K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
KUNO
HEFTE
UTTENDOKFER
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
KUNO
HEFTE
UTTENDOKFER
Der Sperber AUS D E M LEBEN EINES RAUBVOGELS
2006 digitalisiert von Manni Hesse
VERLAG MURNAU .
SEBASTIAN
MÜNCHEN
.
LUX
INNSBRUCK
BASEL
ir unterhielten uns über den Sperber. Mein Besucher war ein leidenschaftlicher Liebhaber der Singvogelwelt, unter deren Stimmen er sich bewundernswert gut auskannte. Zugleich war er ein ebenso begeisterter Jäger. Jedes Frühjahr zog er auf Schnepfensuche, und im späteren Verlauf des Jahres mußten Rebhuhn und Fasan, Hase und Kaninchen dran glauben. Gelegentlich kam er auf eine Stockente zu Schuß, die sich vorübergehend auf dem kleinen Tümpel seines Reviers aufhielt. Noch seltener erwischte er einen Fuchs, der bei der Mäusejagd sein Gebiet streifte. Schließlich gab ihm ein befreundeter Gutsbesitzer alljährlich einen Bock frei. Ich hatte einen Zornesausbruch meines Freundes heraufbeschworen, als ich ihm die Beuteliste des Sperbers vorlegte, die die Arbeitsgemeinschaft Otto Uttendörfers, meines Bruders, in mehr als dreißigjähriger Suche zusammengetragen hatte. Ziel dieser Forschungsgemeinschaft, deren engerem Kreis ich selbst zehn Jahre angehört hatte, war es, ein möglichst einwandfreies Bild von der Ernährung und damit von den Lebenseigenheiten unserer Raubvögel und Eulen zu gewinnen. Um das beim Sperber zu erreichen, waren fast neunhundert seiner Horste und ihre Umgebung in verschiedenen Gegenden kontrolliert worden, davon die Hälfte im Hügelland der sächsischen Oberlausitz. Die in der Nähe der Horste gefundenen ausgerupften Federn — der Vogelkundler nennt sie Rupfungen — bewiesen, daß den etwa neunhundert Sperberpaaren fast sechzigtausend Vögel, zumeist Singvögel, zum Opfer gefallen waren. Das hatte meinen Freund höchst aufgebracht. Und doch verlangte dieses Ergebnis, das auch uns, als wir es zusammenstellten, erschreckt hatte, eine kritische Überprüfung. Wir von der Arbeitsgemeinschaft hatten uns dieser Aufgabe unterzogen. „Ich gebe zu", so konnte ich deshalb meinem Gast erwidern, 2
„daß diese nüchternen Zahlen traurig stimmen. Aber bevor wir ein endgültiges Urteil über den Sperber fällen, müssen wir uns erst einmal die genaue Zusammensetzung unserer Beuteliste ansehen. An ihrer Spitze steht zu etwa einem Zehntel der Hausspatz. Auch du wirst wohl nicht gerade auf eine noch stärkere Vermehrung dieses Frechdachses und Getreideplünderers versessen sein!" „Nein, bestimmt nicht! Die paar Hausspatzen gönne ich dem Sperber." „Aber der Hausspatz ist nur eines der Vogelopfer des Sperbers", fuhr ich fort, „ihm folgen der Reihe nach: Singdrossel, Buchfink und die Feldlerche, Vögel, die jedem von uns viel mehr ans Herz gewachsen sind als der Sperling: der Buchfink, weil er als einer der ersten im Frühjahr sein Liedchen schmettert, die Singdrossel, weil sie uns mit ihren Weisen den Wald verzaubert, die Lerche, weil sie bereits in aller Herrgottsfrühe