, ungeachtet betrachtlicher nationaler oder regionaler Unterschiede, sich in einem Zustand fortgeschrittener und weiter fortschreitender „Sakularisierung" befinden. Dieser Ansicht ist auch schwer zu widersprechen, wenn unter Sakularisierung verstanden wird, dass die Religion ihre zentrale und letztinstanzliche Orientierungs- und Steuerungsfunktion verloren hat und sich in ihre gesellschaftliche Sondersphare sowie in das Privatleben der Menschen verwiesen sieht. Das erklart auch, warum sich kein „Gottesbezug" und nicht einmal eine nachdrtickliche Hervorhebung der religiosen, namlich jiidisch-christlichen Begriindung und Pragung Europas in der - allerdings schon im Ansatz gescheiterten - „Verfassung" der europaischen Union fmden.^ Diese Pragung aber lasst sich auf keine Weise, es sei denn durch ein nachtragliches Aus-der-Welt-Schaffen der europaischen Geschichte, beseitigen, und natiirlich bleibt auch der Prozess der Sakularisierung, solange er als solcher erfahren wird, darauf bezogen, und dies nicht nur ex negativo, weil die jiidische und die christliche Religion und Theologie ihm von sich aus, also aus genuin religiosen Griinden, zugearbeitet haben. 9) In einer dialektischen, also auf die vorantreibende Wirkung gegensatzlicher Prinzipien abhebenden Formel fasste vor einigen Jahren der Autor eine Abhandlung tiber die spezifischen Merkmale und die Entwicklungsdynamik der europaischen Musik seine Uberlegungen zusammen: Subjektivitat und Rationalitat. Das kann man verallgemeinern. Die kulturelle Identitat Europas erscheint dann, um eine Hegelsche Begriffspragung zu verwenden, als „Identitat von Identitat ^ Im ersten Satz der Praambel ist, unbestimmt genug, vom „kiilturellen, religiosen und humanistischen Erbe Europas" die Rede (Vertrag etc.: 7). Im tibrigen ist im Verfassungsvertrag und, mehr noch, in der Charta der Grundrechte der Union (ebd.: 70 ff.) ganz vorwiegend, und dies mit gutem Grund, von den universalistischen Prinzipien die Rede, fur die die Europaische Union in besonderem Mafie einzutreten sich verpflichtet. Uber die besondere, also nicht universalisierbare, historische und sachliche Beziehung zwischen diesen Prinzipien und jenem „kulturellen, religiosen und humanistischen Erbe" wird nicht gesprochen. Genau darauf aber kame es, im Blick auf die geschichtlichkulturelle Eigenart Europas, doch an.
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und Nichtidentitat". Das bedeutet, dass sich die Kultur Europas, und zwar auch im Rlickblick auf die Vergangenheit, nicht als homogene „Einheitskultur" denken lasst, sondern im besten Falle als eine Art von „stabilisierter Spannung" zwischen tiefen, ja antinomischen Gegensatzen. Eben dies erklart wohl auch, warum sie es sehr viel schwerer als andere Kulturen hat, ihr Eigenes und Eigentliches zu erkennen und zu behaupten. Die einzig angemessene, soil sagen: rationale und produktive, Weise, mit solchen Antinomien und Selbstzweifeln umzugehen, heiBt Ironie. So versteht man, warum Walter Benjamin als das „europaischste aller Gliter" jene „mehr oder minder deutliche Ironie" bezeichnet hat, „mit der das Leben des einzelnen disparat dem Dasein jeder Gemeinschaft zu verlaufen beansprucht, in die er verschlagen ist" (und die „den Deutschen ganzlich abhanden gekommen" sei; Walter Benjamin 1928: Einbahnstrafie, zitiert in: Karl Heinz Bohrer 1998: 5). 10) Natlirlich kann sich das kulturelle Gedachtnis Europas nicht auf „die Antike und die Bibel" und auch nicht auf das beschranken, was der alteren und neueren Geschichte Europas groB und ohne Zweifel „positiv" war. Die Religionsgeschichte Europas ist ja auch eine Geschichte der Intoleranz, der Unterdrlickung, der Verfolgung und der Kriege, und insbesondere in der neueren politischen Geschichte Europas ist an auBergewohnlichen Formen der Brutalisierung und der Barbarei kein Mangel. Diese schlichte Einsicht steht einem naiven und tiberheblichen Stolz auf das „europaische Erbe" und einem - von manchen (z. B. von Johan Galtung) befurchteten - „Euronationalismus" zuverlassig entgegen. Das gesuchte „europaische Bewusstsein" kann deshalb nicht in neomythischen Erzahlungen von alter GroBe und Herrlichkeit griinden. Ebenso wenig kann es als eine Art ideologischer Eiserner Vorhang zum Schutz einer „Festung Europa" missverstanden werden. Das ware nicht Erfolg versprechend und stlinde auch im volligen Gegensatz zu den am meisten erhaltenswerten Elementen unseres kulturellen und politischen Erbes. SchlieBlich geht es auch nicht um so etwas wie einen - dem .American Pride'' vergleichbaren - ,,European Pride'', sondern viel eher um das Bewusstsein einer spezifischen kollektiven Verantwortung fur eine spezifische Teilmenge der kulturellen Erfahrungen und Schopfungen der Menschheit. Das kulturelle Selbstbewusstsein der Europaerinnen und Europaer kann nur in einem nach innen und auBen offenen und gewiss auch sehr kontroversen „Diskurs" gefunden, artikuliert, erhahen und entwickelt werden. Dieser Diskurs ist allerdings auf eine lebendige europaische Offentlichkeit ebenso angewiesen wie auf eine Forderung und Institutionalisierung innerhalb der einzelnen Staaten, und zwar insbesondere in ihrem Erziehungs- und Bildungssystem. Das groBte Defizit der bisherigen Politik der Europaischen Union besteht darin, auf diesem Felde und in dieser doppelten Hinsicht kaum etwas unternommen und
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sich fast vollstandig auf die Ziele und Mittel einer Vergemeinschaftung auf der okonomischen, rechtlichen und politischen Ebene beschrankt zu haben. Postscriptum Die offentlichen und auch die wissenschaftlichen Debatten liber die Sache leiden an einer Zweideutigkeit, die der Name „Europaische Union" mit sich fiihrt. Wenn man von einer europdischen Union sprechen will, kann man nicht auf tjberlegungen der hier angestellten Art verzichten. Meint man dagegen eine europaische Union, also eine Vergemeinschaftung von Staaten, die von Europa ausgegangen ist, aber weder territorial noch kulturell auf Europa beschrankt sein muss (wie die Romischen Vertrage keinen speziellen romischen Charakter haben und schon gar nicht auf Rom beschrankt sind), dann stellt sich die Sache ganz anders dar. Es ware hilfreich, wenn schon zu Beginn irgendwelcher Kontroversen geklart wiirde, welche der beiden voUig verschiedenen Bedeutungen man im Sinn hat. Auch ware zu wtinschen, dass die politisch Verantwortlichen nicht in Sonntagsreden die kulturelle Eigenart Europas beschworen und feiern, wahrend sie sich im politischen Alltag ausschlieBlich von wirtschafts- und sicherheitsstrategischen Erwagungen bestimmen lassen, die ftir sich genommen natiirlich unverzichtbar, also durchaus nicht zu kritisieren sind. Literatur Bohrer, K. H., 1998: Der Ernstfall Heidegger, Basel. Kopke, W., 1999: Was ist Europa, wer Europaer? in: W. Kopke, B. Schmelz (Hrsg.), 1999, Das Gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europaischen Kulturgeschichte, Miinchen, S. 18-29. Le Goff, J., 1995: Europa bauen, in: H. Schulze, Staat und Nation in der europaischen Geschichte, Miinchen. Lukacs, J., 1990: Die Schweiz als Vorbild. Europasymboi und Europagedanke, in: Frankfurter AUgemeine Zeitung vom 15. Dezember 1990. Metz, J. B., 1999: Zur Rettung der Vernunft. Der Geist Europas und der Geist des Christentums, in: Siiddeutsche Zeitung vom 27./28. Oktober 1999. Schwimmer, W., 2000: Einheit - auch in den Menschenrechten. Kein Europa nach zweierlei MaB und Geschwindigkeit, in: Frankfurter AUgemeine Zeitung vom 14. Marz 2000, S. 12. Vertrag iiber eine Verfassung flir Europa, o. J., Paderborn. Willms, J., 2000: Mit Verstand und ohne Sinn. Die europaische Integration braucht eine neue Idee, in: Siiddeutsche Zeitung vom 13./14. Mai 2000. Zanussi, K., 1990: Europa als geschichtlicher Wert. Pladoyer flir einen kulturellen Dialog, in: Suddeutsche Zeitung vom 23./24. Juni 1990, S. 188.
Lebenszufriedenheit, Lebensbereiche und Religiositat Hefner Meulemann
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Untersuchungsfrage: Die „kosmisierende" Funktion der Religion und die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt In modemen hoch differenzierten Gesellschaften leben die Menschen auf vielen Btihnen. Uber die Woche pendeln wir taglich vom Fruhsttickstisch zur Werkbank, dem Schreibtisch oder zum Markt und zuriick nach Hause, in die Ktiche oder vor den Femseher. Sonntags gehen wir in die Kirche und besuchen Verwandte und Freunde. Und gelegentlich gehen wir ins Wahllokal, in den Tennisclub oder die Kneipe oder fahren in Ferien. Wir iiberschreiten dauemd Grenzen zwischen Lebensbereichen. Das Leben fmdet immer in besonderen Lebensbereichen statt, Familie oder Beruf, Arbeit oder Freizeit, privat oder offentlich, zu Hause oder in der Feme. Zu Hause mussen der Haushalt gefuhrt, die Kinder erzogen und Beziehungen gekntipft werden. Am Arbeitsplatz mtissen Probleme gelost und Positionen gewonnen werden. Auf diese Weise ruht die Zufriedenheit mit spezifischen Lebensbereichen auf dem Erfolg mit ihren typischen Aufgaben: erreichten Abschltissen, verdientem Einkommen, gewonnenen Erfahrungen und erfullten Beziehungen. Aber wahrend die Lebensbereiche zusammen das Leben insgesamt ergeben, mitteln sich die Zufriedenheiten mit den Lebensbereichen nicht unbedingt zur Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt. Denn wenn wir den Blick von einzelnen Lebensbereichen auf das Leben insgesamt wechseln, verlieren wir die typischen MaBstabe der Zufriedenheit; wir iiberschreiten nicht mehr Grenzen, sondern nehmen die Vogelperspektive ein. Aber es gibt einen Lebensbereich, der auf das Leben insgesamt gerichtet ist: die Religion. Sie ist weniger ein Lebensbereich, mit dem wir zufrieden sind, als eine Institution, die Zufriedenheit bereitstellt. Sie befriedigt das menschliche Bediirfnis nach „Kosmisierung", sie gibt dem Leben einen umfassenden Sinn (Berger 1967: 25-28; Schweiker 1969). Die Lehre der Kirche sagt den Menschen, wo sie herkommen und wohin sie gehen. Die Einstellung zum Glauben und zur religiosen Praxis, die Religiositat, gibt dem Leben daher Sinn. Daraus ergeben sich zwei Annahmen: Erstens sollte die Religiositat die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt starker fordem als die Zufriedenheit mit spezifischen Lebensbereichen. Zweitens sollte der Einfluss der Religiositat auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt unabhangig vom Erfolg in spezifischen Lebensbereichen sein.
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Entsprechend stellt der Aufsatz zwei Fragen: Fordert Religiositat tatsachlich die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt mehr als die Zufriedenheit mit spezifischen Lebensbereichen? Und wenn ja, bleibt der Einfluss der Religiositat auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt auch dann bestehen, wenn der Erfolg in spezifischen Lebensbereichen kontrolliert ist? Nach der Vorstellung der Hypothesen und der Daten werden diese beiden Fragen in Abschnitt 3 und 4 beantwortet. 2 Untersuchungsplan: Hypothesen Bisherige Ergebnisse: Aspekte der Religiositat vs. Niveaus der Lebenszufriedenheit. Dass Religiositat die Lebenszufriedenheit erhoht, ist oft bestatigt worden (Myers/Diener 1995: 16; Diener et al. 1999: 289; Peacocl
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ren Seite ist die Zufriedenheit die kognitive Komponente des subjektiven Wohlergehens. Weil Sinn der gemeinsame Nenner von Religion und dem Leben insgesamt ist, kann die Religion Zufriedenheit von oben bereitstellen (Diener et al. 1999; Veenhoven 2001: 1300).^ Daraus ergibt sich die erste Hypothese: Religiositat steigert die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt. Wahrend die Religion Zufriedenheit von oben gibt, gewahren Erfolge Zufriedenheit von unten. Wahrend Lebenssinn ftir die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt bedeutsam ist, ist Erfr)lg bedeutsam fur die Zufriedenheit in Lebensbereichen. Wahrend mit dem Glauben die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt wachst, steigt mit der Leistung in einem Lebensbereich die Zufriedenheit mit ihm. Daraus ergibt sich die zweite Hypothese: Erfolg nach den typischen MaBstaben eines Lebensbereiches steigert die entsprechende Zufriedenheit. Selbst wenn Religiositat Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt gewahrt, kann sie auch auf die Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen Einfluss haben. Wenn das Leben insgesamt sinnvoll ist, ist man wahrscheinlich auch mit dem Familien- und Berufsleben zufrieden. Aber das ist ein zusatzlicher Effekt, der aus der Leistung der Religion abgeleitet ist, dem Leben insgesamt Sinn zu geben. Wer im Leben insgesamt einen Sinn sieht, kann einigen Misserfolg in einzelnen Lebensbereichen ertragen, ohne unzufrieden zu werden. Religiositat steigert also indirekt die Zufriedenheit mit spezifischen Lebensbereichen. Daraus ergibt sich eine dritte Hypothese: Religiositat sollte auch die Zufriedenheit mit spezifischen Lebensbereichen steigern, aber dieser Einfluss sollte schwacher sein als der auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt. Umgekehrt sollte aber der Einfluss eines Erfolgs auf die entsprechende Zufriedenheit sich auch auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt iibertragen. SchlieBlich ist jeder Bereich Teil des Lebens insgesamt. Aber well ein spezifischer Erfolg sich in die entsprechende Zufriedenheit iibersetzt, tragt er zur Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt bei. Die Starke dieses Beitrags hangt von der Bedeutsamkeit des entsprechenden Lebensbereiches unter alien anderen ab, die von Person zu Person anders ist. Daraus ergibt sich eine vierte Hypothese: Ein spezifischer Erfolg sollte einen Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt haben, aber dieser Einfluss sollte schwacher sein als der Einfluss auf die Zufriedenheit im entsprechenden Lebensbereich.
^ Diese Uberlegiing bezieht sich auf die kognitive Komponente des subjektiven Wohlergehens. Aber wenn die Religion auch Gltick gewahrt, kann dieser Prozess von oben zusatzlich als eine Verallgemeinerung von Gefiihlen aufgefasst werden, also als affektive Komponente des subjektiven Wohlergehens.
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Durchschnittliche Lebenszufriedenheit. Um die durchschnittliche Lebenszufriedenheit abzuschatzen, muss man die verschiedenen Lebensbereiche bilanzieren. Man muss die Grenzen des Lebens gedanklich tiberschreiten, aber man muss sich nicht iiber das Leben erheben. Man muss im Leben verbleiben, nicht aber es transzendieren. Die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt tiberschreitet, die durchschnitthche Lebenszufriedenheit durchschreitet das Leben. Deshalb sollte die durchschnittliche Lebenszufriedenheit sich auch genetisch von der Zufriedenheit mit dem Leben uberhaupt unterscheiden. Gleichzeitig nivelliert die durchschnittliche Lebenszufriedenheit die direkten und starken Effekte der Erfolge in jedem Lebensbereich auf die entsprechende Zufriedenheit. Deshalb sollte sie die Zufriedenheiten mit spezifischen Lebensbereichen nur schwach widerspiegeln. Der Durchschnitt drangt den Einfluss der Religiositat von oben zurtlck und verwischt den Einfluss der einzelnen Lebensbereiche von unten. Daraus ergeben sich eine funfte und eine sechste Hypothese: Die Religiositat sollte einen Einfluss auf die durchschnittliche Lebenszufriedenheit haben; aber dieser Einfluss sollte schwacher sein als ihr Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt. Ein spezifischer Erfolg sollte einen Einfluss auf die durchschnittliche Lebenszufriedenheit haben; aber dieser Einfluss sollte schwacher sein als der Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem entsprechenden Lebensbereich. Tabelle 1:
Hypothesen (Nummer in Klammern) iiber die relative Starke des Einflusses der Religiositat und des Lebenserfolges auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt, die durchschnittliche Lebenszufriedenheit und die Zufriedenheit mit spezifischen Lebensbereichen
Abhdngig Ebene der Lebenszufriedenheit: - Leben insgesamt - Durchschnitt - Spezifischer Bereich
Unabhdngig Religiositat Erfolg Von oben Von unten (1)+++ (4) + (5)++ (6)++ (2) +++ (3) +
Kurzum: Wenn man die Allgemeinheitsstufen hinuntergeht, nehmen die Effekte der Religiositat ab und die Effekte des Erfolgs nehmen zu. Das ist in Tabelle 1 dargestellt, in der die Zahl der Plus-Zeichen sich auf die relative Starke der unabhangigen Variablen bezieht.
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3 Untersuchungsplan: Daten Informationen tiber verschiedene Niveaus der Lebenszufriedenheit Hefert der westdeutsche Wohlfahrtssurvey (Glatzer/Zapf 1984; Zapf/Habich 1996; Schob 2001; Bemhard 2002), der 1978, 1980, 1984, 1988, 1993 und 1998 erhoben wurde/ Abhdngige Variable: Drei Ebenen der Lebenszufriedenheit. Die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt wurde zu jedem Zeitpunl<:t mit der folgenden Formulierung erfragt (wie bereits in Campbell et al. 1976: 31): „Was meinen Sie, wie zufrieden sind sie - alles in allem - heute mit Ihrem Leben. Bitte sagen Sie es anhand dieser Liste." Die Liste enthielt eine Skala von „0 Ganz und gar unzufrieden" bis „10 Ganz und gar zufrieden." Um die durchschnittliche Lebenszufriedenheit zu berechnen, musste aus der Vielzahl und zwischen den Zeitpunkten wechselnden spezifischen Lebensbereichen eine Auswahl getroffen werden. Da der Einfluss der Religion auf die Lebenszufriedenheit sich im Leben der Person abspielt, wurden die Hauptstrange des Lebenslaufs gewahlt, also das Privatleben und das Berufsleben. Im Einzelnen bedeutete das dreierlei. Erstens sollte sich der Lebensbereich auf das personliche - im Gegensatz zum offentlichen - Leben beziehen; deshalb wurden Demokratie, Soziale Sicherung, Umweltschutz usw. ausgeschlossen. Zweitens sollten sich die Bereiche auf die Gesamtbevolkerung beziehen; deshalb wurden Einkommen, Arbeitsplatz, Karriere und Partnerschaft ausgeschlossen. Drittens wurden nur Bereiche betrachtet, die kontinuierlich personhche Entscheidungen verlangen - im Gegensatz zu nattirlich oder sehr langfristig gegebenen Bereichen; deshalb wurden Gesundheit und Wohngegend ausgeschlossen. Nach diesen Kriterien wurden dann Bildung und Lebensstandard als Bereiche des Berufslebens und Freizeit und Familienleben als Bereiche des Privatlebens ausgewahlt. ^ Die hier untersuchten Daten wurden vom Zentralarcliiv fiir Empirische Sozialforschimg, K5ln, (ZA) dokumentiert und bereitgestellt. Das ZA stellt einen integrierten Datensatz und ein Kodebuch der Umfragen von 1978 bis 1983 zur Verfiigung (Studiennummer 2933) und den Datensatz und das Kodebuch fur die Umfrage 1998 (Studiennummer 3398). Weder die Primarforscher noch das ZA sind flir die hier dargestellten Analysen und Interpretationen verantwortlich. - Obwohl der Wohlfahrtssurvey auch in Ostdeutschland 1990 (zum Vergleich mit 1988), 1993 und 1998 durchgefiihrt wurde, ist die Analyse auf Westdeutschland beschrankt. Denn die abhangige und die unabhangige Variable, Lebenszufriedenheit und Kirchgang, sind beide von 1988/1990 bis 1998 in Ostdeutschland niedriger als in Westdeutschland, sodass der Regressionskoeffizient der Lebenszufriedenheit auf den Kirchgang in der zusammengesetzten Stichprobe hoher ist als in den beiden Teilstichproben. Dieser Aggregationseffekt aber sollte nicht mit den individuellen Effekten vermischt werden, die hier untersucht werden.
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Die Fragen zu spezifischen Lebensbereichen hatten das gleiche Format wie die Frage zur Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt. Die Formulierungen fur die Bereiche waren: „Ihre Ausbildung, ich meine Ihre Schul- und Berufsausbildung", „Ihr Lebensstandard", „Ihr Familienleben". Als Einleitung zur Frage nach dem Lebensstandard wurde die folgende Definition gegeben: „Bestimmte Dinge, die man kaufen oder sich leisten kann, machen ja den Lebensstandard der Menschen aus, zum Beispiel Wohnung, Kleidung, Essen, Auto, Erholung und Reisen.""^ 1978 wurde die Zufriedenheit in alien Lebensbereichen mit Ausnahme des Familienlebens erfragt, 1980 wurde die Zufriedenheit zu keinem der vier Lebensbereiche erfragt; 1984, 1988, 1993 und 1998 wurden jedoch alle vier Zufriedenheiten erfragt. Wenn die Befragten Angaben zur Zufriedenheit in einem oder bis zu drei Bereichen verweigerten, wurde die durchschnittliche Zufriedenheit allein ftir die verbleibenden Bereiche berechnet. Auf diese Weise bezieht sich die durchschnittliche Lebenszufriedenheit auf eine Basis von spezifischen Lebensbereichen, die bei den Veranderungen der Frage so stabil wie moglich ist. Unabhdngige Variable: Kirchgangshdufigkeit. Zur ReUgiositat wurde im Wohlfahrtssurvey nur der Aspekt der Teilnahme erhoben, der als Kirchenmitgliedschaft und Kirchgangshaufigkeit erfragt wurde. Mitglieder einer Kirche wurden gefragt: „Wie oft gehen Sie im Allgemeinen zur Kirche?" Es wurden fiinf Antworten zwischen „mehr als einmal die Woche" bis „Selten oder nie" vorgegeben. Nichtmitglieder wurden als sechste Auspragung dieser Variable betrachtet. Interv enterende Variablen: Privater Lebenserfolg, soziale Teilhabe und Gefuhl der Sinnlosigkeit. Eine intervenierende Variable ist dadurch definiert, dass eindeutige Voraussagen tiber gleichsinnige Korrelationen mit der unabhangigen und der abhangigen Variablen vorliegen. Ftir den Einfluss der Religiositat auf die Lebenszufriedenheit ist diese Bedingung bei drei Variablen erfiillt. Erstens wertet die christliche Lehre ein Leben in der Famtlte hoch; sie befiirwortet Ehe und Elternschaft und lehnt die Scheidung ab. Zugleich sind Verheiratete zufriedener und Geschiedene unzufriedener mit ihrem Leben, wahrend die Elternschaft kaum mit der Lebenszufriedenheit korreliert (Ellison 1991; Diener 1995: 15; Diener et al. 1999: 289; Meulemann 2001b: 240). ^ Die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt korreliert mit der diirchschnittlichen Lebenszufriedenheit recht stark r=.56. Die durchschnittliche Lebenszufriedenheit korreliert mit jedem ihrer vier Bereiche sehr stark zwischen r=.63 und r=.69. Aber die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt hat schwachere Korrelationen mit den vier Lebensbereichen - zwischen r=.26 fiir Bildung und r=.52 ftir Lebensstandard. Die Zufriedenheiten innerhalb der vier Bereiche korrelieren relativ schwach zwischen r=.20 und r=.30 - wie in Ellison (1989: 120).
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Zweitens soilte der Kirchgang als eine Form sozialer Teilhabe mit anderen Formen der sozialen Teilhabe zusammenhangen und diese ihrerseits die Lebenszufriedenheit steigern. Die soziale Teilhabe wurde mit drei Variablen erhoben: als die Zahl der „wirklich engen Freunde auBerhalb der Familie", als die Haufigkeit des Zusammentreffens mit diesen Freunden auf einer vierstufigen Skala und als die Mitgliedschaft in Vereinen; da die Vorgaben fiir diese Mitgliedschaft zwischen den Erhebungszeitpunkten variierte,^ konnte nur eine Kodiervariable mit 0 fiir keine und 1 fiir irgendeine Mitgliedschaft konstruiert werden (Ellison et al. 1989; Ellison 1991; Mooldierjee 1993; Veenhoven 2001: 1294). Drittens soilte der Glaube, der ja dem Leben insgesamt Sinn gibt, das Gefuhl der Sinnlosigkeit in Schach halten, das wiederum die Lebenszufriedenheit senkt (Schweiker 1969). Das Gefiihl der Sinnlosigkeit wurde durch die Zustimmung zu zwei Aussagen „zu einigen Problemen des Lebens" erhoben: „Das Leben ist heute so kompliziert geworden, dass ich mich fast nicht mehr zurecht fmde" und „Meine Arbeit macht mir eigentlich keine Freude".^ Die Zustimmung wurde auf vier Stufen von „stimmt ganz und gar" bis zu „stimmt ganz und gar nicht" erhoben. Kontrollvariablen: Berufserfolg, Alter, Geschlecht. Eine Kontrollvariable ist dadurch defmiert, dass Vermutungen, aber keine eindeutigen Voraussagen iiber ihren Einfluss auf die abhangige Variable und ihre Korrelation mit der unabhangigen Variablen vorliegen. Fiir den Einfluss der Religiositat auf die Lebenszufriedenheit gilt das fiir drei Variablen. Erstens lasst sich der Berufserfolg zwar nicht eindeutig auf die Religiositat beziehen,^ aber er ist eine Komponente der Lebenszufriedenheit und soilte positiv mit ihr zusammenhangen. Er wird erfasst durch den - auf drei Stufen gemessenen - Bildungsabschluss (Ellison 1991; Diener 1999: 293) und durch zwei Kodiervariablen fiir die Erwerbstdtigkeit und die Arbeitslosigkeit, die 53 Prozent und 3 Prozent der Stichproben umfassen. Zweitens steigt die Religiositat mit dem Alter, aber der Einfluss des Alters auf die Lebenszufriedenheit ist schwer zu bestimmen. Im Wohlfahrtssurvey war ^ Zu jedem Zeitpunkt gab es die Restkategorie „andere", sodass zumindest die Mitgliedschaft ilberhaupt analysiert werden kann. ^' Diese Vorgabe konnte alien Befragten vorgelegt werden, da „Arbeit" sowohl berufliche Arbeit wie Hausarbeit oder Lernen umfasst. ^ In der Tat sind die Korrelationen von Bildung und Einkommen mit der Lebenszufriedenheit insgesamt in unseren Stichproben wie auch in anderen Untersuchungen (Ellison 1991: 95) Null, sodass beide Variablen nicht als intervenierende Variablen fiir den Zusammenhang zwischen Kirchgang und Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt gewertet werden konnen. Wir haben die Bildung als Pradiktor beibehalten, aber das Einkommen wegen der zahlreichen fehlenden Werte nicht beriicksichtigt.
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(wie in George 1981: 327, aber anders als in Diener 1999: 292) der Einfluss kurvilinear mit der geringsten Zufriedenheit im mittleren Alter. Gemessen als (vorzeichenlose) Standardabweichung vom mittleren Alter von 45 Jahren kann das Alter daher als erklarende Variable eingesetzt werden. Drittens sind Frauen religioser als Manner. Aber die hohere Lebenszufriedenheit von Frauen (Diener 1999: 289, 292) wird ein Scheineffekt, sobald die Religiositat kontrolliert ist (Ellison 1991: 86). Weil der Einfluss des Geschlechts oft gegensatzlich ist (Diener 1999: 292; Meulemann 2001b: 451), wird es als Kontrollvariable eingesetzt. Vor- und Nachteile des Untersuchungsplans. Im Vergleich zu anderen Studien iiber den Zusammenhang zwischen Religiositat und Lebenszufriedenheit, die (iberwiegend in den USA durchgefuhrt wurden, hat diese Studie zwei Beschrankungen. Erstens behandelt sie nur ein MaB der Religiositat, den Kirchgang. Doch der ist der Kern der Religiositat. Er bekraftigt den Glauben, vermitteh den Zugang zu alien weiteren rituellen Handlungen und ist Modell ftir private religiose Praktiken. Empirisch korreliert er sehr stark (zwischen r=.63 und r=.70) mit der Haufigkeit des privaten Gebets, der Wichtigkeit der Religion und der Selbsteinschatzung der Religiositat (Auswertung des European Social Survey 2002 in 21 Landern), stark (zwischen r=.46 und r=.57) mit dem religiosen Selbstverstandnis, der Wichtigkeit des Glaubens und der religiosen Zufriedenheit (Hadaway 1976: 640) und (r=.55) einem Index aus der Haufigkeit des Gebets und dem Geftihl der Nahe zu Gott (Ellison 1991: 95). Selbst wenn er als Pradiktor der Lebenszufriedenheit mit anderen MaBen der Religiositat konkurriert, hat er den starksten Einfluss.^ Theoretisch wie empirisch behandeln wir also den wichtigsten Aspekt der Religiositat. Zweitens behandelt unsere Studie nur den kognitiven Aspekt des subjektiven Wohlergehens, die Lebenszufriedenheit, und ignoriert den affektiven, das Glticksgeflihl. Aber das folgt aus dem Ziel unserer Studie: Man kann zwischen einer allgemeinen und einer bereichsspezifischen Zufriedenheit unterscheiden, aber das Glticksgefrihl ist immer allgemein (Campbell et al. 1976: 33; George 1981: 356-358). Zudem hat die Religiositat einen starkeren Einfluss auf die Lebenszufriedenheit als auf das Glucksgefiihl (Ellison 1991: 88). Weil die Reli^ In Konkurrenz mit der Starke der Kirchenbindung und einem Index aus der Haufigkeit des Gebets und dem Gefiihl der Nahe zu Gott ist er der zweitstSrkste Pradiktor (Ellison et al. 1989: 113). - In einer Regression der Lebenszufriedenheit und des Gllicks auf Kirchgang, einen Index der Haufigkeit des Gebets und dem Gefiihl der Nahe zu Gott und auf die religiose Gewissheit ist der letzte der starkste Pradiktor (Ellison 1991: 85, 88, 95). Allerdings ist das nur so, weil der Kirchgang und die Religiositat stark untereinander und nur schwach mit der religiosen Gewissheit korrelieren. Wenn der Kirchgang nur mit der Gewissheit korreliert, ist er eindeutig der starkste Pradiktor.
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gion das Leben insgesamt umgreift und kognitive Aspekte des Wohlergehens langer anhaiten, ist das zu erwarten. Theoretisch wie empirisch also behandeln wir den bedeutsameren Aspekt des subjektiven Wohlergehens. Beide Beschrankungen sind durch den Datensatz bedingt, der zugleich die ungewohnliche Moglichkeit bietet, die Wirkung der Religiositat zwischen Ebenen der Lebenszufriedenheit zu vergleichen. Zudem wird hier der Einfluss der Religiositat auf die Lebenszufriedenheit, der haufig in den USA untersucht wurde, meines Wissens erstmals^ in Deutschland oder einem einzelnen europaischen Land unter Kontrolle anderer Einfliisse untersucht. 4
Ergebnisse: Hat die Religiositat einen wachsenden Einfluss auf hohere Ebenen der Lebenszufriedenheit? Mittelwerte. Die Mittelwerte der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt, der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit und der Zufriedenheit mit dem Lebensstandard in Westdeutschland zwischen 1978 und 1998 sind in Abbildung 1 dargestellt. Zu jedem Zeitpunkt aufier 1998 ist die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt hoher als die durchschnittliche Lebenszufriedenheit. Aber die hohe durchschnittliche Lebenszufriedenheit 1998 ist insofern ein Artefakt, als nur 1998 die Frage zur Lebenszufriedenheit mit der Familie auf die nicht allein stehende Bevolkerung beschrankt wurde, sodass diese Zufriedenheit, die sowieso schon die hochste spezifische Zufriedenheit ist, noch einmal angehoben wurde. Insgesamt ist daher die Zufriedenheit mit dem Leben immer hoher als die durchschnittliche Lebenszufriedenheit. Bedenkt man den Sinn beider MaBe, dann muss das so sein. Die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt ergibt sich nicht nur aus Erfolgen in bestimmten Bereichen, sondern auch aus der Sicht auf das Leben tiberhaupt, die der religiose Glaube vermittelt. Sie ist nicht nur von unten, sondern auch von oben bestimmt. Sie liegt, von der Religion gegen die Schwerl
'^ hi den Gesamtdatensatzen fiir alle Lander der Eurobarometer 1975 bis 1979 steigerte die Kirchgangshaufigkeit die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt um 7 Prozentpunkte und war ein starker Pradiktor, selbst wenn Nation und demographische Individualmerkmale kontrolliert waren (Inglehart/Rabier 1986: 18, 35). Aber der Einfluss der Religiositat auf die Lebenszufriedenheit ist nicht flir einzelne Lander untersucht worden, was leicht moglich gewesen ware. In einer weiteren Analyse zeigte sich, dass der Kirchgang die Lebenszufriedenheit in fast alien Landern der Eurobarometer 1980-86 beeinflusst, wenn konkurrierende Faktoren nicht kontrolliert sind, und im Gesamtdatensatz aller Lander einen Einfluss hat, selbst wenn Nation und demographische Variablen kontrolliert sind (Inglehart 1990: 229, 242).
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Abbildung I:
Mittelwerte der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt, der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit und der Zufriedenheit mit dem Lebensstandard in Westdeutschiand 1978-1998
LIFE AS A WHOLE
LIFE AVERAGE
LIVING STANDARD
78
80
84
93
98
Aber das Niveau der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit spiegelt die Auswahl der einbezogenen Lebensbereiche. Lasst sich der Unterschied zwischen der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt und der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit einfach dadurch herstellen, dass man bestimmte Lebensbereiche auswahlt? Die Antwort ist eindeutig nein. Betrachtet man die vier ausgewahlten Bereiche, dann ist die Zufriedenheit mit den beiden privaten - Familie und Freizeit - fast so hoch oder sogar hoher als die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt, und die Zufriedenheit mit den beiden bemflichen Bereichen Ausbildung und Lebensstandard ist niedriger (Glatzer/Zapf 1984: 193; Habich/ Noll 2000: 435). Weil „das Leben" vor allem das private Leben ist, iibertrifft die Zufriedenheit mit Ehe und Familie die Zufriedenheit mit Ausbildung und Beruf - ganz zu schweigen von der Zufriedenheit mit offentlichen, nicht auf die Person bezogenen Lebensbereichen, wie Politik oder Kirche (Meuiemann 2001a). Indem wir die vier personlichen Lebensbereiche als Basis der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit gewahlt haben, haben wir den Test auf den Vorsprung der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt so streng wie mogUch gemacht. Wurde man andere oder weitere Lebensbereiche in die durchschnittliche Lebenszufriedenheit aufnehmen, so wtirde der Vorsprung der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt noch anwachsen.
Lebenszufriedenheit, Lebensbereiche und Religiositat
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Die Entwicklungen der Zufriedenheiten in Abbildung 1 lassen sich kaum auf die Zeitpunkte zurtickfiihren und konnen durch die unterschiedlichen Methoden der wechselnden Erhebungs institute bedingt sein. Deshalb werden die Zeitpunkte im Folgenden nicht mehr betrachtet und die sechs Stichproben zusammengelegt. Korrelationen. Die Korrelationen der Religiositat und des Lebenserfolgs mit den drei Ebenen der Zufriedenheit sind in Tabelle 2 dargestellt, deren Aufbau der Tabelle 1 entspricht. Jeder der vier Lebensbereiche ist nun mit seinem eigenen MaBstab des Erfolgs und seinem ZufriedenheitsmaB vertreten. Weil das Zusammenleben mit einem Kind im Haushalt die Freizeit einschrankt, wird es als eine negative Erfolgsbedingung fur die Zufriedenheit mit der Freizeit gewertet. Tabelle 2:
Korrelationen der Religiositat und des Lebenserfolgs mit drei Ebenen der Lebenszufriedenheit in Deutschland, kombinierte Stichproben 1978-1998 Religiositat Kirchgang
Zufriedenheit
Insgesamt Durchschnitt Bildung Lebensstandard Freizeit Familie
Gultig 12648 10272 10020 10233 10233 8292
12467 .08 .06 .08 .04 .04
Bildung 12659 .04 .10 .16 .11 .03
Erfolg Einkommen 4032 .10 .17 .13 .20
Kind
Ehe
12683 .04 -.04
12683 .16 .17 .07 .15
-.15 .09
.29
Leere Zelle: nicht signifikant unter p=.001. N der Korrelationen etwas niedriger als das niedrigere der giiltigen N wegen fehlender Werte
Wie der Vergleich zwischen der ersten und zweiten Zeile zeigt, wird die Voraussage bestatigt, dass Religiositat mit der gesamten starker als mit der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit korreliert. Allerdings sind alle Korrelationen und daher auch die Differenzen zwischen ihnen schwach. Weiterhin wird die Voraussage bestatigt, dass der Erfolg mit der gesamten Lebenszufriedenheit schwacher korreliert als mit der durchschnittlichen. Und weil die Korrelationen hier etwas starker sind, sind auch die Unterschiede etwas starker. Wie der Vergleich der ersten beiden mit den iibrigen vier Zeilen zeigt, wird die Voraussage nur zum Teil bestatigt, dass Religiositat mit der gesamten und der durchschnittlichen Zufriedenheit starker korreliert als mit der Zufriedenheit in spezifischen Bereichen. Insbesondere korreliert die Religiositat mit der Zufriedenheit mit dem Lebensstandard so stark wie mit der gesamten und starker als mit der durchschnittlichen Zufriedenheit. Wie die Frageformulierung nahe
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legt und die hohe Korrelation (r=.52) bestatigt, hat der Lebensstandard von den vier spezifischen Bereichen am meisten mit dem Leben insgesamt gemeinsam. Weiterhin wird die Voraussage bestatigt, dass die ErfolgsmaBstabe mit den entsprechenden Zufriedenheiten starker korrelieren als mit der gesamten oder durchschnittlichen Lebenszufriedenheit - wie die fett gedruckten Korrelationen zeigen. Die Korrelation zwischen Kirchgang und Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt ist mit r=.08 ziemlich niedrig und durchgangig niedriger als entsprechende Korrelationen in den USA (1971: r=.16, Hadaway 1978: 640; 1988: r= 19, Peacock/Paloma 1999: 330; 1988: r= 19, Ellison 1991: 95).^° Ein Grund daflir kann der konfessionelle Pluralismus der USA sein. In den USA konkurrieren viele protestantische Konfessionen (mit einem Anteil zwischen 4 Prozent und 28 Prozent in den Stichproben) und die katholische Kirche (mit einem Anteil von bis zu 30 Prozent in den Stichproben) ohne staatliche Untersttitzung um Mitglieder. Mitgliedschaft ist eine Selbstbindung mit Folgen flir das Wohlergehen. Zudem verlangen unterschiedlich strenge Konfessionen den Kirchenbesuch in unterschiedlichem MaBe, und Mitgliedschaft hat empirisch einen erkennbaren Effekt auf die Lebenszufriedenheit (EHison et al. 1989: 119; Ellison 1991: 82, 95). Daher kann die Korrelation in den USA insgesamt Aggregationseffekte der Konfessionsmitgliedschaft jenseits der individuellen Effekte enthalten. In Deutschland sind 50 Prozent unserer Gesamtstichprobe Protestanten und 40 Prozent Katholiken. Die Kirchen konkurrieren nicht um Mitglieder. Mitgliedschaft ist keine Selbstbindung und hat daher nur geringe Folgen fiir das Wohlergehen. Weiterhin gehen Protestanten zwar seltener in die Kirche als Katholiken, aber die Mitgliedschaft in der einen oder anderen Kirche hat empirisch keinen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit. Daher enthalt die Korrelation nur individuelle Effekte. Kurz gesagt, der Unterschied der konfessionellen Landschaft kann den Unterschied der Korrelation bedingt haben. In den USA hangt die Lebenszufriedenheit vom Kirchgang und von der Kirche ab, deren Mitglied man ist - in Deutschland vom Kirchgang allein. In den USA bilden die Konfessionen einen sozialen Kontext, der das Verhalten steuert, in Deutschland nicht. ^^
*' * Uberraschenderweise korreliert Kirchgang (kombiniert mit anderen religiosen Alctivitaten) 1998 negativ mit der Lebenszufriedenheit von Katholiken, Jiiden und Protestanten in den USA (Cohen 2002: 284). Wenn die Mittelwerte beider Variablen in den drei Gruppen positiv korrelieren, kann dies aus der Disaggregation nach Konfessionen resultieren. Die Konfessionen haben einen starken Einfluss auf die Zufriedenheit, aber innerhalb jeder korreliert die religiose Teilnahme negativ mit der Zufriedenheit. '* Die Konfessionen in den USA wiirden dann in genau der gleichen Weise als sozialer Kontext eine Steigerung der Korrelation zwischen Religiositat und Lebenszufriedenheit bewirken wie die beiden Telle Deutschlands (siehe FuBnote 3).
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Wenn man jedoch die Korrelationen zwischen Erfolg und Zufriedenheit im gleichen Lebensbereich als MaBstab nimmt, ist die Korrelation zwischen Kirchgang und der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt nicht so klein, wie es scheint. Da sie zwei allgemeine Einstellungen verknijpft, uberbrixckt sie eine viel groBere Distanz. Zudem tritt sie in jeder der sechs Stichproben einzeln auf. SchlieBlich ist sie in jeder der funf Stichproben - also in jeder auBer der von 1980 (siehe Abbildung 1) - gleich groB oder groBer als die Korrelation zwischen Kirchgang und der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit. Indem Religiositat dem Leben insgesamt Sinn verleiht, wirkt sie von oben auf die Lebenszufriedenheit unabhangig von der Wirkung des Lebenserfolgs von unten. 5
Ergebnisse: Bleibt die Wirkung der Religiositat auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt auch bei Kontrollen bestehen? Allerdings kann diese Wirkung scheinbar sein, wenn der Kirchgang mit Bedingungen zusammenhangt, die ihrerseits die Lebenszufriedenheit beeinflussen. Der standardisierte Regressionskoeffizient der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt auf den Kirchgang - also der Korrelationskoeffizient von r=.08 aus Tabelle 2 - muss mit dem standardisierten Regressionskoeffizienten der Lebenszufriedenheit verglichen werden, wenn die drei Gruppen intervenierender Variablen und die Kontrollvariablen in die Regression eingefuhrt werden. ^^ Die Regression der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt auf die drei Gruppen intervenierender Variablen ist in der linken Spalte der Tabelle 3 dargestellt. Der Einfluss des Kirchgangs wird zwar durch den privaten Lebenserfolg, die soziale Teilhabe und das Gefiihl der Sinnlosigkeit verkleinert, aber er bleibt signifikant.^^ Die Ehe und das Gefuhl der Sinnlosigkeit sind die starksten Pradiktoren der Zufriedenheit, gefolgt von der Zahl und der Intensitat der sozialen '^ Weil Katholiken ofter in die Kirche gehen als Protestanten, muss zuvor die Mitgliedschaft in der katholischen oder protestantischen Kirche kontrolliert werden. Allerdings veranderte diese Kontrolle den Regressionskoeffizienten der Kirchgangshaufigkeit nicht und ergab nur schwache Koeffizienten fiir die beiden Mitgliedschaftsvariablen. Deshalb wurden sie nicht in die Regressionsanalysen als Pradiktoren eingefuhrt. '•^ Einzeln genommen, reduziert keine der drei Gruppen intervenierender Variablen die Korrelation. Das Gefuhl der Sinnlosigkeit steigerte sogar die Korrelation auf beta=. 11; „Leben zu kompliziert" ist eine unterdrtickende und keine erklarende Variable; es korreliert, entgegen der Erwartung, positiv (r=.05) mit der Kirchgangshaufigkeit und negativ (r=-.20) mit der Zufriedenheit. Regressionen der Zufriedenheit auf den privaten Lebenserfolg waren in alien Stichproben moglich und erklarten 3,7 Prozent der Varianz. Weil aber die entsprechenden Variablen nicht erhoben wurden, waren Regressionen auf die soziale Teilhabe und das Gefiihl der Sinnlosigkeit sowie die Regression auf alle drei Gruppen intervenierender Variablen nur in den Stichproben 1988, 1993 und 1998 moglich; die soziale Teilhabe erklarte hier 3,8 Prozent, das Gefuhl der Sinnlosigkeit 7,0 Prozent der Varianz. - Weil die Lebenszufriedenheit keiner interpretierbaren Entwicklung unterlag, wurden fiir die Zeitpunkte keine Pradiktoren in die Regression eingefuhrt.
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Kontakte. Der Effekt des Kirchgangs ist starker als der Effekt handfesterer Faktoren wie der Scheidung oder der Vereinsmitgliedschaft. Tabelle 3:
Regression der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt auf Kirchgang, intervenierende und Kontrollvariablen (Stichproben 1988, 1993, 1998): Standardisierte Koeffizienten
Pradiktorgruppe, Pradiktoren (Zahl der Auspragungen) Kirchgang (6) Privater Lebenserfolg Verheiratet (2) Geschieden (2) Kind im Haushalt (2) Alter, abs. Abweichung von 45, (numerisch) Soziale Teilhabe Zahl der Freunde (numerisch) Haufigkeit des Kontakts mit Freunden (4) Vereinsmitgliedschaft (2) Gefuhl der Sinnlosigkeit Leben zu kompliziert (4) Keine Freude an Arbeit (4) Kontrollvariablen Bildung (3) Erwerbstatig (2) Arbeitslos (2) Mann (2)
Hypothese
Intervenierende Variablen
+
05***
Q4***
+ +
25*** -.06*** .01
15*** -.05*** -.01
+
.06**
.06***
4-
Qy***
Qy***
+ +
Qg***
Qg***
.05***
Q4***
-
. 19***
> 18***
-
_ 13***
_ 13***
+ + ?
.03** 03** _ j2***
.136*** 5758
"R2
N
Intervenierende und Kontrollvariablen
-.04** .156*** 5730
= p=.001, **p=01, *p=05
Die Regression der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt auf alle drei Gruppen intervenierender Variablen und auf die Kontrollvariablen ist in der rechten Halfte der Tabelle 3 dargestellt. Wie erwartet, reduziert die Einfiihrung der Kontrollvariablen den Einfluss der Kirchgangshaufigkeit auf die Lebenszufriedenheit nicht weiter. Weiterhin verandert sie nicht die Einfltisse der intervenierenden Variablen. Aber sie steigert die erklarte Varianz etwas. Von den Kontrollvariablen hat nur die Arbeitslosigkeit einen starkeren Einfluss. Nach wie vor ist
Lebenszufriedenheit, Lebensbereiche und Religiositat
275
der Einfluss des Kirchgangs starker als der Einfluss handfesterer Faktoren wie Bildung Oder Erwerbstatigkeit. 6 Schluss In modemen, differenzierten Gesellschaflen arbeitet man, um Geld zu verdienen und Selbstbestatigung zu gewinnen, aber nicht aus religioser Verpflichtung; man heiratet, um Intimitat zu genieBen und Kinder aufzuziehen, aber nicht aus Pietat. Die Religion ist nicht mehr allgegenwartig im Berufs- und im Familienleben; sie ist der Nachbar beider Lebensbereiche, den man bei auBergewohnlichen Anlassen besucht: Man bestellt einen Priester, um eine neue Fabrik einzuweihen, und man geht in die Kirche, um zu heiraten oder um Kinder zu taufen. Dennoch libergreift die Religion auch in differenzierten Gesellschaften alle librigen Lebensbereiche, insofern sie dem Leben einen Sinn gibt. Einerseits liegen alle Lebensbereiche, einschlieBlich der Religion, auf der gleichen Ebene: Wir bewegen uns taglich zwischen Familie und Arbeit, gehen sonntags in die Kirche Oder besuchen Freunde und Verwandte und nehmen gelegentlich am politischen Oder kulturellen Leben teil. Andererseits gewahrt die Religion immer noch Sinn flir die Gesamtheit der Lebensbereiche. Weil die Religion das menschliche Bedtirfnis der „Kosmisierung" bedient, sollte ein rehgioser Mensch - jemand, der zur Religion positiv eingestellt ist eher Sinn im Leben insgesamt entdecken und starker mit dem Leben insgesamt zufrieden sein. Jenseits des Einflusses des Lebenserfolgs auf die Zufriedenheit in einem spezifischen Lebensbereich sollte die Religiositat die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt steigern. Daraus ergeben sich zwei Annahmen, die im vorausgehenden Aufsatz tiberpriift wurden. Erstens sollte die Religiositat die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt starker beeinflussen als die durchschnittliche und die spezifische Lebenszufriedenheit. In der Tat korrelierte der Kirchgang starker mit der gesamten als mit der durchschnittlichen und der spezifischen Lebenszufriedenheit, wahrend die durchschnittliche und die spezifische Lebenszufriedenheit starker als die gesamte durch spezifische Kriterien des Lebenserfolgs bestimmt wurden. Zweitens sollte der Einfluss der Religiositat auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt unabhangig von spezifischen Einflussen auf die Zufriedenheit '"^ Audi wenn die drei Stichproben dieser Analyse einzeln analysiert wurden, bleibt der Einfluss des Kirchgangs in zwei Stichproben signifikant: Sein standardisierter Regressionskoeffizient betragt 1988 .04 (p= 05), 1993 .02 (ns), und 1998 .08 (p=.001).
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Heiner Meulemann
sein, die ihrerseits mit der Religiositat korrelieren - wie der private Lebenserfolg, die soziale Teilhabe und das Geflihi der Sinnlosigkeit. In der Tat hatte die Religiositat einen eigenstandigen Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt auch dann, wenn diese Einflusse kontrolliert waren. Wahrend der Effekt der Religiositat auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt also in Deutschland sicher gering ist, ist er nicht geringer als der Effekt anderer Faktoren, die sachlich enger mit der Lebenszufriedenheit verwandt sind. Eine generelle Neigung, im Leben einen Sinn zu sehen, hat so viel Einfluss auf die Zufriedenheit wie der Besitz von Werten, die gegen Zufriedenheit ausgetauscht werden konnen. Die soziale Differenzierung teilt das Leben in unterschiedliche Bereiche auf, die ihre eigenen Erfolgskriterien entwickeln und entsprechend ihre eigenen Zufriedenheiten ermoglichen. Obwohl aber die Menschen mehr und mehr zwischen den verschiedenen Lebensbereichen pendeln, haben sie den Blick auf das Leben insgesamt nicht verloren; obwohl jeder Bereich seinen eigenen Zielen folgt und seine eigenen Regeln entwickelt, also seinen eigenen Sinn hat, kann die Religion nach wie vor dem Leben insgesamt einen Sinn geben. Wie gut sie das leistet, lasst sich am Einfluss der Religiositat auf die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt abschatzen: Er ist schwach, aber eigenstandig. Selbst in einer hoch differenzierten Gesellschaft, in der die Religion zu einem Lebensbereich unter anderen geworden ist, ist sie auch der Lebensbereich geblieben, der die tibrigen Bereiche ubergreift. Die Religion ist gleichzeitig ein Lebensbereich unter und uber den tibrigen Lebensbereichen. Literatur Berger, P. L., 1967: The Sacred Canopy. Elements of a theory of religion, New York: Doubleday. Bernhard, C, 2002: Zufriedenheit in Lebensbereichen, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 2002, Bonn: Bundeszentrale ftir politische Bildung, S. 442452. Bulmahn, T., 2000: GlobalmaBe des subjektiven Wohlbefmdens, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 2000, Bonn: Bundeszentrale fur politische Bildung, S. 420-430. Campbell, A., P. E. Converse, W. L. Rodgers, 1976: The Quality of American Life, New York: Russell Sage. Cohen, A. B., 2002: The importance of spirituality in well-being for Jews and Christians, in: Journal of Happiness Studies 3, 287-310. Diener, E., 1994: Assessing Subjective Weil-Being: Progress and Opportunities, in: Social Indicator Research 31, 103-157. Diener, E., E. M. Suh, R. E. Lucas, H. L. Smith, 1999: Subjective Weil-Being: Three Decades of Progress, in: Psychological Bulletin 125, 276-302. Ellison, C. G., D. A. Gay, T. A. Glass, 1989: Does Religious Commitment Contribute to Individual Life Satisfaction? in: Social Forces 68, 100-123.
Lebenszufriedenheit, Lebensbereiche und Religiositat
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Staat und Eigentumsrechte in der Entwicklung der europaischen Gesellschaft Die Institutionentheorie von Douglass North Georg W. Oesterdiekhoff
1 Klassische okonomische und klassische soziologische Theorie Die klassische okonomische Theorie verstand sich im Wesentlichen als eine ungeschichtliche Theorie. Diese ahistorische Perspektive betrifft sowohl ihre Konzeption der maleosozialen Strukturen als auch ihr Verstandnis des menschlichen Subjekts. Das Verstandnis sowohl des Menschen als auch der Gesellschaft war auf jeweils eine einzige Auspragung und Manifestationsform eingegrenzt. Gesellschaft wurde modellhaft mit „Markt" gleichgesetzt, als wenn alle Gesellschaften, die je existiert haben, vordringlich oder ausschlieBlich durch Markte, auf denen Einzeluntemehmer kaufen und verkaufen, charakterisiert gewesen waren. Indem Gesellschaften und Okonomien mit „Markten" gleichgesetzt wurden, wurden sie in der Einzahl konzipiert. Den Menschen, die als Unternehmer, Arbeiter oder Konsumenten auf den Markten agieren, wurde ein gleichformiges und gleichsinniges Handeln im Sinne der rationalen Nutzenmaximierung unterstellt. Es wurde vorausgesetzt, dass Menschen iiber rational geordnete Praferenzen und logische Denk- und Handlungsstrukturen verfugen. In diesem Sinne wurde soziales und okonomisches Handeln demzufolge aus der Addition von Markten (Marktsituationen) und rationalem Handeln erklart (v. Mises 1940). Dieses in makro- und mikrookonomischer Perspektive ahistorische Modell gerat angesichts der Tatsache des enormen sozialen Wandels der menschlichen Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden an Grenzen der Erklarungskraft. Statt eines ewigen Kreislaufs von Warenstromen auf Gtitermarkten in einem stationaren System ist die Geschichte eher durch einen raschen sozialen Wandel und durch okonomische Entwicklung gekennzeichnet gewesen. Eine der Losungen des Problems geschichtlicher Entwicklung, die im Rahmen der Wirtschaftstheorie ausgearbeitet wurden, hat darin bestanden, offene Gtitermarkte als historisch spate Phanomene zu deklarieren. So wurden in diesem Kontext offene Markte und freier Wettbewerb als Phanomene der Industriegesellschaften verstanden, Phanomene, die erst mit der Industrialisierung aufgetaucht sind. Auf diesem Wege konnte sogar ein kausaler Zusammenhang von Industrialisierung, Wirtschaftswachstum und der Evolution von Markten und
Staat und Eigentumsrechte
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Wettbewerb behauptet werden. Der Implementation von Markten und freiem Untemehmertum folgte nach dieser Sichtweise das Wirtschaftswachstum, das die moderne Volkswirtschaft und Gesellschaft hervorgebracht hat. Diesem Ansatz zufolge lieBe sich die Entstehung der modernen Gesellschaft sowohl in mikro- als auch in makrookonomischer (oder -soziologischer) Hinsicht rein okonomisch erklaren (v. Hayek 1980: lift; v. Mises 1940: 182ff.; Weede 2000; zusammenfassend: Oesterdiekhoff 1993: 202ff.). Das Problem der rein okonomischen Betrachtung des Entstehens von offenen Markten hat jedoch unter anderem darin bestanden, dass ein Ansatz, der rein okonomische Ursachen der Entstehung freien Wettbewerbs und offener Markte hatte benennen konnen, im Kontext dieser theoretischen Richtungen entweder nicht ausreichend entwickelt wurde oder nie ganz durchgedrungen ist. Die klassische Soziologie hingegen hat seit den Tagen von Auguste Comte (1907/1911) sowohl die Entwicklung der mikrosozialen als auch der malcrosozialen Strukturen weiter gefasst. Makrosoziale Strukturen wurden nicht nur als Markte, sondern als familiare, soziale, normative und politische Institutionen verstanden, die mit der Verhinderung/Ermoglichung des Entstehens von Markten verbunden sind und ihnen daher historisch-kausal vorgelagert sind. Handlungsstrukturen wurden nicht eindimensional in der Form von Rational Man konzipiert, sondern als Produkt eines kognitiven Entwicklungs- und Differenzierungsprozesses verstanden. Die gesamte klassische Soziologie ist von einem Bewusstseins- und Mentalitatswandel der Menschen im Verlaufe von Modernisierung und Industrialisierung der Gesellschaften ausgegangen. Rationalisierung, Entzauberung und Verweltlichung des Denkens der Industriebevolkerungen wurden in einen Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Gesellschaft gesetzt (Oesterdiekhoff 2000). Wirtschaftswachstum, Entstehung von Marktwirtschaft und moderner Industrie- und Konsumgesellschaft wurden in der soziologischen Theorie eher als Teilmenge und Manifestationsform des institutionellen und kognitiven Differenzierungsprozesses verstanden. Diesem Ansatz, der den kausalen Vorrang sozialer Institutionen und kognitiver Strukturen vor okonomischen Strukturen impliziert, ist die Soziologie bis heute iiberwiegend, sei es explizit oder implizit, treu geblieben (Durkheim 1977; Spencer 1876; Elias 1976). 2 Grundannahmen der Institutionentheorie Die Institutionenokonomik bzw. -theorie, die Property-Rights-ThooriQ (Furubotn/Pejovich 1974), unter Verfolgung historischer Interessen auch die „neue Wirtschaftsgeschichte" genannt, gehen einen anderen Weg, der sowohl von der klassischen Soziologie als auch von der klassischen Markttheorie abweicht. Unter Beibehaltung der mikrookonomischen Pramissen der klassischen Markttheo-
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rie - das heiBt unter Beibehaltung der Theorie des rationalen Akteurs - soil die Evolution von offenen Markten rein okonomisch erklart werden. In seiner zusammen mit R. P. Thomas veroffentlichten Arbeit The Rise of the Western World. A New Economic History hat Douglass North (geboren 1920 in Cambridge/USA) versucht, nicht mehr nur das Handeln auf Markten, sondern auch das Vorhandensein, das Fehlen und die spezifische Struktur von Markten in unterschiedlichen Gesellschaften und Epochen nutzentheoretisch zu erklaren. Gelange die rein institutionenokonomische Erklarung sowohl der Wirtschafts- und Institutionengeschichte im Allgemeinen als auch von Marktwirtschaft und Industriegesellschaft im Besonderen, dann hatte dieser Ansatz ein attraktives Erklarungsangebot, das die beiden genannten alternativen theoretischen Modelle etwas blasser erscheinen lieBe. Die Institutionenokonomik beruht auf einer Kombination zweier Konzepte, der Theorie der Property Rights (Eigentums-, Verfugungs- und Nutzungsrechte) und der Transaktionskostenanalyse. Die Institutionenokonomik behauptet in der Kegel, dass jede Gesellschaft die Property Rights hat, die fur sie okonomisch am giinstigsten sind. Wenn Gtiter und Ressourcen im Uberfluss vorhanden sind, lohnt es sich nicht, Property Rights zu installieren bzw. viel in ihre Entwicklung und Ausgestaltung zu investieren. Derm die Einrichtung von Property Rights ist mit Kosten verbunden, den so genannten Transaktionskosten (Grenzsteine, Vertrage, Titel, Polizei, Justiz, Steuern). Transaktionskosten werden nur dann und nur in solcher Hohe bezahlt und getragen, dass sie unter den Gewinnen liegen, die aus den Investitionen in Transaktionen, d. h. aus der Durchsetzung von spezifischen Property Rights resultieren. Angesichts eines Uberflusses an einem Gut verlohnt es nicht, Transaktionskosten zur Durchsetzung und Spezifikation von Property Rights zu zahlen. Property Rights an Luft zu spezifizieren, ist noch wenig sinnvoll (Rechte auf Luftverschmutzung an Geldzahlungen zu binden scheint jedoch mittlerweile okologisch notwendig geworden zu sein). Derartige Bemtihungen zu tragen ist jedoch, auf SUBwasser bezogen, infolge von Verknappung je nach Region historisch immer sinnvoller und notwendiger geworden. Wenn eine Verknappung von Gtitern eintritt und, sei es aus diesem Oder einem anderen Grund, die Gtiter eine Wertsteigerung erfahren, dann lohnt es sich, Kosten zu tragen, um Property Rights zu implementieren oder zu spezifizieren. Derm der Ausschluss von Fremden oder des (eines) Kollektivs von der Nutzung der Gtiter, welcher durch die Property Rights moglich geworden ist, impliziert, dass die Transaktionskosten zur Erreichung dieser Exklusion niedriger als die Gewinne sind, die infolge der Spezifizierung der Property Rights und der aus ihr resultierenden Exldusion winken (Furubotn/Pejovich 1974; North/Thomas 1973).
Staat und Eigentumsrechte
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Die Wertsteigerung der Giiter sowohl infolge der Verknappung der Ressourcen (Land, Rohstoffe) als auch infolge hoherer Investitionen und Gestehungskosten in der Wirtschaftsgeschichte stellen einen Anreiz zur fortlaufenden Spezifizierung der Property Rights dar. Demzufolge hat es in der Auffassung von North und Thomas einen historischen Trend von verdlinnten und unspezifischen zu spezifischen und individualisierten Property Rights gegeben. Der Evolution von fehlenden ilber kollektive zu individuellen Property Rights entspricht eine fortlaufende Erhohung des durchschnittlichen Wertes der in den Gesellschaften produzierten Giiter. Eine Gesellschaft mit fehlenden Property Rights lebt im Uberfluss; in der historischen Vergangenheit (insbesondere in der Vorgeschichte) in der Regel bedingt durch fehlenden Bevolkerungsdruck im Verhaltnis zu einem Uberfluss an Land und nattirlichen Ressourcen (Sahlins 1974). Eine Gesellschaft mit verdtinnten Property Rights in der Vergangenheit war nach Auffassung der Autoren durch gemischte, feudale, kollektive Nutzungsrechte und durch einen schwachen Staat charakterisiert. Die in diesen Gesellschaften gegebenen Property Rights entsprachen dem noch niedrigen Wert der Giiter. Kosten zur Durchsetzung spezifischerer Property Rights zu tragen, hatte sich in diesen Gesellschaften nicht gelohnt. Die Installierung eines starkeren Staates und eines Privateigentums an Produktionsmitteln hatte mehr Kosten verursacht als Gewinne, die durch die Ersetzung von unspezifischen durch spezifische Property Rights hatten entstehen konnen (North/Thomas 1973; North 1988). Nach der Auffassung der Institutionenokonomik konnen jedoch ein effizientes Wirtschaften und ein Wirtschaftswachstum nur infolge spezifischer und individualisierter Property Rights entstehen. Verdiinnte Property Rights bilden keinen Anreiz zu okonomischem Leistungshandeln, da die Gewinne mit anderen geteilt werden miissen. Feudale, kollektive und sozialistische Property Rights lahmen das wirtschaftliche Leistungshandeln und laden zu Schlendrian, Trittbrettfahren und MiiBiggang ein. Verdiinnte Property Rights blockieren Wirtschaftswachstum, Innovation und Leistungsmotivation. Je spezifischer Property Rights ausgestaltet sind, desto produktiver und engagierter wirtschaften Menschen. Demzufolge wird der Aufstieg Europas aus der Durchsetzung der privaten Eigentumsrechte und des Rechtsstaates, der die Eigentumsrechte sichert, erklart. Die Finanzierung der Durchsetzung offener Markte, privaten Eigentums und eines starken Rechtsstaates ist dieser Auffassung gemaB die Ursache der Industriellen Revolution (North/Thomas 1973; North 1988; Weede 2000). Dabei ist jedoch meines Erachtens ein gewisser Widerspruch in der Theorie festzustellen. Sicherlich wird man den starken Zusammenhang von individuellen Property Rights und okonomischer Effizienz nicht abstreiten konnen. Die praktischen Erfahrungen aus dem sozialistischen Experiment und theoretische
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Georg W. Oesterdiekhoff
Uberlegungen insbesondere auf der Basis der Alchian-Parabel reichen bin, um die Eindeutigkeit dieses Kausalzusammenhangs aufzuzeigen. Insofem ist die Behauptung sicher richtig, dass zumindest liber einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten und im HinbHck auf die Ausgestaltung einer Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft Wirtschaftswachstum nur auf der Basis des Privateigentums an Produktionsmitteln moglich ist (Smith 1976; v. Hayek 1980; Weede 2000; Weede 2004: 71; Oesterdieldioff 1993: 193ff.). Man muss jedoch zwischen Ursachen und Wirkungen der Entstehung individueller Property Rights unterscheiden. Diese Unterscheidung weist auf einen echten Riss hin, der sich durch die Theorie von North und Thomas zieht. Einerseits versucht diese Theorie Wirtschaftswachstum allein aus der Struktur der Property Rights zu erklaren, andererseits wird deren jeweilige historische Struktur, mithin ihr Verdlinnungsgrad, auf eine okonomische Ebene bezogen, die offensichtlich kausal tiefer liegt und starker wirkt als die Effizienzwirkungen der Property Rights selbst. Gerade die Transaktionskostenanalyse zeigt doch, dass die Evolution von individualisierten aus verdlinnten Property Rights weitgehend reaktiv verlaufen ist. Die transaktionskostenanalytische Erklamng von Property Rights impliziert eine Divergenz rein wirtschaftlicher und eigentumsrechtlicher Erklarung sozialokonomischer Entwicklung, die North und Thomas geflissentlich ignorieren. Die Individualisierung und Spezifizierung von Property Rights wird schlieBlich in der Theorie immer als Folge der historischen Wertsteigerung der Giiter gesehen und nicht als ein Vorgang, der aus einer inneren Dynamik der Property Rights selbst oder aus einem politischen Voluntarismus hervorgeht. Property Rights sind demzufolge eher die Wirkungen als die Ursachen der Wertsteigerung der Giiter. Individuelle Property Rights sind demzufolge eher die Mittel, mit denen sich die basaleren okonomischen Prozesse durchsetzen. Sie konnen daher theoriekonsequent nur eine Rlicklcopplungsfimktion hinsichtlich der Verursachung sozialokonomischer Entwicklung haben, aber eher nicht ihre hauptsachliche oder alleinige Ursache sein, jedenfalls nicht, wenn man die Analyse auf der Basis und im Rahmen der vorgestellten Theorie durchflihrt. In einem gewissen Sinne muss man schlussfolgern, dass die okonomische - transaktionskostenanalytische - Erklarung der privaten Property Rights die Erklarung der sozialokonomischen Entwicklung aus ihnen entweder widerlegt oder doch zumindest stark einschranlct. Insofern kann, genau besehen, weder den Transaktionskosten noch den Property Rights der prioritare oder gar monokausale Status attribuiert werden, der ihnen von den Autoren vindiziert wird. Diese laitischen Einschrankungen sollen keineswegs einen zentralen Angriff auf den theoretischen Ansatz darstellen, wohl aber ein kritisches Bedenken in den Raum stellen, das wohl kaum so leicht abgewiesen werden kann.
Staat und Eigentumsrechte 3
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Staat, Eigentumsrechte und sozialokonomische Entwicklung nach Douglass North In „Theorie des institutionellen Wandels" (1988) beschaftigt sich North kaum mit unternehmerischen Eigentumsrechten, sondern akzentuiert die Rolle des Staates als die maBgebliche Institution, die Wirtschaftswachstum fordert bzw. behindert. In Landem, in denen die Rolle des Staates gunstig war, konnte sich eine positive Entwicklung einstellen, die zur Industrialisierung ftihrte. In den anderen Landem blockierten die staatlichen Strukturen untemehmerische Impulse, die zur Industrialisierung hatten fiihren konnen. North (1988: 21) definiert den Staat als eine Organisation, die durch eine Steuerhoheit tiber ein bestimmtes Territorium definiert ist. Die Voraussetzung fur die Durchsetzung der Steuerhoheit ist die moglichst monopolartige Verfugung liber Gewaltmittel. Mittels der Gewaltmittel kann der Staat sowohl seine eigenen Eigentumsrechte als auch die seiner Btirger garantieren und durchsetzen. Flir die Durchsetzung seiner Ziele, fiir die Sicherung des Territoriums, der Rechte und Gesetze und fiir die Erhebung der Steuern, benotigt der Staat fmanzielle Ressourcen. Je groBer die Aufgaben des Staates sind, desto mehr fmanzieller Mittel in Form von Steuern bedarf er. Die Bereitstellung von physischer Sicherheit und von Jurisprudenz, Verkehrswegen und Infrastruktur flir seine Btirger ist mit der Erhebung von Steuern verbunden. Gleichsam im Auftrag seiner Btirger libernimmt der Staat diese Aufgaben. Wie gut er diese Aufgaben wahrnimmt, hangt im Wesentlichen von dem AusmaB ab, zu dem der Staat auf die Bedurfnisse seiner Burger zugeschnitten ist. Eine weitgehende Ausrichtung auf die Bedlirfnisse der Gesamtheit seiner Burger mittels demokratischer und rechtsstaatlicher Prozeduren mtisste sicherstellen, dass die Steuern bis zu einer Hohe erhoben werden, in der eine maximale Bereitstellung offentlicher Gtiter auf die kostengtinstigste Art und Weise erfolgt. In diesem Falle wird eine solche Steuermasse erhoben, dass die hoheitlichen Funktionen im Dienste der Gesellschaft maximal effizient durchgefiihrt werden konnen, aber nicht die wirtschaftlichen Leistungen der Btirger abwtirgen und entmutigen. Im Schnittpunkt von maximal effizienter Steuerhohe zur Bereitstellung offentlicher Gtiter und gleichzeitiger Nichtbelastung des Arbeitswillens der Btirger lage die optimale Steuerlast, deren so kalkulierte Festsetzung nur durch einen ganz dem Dienst an der Gesellschaft verpflichteten Staat moglich ware (North 1988:24). Die Geschichte zeigt jedoch, dass dieser maximal effiziente Steuerstaat eine historische Fiktion ist. In der Vergangenheit war der Staat keineswegs auf die Bedtirfiiisse seiner Btirger zugeschnitten und keineswegs ein Vehikel des Gemeinwesens. Gleichviel, ob der Staat von demokratischen Institutionen oder durch Usurpation und Eroberung zustande gekommen war, in jedem Falle hat er
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immer ein Eigenleben und eine von der volonte de tons kaum gesteuerte Eigendynamik gehabt. Die Trager der politischen Herrschaft haben es immer verstanden, sich von den idealen Bedurfnissen des Gemeinwesens zu entfernen. Statt die Steuern ftir die Befriedigung der gesellschafthchen Bediirfnisse zu nutzen, haben die Trager des Staates die Steuern vor allem auch ftir die Befriedigung ihrer eigenen Bediirfnisse verbraucht. Demzufolge wurden eher mehr Steuern erhoben als gesellschaftlich niitzlich v^ar, da die Trager des Staates einen betrachtlichen Anteil ftir Ihren privaten Verbrauch abgezweigt haben. Die Trager des Staates, gerade unter den Bedingungen, wie sie in der Vergangenheit geherrscht haben, konnten jedoch in der Kegel nicht die Steuerschraube beliebig in die Hohe treiben, um ihre Bedurfnisse nach Luxuskonsum befriedigen zu konnen. Denn die Herrscher hatten immer mit machtigen Konkurrenten in oder auBerhalb des Landes zu rechnen, die im Falle von zu groBer Unzufriedenheit der Bevolkerung ihnen die Herrschaft hatten streitig machen konnen. Ferner waren die Herrscher zumeist abhangig von der herrschenden Schicht innerhalb des Staates, deren Bediirfiiisse sie zu befriedigen hatten. Daher waren die herrschenden Schichten von der Erhebung der Steuern zumeist befreit (North 1988: 28). Auf diese Weise wichen die Praktiken der Steuererhebung von dem Ideal einer die Wirtschaft ankurbelnden Steuererhebung zumeist ab. Ferner hatten die Agrarstaaten der Vergangenheit in der Kegel nicht die Moglichkeiten, eine verntinftige Verwaltung aufzubauen, die zu einer ordentlichen Steuererhebung in der Lage gewesen ware. Daher zogen es die Herrscher vor, gegen eine Zahlung Monopole zu verleihen und Eigentumsrechte an konkrete Personen oder Gruppen abzugeben. Nach der - sicherlich tibertriebenen Vorstellung von North hatte der Herrscher die Moglichkeit, die meisten Eigentumsrechte letztlich infolge seines Gewaltmonopols zu beanspruchen und sie nachgerade mehr oder weniger an den Meistbietenden gegen Zahlungen leihweise oder dauerhaft abzutreten. In der Vorstellung von North bezogen die Herrscher in Agrarstaaten ihre Steuern in der Kegel aus dieser Vergabe von Monopolen, Eigentumsrechten und Aufgaben an Privatpersonen. Das Problem dieser Vergabe von Monopolen, Kechten und Aufgaben an einzelne Privatpersonen, die sich sowohl auf wirtschaftliche als auch auf staatliche Funktionen beziehen, besteht darin, dass sie den Wettbewerb von Unternehmern unterminieren. Diese Monopole an Einzelne behindem Innovationen und Wettbewerb und erschweren so das Finden kostengtinstigerer Losungen. Ferner ist in vielen Fallen die Bevolkerung gezwungen, im Verfolgen ihrer zivilen, konsumtiven oder produktiven Funktionen, an den Besitzer des koniglichen Kechtes eine zumeist hohe und ungerechtfertigte Gebtihr zu zahlen. Die Vergabe derartiger Kechte und Monopole erzeugt daher tiberall in der Gesellschaft
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Blockaden, Barrieren und Bremswirkungen, sie stort den Fluss der Gtiter und Dienstleistungen, sie verhindert Kostensenkung und Innovation, die nur durch freies Untemehmertum moglich sind. Demzufolge ist die flir den Herrscher mangels einer effizienten Steuerverwaltung gUnstige Vergabe von Rechten an Personen und Gruppen zur Maximierung des Einkommens des Herrschers ein die Wohlfahrt des Volkes und das Wirtschaftswachstum des Landes schadigender Faktor (North 1988: 28). North versucht am Beispiel der Wirtschaftsgeschichte aufzuzeigen, dass dieses prekare Verhaltnis von Steuern zu Wirtschaftswachstum das die Geschicke eines Landes jeweils bestimmende gewesen war. Der Aufstieg Englands in der Neuzeit ist seines Erachtens ein Resultat der parlamentarischen Anbindung des Steueraufkommens gewesen, das nicht mehr Wirtschaftswachstum blockiert hat. Demgegentiber sind seines Erachtens die anderen Lander wie Spanien und Frankreich daran gescheitert, die genannte Kluft zwischen patrimonialer Steuererhebung und Wirtschaftswachstum zu uberwinden. Insofem meint North, dass seine Theorie des Staates die Industrialisierung Englands und damit den Sonderweg Europas erklart - bei gleichzeitiger Erklarung der Nichtentwicklung traditional strukturierter Herrschaftssysteme und Lander. 4 Neolithikum und Antike in der Sichtweise der Theorie von North North entwickelt seine Theorie der „neuen Wirtschaftsgeschichte" auf der Basis der Analyse der wichtigsten Etappen der Kulturgeschichte. Schon die NeoHthisierung ist in der Sichtweise von North (1988: 85ff.) eine Folge der Entstehung der Eigentumsrechte. Das Bevolkerungswachstum am Ende der Eiszeit ftihrte zu einer tjberjagung der Wildtiere und daher zu einem ausgepragteren Territorialverhalten der Jager. Ausgrenzung anderer Horden und Inbesitznahme von Jagdgebieten wurden immer wichtiger, um die Nahrung sicherzustellen. Gewaltkonflikte um Territorien wurden aus diesem Grunde haufiger. Wahrend in den alteren Phasen der Steinzeit Kriege iiberflUssig waren und es keinen Grund gab, die eigene Horde zu vergroBern, bewirkten die Territorialkampfe am Ende der Steinzeit eine VergroBerung der Horden. Derm nur groBe Horden hatten eine Chance, im Kampf um Territorien zu iiberleben und anderen, zahlenmaBig unterlegenen Horden Territorien wegzunehmen. Der Bevolkerungsdruck auf die territoriale Ressourcenbasis mtindete daher in einen Teufelskreis und in eine okologische Degradationsspirale: Das Territorialverhalten entstand infolge des Bevolkerungsdrucks und gerade deswegen war es flir jede einzelne Horde erforderlich, sich noch mehr zu vergroBern, um im Kampf um Territorien bestehen zu konnen. Das Territorialverhalten war daher nicht nur aus dem Bevolkerungswachstum hervorgegangen, sondem es heizte dieses immer weiter an bis hin zum Kollaps des gesamten okonomischen Systems der Jagd- und Sammel-
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wirtschaft. Die altsteinzeitliche Balance von Bevolicerung zu Jagdtieren und Ressourcen war verloren gegangen. Schon am Ende der Steinzeit war daher das Muster sichtbar, das die politische Geschichte der letzten 10.000 Jahre beherrscht hat: VergroBerung der eigenen Gruppe, um andere Gruppen im Kampf um Territorien besiegen zu konnen. North (1988: 85, 88) erklart die Entstehung der Landwirtschaft vor 10.000 Jahren aus dem Territorialprinzip. Andere Gruppen sollen von den Tieren, die man nutzen will, ausgeschlossen werden. Die Tiere sollen daher nicht mehr frei wandern dtirfen, sondern sie werden eingesperrt, gehegt und geziichtet. Konkomitant entsteht der Pflanzenanbau. Der Entstehung des landwirtschaftlichen Systems korrespondiert von Anfang an die Entstehung von Eigentumsrechten einer Gruppe an ihrer landwirtschaftlichen Nutzflache und ihren Haustieren. Die Eigentumsrechte an Grund und Boden sind demzufolge aus dem Territorialprinzip der Jager gerade in der Endphase der Altsteinzeit hervorgegangen. In diesem Sinne meint North behaupten zu konnen, dass die Neolithisierung die Folge der Einrichtung von Eigentumsrechten gewesen sei. Man muss jedoch hinzuftigen, dass diese Implementation von Eigentumsrechten aus dem Bevolkerungsdruck auf sich verknappende Ressourcen hervorgegangen ist. Die Property Rights stellen demzufolge eine auf basalere okologisch-demografische Faktoren reagierende GroBe dar (Oesterdiekhoff 1993). In den Jahrtausenden nach der Einflihrung der Landwirtschaft hat sich die Menschheit infolge der VergroBerung der Tragekapazitat des Bodens, die durch die Landwirtschaft im Verhaltnis zur Jagd- und Sammelwirtschaft gegeben war, stark vermehrt. Die Menschen wurden in Dorfern und spater in Stadten sesshaft. Freier Boden wurde im Zuge des weiter zunehmenden Bevolkerungswachstums seltener. Migrationen in dlinn besiedelte Regionen, Eroberungskriege und Entstehung von Staaten und Konigreichen waren die Reaktionen auf das weiter zunehmende Bevolkerungswachstum. Die archaischen Staaten (Konigreiche) sind eine direkte Folge des Zusammenschlusses von Siedlungen, um Angriffe anderer Volker abzuwehren bzw. deren Territorien einzunehmen. Die Ursachen der Entstehung der Staaten sind demzufolge Bevolkerungswachstum, Landknappheit und Kriege um Land. Die Staaten resultieren demzufolge aus einer Anspannung des Verhaltnisses von Bevolkerung zu Land und Ressourcen (siehe auch Boserup 1965). Die Konige besteuern ihr Volk, um insbesondere den Militar- und Verwaltungsapparat fmanzieren zu konnen. Je mehr Land und Bevolkerung ein Konig kontrollieren kann, desto groBer sind seine Steuereinnahmen und sein ihm zur Verftigung stehendes militarisches Potential. Die GroBe und Dynamik der politischen Entwicklung hangt von auBen- und innenpolitischen Entwicklungen ab. Je groBer und starker der eigene Staat ist, desto tendenziell sicherer leben die
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Untertanen. Andererseits wachsen mit der GroBe des Staatsapparates interne Kontroll- und Steuerungsprobleme. Es wachsen die Belastungen der Btirger durch Steuern und durch Staatsorgane. Was noch wichtiger sein dtirfte: Reiche Agrarstaaten Ziehen umherziehende Nomaden und Nachbarvolker an, um Emten und Reichttimer der friihen Zivilisationen zu erobern. Die VergroBerung der staatlichen Gebilde insbesondere im letzten vorchristlichen Jahrtausend erklart North (1988: 100) aus den militartechnischen Errungenschaften wie Pferd, Streitwagen, Bogen und spater der geordneten Schlachtreihe. Vor diesem Hintergrund erlautert North die Entstehung des persischen GroBreiches, die Unterwerfung der griechischen Stadtstaaten durch Philipp von Makedonien und die Entstehung des ersten Imperiums im Westen unter Alexander dem GroBen, dem Sohn Philipps. Dem Reich Alexanders folgte die Hellenisierung des Nahen Ostens und Agyptens. Nach der Zerstorung Karthagos gelang es dann den Romem, den gesamten Mittelmeerraum, auch die hellenistische Welt, unter ihre Herrschaft zu bringen. Damit war ein Imperium entstanden, das infolge der Ermoglichung von militarischer Sicherheit und der Garantie von Rechtsschutz regionale Arbeitsteilung, Handel, Innovation, Wirtschaftswachstum und Zivilisation in einer zuvor unerreichten Weise ermoglichte (North 1988: 115). Der Untergang des Romischen Reiches wird von North im Wesentlichen durch das Zusammenspiel von militarischer Verteidigung, Steuerlast und infolge der hohen Steuern abgesenkter Wirtschaftsleistung erklart. Ab dem Jahr 100 unserer Zeit hat Italien in Konlcurrenz mit afrikanischem Getreide und mit spanischem Olivenol gestanden und musste die Verlagerung sowohl der gewerblichen Produktion als auch des Weinanbaus nach Gallien erleiden. Diesem Ruckgang der Produktion ftir groBe Markte folgte die Umwandlung der Sklavenwirtschaft in das Kolonat. Der so wirtschaftlich geschwachte Staat konnte nicht mehr die Steuerlast tragen, um die militarische Verteidigung gegen angreifende Volker zu fmanzieren. Die angehobenen Steuerlasten wtirgten Wirtschaft und Einkommen ab, sodass eine Abwartsspirale von steigender Steuerlast, Senkung der Wirtschaftskraft und Desinteresse an der Erhaltung des Staates in Gang gesetzt wurde. Der Erhaltung des Imperiums wurden dezentrale, lokale und feudale politische Einheiten vorgezogen (North 1988: 123ff.). Das romische Imperium ging unter, „... als seine militarische tJberlegenheit dahinschwand und der GroBstaat nicht langer Sorge fiir den Schutz... von Eigentumsrechten trug." (North 1988: 127). Norths Erklarung des Untergangs des Romischen Reiches ist meines Erachtens nicht zufrieden stellend. Es handelt sich nur um eine Beschreibung einiger Aspekte des historischen Vorgangs, nicht um eine hinreichend systematische Analyse. Um eine konzise Analyse vorzulegen, hatte er folgende Fragen
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klaren mtissen, die er nicht einmal aufwirft: 1st die von den Fremdvolkern ausgehende militarische Gefahr in der Spatantike bedeutend groBer geworden als sie es zu Beginn der Kaiserzeit gewesen war? Weshalb und inwiefern ist die militarische Uberlegenheit Roms im Verhaltnis zu den Fremdvolkern gesunken? Weshalb haben afrikanisches Getreide und gallischer We in zu einer Schwachung des Wirtschaftsstandortes Italien beigetragen? SchlieBlich hat North zuvor darauf hingewiesen, dass das Imperium regionale Arbeitsteilung, Handel und Wohlstand in zuvor unerreichtem MaBe ermoglichte. Man wiirde doch erwarten, dass dem Tausch von Nahrungsmitteln aus den Provinzen mit Gtitern aus Italien eine Wachstum und Produktivitat fordernde Konzentration von Gewerbe in Italien korrespondierte. North erklart demzufolge nicht die Ursachen des Erlahmens der Wirtschaft Italiens und der Kerngebiete des Reiches. Weder seine Angaben zur internen okonomischen Schwachung des Reiches noch zur Zunahme der von Norden und Osten eindringenden Raubziige sind ausreichend, um den Untergang des Reiches hinreichend genau erklaren zu konnen. Diese Schwache der Analyse ist auch deshalb bedauerlich, da der Autor schlieBlich in den ersten Kapiteln des Buches die Arbeiten der Historiker als ungentigend und erklarungsschwach bezeichnet hat (siehe auch North 1988: 126). Die Anwendung der neoklassischen Theorie des Staates auch auf die Erklarung von Entstehung und Untergang des Romischen Reiches sollte doch gerade einen Schlussel liefern, um die Ttir zum Verstandnis des Phanomens zu offnen und das Geheimnis des Untergangs zu Itiften. Die Verbindung von angeblich barter okonomischer Theorie mit der Geschichte, der Wirtschaftsgeschichte zumal, sollte doch gerade eine Verwissenschaftlichung der Geschichte in Form einer effektiven Erklarbarkeit ihrer Phanomene und vor allem ihrer groBen Transformationen liefem. In Wirklichkeit erscheint die Applikation der neoklassischen Theorie auf das besagte Phanomen eher wie ein Sprachspiel und die von North vorgelegte „Analyse" weicht im Grundsatz - sowohl in den sachlichen Darlegungen als auch in der Methodik und Systematik - nicht von den Beschreibungen ab, die man in der rein historisch ausgerichteten Literatur auch fmdet. Ganz im Gegenteil, Norths Analyse ist viel ungenauer und oberflachlicher und diskutiert nicht einmal den Forschungsstand zum Untergang des Romischen Reiches in einer auch nur annahernd adaquaten Weise (Jones 1966; Cipolla 1970; Lorenz 1996). Hier soil nun keineswegs behauptet werden, dass der Ansatz von North seine Darstellung der bezeichneten Phanomene als behauptete Faktoren des Untergangs - nicht richtig sei, sondem nur, dass es ihm in keiner Weise gelungen ist, dies plausibel herauszuarbeiten und stringent nachzuweisen. Zudem ist die neoklassische Prasentation dieses Erklarungsansatzes des Untergangs reine Ca-
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mouflage, eher ein Spiel mit Worten statt tlieoriestarke Rahmung und Fundierung kausaler Attributionen. 5
Die These der stagnierenden Entwicklung des neuzeitlichen Kontinentaleuropa North verfolgt die Analyse der wirtschaftshistorischen Entwicklung liber das Ende des Romischen Reiches hinaus und behandelt als nachste epochale Station die neuzeitliche Entwicklung Frankreichs, Spaniens und Englands. Er untersucht die Entwicklung der Eigentumsrechte und der staatlichen Funktionen in den genannten Landern, um im Umkreis dieser beiden genannten Phanomene Faktoren identifizieren zu konnen, die dem Wirtschaftswachstum und der Industrialisierung in England und der verzogerten Entwicklung in Franlo-eich und vor allem in Spanien zugrunde gelegen haben. Mitte des 15. Jahrhunderts herrschte in Frankreich aufgrund l
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und sozialokonomische Entwicklung. Auf diese Art und Weise entstand nach North der Rtickstand Frankreichs gegenliber England im 18. Jahrhundert (North 1988: 143, 154f.; vgl. auchElias 1976: Bd. 2; Fohlen 1985). Spanien entwickelte sich unter Ferdinand und Isabella im Kampf gegen die Mauren und den Adel zum National- und Territorialstaat (North 1988: 156). Um der Krone die Niederwerfung der Mauren zu ermoglichen, iiberlieB der Adel dem Konigtum das gesamte Steuerwesen. Zwischen 1470 und 1540 stiegen die Steuereinnahmen in Spanien um den Faktor 24. Der groBte Teil der Steuereinnahmen stammte aus Aragon, Neapel, Mailand und den Niederlanden. In manchen Jahren waren die Steuerzahlungen aus den Niederlanden zehnmal hoher als die Summe der Zahlungen, die aus alien anderen der Krone zur Verfligung stehenden Quellen stammten. Nach dem Ausscheiden der Niederlande aus dem spanischen Herrschaftsbereich und dem Verrinnen des amerikanischen Silbers begann die Krone verstarkt, ihre Steuereinnahmen durch die Vergabe von Monopolen an die Ztinfte und durch den Verkauf von Adelstiteln zu stabilisieren. Infolge der Monopole, der hohen Steuern und der Beschlagnahmungen des Eigentums von Kaufleuten durch die Krone gingen Handel und Verkehr zuriick. Unternehmerische Aktivitaten lohnten sich nicht, schon gar nicht im Verhaltnis zu einer Karriere im Staatsdienst. Eigentum an Land konnte nach North durch die Herdenwanderung, durch den Trieb der Schafe von den Winter- zu den Sommerweiden und zum Verkauf, wie er seit Jahrhunderten im Mittelmeerraum und in Spanien praktiziert wurde, nicht entstehen. Der Konflikt zwischen Bauern und Hirten um die Wanderwege verhinderte die Entstehung festen Landbesitzes, da die Organisation der Hirten, die Mesta, von der Krone untersttitzt wurde. Gegen das Recht, Schafe auf festen Routen durch ganz Spanien zu treiben, bezahlte die Mesta Zolle und Abgaben an die Krone. Die Mesta hatte weitgehende Vollmachten, Funktionare und Wachpersonal. North (1988: 156) zufolge konnte so in Spanien Eigentum an Land, kapitalistische und effiziente Landwirtschaft als Vorbedingung einer kommerziellen und Industriegesellschaft, nicht entstehen. Die staatliche Vergabe der Eigentumsrechte unterminierten wirtschaftliche Effizienz, Wettbewerb und Innovation. Das Zurtickbleiben Spaniens und Franlcreichs hinter England, dem Land, das als erstes den Durchbruch zur Industriegesellschaft schaffte, erklart North demzufolge durch das Zusammenspiel einer ineffizienten Steuererhebung und Wettbewerb behindernder Ztinfte. Die Ztinfte sicherten dem Staat die fmanzielle Basis, wahrend sie ihrerseits die sozialokonomische Entwicklung lokal einschntirten und Wettbewerb und Innovation einfroren. Reflektiert man auf die Angaben von North zur vorindustriellen Entwicklung in Franlcreich und Spanien, so fallt auf, dass auch sie nur Informationen
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enthaiten und Zusammenhange beschreiben, die man in den ublichen Hand- und Lehrbiichem zur Sozial- und Wirtschaflsgeschichte schon in hinreichender Form ausgebreitet findet. Ferner ist seine Analyse keineswegs konzis genug, um die entscheidenden Fragen ausreichend genau beantwoiten zu konnen. Fangen wir bei dem Stellenwert der Mesta an, den North ihr ftir die Blockade der Wirtschaftsdynamik Spaniens zuschreibt. Zunachst einmal ist festzustellen, dass es diesen Hirten-Nomadismus rund um den Mittelmeerraum teilweise bis ins 20. Jahrhundert gegeben hat, auch in Italien, Griechenland, Nordafrika und in der Levante. Braudel (2001: 120ff.) hat beschrieben, dass in Spanien die Routen der Herden festgelegt waren und somit keineswegs das bauerliche Leben Uberall lahm legen konnten. Fleisch und Wolle der Tiere waren an die kommerzielle Entwicklung der Stadte angebunden und beforderten deren Wohlstand. Vor dem Hintergrund dieser Einbindung in das stadtische Leben erklart Braudel auch die starke Stellung der Mesta. Insofern ist nicht ganz nachvollziehbar, inwiefern Herdentrieb und Mesta nach North die okonomische Entwicklung blockiert haben sollen. Ferner beschreibt Braudel, dass die Bedeutung des Herdentriebs im ganzen Mittelmeerraum immer dann nahezu automatisch abgesenkt wurde, wenn Bevolkerungswachstum, kommerzielle Landwirtschaft und Modemisierung Raum gegriffen haben. Auch im 20. Jahrhundert wurde der Herdentrieb auch im Nahen Osten und Nordafrika gleichsam automatisch zurtickgedrangt, wenn er im Verhaltnis zu anderen okonomischen Aktivitaten an Bedeutung verloren hatte. Demzufolge ware der Stellenwert des Herdentriebs in Spanien anders einzuschatzen als North dies vornimmt. Im Hinblick auf die Entwicklung Spaniens in der Neuzeit war der Herdentrieb doch wohl offensichtlich okonomisch sinnvoll. Der Herdentrieb hat die okonomische Entwicklung Spaniens nicht behindert. Hatte sich die demografische, okonomische und kommerzielle Entwicklung Spaniens so stark entfaltet wie in den USA im 19. Jahrhundert und im Mittelmeerraum im 20. Jahrhundert, dann ware der Herdentrieb - so wie in den USA - entsprechend eingedammt worden. North kann jedenfalls nicht zeigen, dass die Mesta die spanische Entwicklung effektiv blockiert hat. Ahnlich ungenau erscheint Norths Analyse der Zunfte und des Steuerwesens. In einer riickstandigen, dlinn besiedelten Gesellschaft mit einer weitgehend lokal geschlossenen Okonomie ohne effiziente Verkehrsverbindungen konnen Zunfte kaum Behinderungen des Wirtschaftswachstums sein. Sie behindern nicht das Entstehen einer regionalen und nationalen auf Wettbewerb basierenden Industrie, da Anreize und Chancen einer solchen Entwicklung im Mittelalter naturgemaB noch gar nicht gegeben sein konnen. Die Ztinfte behindern im Mittelalter nicht die Entstehung einer okonomischen Dynamik, sondern sie organisieren die lokal begrenzten Wirtschaften, die unter den gegebenen mittelalterli-
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chen Bedingungen nur lokal und regional begrenzt sein konnen. Unter mittelalterlichen Bedingungen stellen die Ziinfte eher einen Rahmen organisatorischer Rationalitat dar als dass sie diese behindern. Erst unter neuzeitlichen Bedingungen, infolge von Bevolkerungswachstum, Urbanisierung und der Kumulation von Techniken, mit dem Aufkommen regionaler und nationaler Wirtschaftsraume, werden Ziinfte gewissermaBen zu „Fesseln der Produktivl
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korrelieren mit fehlenden Eigentumsrechten, einfache bauerliche Bedingungen korrelieren mit feudalen und kollektiven Rechten, mittelalterliches Gewerbe korreliert weltweit mit berufsstandischer Organisation und moderne Industriewirtschaft entfaltet sich langfristig nur, wenn Vorkehrungen fur privates Eigentum an Produktionsmitteln getroffen worden sind. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob die Abschaffung der Ztinfte in Frankreich und Spanien im 16. oder 17. Jahrhundert Wirtschaftswachstum befordert hatte. Jedenfalls fiihrt North diesen Nachweis nicht, selbst wenn diese These richtig sein sollte. North musste jedoch genau diesen Nachweis fiihren, wenn seine These bestatigt werden soil. Und vor dem Hintergrund meiner Darlegungen dtirfte fraglich sein, dass sie bestatigt werden konnte. Eine ahnliche Kritik dtirfte an seiner These von der unokonomischen Praxis der Steuererhebung berechtigt sein. Zunachst einmal wurden die Steuern nicht nur von den Zunften erhoben. Kopfsteuem, die liber Steuerpachter gesammelt wurden, gab es in Frankreich schon seit dem 14. Jahrhundert (Elias 1976: Bd. 2). Es mag sein, dass die Art und Weise der Steuererhebung in Frankreich und Spanien das Wirtschaftswachstum behindert haben. Aus der Darlegung von North wird jedenfalls nicht evident, dass der Zusammenhang von Steuererhebung und Blockade wirtschaftlicher Entwicklung folgenschwer gewesen sein konnte, sodass er die Vorrangstellung Englands gegenliber Franl
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Frankreich mindestens vervierfacht, von ItaUen verdoppeit; die Spanier haben sich nur um das 1,34-fache vermehrt. Spanien hatte um 1717 nur 7,5 Mio. Einwohner. Das Fehlen einer intensiven und kommerziellen Landwirtschaft und die Bedeutung der Mesta resultieren aus dieser niedrigen Besiedlungsdichte. Diese Bevolkerungsschwache Spaniens ist durchaus die Folge der Reconquista und der militarischen Lasten der Erhaltung des Habsburgerreiches (Nadal 1985: 343; Kennedy 1987). 6 Eigentumsrechte und die Vorreiterrolle Englands Der nachste Schritt in Norths neoklassischer Rekonstruktion der Wirtschaftsgeschichte ist seine Analyse der institutionellen Strukturen Englands. England litt wahrend des 14. und 15. Jahrhunderts unter dem hundertjahrigen und dem Rosenkrieg. Heinrich VII verschaffte sich Steuern tiber die Vergabe von Konzessionen und Privilegien. Heinrich VIII zog Klostergut ein, um dem Staat zu Einnahmen zu verhelfen. Wahrend - so North - der Adel in Frankreich und Spanien der Krone einen Freibrief zur Erhebung von Steuern in die Hand druckte, konnte die Krone in England die Steuern nicht festsetzen. Das Parlament bestand nach North vor allem aus Grundbesitzern und Kaufleuten, das kein Interesse an zu hohen Steuern fur den Konig hatte. North erklart diese starkere Stellung des Parlaments gegentiber der Krone in England im Vergleich zu Spanien und Franlcreich auch aus der Insellage. Die Insellage stellt einen natliriichen Schutz des Konigreiches vor angreifenden Feinden dar, sodass das Parlament dem Konig keine allzu groBen Zugestandnisse machen musste. Die starkere Stellung des Konigs in den beiden anderen Landern resultierte aus der militarischen Bedrohungssituation auf dem Kontinent. Einen zweiten Grund fur die niedrigen Steuern in England sieht North in der Stellung der Wolle, die zu besteuern keine groBe Btirokratie voraussetzte. So verhinderte das Parlament die Vergabe von Privilegien und sorgte fur niedrige Steuersatze. Das englische Parlament verfolgte eine Politik der Forderung des Wettbewerbs und der Forderung des Privateigentums (North 1988: 160). „Die Senkung der Transaktionskosten infolge der Begriindung privater Eigentumsrechte und des freien Wettbewerbs in Handel und Gewerbe ermoglichte es England, der malthusianischen Krise zu entgehen, die sowohl Franl
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Eigentumsrechte ist in der Auffassung von North generell der Schltissel zum Verstandnis der Ursachen der Industriellen Revolution: „Naturhch gehort der Riickgang der merkantihstischen Wettbewerbsbeschrankungen - einschheBhch der Aufhebung bzw. Reform des Handwerkerstatuts, der Armengesetze, Ansiedlungsbestimmungen, Wuchergesetze, Navigationsakte usw. zu unserer Geschichte. Besonders bedeutsam fur die Entwicklung effizienterer Markte ist jedoch die genaue Spezifizierung und Durchsetzung von Eigentumsrechten an Gtitern und Dienstleistungen; und in vielen Fallen ging es um weit mehr als die bloBe Beseitigung von Beschrankungen der Freiztigigkeit von Kapital und Arbeit, so wichtig diese Veranderungen auch waren. Private sowie vom Parlament beschlossene Einhegungen in der Landwirtschaft, das Monopolstatut, das ein Patentrecht schuf, die epochemachende Entwicklung eines Corpus von Common Law, das die FormuUerung und Durchsetzbarkeit von Vertragen verbesserte, gehoren ebenfalls hierher." (North 1988: 171) North sieht demzufolge die zentrale Ursache der Vorreiterrolle Englands gegentiber dem europaischen Kontinent hinsichtlich sozialokonomischer und industrieller Entwicklung in der Durchsetzung privater Eigentumsrechte und in den niedrigen Steuersatzen infolge der parlamentarischen Kontrolle des Konigs. North steht mit dieser Auffassung in einer langen und groBen Tradition, die von Adam Smith iiber Arnold Toynbee bis zu Friedrich August von Hayek reicht. Nun will man gerne glauben, dass die Eigentumsrechte in England freier und sicherer als anderswo waren. Dennoch ware von North zu wiinschen gewesen, dass er anhand von Gesetzen, Regeln und Verfahren dies genauer gezeigt hatte, insbesondere auch im Vergleich zu kontinentalen Institutionen. Seine Behauptung von den niedrigeren Steuersatzen in England hatte er auch mit Zahlen belegen konnen und dtirfen. Der Leser hatte dann namlich einen Anhaltspunkt und eine Moglichkeit gehabt, seine These tibernehmen und iiberpriifen zu konnen. Die Frage ist, ob die Behauptung Norths zutrifft, der zufolge die Hauptursache der Industriellen Revolution in England in den privaten und sicheren Eigentumsrechten bestanden hat. Nach der Property Rights-T\iQonQ, wenn man sie richtig interpretiert, batten die privaten Eigentumsrechte eher den kausalen Status von RUckkoppelungseffekten. Spezifizierte Eigentumsrechte gehen theoriekonsequent auf eine Wertsteigerung der Gtiter zuruck, die eine Finanzierung von Transaktionskosten bewirkt, welche zur Durchsetzung privater und sicherer Property Rights erforderlich sind. Demzufolge konnte man den privaten Eigentumsrechten zwar den kausalen Status von notwendigen Bedingungen erfolgreicher industriekapitalistischer Entwicklung zusprechen, die aber dennoch nur zu einer Teilmenge der Faktoren gehoren, die die Industrialisierung bedingt und ausgelost haben. Die Wertsteigerung der Gtiter, mithin die gesamte sozialokonomische Entwicklung, anders gewendet: andere Kausalfaktoren haben auch ei-
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ne Rolle gespielt, und zwar: eine in der Prozessauslosung kausal dominantere Rolle als die Eigentumsrechte, welche eher die Rolle von Geburtshelfern als die kausal prioritarer Faktoren eingenommen haben (Oesterdiekhoff 1993: 186ff, 45ff.). Demzufolge miissten andere Grunde als die Eigentumsrechte auch und vor allem eine Rolle gespielt haben, die zur Vorrangstellung Englands gefuhrt haben. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass in der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Literatur in der Tat auch eine Vielzahl anderer Faktoren diskutiert werden: Atlantikhandel, Kohlelager in England, technische Erfmdungen, wissenschaftliche Revolution, kultureller Individualismus, Insellage usw. (Deane 1985: Iff; Oesterdiekhoff 1993: 45ff; Comte 1907/1911). Welche Faktoren auch immer eine Rolle gespielt haben mogen, den Eigentumsrechten wtirde in diesem Kontext zwar eine Rolle zugebilligt v^erden, aber eher nicht die eines alleinigen und auch nicht die eines Hauptfaktors. Vor diesem Hintergrund erscheint es zweifelhaft zu sein, die Vorrangstellung Englands gegenuber dem Kontinent vorrangig oder ausschlieBlich in den Eigentumsrechten zu sehen. Nun mag es nattirlich sein, dass den Eigentumsrechten in England tatsachlich diese eminente und herausragende Rolle zukommt, wie North dies behauptet. Dann trifft ihn aber dennoch in jedem Falle der Vorwurf, dass er diese These in keiner Weise ausreichend begriindet und bewiesen hat. 7 Eigentumsrechte im alten Japan und China Die letztlich nicht eindeutige Rolle von Staat und Eigentumsrechten hinsichtlich der Auslosung industriekapitalistischer Entwicklung in Europa kann man auf der Basis einer kulturvergleichenden Analyse genauer untersuchen. Erich Weede (2004: 69, 85; 2000) vertritt die Auffassung, die Nichtindustrialisierung Asiens vor dem Kontakt mit den westlichen Industriemachten sei die Folge fehlender sicherer Eigentumsrechte, wahrend die Industrialisierung Europas die Folge von sicheren Eigentumsrechten gewesen sei. Die Fahigkeit Japans, die Industrielle Revolution Europas zu kopieren, ist seiner Auffassung nach die Folge von sozialen Strukturen, die denen Europas am Vorabend der Industrialisierung ahnlich gewesen sind. In der Tat kann man in dieser Hinsicht weitgehende Parallelen feststellen: Tenno und Shogun entsprechen gewissermaBen Kaiser/Papst und Konig. Das Land wird durch Herzoge (Daimyo) und Konig (Shogun) kontrolliert; den Rittern entsprechen die Samurai. Tokugawa-Japan ist somit durch eine feudale und dezentrale Struktur bestimmt. Der Frieden des Landes seit dem friihen 17. Jahrhundert wird durch die zentrale Versorgung des Hochadels am Konigshof in Edo sichergestellt; der Vergleich mit Versailles ist augenfallig (Moore 1969; Oesterdiekhoff 2005).