nach dem Kuckucksruf über den Feldern tiriliert. Als weitere sehr begehrte Sperberbeute muß ich übrigens die Goldammer hinzufügen. Diese fünf Vogelarten machen bereits zwei Fünftel der Beuteliste aus, soweit sie die Sperber unseres Kontrollgebietes betrifft. Aber es ist auffällig, daß trotzdem die Hausspatzen, die Buchfinken, Singdrosseln, Lerchen und Goldammern nicht weniger geworden sind." „Und wie erklärst du dir das?" „Das liegt daran, daß die Vermehrung dieser Vogelarten besonders stark ist. Sie machen alle zwei Brüten, die Hausspatzen häufig sogar drei. Alles Raubzeug einschließlich des Sperbers ist nicht in der Lage, dem Bestand dieser Arten auch nur im geringsten Abbruch zu tun." Eichelhäher gegen Finkenvögel „Du meinst also, daß die Tätigkeit des Sperbers gar nicht so verheerend sei. Aber du hast bisher nur von zwei Fünfteln gesprochen. Was ist mit seinen übrigen Opfern?" „Die nächsten zwei Fünftel-der Beuteliste werden von elf Arten bestritten. Wiederum sind liebe Freunde dabei: Kohl- und Blaumeisen, Rotkehlchen, Dorn- und Gartengrasmücken und Rauch3
schwalben. Aber hast du jemals bemerkt, daß eine von diesen Arten an Zahl abgenommen hätte?" „Wenn ich ehrlich bin, nein." „Auch das bat seinen Grund: Kohl- und Blaumeisen haben bei der ersten Brut sechs bis acht Junge, bei der zweiten meist noch mehr. Bei Grasmücken und Rotkehlchen ist's ähnlich. Die Natur sorgt bei all jenen Geschöpfen, die auf Grund ihrer Kleinheit, Ungewandtheit und Wehrlosigkeit vielen Gefahren ausgesetzt sind, für zahlreichen Nachwuchs, so daß bei allen Verlusten doch immer noch so viel übrigbleibt, daß das natürliche Gleichgewicht nicht aufgehoben wird. Bei der starken Vermehrung der genannten Vogelarten haben Sperber und Baumfalk, Waldkauz und Schleiereule, Hermelin und Mauswiesel ihrerseits satt zu fressen; denn auch sie sind Geschöpfe, die leben wollen." „Du rückst die Dinge in ziemlich scharfe Beleuchtung." „Das muß man schon, um ein klares Bild zu gewinnen und niemandem Unrecht zu tun. Zudem sind von den zuletzt genannten Arten vier noch gesondert zu betrachten, nämlich Amsel und Star, Feldspatz und Grünling. Feldspatz und Grünling sind, vom menschlichen Standpunkt aus beurteilt, fast genau so schmarotzerisch wie der Hausspatz, der Grünling besonders durch sein Knospenzerbeißen. Und was die Amsel betrifft, so hat sie sich so stark vermehrt, daß man sie nicht mehr so freundlich ansieht wie früher: Sie verdrängt andere Vögel, zerpickt häufig die Eier ihrer Brüten und räubert in unseren Salatbeeten. Und die Stare? Wenn zwanzig von ihnen deinen Kirschbaum plündern, bist du bestimmt nicht begeistert, zumal alles Klappern und Scheuchen sie nur vorübergehend vertreibt. Viel schlimmer aber ist, daß sie alljährlich in ganzen Heerscharen zur Zeit der Reife in unsre Weinberge einfallen. Es schadet also nicht im geringsten, wenn der Sperber etwas Luft unter ihnen macht. Übrigens wiegt ein erbeutetet Star bei einem Gewicht von 70 bis 80 Gramm drei Vögel von Finkengröße auf, die dann verschont bleiben, da der Sperber mit der Starenmahlzeit für längere Zeit gesättigt ist. Du kannst für einen Star aber ebensogut vier Kohl- oder sieben Blaumeisen ansetzen. In dieser Hinsicht liegen bei der Amsel die Dinge noch günstiger: Sie wiegt durch4