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Weede interpretiert die feudale und dezentrale Struktur Japans als eine Voraussetzung ftir die seines Erachtens dort gegebene groBere Sicherheit von Eigentumsrechten als z. B. in China und damit als eine Voraussetzung ftir starkeres Wirtschaftswachstum und fur die rasche Ubernahme und Entwicklung des westlichen Industriesystems. Die Kaufleute batten in Asien generell einen niedrigeren Status gehabt als in Europa. Die Kastengebundenheit der japanischen Kaufleute sei jedoch ein Indiz ihrer starkeren Rechtssicherheit, wahrend die chinesischen Kaufleute von der gentry und den Beamten gegangelt worden seien. Weede (2004: 71, 73, 85) erklart die Nichtentwicklung des Industriekapitalismus in China im 19. Jahrhundert - die gegenliber Japan stagnierende Entwicklung - aus dem Patrimonialismus des chinesischen Herrschaftssystems. Die fehlende feudale und dezentrale Struktur in Verbindung mit der dominierenden Stellung des Kaisers batten die Eigentumsrechte der Produzenten und Kaufleute unsicher gemacht. Daher habe schon in vorindustrieller Zeit die chinesische Entwicklung hinter der japanischen Entwicklung gelegen. Zusammenfassend glaubt Weede, dass die chinesische und japanische Entwicklung schon in der vorindustriellen Zeit hinter der europaischen gelegen habe und zwar vorrangig aus Grtinden der geringeren Sicherheit der Eigentumsrechte (anderer Meinung istPomeranz2000:36ff.). Von verschiedenen Autoren wird jedoch bestritten, dass die Eigentumsrechte in China und Japan unsicherer als die in Europa gewesen seien (Pomeranz 2000: 166ff; Elvin 1973, 1988). Jedoch gibt es starke Anhaltspunkte dafur anzunehmen, dass Handler und Produzenten eine sicherere Rechtsstellung in Europa als zumindest in China, aber wohl auch als in Japan, gehabt haben. Es gab in Europa autonome Stadte mit eigenen Verfassungen, die von Patriziern (Kaufleuten, Fernhandlern) beherrscht wurden, in China und Japan nicht. In China konnten sich Handler und Produzenten weniger frei als in Europa entfalten; in China war die kommerzielle Klasse bis ins 19. Jahrhundert schwach entwickelt. In den Konfliktraumen zwischen Adel und Konig, Stadten und Landesherren, Kirche und Staat konnten sich Kaufleute in Europa freier entfalten (Moore 1969; anderer Meinung: Pomeranz 2000: 36ff., 70ff). Es ist jedoch sinnvoll, im Gegensatz zu North und Weede zwischen sozialokonomischer Entwicklung einerseits und Industrieller Revolution andererseits zu unterscheiden. Die sozialokonomische Entwicklung Japans, Chinas und Europas verlief bis in die Neuzeit bei alien Unterschieden im Einzelnen durchaus in parallelen Bahnen. Wie immer Staat und Eigentumsrechte auch in den drei Landem strukturiert gewesen sein mogen, die Unterschiede haben sich jedenfalls nicht gravierend auf die Entwicklung von Landwirtschaft, Gewerbe und Handel und somit auf die Wohlfahrts- und Wachstumsentwicklung der Lander ausgewirkt. Alle drei Lander erfuhren in der Neuzeit eine progrediente Entwick-
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lung von Bevolkerung, Landwirtschaft, Gewerbe, Verlagsindustrie und Handel (Maddison 1998). Vor diesem Hintergrund scheint es fraglich zu sein, die Industrielle Revolution als direkte Fortsetzung der sozialokonomischen Aufwartsentwicklung zu sehen, die dann auch noch aus spezifischen Eigentumsrechten vorrangig oder ausschlieBlich erklarbar sein soil. Die Industrielle Revolution in Japan nach 1868 im Unterschied zum Stillstand Chinas bis 1949 ist meines Erachtens nicht in erster Linie eigentumsrechtlich zu erklaren. Der Unterschied diirfte eher darin liegen, dass der japanische Staat handlungsfahig genug war, eine umfassende Reform des Bildungs-, Steuer-, Militarwesens einzuleiten, das Herrschaftssystem umzubauen, den Adel zu entmachten und das Industriesystem des Westens erfolgreich zu kopieren. Der chinesische Staat war hingegen schon seit Jahrzehnten durch Aufstande und Btirgerkriege geschwacht und es gelang ihm nicht, diese Reformen anzupacken und umzusetzen. Der japanische Reformwille war auch eine Folge des Umstands, dass die Beugung Chinas unter die Kolonialmachte eher als die Japans erfolgt war, sodass die Japaner noch rechtzeitig angesichts der Kenntnisnahme der chinesischen Niederlage eindringlich vor Augen gefuhrt bekamen, dass ein trotziges Beharren auf Traditionen und eigener tJberlegenheit zum Untergang fuhren musste (Moore 1969). Wahrend die Industrielle Revolution Asiens eine Imitation der westlichen Entwicklung darstellt, ist die Industrielle Revolution Europas das Resultat des kumulativen Aufbaus kultureller Techniken und sozialokonomischer Entwicklung, in welcher die Sicherung der Eigentumsrechte nur ein Faktor unter anderen darstellt, aber keine prioritare oder alleinige Rolle spielt. Sozialokonomische und industrielle Entwicklung sind zwei paar Schuhe; diese resultiert nicht unmittelbar aus jener. Die Industrialisierung erfolgt nicht immer dann automatisch, wenn institutionelle Barrieren beseitigt werden. Vielmehr mlissen umgekehrt Bahnen eingeschlagen werden, die technologische Revolutionen ermoglichen, die der Industrialisierung Englands und Europas zugrunde gelegen haben. Diese technologischen Innovationen hangen weder in einem besonderen MaBe an Investitionskosten noch an Nachfragekapazitaten, sondern an kulturellen, kognitiven und wissenschaftlichen Fahigkeiten. Diese hatten sich seit der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit - seit den Tagen Galileis, Descartes' und Newtons - allmahlich aufgebaut und kulturelle Verbreitung gefunden. Der wissenschaftlichen Revolution des 17. und 18. Jahrhunderts entspricht weder in der Antike Europas noch in der Neuzeit Asiens ein kulturelles Gegensttick. Sie stellt etwas radikal Neues dar; sie ist die kulturelle Grundlage der Technologien, die der Industriellen Revolution zugrunde liegen. Der mechanischen Philosophic der Neuzeit entspricht die Mechanik in der Industrie, die die Grundlage des europaischen Aufschwungs im 19. Jahrhundert gebildet hat. Ihr ist im Wesentli-
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chen der Durchbruch zur Industriellen Revolution zu verdanken (Oesterdiekhoff 1997,2002). 8 Schluss Die Theorie der Eigentumsrechte ist von North und Thomas als Theorie weltgesellschaftlicher und weltwirtschaftlicher Entwicklung formuliert worden. Die Theorie der Eigentumsrechte soil instand gesetzt werden, als Theorie der ungleichen Entwicklung von Landern, Regionen und Kulturraumen aufzutreten. Die Autoren unterstellen, dass die Theorie der Eigentumsrechte die Kraft habe, Armut und Reichtum von Nationen, den Verlauf der Weltwirtschaftsgeschichte und vor allem: die Industrialisierung der westlichen Welt und Japans sowie die ausbleibende Industrialisierung der anderen Weltregionen, zumindest im 19. und fruhen 20. Jahrhundert, kausal erklaren zu konnen. Der Verdiinnungsgrad der Eigentumsrechte als Anreiz zu unternehmerischem Handeln - und dam it als Hauptquelle des Wirtschaftswachstums - wird als der Schltissel zum Verstandnis der Welt- und Wirtschaftsgeschichte verstanden. Die Zentralthese lautet: Je spezifizierter die Eigentumsrechte, desto starker fallen wirtschaftliche Leistungen aus. Die Vorreiterrolle Englands gegentiber Kontinentaleuropa ist durch die effizienteren Eigentumsrechte verursacht gewesen; die Uberlegenheit Europas gegentiber Asien ist durch Eigentumsrechte herbeigeftihrt worden, die die Industrielle Revolution ermoglicht haben. Demzufolge ist das Ausbleiben der Industriellen Revolution in Asien eine Folge verdunnter und unsicherer Eigentumsrechte gewesen. Dies sind im Kern die zentralen Auffassungen dieser „neuen Wirtschaftsgeschichte" und neoklassischen Gesellschaftsgeschichte. Diese Theorie beabsichtigt, die Okonomie in die Lage zu versetzen, disziplinare und paradigmatische Anspriiche gegentiber der Geschichtswissenschaft und Soziologie stellen zu konnen. Die eigentumsrechtliche Okonomie soil den Schltissel zum Verstandnis der Wirtschafts- und Sozialgeschichte liefern, den bereitzustellen der Geschichte infolge ihrer Theorielosigkeit und der Soziologie infolge ihrer Konzeptkonfusionen und mangelnden Bodenhaftung nicht gelingen konnen. Die eigentumsrechtliche Okonomie versucht demzufolge, gegentiber den angrenzenden Sozialwissenschaften an Terrain zu gewinnen und vor allem der Soziologie die Schau zu stehlen. Die eigentumsrechtliche Okonomie soil zeigen, dass sie als eine Theorie welthistorischen Wandels die Grundlagen tiefer legen kann als die soziologische Theorie und sie soil den Historikern ein theoretisches Instrument in die Hand geben, das diese selbst nicht entwickeln konnen. Um diese hohen Anspruche erftillen zu konnen, muss die Okonomie sich jedoch wandeln, namlich von der neoklassischen Markt- und Modelltheorie zur historischen Okonomie, die das Eigentum nicht mehr als Gegebenes, sondern als geschichtlich Gewordenes begreift. Die Historisierung des Konzeptes der
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Eigentumsrechte unterscheidet die neue Wirtschaftsgeschichte von der klassischen Okonomie und verschafft ihr die Moglichkeit, nicht nur als eine Tlieorie reiner Modellmarkte bzw. gegenwartiger westlicher Marktgeseilschaften aufzutreten, sondern als eine Theorie der Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte quer durch die Weltregionen, Kulturraume und Epochen. Gegentiber der klassischen Okonomie braucht die neue Theorie nicht deren mikrookonomische Annahme des rationalen Akteurs zu verandern, sondern nur deren malo-ookonomische Annahme von der Ahistorizitat der Eigentumsrechte. Nattirlich ist dieses doch recht simple Modell zu schon, um wahr zu sein. Die obige Diskussion und tjberpriifung kommt eher zu dem Ergebnis, dass alter Wein in neue Schlauche gegossen wird. Es gelingt North an keinem einzigen historischen Beispiel aufzuzeigen, dass die „neue Wirtschaftsgeschichte" historische Prozesse besser aufklaren kann als klassische historische Kausalerklarungen. Was triumphierend als Durchbruch in der Interpretation des Untergangs des Romischen Reiches, der Stagnation Spaniens und Frankreichs, der Industrialisierung Englands und Europas und der Nichtindustrialisierung Asiens prasentiert wird, entpuppt sich bei kritischer Betrachtung als eine Problembehandlung historischer Ereignisse und Strukturen, die man in gelaufigen historischen Analysen ahnlich oder besser bearbeitet vorfmdet. Schlimmer noch: In der Regel erweist sich die historische Analyse auf der Basis okonomischer Begrifflichkeiten in vielen Hinsichten als unzureichend. Weder wird die relevante historische Literatur ausreichend rezipiert und diskutiert noch ist erkennbar, dass North und Thomas die historischen Phanomene auf der Hohe des von den Historikern und Soziologen erbrachten Diskussionsstandes behandeln und durchdringen. Die okonomischen Begrifflichkeiten suggerieren eine Theoriescharfe und durchdringende Problemanalyse, die mehr vorgegaukelt als ausreichend demonstriert worden ist. Peinlich deutlich wird das in alien prasentierten, aber letztlich immer nur angerissenen historischen Exempeln, bei der Analyse des Untergangs Roms, der Stagnation Kontinentaleuropas und Asiens und der Industrialisierung Englands. Nirgendwo wird deutlich, dass die neue Okonomie einen eigentlichen Durchbruch verschaffen kann bzw. verschafft hat. Die neue Wirtschaftsgeschichte leidet an einem echten Riss in ihrer Theoriekonstruktion. Denn zum einen mochte sie in Verlangerung der Annahmen der liberalen Wirtschaftstheorie aufzeigen, dass Markte und Eigentum die entscheidende Basis fur okonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt darstellen. Indem sie jedoch die Historizitat dieser Institutionen herausstreicht, geht sie in eine selbst gestellte Falle, in der sie sicherlich dereinst wissenschaftshistorisch verschwinden wird. Ihre Herausstellung des Kausalzusammenhangs von Eigentumsrechten und Wirtschaftsleistung soil aufweisen, dass okonomische Institutionen die Hauptursache fur Armut und Reichtum sind. Benennbare und oko-
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nomisch erklarbare Institutionen konnen - so die These - als die Hauptursachen gesellschaftlicher Entwicklung demonstriert werden. Die Katze beiBt sich jedoch in den eigenen Schwanz, wenn man bedenkt, dass der Verdiinnungsgrad des Eigentums seinerseits okonomisch erklart werden kann, erklart werden soil. Die transaktionskostenanalytische Erklarung der Eigentumsformen impliziert namlich, dass Eigentumsformen in gleicher Weise Ursachen und Wirkungen okonomischer Entwicklung sind. Dann aber verlieren Eigentumsformen den eigentlich zugedachten Status, die ersten Beweger sozialokonomischer Entwicklung zu sein, und werden auf die Rolle von Rtickkoppelungseffekten zurtickgestaucht und eingeschrankt. Der Kausalzusammenhang von Eigentum und Wohlfahrt gewinnt damit einen kausalen Status, den auch die Volksschulbildung, der Schienenverkehr oder der Nationalstaat einnehmen. Die These der neuen Okonomie, unterschiedliche Eigentumsformen hatten die kausal entscheidende und ausschlaggebende Rolle hinsichtlich okonomischer Wohlfahrt inne, zerfallt zu Staub. Aus der Tatsache, dass sicheres Privateigentum Wohlfahrt und Industrialisierung befordert, sogar: diese jenes voraussetzt, kann man eben nicht schlieBen, dass Privateigentum die ausschlaggebende und prozessauslosende Rolle historisch gespielt hat. China, Japan, der Mittelmeerraum und Europa entwickeln sich seit dem Mittelalter gleichermaBen stark. Wirtschaft, Technologic, Handel, Bevolkerung und Kultur nehmen in alien diesen Regionen einen groBen Aufschwung. Eine besondere Funktion der Weichenstellung durch Eigentumsformen ist nicht deutlich zu erkennen. Der groBe Unterschied zwischen Europa und Asien liegt in der Industrialisierung Europas, die nicht auf einer vorgangigen starkeren Entwicklung von Agrarwirtschaft, Handel und Bevolkerung - im Vergleich zu Asien basiert hat. Es ist eher umgekehrt: obwohl sich der gesamte eurasiatische Kulturraum gleichermaBen stark okonomisch, demografisch und kulturell entwickelt, gelingt nur dem europaischen der Sprung in die industrielle Welt. Dies spricht eher gegen eine rein okonomische und eigentumsrechtliche Erklarung der unterschiedlichen Industrieentwicklung der Kulturraume. Schaut man genauer hin, dann stellt man fest, dass der groBe Unterschied zwischen Europa und Asien in der Neuzeit nicht in AusmaB und Struktur von Agrarwirtschaft, Gewerbe, Handel, Bevolkerung und Gesellschaft liegt, sondern in der geistigen Kultur. Das Europa der Aufklarung tiberwindet Mythos und Magie, Animismus und Aberglaube. Das neuzeitliche Europa schafft die Grundlagen der mechanischen Philosophic und der Naturwissenschaften. Diesen Ubergang zum Rationalismus hat Asien nicht mitgemacht, sondern ist bis zum Kulturkontakt mit Europa und darliber hinaus in vorrationalen Denkstrukturen verhaftet geblieben. Die Industrielle Revolution konnte sich in Asien nicht ent-
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wickeln, da Asien die naturwissenschaftliche Revolution des Denkens nicht erfahren hat (Oesterdiekhoff 1997, 2000, 2002). Dies spricht daflir, dass die groBe Kulturdivergenz nicht in erster Linie okonomisch, sondem geistig-kulturell verwurzelt ist. Das aber war schon die These der Klassiker der Soziologie (Comte, Elias und Weber), die von einer Dialektik von sozialokonomischer und geistig-kultureller Entwicklung ausgegangen sind, um die Stagnation Asiens und die Entstehung der Industriemoderne in Europa erklaren zu konnen. Insofern beruht die klassische Soziologie auf der Annahme der Historizitat des menschlichen Subjekts, d. h. auf der Theorie von der geistigen Entwicklung der Kulturmenschheit von einem mehr primitiven zu einem mehr zivilisierten Menschentypus. Wahrend die neue Okonomie an der Auffassung von Rational Man festhalt, hat die klassische Soziologie demgegentiber der Rolle der Entwicklung des menschlichen Geistes gebiihrenden Respekt gezollt und diesen Gesichtspunkt in den Mittelpunkt der Analyse der Entstehung der modernen Welt gestellt. Die Zivilisations-, Rationalisierungs- und Entzauberungsthese der Klassiker von Soziologie und Kulturanthropologie kann man heute erfahrungswissenschaftlich nachweisen und erlautern. Literatur: Borchardt, K., 1985: Die Industrielle Revolution in Deutschland 1750-1914, in: C. Cipolla, K. Borchardt (Hrsg.), Europaische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 4., Stuttgart: Gustav Fischer Verlag (UTB), S. 135-202. Boserup, E., 1965: The Conditions of Agricultural Growth. The Economics of Agrarian Change under Population Pressure, New York: Allen and Unwin. Braudel, F., 2001: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Phihpps II, 3 Bande, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Cipolla, C. (Hrsg.), 1970: The Economic Decline of Empires, London: Methuen. Comte, A., 1907/1911: Soziologie, 3 Bande, Jena: G. Fischer. Deane, P., 1985: Die Industrielle Revolution in GroBbritannien 1700-1880, in: C. Cipolla, K. Borchardt (Hrsg.), Europaische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag (UTB), S. 1-42. Durkheim, E., 1977: Uber die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Elias, N., 1976: Uber den Prozess der Zivilisation, 2 Bande, Frankftirt am Main: Suhrkamp. Elvin, M., 1973: The Pattern of the Chinese Past, London: Eyre Methuen. Elvin, M., 1988: China as a Counterfactual, in: J. Baechler, J. A. Hall, M. Mann (Hrsg.), Europe and the Rise of Capitalism, Oxford: Blackwell, S. 101-112. Fohlen, C , 1985: Die Industrielle Revolution in Frankreich 1700-1914, in: C. Cipolla, K. Borchardt (Hrsg.), Europaische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag (UTB).
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Soziale KontroUe am Rande der Gesellschaft: Polizisten und Prostituierte in Duisburg Thomas Schweer und Natalie Scherer
1 Das Milieu Die Prostitution ist bekannt als das „alteste Gewerbe der Welt". Taglich nehmen nach offiziellen Schatzungen rund eine Million Btirger die Dienstleistungen der insgesamt 400.000 Frauen und Manner wahr, die in diesem Gewerbe tatig sind.^ Die jahrlichen Einnahmen aus der Prostitution werden von der Gesellschaft zur Forderung wissenschaftlicher Studien zur Arbeiterbewegung e.V. (GSA) auf ca. 12,5 Milliarden Mark geschatzt. Von den Prostituierten sind viele Frauen auslandischer Herkunft. Schatzungen gehen dahin, dass zwischen 50 und 75 Prozent der in Deutschland tatigen Prostituierten aus dem Ausland stammen (vgl. Altink 1995: 33; Hirsch 1996: 9; taz 2001: 26), wobei die Mehrzahl von ihnen sich illegal in Deutschland aufhalten soil (3sat 2002; Hirsch 1996: 9)} Allein dieser Umstand macht sie schon zu einer potenziellen Zielgruppe ftir die Polizei. Daruber hinaus verdeutlichen die Zahlen, wie groB in den Reihen der Freier das Interesse an auslandischen Prostituierten ist. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass auch Deutschland eine erhebliche Zahl an Sextouristen stellt (Ackermann 1994: 9 ff.).^ So erfiillt sich mancher Kunde gleich in doppelter Hinsicht den Wunsch nach „etwas Exotischem". Einerseits hat er Sex mit einer anderen Frau, die sich u. U. auch auf Praktiken einlasst, die seine Partnerin nicht bevorzugt, anderer' Die hohe personelle Fluktuation in bestimmten Bereichen der Prostitution macht es unm5glich, genauere Angaben iiber die Anzahl der Prostituierten in bestimmten Bundeslandern oder Stadten vorzulegen (vgl. Lenz et al. 1993: 21). Es ist jedoch davon auszugehen, dass in Regionen mit hoherer Bevolkerungsdichte wie beispielsweise dem Ruhrgebiet auch ein hoherer Bedarf und somit ein groBeres Angebot besteht als in eher landlichen Regionen. Ftir die relativ nahe gelegene Ruhrgebietsstadt Dortmund gibt es Schatzungen von zwischen 500 bis 2.000 Prostituierten (Leopold et al. 1997: 123). Im Gegensatz dazu wird in Hamburg von 4.000 bis 10.000 Prostituierten ausgegangen (ebd.: 67). ^ Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass mehr als 100.000 Prostituierte keine Aufenthaltsgenehmigung haben, "* Was fur die Manner Thailand oder die Dominikanische Republik ist, ist dabei ftir manche Frau Kuba. Machen sich gerade aufgrund des Alters nicht wenige Deutsche im Ausland strafbar, wird auf diesen Aspekt nur am Rande verwiesen, da es doch hauptsachlich um die hiesige Prostitution und entsprechende Gesetzesverstofie gehen soil.
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seits hat er Sex mit einer Frau, die teilweise schon allein aufgrund ihres AuBeren fremdlandisch anmutet/ So erhalt die Aussage: „Appetit liolt man sich drauBen, aber gegessen wird zu Hause!" eine pervertierte neue Bedeutung. Zu den Hauptherkunftsgebieten auslandischer Prostituierten zahlt nach Katins (1999: 29) u.a. der osteuropaische Raum mit Polen, Russland, der Ukraine, Bulgarien, Rumanien und Tschechien.^ Aus Slid- und Mittelamerika sind es vorwiegend Frauen aus Brasilien, Kolumbien und der Dominikanischen Republik, vom afrikanischen Kontinent Frauen aus Ghana und Kenia, die sich in Deutschland prostituieren. Prostituierte aus dem fernen Osten, die in Deutschland arbeiten, stammen vorwiegend aus Thailand und den Philippinen (Brussa 1999). In Duisburg wird Prostitution auf dem StraBenstrich (Parkplatz an der Monning, am Ruhrdeich, in Homberg und auf der B 288), in offentlichen Bordellen (acht Hauser auf der VuikanstraBe) und als Wohnungsprostitution, wozu auch die Clubs gehoren, ausgetibt. Die verschiedenen Etablissements gelten laut Auskunft des Ordnungsamtes Duisburg nur als „geduldet", mit Ausnahme der Bordelle auf der VuikanstraBe. Der StraBenstrich ist fest in der Hand von Russen, Ttirken, Kosovo-Albanern und Jugoslawen. Zurzeit gehen in Duisburg etwa zwischen 500 und 1000 Frauen der Prostitution nach. Die ungenauen Angaben ergeben sich aus unterschiedlichen Berechnungen von Ordnungsamt und Polizeibehorde. Erstere registriert die Frauen, die in offentlich zuganglichen Bereichen tatig sind. Dazu zahlen der StraBenstrich sowie die zahlreichen Clubs und Bordelle, die in verschiedenen Stadtteilen zu finden sind (wie z. B. in Buchholz, Neudorf oder Neumiihl). Die Polizei rechnet Hausbesuche usw. mit ein und kommt so auf etwa 1000 Frauen, die in Duisburg tatig sind. In der Regel wechselt ein GroBteil der Frauen haufig ihren Arbeitsplatz. Im Jargon nenne man das Tingeln, so ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes. In einem neuen Club gelte die Frau zunachst als Frischfleisch und verdiene erst einmal wieder besser, was das Wechseln attraktiv mache. ^ In diesem Zusammenhang ware es jedoch auch interessant, einen weiteren moglichen Erklariingsansatz zu verfolgen, der bislang unerforscht ist. Denn versteht man die Absicht des Kunden als einen Akt der Machtausiibung bzw. als Wunsch, Macht iiber einen anderen Menschen auszuiiben, dann ist dieser gerade gegeniiber auslandischen Prostituierten (etwa aufgrund der Hautfarbe) auch als paradoxer „Versuch" zu verstehen, die eigenen Angste vor dem bzw. den „Fremden" zu bewaltigen. Diese Xenophobie muss nicht zwangslaufig in Auslanderfeindlichkeit miinden, sondern kann etwa auch, wie Elias/Scotson (1990) es beschreiben, zu einer Unterscheidung zwischen „Etablierten und AuBenseitern" fiihren. Diese Tendenz stellt laut den Autoren ein gesamtgesellschaftliches Phanomen dar. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf eine Studie von Helwes (1998), die zeigt, dass Frauenhandel durchaus als Ausdruck mannlichen Herrschaftsanspruchs iiber Frauen zu verstehen ist. ^ Hughes (2000) geht sogar davon aus, dass 87,5 Prozent der nach Deutschland eingeschleusten Frauen aus dem osteuropaischen Raum stammen.
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Unter den Prostituierten befindet sich, wie oben schon erwahnt, ein grofier Anteil auslandischer Frauen. Sie kommen hauptsachlich aus Osteuropa und Afrika. Dariiber hinaus sind auch viele Frauen aus dem benachbarten Ausland in Duisburg tatig. Laut Auskunft einer Prostituierten reisen zumeist am Wochenende Frauen aus den Niederlanden ein, um den ansassigen Prostituierten Konkurrenz zu machen und am lukrativen Wochenendgeschaft teilzuhaben. Besonders auffallend ist, dass bestimmte „Arbeitsplatze" von bestimmten Nationen „besetzt" werden. So findet man am Parkplatz an der Monning hauptsachlich Frauen aus Osteuropa, wahrend in der VulkanstraBe vorwiegend Schwarzafrikanerinnen arbeiten. Der Strafienstrich. Beim Strich ist zunachst einmal zwischen dem Manner- und dem Frauenstrich zu unterscheiden, well beide stets raumlich getrennt sind. Die mannlichen Prostituierten, auch als „Stricher" bekannt, bedienen bis auf wenige Ausnahmen homoerotische Wtinsche, was jedoch eher selten auf deren eigenen sexuellen Praferenzen beruht, und bieten diese meist an einschlagig bekannten Orten wie z. B. Bahnhofshallen an. Dort stehen sie in der Kegel wahrend des Tages und warten allein auf ihre Freier. Weit verbreiteter und bekannter sind hingegen die StraBenstriche der Frauen, die es in etlichen deutschen GroBstadten, so auch in Duisburg, gibt. Die so genannten „Bordsteinschwalben" richten ihre Dienste quasi ausnahmslos an das mannliche Klientel. Die StraBen und Platze, auf denen sie vorzugsweise in den Abendstunden meist in Gruppen flanieren, sind dabei teilweise tiberregional bekannt wie der Parkplatz an der Monning am Duisburger Zoo oder die KaiserstraBe vor dem Frankfurter Hauptbahnhof In manchen deutschen Stadten gibt es auch die so genannten „Sperrbezirke". Diese haben zum Ziel, die StraBenprostitution in festgelegte Randbezirke zu verlagem, wahrend sie im tibrigen Stadtgebiet verboten ist.^ Gerade in den Sperrbezirken ist das Aufstellen von kleinen Wohnwagen verbreitet, worin sich Prostituierte und Kunden zuriickziehen konnen. Andernfalls bieten sich je nach Lage entweder „Stundenhotels" bzw. Pensionen, die Autos der Freier oder auch die „freie Natur" an (vgl. Leopold et al. 1997: 18). Der Strich stellt in der Kegel das unterste Preissegment der Prostitution dar. Aber auch hier gilt es zu differenzieren. So gibt es einerseits den „Armutsstrich", auf dem sich uberwiegend Drogenabhangige anbieten'^, denen es nur noch darum geht, ihre Drogensucht zu finanzieren. Diese ist ihnen auBerlich anzusehen, weshalb sie sich auf die geringsten Preise einlassen mlissen (vgl. ^' Die entsprechenden Gesetzestexte finden sich in §120 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OwiG) und §184a des Strafgesetzbuches (StGB). ^Nach Geifiler-Hehlke/Hitzke (1998) konsumieren diese hauptsachlich Heroin, wobei viele jedoch auch auf weitere Drogen wie Medikamente, Alkohol, Ecstasy und Kokain zuruckgreifen.
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GeiBler-Hehlke/Hitzke 1998). Dieser Umstand verdeutlicht die fmanzielle Misere der siichtigen Prostituierten und deren „Gleichgultigkeit" gegentiber dem eigenen Korper. Bestarkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass sich z. B. etliche Stricher auf Sex mit Mannem einlassen, obwohl sie eigentlich heterosexuell veranlagt sind. Nicht wenige Stricher, auf die dies zutrifft, befmden sich ebenfalls auf der untersten Stufe der Prostitution. Andererseits gibt es den „nonnalen" Strich, der preisHch zwar meist unter den Bordellen und Clubs, aber tiber dem „Armutsstrich" liegt.^ Dort arbeiten vorwiegend altere Frauen sowie die „weniger Attraktiven", sprich diejenigen, die eher nicht dem Durchschnittsgeschmack finanziell potenter Freier entsprechen. Daraus ergibt sich flir diese Art der Prostitution auch eine bestimmte Kundschafl.^ Seitens der Prostituierten ist zu konstatieren, dass sie verschiedenen Ethnien angehoren. Zumeist leben sie in der betreffenden oder einer Nachbarstadt, sind tiber einen langeren Zeitraum dort tatig und demnach wenig mobil. Kowatsch (1991) stellt heraus, dass gerade in Stadten, in denen Sperrbezirke bestehen, die Konkurrenz um den vorhandenen „Platz" groBer ist. Demzufolge ist es im Sinne der Zuhalter, bestimmte StraBen bzw. StraBenabschnitte fiir sich zu „gewinnen", weshalb die dort arbeitenden Frauen auch an den jeweiligen Zuhalter „gebunden" sind. Zwar sind diese selten sichtbar, dennoch oftmals in unmittelbarer Nahe, um die Arbeit ihrer „Madchen" zu uberwachen bzw. diese ggf. vor den Freiem zu beschiitzen. Mit den Strichern haben die Zuhalter bis auf wenige Ausnahmen nichts zu tun, es sei denn, sie „verscheuchen" sie aus ihrem „Revier". Ebenso steht es mit der Armutsprostitution im Allgemeinen, mit der sich nur vereinzelt Zuhalter „abgeben" (vgl. van Galen 1989: 63). Diese bringt zum einen zu wenig Geld ein, zum anderen sind diese Prostituierten aufgrund ihrer Sucht zu unzuverlassig. Bordelle und Clubs. Ob sie nun „BordeH", „Eros-Center" oder „Club" heiBen, hierbei handelt es sich um die Domane der weiblichen Prostituierten. Neben dem Strich sind sie es, woran die meisten Burger beim Thema Prostitution zunachst denken. In den Bordellen und Clubs ist es tiblich, dass meist mehrere Prostituierte gleichzeitig tatig sind, sodass sich dem Freier eine Auswahl bietet,
^ Die Preise auf dem jeweiligen Strich sind festgelegt und differieren nicht zwischen den Frauen, was ggf. tiber Gruppenzwang durchgesetzt wird. So weiB jede Frau, fiir welche Praktiken welche Preise zu verlangen sind (vun der Strooss 1998). Unterschiede gibt es jedoch von Strich zu Strich und von Stadt zu Stadt. ^' Wahrend bloB einzelne auch zu den Besserverdienenden zahlen, die gerade hier das „Verruchte" suchen, besteht die Mehrzahl der Freier aus solchen mit eher geringem Einkommen bzw. aus Arbeitslosen und Sozialhilfeempfdngern.
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wobei die Betreiber darauf achten, dass sie moglichst jeden Geschmack „bedienen-r Die verbreitetste Form stellen einzelne Hauser oder Wohnungen dar. Die Wahl der Freier fallt dort vorzugsweise in einem groBeren Raum, wo Platz fiir alle Damen und ggf. auch fiir eine kleine Empfangsbar ist. Hier wird er zunachst tiber das Angebot und die Preise unterrichtet, bevor sich der Freier mit einer oder mehreren Damen in eines der Separees fiir die vereinbarte Zeit zuriickzieht. Eine andere Bordellart bilden die - fiir erwachsene Frauen und Minderjahrige - abgesperrten StraBen mit den so genannten „Glaskasten". Diese fmden sich aber nur in wenigen deutschen GroBstadten, wobei das bekannteste Beispiel wohl die HerbertstraBe auf St. Pauli sein diirfte. Hier werden die Manner von den Damen dann entweder direkt auf der StraBe oder aus den Fenstem heraus angesprochen.^^ Eine Variante der Clubs sind die Studios. Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich Einrichtungen, die spezielle, aber legale Dienste anbieten. Zu diesen zahlen die so genannten „ErziehungsmaBnahmen" der SM-Szene^^ sowie ausgefallene Rollenspiele, bei denen der Fantasie hinsichtlich der Auswahl der verwendeten Gegenstande und Gerate kaum Grenzen gesetzt sind.^"' Insofern die Studios nicht ein Bestandteil groBerer Bordelle sind, wird dort eher in kleinem Rahmen gearbeitet. Teilweise ist sogar nur eine „Domina" oder „Lady" tatig^"^, die u. U. durch eine „Zofe" oder „Sklavia" erganzt wird.^^ Zwar passen diese Arten der Prostitution unter den Sammelbegriff „Bordelle und Clubs", jedoch zeigt die einfiihrende Beschreibung schon erhebliche Unterschiede. Diese schlagen sich u.a. in der Struktur der „Beschaftigten" nieder. So arbeiten in den klassischen Bordellen vorzugsweise junge Frauen im Alter von 18 bis etwa Anfang 30. Je nach Exklusivitat des Hauses differieren sowohl die Attraktivitat der Frauen als auch die Preise. Die Auswahl ist international und wechselt standig. Geoffnet haben diese Etablissements zu bestimmten Ta"^ Zwar wird der Grofiteil der Kimden ein solches Etablissement nicht iinverrichteter Dinge wieder verlassen, falls er mit dem Angebot nicht unbedingt zufrieden ist, jedoch wird er es sich zwei Mai liberlegen, ob er seinen nachsten „Besuch" nicht einem anderen Haus abstattet. *^ Neben den potenziellen Kunden halten sich hier aber auch die „Sehmanner" auf, auf die die Frauen nicht gut zu sprechen sind, weil diese schon mit der Absicht kommen, sich bloB umzuschauen und kein Geld auszugeben. '^ Die Abkiirzung „SM" steht fiir Sadomasochismus, worunter die „Triebbefriedigung durch Zufligen und Empfangen von Misshandlungen" (Wahrig-Burfeind 1999: 831) verstanden wird. *^Neben „medizinischen Gerate[n] und Peitschen .. fmden ... [sich] auch Kafige, Galgen, Streckbanke und unterschiedlich eingerichtete Erziehungszimmer" (Leopold et al. 1997: 19). ^^ Diese haben das Recht, dem Kunden Befehle zu geben und ihn nach den abgesprochenen „Bediirfiiissen" zu behandeln. Dabei kommt es zu keinem direkten Geschlechtsverkehr. '^ Die Zofe ist ebenfalls den Weisungen der „Herrin" unterstellt, wobei es u.a. ihre Aufgabe ist, den „Sklaven" zu „foltern", aber nach Wunsch mit diesem auch Sex zu haben.
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ges- bzw. Nachtzeiten, fur die mittels Werbung in regionalen Zeitungen oder im Internet geworben wird. Offiziell zumindest ist hier meist die „Puffmutter" verantwortlich, die als Besitzerin eingetragen ist. Sie verlangt von den Prostituierten eine festgelegte „Miete" und verkauft Getranke. Zuhalter sind hier weniger verbreitet, insofem diese nicht die eigentlichen Besitzer sind. Abgestimmt auf die Nachfrage zu bestimmten Zeiten, halt sich in den Bordellen eine unterschiedliche Anzahl an Damen auf. Tendenziell ist zu konstatieren, dass dort geringere „Qualitat" als in den zuvor genannten Etablissements besteht, was sich neben dem „Schichtdienst" auf verschiedene Weise zeigt. So sind kaum jungere deutsche Frauen unter 25 Jahren zu fmden, sondern altere bis Ende 40 tatig. Zudem arbeiten zu den besten Zeiten - nachmittags und in den firtihen Abendstunden - eher die Jiingeren und Attraktiveren. Diese Hierarchie ist ebenfalls bei den auslandischen Frauen feststellbar, wenngleich die Jiingsten unter ihnen teilweise zu den schlechteren Zeiten arbeiten mtissen. Auch hier haben die Frauen eine bestimmte Miete zu bezahlen, diese gilt es jedoch fiir jeden Tag des Monats aufzubringen, ob gearbeitet wird oder nicht. ^^ Zudem haben nicht wenige einen Zuhalter, den sie auch noch bezahlen mtissen, der sie u. U. immer wieder in andere Stadte schickt oder an einen anderen Zuhalter „verkauft" (vgl. GSA 1999). Und schlieBlich sind die hygienischen Zustande schlecht, was sich nicht nur in den Gebauden, sondern auch in den benachbarten StraBen (z. B. durch Unrat) bemerkbar macht. Die Dominas rekrutieren sich groBtenteils aus ehemaligen „normalen" deutschen Prostituierten. Der Wechsel in dieses Fach stellt bei ihnen eine rationale Entscheidung vor dem Hintergrund ihrer Zukunftsperspektiven dar. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters wird es fur sie immer schwerer, gegen die junge Konkurrenz anzukommen. Der Schritt in dieses Spezialfach birgt zudem den Vorteil, dass sie nicht langer selbst sexuell aktiv werden mtissen. Das heiBt jedoch nicht, dass diese Tatigkeit nicht mit einem entsprechenden Arbeitsaufwand verbunden ist. Zum einen haben sie zunachst die verschiedenen Praktiken zu erlernen, was unbedingt erforderlich ist, um einen Kundenstamm aufzubauen.'^ Zum anderen, und das wiegt weitaus schwerer, ist dieser Job mit enormen psychischen Beanspruchungen verbunden. Wahrend sie sozusagen in die „Abgrtinde" mancher menschlichen Seele blicken, laufen sie Gefahr, allmahlich Diese liegt nach Angaben der GSA (1999) bei 75 Euro aiifwarts. Im Frankfurter Bahnhofsviertel betragen diese laut Lipka (1998) rund 125 Euro. Dem stehen Einnahmen von rund 40 bis 80 Euro fiir „normalen" Geschlechtsverkehr pro Kunde gegentiber, wovon ggf. noch der Anteil des Zuhalters abgeht. So wird davon ausgegangen, dass Einkiinfte von mehr als 1.500 Euro monatlich die Ausnahme sind. An anderer Stelle (3sat 2002) wird sogar bloB ein „durchschnittliches Monatseinkommen ... von 1.000 Euro - brutto" veranschlagt. ^^ Ein solcher ist in diesem Metier aufgrund der Exklusivitat des Angebots und der geringeren Mobilitat der Dominas wichtiger als in anderen Bereichen.
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nicht nur gegentiber ihren Kunden, sondern auch gegenliber Menschen im Allgemeinen abzustumpfen. Ahnliches gilt ftir die Zofen, bei denen es sich teilweise um „Auszubildende" erfahrener Dominas handelt. Uber Kontakte zu Zuhaltern ist wenig bekannt, es ist jedoch davon auszugehen, dass diese in diesem Bereich eher eine Ausnahme sind. Die Kundschaft aller drei vorgestellten Formen ist nicht naher einzugrenzen, da die Freier aus alien Alters-, Bildungs- sowie Einkommensgruppen kommen. Wahrend Einzeladressen tiber die ganze Stadt verteilt sind, befmden sich z. B. in Duisburg-Hochfeld auf der VulkanstraBe einige Hauser, die komplett der Prostitution dienen. In diese kann der Freier gehen, wobei die Frauen vor den Zimmerttiren ihre Kunden erwarten. Hygienischer Zustand, Bausubstanz sowie Attraktivitat der Frauen sind hier jedoch als unteres Niveau zu bezeichnen und nicht mit denen in den „Glaskasten" anderer (auch Ruhrgebiets-) Stadte vergleichbar.^^ Die Bars. Wenngleich unter diesem Begriff auch eine durchschnittliche Kneipe verstanden werden kann, so dient er doch auch als Spezialbezeichnung im Rotlichtmilieu. Gekennzeichnet ist die Bar auBerlich zunachst dadurch, dass man nicht nach innen schauen kann, weshalb teilweise durch gezielte Werbung auf „auBergewohnliche" Angebote wie Tabledance aufmerksam gemacht wird. ErwartungsgemaB befmdet sich im Innenraum eine Theke, jedoch sind die Bedienung und die weiteren anwesenden Damen meist bereits nur in Dessous bzw. Badebekleidung gehtillt. Die Moglichkeiten des Gastes bestehen nun darin, sich mit einer oder mehreren Damen gleichzeitig zu unterhalten, wobei erwartet wird, dass er diesen ein Getrank (vorzugsweise Sekt oder Champagner) spendiert. Filr dies allein wird bereits ein nicht geringer Preis berechnet. Ist hier auch „normale" Konversation moglich, so ist es doch das primare Ziel, dass sich der Kunde mit mindestens einer der Frauen im Verlaufe seines Aufenthalts in einen der Hinterraume zurtickzieht. Dies ist jedoch kein Zwang, allerdings setzen die Frauen alles daran, den Gast zu tiberreden, da sich hiertiber hauptsachlich ihr Verdienst definiert. Auch in den Bars sind ausschlieBlich Frauen tatig. Diese und das Ambiente der Bar konnen stark differieren, sind jedoch haufig auf durchaus hohem Niveau angesiedelt. SchlieBlich geht es darum, den Kunden auch tiber ein Getrank hinaus in der Bar zu halten. Die Damen haben dort eine Raummiete zu zahlen, die aber nur fiir den jeweiligen Arbeitstag fallig ist. Einen Zuhalter haben sie eher selten und sie arbeiten vorzugsweise in einer Stadt nahe ihres Wohnortes.^^ Die Gaste kommen ebenfalls aus alien sozialen Schichten. '^ In unmittelbarer Nahe von Duisburg finden sich etwa die StahlstraBe in Essen und die FlasshoffstraBe in Oberhausen, bei denen es sich um renommiertere StraBen handelt. ^'^ Dies dient dazu, in der eigenen Stadt eher nicht als Prostituierte erkannt zu werden.
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Wohnungsprostitution. Diese Form der Prostitution ist nicht mit der Prostitution in Bordellen bzw. Clubs zu verwechseln, die teilweise auch in Wolinungen angesiedelt sind. Bei der klassischen Wohnungsprostitution arbeiten die Frauen bis auf wenige Ausnahmen alleine. Das schlieBt auch ein, dass sie einzeln flir sich werben, wahrend die Bordelle dies meist fur das gesamte Haus tun.^° Bei der Wohnungsprostitution gibt es einerseits die „private" Arbeit, andererseits die „professionelle". So sind auch Hausfrauen und Studentinnen als Prostituierte tatig, die fiir sich werben, wobei sie die Freier entweder im eigenen „Heim" oder in einer speziell dafiir angemieteten Wohnung empfangen. Diese Frauen stehen fast ausnahmslos nicht in Verbindung mit Zuhaltern und arbeiten nur an manchen Tagen bzw. an einem Tag in der Woche. Mannliche Prostituierte sind in diesem Bereich kaum tatig, da sie vorwiegend Hausbesuche durchfuhren. Anders sieht es hingegen bei der iiblichen Wohnungsprostitution aus. Diese liegt tiberwiegend in den Handen von Zuhaltern, wobei zwischen legalen und illegalen auslandischen Prostituierten zu unterscheiden ist. Die Wohnungsprostitution ist als die Hauptform der illegalen Prostitution in Deutschland zu bezeichnen (Katins 1999: 33; Pohlmann 2001), da diese in weitaus geringerem MaBe (als die anderen Formen) der Kontrolle durch die Polizei unterliegt. Da den Illegalen die Abschiebung droht, sind die Zuhalter verstandlicherweise nicht an deren Entdeckung interessiert, weshalb sie sich bei ihnen groBere Miihe geben, sie vor der Polizei zu verbergen. Zu diesem Zweck arbeiten sie nicht nur in den Wohnungen, wo meist die „Legalen" tatig sind, wobei sie standig die Standorte und auch Stadte wechseln, sondern sie werden auch in Wohnungen eingesetzt, die sonst zu weiteren „Geschaften" der Zuhalter dienen. Ferner werden immer wieder Wohnungen liber Dritte, angeblich zu Wohnzwecken, angemietet, um nach einer Weile wieder aufgegeben zu werden. Zwar wird fiir die Illegalen oftmals auch „offentlich" geworben, jedoch stellen mangelnde Ressourcen und fehlendes Personal seitens der Polizei weitere Hurden der Verfolgung dar. Fiir die Prostitution auslandischer Frauen lassen sich verschiedene Griinde ausmachen. Dabei liegt die Hauptunterscheidung zwischen der freiwilligen und der erzwungenen Prostitution. Zur freiwilligen entscheiden sich manche Frauen erst in Deutschland, manche schon vor der Ausreise. Die Ursache fiir die Ausreise liegt aber in beiden Fallen i. d. R. in den schlechten wirtschaftlichen Verhaltnissen der Herkunftslander. Wird die Absicht zur Prostitution bereits vor der ^" Die Werbung der Wohnungsprostitiiierten erfolgt vorwiegend liber regionale Zeitungen, etwa in den Abschnitten „Kontaktanzeigen" oder „Nebenjobs." Solche Werbung bestelit i. d. R. aus wenigen Zeilen und enthalt beispielsweise den „Namen" sowie Alter, Herkunft, Haarfarbe, Gewicht oder BH-Gro6e, Arbeitszeit und die Telefonnummer. Um sich potenzielle Kunden nicht entgehen zu lassen, nutzen auch vermehrt Bordelle diese Moglichkeit und werben einzeln ftir ihre Damen.
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Ausreise gefasst, dann waren die Frauen entweder schon dort Prostituierte oder sie sahen darin die beste Chance, um schnell Geld zu verdienen. Dabei geht es meist um den Wunsch nach materieller Besserstellung bzw. die Prostitution dient der Versorgung der in der Heimat verbleibenden Familie (vgl. Henning 1997). Fallt der Entschluss zur Prostitution erst in Deutschland, dann nicht selten aufgrund von Bildungs- und Ausbildungsdefiziten sowie Sprachproblemen, die die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verringem. Falsche Versprechen oder Vorstellungen sowie die empfundene Ausweglosigkeit „flihren" in dieser Lage manche Frauen in die Prostitution. Opfer erzwungener Prostitution werden vorwiegend Frauen ohne Aufenthaltserlaubnis.^^ Angeboten wird in den Wohnungen hauptsachlich „Normalsex"^^, wobei die Damen in ihrer Werbung schon teilweise indirekt auf ihre Dienste hinweisen.^^ Das Ambiente ist sehr unterschiedlich und reicht von hauslicher und wohnlicher Atmosphare liber passabel eingerichtete Wohneinheiten bis hin zu eher elenden Unterktinften, wenn es sich um die zeitlich begrenzten „Arbeitsstellen" Illegaler handelt, bei denen haufig wiederkehrende Kontakte mit einem Freier nicht beabsichtigt sind. Da die Preise denen der Bordelle gleichen, fmdet sich hier auch eine ahnliche Kundschaft.^"^ Hausbesuche. Wie der Name schon sagt, besteht das Prinzip darin, dass der Freier aufgesucht wird.^^ Das aber nicht nur zu Hause, sondern auch in Hotels sowie im Btiro bzw. am Arbeitsplatz. Entscheidend ist, dass es sich um eine feste Adresse mit Telefonanschluss handelt. Die tibliche Kontaktaufiiahme erfolgt liber den Freier, der liber eine Telefonnummer verfiigt, die er aus einer Zeitung, Zeitschrift, dem Internet oder sonstiger Werbung erfahrt. Ruft der Freier diesen Anschluss an, erhalt er weitere Informationen hinsichtlich der personlichen Kontaktaufnahme und kann gegebenenfalls direkt einen Termin vereinbaren. Allerdings muss der Freier wahrend des Gesprachs seine Telefonnummer hinterlassen, da er anschlieBend zurlickgerufen wird, um eine groBere Sicherheit auf Anbieterseite zu gewahrleisten. Die vereinbarte Bezahlung erfolgt dann direkt nach Ankunft vor Ort, woraufhin i. d. ^^ Im weiteren Verlauf wird sowohl naher auf die erzwungene Prostitution als auch auf den damit teilweise verbundenen Frauenhandel eingegangen. "^ Also kaum SM und wenn, dann nur in „soften" Varianten, etwa iiber „Fesselspiele" mit Seil oder Handschellen. ^^ So bezeichnen sich manche als „tabulos", womit gemeint ist, dass sie neben Oral- auch Analverkehr durchfiihren, wahrend „fast tabulos" nur auf erstere Variante bezogen ist. "^ Weil hier jedoch nur zu einer Person Kontakt besteht, lieBe sich vermuten, dass manche Freier sich hiervon groBere Anonymitat versprechen. ^"' Damit sind dann die gangigen Formen allesamt behandelt. Zwar soil die Minderjahrigenprostitution nicht auBen vor bleiben, da diese jedoch vollkommen illegal ist, wird sie erst im folgenden Kapitel behandelt, wenn es um die Kriminalitat im Zusammenhang mit Prostitution geht.
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R. eine Kontaktperson oder die „Vermittlungsstelie" kontaktiert wird. Diese ruft dann nach „bezahlter" Zeit wieder an, woraufhin der Kunde verlangern kann oder der Kontakt endet (vgl. Kowatsch 1991).^^ Da der Freier auch die Hin- und Rtickfahrt zu bezahlen hat, handelt es sich hierbei um das hohere Preissegment, sodass es sich bei den Kunden ublicherweise um Besserverdienende handelt. Die „Einstiegspreise" in diesem Segment gleichen in etwa denen der Bordelle, wobei diese mit Exklusivitat der Dienstleistung und Niveau bzw. Attraktivitat der Frauen steigen. Nach dem beschriebenen Schema arbeiten nicht nur einzelne Prostituierte, sondem auch mancher Begleitservice. Hier ist jedoch zu trennen zwischen Unternehmen, die hauptsachlich erotische respektive sexuelle Dienste anbieten und solchen, die diese grundsatzlich ausschlieBen.^^ Gerade die so genannten Edelprostituierten setzen auf Hausbesuche, wobei sie teilweise uber Agenturen in Netzwerke eingebunden sind, haufiger aber freischaffend agieren. Hausfrauen und Studentinnen sind nicht nur in der Wohnungsprostitution tatig, sondern nutzen auch diesen Weg, um ihre Kundschaft und ihre Einkommensmoglichkeiten auszuweiten. Aber auch die Mitarbeiterinnen von Bordelien sowie Dominas haben das lukrative Geschaft entdeckt, sodass sie wahrend oder auBerhalb ihrer offiziellen Arbeitszeit durchaus auch Hausbesuche machen. In diesem Bereich fmden sich auch mannliche Prostituierte, die so genannten Callboys. Da die Hausprostitution auf einem hoheren Niveau stattfmdet, gibt es auch solche Callboys, die sich in ihrer Werbung speziell Frauen anbieten.^^ Zwar sind die mannlichen Prostituierten in der Minderheit, aber dennoch prasent. 2 Prostitution - Zwischen tabuisierter Tatigkeit und Kriminalitat Bei der Prostitution handelt es sich um einen Beruf in einer Grauzone zwischen Legalitat und lUegalitat. Zum einen ist in diesem Zusammenhang der Drogenkonsum zu nennen. Zwar sind an der reinen Beschaffungsprostitution nur relativ wenige Frauen beteiligt^^, jedoch stehen auch nicht wenige der ubrigen mit diesen in Kontakt. Diese Kontakte mtissen aber nicht unbedingt in eigenem Konsum bestehen."^^ So sind Prostituierte u. U. auch am Handel sowie am Im^^^Dieser Rtickruf dient zur zusatzlichen Sicherheit auf Prostituiertenseite. ^^ Ferner gibt es solche, die dies ihren Mitarbeiterinnen freistellen. ^^ Was nicht ausschlieBt, dass sie sich u. U. tlber weitere Anzeigen auch MSnnern offerieren. ^'^ Einer australischen Studie zufolge (Perkins 1991) sind etwa zehn bis 15 Prozent der Prostituierten der Beschaffungsprostitution zuzurechnen. ""' Prostituierte gelten jedoch als eine Berufsgruppe, die tendenziell eher zum Drogenkonsum neigt als andere. Griinde hierfiir werden sowohl in den erheblichen sowohl psychischen als auch physischen Belastungen gesehen, denen Prostituierte infolge ihrer Tatigkeit ausgesetzt sind (vgl. Girtler 1985: 59ff.). Zum Ausmafi des Konsums wahrend der Arbeit legt Vanwesenbeeck (1994: 88) folgende Zahlen vor: Rund 26 Prozent der von ihr Befragten nahmen „harte" Drogen zu sich, wahrend
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port^^ illegaler Drogen beteiligt. Zum anderen fallen Prostituierte infolge von Diebstahlsdelikten auf. Neben dem Bestehlen der Freier (Beischlafdiebstahl) beklauen sie durchaus auch Geschafte.^^ Zur Geldbeschaffung, etwa zur Finanzierung des Drogenkonsums, dient aber auch die Hehlerei. Altere Prostituierte, die schon langer im Geschaft sind und in Vertretung bzw. selbststandig ein Bordell leiten, konnen sich zudem der Ausbeutung von Prostituierten sowie der Zuhalterei strafbar machen. Des Weiteren verhalten sich Prostituierte kriminell, indem sie nicht selten zur Strafvereitelung beitragen. Denn indem sie Zuhalter, Schlepper bzw. Menschenhandler und Forderer von Minderjahrigenprostitution nicht anzeigen, verhindem sie deren strafrechtliche Verfolgung. Ein weiteres Vergehen, das jedoch selten verfolgt wird, ist die Steuerhinterziehung. Dieses Delikt lieB sich bislang schlecht nachweisen, da sich die Steuerbeamten auf die Angaben der Prostituierten verlassen mussten und in der Vergangenheit kaum Moglichkeiten zur Kontrolle der tatsachlichen Einnahmen bestanden. Daran konnte sich aufgrund der neuen Gesetze zumindest in Hinsicht auf angestellte, also sozialversicherte Prostituierte etwas andern, zu denen ktinftig mehr Informationen zur Verfugung stehen. Selbstverstandlich treten Prostituierte zudem in alien weiteren Deliktfeldern auf, in denen Mitglieder der Bevolkerung auffallen konnen. Jedoch stehen diese dann weniger in Zusammenhang mit ihrer Tatigkeit.^^
44 Prozent von Alkoholkonsum berichteten. Die Drogen dienen dann der kiinstlichen Stimmungssteigerung, dem Ablegen von Hemmungen, dem Aufwerten des Selbstbewusstseins, der Betaubung korperlicher Empfmdungen sowie Sensibilitat etc. (Sliaw Crouse 1999). Als weitere Ursachen nennt Perkins (1991) Langeweile, Frustration, mangelnde Chancen in der sonstigen Berufswelt und den Gruppendruck. In seiner Untersuchung stellt er zudem heraus, dass i. d. R. nicht die Finanzierung des Drogenkonsums der Grund fiir den Einstieg in die Prostitution war, vielmehr entwickelt sich das Konsumverhalten meist erst nach dem Einstieg ins Gewerbe. Da die Prostitution im Falle Abhangiger einen der wenigen Wege darstellt, um einen regelmaBigen Konsum zu fmanzieren, fallt es umso schwerer, diese Tatigkeit wieder aufzugeben. '' Die Einfuhr von illegalen Substanzen bietet sich gerade bei auslandischen Prostituierten an, wenn sie nach Deutschland bzw. Europa kommen, aber auch dann, wenn sie aufgrund der hohen Mobilitat, die ihnen meist von den Zuhaltern auferlegt wird, nicht nur zwischen einzelnen Stadten hin- und herreisen, sondern auch zwischen verschiedenen Landern. So berichten etwa Eritt/Meister (1996) von einem regen Transit der Prostituierten im „Dreilandereck Holland, Luxemburg, Deutschland", wovon aufgrund seiner relativen raumlichen Nahe zu diesen Landern auch das Ruhrgebiet respektive Duisburg betroffen sein dtirfte. ^^ Die Perkins-Studie (1991) ergab hierzu, dass 13,8 jugendlicher sowie 12,4 Prozent erwachsener Prostituierter schon einmal wegen Diebstahls auffallig wurden. " Konflikte unter Prostituierten etwa werden nach Moglichkeit verbal ausgetragen, da korperliche Auseinandersetzungen schlecht furs Geschaft waren, sodass sie „berufsbedingt" eher nicht wegen „Korperverletzung" vor dem Gesetz in Erscheinung treten (vgl. vun der Strooss 1998).
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Bei der Minderjahrigenprostitution, die in Deutschland verboten ist, treten die Madchen bzw. jungen Frauen sowohl als Opfer als auch als Tater auf. Opfer sind sie dann, wenn sie etwa mittels „psychischer und physischer Gewalt zur Aufiiahme der Prostitution gezwungen werden und sich dieser nicht widersetzen oder entziehen konnen" (GeiBler-Hehlke/Hitzke 1998). Hierzu zahlen nicht nur illegal in Deutschland lebende, sondem auch deutsche Madchen. Neben dem Zwang gibt es aber auch das „Hineinreden" und den freiwilligen Einstieg. So entsteht bei manchen jungen Frauen aufgrund geringer beruflicher Perspektiven die Bereitschaft, sich zu prostituieren, wahrend andere infolge mangelnder Lebenserfahrung und Gutglaubigkeit den Schritt in die Prostitution wagen. Uberdies werden Defizite im emotionalen Bereich angefiihrt, die zur Folge haben, dass sich die Madchen an Gruppen oder Einzelpersonen (meist Zuhalter) „wenden", deren Zuneigung sie sich quasi liber den eingenommenen Liebeslohn erkaufen wollen, was diese wiederum bewusst ausnutzen. Eine weitere Ursache iasst sich im Konsumverhalten ausmachen. Zu nennen ist einerseits der Drogenkonsum, andererseits jedoch auch der Wunsch nach (Marken-)Kleidung und weiteren Luxusartikeln. Letzteres Motiv gilt auch fiir Madchen aus durchaus behtiteten Elternhausem, denen einfach das Geld fehlt, am Konsum der Gleichaltrigen teilzunehmen (ebd.). Aber nicht nur minderjahrige, sondern auch erwachsene Prostituierte konnen Opfer werden. Zur Prostitution selbst werden haufig auslandische Frauen ohne gultige Aufenthaltserlaubnis gezwungen und nicht selten zu diesem Zweck nach Europa verschleppt. Laut Sachverstandigen im Familien- und Frauenauschuss des Parlaments in Bonn sind davon jahrlich rund eine halbe Million Frauen betroffen (vgl. Frauennews 2000). Die auslandischen Frauen werden jedoch nicht allesamt verschleppt, sondern zu erheblichen Teilen auch mit falschen Versprechen, etwa Arbeit oder Heirat, nach Deutschland gelockt. Manche wissen im voraus um ihre kunftige Tatigkeit, jedoch nicht um die sie erwartenden Arbeitsbedingungen (s. dazu Eritt/Meister 1996; Henning 1997; Hughes 2000).^"^ Diese beschreibt Detlef Ubben vom LKA Hamburg wie folgt: „Wir haben festgestellt, dass die Frauen in Schichten arbeiten mtissen. Sie werden permanent tiberwacht und beobachtet. Es wird ihnen knallhart vorgeschrieben, wie sie was zu tun haben, wie viel Geld fiir was sie verlangen mtissen, welche Sexualpraktiken sie austiben sollen. Am Schluss aber bleibt ihnen kein Geld tibrig, da sie alles an Zuhalter abgeben mtissen" (Pohlmann 2001). Weiter flihrt er aus, dass in den Herkunftslandern „internationale Banden ... am Werk [sind] ..., [die] Frauen quasi .. besorgen. 500 bis ^'^ Die, denen ihre Tatigkeit bereits im voraus bekannt ist, stellen sich darunter durchaus ein Leben wie in dem Film „Pretty Woman" vor (Hughes 2000).
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3.000 Mark pro Frau werden da bezahlt"/^ Gerade seit dem Fall des „eisernen Vorhangs" boomt der „Handel" in und aus Mittel- und Osteuropa, wahrend zuvor eher Asiatinnen sowie Mittel- und Sudamerikanerinnen den Markt bestimmten. Eine weitere Praxis der „Anwerbung" besteht darin, dass Frauen, die liier illegal als Prostituierte tatig sind, beauftragt bzw. dazu gezwungen werden, andere in den Herkunftslandem zu rekrutieren. Als Gegenleistung wird ihnen angeboten, nicht langer in der Prostitution tatig sein zu miissen, womit sie sozusagen von Opfern zu Mittatern gemacht werden. Dazu kommt es jedoch erst, nachdem sie ihren „Preis" dem Zuhalter mehrfach wieder eingebracht haben und/oder quasi nicht mehr „arbeiten" konnen (Hughes 2000). Befmden sich die Frauen erst einmal in den Handen der Zuhalter, dann sind sie deren „Besitz""^^, mit dem diese machen, was sie wollen, u. U. auch handeln wie mit einer Ware. Denn nach Ankunft im „Bestimmungsland" haben sie bereits Schulden, die sie abzubezahlen haben. Solange sie das nicht konnen, „gehoren" sie dem Zuhalter (vgl. Lenz et al. 1993: 31)."^^ Sie haben zunachst einmal Schulden fiir die Vermittlung und die Reise, hinzu kommen die hiesigen Lebenshaltungskosten^^, die so hoch sind, dass ihre Schulden immer groBer werden, denn „kaufen" diirfen sie nur bei ihrem Zuhalter (Eritt/Meister 1996). Zur Arbeit gezwungen und festgehalten werden sie sowohl mittels physischer als auch psychischer Gewalt. Dazu zahlen neben „Einsperren" und Schlagen Vergewaltigungen und Drohungen.^^ Gerade aus dem Bereich der illegalen Prostitution wird davon berichtet, dass es zu Verstiimmelungen sowie Morden kommt, um die ixbrigen Frauen einzuschtichtern (Hughes 2000). Gewalt ist im Rotlichtmilieu durchweg liblich. So werden nicht nur die „illegalen", sondern auch die „legalen" Prostituierten, die weitestgehend freiwillig arbeiten, durchaus Opfer von Gewalt. Diese dient dann der Aufrechterhaltung des Respekts gegen^ Shaw Grouse (1999) berichtet, dass fiir rund 16.000 Dollar asiatische Madchen nach Amerika „verkaiift" werden. ^^' Dieses Besitzverhaltnis zeigt sich auch darin, dass die Zuhalter ihnen Ausweise und Papiere entwenden, ohne die sie sich nicht ausweisen konnen (Hughes 2000). ^^ Da es notig ist, dass diese Frauen oftmals die Aufenthaltsorte wechseln, damit sie nicht gefunden werden, kommt es teilweise auch zum Verkauf an andere Zuhalter. Bei diesen haben sie erneut ihren „Kaufpreis" abzuarbeiten (vgl. Lipka 1998). "'^ Bezahlen mussen sie fiir den „Arbeitsplatz", etwa im Bordell, die Unterkunft sowie die Verpflegung, die Kondome etc. "''^ Eritt/Meister (1996) fiihren hierzu zwei Beispiele an. Im ersten Fall wurde eine Frau in einen Wald gefahren, wo man ihr eine Pistole an den Kopf hielt und abdriickte. Die Pistole war in diesem Falle nicht geladen, allerdings wurde gedroht, dass dies bei der nachsten Zuwiderhandlung der Fall sein wUrde. Im zweiten Fall wurde auf das hohe Schamgefiihl in den Landern des Ostblocks Bezug genommen. So wurden Frauen damit erpresst, dass man ihnen androhte, ihre Familien mittels Filmaufnahmen uber deren wahre Tatigkeit aufzuklaren.
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iiber den Zuhaltern, die eine extrem patriarchalische Rolle innehaben und diese mit Machtaustibungen demonstrieren bzw. verteidigen. Der Menschenhandel ist nicht nur ein schwer defmierbares, sondern auch ein schwer nachweisbares Vergehen. Ursache hierfur ist groBtenteils die Angst der Opfer. Denn bei einer Aussage miissen die Frauen beftirchten, nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Angehorigen in Gefahr zu bringen. Zudem nutzt ihnen selbst eine Verurteilung wenig, da sie nach Prozess-Ende abgeschoben werden. Lautet die Anklage jedoch nicht auf Menschenhandel, dann werden die Frauen sogar schon vor dem Prozess ausgewiesen. Dabei kann sich das Verfahren uber ein paar Jahre hinziehen, in denen den Frauen bloB der Sozialhilfemindestsatz zusteht, was auch wenig verlockend ist. Zudem ist das Vertrauen der Frauen in die Polizei und die Justiz durch eigene Erfahrungen bzw. die Situation in den Herkunftslandem ohnehin eher gering, was einer Kooperation entgegensteht."^^ Obendrein bestarken die Zuhalter die Frauen in dem Glauben, bei Entdeckung durch die Polizei z. B. wegen des Besitzes gefalschter Papiere mehrjahrige Gefangnisstrafen verbtiBen zu miissen, was die Frauen wiederum weiter einschuchtert. Der Verfolgung des Menschenhandels, die oft intensive und langwierige verdeckte Ermittlungen benotigt, steht aber auch ein zu konstatierender Personal- und Ressourcenmangel seitens der Polizei entgegen (Heine-Wiedenmann et al. 1992: 341; Lenz et al. 1993: 81).^^ BuBmann (1998) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Anfang der neunziger Jahre ein Abschiebeschutzerlass vom Innenministerium in NRW verfasst wurde, der dem Menschenhandel entgegenwirken soil. Darin wurde festgelegt, dass „Frauen, die als Opfer in Betracht kommen, in jedem Fall dazu zu befragen sind und iiber die Moglichkeit der Betreuung und Unterstiitzung durch Beratungsstellen zu informieren sind". Zudem wird ihnen eine vierwochige fi-eiwillige Ausreisefrist zugesprochen, insofern sie nicht aussagen wollen. Sind sie jedoch dazu bereit, dann werden sie bis zum Abschluss des Verfahrens, sprich bis zur endgiiltigen Abschiebung, betreut und ggf. in Zeugenschutzprogrammen untergebracht. BuBmann (ebd.) weist aus ihrer praktischen Erfahrung jedoch darauf hin, dass letztere Moglichkeit nur sehr selten angewendet wird. Sie gibt jedoch auch einige praktische Ratschlage ftir ein moglichst positives **" Lenz et al. (1993: 32) ftihren als Beispiele Vergewaltigungen und Raiib an. Sie verweisen aber auch auf tatsachliche Missstande in Deutschland. So erwahnen sie „Verstrickungen zwischen Ermittlungs- und Kontrollbehorden und den Betreibern des Frauenhandels" (ebd.: 84), die dem LKA NRW durchaus aus dem gesamten Bereich der organisierten Kriminalitat bekannt sind. Ursachen hierfiir sind neben Korruption und Erpressung informelle Absprachen. "^^ Als zumindest notig erachten Lenz et al. (1993: 82f.) sowohl Fortbildungen zum „sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund des Frauenhandels" als auch einen „Austausch zwischen zustandigen behordlichen Stellen" sowie die „Kontaktaufnahme und evtl. Kooperation mit spezifischen Aktionsgruppen und Beratungsstellen", um bestehende Wissensdefizite seitens der Beamten auszugleichen.
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Verhaltnis zwischen der Polizei und den Frauen. So sollen einerseits „sensibilisierte Beamte ... [die] Opferbefindlichkeit im Blick haben und die spezifische Zwangs- und Notsituation der Frau zu erkennen wissen." Andererseits haben sie den Frauen zu vermitteln, dass sie diese vor den „Tatern" schiitzen (konnen) und dass sie sie nicht zu einer sofortigen Aussage drangen woUen. Um eine vertrauensvolle Basis zu schaffen, die anschlieBend auch eher zur Anzeigebereitschaft fiihrt, sind die Frauen selbst in Zusammenarbeit mit Fachberatungsstellen. Es ist auf ihre Bediirfnisse und Angste einzugehen, sodass sie wieder zu sich kommen und Ruhe finden konnen. Zum Verhaltnis zwischen Polizei und Prostituierten merken GeiBlerHehlke/Hitzke (1998) speziell in Bezug auf Beschaffungsprostituierte an, dass diese Vergewaltigungen und Misshandlungen eher nicht melden, da sie davon ausgehen, dass man ihnen keinen Glauben schenkt. Zudem wissen sie um ihr eigenes kriminelles Verhalten etwa in Bezug auf ihren Drogenkonsum und sind deshalb zusatzlich weniger an Begegnungen mit der PoHzei interessiert (van Galen 1989: 65). Zu Opfern konnen die Prostituierten aber auch gegentiber ihren Freiem werden. Wahrend die neue Gesetzgebung zu verhindem sucht, dass die Kunden die Prostituierten um ihren Lohn betrligen, andert sie nichts daran, dass die Freier auch (meist physische) Gewalt ausliben. Diese kann etwa dazu dienen, der Frau nach Bezahlung das Geld wieder abzunehmen oder tiber Vergewaltigungen ungewollten bzw. unbezahlten Sex zu erzwingen. Neben Schlagen werden die Frauen auch mit Waffen bedroht. GeiBler-Hehlke/Hitzke (1998) beschreiben diesbeziiglich, wie gerade die durch ihren Drogenkonsum oder Erkranl<:ungen geschwachten Beschaffungsprostituierten nicht selten Opfer solcher Gewalttaten werden. Teilweise dient die Gewalt auch der bloBen Demtitigung. Aber auch Frauen, die nicht zur Finanzierung ihres Drogenkonsums auf den Strich gehen, sind einem hoheren Risiko ausgesetzt als etwa die Frauen in den Bordellen. So wissen die Prostituierten dort, dass sie au:^assen mtissen, zu wem sie ins Auto steigen. Das lemen sie jedoch meist erst im Laufe der Zeit tiber eigene negative Erfahrungen. Die Grundregel lautet: „[N]ie in ein Auto steigen, in dem mehr als ein potenzieller Kunde sitzt" (vun der Strooss 1998). 3 Die Arbeit der Polizei aus Sicht von Prostituierten Anke stieg vor etwa vier Jahren aus der Prostitution aus. Der Grund war, dass ihre Tochter mit 15 Jahren ein Kind bekommen hatte und Anke als GroBmutter erzieherische Pflichten iibernehmen wollte. Wahrend ihres Ausstiegs wurde sie zur Alkoholikerin. Ihr libermaBiger Alkoholkonsum machte sie aggressiv, was dazu fxihrte, dass sie, wenn sie heute von Mannern angesprochen wird, auf diese
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einschlagt. Deshalb hat sie zurzeit eine Bewahrungsstrafe wegen Korperverletzung zu verbtiBen. Sie beklagte, dass der Ausstieg fiir Prostituierte sehr schwierig sei. Die Hilfe von den zustandigen Amtern lasse zu wtinschen ubrig. Die Frauen stunden relativ alleine mit dem Aufbau einer neuen Existenz da, denn die Frauen sehen sich mit der Problematik konfrontiert, plotzlich mit viel weniger Geld auskommen zu mtissen. Anke hatte beispielsweise ein sehr hohes Einl<:ommen (bis zu 250 Euro pro Freier). Heute verdingt sie sich als Putzhilfe, um ein einigermaBen „normales" Leben fiihren zu konnen. An manchen Tagen versptirt sie den starken Drang, wieder mit der Prostitution anzufangen, um sich einen gehobenen Lebensstandard leisten zu konnen. Mittlerweile hat sie eine Alkoholtherapie abgeschlossen. Allerdings stellt sie in Frage, ob das Leben dadurch einfacher geworden ist, wenn im weiteren Verlauf mit keinerlei Unterstutzung zu rechnen ist. Daruber hinaus wird sie in geraumer Zeit eine Verhaltenstherapie beginnen. Diese soil ihr helfen, die gemachten Erfahrungen mit Mannern zu verarbeiten, um ihren Ekel und ihre Aggression gegeniiber Mannern abzubauen. Denn sie hat jeglichen Respekt vor Mannern verloren. Dies lasst sich u.a. dadurch erklaren, dass zu ihrer Klientel Richter, Anv^alte und Arzte gehorten, die sich von ihr erniedrigen lieBen. Zum Verhaltnis zwischen Polizei und Prostituierten sagte sie, dass in manchen Clubs die Madchen durch die Betreiber dazu gebracht werden, Alkohol und Drogen zu sich zu nehmen. Dies scheine die Polizei nicht allzu sehr zu interessieren, da die Beamten diesen Sachverhalt zwar kennen, aber nicht dagegen vorgehen. Uber Kontrollen der Polizei in den verschiedenen Clubs oder Studios konnte sie nichts berichten, da sie dort nur selten Polizeibeamte zu Gesicht bekommen hatte. Die regelmaBige Prasenz der Polizeistreifen auf dem StraBenstrich an der Monning bewertete sie wie folgt: Ein Gefiihl der Sicherheit auf Seiten der Prostituierten werde nicht durch diese Prasenz vermittelt, sondern dadurch, dass die Frauen allabendlich ein Standgeld von 100 Euro vor Dienstbeginn bezahlen, um von drei Mannern vor Ort beschtitzt zu werden. Ihre eigenen Erfahrungen mit der Polizei bezeichnete Anke durchweg als schlecht. Sie war mehrere Jahre mit einem Tiirken liiert, der nach einiger Zeit seinen Job aufgab, zu ihrem Zuhalter wurde und sie dann regelmaBig verprtigelte. Mehrere Male hatte sie gegen diesen Mann Anzeige erstattet, jedoch ohne Erfolg. Ihrer Meinung nach wurde nichts unternommen, well sie eine Prostituierte war. Sie beschrieb Situationen, in denen die benachrichtigten Polizeibeamten sich eine halbe Stunde Zeit gelassen hatten, um am Tatort zu erscheinen, oder dass der Horer in der Polizeizentrale aufgelegt wurde, nachdem sie ihren
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Namen gesagt hatte. Ihrer Wahmehmung nach wurden die gegen sie vertibten Misshandlungen seitens der Pohzei als „KavaliersdeHkte" eingestuft. Melanie, eine Clubbetreiberin in Duisburg, versteht sich als „gewerbliche Zimmervermieterin", d. h., sie stellt den Frauen die Zimmer gegen ein Entgelt zur Verftigung. Es arbeiten etwa sechs bis acht Frauen in diesem Club. Unterschiedliche Altersklassen (ab 18 Jahren aufwarts) und Nationalitaten (russisch, polnisch, afrikanisch) sind vertreten. Die Prostituierten sprechen die Preise mit den Kunden selbst ab. Sie reichen von 52 Euro bis 155 Euro, je nach angebotener Leistung. Die Clubbetreiberin schaltet sich in die Preisverhandlungen nicht ein. Auch Zuhalter hat dieser Club nicht. Das Publikum besteht aus Deutschen und Auslandern im Alter zwischen 18 und 80 Jahren. Darunter sind sowohl reiche Geschaftsmanner und Rentner als auch Sozialhilfeempfanger und Schiller. Der Kontakt wird tiber Annoncen in szenebekannten Zeitschriften hergestellt. 80 Prozent der Manner zahlen zu dieser Laufkundschaft. Laut Aussage der Clubbetreiberin gabe es keine Konflikte mit der Polizei. Stattdessen berichtete sie tiber Probleme mit anderen Institutionen wie dem Finanzamt (unterschiedliche Besteuerung von privat und offentlich arbeitenden Prostituierten) oder mit dem Ordnungsamt, wenn die Frauen beispielsweise Sozialhilfe erhalten und trotzdem arbeiten. Die geanderte Gesetzgebung ist nach Melanies Ansicht ftir die Prostituierten eher problematisch. Eine Vermittlung durch das Arbeitsamt ist schwierig, da das Amt sich in der Szene nicht geniigend auskenne. So wtirde sich eine privat arbeitende Prostituierte zum Beispiel nie als Tabledancerin vermitteln lassen, da sie sich dadurch sowohl fmanziell als auch gesundheitlich (die Frauen, die als Tabledancerin arbeiten, sind angehalten, mit den Kunden zusammen Alkohol an der Bar zu trinlcen) schlechter stellen. Daruber hinaus mtissen die Frauen sich besteuern lassen, was viele Frauen dazu veranlasst, lieber weiter schwarz zu arbeiten. Drogen konsumieren die Prostituierten nach Meinung der Betreiberin in ihrem Club nicht. Falls die Frauen auffallig werden, folgt die Ktindigung. Allerdings berichtete Melanie, dass manch auslandischer Kunde versucht, die Preise zu drticken, indem er den Frauen fiir ihre Leistungen Drogen anbietet. Helena kam vor elf Jahren nach Deutschland, um ihre Schwester zu suchen, die von einem Zuhalter zur Prostitution gezwungen wurde. Im Zuge dieser Suche ist sie selbst zur Prostitution gekommen. In ihrem Club sind drei Frauen beschaftigt und sie selbst arbeitet mit, wenn es notig ist (z. B. im SM-Bereich). Die Freier beschrieb sie als gehobenes Publikum, u.a. Staatsanwalte und Arzte. Im Laufe des Gesprachs berichtete sie iiber ihre Erfahrungen mit der Polizei. Ihrer Meinung nach trauen sich viele Prostituierte nicht, zur Polizei zu ge-
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hen, weil sie sich schlecht behandelt flihlen. Auch Helena berichtete von Vorfallen auf der Wache, wo Btm-ntinnen sie abfallig mit Blicken bedacht hatten. Sie beschrieb die Polizeibeamten generell als oberflachlich und btirokratisch. Sie seien unsensibel, wtirden die Belange der Prostituierten nicht verstehen und die Frauen gegebenenfalls als Verbrecher behandeln. Der markanteste Satz in diesem Zusammenhang lautete: „Die Polizei hilft nicht." Lediglich ein Polizeibeamter genieBt ihr Vertrauen. Bei Schwierigkeiten wendet sie sich ansonsten lieber an die Mitarbeiter des Ordnungsamtes. Ihrer Meinung nach konnen Polizeibeamte sich nicht in die Belange der Frauen hineindenken, und dementsprechend schwindet das Vertrauen der Prostituierten in die Institution „Polizei". Helena filhlt sich durch die Pohzei vollig missverstanden, da sie versuchen mochte, menschliche Aspekte in den Vordergrund zu rticken, die aber von den Beamten nicht akzeptiert werden. Sie befmdet sich ihrer Ansicht nach immer in einer Grauzone zwischen Legalitat/Unmenschlichkeit vs. Illegalitat/Menschlichkeit. So hat sie in einem Fall, obwohl sie ansonsten keine Drogen im Haus erlaubt, einem Madchen gestattet, Kokain zu nehmen, obwohl sie sich dadurch eines Straflatbestandes schuldig machte. Ihren Aussagen zu Folge wollte sie Entzugserscheinungen bei dem Madchen und einen entsprechenden Verdienstausfall vermeiden. Eine der in Helenas Club tatigen Frauen ist Hanna. Sie ist vor neun Jahren auf die, wie sie es nennt, „klassische" Weise zur Prostitution gekommen. Sie lemte ihre groBe Liebe kennen, die sie dann dazu brachte, als Prostituierte zu arbeiten. Interessanterweise flihrt diese Frau ein Doppelleben. Weder die Eltern noch der Lebenspartner wissen tiber ihre Tatigkeit als Prostituierte Bescheid. Auf die Frage, wie sie diese problematische Situation meistert, antwortete sie, dass sie bewusst ihre Freizeit ganz anders gestalte (sich mit Freunden trifft, schone Dinge unternimmt usw.). Dartiber hinaus berichtete sie, dass sie oftmals in einen Kaufrausch verfalle. Sie gabe viel Geld fur Dinge aus, die sie nicht benotige, um sich etwas „gutes zu tun". Das Geldausgeben dient somit der Kompensation, um im Alltag ihre Tatigkeit als Prostituierte zu vergessen. Weiter gab Hanna an, dass sie sofort aufhoren wtirde als Prostituierte zu arbeiten, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt eine gute Anstellung fmden wtirde. Die Griinde hierftir sind vielschichtig: Zum einen fallt ihr die Geheimnistuerei schwer, zum anderen ekelt sie sich gelegentlich vor den Freiern. Uberdies mochte sie solide werden, weil sie nicht mehr weiB, was sie „wert" ist. Allerdings raumte sie ein, dass sie aufgrund der guten Verdienstmoglichkeiten jederzeit wieder riickfallig werden konne. Nach Hannas Aussagen wird der Club von sehr gepflegten und gut situierten Kunden frequentiert. Zu ihren Freiern zahlen Manner ab 40.