Die eben Ausgesehlüpften in mütterlicher Obhut
schnittlich 100 Gramm und stirbt damit sozusagen stellvertretend für noch mehr Kleinvögel, als es mit dem Star der Fall ist." „Das sind Gesichtspunkte, die, ich gestehe es offen, der Räuberei des Sperbers einiges von ihrer Grausigkeit nehmen." „Meine Rechnung ist noch nicht zu Ende. Bisher haben wir festgestellt, daß zwei mal zwei Fünftel aller Beutevögel des Sperbers auf sechzehn Arten entfallen, und daß das fast überall die häufigsten Vögel sind. Nicht einmal dort, wo der Sperber heute noch verhältnismäßig dicht siedelt, nehmen diese Arten ab. — Doch nun verdient das restliche Fünftel unserer Liste einen kurzen Blick: Es verteilt sich auf 110 Vogelarten. Viele von ihnen sind offenbar nur Gelegenheitsbeute. Aber auch solch ein Bösewicht wie der Eichelhäher ist darunter, er fällt dem Sperber sogar recht häufig zur Beute. Wir fanden bei unseren Kontrollgängen die Rupfungen von siebenhundert getöteten Eichelhähern. Mit seinem Gewicht von etwa 80 Gramm hat jeder dieser geschlagenen Raubvögel zwölf Kohlmeisen oder acht Finken das Leben gerettet. Weiter kannst du auf jeden Eichelhäher noch mindestens zwei zerstörte Vogelbruten rechnen, bei denen er sich entweder die Eier oder die nackten Jungen zu Gemüte führt. Nimm jede dieser zerstörten Brüten mit fünf Eiern oder Jungen an, so sind das zehn Stück, durchschnittlich die gleiche Zahl von Kleinvögeln bleibt wie gesagt wegen seiner Gewichtigkeit am Leben, das macht zusammen 20 mal 700; es sind also 14 000 Kleinvögel den neunhundert Sperberpaaren wegen ihres Eichelhäherfangs gutzuschreiben. Das ist eine ganz beträchtliche Menge, ein Viertel unserer Beuteliste wird dadurch bereits aufgewogen. Und das ist keine Schönfärberei; denn ich habe jedem Eichelhäher nur zwei vernichtete Brüten aufs Schuldkonto geschrieben; das ist außerordentlich gering gerechnet; denn wenn ein Eichelhäher gerade die entsprediende Laune hat, schlürft er an einem einzigen Tage zehn Eier von zwei Singdrosselbruten. Vielleicht läßt er dann für fünf oder gar sieben Tage sein verderbliches Tun und hält sich in dieser Zeit an Maikäfer und anderes Getier, aber dann folgen bestimmt bald wieder dutzendweise die Nestjungen von Rotkehlchen, Baumpiepern und anderen Vögeln." „Du bist den Dingen sehr auf den Grund gegangen." 6
„Nun ja, wir haben viele Jahre lang in der erwähnten Arbeitsgemeinschaft eifrig beobachtet, sorgfältig gesammelt und die Dinge von allen Seiten betrachtet; später machte ich in den verschiedenen Gegenden, in die mich das Schicksal verschlug, weitere Beobachtungen, und selbstverständlich habe ich auch verfolgt, was andere zu dieser Frage zu sagen hatten."