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Die gesetzlichen Regelungen, die Anfang letzten Jahres in Kraft getreten sind, bewertete sie als positiv. Sie halt die Gesetze besonders fiir Frauen sinnvoll, die aus dem Gewerbe aussteigen wollen. Fur Hanna sind diese Anderungen daher nicht relevant. Sie glaubt auch nicht, dass sich durch die neue Gesetzgebung die Vorgehensweise der Polizei in Bezug auf Prostituierte andern wird. Zu ihren Kontakten mit der Polizei konnte sie nur wenig berichten. AuBer der Ublichen Personenkontrollen hatte sie bis zum heutigen Zeitpunkt keine Beruhrungspunkte mit der Polizei. Die besagten Kontrollen verliefen immer ohne Schwierigkeiten. Auch ihre Kollegin Katja wusste tiber das Verhaltnis zwischen Polizei und Prostituierten wenig zu berichten. Dies liegt wohl daran, dass sie erst seit etwa einem Jahr im Gewerbe tatig ist. Durch eine Freundin ist sie zur Prostitution gekommen. In ihrem Heimatland WeiBrussland ware sie nie Prostituierte geworden, da die Gesellschaft dort anders mit der Prostitution umgeht. Nach Katjas Einschatzung ktimmere es in Deutschland niemanden, ob man sich prostituiere Oder nicht. Eine weitere Prostituierte in diesem Club ist Sabine. Sie arbeitet flinf bis sechs Tage die Woche ca. zehn Stunden, die sie auf den Tag verteilt. Sie muss so lange arbeiten, da die Preise fur ihre Dienstleistungen immer mehr sinken. Den Grund daflir sieht Sabine darin, dass der illegale Markt wachst. Ein Vorzug des Clubs sei zwar ein festgesetzter Mindestpreis, aber auch der sinke und die Halfte des Geldes gehe als Zimmermiete an die Betreiberin. Ihre Gaste beschreibt sie als einen Querschnitt durch alle gesellschaftlichen Schichten. Ihren Angaben zufolge hat es noch keine groBeren Konflikte am Arbeitsplatz gegeben. Allerdings wusste Sabine von einem Vorfall zu berichten, in dem sie sich selbst bedroht fuhlte: „Ein Cast, den ich schon lange kannte, fmg an, mich zu ohrfeigen. Ich hatte ihm gesagt, dass ich eine Woche Urlaub machen wurde. Er schrie rum, das mlisste ich bei ihm anmelden und mit ihm absprechen. Dann ging es los ... Aber wir warden zusammen mit ihm fertig. Jetzt hat er Hausverbot." In diesem Zusammenhang musste die Polizei zwar nicht eingeschaltet werden, da sie gemeinsam mit den anderen Frauen den Konflikt losen konnte. Sie raumte aber ein, sich in einer Notsituation durchaus an die Polizei zu wenden. Daruber hinaus berichtete sie, dass die Polizei den Club zwei- oder dreimal auf illegale Frauen hin durchsucht habe. Dabei waren die Beamten stets hoflich und es gab keine weiteren Probleme. Auf dem StraBenstrich am Wedaustadion trafen wir auf Veronika. Die Befragte ist 56 Jahre alt und arbeitet seit 1968 offiziell als Prostituierte. Die ersten Berufsjahre erlebte sie
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„als Mensch zweiter Klasse bei den Behorden. Die Polizisten haben sich vor uns aufgebaut, um uns zu kontrolHeren. Wir mussten auch jede Woche zum Gesundheitsamt, um den Schein zu kriegen, die haben uns auch schikaniert. Hat ja alles mit dem Zeitgeist zu tun, wir warn ja fruher Kriminelle. Das hat sich ja geandert. Die Gesellschaft projiziert trotzdem alles das, was sie nicht sein will, auf uns und straft uns dann ... In den Medien z. B. erzahlen sie immer, wie viel Geld wir verdienen und wie reich wir sind. Wo leben die denn?" Mit 18 Jahren bekam sie ein Kind, welches sie sofort zur Adoption freigab. Kurz vor ihrem dreiBigsten Lebensjahr heiratete sie zweimal. Der erste Mann entpuppte sich als gewalttatig, und sie fltichtete vor ihm mit einem Sprung aus dem Fenster. Aus ihrer heutigen Sicht passte diese Beziehung in ihr damaliges Anpassungsschema. Den zweiten Mann heiratete sie in einer Art Torschlusspanik kurz vor dreiBig. Sie kannte ihn seit ihrem neunzehnten Lebensjahr, aber auch diese Ehe funktionierte nicht. Mit dreiBig Jahren machte sie von ihrem ersparten Geld eine Ausbildung zur Diplom-Kosmetikerin und arbeitete danach in einer bekannten Parfiimerie in Dtisseldorf, um „raus zu kommen". Als letzten Ausstiegsversuch gab es nur noch eine Beziehung zu einem Diplom-Ingenieur mit zwei Kindern, der seit neun Jahren ihr Kunde war. Auch diese Beziehung scheiterte letztlich. Seit iiber zehn Jahren ist sie wieder im Geschaft und empfangt ihre Freier allabendlich in ihrem Wohnwagen. Sie mochte weder in einem Club noch in einem offentlichen Bordell tatig sein, da die Frauen dort nur liber Manner und Beziehungen tratschten und sie das aufrege. Auf die Frage, ob sie Angst vor Gewalt habe, wenn sie allein auf dem StraBenstrich arbeitet, antwortete sie, dass sie keine Gewalt kenne und auf ihren Instinkt vertraue. Nach ihren Angaben hat sie 80 bis 90 Prozent Stammkunden, die teilweise seit 15 Jahren zu ihr kommen. Nur ein einziges Mai wurde es fur sie an ihrem Standort gefahrlich. Einige Zeit nach dem Mauerfall begannen osteuropaische Zuhalter damit, die Wagen ihrer Madchen auf Stammplatze der ansassigen Prostituierten zu stellen. „Wir dtirfen nur an bestimmten Stellen stehen und haben gegenseitig auf unsere Platze aufgepasst, wir konnen ja nicht immer da sein. Das war unter uns so ublich, denn der Platz sichert ja unsere Lebensgrundlage, das ist ja unsere Existenz. Und da hat sich so eine auf den Platz einer Kollegin gestellt. Ich bin hin und einer der Zuhalter kam mit einer Pumpgun auf mich zu. Ich bin nicht zuriickgewichen, wenn man einmal Angst zeigt, ist man immer dran. Man muss die Angst aushalten. Mir ist nichts passiert, er hat den Spiegel an meinem Wohnwagen demoliert, aber dann auf meinen teuren Wagen gezielt. Da hatte ich zuviel draufgezahlt und bin sieben Monate nicht gekommen." Laut Aussage der Prostituierten schritten die Behorden daraufhin ein. Keine Frau darf mehr im Wohnwagen ihrem Geschaft nachgehen, sondern bietet sich
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auf dem Parkplatzgelande an und fahrt dann mit dem Kunden an einen anderen Ort. Die Befragte beklagte, dass die Behorden sie nicht in Ruhe arbeiten lassen wurden. „Wir haben niemanden gestort, jeder Jogger kennt uns. Wir waren immer korrekt gekleidet, nicht wie an der Monning in Strapsen und so. Dabei ist das jetzt ein anerkannter Beruf Ich wiirde auch Standgeld zahlen." Auf die Frage, was sie von der geanderten Gesetzgebung fur Prostituierte hah, antwortete sie: „Ich wiirde gerne ein integrierter Burger werden, aber auch die neuen Gesetze greifen fur mich nicht. Ich hahe den so genannten Fortschritt fur einen Ruckschritt. Wir waren endlich emanzipiert, jetzt wird alles wieder rucklaufig." Daruber hinaus gab Veronika an, dass sie in einer Notsituation auf gar keinen Fall die Polizei holen wiirde: „Ich bin kein Steuerzahler, dann nehme ich auch nicht die Polizei in Anspruch. Die Frauen, die sie standig holen, sind nicht besonders intelligent. Das sind die, die auch standig beim Sozialamt stehen und erklaren, worauf sie alles Anspruch haben. Gute Frauen tun so etwas nicht, mir kame das nicht in den Sinn. Die schahen sogar die Frauenbeauftragten, ich glaube, aus Bottrop, ein." Dennoch begriiBte sie die regelmaBige Polizeiprasenz am Stadion und beschrieb das Verhaltnis zu den Beamten als gut. Sie betonte, dass es Demutigungen wie in frtiherer Zeit nicht mehr gebe und man sich gegenseitig kenne und respektiere. Der tiberwiegende Teil der Prostituierten machte darauf aufmerksam, dass in den letzten Jahren wesentliche Veranderungen im Milieu, insbesondere hinsichtlich der Kundenwiinsche, stattgefunden haben. Melanie beschrieb in diesem Zusammenhang, dass die Perversitat der Kunden zugenommen habe (Sex mit beinamputierten oder geistig behinderten Frauen). Dariiber hinaus waren kussen und schmusen friiher nicht erlaubt, wahrend diese Verhaltensweisen heute an der Tagesordnung sind. Ebenfalls hat der Beischlaf ohne Verhtitung stark zugenommen. Melanie beziffert die Nachfrage nach ungeschiitztem Verkehr auf etwa 80 Prozent der Freier, dies gelte insbesondere fur deutsche Kunden. Hinzu komme, so Veronika, dass insbesondere die jungen Freier zunehmend selbstbewusster gegeniiber den Prostituierten auftreten wiirden: „Sie wissen genau, was sie wollen, besonders die jungen. Die sind rhetorisch gut drauf, nicht so schiichtem wie friiher. Sie lesen entsprechende Hefte und wollen dann das. Die sind besser informiert als die Nutten. Ideen werden eben in der Gesellschaft geboren."
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Bin groBes Problem sei, so Anlce, dass immer mehr Frauen ohne entsprechende Einweisung in diesem Gewerbe tatig werden. Die sonst iibliche Kontrolle durch erfahrene Prostituierte entfalle vollig. Helena machte darauf aufmerksam, dass viele Kunden weniger bezahlen wollen als fruher. Diese Einschatzung wurde durch die Aussagen von Anke und Hanna bestatigt, die insbesondere den groBen Konkurrenzkampf im Milieu (u.a. durch auslandische Prostituierte) dafiir verantwortlich machen. Sabine sah den Grund dafiir darin, dass der illegale Markt immer weiter anwachst. Auch ftir ungewohnliche Praktiken (z. B. Sadomasochismus) wiirden mittlerweile geringere Preise bezahlt. Dies hat nach Meinung von Melanie u.a. auch mit der durch die Medien vermittelten „Normalitat" zu tun. Aus Sicht der Aussteigerin Anke haben die Geschlechtskranldieiten, sowohl bei den Freiern als auch bei den Prostituierten, zugenommen. Dies schreibt sie der mangelnden Kontrolle zu, die seit der Abschaffung des so genannten „Bockscheines" vorherrscht. Daher pladiert Anke auch ftir die Wiedereinfiihrung dieser Kontrollinstanz. Daruber hinaus beklagte sie, dass manche Clubs ihre Madchen dazu bringen, verstarkt Alkohol und Drogen zu sich zu nehmen. Durch diese MaBnahmen der Betreiber geraten die Prostituierten zunehmend in Abhangigkeit. 4 Das Milieu aus Sicht der Kontrollbehorden Die befragte Sozialarbeiterin schatzte die Zusammenarbeit mit der Polizei als sehr positiv und kooperativ ein. Die Polizei sei ihrer Ansicht nach sehr bemiiht, gut mit den Prostituierten umzugehen. Durch ihre abendliche Prasenz im Streifenwagen vermitteln sie den Frauen auf dem StraBenstrich ein Gefuhl von Sicherheit. Diese Prasenz werde von den Prostituierten durchweg gut angenommen.'*^ Allerdings raumte sie auch ein, dass es mitunter zu Missstanden komme, die durchaus vermeidbar waren. Sie berichtete von einem Fall, in dem eine Prostituierte zusammengeschlagen wurde und Anzeige erstattete. Nachdem die Frau eine Zeit lang nichts mehr von der Polizei gehort hatte, hakte die Sozialarbeiterin nach und erfuhr, dass das Verfahren kurz vor der Einstellung stand. Ihrer Wahrnehmung nach wurde der Vorfall als „Kavaliersdelikt" abgehandelt. Nachdem sie sich eingeschaltet hatte, lief das Verfahren weiter. In einem anderen Fall sei ein Polizeibeamter demonstrativ mit Handschellen auf Prostituierte zugegangen. Diesen Vorfall hatte sie gemeldet und den Eindruck gewonnen.
*^ Vgl. dazu die Aussage der ehemaligen Prostituierten Anke, die berichtete, dass so genannte „Aufpasser" allabendlich eine Standgebiihr von 100 Euro kassieren, um den Frauen Schutz zu gewaliren.
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dass die Polizeibehorde fur fragwurdiges Verhalten ihrer Beamten sehr offen war und sich daftir einsetzte, dass so ein Vorfall nicht melir vorkommt. Dartiber hinaus thematisierte sie, dass bei zivilen Kontrollen, sei es durch die Polizei oder das Ordnungsamt, fiir die Frauen oftmals nicht erkennbar sei, von welcher Behorde sie gerade tiberprtift wtirden. Dabei spiele die Nationalitat der Frauen keine Rolle, da zum Teil auch deutsche Frauen nicht ausmachen konnen, durch wen sie kontrolliert wtirden. Hinzu komme, dass die Frauen nicht ausreichend dartiber informiert seien, welcher Behorde gegentiber sie zu welcher Auskunft verpflichtet seien. So sind Frauen, die Sozialhilfe beziehen und trotzdem als Prostituierte arbeiten, nicht verpflichtet, Polizeibeamten daruber Auskunft zu geben. Eine entsprechende Auskunftspflicht besteht nur gegentiber den Mitarbeitern des Ordnungsamtes. Nicht unberticksichtigt darf in diesem Zusammenhang auch die Sprachbarriere zwischen den Polizeibeamten und den auslandischen Frauen bleiben. Oftmals ist eine ausreichende Kommunikation zwischen beiden Parteien nicht moglich. Nach Einschatzung der Sozialarbeiterin gehen die Frauen sehr wohl zur Polizei, wenn sie Opfer einer Straftat geworden sind. Dies hange u.a. von der Art des Deliktes ab. Wenn ein Freier der Tater sei, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Prostituierten Anzeige erstatten, hoher als wenn ein Zuhalter daftir verantwortlich sei. Zum anderen hange dies auch von den personlichen Erfahrungen ab, die die Frauen bereits mit der Polizeibehorde gemacht haben (siehe obiges Beispiel). Diese Ansicht wird durch einen Mitarbeiter des Ordnungsamtes bestatigt. Sollten Prostituierte Opfer einer Straftat werden, wenden diese sich seiner Meinung nach durchaus an die Polizei. So berichtete er von zwei Prostituierten, die von ihren Freiern vergewaltigt wurden und bei der Polizei Anzeige erstatteten. Allerdings raumte er ein, dass Prostituierte und Polizei in Duisburg nur wenig miteinander zu tun hatten. Oftmals fehle den Polizisten die Zeit, sich um jeden einzelnen Betrieb zu kiimmern."^^ Dartiber hinaus habe das Ordnungsamt ahnliche Befugnisse wie die Polizei. So diirfen die Mitarbeiter beispielsweise bei Gefahr bzw. bei einem Straftatbestand die Handtaschen der Frauen untersuchen. Weiter betonte er, dass die Suche nach Frauen mit illegalem Aufenthalt eine primare Polizeiaufgabe sei, die aber das Ordnungsamt aufgrund des Zeitmangels der Ordnungshliter mit tibemahme. Illegale Prostituierte fallen dann auf, wenn z. B. ein Freier wegen Diebstahls die Polizei verstandigt. Die Frau wird daraufhin festgenommen und kommt in Abschiebehaft. Hiesige Prostituierte haben ein groBes Interesse am Auffinden von illegalen Frauen schon deshalb, well diese oft unter Preis und ohne Verhiitung arbeiten. So konstatierte ein Mitarbeiter: '^^ Als Ausnahme gelten die offentlichen Bordelle, in denen sie sciion regelmaBig prasent sind.
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„Wir gehen meist Hinweisen von Prostituierten aus anderen Clubs nach. Die horen liber ihre Gdste z. B. von Madchen, die nebenan ohne Kondom arbeiten, kiissen und schmusen. Dann ist der Fall klar. Die legalen Frauen tun das nicht... Wir sind dann Hinweisgeber ftir die Polizei. Wir geben ihnen alle unsere Informationen. Wichtig fur uns ist das KK 12 und die Fahndung im KK 32. Manchmal stoBen wir bei unseren Kontrollen auch auf Hehlerware oder Rauschgift. Das geben wir dann auch welter. Die einzelnen Polizeireviere benachrichtigen wir nur dann, wenn wir fur einen Einsatz in deren Gebiet Verstarkung brauchen, well wir nicht sicher sind, was uns dort erwartet. Dann sind mein Kollege und ich vorsichtig. Wir sind ja im Dienst unbewaffnet." Ein GroBteil der Frauen babe nach Meinung des Mitarbeiters Angst vor der Polizei. In Problemsituationen sprechen die Prostituierten lieber die Mitarbeiter des Ordnungsamtes an, als direkt zur Polizei zu gehen. Die Frauen batten kein Vertrauen zu den Polizeibeamten, wahrend ihnen die Mitarbeiter des Ordnungsamtes gut bekannt seien. In einigen Fallen seien die Mitarbeiter mit den Frauen gemeinsam zur Wache gefahren, um ihnen die Angst vor der Polizei zu nehmen. Diese Einschatzung wird durch die folgende AuBerung eines weiteren Mitarbeiters untermauert: „Frauen, die aussteigen wollen, haben uns manchmal um Hilfe gebeten. Wir haben ja oft ein gates Verhaltnis und kennen uns lange ... Ich bin auch dann mit ihnen zu Behorden gegangen, z. B. zum Sozialamt, damit sie sich trauen. Ich muss das nicht tun, aber sie sind uns dankbar." Treffen Prostituierte und Polizisten dennoch aufeinander, gehen die Beamten meist ruppiger und barter mit den Prostituierten um als mit anderen sozialen Randgruppen. Dies fiihrte ein Mitarbeiter darauf zurtick, dass Polizisten stressbedingt immer mehr abstumpfen. Insbesondere Folizistinnen treten den Prostituierten barter gegentiber als ihre mannlichen Kollegen. Dass weibliche Beamte eine negativere Einstellung zu Prostituierten haben, wird durch die Ergebnisse der quantitativen Beamtenbefragung bestatigt."^"^ So waren 23,3 Prozent der befragten Polizistinnen der Ansicht, dass es viele Prostituierte gebe. Von den mannlichen Beamten meinten dies lediglich 11,3 Prozent. Dariiber hinaus charakterisierten etwa zwei Drittel der Beamtinnen Prostituierte als launisch, wahrend nur 28,7 Prozent der mannlichen Polizisten diese Einschatzung teilten. Auch empfanden 29 Prozent der weiblichen Beamten Prostituierte als unerfreulich im Vergleich zu 18,7 Prozent ihrer mannlichen Kollegen.
^^ Fine der Fragen bat darum, Wortpaare mit entgegengesetzten Eigenschaften (stark vs. hilfsbediirftig, gelassen vs. launisch usw.) anhand einer 7er-Skala auf die Personengruppe der Prostituierten zu iibertragen.
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Abbildung 1:
Negativzuschreibungen nach Geschleeht der befragten Polizisten
70
63,3
60 50 40 30 20
\
29
28,7 23,3
18,7 11,3
10 —
0 viele
launisch
—
—
_
_
^^^^™——j
i
unerfreulich
iweibliche Beamte smannliche Beamte
ijber die Grlinde hierfur kann nur spekuliert werden. Zu vermuten ist, dass PoHzistinnen aufgmnd des gleichen Geschlechts ein groBeres Unverstandnis gegentiber der „kauflichen Liebe" haben. Ihnen scheint unerklarUch, wie eine Frau ihren Korper fur Geld anbieten kann. Dariiber hinaus fmden sich weibliche Beamte in einer Mannerdomane wie der Polizei ofter in der Rolle eines Sexualobjekts wieder. Dies konnte erklaren, warum weibliche Beamte gegentiber sexueilen Beztigen eine groBere Abneigung entwickeln als ihre mannlichen Kollegen. Diese gehen im Gegenzug unbefangener mit der Prostitution um. Sie teilen die Vorbehalte der weiblichen Beamten nicht, denn immerhin besteht die Klientel der Prostituierten aus Mannern. Dariiber hinaus liege es in der „Natur des Mannes", attraktive Frauen in Augenschein zu nehmen, auch wenn es sich bei dem polizeilichen Gegentiber um eine Prostituierte handelt. Ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes wies darauf hin, dass oftmals Probleme Oder Rivalitaten im Milieu intern gelost werden, d. h., dass die Polizei erst im auBersten Notfall gerufen wird. So wird ein Wirtschafter im Bordell nur dann die Polizei zu Hilfe holen, wenn er die Situation selbst nicht mehr meistern kann. Erganzend dazu wusste ein Mitarbeiter zu berichten, dass im Konfliktfall Prostituierte, die in Clubs und privaten Wohnungen arbeiten, durchaus die Polizei rufen. Der StraBenstrich hingegen „reguliert sich selbst". Am haufigsten
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vermutet er Polizeieinsatze in Bordellen, insbesondere hinsichtlich Delikten wie Beischlafdiebstahl oder nicht erbrachte Leistungen. Positiver Effekt der Kontrollen durch das Ordnungsamt sei, so die Mitarbeiter, dass in Duisburg osteuropaische mafiose Strui<:turen im Milieu unterbunden werden konnten. AUerdings wiinschte sich ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes mehr Prasenz der Polizei auf Duisburgs StraBen, damit den Prostituierten ein groBeres Geflihl von Sicherheit vermittelt werden konne. Auch die stadtischen Mitarbeiter waren sich darin einig, dass in den letzten Jahren wesentliche Veranderungen im Milieu stattgefunden haben und bestatigten somit die Aussagen der interviewten Prostituierten. Zum einen habe die auslandische Konkurrenz im Milieu stark zugenommen. Insbesondere der Anteil der Auslanderinnen in den Bordellen sei sehr hoch. Sie kamen z. T. mit gefalschten Passen entweder aus den Niederlanden (Schwarze aus den ehemaligen Kolonien) oder aus Osteuropa. Da das Ordnungsamt hier einen schnellen und regelmaBigen Wechsel der meist jungen Madchen konstatiert, konne ein organisierter Menschenhandel vermutet werden. Auch sei es schwer, aufgrund eines Geburtsdatums in einem gefalschten Pass das wahre Alter der Madchen zu ermitteln. Manchmal werden bei Vermutungen der Minderjahrigkeit Knochenmessungen durchgefuhrt, aber dies haben die Mitarbeiter des Ordnungsamtes nur selten erlebt. Zum anderen stehen sich die Frauen durch die Euroeinfiihrung im letzten Jahr wirtschaftlich schlechter, da ihre Klientel weniger Geld ausgebe. Dementsprechend sinken die Preise und der Konkurrenzkampf werde noch groBer. Ferner sei zu beobachten, dass immer mehr Frauen ohne entsprechendes Knowhow in diesem Gewerbe tatig seien und die sonst tibliche Kontrolle durch erfahrene Prostituierte zunehmend entfalle. Auch haben sich die Praktiken verandert; ktissen und schmusen seien mittlerweile ublich geworden, der Beischlaf ohne Verhlitung habe gravierend zugenommen. Dies sei u.a. darauf zuriickzuftihren, dass die Zahl auslandischer Frauen auf dem Markt immens zugenommen habe und die Professionalitat dadurch nachlasse. Auf die Frage, ob hinsichtlich des Konsums von Drogen im Milieu Veranderungen zu beobachten sind, gab ein Mitarbeiter an, dass viele Frauen Designerdrogen wie beispielsweise Ecstasy konsumieren wUrden. Sein Kollege vermutet Drogenkonsum in der gesamten Szene, auch in Clubs, aber dort nur von einigen Frauen. Die Gewalt im Gewerbe habe nach Einschatzung der Mitarbeiter generell zugenommen. Dies betrafe sowohl die Gewalt unter den Prostituierten selbst als auch die Gewalt von Mannern gegentiber Frauen im Milieu. Als Beispiel flir die Zunahme von Gewalt wurde der StraBenstrich an der Monning genannt, wo bereits SchieBereien stattgefunden haben. Nach Auffassung eines Mitarbeiters ge-
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be es auf dem StraBenstrich ein groBes Gewaltpotenzial unter den Zuhaltem. Ftir Frauen werden manchmal Ablosesummen verlangt, die bei 5.000 Euro liegen konnen. Der StraBenstrich sei seines Wissens nach fest in der Hand von Russen, Tlirken, Kosovo-Albanern und Jugoslawen: „Die liefern sich echte Schlachten. Manchmal wiinschte ich mir, es gabe noch den ,alten deutschen Zuhalter'. Die haben sich was auf die Rlibe gehauen und dann war gut." Im Rahmen der Wohnungsprostitution ist den Mitarbeitern nicht viel liber Gewalt bekannt. Allerdings sei diese dort manchmal eher im privaten Umfeld der Frauen anzusiedeln. Man wisse dies aus Bemerkungen der Prostituierten im Rahmen ihrer nachtlichen Rundgange. Offenbar seien die Lebensgefahrten oder Ehemanner der Frauen ofter im kriminellen Milieu tatig, da die Namen der Betreffenden oftmals einschlagig bekannt seien. Der Mitarbeiter betonte, dass es nach der EU-Erweiterung groBe Konflikte im Milieu geben werde. Zum einen ist nach seiner Meinung der organisierte Menschenhandel und die damit verbundene Gewalt schon jetzt ein wesentliches Problem der Stadt Duisburg. Zum anderen befilrchtet er, dass durch den zu erwartenden Preisverfall auf dem Prostitutionssektor den hiesigen Frauen die Lebensgrundlage entzogen werde mit all den damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Literatur 3sat (2002): Neue Zeiten fur altes Gewerbe. Was bewirkt das Gesetz zur legaUsierten Prostitution? in: 3sat Kulturzeit, auf: http://www.3sat.de/3sat.php?a=l&url=http:// www. 3 sat. de/kulturzeit/themen/27660 Ackermann, L., 1994: Sex tourism and organized trafficking in women from countries of the third world: extent and underlying causes, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Strategies to combat sex tourism and international trafficking in women, Bonn, S. 9-17. Altink, S., 1995: Stolen lives: Trading women into sex and slavery, London. Bericht der Sachverstandigen im Familien- und Frauenauschuss des Parlaments in Bonn am 27. Mai 1998, Bonn. Brussa, L. (Hrsg.), 1999: Health, migration and sex work: the experience of Tampep, Transnational AIDS/STD Prevention among Migrant Prostitutes in Europe, Amsterdam. Bundeskriminalamt (Hrsg.), 2000: Lagebild Menschenhandel 1999, Wiesbaden. Bundeskriminalamt (Hrsg.), 2001: Lagebild Menschenhandel 2000, Wiesbaden. BuBmann, M., 1998: Gewalt an Frauen ist vielfaltig. Frauen als Opfer von Menschenhandel, in: Diakonie Dokumentation, 2, auf: http://www.diakonie.de/publikationen/diak_dok/02-98/ abschnitt04.htm Elias, N., J. L. Scotson, 1990: Etablierte und AuBenseiter, Frankfort am Main.
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Die Entertainmentfalle. Fernsehen als SpaBgesellschaft und die SpaUkultur im deutschen Fernsehen seit den 1990er Jahren Marcus S. Kleiner
In der sozial-, medien- und kommunikationswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medienunterhaltung^ wurde in den letzten Jahren zwar immer wieder tiber Fernsehen als Spafigesellschaft und die Spafikultur im deutschen Fernsehen diskutiert, ohne diese Themen allerdings systematisch zu untersuchen. Der Intendant des ZDF, Markus Schachter (2005), betonte in seiner Eroffnungsrede zu den 38. Maimer Tagen der Fernsehkritik 2005, dass bestimmte Formate von TV-Unterhaltungssendungen nicht geeignet seien, Themen wie die steigende Arbeitslosigkeit, die Hartz IV genannte Reform des Arbeitsmarktes Oder die Probleme einer alternden Bevolkerung sachadaquat zu beschreiben. In diesem Kontext rief er das Ende der TV-Spafigesellschaft aus: „Die Zeiten der SpaBgesellschaft gehen zu Ende. Das Gegenteil muss nicht Ernst sein. Aber es wird einer Konzentration bedtirfen, einer neuen kraft- wie lustvollen Anstrengung fiir eine neue Konzentration der dramaturgischen und sendekonzeptionellen Mittel."^ Entgegen seinem Pladoyer ftir ein Mehr din Information und Qualitat sowie einem notwendigen Zu-Ende-kommen der Spafikultur im Fernsehen, zumindest in krisengeprdgten Zeiten, boomt in den Privatsendern die ComedyWelle bestandig weiter. Der Fun-Freitag' auf SAT 1 bietet etwa in der Zeit von 20 Uhr 15 bis 24 Uhr 15 mit sieben Sendungen vier Stunden Lachkultur pur. Das deutsche Fernsehprogramm sendet gegenwartig insgesamt ca. 73 Comedy' Vgl. hierzu ii.a. Mendelsohn (1966); Haake (1969); Bosshart (1979); Fischer/Melnik (1979); Tannenbaum (1980); Dehm (1984); Bosshart/Hoffmann-Riem (1994); ZiHmann/Vorderer (2000); Friih (2002); Friih/Stiehler 2003; Friedrichsen/GOttlich (2003); Gertler/Friedrichsen/Glaser 2004; Goldbeck (2004). Vgl., mit zahlreichen Literatiirhinweisen, zum Thema Unterhaltung und Populare Kultur Hiigel (2003). ^ Hiermit greift Schachter eine Diskussion auf, die das Tagungsthema der 34. Maimer Tage der Fernseh-Kritik 2001 war: Fernsehen fur die Spafigesellschaft. Wettbewerbsziel Aufmerksamkeit. Insofern kann das Tagungsthema des Jahres 2005, Bilder des sozialen Wandels. Das Fernsehen als Medium gesellschaftlicher Selbstverstdndigung, als eine Aktualisierung der Diskussion aus dem Jahr 2001 verstanden werden. -' Super RTL bietet in jeder Nacht die Fun-Night an, bei VOX gibt es einmal wochentlich die Fernsehsendung zum Printmagazin mit dem Titei Fitfor Fun TV.
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Formate. Spitzenreiter ist hierbei Pro? mit 20 wochentlichen Formaten, gefolgt von SAT 1 mit 10 und RTL mit 8. In der ARD gibt es auBer der Harald Schmidt Show kein Comedy-Format, im ZDF gibt es mit Dittsche ebenfalls nur eines."^ Das Erkenntnisinteresse meines Beitrags besteht darin, den Diskurs liber Fernsehen als Spafigesellschaft und die Spafikultur im deutschen Fernsehen idealtypisch zu rekonstruieren. Hierbei steht nicht die Auseinandersetzung mit der Beschreibung dieser Themen in einzelnen Formaten im Vordergrund, sondem eine Diskursanalyse der Debatte. Diese erweist sich als Ausdruck einer Entertainmentfalle, d. h. als selbstreferentieller Kosmos eigensinniger Bedeutungsproduktionen. Hiermit soil einerseits auf die konstitutive Selbstbeztiglichkeit der Medien verwiesen werden: Medien beziehen sich zunachst und zumeist auf andere Medien, ihre Produktionen entstehen zum groBten Teil aus diesen Selbstbeobachtungen. Andererseits orientieren sich die wissenschaftlichen Beschreibungen dieser Medienproduktionen zunachst und zumeist an anderen wissenschaftlichen Diskursen. 1 SpaBgesellschaft als Diskurs Der Diskurs liber die Spafigesellschaft fand liberwiegend im Feuilleton statt, also in den Medien, die haufig als Seismographen fiir Wandlungen im Alltag aufgefasst werden. Angewiesen auf Aufmerksamkeit erregende Wiedererkennungseffekte reagieren sie rasch auf symbolische Verschiebungen gesellschaftlicher Verhaltnisse - rascher als der wissenschaftliche Diskurs. In medien-, kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Diskursen gibt es bisher im deutschen Sprachraum nur eine Monographic, mit sprachtheoretischer Ausrichtung, zum Thema (vgl. MaaB 2003).^ Die 34. Maimer Tage der Fernseh-Kritik 2001 (vgl. ^ Diese Zahlen resultieren aus der Aiiswertiing des TV-Programms in der Woche vom 23. Jiili - 30. Juli 2005. Folgende Sender wurden ausgewertet: ARD, ZDF, WDR, BR3, NDR, SWR, HR, MDR, RTL, RTL II, Super RTL, SATl, PR07, Kabel eins, VOX, 3sat, Arte, VIVA, MTV. Als Quelle diente die Programmzeitschrift TV TODAY(Hx. 15/2005). Von den Come
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Hall 2002) haben sich bis heute am umfassendsten mit der Spafigesellschaft auseinandergesetzt - und zwar im Spannungsfeld der Diskussion zwischen Joumalisten, Wissenschaftlern, Medienkritikern und Programmmachern. Weiterhin mtissen in diesem Kontext zwei Publikationen aus dem Bereich der Popkultur, die Themenhefte zum Spafi {Dummy 2004) und Humor {testcard 2002) publiziert haben sowie eine Sondernummer vom Merkur (2004) zur Bedeutung des Lachens fur westliche Zivilisationen, erwahnt werden. SchlieBlich ein kulturlcritischer Sammelband zur „Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft" (Wertheimer/Zima 2001) und ein Tagungsband zum Zusammenhang der Kulturindustrie-Yjcitik von Adorno und ihren Beziigen zur „gegenwartigen SpaBkultur" (Seubold/Baum 2004a). 2 Was ist Spafigesellschaft, was SpaBkultur? Was wird in diesen Diskurs-Kontexten allgemein unter Spafigesellschaft und Spafikultur" verstanden? Gibt es vielleicht, wie Scheithauer (2002: 176) fragt, nicht nur eine Spafigesellschaft, sondern viele, „weil es bestimmte Milieus, bestimmte Gruppen gibt, die einen ganz besonderen Sinn fur Humor haben"? Ist dementsprechend der Sammelbegriff Spafigesellschaft unbrauchbar, um die Spafiformate des deutschen Fernsehens idealtypisch zusammenzufassen? Warum wird diesen Themen eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zugesprochen, d. h. behauptet, hierdurch eine Auskunft iiber den Zustand der Gesellschaft sowie liber die Interdependenz von massenmedialer und Alltagskommunikation zu erlangen? Und wie konnte eine Spafikritik aussehen? Gibt es auch emanzipatorische Formen des TV-SpaBes? Braucht die Spafigesellschaft, wie Schuller (2001) fordert, die „kalte Dusche", damit sich die Gesellschaft wieder auf das Wesentliche konzentrieren kann? Was waren Gegengifte, um der „SpaBbesoffenheit" und dem „SpaBterror" der Medien zu entgehen, den Chlada und Demobwski (2001: 19)diagnostizieren? Formulierungen wie diese, ebenso wie die Aussage, dass (gegenwartige) Spafikultur (im deutschen Fernsehen) „Vergntigungsfaschismus" (Schmitter 2002: 30) sei, sind (theoriepolitische) Kampfbegriffe, die einen nuchternen
^' Diese Begriffe konnen als Bestandteile gesellschaftlicher Selbstverstandigiingsdiskiirse und Selbstbeschreibungen bezeichnet werden. Spafigesellschaft und Spafikultur verweisen zum einen auf spezifische Sinn- und Bedeutungskonstruktionen sowie Handlungen, zum anderen sollen sie bestimmte Produktions- und Rezeptionsweisen von Medienformaten kennzeichnen. Problematisch ist bei solchen Begriffen, dass sie stets gesamtgesellschaftliche Wirklichkeiten zu beschreiben scheinen, anstatt sich als auf plakative (anschlussfahige) Begriffe gebrachte Aufarbeitungen gesellschaftlicher, medialer, kultureller usw. Tendenzen bzw. gesellschaftlicher Klimata, die zu einer bestimmten Zeit zu beobachten sind, zu verstehen.
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Blick auf Veranderungen in der Programmstruktur des Fernsehens verstellen.^ Ebenso wenig ist eine Rhetorik des Neuen in diesem Kontext hilfreich. Mohr (2000) spricht etwa in seinem Spiegel-ArtikQl Der totale Spafi wiederholt von der „neuen deutschen Lachkultur", der „neuen deutschen SpaBgesellschaft" bzw. der „neuen Lust am Banalen" und bezeichnet Harald Schmidt als „geistliches Oberhaupt der neuheidnischen Lachkultur" (vgl. Strasser/Graf 2000, 2004). Dass es Veranderungen in der deutschen Programmstruktur gab bzw. gibt, d. h. ein Mehr an Spafiformateri' seit Ende der 1990er Jahre (vgl. Hillenbach 1996; Lambernd 1998; Ktibler 2000; Schumacher/Hammer 2000), ist zutreffend. Diese aber als einen umfassenden Strukturwandel in der Fernsehproduktion zu bezeichnen, von ihnen ausgehende, gesamtgesellschaftliche Wirkungen und eine Widerspiegelung substanzieller gesellschafflicher Befmdlichlceiten in diesen Formaten zu behaupten, geht an der Wirklichkeit des Fernsehens vorbei.^ Einschatzungen dieser Art sind zumeist diskursive Konstruktionen von (medialer) Wirklichkeit und Medienwirkungen. Entsprechend betont Hachmeister (2001: 26): „Die SpaBgesellschaft ist ein Phantom denkfauler Politiker und Mittelstandsjoumalisten, denen die MuBe zur intelligenten Beschreibung kultureller Ursachen und Wirkungen fehlt. Seit Jahren wird eine Ansammlung von MedienFormaten (Raab, Schmidt, Feldbusch, Big Brother) als signifikant fur einen grundsatzlich veranderten Humorzustand der Nation ausgegeben, wofiir es nicht den geringsten Beleg gibt. Vom ,Blauen Bock' und Peter Frankenfeld zur ,Bullyparade' und Erkan und Stefan, hier geht es um milde Transformationen und Verfeinerungen des Komischen, nicht um eine neue Lachkultur oder den Endsieg der SpaBguerilla."
^ Auf dieser Ebene bewegt sich aiich die Einschatzung von Balzer (2000: 41): „Comedy verbreitet sich auf unseren Kanalen wie ein Krebsgeschwur - und ist ungefahr so lustig." ^ Unter Spafiformaten versteiie ich die Comedy-^QXxQn im deutschen Femsehen, wie z. B. den Ouatsch Comedy Club (PRO 7), Was guckst du?! (SAT 1) oder Freitag Nacht News (RTL), andererseits die Harald Schmid-Show und TV Total, politische Kabarett-Sendungen, Ubertragungen von Comedy- und Kabarettveranstaltungen bzw. Festivals etc.. Allgemeiner formuliert, konnen Spafiformate als Humorsendungen bezeichnet werden, deren Ziel darin besteht, den Rezipienten vornehmlich mit Hilfe von Humor, Satire, Nonsens, Ironic usw. zu unterhalten. ^' Entgegen dieser Einschatzung betonen Strasser und Graf (2000: 8), dass es, mit Blick auf den TNComedy-Boom der 1990er Jahre, „eine vergleichbare Amiisierwut in Deutschland seit den zwanziger Jahren nicht mehr gegeben hat" (vgl. zur Comedy als Exempel fiir die (vermeintlich) neue deutsche Spafikidtur Strasser 2002; Strasser/Graf 2004). Auch Mohr (2000) wiirde diese These zuriickweisen, indem er, am Beispiel Raab, dessen gesamtgesellschaftliche Wirkmachtigkeit hervorhebt: „Ein Volk, ein Raab, ein Lachanfall." Hierbei bedenkt Mohr nicht, auch wenn seine Einschatzung als ironische Uberspitzung verstanden werden kann, dass es auch Raab-(und Comedy-)freie Zonen geben konnte bzw. sich der GroBteil der deutschen Bevolkerung ftir beides schlicht nicht interessiert. Diese Perspektive hatte allerdings den Auflianger sowie die Rlietorik seines Artikels sehr entschdrft.
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Der Begriff Spafigesellschaft hat in den spaten 1990er und friihen 2000er Jahren zweifellos Karriere gemacht. Hachmeister (2001: 26) zufolge wurde der Bogriff Spafigesellschaft erstmalig am 23. Januar 1993, vom Sport-Journalisten Josef-Otto Freudenreich in einem /az-Artikel liber den FuBballclub 1. PC Saarbrucken und seinen damaligen Trainer Peter Neururer, verwendet. MaaB (2003: 5If.) hebt hervor, dass zwar der Ausdruck Spafigesellschaft erstmals in dem von Hachmeister erwahnten Artikel hervorgehoben wurde, aber das Konzept, das sich hinter diesem Ausdruck verbirgt und auf das sich die entsprechenden Diskurse letztlich (bewusst oder unbewusst) beziehen, auf einen Spiegel-ArtikQl aus dem Jahr 1996 (19. Februar, Heft 8) zum Thema Set schlau, hab Spafi^^ zuruckgeht: „Der Spiegel-Avtikoi beschreibt eine gewandelte deutsche Gesellschaft, die nicht langer durch ,das bewahrte Humor-Elend' [...] gekennzeichnet ist, sondern durch ,Sinn fur Nonsens, Blodelei, Parodie (sowie) Sarkasmus' [...] [Hervorhebung im Original - MSK]." Eine kurze Geschichte der Spafigesellschaft verfasst Heine (2004). Fiir ihn ist die Geschichte der Menschheit „eine Geschichte von SpaBklassenkampfen" (ebd.: 17), die zwischen gesellschaftlichen Eliten und dem Volk sowie deren unterschiedlichen Ansichten zu SpaB und Ernst, gefuhrt wiirden. In seiner Rekonstruktion hat der antike griechische Dichter Hesiod erstmals eine Spafigesellschaft beschrieben, die ftir ihn, was wiederum, so Heine, stilpragend fiir die spateren Jahrhunderte wurde, ein Schlaraffenland war, das auf Erden existieren konnte, indem es viele Feste, Genuss- und Konsummit-
"* In diesem Artikel wird die Darstellung eines spafibasierten kulturellen Wandels in Deutschland, der ais „ubiquitare Verwitzung von allem und jedem" (Burger 2004: 91) beschrieben wird, durch eine aufdringliche Rhetorik des Neuen hervorgehoben. So wird von der „neuen deutschen Lachkultur", der „neuen Generation von SpaBverliebten", der „neuen deutschen SpaBgesellschaft", dem „neudeutschen SpaBfieber", der „deutschen Amiisieroffensive", den „sportiven SpaBkulinarikern", einem „breiten Fun-Publikum" und einem „nonsensverliebten Jungvolk" gesprochen. Entscheidend fiir die als neu konstatierte deutsche Spafigesinnung ist, dass sie klassentibergreifende Wirkungen hat und zu einer Grundvoraussetzung eines gliicklichen Lebens wird: „Frohsinn light iiberspringt soziale Schichten, iibergreift, obwohl er bei den Jlingeren dominiert, Generationen und offnet den eisernen Vorhang zwischen E- und U-Kultur, hehrem Ernst und popularer Unterhaltung." Als Beispiele fur diese (vermeintlich) neue deutsche Spafigesellschaft wird v. a. ein gmndlegender Mentalitatswandel konstatiert, der sich u.a. durch Erlebnisorientierung und -konsum, ein Zuriickweisen der deutschen Dauerverpflichtung zur Ernsthaftigkeit, Betroffenheit und Kritilckultur (letztlich Ausdruck der Kritik an der 68er Generation) oder postmodernes Sinn- und Identitatsbasteln als Party, Event bzw. pures Entertainment, auszeichnet. Problematisch an diesem Artikel, wie in fast alien anderen zur Spafigesellschaft auch, ist, dass eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung behauptet wird, obwohl eigentlich nur von Tendenzen gesprochen werden konnte, nicht aber von der Erfassung gesellschaftlicher Totalitat. Zudem liest sich der 5/?/ege/-Artikel wie ein update zur Erlebnisgesellschaft von Schulze (1992), d. h. als journalistische Kurzzusammenfassung mit teilweise anderem Vokabular. Eine weitere unhaltbare These, die in der Auseinandersetzung mit der Spafigesellschaft immer wieder geauBert wird, ist, dass ein „Zwang zum SpaB" und ein „Zwang zu fortwahrender SpaBprodul^lion" (Baum/Seubold 2004b: 8, 10) bestehe.
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tel im tjberfluss fur jeden geben sollte, alle Wiinsche und Begierden sich erftillten, es keine Alterungsprozesse gabe und der Tod wie ein Schlaf sei, der einen, nach einem restlos erflillten Leben, iibermanne.^^ In dieser antiken Vision sind, wenn man Heine folgt, Uberfluss- und Erlebnisgesellschaft sowie die Moglichkeit, jederzeit nach dem Lustprinzip leben zu konnen, die Grundvoraussetzungen flir das Entstehen der Spafigesellschaft}^ Aus dieser Perspektive ist die Spaflgesellschaft ein Synonym fur allseits befreite Individuen, die keinerlei Beschrankungen unterliegen.^"^ Auch Deutschland, die eigentliche Heimat des leidend-melancholischen Hamlet, der betroffenen Mahner und bedenkenden Warner, schien in dieser Zeit SpaB zu verstehen. Es ging hierbei offenbar nicht darum, dass, sondern woruber gelacht wurde. Der Spafigesellschaft wurden in diesem Kontext wesentlich sechs Bedeutungsfelder und Merkmalskomplexe zugeschrieben: Werte und Lebenseinstellungen, Lifestyle, Konsumkultur, Erlebniskultur, Unterhaltungs- und Medienkultur sowie Politikkultur. Die permanente Reproduktion der medialen Spafifabrik ist zur Botschaft aufgestiegen, d. h. die Dominanz des SpaBes um jeden Preis und als Selbstzweck, wurde in dieser Zeit (medial) kultiviert und diskursiv beschrieben. Ebenso die grundlegende Kritik an ihr, die zur Pflichtiibung fur l
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3 Verlust des Ernstes Auf den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik 2001 beklagte der ehemalige ZDFIntendant Dieter Stolte (2002), als Reaktion auf diese Entwicklung, den Verlust des Ernstes und der ernsthaften Beschaftigung mit der Wirklichkeit im Fernsehen - Stolte bezog sich vor allem auf die Programme der privaten Fernsehanbieter. Hierbei kommt zugleich, so Stolte (ebd.: 13f), ein Verlust der gesellschaftlichen Mitte, d. h. eines konsensuellen Horizontes gemeinsamer Werte und Orientierungen, zum Ausdruck: „Wir leben in einer Zeit der - wortlichen ,Zerstreuung', und wir leben durch Unterhaltungsangebote der vielfaltigsten Art haufig nicht nur zerstreut, sondem auch verstreut: jeder vor sich hin, jeder mit einem anderen Programm, einem anderen Ziel, ohne gemeinsames Zentrum, folglich auch ohne Zusammenhalt." Der SpaB der Spafigesellschaft ist, so Stolte, vor allem voyeuristisch und menschenverachtend, ohne ein emanzipatorisches Element zu enthalten (vgl. Hickethier 2002: 92f). In dieser Situation ist es die Aufgabe des offentlich-rechtlichen Fernsehens, gerade auch in unterhaltenden Formaten, sachadaquate und moglichst objektive Wirklichkeitsvermittlungen sicherzustellen, denn gerade eine rein spafibasierte Inszenierung der Wirklichkeit im Fernsehen fuhrt zu medial bedingten Wirklichkeitsverzerrungen, d. h. nur noch zu formatgerechten und aufmerksamkeitsokonomisch erfolgreichen Wirklichkeitsinszenierungen. ^^ Der Ernst muss, aus der Perspektive von Stolte, also stets Grundlage der TV-Wirklichkeitsvermittlungen sein - zumindest gilt dies fiir die offentlich-rechtlichen Sendeanbieter. Mit dieser Diagnose stellt sich Stolte implizit auch gegen alle Thesen, die von der Machtlosigkeit der traditionellen Kultur- und Medienkritik hinsichtlich der Spafigesellschaft sprechen, denn die vermeintlich neue Nonstop Nonsens-Kultur ist reiner Selbstzweck und vertritt keine Positionen, ist damit also auch nicht angreifbar: „Der geistig154-164). Spafigesellschaft, als ein Symptom gesellschaftlichen Wandels, miisste konstruktiv, d. h. objektiv, ernst genommen werden und vor jeder Bewertimg, in ihren Erscheinmigsformen umfangreich beschrieben werden. Eine Auseinandersetzimg in starren Oppositionen, wie z. B. Ernst und SpaB, ist in diesem Kontext inadaquat. ^^ Als Aushdngeschilder des offentlich-rechtlichen Humorverstandnisses konnten z. B. Loriot, Dieter Hildebrandt mit seinem politischen Kabarett-Format Scheibenwischer, Dieter Htisch, Richard Rogler, Martin Buchholz oder, aktuell, Olli Dittrich mit seiner Grimme-Preis pramierten Sendung Dittsche, genannt werden. Bei diesen Akteuren bzw. Formaten ist der SpaB immer Mittel zum Zweck, denn ihnen geht es um eine Problematisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit in ihrem status quo, durch die es dem Zuschauer auch im Medium der Unterhaltung moglich wird, autonome Meinungs- und Willensbildungsprozesse zu initiieren. Entsprechend betont Stolte (2002: 15): „[...] [D]as Thema ,SpaBgeseIlschaft' [behandelt] nicht -jedenfalls nicht primar - eine konservative Geschmacksfrage unter Humorlosen, auch keine Planungsfrage nach der Programmierung von Comedy-Sendungen; es handelt sich vielmehr um die grundsatzliche Frage nach dem Wirklichkeitsverhaltnis und Wertgefiige unserer Gesellschaft iiberhaupt: Was zahlt mehr: SpaB und Spiel oder Ernst und Realitat?"
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moralische Gewinn der neuen Lachkultur liegt auf der Hand: Wer alles ironisiert, hat nichts zu verHeren, schon gar keinen angreifbaren, also verteidigungswerten Standpunkt. Zynische Affirmation als Panzerung eines grtindlich desillusionierten Realismus: Wer an nichts glaubt als an die eigene Schlagfertigkeit, ist vor philosophischem Weltschmerz gefeit. Die Rundum-Ironisierung macht die prinzipielle Indifferenz zur Waffe, die samtliche Differenzen ausraumt, ohne dass alles weh tut. Alles ist moglich, wenn nichts moglich ist" (Mohr 2000).^^ NatUrlich sind solche vermeintlich haltungsvoll-kritischen Rundum-Schldge selbst nur darauf angelegt, Aufmerksamkeit fiir das Andere des Kritisierten zu gewinnen, nicht aber, um diese Aussagen selbst durch eine detaillierte Auseinandersetzung mit den IVSpafiformaten selbst zu fiihren. Zudem wird die Richtigkeit des kritischen Standpunktes selbst unl
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zahlt. In Zeiten seiner medialen Reproduzierbarkeit ist SpaB, folgt man den Diskursen in den einschlagigen Feuilletons und den vereinzelten wissenschaftlichen Reflexionen, zur GroBmetapher des Zeitgeistes, hipper Zynismus, geworden, der vorgibt, nichts vorzugeben, und der dennoch die Verteidigung des gesellschaftlichen status quo betreibt. Raabs (2001) Gesellschaftsdiagnose lautet denn auch: „Die deutsche Gesellschaft nimmt sich heute selbst nicht mehr ganz so ernst [...]. [...] Meine stille Hoffiiung ist, dass wir alle noch mehr tiber uns selbst lachen. [...] Lachen hilft immer." Raab ist es bitter Ernst mit dieser Einschatzung (vgl. Kleiner/Strasser 2001). Zudem verbindet Raab haufig sehr erfolgreich SpaB und Leistungsprinzip in seinen Sport-Spektakel-Sondersendungen, wie Bobfahren, Boxen, Eisschnelllauf, Turmspringen, Stock-Car-K.QrmQn usw. Andererseits konnte das Motto dieser sportifizierten Spafi-ZLeistungs-Spektakel auch lauten: Ernst ist das Leben, he iter der Sport. Hickethier (2002: 86f.) interpretiert diesen Zusammenhang, ohne sich hierbei auf Raab zu beziehen und mit Blick auf Gameshows, als ein konstitutives Merkmal von Unterhaltungsshows im deutschen Fernsehen. TVmedial vermittelter SpaB, ebenso wie die damit verbundenen Aspekte, Unterhaltung und Erlebnis, sind nicht das qualitativ Andere bzw. eine Gegenwelt zur Arbeit, sondern nur andersartige Formen von Arbeit: „Unterhaltung ist Anspannung bei gleichzeitigem Lacheln, und bedeutet Leistung. Fernsehunterhaltung ist harte Arbeit. [...] Die Leistungsorientierung der Fernsehunterhaltung bUeb durchgangig erhalten. [...] Kein SpaB ohne Leistung, ohne Arbeit kein Vergntigen."^^ Es ware in diesem Kontext nicht ausreichend, zu behaupten, dass es sich bei Raab um Ironisierungen dieses Charakteristikums deutscher Fernsehunterhaltung handle. Vielmehr wird u.a. sein sportlicher Ehrgeiz permanent in Szene gesetzt. Zudem soil die Wahl immer wieder anderer Sportarten verdeutlichen, dass Raab sich jeder (sportlichen) Herausforderung stellt und dabei eine (mehr Oder weniger) gute Figur macht. Entgegen dieser These konnte man allerdings auch einwenden, dass der Medienkritiker, auf Grund seiner (diskursiven bzw. theoriepolitischen) Sozialisation, gar nicht (mehr) in der Lage ist, sich von diesen Unterhaltungsformaten unterhalten zu lassen, also sich auf sie in ihrer Eigensinnigkeit einzulassen. '^ Diese Uberlegung von Hickethier weist eine deutliche Referenz zu Adornos und Horkheimers Unterhaltungs-KxiWk (1997: 158f.) auf: „AmuseiTient ist die Verlangerung der Arbeit unterm Spatkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht tiber den Freizeitler und sein Gliick, sie bestimmt so grtindlich die Fabrikation der Amusierwaren, dass er nichts anderes erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche hihalt ist bloB verblasster Vordergrund; was sich einpragt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Biiro ist auszuweichen, nur in der Angleichung an ihn in der MuBe."
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In diesem Kontext konnte auch auf die in diesen Sendungen (symbolisch) stattfindende Umkehrung eines wesentlichen Motors nationalsozialistischer Befmdlichkeit, namlich des Prinzips Kraft durch Freude, hingewiesen werden hiermit soil nicht behauptet werden, dass dies als bewusste Produktionsstrategie gewahlt wird. Ftir Raabs Spafi-ZLeistungs-Spektakel gilt hingegen: Freude durch Kraft. Andererseits wird, wie Behrens (2003: 226f.) betont, in den 1970er Jahren die Spafikultur zur deutschen Vergangenheitsbewaltigung: „Zur deutschen SpaBkultur der Siebziger gehort eine restaurierte Fassung des Clowns (der im Zerrbild Nazideutschlands immer beides war, Schwarzer und Jude); die ehemaligen Opfer des Terrors werden jetzt als Gastarbeiter der Kulturindustrie rehabilitiert, das Lachen tiber sie wird zur Entscheidung fur den Massenmord: Roberto Blanco, Tony Marshall, Bill Ramsey, Rudi Carell sind die lustigen Auslander, deren gebrochenes Deutsch komisch ist. Vater Abraham, ebenfalls Auslander, ist der lustige Rabbiner, Hans Rosenthal [...] der Jude, der den Deutschen nichts libel nimmt, und selbst im Kiinstlernamen und Kostiim von GottHeb Wendehais steckt eine komische Variation des stereotypen Juden."^^ Das gleiche Interesse am Verkauf von Spafiprodukten, das Raab flir seine Produktionen betont, attestiert Precht (1998: 47) Harald Schmidt, denn fiir ihn wtirde es „kein Richtig und kein Falsch, kein Gut oder Bose, sondern bloB verkaufliche Ware oder Ladenhtiter" geben. Berger (1998: 38) geht in seiner Kritik an Schmidt noch einen Schritt weiter: „Das frivole Weltbild dieser TVUnterhaltung entspringt der Ideologic der politischen Unkorrektheit. Sie macht atavistischen Sexismus und Chauvinismus, unter der Vorspiegelung auflclarerischer Absichten, wieder gesellschaflsfahig. Von den Fans wird der Quatsch unter Artenschutz gestellt: alles Kult! Und was unter Kultvorbehalt steht, ist unangreifbar: Wer's laitisiert, hat's nicht kapiert. Soviel Blodsinn war nie" (vgl. Koch 1998; vgl. Strasser/Graf 2004: 75ff.). Diesen I-Critiken konnte entgegengehalten werden, dass Schmidt bewusst mit medialem und geseilschaftlichem Diskursmaterial spielt, d. h. die jeweiHgen Themen durch Ironisierung, Zynismus, Sarkasmus, Oberspitzung, Klischees, Vergroberungen usw. in ihrer Absurditat oder Fragwtirdigkeit aufdeckt. Schmidt ware aus dieser Perspektive Medium sowie Initiator von Gesellschafts- und Medienleitik, die er mit den Mitteln der Comedy^^, der Satire, der Parodie und der Ironic"^ inszeniert sowie hierbei ^'^ Dies ist aber nur die eine Seite der medialen Spafikultur in den 1970er Jahren. Neben ihr existierte, abgesehen vom politischen Kabarett und anderen spafibasierten Unterhaltungsinstitutionen, der Versuch, den Alltag bzw. die Freizeit nach dem Arbeitsalltag als Karneval bzw. als sinnfreien Bereich, in dem das Prinzip des Nonstop-Nonsens zelebriert wurde, zu inszenieren. Beispiele fiir diese Form deutscher Spafikultur in den 1970er Jahren sind etwa Didi Hallervorden, Otto Waalkes, Mike Kruger oder Gottlieb Wendehais. ^" Versteht man (politisches) Kabarett als grundsatzlich gesellschaftskritisch und betont, dass Comedy im Unterschied zum Kabarett ohne „gesellschaftsveranderndes Leitmotiv" antritt, dann miisste
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von der Gesellschaft und den Medien permanent mit Material beliefert wird. Zudem mtissen die Zuschauer von Harald Schmidt relativ gut informiert sein, denn ohne die Kenntnis des gesellschaftlichen Kontexts seiner SpaBe, gabe es flir sie wenig zu lachen. Dies bedeutet aber zugleich, dass nur die, die verstehen, dazugehoren und alle anderen keinen Zugang zur Spafigemeinschaft haben. Umfassende Kenntnis iiber die gesellschaflliche Wirklichkeit, um liber die SpaBe von Schmidt lachen zu konnen, dies als Anreiz fiir jenes, ware ein durchaus positiver (medialer) Sozialisierungseffekt. Hier besteht ein deutlicher Unterschied zu Stefan Raab, der seine Referenzen zumeist aus der Popularkultur bezieht und fur (fast jeden) unmittelbar anschlussfahiges Programm liefert.^^ Zudem produziert er SpaB bzw. Kalauer, iiber den/die jeder seiner Gaste unmittelbar lachen kann, der/die sich aber nach dem Lachen sofort in Nichts auflosen, vergessen werden, um die Biihne umgehend wieder fiir die nachste Ladung freizumachen und somit das Prinzip von reiner Unterhaltung, aus der nichts folgt und die nichts Nachhaltiges, auBer vielleicht dem Gefiihl, gut unterhalten worden zu sein, moglichst effektiv verwirklicht. Andererseits lebt Raab konstitutiv von der Schadenfreude, die durch das Vorflihren von Personen^"^ und der Kommentierung ihrer Aussagen bzw. ihres Handelns, die zum kollektiven Verlachen anregt, eingespielt wird. Zudem werden besonders auffdllige Beispiele archiviert und in jeder Sendung, fiir einen bestimmten Zeitraum, immer wieder durch Tastendruck eingespielt. Diese Einspielungen zahlen zu den kultigen Aspekten der Sendung, in ihnen wird das Verlachen von Peinlichkeiten zum Stilmittel, iiber dessen Folgen nicht nachgedacht wird.
man Schmidt attestieren, Kabarett und nicht Comedy zu betreiben (vgl. Strasser/Graf 2004: 75ff.) auf Unterscheidungen zwischen humoristischen Genres wird in diesem Aufsatz verzichtet. Entsprechend betont der Kabarettist Dieter Hildebrandt (1999: 18): „Harald Schmidt ist ein hervorragender Kabarettist, und er macht in seiner Show Kabarett - nur muss ihm das endlich mal einer mitteilen." "' Im Kontext dieses Beitrags kann keine differenzierte Unterscheidung zwischen verschiedenen humoristischen Genres und ihren Stihnittehi durchgefuhrt werden. ^^ Diese Anschlussfahigkeit ist bedingt eingeschrankt, weil bei vielen strategischen Redundanzen bzw. Running Gags, die als „formelhaftes Gag-Repertoire" (Schmidt 2002: 202) aufgefasst werden konnen, ein Insiderwissen bestehen muss. Hierbei handelt es sich z. B. um haufig wiederkehrende Witze Oder das kontinuierliche Einspielen von Ausschnitten, um unterschiedliche Situationen zu kommentieren, d. h. „um kurze Statements prominenter Personen, die auf eine bestimmte Art komisch wirken (haufig handelt es sich um Fehltritte Prominenter [aber auch von Nicht-Prominenten MSK] in der Offentlichkeit, um Versprecher und Formulierungsunsicherheiten oder um unlogische bis skurrile Aussagen" (ebd.: 201). Allerdings reicht das Sehen von zwei Sendungen an aufeinander folgenden Tagen aus, um sich dieses Wissen anzueignen. ^^ Hierzu zahlen etwa alte Menschen, die zu Dingen befragt werden, bei denen sie sich nicht auskennen oder das Zeigen von Personen, die im Fernsehen auftreten und als besonders peinlich erscheinen.
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Adorno und Horkheimer (1997: 163) wtirden diese Form von Spafi konstitutiv ablehnen: „Das Kollektiv der Lacher parodiert die Menschheit. Sie sind Monaden, deren jede dem Genuss sich hingibt, auf Kosten jeglicher anderen, und mit der Majoritat im Riickhalt, zu allem entschlossen zu sein. In solcher Harmonie bieten sie das Zerrbild der Solidaritat." Der Humor der TVSpafiformate wird dann problematisch und diskriminierend, wenn durch ihn Stereotype, etwa sexistische Weiblichkeitsbilder, klischeehafte Darstellungen der Mentalitaten sowie Sitten und Werte von Auslandern oder die Darstellung gesellschaftlicher Randgruppen, nur als Selbstzweck, d. h. um sie zu verlachen, inszeniert werden. Im Akt des vermeintlich sinnfreien Lachens liber diese SpaBe wird nicht bedacht, welche Ideologien und Vorurteile hiermit unkritisch iibernommen bzw. affirmiert werden. Mit dieser Einschatzung wird nicht behauptet, dass die Spafiproduzenten ideologische, rassistische oder andersartig diskriminierende Aussagen vertreten. Vielmehr wird hiermit Icritisiert, dass sie dies in Kauf nehmen, um funktionieren und am laufenden Band produziert werden zu konnen. Im Unterschied zu Schmidt, der sich ausschlieBlich auf Medienberichte bezieht und fast ausnahmslos auf Medienpersonlichkeiten und medial suggerierte Mentalitaten eindrischt, lebt Raab auch immer wieder vom Vorfiihren normaler Menschen, die aber in ihrer Peinlichkeit als unnormal ausgewiesen und daflir an den medialen Pranger gestellt werden.^"^ Dies als Kritik an den Medien oder an denjenigen, die sich bewusst den Medien aussetzen, zu verstehen, greift zu kurz. Ebenso die Behauptung, dass viele der vermeintlichen Opfer von TV Total durch ihre Vorfiihrung fmanzielle und aufmerksamkeitsokonomische Vorteile hatten. Der erste Einwand tibersieht, dass es Raab nur um das Verlachen geht, nicht aber um eine Kontextualisierung und kritische Kommentierung. Im zweiten Fall, wie etwa das Beispiel von Regina Zindler"^ und ihrem Rechtsstreit um ^^ Dieses Vorfiihren ist ein zentraler Bestandteil der Sendung und trifft auch Medienpersonlichkeiten sowie die Zuschauer im Studio. Insofern ist der folgenden Einschatzung von Schmidt (2002: 222) zuzustimmen: „Wer [...] in eine Sendung eingeladen wird, soil der Lacherlichkeit preisgegeben werden - das wissen zumindest die Zuschauer und Raab, aber auch ein GroBteil seiner Gaste. Nicht besondere Fertig- oder Fahigkeiten des Castes, sondern unintentional hervorgebrachte, komische Aspekte der Person stehen im Vordergrund, die in der Sendung - womoglich - re-inszeniert werden sollen. Aus diesen Vorstellungen beziiglich des Gastauftritts resultiert eine besondere Kommunikationssituation, die sich dadurch auszeichnet, dass der Gast von vomherein unter immensem Handlungs- und Selbstdarstellungsdruck steht: Spannung und Rezeptionsvergniigen entsteht durch den auf diese Weise unweigerlich entstehenden Versuch des Gastes, sein Gesicht zu wahren." AUerdings sind Medienpersonlichkeiten, die regelmaBigen Umgang mit dem Medium Fernsehen haben und sich in diesem inszenieren, besser darauf vorbereitet, mit Raabs Aktionen umzugehen, als normale Menschen, die keine oder kaum Medienerfahrung haben. ^^ \m Fernsehgericht von Sat 1 hat Regina Zindler ihren Nachbarn 1999 verklagt, weil dessen Knallerbsenstrauch durch ihren Maschendrahtzaun gewachsen war.
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den Maschendrahtzaun sowie dessen Vertonung durcli Raab, die auf Platz 1 in den deutschen Hitparaden stieg, zeigt, wird nicht beachtet, dass Personen, die nicht medienkompetent sind, d. h. abschatzen konnen, welche Folgen ihr Medienauftritt bewirken kann, Situationen und psychische Belastungen bewaltigen mlissen, auf die sie nicht vorbereitet sind bzw. mit denen sie nicht umgehen konnen. Zudem ist der Regina Zindler-Hype erst durch die umfassende Thematisierung in TV Total initiiert worden bzw. durch Raab zur Witzfigur der Nation aufgestiegen.^^ Raabs Standardantwort auf diese Kritik ist, dass niemand Regina Zindler gezwungen habe, mit ihrem Rechtsstreit ins Fernsehen zu gehen und die zahlreichen Interviews zu geben sowie ihre Einbindung in andere Medienformate zuzulassen. Er und sein Team hatten ihr sogar davon abgeraten und psychologischen Beistand angeboten. Raab beachtet dabei nicht, dass er sich in diesem Fall nicht als medienkompetent erwiesen hat, denn dass das Vorftihren von Regina Zindler, wie in vielen anderen Fallen von TV Total auch, mediale Nachhaltigkeit bzw. Weiterverarbeitung verursacht, hatte er absehen mlissen (vgl. zum Thema Medienopfer Gmiir 2002). Brinlcbaumer (2000: 23) kommentiert die medialen Hinrichtungen von Raab wie folgt: „Die Welt ist irre geworden, und die Menschen sind lacherlich; lasst uns also SpaB mit ihnen haben, weil es langweilig ware, die Zustande zu la*itisieren - so denkt Raab. Und er fiihrt Menschen vor, damit andere Menschen liber sie lachen und sich freuen konnen: Ich kenne den Typ im TV zwar nicht, aber der ist viel bloder, hasslicher, primitiver als ich. Raab verhilft jenen Leuten, die sich flir ein wenig Ruhm den Zuschauern zum FraB vorwerfen mochten, zum Auftritt ihres Lebens im Circus maximus. Dort werden sie berlihmt flir fiinf Minuten und dann gekopft. Und diese Hinrichtungen sind das Lustigste, was es derzeit gibt auf deutschen Bildschirmen" (vgl. Schmidt 2002: 222). Und Jorg Grabosch, Vorstandsvorsitzender der Produktionsfirma Brainpool TV, antwortet auf die Frage, ob man Menschen im Stil von Raab im Fernsehen bloBstellen durfe: „Naturlich muss man, weil es lustig ist" (zitiert nach Brinl<:baumer 2000: 24). Das Vorfiihren und Hinrichten von Nicht-Prominenten durch Raab kann ebenso wenig durch den SpaBfaktor gerechtfertigt werden wie eine damit suggerierte Behauptung, dass das Publikum genau dies sehen wolle, man sich nach diesem richte und es dadurch mitschuldig sei. Eine interessante Funktion hatte dieses Vorfiihren nur, wenn dadurch ein abschreckendes Exempel statuiert werden konnte, das davor schlitzen wlirde, auf Gedeih und Verderb ins Fernsehen kommen zu wollen, obwohl fast alle eine schlechte Figur machen und den Satz bestatigen, dass der, der sich ins Fernsehen begibt, darin umkommt. ^^ Ein anderes Beispiel ware die Schiilerin Lisa Loch, die Raab in seiner Sendung wiederholt mit der Pornobranche in Verbindung gebracht und sie somit offentlich zur Witzfigur gemacht hat. Vom Landgericht Essen wurde Raab hierfiir zu einem Schmerzensgeld von 22.000 Euro verurteilt.
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Schmidt fungiert, im Unterscliied zu Raab, als Katalysator der (Medien-)Gesellschaft, der nur so gut oder so schlecht sein kann, wie diese ist bzw. ihn sein lasst.^^ Wenn Schmidt in den Fokus der Kritik kommt, dann mtissen, folgt man dieser Perspektive, jedes Mai auch diejenigen mitkritisiert werden, die die entsprechenden Diskurse zu verantworten haben. Mit dieser Methode gibt Schmidt die Aufgabe der Bewertung seiner AuBerungen in den Entscheidungsbereich der Zuschauer, die wahlen mtissen, ob sie Schmidts Programm als Diskurs-Angebote bzw. „gesellschaftliche Lockerungstibungen" (Mohr 2000) oder als Zerstreuungsangebote nutzen. Andererseits ist in diesem Kontext aber auch die Frage, die Kotte (1996) gestellt hat, von Bedeutung: „Satire muss alles dlirfen. Muss ein Satiriker alles machen, was er darf?" 5 Politisch inkorrekt oder notwendige Ventilfunktion? Ein kurzer Blick auf die Spafigesellschaft, wie sie organisiert ist, hilft in diesem Kontext weiter. Denn sie kommt auf zwei Ebenen daher: Auf der einen, der Oberflache, operiert das mediale Design der SpaBformate nach dem Prinzip „Erlebe dein Leben" (vgl. Schulze 1992). Fun als erlebnisorientierte Selbstinszenierung, Spafi' und Erlebnisgesellschaft in inniger Wahlverwandtschaft. Auf der Tiefenebene wiederum fungiert der SpaB als Instrument der Reglementierung sozialer Verhaltnisse. Die Spafigesellschaft ist, folgt man Horisch (2002b: 274), sowohl hochgradig affirmativ als auch totalitar. Wenn der SpaB regiert, dann total, und TV Total gibt die Spielregeln vor, nach denen sich alle richten mussen.^^ ^^ Zudem testet Schmidt permanent, wie belastbar bzw. tolerant diese Gesellschaft, seine Zuschauer sowie die Programmverantwortlichen sind, indem er wiederholt Programmelemente einbaut, die (allein) zu seiner Belustigung dienen (etwa das einminiitige, unkommentierte Laufen lassen eines Metronoms; die Zwiegesprache mit seinem Beisitzer Manuel Andrack; das Nachspielen des Literarischen Quartetts sowie von Passagen aus Becketts Endspiel; oder die Moderation einer Sendung auf Franzosisch), mit denen die Zuschauer kaum etwas anderes anfangen konnen, als sie unter der Rubrik kultiger Unsinn zu verbuchen und daruber lachen, dass es in diesen Fallen eigentlich nichts zu lachen gibt. Schmidt (2002: 223) kommentiert dies wie folgt: „Ich mochte wissen, wie weit ich's treiben kann. Das ist reinste private Onanie." Und in einem Interview mit Tuma (2005: 174) betont er: „Mein Programmdirektor Dr. Giinter Struve hat quasi per Dogma verkiindet, ich dtirfe alles sagen, Ihnen muss ich nicht erklaren, dass ich mit solchen Erlassen wie in Watte laufe [...]." ^^ Entsprechend betont Brinkbaumer (2002: 25): ,„TV total' ist totalitares TV, well es die Spielregeln aufstellt, nach denen sich alle richten mtissen. Raab spielt mit ihnen und sagt: Ist mein Job, lass dich von mir verarschen, damit wir alle was zu lachen haben." Fine andere Interpretation schlagt Schmidt (2002: 199) vor: „Der Titel der Sendung [...] korrespondiert mit Stil und Inhalt des Formats: Im Zentrum stehen TV-Ereignisse und ihre Protagonisten, mit denen Raab suggeriert, sich ,totar i. S. V, vollstandig, restlos und ganzlich, aber auch i. S. v. ,aufklarerisch' und respektlos zu beschaftigen. [...] Mit Einleitungen wie ,Meine Damen und Herren, schauen Sie sich das bitte mal an' im Verein mit dem Aufruf zur kollektiven Beurteilung [...] inszeniert er sich spielerisch als Sitten- und Medienwachter [...]. Insgesamt versucht er dadurch, augenzwinkernd den Eindruck zu erwecken, er und seine Sendung seien bemiiht, Qualitatsstandards im Fernsehen zu kontrollieren [...]."
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Wer kann sich vom Diktat der Witzischkeit schon freimachen, ohne soziale Sanktionen befiirchten zu mtissen, d. h. nicht dazuzugehoren? Martenstein (2002) weist die These vom totalitaren, faschistoiden Charakter der Spafigesellschaft zurtick und leitet aus dieser Kritik eine Kritik an den ICritikern der Spafigesellschaft her: „Tatsachlich ist es die Kritik an der SpaBgesellschaft, die auf einem Begriff von gesellschaftHcher Totalitat insistiert, auf einer Gesellschaft, die gefalligst tiberall bestimmten Wert- und QuaHtatsstandards zu entsprechen hat, MaBstaben, die eine von niemandem legitimierte Jury festlegt. Nicht die SpaBgesellschaft ist totalitar, ihre Kritiker sind es schon eher."^^ Als Grund fiir diese Kritik von Seiten der Intellektuellen, bezeichnet Martenstein die, mit dem vermeintlichen Wissen um die wahre Wahrheit sozialer Wirklichkeit legitimierte Kritik an der Massenkultur und Massendemokratie, nicht aber primar am SpaB, Humor oder Vergniigen seibst, sie urteilt also liber Gegenstande, die sie gar nicht in ihrer Eigensinnigkeit analysiert: „Denn ,SpaBgesellschaft' ist nur ein anderes Wort ftir den kulturellen Sieg des Proletariats. Der kleinen Leute, sollte man vielleicht besser sagen. In der kapitalistischen Demokratie setzen die kleinen Leute MaBstabe, schon deshalb, weil sie so zahlreich sind, als Kunden und Wahler." Diese Einschatzung Ubersieht, dass sich Geschmackspraferenzen in der Massenkultur vor allem daran ausrichten, was angeboten wird. Diese Angebote werden stets vorgegeben, sind also keine Ergebnisse der freien Wahl von Rezipienten, Kunden bzw. Blirgern. Zudem sind nur wenige Vertreter der Massen in der Lage, Kultur machen zu konnen, also etwa Musiker, Literaten oder Ktinstler. Nicht zuletzt gibt es keinen homogenen Markt der Massenkultur, sondern vielfaltige Markte mit jeweils unterschiedlichen Interessenten, die in ihrer Totalitat nicht die eine Stimme der (einen) Masse ausdrticken. Die Spafigesellschaft auBert sich aber nicht nur in sichtbaren Verhaltensweisen. Weniger sichtbar ist die Bedeutung, die ihre kulturellen Auspragungen fur die Individuen und fur den sozialen Zusammenhalt haben. Spafikultur sei nichts anderes „als die Dominanz von Unterhaltung gegentiber Substanz, Kurzweil gegentiber langwieriger Reflexion", betont Btisser (2001: 161).^^ Positiver bewertet Bolz (1999: 164) die gegenwartige Spafimanie, indem er auf den ausgleichenden Charakter der Spafikultur verweist. Und meint damit den ComedyBoom der letzten Jahre im Fernsehen: „Deutschland hat heute [...] beides zu bieIn vergleichbarer Weise schatzt dies Posener (2001) ein: „Der SpaB ersetzt nicht Arbeit, Leistung, Frlihsport, was man hier zu Lande den ,Emst des Lebens' nennt; aber er steht dem bestimmt nicht im Weg. Und er ist eine viel zu ernste Sache, als dass man ihn den linlcen und rechten Kulturpessimisten iiberlassen diirfte." ^" Das Grundmuster dieser Argumentation pragten Adorno und Horkheimer (1997: 191) in ihrer Rede von der „zwanghafte[n] Mimesis der Konsumenten an die [...] Kulturwaren".
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ten: die ernste Kultur der Kritik der Kultur und - als Wiedergutmachung - die ,tolle Welt' der Comedy. Wir haben die Agenten der Betroffenheitskultur, die auf alle Weltereignisse mit ,Wut und Trauer' reagieren, und die Witzarbeiter, die das alles in ,eine tolle Sache' verwandeln. Die einen produzieren schiechtes Gewissen, die anderen entlasten davon. Und eben daflir haben wir den Comedies zu danken: ihr Lachen befreit von der Heuchelei. Die Zumutungen des politisch Korrekten werden ertraglich durch das allabendliche TV-Training von Lassigkeit. Und es hilft. Deutschland wird laxer, lustiger, lockerer." Abgesehen von der Frage, ob diese Einschatzung von Bolz, zumindest idealtypisch, zutrifft, ist sie wenig geeignet, um im Feld der Auseinandersetzung mit der Spafigesellschaft bzw. mit entsprechenden TV-Spafiformaten, voranzukommen. Vielmehr wird durch sie der Graben zwischen den beiden Polen Ernst, als Synonym ftir Sinn, Hochlmltur, kritisches Bewusstsein, Verantwortung, Humanitat etc., und SpaB, stellvertretend ftir Unsinn, Massenkultur, Erleben, Freiheit von permanenter Verantwortungs-, Kritik- und Betroffenheitsverpflichtung sowie von Ernsthaftigkeit und Wertbewusstsein, noch vergroBert. Zudem verstellt Bolz durch sein Pladoyer fur die befreiende Wirkung der TY-Comedy den Weg, um ijber Alternativen nachzudenken, also Gesellschaft nicht nur zwischen einer kulturellen O-J-Werteskala, d. h. pseudodialektisch, zu betrachten. 6 11. September 2001 Nach dem 11. September 2001 schien alles anders geworden zu sein,"^^ nur Schmidt & Co nicht, obwohl in diesem Zeitraum wiederholt vom Ende der Spafigesellschaft gesprochen wurde (vgl. u.a. Martenstein 2001; Schmidt 2001; Guntner 2001; Seifert 2001 sowie die Beitrage in Seubold/Baum 2004a). In der Tat greift der comedian schon immer Angst- und Tabuthemen auf und zeigt uns deren logische, manchmal schockierende Zusammenhange. Ftir groBes Aufsehen und viel Kritik sorgte eine nach dem 11. September 2001 erschienene Fotomontage des Satire-Magazins Titanic, auf der der Kopf von Wolfgang Thierse ^' Diese vermeintliche Veranderung ist allerdings, wie der Kabarettist Matthias Deutschmann (2001) beschreibt, nur eine Konjunkturerscheinung, die letztlich nichts mit moralischer Gesinnung zu tun hat. Deutschmann antwortet daher auf die Frage, ob nach dem 11. September und dem AfghanistanKrieg die Spafigesellschaft endgultig zu Ende gekommen sei: „Das ware ein falscher moralischer Ansatz. Der kommt von genau den Leuten, die die SpaBkultur betreiben. Das Muster ist das gleiche: Ein Problem wird skandalisiert, ein Imperativ aufgestellt. Schluss mit lustig! Wohl wissend, dass die Leute noch schneller zur Normalitat zurlickkehren, wenn sie so ein Verbot liber sich schweben sehen. [...] Die Abstinenz vom taglichen Nonsens konnte nur von kurzer Dauer sein. Die Moralapostel des Boulevards sind in sich gegangen, aber die Reise hat sich offenbar nicht gelolint. [...] Diese Gesellschaft kann die moralische Schublade immer nur eine Zeit lang offen halten, dann wird sie wieder geschlossen. Es ware sehr verwunderlich, wenn so ein Ereignis innerhalb von wenigen Tagen die Grundhaltimg der Gesellschaft verandern konnte."
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veroffentlicht wurde und liber der die Schlagzeile stand: „Die Spur fiihrt nach Deutschland". Der Kommentar hierzu vom rzYa^zc-Chefredakteur Sonnebom (2001: 117) lautete: „Thierse hat schlieBlich einen Extremistenbart und kommt aus der DDR, also dem Nahen Osten." Der rto^/c-Beitrag ist durchaus geeignet, die Ereignisse des 11. Septembers mit den Mitteln der Satire aufzuarbeiten, zumal er nicht unerhebliche Anforderungen an den Rezipienten stellt und somit einen informierten sowie eigensinnigen Rezipienten erfordert. Witze tiber schreckliche Ereignisse gehen aber, folgt man Schuller (1997: 32), mit menschlichem Leid unangemessen um, gerade well darin ihre Funktion besteht: „Das GroBe, das zu groB, das Schreckliche, das zu schrecklich ist, als dass man es ertragen konnte - der Witz schnitzt es klein." Beispiele, die diese These belegen wtirden, und die vermeintliche Ventil- bzw. Entlastungsfunktion des Humors hinsichtlich des 11. Septembers ad absurdum ftihren, waren etwa die Flut von Bin-Laden- und Taliban-Kalauern bzw. Terror-Witzen sowie Dutzende von verfremdeten Digitalbildem, die im Internet zu fmden waren bzw. sind (vgl. mit einer Bewertung u.a. Kreitling 2001; Skywalker 2002). So gab es etwa eine Internetseite, die als Taliban Single-Borse aufgemacht und deren Betreiber Osama Bin Laden ist; andererseits Bilder von einem neuen Mitglied in der Kinder-Serie Teletubbies, das mit einem Bart und Maschinengewehr ausgerustet ist und Tali-Tubby heiBt; oder eine Werbung ftir die Bin Laden-Airlines: „Bin Laden Airlines bringt sie direkt ins Biiro!" Als Witze kursierten auch: „Zwei Turme sind verliebt, sagt der eine zum anderen: ,Mir ist so schwummrig!' ,Warum?' ,Ich glaub, ich hab Flugzeuge im Bauch!'". Oder: „Was sagt Osama Bin Laden, wenn er in ein Flugzeug steigt? Einmal 46. Stock, bitte." Wenn der SpaBmacher seinen Zuschauern und -horern die Sicherheit zu geben vermag, dass man mit dieser Welt noch immer fertig geworden sei, dann macht SpaB allemal Sinn. Derm SpaB und Humor bedeuten Distanz, jedenfalls das Gegenteil von Fanatismus.^^ Kreitling (2001) beurteilt den Erfolg dieser spafibasierten Verarbeitungsrituale ambivalent: „Die Bilder-SpaBe tiber das Attentat betreiben Lach-Seelsorge, sie sind das Ventil ftir das Unaussprechliche. Das Internet ist das Medium der niedrigschwelligen Kommunikation, niemand muss sich in die Agora begeben, um einen Witz zu erzahlen, der vielleicht als geschmacklos geahndet wird, die Dateien wahren eine verschmahte RestDistanz. [...] Sagt das etwas liber unser Unterhaltungsbediirfnis? Uber die Veranderung unserer Kultur? Zeigt die lachhafte Wehr das Grummeln der so genannten SpaBgesellschaft liber die herrschende Moral? Das Bild ist uneinheitlich. [...] Man wird die Digi-Fakes und Bin-Laden-Witze einmal als popkulturel^^ Entsprechend betont Precht (1998: 47): „Eine Gesellschaft, die sich trotz Hunger, Elend und Ungerechtigkeit moralisch gut fiihlen will, braucht zynische Clowns. Mehr noch als die Sinnproduktion hilft die Unsinnproduktion, das abzuarbeiten, was Wissen und Alltag in der Demokratie anstauen."
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le Reaktion betrachten konnen. Doch die Zeit der Taliban-Witze ist begrenzt, was kommt danach? Die StraBe nach Katharsis muss ziemlich breit sein." Diese Einschatzung von Kreitling weist einerseits auf einen erheblichen Mangel an gesellschaftlich zur Verfugung stehenden Mitteln bin, mit gesamtgesellschafllich bzv^. weltgesellschaftlich relevanten Katastrophen bzw. Ausnahmezustanden adaquat umzugehen. Vielmehr offenbaren diese spaBbasierten Verarbeitungsversuche eine Handlungsunfahigkeit und die Grenzen der Moglichkeiten emotionaler und intellektueller Stellungnahmen. Der Versuch, mit Bildern auf Bilder zu reagieren, d. h. neue Bilder, die vom Druck der Dokumentationen des Schrecklichen entlasten sollen, ist, hinsichtlich des 11. Septembers, in fast alien Fallen nicht gegliickt. Mehr noch, sie haben das Klima kollektiver Verunsicherung und Angst eher noch potenziert. In der Diskussion der Frage, ob sich die {spafibasierte) TV-Unterhaltung nach den Ereignissen vom 11. September 2001 weiterentwickeln bzw. grundlegend verandern mtisste, sind somit auch bis heute keine konlcreten Anderungsvorschlage formuliert worden. Forderungen, dass sich die Fernsehunterhaltung, speziell die (sinnentleerten) Spafiformate, etwa von Vereinfachungs-, Ironie- oder Radikalisierungsmaschinen zu verantwortungsvollen sowie selbstkritischen Informanten und Unterhaltern mit kulturellem Auftrag entwickeln mtissten,^^ sind zu oberflachlich, eindimensional und interessenpolitisch motiviert, um einen qualitativen Beitrag zu dieser Debatte zu leisten. Ausgehend von solchen Vorschlagen hatte auch eine Debatte liber den Umgang von Comedy mit (welt)gesellschaftlichen GroBereignissen (Terror, Krieg, Politik, Katastrophen etc.) initiiert werden konnen, an dem sich die Comedians, Journalisten, Interessenvertreter, Wissenschaftler usw. hatten beteiligen konnen. Diese Auseinandersetzung hatte im Fernsehen auf den Sendeplatzen der einschlagigen Comedy-Formate geftihrt werden konnen, um entsprechende Aufmerksamkeit zu erzielen und den Comedy-Zuschauern, so sie diese liberhaupt interessiert hatte, ermoglichen konnen, sich an dieser Debatte zu beteiligen. In diesem Feld bestunde eine Chance fiir die Medien- und Sozialwissenschaften mit entsprechenden Analysen und Kritiken sowie durch die Generierung von Handlungsszenarien, allerdings immer in Kooperation mit ande^^ Fiir Seifert (2001) ist das Pladoyer fiir eine neue Ernsthaftigkeit und Wertegemeinschaft lediglich eine mediale Erziehungsdiktatur, die, im Medium der „emotional correctness", eine medial initiierte Vergemeinschaftung erreichen mochte, und zwar durch „die Beschworung der groBen, elementaren Gefuhle: Trauer, Entsetzen und Zorn". Ein emanzipatorischer Umgang mit den Ereignissen vom 11. September 2001 ist hierbei allerdings nicht moglich, vielmehr soil, folgt man dieser Perspektive, Anschluss an die neue Wertegemeinschaft erfolgen, weil diese Werte jedem unmittelbar einleuchten miissen, sie als Biirgerpflicht erscheinen. Almlich verhielt es sich mit der Losung, die der amerikanische Prasident George W. Bush fur den Kampf gegen den Terror ausgab und dem man sich nur unterordnen konnte, um nicht ins Abseits der Wahrheit und Richtigkeit zu geraten und damit bekampft zu werden: „Eitheryou are with us or against us.''
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ren gesellschaftlichen Institutionen, Krisenbewaltigungsarbeit zu leisten, die u.a. vor der Konstruktion von Feindbildem sowie der Produktion von kollektiven Angstzustanden schtitzen konnte. Skywalker (2002) betont in diesem Kontext: „Bin Ladens Person eignet sich nicht fur einen guten Witz, weil der Djihad und die Taliban nicht witzig sind - Amerikas Potenz und Allmachtsphantasien, die z. B. die Taliban tiberhaupt erst zu dem gemacht haben, was sie jetzt sind, allerdings schon!!!" Emanzipatorische und wirklich therapeutische Formen des Humors sind fur Skywalker diejenigen, die sich, bleibt man bei den Ereignissen des 11. Septembers, nicht tiber die Opfer lustig machen, sondem „tiber die Verhaltnisse, in denen Menschen zu Opfem werden" (ebd.: 128). Hierbei sollte aber keine Konsensgemeinschaft erzeugt, sondern unterschiedlichste Aspekte, so kontrovers wie moglich, hervorgehoben werden, um vielfaltige Diskussionen bzw. Auseinandersetzungen mit den einzelnen Themen anzuregen. Allerdings kann dieser Kampf an der symbolischen Humorfront nicht immer von den realen Ereignissen gelost werden. Ftir Sky walker (ebd.: 130) kann das Einsttirzen der Twin Towers Gegenstand einer humoristischen Auseinandersetzung werden, wenn sie als Symbol fiir die Macht bzw. Allmachtsphantasien Amerikas und des westlichen Kapitalismus verstanden werden. Ebenso, wenn die Unternehmer und Mitarbeiter der in den Twin Towers angesiedelten Firmen, als Untersttitzer bzw. Diener des kapitalistischen, hegemonialen Systems aufgefasst werden, wtirde ihr (verzweifelter) Sprung aus den Fenstem insofem die gleiche Komik besitzen, wie der Einsturz der Twin Towers, Skywalker hat Recht, wenn er eine reflexive Form des Humors fordert, durch die die Situationen, aus denen Ereignisse wie der 11. September, resultieren, offen gelegt werden.^"^ Allerdings ist der Einsturz der Twin Towers mit Tausenden von Toten verbunden und kann in keiner Weise zum Gegenstand einer humoristischen Auseinandersetzung gemacht werden, denn durch jeden Lacher werden diejenigen individuellen Existenzen verlacht, die ermordet wurden und nicht in ihrer Rolle als Unternehmer oder Arbeiter aufgehen. Die Logik der Morde der RAF, d. h. die Behauptung, es gehe hierbei nicht um die jeweils konkreten Personen, sondern nur um diese Personen als Funktionstrager des Systems, wodurch die Morde als gewaltsamer Widerstand gegen eben dieses erscheinen sollten, spiegelt sich insofem auch in den vorausgehenden Uberlegungen von Skywalker wider. ^"^ Skywalkers (2002: 133) Vorschlag einer humoristischen Auseinandersetzung mit den fragwiirdigen Aktionen der amerikanischen Administration, also ihren Reai<:tionen auf den 11. September, kann hingegen nur unterstutzt werden: „Deshalb sind Witze, die z. B. die Verlogenheit der Amerikaner mit ihren Indexlisten aufs Korn nehmen, wichtig und richtig, weil sie mehr ilber soziale Verhaltnisse, Rezeptionen in Medien und bestehende Moralvorstellungen aussagen, als so vieles andere Geschwafel und M5chtegernanalysen."
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7 Was kommt nach dem SpaB? Die Spafiunternehmer, die Ikonen der Spafigesellschaft, scheinen inzwischen diese selbst zu persiflieren und sich tiber sie lustig zu machen. Vorbereitung zum wtirdigen Abgang? Btisser (2001: 156) zitiert das Beispiel von Stefan Raab: „Raab antwortet auf die Plattheit der Branche, in der er arbeitet, mit einer noch groBeren Plattheit, mit geradezu kalkulierter Dummheit - diese allerdings als gegeniiber Kritik erhabenem Spott in Szene gesetzt. Er [...] setzt dem Runtergekommenen lediglich etwas noch Runtergekommeneres entgegen." Das unterhaltungsorientierte Fernsehen bedient sich in hohem MaBe anderer Medieninhalte bzw. Medienpersonlichkeiten. Hier bietet sich die Gelegenheit, die Lust an hochst subjektiver Bewertung aufmerksamkeitsokonomisch in Szene zu setzen. Die Befriedigung dieser Lust kann wiederum selbst Objekt weiterer Unterhaltung(ssendungen) sein. Pionier war dabei Oliver Kalkofe, dessen Mattscheibe sowohl friiher mxf Premiere als auch heute bei ProSieben mit den Mitteln der Verkleidung, der karikierenden Imitation und der satirischen Kommentierung gesendetes Fernsehen lacherlich macht. Was kommt, wenn der SpaB aufhort? Wird sich Harald Schmidts Prophezeiung, dass nach der Ironie das Pathos komme, bewahrheiten? Werden auch die Massen dem Spruch des englischen Popstars Jarvis Cocker, ,Jrony is over", folgen und Einkehr statt Aufbruch pflegen?"^^ Konnen wir mit einer neuen Ernsthaftigkeit und einer Zuwendung zu festen, wenn auch starker nutzenorientierten WertmaBstaben rechnen? Auch diesbeztiglich erweist sich Harald Schmidt als Vorreiter. In einem Gesprach mit Gtinter Gaus bezeichnete er sich als Wertkonservativer und hob die Bedeutung hervor, die verbindliche WertmaBstabe, Familie, klassische Bildung und Hausmusik fiir ihn besaBen. Mit diesem Bekenntnis lag er genau im Trend. Aber auch das, nicht nur von Schmidt formulierte, Pladoyer fiir eine neue Emsthaftigkeit und neue Werte, ist ein Konjunkturprodukt, ebenso wie die Rede vom Ende der Spafigesellschaft. Beides fiingiert als Munition fiir die Kritiker der Spafigesellschaft. Welche Kritikmoglichkeiten an der Spafigesellschaft werden aber konkret geauBert? Harald Schmidt (2002: 240) riet auf den Maimer Tagen der Fernsehkritik 2001 ganz pragmatisch: „Schauen Sie sich doch diesen ScheiBdreck einfach nicht an!" Abschalten als Widerstand gegen den postulierten SpaBrausch in ^^ Ein Pladoyer fiir die gesellschaftskritisclie Funktion der Ironie, das die Forderung von Cocker ziiruckweisen wiirde, tragt Kopetzky (2004: 48) vor: „Die Ironische Haltung versucht die Mitte zu finden. Sie ist mitflihlend und ernst dem Menschen, unerbittlich und prazise den Verhaltnissen gegeniiber. [...] Ironie ist ein Weg, mit der Wahrheit zu leben, die Wirklichkeit nicht zu verleugnen und dennoch nicht zu verzweifeln. Den Kaltetod dariiber zu sterben, wie schlecht wir Menschen in tiberwaltigender Weise miteinander umgehen und was wir uns antun."
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den bzw. der Medien? Sonnebom (2004: 117f.) weist hingegen darauf hin, dass von einem Humor, der auf die Massen schiele, wie es fiir die TV-ComedyFormate ublich ist, „nichts Lustiges" zu erwarten sei. Eine andere Betrachtungsweise schlagt der (offentlich-rechtliche) TVModerator und Journalist Ranga Yogeshwar vor (zitiert nach Leder 2002: 138ff.). Er spricht sich gegen eine strikte Trennung zwischen Ernst und SpaB im (offentlich-rechtlichen) Femsehen aus und betont, dass in seiner naturwissenschaftlichen Sendung Quarx & Co. (WDR) SpaB und Ernst unmittelbar miteinander verbunden seien. Diese Verbindung sei wichtig, um den Zuschauer erreichen zu konnen und sich vom Lachen der Comedy- bzw. Nonstop-NonsensFormaten zu unterscheiden, die er, mit Blick auf Stefan Raab, als „die Verkommerzialisierung des Moments" beschreibt: „Bei uns lacht der Zuschauer aus einem anderen Grund. Und zwar ist das, meines Erachtens, ein anderes Lachen, es ist das Lachen der Erkenntnis, das Lachen, wodurch man vielieicht irgendeinen Zusammenhang versteht." Das Lachen der Erkenntnis, als emanzipatorische Form von Humor, fur die, folgt man den bisherigen Ausfuhrungen, Harald Schmidt stehen konnte sowie die Uberlegung von Skywalker, dass kritischer Humor den Zusammenhang und Entstehungskontext von Situationen aufdecken musse, entgegen gewohnten oder politisch korrekten Erwartungs- bzw. Beschreibungsmustern. Dieses Lachen, das auch fur politisches Kabarett typisch ist, stellt aber nur eine der Moglichkeiten der medialen Inszenierung von SpaB dar, die nicht als die grundsatzlich bessere gegenuber reinen Nonsens-Formaten dargestellt werden kann, weil diese einem Bildungsideal verpflichtet ist, das fur reine Spafiformate nicht bindend ist, also letztlich eine interessenpolitische Positionierung darstellt. Das Lachen der Erkenntnis ist fur Adorno die einzige Moglichkeit emanzipatorischen Humors und heute nur noch im Medium der autonomen Kunst zu verwirklichen, nicht aber im Rahmen der Medienkulturindustrie (zu Adornos Verhaltnis zur Spafikultur vgl. die Beitrage in Seubold/Baum 2004a). Adorno (1997a: 342) unterscheidet also zwischen richtigem und falschem Humor, behauptet hierbei aber nicht, dass das Publikum den medienkulturindustriellen SpaBproduktionen ahnungslos ausgeliefert sei: „Man darf annehmen, dass das Bewusstsein der Konsumenten selbst gespalten ist zwischen dem vorschriftsmaBigen SpaB, den ihnen die Kulturindustrie verabreicht, und einem nicht einmal sehr verborgenen Zweifel an ihren Segnungen." Gegen den Humor bzw. SpaB der Medienkulturindustrie, den falschen Humor bzw. SpaB (vgl. Adorno/Horkheimer 1997: 163), fuhrt Adorno die laitische Ironie und den widerstandigen Humor, wie er sich etwa in Becketts Endspiel fmdet, ins Feld: „[...] [D]as Lachen, zu dem es animiert, miisste die Lacher ersticken. [...] Humor selbst ist albem: lacherlich geworden [...]. [...] Noch die Witze der Beschadigten
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sind beschadigt. Sie erreichen keinen mehr; die Verfallsform, von der freilich aller Witz etwas hat, der Kalauer, iiberzieht sie wie ein Ausschlag" (Adomo 1997b: 300f.). Nur jenes Lachen, das sich liber sich selbst Klarheit verschafft und zudem Einblicke in die Konstitutionsbedingungen sozialer Wirklichkeit vermittelt, kann allein durch emanzipatorische Formen des Humors bzw. SpaBes, ermoglicht werden, denn in ihnen fallen Warenproduktion und Spafikultur nicht zusammen. Weiterhin stecken sie, so Adorno (1997c: 605), „mit dem Lachen uber die Lacherlichkeit des Lachens" an, gerade weil sie in ihrem Lachen auf das Andere der Wirklichkeit hinweisen und Wirklichkeit in ihrer Abgriindigkeit entlarven. Das Lachen und die SpaBproduktionen der Spafigesellschaft, denen es nur darum geht, sich von Sinnstiflungen sowie Schuld- und Betroffenheitskultur zu befreien, zu versuchen, alle moglichen Inhalte zu Tragem des SpaBerlebens, das als reiner Selbstzweck fungiert, zu machen und das Verlachen von allem und jedem zum kategorischen Imperativ des SpaBgenusses erhebt, fiihrt durch das „Lachen, einst Bild von Humanitat, zum Ruckfall in die Unmenschlichkeit" (ebd.: 603), affirmiert lediglich die Welt in ihrem status quo. Die Widerstandigkeit emanzipatorischen Humors bzw. SpaBes ist aber nicht nur in seiner Kritikfunktion begriindet, sondern auch durch seine Kreativitatspotentiale. Adorno und Horldieimer (1997: 164) sprechen sich daher fiir das „reine Amusement in seiner Konsequenz, das entspannte sich tJberlassen an bunte Assoziationen und glticklichen Unsinn" aus, das permanent „vom gangigen Amusement [der Kulturindustrie - MSK] beschnitten" wird. Was folgt aus dieser Uberlegung fiir eine Kritik an der TV-Spafikulturl Zum einen, dass sich diese Kritik nicht in starren Oppositionen, wie SpaB und Ernst, bewegen darf, also mit dem Wissen um das eigentlich Wahre und Richtige auftritt, die MaBstabe ihrer Kritik hierbei aber zumeist unkritisch voraussetzt und als konsensuell gtiltig betrachtet. Zweitens, dass sie sich vor oberflachlichen, aufmerksamkeitsokonomisch erfolgreichen Verallgemeinerungen huten muss. Diese folgen zumeist aus dem vorausgehenden Aspekt. Weiterhin darf Kritik nicht als grundlegende Opposition zur Gesellschaft in ihrem jeweiligen status quo aufgefasst werden, denn hierdurch besteht die Gefahr, dass die Kritik und der Gegenstand der Kritik, also in diesem Fall die Gesellschaft, durch eine unuberbrtickbare Kluft getrennt werden. Weiterhin, dass sie vorsichtig sein sollte, iiber die Befmdlichkeiten der Mediennutzer zu spekulieren, also vermeintlich konkrete Medienwirkungen zu behaupten. Letztlich, dass Kritik sich immer nur als ein (Nutzungs-)Angebot und nicht als ein GerichtshofyQrstQhQn mtisste, deren MaBstabe sich nicht grundlegend in einem von den Gegenstanden der Kritik entfemten Raum konstituieren, also realitatsfern bleiben.
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8 Die Entertainmentfalle als Selbstbeobachtungsfalle Bei den Spafiformaten sowie den Diskursen zur Spafigesellschaft handelt es sich letztlich um Zwiegesprdche zwischen Medienproduzenten und MedienjournaHsten bzw. Medienwissenschaftlem, die ihre Produktionen aber immer im Namen der Gesellschaft reahsieren, also ihnen eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zuweisen: die Medienproduzenten mit Blick auf die vermeintlichen Interessen des Publikums, Medienjournalisten und Medienwissenschaftler unter Berufung auf die richtige, wahre Wirklichkeit, mit entsprechenden WertmaBstaben, Denkvorschriften und unter Beriicksichtigung der eigentlichen, menschlichen Interessen der Mediennutzer. Beide Akteure handeln interessenpolitisch und lassen sich kaum auf eine systematische und fallorientierte Analyse ihrer Untersuchungsgegenstande ein. Aber nicht nur diese Diskurse zeichnen sich durch Selbstbezliglichkeit aus, sondern auch die jeweiligen Fernsehformate sind in ihrer Struktur und in ihren Inhalten sehr homogen. Dies kann als Entertainmentfalle bezeichnet werden. In diesem Kontext darf nicht unberiicksichtigt bleiben, dass die Diskurse tiber die Spafigesellschaft einen erheblichen Einfluss auf ihre mediale Thematisierung nehmen, d. h. die zumeist in starren Oppositionen gefuhrte Debatte spiegelte sich auch in ihrer TV-medialen Aufarbeitung wider. Zum anderen reproduzieren sich diese Formate letztlich permanent, ohne tiber eigenstandige Altemativen nachzudenken bzw. hierzu Raum zu schaffen, also einen eigenen Programmstil zu entwickeln - dies gilt gleichermaBen fiir offentlich-rechtliche und private Anbieter. Der Zuwachs an Comedy-Yorm?itQn im deutschen Femsehen sollte daher nicht nur als Resultat einer realen Nachfrage der Zuschauer verstanden werden, sondern ist gleichwohl auf Selbstbeobachtungen der Medienproduzenten und Medienkritiker zuriickzufuhren. Diese Formate werden zwar genutzt, d. h. gesehen, aber wahrscheinlich groBtenteils nur, weil keine qualitativ anderen TV-Moglichkeiten, als Resultat der Selbstbeobachtungs- und Entertainmentfalle, zur Verfugung stehen und die zahlreichen Comedy-VorvcmtQ sich daher letztlich in ihrer Struktur und in ihren Inhalten sehr gleichen. Zudem wurde bis heute nicht umfassend diskutiert, ob nicht auch die Diskurse tiber Spafigesellschaft maBgeblich an den Medienwirklichkeiten beteiligt sind, die von ihnen kritisiert werden. Produktiv an Debatten wie der tiber die Spafigesellschaft^^ ist, dass hierbei versucht wird, gesellschaftliche (d. h. diskursive, kulturelle, mediale usw.) Tendenzen auf den Begriff zu bringen bzw. sichtbar zu machen, auch wenn diese "^^' Insgesamt gibt es sechs Positionen, die zum Thema Spafigesellschaft eingenommen werden: (1) Ja, es gibt sie. (2) Die Rede vom Ende diQX Spafigesellschaft. (3) Die Behauptimg, dass die Spafigesellschaft nicht zu Ende sei. (4) Die Aufwertung des Emstes dem SpaB gegenuber. (5) Die Aufwertung des Spafies gegen den Ernst. (6) Die Betonung der konstitutiven Durchmischung von SpaB und Ernst.
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Sichtbarkeit zumeist ein Diskurs-Produkt ist. Abgesehen davon, dass solche Debatten zumeist in der Selbstbeobachtungsfalle verharren und nur aus interessenpolitischen Positionierungs- und Distinktionsabsichten erfolgen, wobei die eigentlichen Diskursgegenstande ausgeblendet werden, sind sie dennoch als Diskursgeschichten und Gegenwartsgeddchtnisse von zentraler Bedeutung, um gesellschaftliche Selbstverstandigungsdiskurse flihren zu konnen. Literatur Adorno, T. W., 1997a: Resume tiber Kulturindustrie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1.: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen, Ohne Leitbild, Frankftirt/M., S. 337-345. Adorno, T. W., 1997b: Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 11.: Noten zur Literatur, Frankftirt/M., S. 281-321. Adorno, T. W., 1997c: Ist die Kunst heiter, in: Gesammelte Schriften, Bd. 11.: Noten zur Literatur, Frankfiirt/M., S. 599-606. Adorno, T. W., M. Horkheimer, 1997: Kulturindustrie. Autklarung als Massenbetrug, in: T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3: Dialektik der Auflclarung, Frankftirt/M., S. 141-191. Balzer, A., 2000: Piefiger Pennalerhumor, in: Grimme. Zeitschrift ftir Programm, Forschung und Medienproduktion, Nr. 1, S. 40-42. Behrens, R., 2003: „Alles geht kaputt... und ich lach, ha, ha, ha!" Humor in der Kulturindustrie, in: Die Diktatur der Angepassten. Texte zur kritischen Theorie der Popkultur, Bielefeld, S. 213-228. Berger, M., 1998: TV: total verblodet, in: Die Woche (vom 30. Januar), S. 38. Bolz, N., 1999: Die Konft)rmisten des Andersseins. Ende der Kritik, Mtinchen. Brinkbaumer, K., 2000: Des Teufels Moderator, in: Spiegel Reporter, Nr. 5, S. 22-34. Biirger, P., 2004: Die Freudlosigkeit der SpaBkultur. Zu einigen Tendenzen der Gegenwartskunst, in: G. Seubold, P. Baum (Hrsg.), Wieviel SpaB vertragt die Kultur? Adornos Begriff der Kulturindustrie und die gegenwartige SpaBkultur, Bonn, S. 91105. Biisser, M., 2001: SpaBkritik. Die Anpassung der Intellektuellen an den Markt, in: M. Chlada, G. Dembowski (Hrsg.), Die neuen Heiligen. Franz Beckenbauer, Dalai Lama, Jenny Elvers und andere Aliens, Aschaffenburg, S. 156-162. Chlada, M., G. Dembowski, 2001: Fuzzy Media Experience, in: dies. (Hrsg.), Die neuen Heiligen. Franz Beckenbauer, Dalai Lama, Jenny Elvers und andere Aliens, Aschaffenburg, S. 9-20. Dausend, P., 2000: Stefan Raab: der Fernseh-Kasper der SpaBgesellschaft, in: Die Welt (vom 13. Mai 2000). Deutschmann, M., 2001: Die Trauer tragt wieder Blond, in: Die Zeit, Nr. 42, unter: http://zeus.zeit.de/text/archiv/2001/42/200142_deutschmann.xml (abgerufen am 15.07.2005). Dummy. Gesellschaftsmagazin (2004), SpaB, Heft 3, Berlin.
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Ausblick in eine ungleiche Zukunft
Der neue Egalitarismus: Lehren aus der wirtschaftlichen Ungleichheit in GroBbritannien^ Patrick Diamond und Anthony Giddens
Dieser Beitrag ist ein Pladoyer fiir einen neuen Egalitarismus. Viele Zeitgenossen - auch auf Seiten der Linken - bezweifeln, dass wirtschaftliche Ungleichheit fiir die Politik tiberhaupt noch eine Rolle spielt. Im Folgenden mochten wir erklaren, warum der Anstieg der wirtschaftlichen Ungleichheit, der in den letzten dreiBig Jahren stattgefunden hat, von zentraler politischer Bedeutung bleiben sollte. Wir konzentrieren uns vor allem auf Armut und Ungleichheit in GroBbritannien, ftir das wir auf umfangreiche Untersuchungsergebnisse zuriickgreifen konnen. Wir hoffen aber, dass unsere Erorterung weit liber die britische Grenze hinaus relevant ist. Der Kampf gegen die Ungleichheit beschaftigte die Linke wahrend des gesamten letzten Jahrhunderts. In den letzten zehn Jahren hat sich dieses Thema aber auch als eine der Hauptursachen fur die Aufspaltung der linken Mitte britischer Politik in Traditionalisten und Modernisierer herausgestellt. Viele der „alten" Linken stehen auf dem Standpunkt, die Modernisierer hatten ein wirksames Engagement ftir Gleichheit und soziale Gerechtigkeit aufgegeben. Diese Kritik ist nicht ganz gerechtfertigt und grtindet sich auf einer Reihe von Vereinfachungen. Der scharfe Gegensatz, den einige zwischen „Chancengleichheit" und „Ergebnisgleichheit" sehen, beruht auf einem Irrtum. Die Forderung von Chancengleichheit erfordert in Wirklichkeit eine groBere materielle Gleichheit: Es ist ftir den Einzelnen unmoglich, sein Potenzial voll auszuschopfen, wenn die sozialen und wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen vollig ungleich sind. Wie wir welter unten ausftihren werden, hat die Politik von New Labour seit 1997 tatsachlich signifikant dazu beigetragen, Armutsniveaus zu verringem, insbesondere von Kindern und Rentnern, und das Wachstum von Einkommensungleichheit einzudammen. Es bleiben jedoch Zweifel, ob die bestehenden MaBnahmen weit genug reichen, um einen bedeutenden Einfluss auf Langzeittrends der wirtschaftlichen Ungleichheit zu haben. Wirtschaftliche Ungleichheit Ubersetzung: Stefanie Osthof
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wie wir sie verstehen, bezieht sich auf Ungleichheit zwischen Menschen im Hinblick auf Einkommen, Wohlstand und andere Faktoren, die direkt Unterschiede in verfligbaren materiellen Ressourcen verursachen. In den 80em und frtihen 90ern (ibernahm GroBbritannien unter dem Einfluss der Thatcher-Regierungen ein angloamerikanisches Modell der kapitalistischen Marktwirtschaft, das eine okonomische Ungleichheit produzierte, die sich stetig hochschraubte. Ein Mangel an Konkurrenzfahigkeit, einbrechende Gewinne und weit verbreitete Bankrotte erzwangen eine radikale Umstrukturierung der britischen Industrie, was zu drei Millionen Arbeitslosen und steigenden Lohn- und Einkommensungleichheiten fuhrte und Nachkriegstrends zu mehr Gleichheit ins Gegenteil verkehrte. Ungleichheit wuchs in dreierlei Hinsicht: Erstens bildete sich ein Unterschied in den Bruttoeinkommen heraus, groBer als je zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen. Zweitens wurde der mittlere Satz direkter Steuern am oberen Ende der Einkommensskala drastisch gesenl<:t, nicht jedoch bei den niedrigen Einkommen. DrUteris schlieBlich stieg wegen der hohen Arbeitslosigkeit die Zahl der Sozialhilfeabhangigen drastisch an, wahrend das Sozialhilfeniveau langsamer anstieg als die mittleren Einkommen. Heute sind okonomische Ungleichheit und Armut (insbesondere die Kinderarmut) nach wie vor beunruhigend hoch im Vergleich zur Mehrzahl der europaischen Lander und generell noch hoher im Vergleich zu den OECD-Staaten im Ganzen. GroBbritannien leidet an einem hohen Niveau der relativen Armut, und die Armen in GroBbritannien sind wesentlich armer als die Armsten in jenen Industriegesellschaflen, in denen mehr Gleichheit herrscht. Einige aufschlussreiche Statistiken sind hier angebracht. Im Jahr 1979 erhielt das reichste Zehntel der Bevolkerung 21 Prozent des gesamten verfligbaren Einkommens. Diese Zahl stieg wahrend der gesamten 80er und 90er Jahre, um dann 2002/3 29 Prozent zu erreichen. Uber die Halfte dieses Anwuchses ging auf das oberste Prozent der Verdiener - das meiste davon auf das oberste halbe Prozent. Zwei Funftel des gesamten realen Wachstums personlicher Einkommen zwischen 1979 und 1999 ging an die obersten 10 Prozent der Verdiener. Der Anstieg der Vermogensungleichheit war sogar noch markanter. Die Veranderungen am unteren Ende der Skala waren gleichermaBen eindeutig. 1980 verdiente das armste Zehntel der Bevolkerung grob umrissen 4 Prozent des verfugbaren Einkommens. Bis zum Ende der 90er war dieser Anteil um mehr als ein Drittel auf knapp tiber 3 Prozent gefallen, wo er bis in letzter Zeit verblieb. In GroBbritannien gibt es eine relativ hohe Zahl von Haushalten ohne Verdiener. Das Niveau der relativen Armut war 1997 doppelt so hoch wie 1960, und dreimal so hoch wie in den spaten 70em. Die Armutsrate bei Kindern war bis Mitte der 90er hoher als in irgendeinem anderen EU-Land, abgesehen von Italien und Spanien. Die Veranderungen vollzogen sich tiber die Jahre nicht
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gleichformig. In den Mhen 80em stieg die Armut sowohl absolut als auch relativ an. Im folgenden Jahrzehnt verringerte sich die absolute Armut, wahrend die relative Armut weiterhin steil anstieg. 1 New Labour seit 1997 Die Regierung von 1997 wahlte bewusst eine Strategic, die sich von derjenigen ihrer ZaZ?owr-Vorgangerinnen unterschied, was auch den Umgang mit Armut und Ungleichheit betraf. Wirtschaftliche Stabilitat und stabiles wirtschaftliches Wachstum, so die Begriindung von New Labour, sind der Schltissel zur Sozialpolitik. AuBerdem miissen Programme, in denen es um soziale Gerechtigkeit geht, mit der Frage der wirtschaftlichen Dynamik und der Schaffung von Arbeitsplatzen verbunden werden - ein Ziel, das sich in dem umfassenden Gebrauch von Steuergutschriften widerspiegelt, die Labours Reformmodell kennzeichnen. Vorausgegangene ZaZ?owr-Regierungen waren in wirtschaftlichen Krisen verschiedener Art stecken geblieben. Einige der traditionellen Linken hatten sich ein Nachkriegszeitalter vorgestellt, in dem radikalere Mittel eingesetzt wurden, um das Ziel der Gleichheit zu verwirklichen. Aber wie die meisten „Goldenen Zeitalter" gab es eine solche Zeit nie. Bis zur jetzigen Regierung waren ZaZ^owr-Regierungen flir relativ kurze Zeitraume an der Macht. Mutige Reden liber soziale Gerechtigkeit blieben meist nicht viel mehr als mutige Reden, da ein instabiler Haushalt regelmaBig Labours weitere Ambitionen vereitelte, eine Gesellschaft mit mehr Gleichheit zu schaffen. New Labour hat sich seit 1997 bestandig auf die Armen konzentriert. Dahinter steckt der Gedanke, sich vorrangig auf die am starksten Benachteiligten zu konzentrieren, statt tiber Gesamtniveaus der Einkommensungleichheit nachzudenken. Die Reichen sollten weitgehend in Ruhe gelassen werden: Es war viel wichtiger, sich darauf zu konzentrieren, das untere Niveau anzuheben durch die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Armen, und das sowohl in absoluten Zahlen wie auch relativ zum mittleren Einkommen. New Labour brach mit der traditionellen Annahme der Linken, dass die Reichen durch die Ausbeutung anderer reich geworden seien. Die wirtschaftlich Erfolgreichen bringen der iibrigen Gesellschaft oft Vorteile, etwa aufgrund ihres Antriebs, ihrer Initiative oder ihrer Kreativitat. Eine erfolgreiche Wirtschaft benotigt diese Eigenschaften; eine Gesellschaft, die vorwarts kommen will, kann Erfolg nicht hart bestrafen. In einer, zumindest bei der Linken, umstrittenen Entscheidung beschloss die Labour-RQgiQrang keine Erhohung der Einkommenssteuer fur Spitzenverdiener. Sie lieB sie bei einem Maximalsatz von 40 Prozent und senkte die Kapitalertragssteuer fur Unternehmer.
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1999 fuhrte die Regierung als Unterstiitzung fiir Menschen mit Kindern im Niedriglohnsektor die Steuergutschrift flir arbeitende Famiiien {..working families tax credit'. WFTC) ein. Diese erganzte die Einftlhrung des nationalen Mindestlohns und garantierte dadurch Famiiien mit einem Vollzeitbeschaftigten einen Mindestlohn von 220 £ pro Woche. Seitdem wurden weitere Steuererleichterungen zur Unterstiitzung bei den Kinderbetreuungskosten eingefiihrt {..childcare costs tax credif\ CCTC). und die SteuerermaBigung flir verheiratete Paare wurde ersetzt, um ein voUkommen einheitliches Steuer- und Wohlfahrtssystem zu ermoglichen. Eine neue Steuergutschrift ftir Arbeitnehmer {..working tax credit'. WTC) dehnte die Prinzipien des WFTC auf Kinderlose aus. Die Steuergutschrift ftir Rentner zielt darauf ab, vor allem den armsten Rentnern Vorteile zu verschaffen - eine wichtige Zielsetzung bei der Verteilung, denn trotz der drohenden „Rentenkrise" geht es den alteren Leuten von heute im Durchschnitt besser als den jungen. Der Weg, den die Regierung mit ihrer PoHtik eingeschlagen hat, hat zu betrachtlichen Erfolgen geftihrt. Es konnte sogar mit einigem Recht behauptet werden, dass diese ZaZ?owr-Regierung die erste ihrer Art ist, die wirklich ein signifikantes und anhaltendes MaB an Umverteilung zugunsten der Armsten erreicht hat. Nach Statistiken des Jahres 2003 sind 1,5 Millionen Menschen seit 1997 aus der Armut geholt worden, wenn „Armut" definiert ist als Leben auf einem Niveau unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Das traditionelle sozialdemokratische Bestreben, die Lage der Armsten im Verhaltnis zum Durchschnitt zu verbessern, ist nach wie vor ein entscheidendes Ziel. Die Regierung arbeitet daran, die anvisierte Verringerung der Kinderarmut um ein Viertel bis zum Ende des Haushaltsjahres 2005 zu erreichen. Seit 1997 sind die absoluten Zahlen der Armut standig gefallen. Der Grad der Beschaftigung befindet sich auf dem historischen Hoch von 75 Prozent, und die Arbeitslosenzahlen, einschlieBlich der Langzeitarbeitslosen, sind niedrig. Die Zahl der Menschen, die in armen Haushalten leben, ist von 13,9 Millionen im Jahr 1996/97 auf 12,4 Millionen im Jahr 2002/3 gefallen. Die mittleren Einkommen sind seit 1997 um nahezu 2,6 Prozent pro Jahr gewachsen, im Unterschied zu 0,7 Prozent unter John Major und 2,1 Prozent unter den ThatcherRegierungen. Armere Rentner kamen ebenfalls viel besser zurecht als unter vorhergegangenen Regierungen, obwohl die neue Versorgung - die zusatzlich zur staatlichen Basisrente neue allgemeine Zahlungen, ein garantiertes Mindesteinkommen, eine neue Steuergutschrift und die neue zusatzUche Rente umfasst - hoch kompliziert ist und vereinfacht werden sollte. Manche Experten stellen iiberdies in Frage, ob sie in Zukunft aufrechterhalten werden kann.
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Dennoch bleiben einige grundlegende Schwachen im Modernisierungskonzept des Wohlfahrtsstaates und der Sozialpolitik, das seit 1997 von New Labour umgesetzt wurde, bestehen. Es ist klar nachweisbar, dass GroBbritannien noch weit davon entfernt ist, Chancenungleichheiten signifikant zu senken: Die individuellen Lebenschancen sind heute noch immer entscheidend von der okonomischen und sozialen Position der Eltern beeinflusst. Ein weiterer Bereich sind die schweren Belastungen, die auf der Ebene der ortlichen Gemeinden in GroBbritannien entstanden sind. Selbst in den unterprivilegiertesten Gegenden hat in mehr Familien mindestens ein Mitghed Arbeit als 1997. Die Untersttitzung von Kindem und ihre Schulleistungen verbessern sich in atemberaubender Weise. Aber der Teil der Gemeinden, den diese Familien bewohnen, ist immer noch zu oft vollig heruntergekommen. Offiziellen Statistiken zufolge stoBen beispielsweise 42 Prozent der Einbrtlche einem Prozent aller Haushalte zu, hauptsachlich denen der Armen und Alleinerziehenden. Trotz aller Aktionsplane fur soziale Brennpunkte und trotz aller strategischen Partnerschaften bleiben zu viele der schlimmsten Haushalte und der am meisten benachteiligten Gemeinden in GroBbritannien weitgehend unverandert - verwahrloste Ghettos, die die Stimmung derer, die in ihnen leben, niederdriicken, und die beherrscht werden von Furcht vor Verbrechen, ethnischen Spannungen und sogar echter Angst und Verzweiflung. Wenn die Regierungen der Zukunft es schaffen sollen, jene gesellschaftliche Ausgrenzung zu beschranken, die aus konzentrierter Benachteiligung entsteht, mtissen sie viel beherzter die Sanierung der Wohngegenden angehen und die zuktinftigen Bedingungen des Lebens in Sozialwohnungen neu gestalten. Das gleiche gilt nach wie vor fiir Ungleichheiten im Gesundheitssektor. 2 Egalitarismus - alt und neu In der Erorterung, die nun folgt, konzentrieren wir uns auf wirtschaftliche Ungleichheit, insbesondere auf die Ungleichheit von Einkommen und Wohlstand. Der neue Egalitarismus muss aber dartiber hinaus ausgedehnt werden und verschiedene Ungleichheitsdimensionen abdecken. Investitionen in menschliche und kognitive Fahigkeiten, die die individuellen Chancen verbessern, mtissen Vorrang vor zu spaten ReparaturmaBnahmen haben. Wir brauchen einen neuen Egalitarismus aus verschiedenen Grunden. Erstens hat sich Labour nicht annahemd vergleichbar der Verfolgung egalitaristischer Ziele verschrieben wie dem nachdriicklichen Bemuhen, GroBbritanniens offentlichen Dienst neu zu beleben. Es ist an der Zeit, dass sie das tut. Die VergroBerung der wirtschaftlichen Gleichheit ist genauso wichtig fur den Wiederaufbau der Solidaritat wie ein effektiver offentlicher Dienst.
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Zweitens stimmt es, dass Labours Politik seit 1997 nicht nur einen signifikanten Einfluss auf die Armut hatte. Sie hat auch dem andauernden Anstieg der Einkommensungleichheit, der seit den fruhen SOern zu verzeichnen war, ein Ende gemacht. Die Einkommen der untersten 10 Prozent der Verdiener wuchsen von 1996/97 bis 2002/3 inflationsbereinigt jedes Jahr um durchschnittlich nahezu 2,8 Prozent. Im Vergleich dazu wuchsen die Einkommen der obersten 10 Prozent um 2,6 Prozent. Aber wie schon erwahnt gibt es noch immer emsthafte Vorbehalte, inwieweit die schon existierenden MaBnahmen Ungleichheiten noch weiter abbauen werden. Uberdies ist die Regierung mit ihren Ansatzen zur Verringerung der Armut und zur Bekampfung der Ungleichheit planlos vorgegangen. Es gab viele MaBnahmen, die zur Verringerung der Armut eingefiihrt wurden, aber es gab so viele, dass es schwierig ist, noch den Wald vor lauter Baumen zu sehen. Selbst Politikexperten haben Mtihe einzuschatzen, zu welchem Ergebnis das alles ftihren wird. Eine weitere Vereinheitlichung ist sicher erforderlich. SchlieBlich gibt es Grund zur Vorsicht in Bezug auf die leitende Metapher, an der New Labour ihre Bemtihungen, soziale Gerechtigkeit herzustellen, ausrichtet: das Konzept der sozialen Exklusion, also des Ausschlusses von gesellschaftlicher Teilhabe. Wir behandeln diesen Punkt weiter unten. Zu viel Aufmerksamkeit wurde u. E. auch gerichtet auf den Unterschied zwischen dem „alten" Egalitarismus, der sich vor allem auf das Ergebnis bezog, und einer Konzeption von Gleichheit, die sich vor allem auf die Chancen bezieht. Ergebnis und Chancen sind natiirlich eng miteinander verknupft, und die Ungleichheit von Einlcommen und Wohlstand untergrabt ernsthafte Anstrengungen, die Chancen anzugleichen. Es fallt schwer, eine mobilere, dynamischere Gesellschaft anzustreben, in der die Individuen einen groBeren Respekt flireinander haben, wenn zugleich das Gefalle zwischen Reich und Arm sich standig vergroBert. Es gibt aber nach wie vor wichtige Unterschiede zwischen diesen egalitaristischen Uberzeugungen. Wir konnen unterscheiden zwischen dem Egalitarismus wie er bisher verstanden wurde, also dem Egalitarismus der traditionellen Linken, und dem neuen Egalitarismus, und zwar in folgender Weise: 1) Der alte Egalitarismus behandelte wirtschaftliche Dynamik als Nebenprodukt seines eigentlichen Anliegens der okonomischen Absicherung und Umverteilung. Der neue Egalitarismus ist der Ansicht, dass es fur Regierungen notwendig ist, die Produktivlcraft der Wirtschaft zu erhohen, wenn sie eine langfristige Wirkung auf die Verteilung von Einkommen und Wohlstand erzielen woUen. Sozialdemokraten wie Anthony Crosland {The Future of Socialism) erkannten diese Tatsache an, aber seinen Schriften fehlte eine schltissige Theorie der gemischten Okonomie, da Wachstum in GroBbritannien wahrend der spaten 50er Jahre weitgehend ftir selbstverstandlich gehalten wurde.
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Die Thatcherianer setzten - ganz richtig - Konkurrenzfahigkeit und Wohlstandserzeugung an die erste Stelle ihrer Philosophie. Die Linke hatte dieses Feld niemals raumen dizrfen. Im neuen Egalitarismus ist erhohte wirtschaftliche Effizienz, die durch eine flexible und dynamische Wirtschaft erreicht wird, die notwendige Vorbedingung fur ktinftige Umverteilung. Wirtschaftliche Dynamik und Gerechtigkeit miissen Hand in Hand gehen. 2) Der alte Egalitarismus beschaftigte sich damit, Klassenunterschiede zu beseitigen, und strebte nach der Beseitigung von Statusungleichheiten. Der neue Egalitarismus beschaftigt sich damit, die Lebenschancen generationeniibergreifend anzugleichen. Das tut er aber mehr dadurch, dass er sie anhebt, als dadurch, dass er sie mindert, und in einer sehr viel starker gemischten Gesellschaft als es sie in der Vergangenheit gab. Seit 1945 sind die britische Gesellschaftsstruktur und ihre soziale Schichtung inft)lge von Veranderungen der Berufsstruktur komplexer geworden. Die traditionelle soziologische Auffassung, nach der die britische Gesellschaft durch eine starre Klassenhierarchie gekennzeichnet sei, erscheint heute weniger plausibel. Der Eintritt der Frauen in den Arbeitsmarkt, der in groBem Umfang stattgeflinden hat, und das Aufkommen des Massenlconsums haben ebenfalls friihere Muster der Klassenzugehorigkeit aufgebrochen. Die „Standard"-Familie der Nachkriegszeit verfallt rapide und wird ersetzt durch eine Vielzahl verschiedener Formen von Hausgemeinschaften von groBerer Unbestandigkeit und Brtichigkeit. Doppelverdiener- und Alleinerziehendenhaushalte stehen sich in wachsendem MaBe gegentiber. Kinderarmut fallt in GroBbritannien dort auf 3 Prozent, wo sowohl Mutter als auch Vater arbeiten. Auf der anderen Seite sind allein stehende Eltern einem erheblichen Armutsrisiko ausgesetzt, und Familien mit einem schlecht ausgebildeten Alleinverdiener verlieren an Boden. 3) Der alte Egalitarismus war der Ansicht, dass soziale Gerechtigkeit innerhalb der Grenzen des Nationalstaates verwirklicht werden konne; Untersttitzung dafiir hatte nach dieser Ansicht von einer zu schmiedenden nationalen, auf Klassensolidaritat beruhenden Koalition kommen konnen. Der neue Egalitarismus erkennt die Wirkung von Globalisierungseinfltissen an. Er akzeptiert, dass eine Abwagung notwendig werden kann zwischen der Untersttitzung ftir ethnische und kulturelle Diversitat und der gesellschaftlichen Solidaritat, die fur starke Wohlfahrtsstaaten notwendig ist. Es gibt keinen unaufloslichen Widerspruch zwischen den sozialdemol
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eher nutzt, und jene anderen aufeinanderprallen, die nicht die grundlegenden Fertigkeiten und Qualifikationen haben, um auf der Leiter des wirtschaftlichen Erfolges aufzusteigen. 4) Der alte Egalitarismus neigte dazu, Reclite als unbedingte Anspriiche zu betrachten. Der neue Egalitarismus bindet Rechte an die ihnen entsprechenden Verantwortlichkeiten. Der neue Egalitarismus fuhrt so zwei Elemente der Bedingtheit in das bedarfsgeprtifle Wohlfahrtssystem ein. Unterstlitzungsleistungen hangen nicht nur von den Einkommensverhaltnissen einer Person ab, sondern auch von seinem oder ihrem Verhalten. Zum Beispiel fuhrt die Nichtannahme einer Option des New Deals zu Abztigen von den staatlichen Leistungen. Es lohnt sich, liber die Einfuhrung weiterer bedingter Rechte im Wohlfahrtsstaat nachzudenken, wie zum Beispiel den Entzug des Kindergeldes bei unkooperativen Eltern von Schulschwanzem oder die Kiirzung des Wohngeldes bei saumigen Mietem. 5) Der neue Egalitarismus konzentriert sich vor allem auf die Verbesserung der Chancen und nicht mehr auf die traditionelle Einl<:ommensumverteilung bzw. Ergebnisgleichheit an sich. Aber wie wir dargelegt haben, verstarkt sich beides zu einem GroBteil gegenseitig. Die traditionellen Verteilungsbestrebungen der Linl<:en sollten nicht nur durch Anderungen der Einkommensverteilung und durch pseudosolidarische Lohnpolitik verfolgt werden, sondern durch ein besser konzertiertes Vorgehen, um die Verteilung von Vermogenswerten und produktiver Ausstattung von Anfang an zu verandern. Ein ausschlieBlich meritokratisches Modell ware nicht nur unausfiihrbar, sondern auch in sich widerspruchlich. Unausfiihrbar, well soziale Mobilitat iiberwiegend strukturelle Mobilitat ist und wahrscheinlich bleiben wird - verursacht von Verschiebungen innerhalb der Beschaftigungsstruktur. Ein hohes Niveau von „echter Austauschmobilitat", bei der viele Menschen ihre Positionen mit der Zeit verandern, ware aller Wahrscheinlichkeit nach sozial zerstorerisch. Keine Gesellschaft konnte leicht mit einer hochgradigen Abwartsmobiiitat fertig werden, welche weit und breit Geftihle von Unzufriedenheit und Verzweiflung hervorrufen wiirde. Diese skeptische Haltung zur Meritokratie steht der alten Tradition der britischen egalitaristischen Sozialdemokratie nahe, die bis auf Autoren wie R. H. Tawney und G. D. H. Cole und den radikalen Liberalismus von Leonard Hobhouse und John Hobson zurtickgeht. Wie sie darlegten, muss die wirtschaftliche Produktion als kooperativer Prozess aufgefasst werden, in dem sich die Beitrage vieler Personen genauso wie die Beitrage der Gesellschaft als Ganzen widerspiegeln, und nicht als etwas, das von Einzelnen erreicht wurde, die fiir sich alleine arbeiten.
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Reine Meritokratie ist in sich widerspriichlich, well die erfolgreichen Menschen einer Generation ohne Umverteilung zur unantastbaren Kaste der nachsten Generation wtirden, die den angesammelten Reichtum bei sich hortete. Die soziale Gerechtigkeit verlangt, dass hohe Einkommen und groBe Konzentrationen von Wohlstand aufgesplittert und breit gestreut werden, als Anerkennung der Beitrage, die alle Telle der Gesellschafl dazu leisten. Der neue Egalitarismus sollte jedoch bescheidenere und realistischere Ziele anstreben - den Uberschuss an Moglichkeiten und Lebenschancen zum Vorteil jener, die sozial weiter unten stehen, umzuverteilen, und gleichzeitig den Abstand zwischen reich und arm durch hohe allgemeine soziale Standards zu verringern. Der neue Egalitarismus ubernimmt den Ansatz von New Labour, will ihn aber erweitern, befestigen und vertiefen. Weiterer Fortschritt wird nicht einfach dadurch erreicht, dass an bereits existierenden Reformen des Steuersystems, des Wohlfahrtsstaats und der Arbeitsmarktpolitik festgehalten wird. Aber Arbeit und Beschaftigung mtissen weiterhin von zentraler Bedeutung bleiben. Die Forderung eines hohen Beschaftigungsniveaus, iiber der Grundlage eines Minimallohns, hat sich als eine weitgehend erfolgreiche Strategic erwiesen. In GroBbritannien haben im Moment drei Viertel der erwachsenen Bevolkerung einen Arbeitsplatz. Die EU-Strategie von Lissabon, die 1999 veroffentlicht wurde, zielt darauf ab, bis 2015 in der EU ein durchschnittliches Beschafligungsniveau von 70 Prozent zu erreichen. Zurzeit hinkt der Durchschnitt (64 Prozent) ziemlich hinter dem angestrebten Ziel her. Der Schwerpunkt auf Arbeitsmarktflexibilitat, der weit davon entfemt ist, das Ideal der sozialen Gerechtigkeit zu verraten, hat direkt dazu beigetragen, sie zu fordern. Vollbeschaftigung ist ein Grundstein fiir soziale Gerechtigkeit, und bezahlte Arbeit bleibt der effektivste Weg aus der Armut. 3 Einige Gedanken zur Politik: Eine neue egalitaristische Strategic? Ein neuer Egalitarismus sollte ideologisch betrieben werden, in anderen Worten: offen und deutlich zeigen, welchen Zielen er sich verschrieben hat. Die Autoren eines aktuellen Berichts des Institute for Public Policy Research zur Lage der Nation erkennen an, dass Labour seit 1997 erfolgreich Armutsniveaus reduziert hat. Sie fahren fort mit der Bemerkung, dass Labours Reformprogramm sehr den Eindruck mache, unvollstandig und anfallig fur Veranderungen zu sein, und dass ihm eine Vision fehle. Diese Beurteilung ist stichhaltig. Aber wie konnte so eine Vision aussehen? Die IPPRStudiQ sagt es nicht. Hier konnen wir uns ntitzlicher Weise auf die Schriften von reformerischen Sozialdemol
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1) Kampf gegen die Armut - nicht nur wegen der okonomischen Ungleichheit selbst, sondern aus dem Grund, dass Armut (vor allem fortwahrende Armut) die Fahigkeit eines Menschen zu Selbstbestimmung und Selbstachtung beschrankt. 2) Schaffung der hochstmoglichen Standards von Erziehung und Ausbildung, verankert in gleichem und gerechtem Zugang fiir alle. 3) Sicherung von Arbeit fur alle, die willens und fahig sind. 4) Ein Wohlfahrtsstaat, der Sicherheit und Wtirde garantiert. 5) Begrenzung von Einkommens- und Wohlstandsungleichheiten, wenn sie die Verwirklichung der ersten vier Ziele behindem oder den Zusammenhalt der Gesellschaft gefahrden. Der Teufel steckt immer im Detail. Aber diese Formel bietet eine solide ideologische Basis ftir den neuen Egalitarismus. Sie ist einfach und erhellend. Sie erkennt an, dass die Chancengleichheit in einer ausdifferenzierten Gesellschaft Vorrang haben muss, auf dem Hintergrund aktueller okonomischer Gebote. Sie hebt auch klar hervor, dass es absolut entscheidend ist, die Kinderarmut zu verringern. Je hoher der Anteil derer, die als Kind unter Armut leiden, desto wahrscheinlicher, dass alle funf Ziele gefahrdet werden. In einer kiirzlich durchgeftihrten Studie zeigte sich, dass Tests zur kognitiven Entwicklung, die bei Kindern im Alter von 22 Monaten durchgefiihrt werden, es ermoglichen, den Bildungserwerb bis zum Alter von 26 Jahren genau vorauszusagen. Die Testergebnisse wurden in Beziehung zum soziookonomischen Status der Familie des Kindes gesetzt, und es zeigte sich, dass Kinder aus starker benachteiligten Familien schlechter abschnitten als vergleichbare Kinder aus wohlhabenden Familien. Nattirlich ist es nach wie vor sehr schwierig, diese Vision zu verwirklichen. Der Schwindel erregende Anstieg der Einkommensungleichheit in GroBbritannien seit den spaten 70ern wird nicht uber Nacht umgekehrt werden, genauso wenig wie die tief verankerten Probleme der armeren stadtischen Gegenden. Unausweichlich wurde ein GroBteil des Erfolges seit 1997 durch eine Politik der kleinen Schritte gemacht. Der Erfolg der Arbeitsmarktpolitik der Regierung hat in den meisten Teilen GroBbritanniens zu einer angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt geftihrt, die die okonomische Verhandlungsbasis der Arbeitnehmer mit geringem Bildungsgrad starkt. Die wirkliche Herausforderung besteht darin, bei denjenigen Menschen beachtliche Erfolge zu erzielen, die am schwersten erreichbar sind, einschlieBlich der Langzeitarbeitlosen, der Arbeitsunfahigen und einiger ethnischer Minderheitengruppen. Dartiber hinaus ist es schwierig, gewissen strukturellen Trends entgegenzuwirken. Zum Beispiel konnte man behaupten, dass sich die Haupttriebkrafte ftir die Zersplitterung von Einkommen, wie etwa die zunehmende Einforderung von Ausbildungsqualifikationen, vor dem Hintergrund der sich machtvoll aus-
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breitenden Wissensgesellschaft verstarken statt sich abzuschwachen. Das ist eine treibende Kraft emeuter Ungleichheit in OECD-Staaten, denn schlechter ausgebildete Arbeiter sind von sinkenden Reallohnen betroffen, und Ungleichheiten der Haushalts-Bruttoeinkommen steigen rasant an. Die Herausforderung besteht darin, die Wurzeln solcher Ungleichheiten zu bekampfen. Das lauft auf eine in zwei Richtungen weisende Strategic zugunsten von Hochrisikohaushalten hinaus mit dem Ziel eines weniger ungleichen Erwerbs von Bildungs- und Sozialkapital. Labour entwickelte ihre ersten Ansatze zur Sozialpolitik wahrend der 90er Jahre. Erste MaBnahmen wie Steuergutschriften wurden von den US-amerikanischen Demokraten entliehen. Sie waren im GroBen und Ganzen erfolgreich. Aber haben wir nun die Grenzen ihrer Brauchbarkeit erreicht? Steuergutschriften haben dem sozialen Sicherungssystem eine komplizierte Infrastruktur der Bedtirftigkeitspriifiing aufgebiirdet. Das hat dazu gefuhrt, dass eigentlich berechtigte Anwarter von ihrem Recht in hoherem MaBe als erwartet keinen Gebrauch machen. Dartiber hinaus wandeln Steuergutschriften fur Arbeitnehmer, die als langfristiger Ansatz zur Sicherung der Teilhabe am Arbeitsmarkt gedacht sind, nur die Abhangigkeit von einer „Arbeitslosen"-Untersttitzung in die Abhangigkeit von einer „Arbeitnehmer"-Untersttitzung um. Die Erhohung eines Familieneinkommens um 40 - 50 £ in der Woche ist willkommen, sie verandert aber nicht grundsatzlich die Lebensverhaltnisse. Zu wenige Familien, denen Steuern gutgeschrieben werden, glauben noch daran, dass sie viel Aussicht auf eine weitere Verbesserung ihrer Verhaltnisse haben. Und geringe Erwartungen werden oft an Kinder weitergegeben, was sich in deren geringen Ausbildungserfolgen widerspiegelt. Soziale Exklusion ist bisher die leitende Metapher, die die Regierung in ihren Versuchen verwendet hat, das facettenreiche Wesen von Armut in den Griff zu bekommen und die Konzentration von Armut bei den am meisten Benachteiligten zu bekampfen. Viele der traditionellen Linken haben sich gegen diesen Begriff ausgesprochen, weil damit der Begriff der Armut durch einen verniedlichenden und damit politisch opportuneren Begriff ersetzt werde. Solch eine Kritik ist nicht sehr stichhaltig. Soziale Exldusion wurde als Kategorie nicht von New Labour erfunden, sondern von soziologischen Wissenschaftlern. Ihr Argument war, dass Armut nicht die ganze Spannweite von Benachteiligungen erfasst und die Menschen davon abhalt, sich voll an der weiteren Gesellschaft um sie herum zu beteiligen. Okonomische Benachteiligung ist nur eine der Formen, die konzentrierte Unterprivilegierung annehmen kann. Die wahren Unzulanglichkeiten des Begriffs liegen in seinem beschrankten Anwendungsbereich. Zu der Zeit, als er gepragt wurde, dachten viele, soziale Exklusion charakterisiere die Position einer Unterklasse, 5 bis 10 Prozent der
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Bevolkerung, die nachhaitig von der Mehrheit der Gesellschaft abgeschnitten sei. Von dieser Vorstellung lieB sich Labour bei der Formulierung ihrer friiheren politischen Programme leiten. Die neuere Forschung belegt aber, dass es in europaischen Gesellschaften keine „ underclass " gibt, wobei die Lage in den Vereinigten Staaten moglicherweise ganz anders ist. Eine Studie, die vom Planungsstab der britischen Regierung vorgelegt wurde, erfasste vier maBgebliche Kriterien ftir soziale Exklusion, indem sie sich auf Menschen erstreckte, die 1) weder erwerbstatig noch in Ausbildung sind, 2) ein niedriges Einkommen haben (unter 60 Prozent des mittleren Einkommens), 3) ein niedriges Niveau sozialer Interaktion aufweisen und 4) nach eigener Auffassung in einer Gegend leben, die von hoher Kriminalitat, Vandalismus oder Baufalligkeit gepragt ist. Weniger als ein Prozent der Bevolkerung GroBbritanniens ist nach alien vier Kriterien ausgeschlossen. Dieser Befund bedeutet selbstverstandlich nicht, dass es Mehrfachbenachteiligung nicht gibt. Er legt aber nahe, dass sie eher in bestimmten Ecken, in spezifischen StraBen und Nachbarschaften konzentriert ist, anstatt eine ganze „Klasse" von Menschen zu betreffen. Es gibt einige weitere wichtige Uberlegungen, die fur dieses Thema relevant sind. Sie betreffen die Dynamik von Armut und Ungleichheit. Viele Jahre lang griindete sich unser Verstandnis von Armut auf ein statisches, schnappschussartiges Bild von Benachteiligung. Wir hatten einfach keine Erkenntnisse daruber, wie sich das Leben der Menschen mit der Zeit verandert. Als Ergebnis der Erhebung von Langzeitdaten in einer Vielzahl von Panelstudien wissen wir das aber jetzt. Die Folgerungen aus solch einer dynamischen Annaherung an Armut sind sehr wichtig. Armut ist in GroBbritannien und anderen industrialisierten Landern viel weiter verbreitet als wir immer dachten. Aber fur die groBe Mehrheit der Menschen ist Armut ein voriibergehendes Phanomen - die meisten Leute befmden sich nur relativ kurze Zeit darin. Solche Befunde zeigen, dass es nicht viel Sinn macht, sich standig mit sozialer Exklusion auseinanderzusetzen. Vielmehr sollten wir tiberlegen, wie wir jene, die in die Armut abzugleiten drohen, auffangen konnen. Das kann auch aktive Interventionen auf dem Arbeitsmarkt einschlieBen. In GroBbritannien ist ein Hauptproblem der „Karussell-Effekt". Die Leute verlassen wiederholt die Armut, aber nur ftir kurze Zeit, um dann spater zu ihr zurtickzukehren. Es gentigt nicht, die Menschen einfach in den Arbeitsmarkt hineinzubekommen. Wir mtissen bestrebt sein sicherzustellen, dass sie in Arbeit bleiben und die Moglichkeit des beruflichen Fortkommens haben - nicht nur einfach eine Arbeit an sich.
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Der tJbergang von einer Industriegeselischaft zu einer DienstleistungsOder Wissensgesellschaft schafft eine unverhaltnismaBige Zahl von Arbeitsplatzen, fiir die eine Ausbildung notwendig ist. Ungefahr zwei Drittel der Arbeitsplatze, die in der Dienstleistungsgesellschaft entstehen, sind Arbeitsplatze fiir Ausbildungsberufe, „gute Jobs". Andererseits sind ein Drittel der Arbeitsplatze solche ftir niedrig qualifizierte Dienstleistungs-Routinetatigkeiten, „miese Jobs" - zum Beispiel an der Supermarktkasse oder als Hilfslcraft an einer Tankstelle. Diese Arbeitsplatze sind oft unsicher und schlecht bezahlt und bieten wenig oder keine Aussicht auf berufliches Fortkommen. Die Folgen ftir die Ausbreitung von Ungleichheit in der Lohn- und Einkommensverteilung sind betrachtlich. Aktive Interventionen am Arbeitsmarkt konnen ein Teil der Losung sein, aber verbltiffender Weise ebenso Automatisierung. Automatisierung wird gewohnlich als Teil zufalligen technischen Fortschritts behandelt, aber moglicherweise konnte sie auch politisch so gelenlct werden, dass sie das Angebot an dauerhaften, gut bezahlten Arbeitsplatzen erhohte. Nattirlich ist nach wie vor nicht die Hauptfi'age, ob es in einer Volkswirtschaft zu viele „miese Jobs" gibt. Das ist ein unausweichliches Merkmal einer dynamischen Dienstleistungsgesellschaft. Die Hauptfi*age ist vielmehr, ob den Biirgern realistische Mobilitatschancen sicher sind. Daten aus den Vereinigten Staaten und GroBbritannien legen nahe, dass deregulierte, flexible Arbeitsmarkte nicht unbedingt groBere Mobilitat beft)rdem; tatsachlich ist oft das Gegenteil der Fall. Die Politik von New Labour hat sich bisher tiberwiegend auf die Armen gerichtet. Was aber ist mit denen an der Spitze? Eine groBe Zahl von Informationen zu den Armen und Unterprivilegierten ist verfligbar. Wir haben erstaunlich wenige verlassliche Informationen liber sehr gut verdienende Angehorige hoherer Berufe und sogar noch weniger iiber die kleine Minderheit der Reichen. Aber die Strategien der Wohlhabenden, geballten Zugang zu den besten Wohnungen, der besten Gesundheitsversorgung und Ausbildung zu bekommen, beeinflussen offenkundig die Lebenschancen der armeren Gruppen. Eine gerechtere Gesellschaft kann nicht alleine von unten her aufgebaut werden. Diese Uberlegung fuhrt zu der entscheidenden Frage, wie die staatliche Gemeinschaft selbst vor dem Hintergrund von marktwirtschaftlich bedingten okonomischen Ungleichheiten aufrechterhalten werden kann. Die linke Mitte hat sich nun lange mit der sozialen Fragmentierung beschaftigt, die als Folge des Thatcher-Wirtschaftssystems und der Wohlstandskonzentration auftritt. New Labour htitet sich verstandlicher Weise davor, sich Telle der Gesellschaft zu Feinden zu machen, in denen sie Unterstutzer gewonnen hat, die sie vorher nicht hatte. Aber andere haben die Frage aufgeworfen, ob die Einkommenssteuerraten
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fur jene, die mehr als 100.000 £ im Jahr verdienen, auf 50 Prozent erhoht werden sollten. Bringt uns das weiter? Wir glauben es aufgrund einer Reihe sowohi okonomischer als auch politischer Griinde nicht. Solch ein Vorgehen wiirde wahrscheinlich zusatzliche 3,5 Milliarden £ an Staatseinkiinften einbringen, nicht die 5 Milliarden £, die in so mancher Behauptung angegeben werden. Diese Summe ist ein geringer Posten im Vergleich zur Hohe der Gesamtausgaben der Regierung. Dartiber hinaus konnte eine solche Politik bei Wahlen nach hinten losgehen, da sie genau mit dem Vorwurf angreifbar ware, den Erfolg zu bestrafen. Trotzdem ist eine gemeinsam abgestimmte Strategic erforderlich, die sich auf die „soziale Exklusion an der Spitze" richtet. Ein viel wirkungsvollerer Ansatz wiirde den Schwerpunkt auf Burgerpflichten und die Wiederaufwertung des Gemeinwohls legen und dafur auf eine Mischung aus Regelungen und positiven Anreizen zuriickgreifen. Legale Steuersparmoglichkeiten flir die Reichen kosten den Fiskus beispielsweise weit mehr als bei der Anhebung der hochsten Steuerraten gewonnen wiirde. Das oberste Prozent und noch starker das oberste halbe Prozent der Menschen haben sich in GroBbritannien erheblich weiter vom Rest der Gesellschaft entfernt als in anderen europaischen Gesellschaften. Diese Tatsache ist fast sicher mit der Aggressivitat angloamerikanischer Unternehmenspraktiken verbunden, da ahnliche Trends seit den spaten 70ern auch in den Vereinigten Staaten aufgetreten sind. Hier gibt es viele relevante Punkte, und wir konnen sie im Rahmen dieses Beitrags nicht alle erortem. Dennoch konnten eine weitere Ermutigung des Engagements von Aktionaren und andere MaBnahmen, die darauf zielen, die Verantwortlichkeit und das staatsbiirgerliche Verhalten von Unternehmen zu fordern, einen Anfang dabei machen, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. Der Fiskus hat kiirzlich begonnen, viel scharfer als zuvor gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht vorzugehen; mit einigem Erfolg. Das sollte fortgesetzt werden. Wir sollten auch anstreben, Steueranreize intensiver dazu zu benutzen, bei Unternehmen Menschenfreundlichlceit, Mildtatigkeit und ein verantwortungsbewusstes Verhalten anzuregen. Aber es gibt auch Argumente daflir, Kapitalverschiebungen zu besteuern. Dazu spater in diesem Beitrag mehr. 4 Vorschlage ftir politische MaBnahmen Ein realistischer Ansatz der Hnl<:en Mitte muss die soziale Gerechtigkeit neu erfmden, dabei die wirtschaftlichen Gegebenheiten und die offentliche Meinung beriicksichtigen und sie gleichzeitig mit einer schliissigen Vision der guten Gesellschaft verbinden. Was ist aber mit spezifischen politischen MaBnahmen? Die Vorschlage, die hier aufgeflihrt werden, konnen nur zusammen etwas bringen. Die vorherrschende Idee, die diese Themen verbindet, ist es, MaBnah-
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men passgenau auf die personlichen Verhaltnisse zuzuschmeiden und dabei sorgfaltig Zielgruppen und Zwecke zu identifizieren: ein Staat der sozialen Investitionen. Aktive Fiirsorge ersetzt den Wohlfahrtsstaat der Nachl<jiegszeit, der nach dem Prinzip „eins passt auf alle" vorging, und der auf einer stabilen Industriegesellschaft der Massenproduktion basierte. Das neue Wohlfahrtssystem ist so angelegt, dass jeder Mensch sein ganzes Leben lang untersttitzt wird. Es btindelt seine Bemtihungen immer dort, wo tatsachliche Hinweise vorliegen, dass sich wirtschaftliche und soziale Nachteile dauerhaft zusammenballen. Es macht vorsichtigen Gebrauch von den Hauptinstrumenten, welche einer Regierung zur Verringerung von Armut und Ungleichheit zur Verfiigung stehen. Die Verteilung von Einkommen und Wohlstand hangt nicht nur von finanzieller Umschichtung und Bildung ab, sondem von wirtschaftlichen Institutionen und in der Tat auch von den Entscheidungen, die die Menschen selbst treffen. Gewerkschaften, Arbeitsmarktregulierung, Tarifrunden und zentrale Lohnverhandlungen spielen eine wichtige Rolle in alien EU-Mitgliedsstaaten. Aber jedes Land braucht seine eigene Strategie, die an seine Geschichte und seine Umstande angepasst ist. Okonomische Modelle konnen nicht unverandert ubernommen werden. Die Spannweite an MaBnahmen hat sich in den letzten Jahren schnell vergroBert, von Arbeitnehmerbeihilfen bis SureStart-FmniliQnhilfQZQntren und Baby-Bonds; systematischere Veranderungen wurden dringend angemahnt von Vertretem eines Aktionarskapitalismus, die die britische Wirtschaft einen egalitareren Weg einschlagen sehen wollen. Wir mochten die folgenden zehn Bereiche mit den folgenden Handlungszielen in diese Diskussion einbringen: 1) Das Ziel, das Angebot an Arbeitsplatzen zusammen mit Moglichkeiten des beruflichen Aufstiegs und mit Sprungbrettern zu weiteren gut bezahlten und stabilen Arbeitsplatzen fortlaufend zu fordern. Bemtiht eine Regierung sich um dieses Ziel, muss sie intermediare Arbeitsmarkte pflegen. Das bedeutet, dass sie mehr Arbeitsbeschaffungsprogramme im offentlichen Bereich auflegen muss, dass sie die Arbeitgeber-Fortbildungsberatungen ausweiten muss, dass sie das „Ambition"'¥YOgmmm ausdehnen muss, das gut ausgebildeten Menschen durch eine strukturierte Fortbildung Zugang zu Arbeitsplatzen oberhalb des „Einstiegsniveaus" verschafft, und dass sie das Angebot an modernen Lehrstellen, einschlieBlich Erwachsenenlehrstellen, ausbauen muss. 2) Das Ziel, den Zugang zu lebenslangem Lernen und lebenslanger Ausbildung zu erweitem. Die britische Regierung sollte in leistungsschwachen Gegenden die Berechtigung Erwachsener zu kostenloser Bildung und Ausbildung ausweiten und so den Kampf gegen regionale Ungleichheiten bei den Bildungsqualifikationen aufnehmen. Ernsthafte Investitionen in das Lernen in jungen Jahren als die Basis lebenslangen Lernens - sind nun letzten Endes angegangen wor-
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den. Die Regierungen steiien vor der Herausforderung, eine umfassende Versorgung fur Unter-Flinfjahrige zu schaffen, bei der die Verantwortung fur jedes Kind zwischen drei und funf Jahren zwischen dem Staat, den Arbeitgebern und den Einzelnen aufgeteilt ist. Aber die Teilnahme der Frauen am Arbeitsmarkt hangt auch davon ab, dass Familien die MogHchkeit der Tagespflege fur Kinder zwischen einem und drei Jahren haben, obwohl dies groBe Auswirkungen auf die Staatskasse hat. Zum Beispiel belaufen sich die Ausgaben fur Kinderbetreuung in dem Flinftel der Wohngegenden, die am armsten sind, und fur ahnliche Dienstleistungen momentan auf 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in GroBbritannien. In Schweden kostet die allgemeine Infrastruktur fur Kinder ungefahr 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Um diese Ziele zu verwirklichen, ohne Steuern zu erhohen oder umfangreiche Gebtihren einzufuhren, mlisste GroBbritannien radikal die Gewichte der offentlichen Ausgaben weg von den jetzigen Schwerpunkten hin zu den Bediirfnissen von Kindern und Familien verschieben. 3) Das Ziel, die Belegung von Sozialwohnungen zu verandern und neue Mechanismen zur Wiederherstellung von sozialem Zusammenhalt und zur Kontrolle chaotischer Anwesen zu fmden. Dieser Ansatz wtirde das Anrecht auf eine Sozialwohnung mehr an die Erfullung von Bedingungen knlipfen. Er wtirde sicherstellen, dass Mieter, die vormals aus Wohnungen der offentlichen Hand ausgewiesen worden sind, der Vereinbarung eines Verhaltenskodex und dem Besuch regelmaBiger Gesprache zustimmen wtirden und sie Sanktionen unterworfen waren, wenn sie immer wieder vereinbarte Regeln brachen. Offentliche Organe mtissen sich jedoch htiten, die Polarisierung zwischen „respektablen" und „heruntergekommenen" Anwesen zu verstarken. 4) Das Ziel, in soziales Kapital zu investieren - in den Kern btirgerschaftlichen Engagements in armeren Gemeinden genauso wie in ihr Kapital an einsatzfahigen Mitgliedern - und gleichzeitig weitere Zugangswege zu schaffen, um das btJrgerschaftliche Engagement und die Aussicht auf Karrieremoglichkeiten in diesem Bereich zu starken. Die Gelegenheit, an freiwilligen Tatigkeiten teilzunehmen, sollte radikal ausgedehnt werden und die Moglichkeit der Ortsansassigen direkt in die Ausfuhrung offentlicher Projekte einbezogen zu werden - beispielsweise nach einer Anlaufphase durch das SureStart-Vrogmmm - konnte auf andere Bereiche der ortlichen Versorgung wie Polizei, Parks und offentlichen Nahverkehr ausgeweitet werden. Das ermoglicht auch, neue Biinde der Btirgerschaftlichkeit zu Schmieden, und erleichtert damit eine tiefer greifende soziale Integration. 5) Das Ziel, die Gewichtung bei den Investitionen weg von der Verbesserung von Symptomen hin zu Vorsorgeprogrammen zu verschieben, die eine Wirkung auf die tiefer liegenden Ursachen von Armut und Benachteiligung haben und unsicherer, schlecht bezahlter Beschaftigung entgegenwirken. Zu den maBgebli-
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chen Zielgruppen gehoren Menschen in ungelernten Gelegenheitsarbeiten mit schwacher Lese- und Rechenfahigkeit; Straftater und ehemalige Straftater, die aus dem Gefangnis wiederkommen; und junge Leute, die ohne formalen Abschluss und mit schwachen sozialen und kognitiven Fahigkeiten von der Schule abgehen. Bei diesem Ansatz ist es erforderlich, dass praventive (Jberprtifungsprogramme in die Arbeitsagenturen, den Gefangnisdienst und die Zusammenarbeit mit den Arbeitgebem eingebettet werden, beispielsweise unter Mithilfe der Initiative zur Arbeitgeber-Fortbildungsberatung. 6) Das Ziel, die Bemtihungen zu verstarken, Ungleichheiten in der Nutzung offentlicher Dienste abzubauen. Diese Forderung folgt aus Julian Le Grands Substitutionstheorie, nach der hohere offentliche Ausgaben fiir den Wohlfahrtsstaat seit 1945 der Mittelklasse unverhaltnismaBig stark zugute gekommen sind. Wir mtissen z. B. das Programm zur Bekampfung von Ungleichheiten bei der Gesundheitsversorgung im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) weiterverfolgen und ebenso Initiativen wie Excellence in Cities in der Bildung. Solche Vorschlage konnten bedeuten, dass mehr Gesundheitsprogramme auf Gemeindeebene entwickelt werden mtissten; dass berufsorientierte Bildungs- und Ausbildungsprogramme in verarmten Gebieten ausgebaut werden mtissten; und dass neue MaBnahmen zur besseren Einbeziehung der Eltern in die Schulausbildung eingefuhrt werden mtissten, wie z. B. vertragliche Vereinbarungen zwischen Schule und Eltern. In den Schulen muss auch bei den Lehrplanen angesetzt werden. Zum Beispiel ist es zur Verringerung des Leistungsgefalles zwischen sozialen Klassen von entscheidender Bedeutung, den Mathematikunterricht in den meisten benachteiligten Schulen dadurch zu verbessern, dass talentierten Mathematikabsolventen besondere Anreize geboten werden. 7) Das Steuersystem sollte weiter reformiert werden. Im Zuge dessen sollte die Sozialversicherung fiir die am schlechtesten Entlohnten ganz abgeschafft und gleichzeitig sollten die Beitrage zur Sozialversicherung umstrukturiert werden. Zwei der drei regressivsten Elemente der Beitrage in GroBbritannien sind schon beseitigt worden: die niedrigere Schwelle und das Fehlen eines steuerfreien Sockelbetrages. Aber die alten Deckelungen bestehen nach wie vor. Die Reichen zahlen keine Abgaben auf Einkommen tiber 32.000 £, mit der Ausnahme des einprozentigen Zuschlags, der 2003 eingeflihrt wurde. Ist es nicht an der Zeit, diese Deckelung ganz abzuschaffen? Die Beschaftigungskosten der schlecht Ausgebildeten mtissen reduziert werden, um einerseits Arbeit zu schaffen und andererseits Armut auf lange Sicht zu verringern. Das unterste Fiinftel der Steuerzahler zahlt immer noch einen hoheren Anteil seines Einkommens als Einkommenssteuer als das oberste Fiinftel, und das verletzt klar den Grundsatz der progressiven Besteuerung. Es gibt eine fortwahrende Debatte dariiber, ob Beitrage zur Sozialversicherung einfach im Ganzen abgeschafft werden soUten,
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um ein vollkommen einheitliches Steuer- und Beihilfesystem zu schaffen; und auch dariiber, wie die Konsumsteuer in GroBbritannien weniger regressiv gemacht werden konnte. 8) Arbeitsmarktinstitutionen konnten zum Kampf gegen Ausbeutung und steigende Lohnungleichheiten gestarkt werden. Es miisste einen gesetzlichen Schutz geben, der sicherstellt, dass Arbeiter da nicht zu schlechteren Bedingungen eingestellt werden, wo die offentliche Hand ihre Pflichten zu privaten Agenturen auslagert. Lohne, Vertrags- und Arbeitsbedingungen dtirfen auf der Jagd nach kurzfristiger Gewinnmaximierung nicht auf der Strecke bleiben. Damit ist auch der Rahmen abgesteckt fur weitere MaBnahmen: die Wiedereinftihrung von Tarifrunden in die Bereiche, in denen die meiste Arbeit in Gelegenheitsarbeit umgewandelt wurde; die Anhebung der Mindestlohne parallel zu der Anhebung der Einkommen und die Abschaffung des Lohnabschlags fur Jugendliche; und die Forderung der Entwicklung gewerkschaftlicher Organisation in den ungelernten Sektoren der Wirtschaft durch den Regierungsfonds fur die Gewerkschaftsmodernisierung. In den Vereinigten Staaten wurde in den 80ern das Niveau der Mindestlohne auf einer festgesetzten Hohe konstant gehalten, und senkte sich deshalb tatsachlich ab - und diese Absenkung verursachte einen raschen Anstieg von Ungleichheit, insbesondere in der unteren Halfte der Verteilung. 9) Erwerbslosigkeit konnte durch die Schaffung positiver Anreize in einer Reform der Arbeitsunfahigkeits-Untersttitzung vermindert werden. Solche Anreize wiirden den anfanglichen Ansturm auf diese Unterstutzung eindammen. Wenn dies nicht geschieht, werden die Menschen weiterhin vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sein und ihr Leben in einem Zustand der Abhangigkeit von staatlichen Leistungen fristen. Seit den 80ern ist die Zahl derer, die diese Leistungen in GroBbritannien in Anspruch nehmen, standig gestiegen. Es sollte mehr ArbeitsbeschaffungsmaBnahmen geben, die den Staat auf lange Sicht von den Unterstutzungen entlasten. Das schlieBt auch Beschaftigungen fur schlecht ausgebildete Arbeitslcrafte im offentlichen Sektor ein, wie zum Beispiel Parkwarter und Gemeindeaufseher. In Regionen, in denen nur ein niedriger Bedarf an gering qualifizierten Arbeitskraften besteht, erfordert die Aktivierung von Arbeitslosen mehr als reine Versorgungsleistungen. Gezielte MaBnahmen zur Schaffung von Arbeitsplatzen in diesen Regionen heben das Beschaftigungsniveau, fordern auf lange Sicht die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und bieten den Ausgangspunkt fur weitere Moglichkeiten, wahrend sie gleichzeitig die Regeneration des ortlichen Lebensumfeldes fordern. Die Agenda fiir Arbeitsmarktflexibilitat muss reformiert werden, damit die Moglichkeit einer guten Anstellung flir alle geboten werden kann.
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10) Der stetige Anstieg von Ungleichheiten in der Wohlstandsverteilung muss bekampft werden, teilweise mit der Umverteilung von Vermogenswerten und der Demokratisierung der kapitalistischen Marktwirtschaft, aber auch durch die Eindammung der ausufernden Wohlstandsansammlung durch einige wenige Menschen. Genau so, wie im Edwardianischen Zeitalter die Sozialpolitik einen Unterschied zwischen „verdientem" und „unverdientem" Armsein machte, konnten diese Kategorien auch auf die Konzentration von Wohlstand in der globalen Wirtschaft angewendet werden. Die Ansammlung von Wohlstand ist ausufernd und ungerecht, wo sie nicht von barter Arbeit und risikofreudigem Unternehmertum herriihrt, sondem von gliicklichen Umstanden wie der steigenden Rendite von Grundbesitz und Land. Selbst Erbschaft ist eine Art von Gllick, indem sie es Btirgem ermoglicht, an dem Reichtum einer Gesellschaft teilzuhaben, aber dabei das Prinzip der Reziprozitat zu verletzen; wenn jemand die Friichte der Arbeit anderer Biirger genieBt, sollte daftir im Austausch ein Gut Oder ein Dienst zur Verftigung gestellt werden. Ein Pladoyer fiir die Freiheit sollte deshalb kein Pladoyer gegen die Besteuerung von Kapitaltransfers sein. Das gegenwartige Erbschaftssteuersystem in GroBbritannien bietet noch immer Schlupflocher fiir die Reichen und ist in seiner Wirkung ungerecht gegeniiber denjenigen, die in bescheidenem Wohlstand leben. Die Regierung sollte noch einmal iiber eine Kapitaltransfersteuer nachdenken, die sich nicht nur auf Erbschaflen bezieht, sondem alle Geschenke zu Lebzeiten mit einschlieBt. Der Vorschlag zur Kapitaltransfersteuer, den die ZaZ)owr-Regierung 1974 einbrachte, war voller Locher; die Ausnahme, die fiir Geschenke zwischen Eheleuten, zu Lebzeiten oder von Todes wegen, gemacht wurden, machten es zu einem Sieb. Es fiihrte kaum zu einer Umverteilung und brachte der Staatskasse kaum etwas ein. Dennoch, ein ahnlicher Ansatz, der etwas sorgfaltiger entworfen und umgesetzt wiirde, konnte immer noch etwas bewirken. Es gibt auch gute Argumente dafiir, die staatlichen Reserven zu beleihen, die durch die Besteuerung von Kapitaltransfers gebildet werden, und mit diesen Mitteln den Grundstock fiir ein Programm zu legen, in dem allgemein staatliche Gelder ausgeschiittet werden konnen. Ein solches Arrangement kann unterstiitzen, dass die Besteuerung der Bildung groBer Vermogen als legitim wahrgenommen wird. Die Ausstattung mit staatlichen Geldem oder ein „EngagementKonto" wiirde Biirgern ein zeitlich begrenztes Grundeinkommen zur Verftigung stellen. Es handelt sich dabei um eine Einheitsunterstiitzung, die Erwachsenen gezahlt wird, die sich engagieren. Dieses Verfahren belohnt eine groBere Spannweite von Aktivitaten als nur bezahlte Arbeit und verkorpert das Prinzip der Reziprozitat: das Recht auf ein Einkommen im Austausch fiir die Verantwortung, etwas auf eine anerkannte Art und Weise zu der Gesellschaft als Ganzem beizu-
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tragen. Es untersttltzt damit den Gedanken des aktiven biirgerschaftlichen Engagements. Die Berechtigung ware an eine produktive Beteiligung am Gemeinwesen gekntipft, wie zum Beispiel Unterrichten, Ausbildung, Betriebsgriindung Oder Eltemzeit. 5 Die Frage der Besteuerung Wir schlieBen mit einigen allgemeinen Bemerkungen zu Besteuerung und Ungleichheit. Konnen wir weitere Schneisen in die okonomische Ungleichheit in GroBbritannien schlagen ohne eine deutliche Anhebung der Steuerraten? Viele wurden das verneinen; aber es gibt Grunde anzunehmen, dass wir es konnen. Zunachst einmal ist es bei der Entwicklung von okonomischen und sozialen Programmen entscheidend, das Augenmerk auf die Steuergrundlage zu richten, statt auf die Steuerraten an sich. Viele Faktoren beeinflussen die Steuergrundlage, so auch das wirtschaftliche Wachstum, da ein wachsender Anteil von Menschen in die hoheren Steuergruppen kommt, wenn die wirtschaftliche Entwicklung voranschreitet. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt, den die Steuereinnahmen ausmachen, ist von 35,0 Prozent im Jahr 1997 auf 39,6 Prozent im Jahr 2002/3 angestiegen; ein Teil dieses Anstiegs erklart sich aus der Steigerung der Beitrage zur Sozialversicherung, die 2002 eingefUhrt wurde, aber der groBte Teil rtihrt vom Wirtschaftswachstum her. Wenn wir das Verhaltnis zwischen Besteuerungsniveaus und sozialpolitischen Programmen beurteilen wollen, vor allem in Bezug auf die Steuergrundlage, miissen wir vorsichtig bei den Vergleichen sein, die gewohnlich zwischen verschiedenen Landern gezogen werden. Auf den ersten Blick scheint es, als hatten Lander mit hoherer okonomischer Gleichheit viel hohere Sozialausgaben als solche mit niedrigerer Gleichheit, da bei ihnen die Steuereinnahmen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt hoher sind. Willem Ademas Forschung bei der OECD hat aber gezeigt, dass Vergleiche, die auf den Bruttobetragen der Steuereinnahmen im Verhaltnis zum Bruttoinlandsprodukt beruhen, irreflihrend sein konnen. Das kommt daher, dass einige Lander mehr liber die Besteuerung staatlicher Leistungen zurtickfordern als andere, besonders in Skandinavien. Wenn wir zum Beispiel Schweden und GroBbritannien vergleichen, dann scheint es so, als ob die Schweden einen sehr viel groBeren Anteil an sozialen und sozialstaatlichen Leistungen hatten als GroBbritannien. Wenn wir aber die Nettobetrage betrachten, erscheint dieser Unterschied weitaus kleiner, zum Teil deshalb, weil das britische Wohlfahrtssystem die Leistungen effektiver dahin lenkt, wo sie wirklich benotigt werden. Der Bruttoanteil der offentlichen Ausgaben in Schweden betragt zurzeit 36 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In GroBbritannien sind es nur 26 Prozent. Der Nettoanteil in Schweden ist jedoch nur 25 Prozent, gegeniiber einem Nettoanteil von 22 Prozent in GroBbritannien.
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Der wirkliche Unterschied in den Ausgaben ist viel kleiner als die absoluten Zahlen nahe legen. Diese Zahlen erinnem uns daran, dass die Art und Weise, wie offentliche Mittel eingesetzt werden, ftir die Verbesserung der offentlichen Infrastruktur und fiir die Verringerung der Armut genauso wichtig sein kann wie der Gesamtumfang der eingesetzten offentlichen Mittel. 6 Schluss Der neue Egalitarismus misst dem Staat sowohl bei der Mildemng der Einkommensungleichheit, die aus dem marktwirtschaftlich bedingten Beschaftigungszuwachs entsteht, als auch bei der Mittelvergabe zum Abfangen von Risiken eine bedeutende Rolle zu. Er verlangt, dass der Staat die Verteilung von finanzieller Ausstattung und von Vermogenswerten unter den am wenigsten Begiinstigten reguliert und die Verteilung dieser Vermogenswerte auf einen weiteren Personenkreis ausdehnt. Solche sozialen Investitionen fordern nicht nur die Gerechtigkeit, sondem sind auch eine Quelle der Effizienz. SchlieBlich kann der neue Egalitarismus besser als die traditionelle Sozialdemokratie die Probleme wahmehmen, die von staatlichem Versagen herriihren. Aber er betont auch die Moglichkeit eines Versagens der Marktwirtschaft. Weder Instrumente des Staates noch des Marktes werden bevorzugt: sie mussen mit nicht-staatlichen, nicht auf Gewinn ausgerichteten Instrumenten im Bereich der Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit abgestimmt und verzahnt werden. Wie wir gezeigt haben, gibt es viele Moglichkeiten zur Forderung wirtschaftlicher Gleichheit, die dazu genutzt werden konnen, einen neuen Egalitarismus in Zukunfl zu verwirklichen.
Autorenverzeichnis Patrick Diamond, geb. 1975, ist Direktor des progressiven Think Tank Policy Network in London und Berater Tony Blairs. Er ist senior visiting fellow am Centre for the Study of Global Governance an der London School of Economics. Bevor er in die Politik ging, hat Patrick Diamond zahlreiche Publikationen (iber gegenwartige Politik verfasst und tragt regelmaBig zu bekannten Tageszeitungen wie dem Guardian bei. Mit Anthony Giddens hat er The New Egalitarianism (2005) herausgegeben. Die von ihm herausgegebene Studie New Labour's Old Roots (2004) befasst sich mit der revisionistischen sozialdemokratischen Tradition innerhalb der Labour Party. Uwe Engel, Prof., Dr. phil. 1986, Habilitation 1993 bei Hermann Strasser. Seit 2000 Professur fiir Soziologie mit dem Schwerpunkt Statistik und empirische Sozialforschung an der Universitat Bremen. Studium der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie an der Universitat Hannover. Tatigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitaten Hannover und Bielefeld (1981 - 1988) sowie als wissenschaftlicher Assistent an den Universitaten Bielefeld und Duisburg (1988 - 1994). Nach Stationen an der Technischen Universitat Chemnitz-Zwickau Professor fur Sozialstrukturanalyse an der Universitat Potsdam (1995 - 2000). Veroffentlichungen zur Jugendforschung, Sozialstrukturanalyse, zu statischen Analyseverfahren und empirischen Methoden. Anthony Giddens, Prof Dr., geb. 1938, ehem. Direktor der London School of Economics (LSE). Er zahlt zu den Beratem Tony Blairs und gilt als New Labours Vordenker. Buchveroffentlichungen u.a.: Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verandert; Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie; Konsequenzen der Modeme; Die Konstitution der Gesellschaft. Grundztige einer Theorie der Strukturierung; Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie. John H. Goldthorpe war von 1969 bis 2002 Official Fellow am Nuffield College, Oxford, und ist dort jetzt Emeritus Fellow. 2003-05 war er Visiting Professor im Department of Sociology an der Cornell University. Goldthorpe ist Fellow der British Academy, Mitglied der Academia Europaea und der Royal Swedish Academy of Sciences and hat die Ehrendoktorwiirde der Universitat Stockholm verliehen bekommen. Publikationen u.a. The Affluent Worker 3 Bde., 1968-9 (mit David Lockwood u.a.); Social Mobility and Class Structure in Modem Britain (1980, 2. Aufl. 1987), Die Analyse sozialer Ungleichheit: Kontinuitat, Erneuerung, Innovation (1985, mit Hermann Strasser); The Constant
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Flux: Class Mobility in Industrial Societies (1992; mit Robert Erikson); On Sociology (2., zweibandige Auflage 2007). Seine Arbeiten tiber soziale Klassen bildeten die Basis fiir die National Statistics Socio-Economic Classification, die in GroBbritannien inzwischen die alten Registrar General's Social Classes ersetzt hat. Max Haller, Prof, geb. 1947, Dr. phil. Universitat Wien 1974, Habilitation Mannheim 1984, seit 1985 o. Professor am Institut fur Soziologie an der KarlFranzens-Universitat Graz; 1999 Gastprofessur University of California, Sta. Barbara; 2001-05 auch Professor flir Soziologie an der Universita degli Studi, Trento; Forschung und Lehre zum internationalen Vergleich von Sozialstrukturen und Werthaltungen, zu soziologischer Theorie und speziellen Soziologien. Autor bzw. Herausgeber von 25 Btichem und rund 100 Aufsatzen in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften und Blichern. Neueste Buchveroffentlichungen: The Making of the European Union. Contributions of the Social Sciences (2001, Hrsg.); Karrieren und Kontexte. Osterreichs Nobelpreistrager im historischen und internationalen Vergleich (2002; mit B. und M. Wohinz); Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich (2003, 2. Aufl.). Dieter Holtmann, Prof, Dr. rer. pol. 1974, Habilitation 1980. Seit 1993 Professur flir Sozialwissenschaften/Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universitat Potsdam. Studium der Mathematik, Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Universitat Koln. Wissen. Mitarb. in Bielefeld, Professor in Bielefeld, Duisburg und jetzt Potsdam. Veroffentlichungen zur sozialwissenschaftlichen Datenanalyse, zur Sozialstruktur der Bundesrepublik sowie zum internationalen Vergleich von Sozialstrukturen und Wohlfahrtsregimen; u.a. (B. Erbsloh, T. Hagelstange, D. Holtmann, J. Singelmann, H. Strasser) Ende der Klassengesellschaft? 1990, Die Revolution in Mittel- und Osteuropa und ihre Folgen (Hg.) 1991, Europa: Einheit und Vielfalt (Hg. zus. mit P. Riemer) 2001, Deskriptiv- und inferenzstatistische Modelle der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse 2004, Grundlegende multivariate Modelle der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse 2005, Zur Performanz von Wohlfahrtsregimen und zu den Untersttitzungspotentialen fiir die verschiedenen Wohlfahrtskonzepte (mit M. Mutz u.a.) 2006. Harold R. Kerbo ist seit 1977 Professor am California Polytechnic State University, San Luis Obispo. PhD 1975 am Virginia Polytechnic Institute and State University, Richmond. Er war Fulbright Professor in Japan, Thailand und Osterreich und Gastprofessor in GroBbritannien, Deutschland und in der Schweiz. Herausgeber der Comparative Societies Series bei McGraw Hill, New York.
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Harold Kerbo hat mehrere Bticher und zahlreiche Artikel im Bereich der Ungleichheitsforschung, des Landervergleichs, Unternehmensstrukturen und das moderne Japan publiziert. Dazu gehoren Sociology: Social Structure and Social Conflict (1989); Social Stratification and Inequality (6. Aufl. 2005); Who Rules Japan?: The Inner-Circles of Economic and Political Power (mit John A. McKinstry 1995); Modern Germany (mit Hermann Strasser 2000); World Poverty: Global Inequalities; The Modem World System (2006). Marcus S. Kleiner, geb. 1973, Dr. phil. 2006 bei Hermann Strasser, Medienwissenschaftler und Soziologe, vertritt zurzeit die Professur fUr Medienwissenschaften an der FH Dortmund im FB Design. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind unter anderem: Medienwissenschaften mit den Schwerpunkten Medientheorie, Mediengeschichte, Medienwirklichkeit, Medienkritik, Medienkultur, MedienpraxisZ-gestaltung; KommunikationswissenschaftZ-theorie; Kommunikationsguerilla; KulturwissenschaftZ-theorie; Culture Jamming; Cultural Hacking; Popkultur; postmoderne Soundkulturen; kulturelle Globalisierung. Aktuelle Buchpublikationen: Soundcultures. Uber elektronische und digitale Musik; Medien-Heterotopien. Diskursraume einer gesellschaftskritischen Medientheorie (im Erscheinen); Grundlagentexte zur sozialwissenschaftlichen Medienkritik (im Erscheinen); Diskursguerilla. Widerstandsanalysen in den Medien- und Kulturwissenschaften (im Erscheinen). Gerd Nollmann, Dr. phil, geb. 1967, Studium der Sozialwissenschaften, Philosophic, Englisch und Geschichte in Mtinster, Promotion 1996, Habilitation 2005 bei Hermann Strasser. Lektor fiir SoziologieZPolitik und Programmleiter des Westdeutschen Verlages 1996-2000, Arbeitsgebiete: Sozialstrukturanalyse, Sinnverstehen, Organisations- und Wirtschaftssoziologie, Europa. Publikationen u.a.: Konflikte in Interaktion, Gruppe und Organisation 1997; Warum fallt der Apfel nicht weit vom Stamm?, in: Zeitschrift fiir Soziologie 2, 2003; Die stille Umverteilung, in: Kolner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie 3, 2003; Die Hartnackigkeit der Geschlechterungleichheit, Soziale Welt 2002; Max Webers Vergleich von Rechts- und Sozialwissenschaft, Archiv fiir Rechtsund Sozialphilosophie 2005; Erhoht Globalisierung die Ungleichheit der Einkommen? Kolner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie 4, 2006. Georg W, Oesterdiekhoff, PD Dr. Dr., Diplom-Sozialwissenschaftler. Studium von Soziologie, Geschichte und Philosophic an der Universitat Duisburg, Diplom 1983, Lehramtsexamen 1985, Promotion zum Dr. soz.wiss. bei Hermann Strasser und zum Dr. phil. an der Universitat Bremen 1993, 1999 Habilitation an der Universitat Karlsruhe (venia fur Soziologie). Wiss. Angest. an den Universi-
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taten Duisburg, Mtinster und Wtirzburg, seit 2004 Professurvertreter an der RWTH Aachen. Forschungsschwerpunkte: Sozialer Wandel, soziologische Theorie und strukturgenetische Soziologie. Veroffentlichung von 18 Btichern. (Ausw^ahl): Kulturelle Evolution des Geistes 2006; Archaische Kultur und modeme Zivilisation 2006; Zivilisation und Strukturgenese 2000; Kulturelle Bedingungen kognitiver Entwicklung 1997. George Ritzer, Prof., PhD, lehrt Soziologie an der University of Maryland, College Park (USA). Schwerpunkte seiner Forschung sind Sozial- und Organisationstheorien. Ftir seine Lehrtatigkeit ist er verschiedentlich ausgezeichnet worden. Seine Studie Die McDonaldisierung der Gesellschaft hat weltweit Aufmerksamkeit erlangt. Buchveroffentlichungen u.a.: Modern Sociological Theory; Explorations in the Sociology of Consumption: Fast Food Restaurants, Credit Cards, and Casinos; The Globalization of Nothing. Natalie A. Scherer, Dipl.-Soz.-Wiss., 1997-2004 Studium der Sozialwissenschaften an der Universitat Duisburg; 2000-2004 Studentische Hilfskraft am Rhein-Ruhr-Institut ftir Sozialforschung und Politikberatung e.V. (RISP), Duisburg; seit 2004 Mitarbeiterin im ThyssenKrupp Konzemarchiv. Thomas Schweer, Promotion zum Dr. sc. pol. bei Hermann Strasser. Seit 2000 Leiter der Projektgruppe „Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle" am Rhein-Ruhr-Institut ftir Sozialforschung und Politikberatung e.V. an der Universitat Duisburg-Essen. Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Sozialen Arbeit und Erziehung an der Gerhard-Mercator-Universitat Duisburg. Wiss. Mitarbeiter an der Gerhard-Mercator-Universitat Duisburg bzw. am RheinRuhr-Institut flir Sozialforschung und Politikberatung e.V. (1993-2004). Veroffentlichungen zu Fragen des abweichenden und kriminellen Verhaltens, u.a. Der Kunde ist Konig: Organisierte Kriminalitat in Deutschland 2003, (zus. mit H. Strasser) Die Polizei - dein Freund und Heifer?! Duisburger Polizisten im Konflikt mit ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen (in: Groenemeyer, A. u. J. Mansel, Die Ethnisierung von Alltagskonflikten), (zus. mit H. Strasser et al.) Arbeitslos in Duisburg 1996, (zus. mit H. Strasser) Cocas Fluch: Die gesellschaftliche Karriere des Kokains 1994. Julia Simonson, geb. 1974, Dr. rer pol. 2003, seit 2006 wiss. Mitarbeiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachen e.V. in Hannover. Studium der Soziologie an der Universitat Bremen. Wiss. Mitarbeiterin an der Universitat Bremen (10/2000-09/2006). Veroffentlichungen zur sozialen Integration, Sozialstruktur sowie zu methodischen und statistischen Themen, u. a.: Individuali-
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sierung und soziale Integration. Zur Entwicklung der Sozialstruktur und ihrer Integrationsleistungen 2004, Nonresponse und Stichprobenqualitat. Ausschopfung in Umfragen der Markt- und Sozialforschung 2004 (zus. mit U. Engel, M. Potschke, C. Schnabel), Sozialer Kontext in der Mehrebenenanalyse 2006 (zus. mit U. Engel), Akzeptanz intemetgesttitzter Evaluationen an Universitaten 2006 (zus. mit M. Potschke). Nico Stehr, Prof Dr., geb. 1942, ist Inhaber des Karl Mannheim Lehrstuhls fur Kulturwissenschaften an der Zeppelin University, sowie Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Im akademischen Jahr 2002/2003 war er Paul-Lazarsfeld-Professor der Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultat der Universitat Wien. Buchveroffentlichungen jtingsten Datums Wissenspolitik: Die Uberwachung des Wissens (Suhrkamp, 2003); The Governance of Knowledge (Transaction 2004); The Moralization of the Markets (Transaction, 2006 mit Christroph Henning und Bernd Weiler); Knowledge (Routledge, 2006 zusammen mit Reiner Grundmann). Petra Stein, Prof Dr. phil, geb. 1964, Studium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Bergischen Universitat Wuppertal, 1997 Promotion, 2003 Habilitation an der Universitat Duisburg-Essen, seit 2004 dort Professorin fiir Empirische Sozialforschung. Publikationen u.a. Soziale Mobilitat und Lebensstile: Anwendung eines Modells zur Analyse von Effekten sozialer Mobilitat in der Lebensstilforschung, in: Kolner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie 57, 2005; Modelle zur Aufdeckung unbeobachteter Heterogenitat bei der Erklarung von Lebenszufriedenheit, in: Zeitschrift ftir Soziologie 29, 2000; Mixtures of Conditional Mean- and Covariance Structure Models (mit Gerhard Arminger und Jorg Wittenberg), Psychometrika 64, 1999; Lebensstile im Kontext von Mobilitatsprozessen. Entwicklung eines Modells zur Analyse von Effekten sozialer Mobilitat und Anwendung in der Lebensstilforschung, VSVerlag 2006. Johannes Weifi, Prof Dr. phil, geb. 1941, M.A. (Soziologie) Universitat Koln 1969; Promotion an der Universitat Koln 1969; Habilitation 1975 an der Universitat Duisburg. Seit 1969 als Wissenschaftlicher Assistent und Akademischer (Ober-)Rat und seit 1977 apl. Professor fur Soziologie an der Universitat Duisburg; seit 1981 0. Professor ftir Soziologische Theorie und Philosophic der Sozialwissenschaften an der Universitat Kassel. Mitherausgeber der Soziologischen Revue von 1983 bis 1992 (von 1984 bis 1988 geschaftsfuhrend), der Sociologia Internationalis (seit 1991) und der Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft fur Soziologie (geschaftsfuhrend 1999-2002). Mitglied des Beirats
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des Berliner Journals fiir Soziologie und der Zeitschrift Self and Agency. A Journal of Applied Sociology (seit 1995). Grundungsdirektor des Instituts fiir Kulturwissenschaften der Universitat Leipzig von 1991 bis 1993; Von 1995 bis 1998 geschaftsftihrender Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums II der Universitat Kassel. 1998-2002 Mitglied des Vorstands der DGS. Fellow-inresidence des Kollegs Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik im Wintersemester 2002/3.
Kurz-CV
Prof. Dr. Hermann Strasser PhD Geb. am 28.11.1941 Altenmarkt/Pg. (Osterreich). Studium der Nationalokonomie und Soziologie in Innsbruck, Berlin und New York; 1964 DiplomVolkswirt, 1967 Dr. rer. oec. an der Universitat Innsbruck, 1973 PhD in Soziologie an der Fordham University (Fulbright-Stipendiat 1968-71). 1976 Habilitation in Soziologie an der Universitat Klagenfurt. 1968-1971 Teaching Assistant und Teaching Fellow an der Fordham University, New York, 1971-72 Visiting Professor an der University of Oklahoma, Norman, 1972-1977 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fur Hohere Studien/Institute for Advanced Studies, Wien; Gastprofessuren und Vortrage an Universitaten und Kongressen im In- und Ausland. Seit Dezember 1977 Inhaber des Lehrstuhls fur Soziologie an der Universitat Duisburg-Essen; Vorsitzender bzw. Mitglied verschiedener Hochschulgremien (Institut, Fachbereichsrat, Senat, Rektor- und Kanzlerfmdungskommissionen usw.) und wiss. Gesellschaften, Vorsitzender und Gutachter in (Ehren-)Promotions-, Habilitations- und Berufungsverfahren, Organisator von wiss. Kongressen und Ringvorlesungen, Leiter zahlreicher Forschungsprojekte, zuletzt iiber „Polizisten im AUtagskonflikt", „Btirgerschaftliches Engagement und Altersdemenz", „Kinderarmut - Kulturarbeit mit Kindern". Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, soziale Ungleichheit und sozialer Wandel (soziales Kapital, Reichtum, Armut, Wertschatzung, Arbeitslosigkeit, Drogen, Globalisierung). Geschaftsfuhrer von V-E-R-B-A-L - Institut ftir professionelle Texte, Ratingen, in dessen Schreibwerkstatt Reden fiir prominente Personlichkeiten sowie Chroniken, Personen-, Familien- und Untemehmensbiografien entstanden sind (u.a. die Untemehmensbiografie der Deutschen Babcock AG, Oberhausen, der MastJagermeister AG, Wolfenbtittel, und der Graf-Recke-Stiftung, Dtisseldorf, die Personenbiografie von Peter Ludwig, Aachen, und Georg Dietrich, Offenburg sowie die Jubilaumsschrift des Architekten- und Ingenieurvereins zu Dtisseldorf). Mitglied des Rotary Clubs Ratingen. Neben mehr als 200 Aufsatzen in in- und auslandischen Fachzeitschriften und Zeitungen Autor bzw. (Mit-)Herausgeber von 25 Btichern, u. a. von The Normative Structure of Sociology (1976, port. 1978), EinfUhrung in die Theorien des sozialen Wandels (1979, engl. 1981), Die Analyse sozialer Ungleichheit (1985), Probleme der Industriegesellschaft (1985), Ende der Klassengesellschaft? (1990), In Search of Community (1993), Cocas Fluch: Die gesellschaftliche Karriere des Kokains (1994), Arbeitslos in Duisburg (1996), Schwer ver-
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mittelbar (1997), Modern Germany (2000), Globalisierungswelten (2003), Das individualisierte Ich: Individualisierung als Programm und Problem der modernen Gesellschaft (2004), Endstation Amerika? Sozialwissenschaftliche Innen- und Aufienansichten (2005) und Woran glauben? Religion zwischen Kulturkampf und Sinnsuche (2007). RegelmaBiger Kolumnist in ftihrenden Tageszeitungen. Weitere Informationen: http://soziologie.uni-duisburg.de/personen/Strasser/C_V_deutsch.pdf http://soziologie.uni-duisburg.de/personen/Strasser/C_V_english.pdf