Jagdschädling oder nicht? „Aber wirft man dem Sperber nicht vor" — damit nahm mein Besucher das Gespräch wieder auf —, „daß er ein schrecklicher Jagdschädling sei? Du kennst mich als begeisterten Weidmann. Hier bei uns im Niedersachsenland genießt der Sperber nicht den geringsten jagdlichen Schutz. Wo du ihn auch triffst, in jeder Jahreszeit darfst du ihn abschießen. Ich habe bisher gern auf dieses Vorrecht verzichtet; nach dem, was du mir vorgetragen hast, werde ich künftig erst recht nicht den Finger krumm machen, sollte ich einen Sperber zu Gesicht bekommen. Aber wie steht es denn nur mit seiner viel beredeten Jagdschädlichkeit? Könntest du diesen Vorwurf entkräftigen, so würde gewiß mancher Jäger seinen Haß unserem Raubvogel gegenüber etwas mildern." „Dazu ist eine ganze Menge zu sagen. Es war für uns in der Arbeitsgemeinschaft eine große Überraschung, als sich ergab, daß unter den rund 60 000 Beutevögeln nur 327 jagdbare Vögel waren, nämlich etwa 100 Rebhühner und Fasanen, etwas mehr als 200 Ringeltauben und fünf Waldschnepfen; dazu kamen ein paar Junghasen und Jungkaninchen. Nur etwa bei jedem dritten Horst fand sich also ein jagdbares Tier, und zwar in der Mehrzahl Ringeltauben, von denen es wirklich genug gibt. Und das verteilt sich auf viele Jahre. Von Jagdschaden kann wohl kaum die Rede sein. Der Sperber ist auch darin besser als sein Ruf!" „Deine Zahlen spredien dafür!" „Es freut mich, das aus dem Munde eines Jägers zu hören. Doch will idi dir gegenüber ganz ehrlich sein: Da, wo eine Fasanerie in den Jagdhereidi eines Sperbers fällt, wird es unter den Fasanen7
küken immer allerhand Verluste geben. Den künstlich erbrüteten Jungen einer solchen Farm fehlt eine erfahrene Henne, die sie bei Gefahr warnt; die Küken einer Fasanerie wachsen zudem in verhältnismäßiger Freiheit heran. Hat der Sperber erst einmal eine so günstige Gelegenheit zum Beutemachen erfaßt, so nutzt er sie entsprechend seinem Instinkt auch gehörig aus." „Verständlich! Aber ein Jäger, der auf seine heranwachsenden Fasanen achtgibt, wird sehr rasch die Gefahr erkennen." „ . . . und er wird — in diesem Falle mit Recht — den Räuber abschießen", ergänzte ich. „Doch da, wo man die Fasanen in freier Wildbahn sich paaren und die Hennen brüten läßt, wird eine leidlich kluge Fasanenhenne ihre Küken so führen, daß sie möglichst gute Deckung haben; dann wird das Unheil durch den Sperber nicht übermäßig groß sein." „Völlig einleuchtend", pflichtete mir mein Gegenüber bei. „Vor allem darf man bei der Beurteilung der Jagdschädlichkeit die ,Größe' dieses Raubvogels nicht vergessen. Sie wird meist überschätzt. Ein männlicher Sperber wiegt durchschnittlich knapp 150 Gramm, das Weibchen wiegt zwar fast doppelt so viel, aber das Gewicht übersteigt auch bei ihm kaum ein halbes Pfund."
Arbeitsteilung in der Sperberfamilie „Der Gewichtsunterschied ist sehr auffällig. Hat man dafür eine plausible Erklärung?" „Man hat viel über den Größenunterschied bei den Geschlechtern nachgedacht; wir finden ihn bei fast allen unseren Raubvögeln, aber bei keinem so ausgeprägt wie beim Sperber. Der letzte Grund ist unbekannt. Aber aus der Differenz ergibt sich, daß das Weibchen viel mehr tragen kann als das Männchen. Im allgemeinen kann ein Raubvogel in seinen Fängen so viel davontragen, wie er selber wiegt, obwohl das schon allerhand Mühe kostet und weite Strecken mit einer solchen Last nicht zurückgelegt werden können. Schon ein Eichelhäher ist für das Sperbermännchen reichlich groß, das Sperberweibchen aber kann sogar eine Taube und ein Rebhuhn fort8
Die Jungsperber bieten noch keinen stolzen Anblick
schaffen; das Rebhuhn wiegt etwa 350 bis 400 Gramm, die Taube, insbesondere die Ringeltaube 450 bis 550 Gramm. Man muß indes klar unterscheiden zwischen dem Schlagen der Beute und ihrem Wegschleppen. Das Sperbermännchen kann eine Taube oder ein Rebhuhn schlagen, es kann aber die Beute nicht mitnehmen, sondern muß sie an Ort und Stelle rupfen und, sofern es hungrig ist, kröpfen; doch dürfte es den großen Happen auch beim größten Appetit kaum ganz bewältigen. Im allgemeinen ist es aber so, daß das Sperbermännchen nur kleinere Beute schlägt, die es bequem tragen kann. Für ernstlichen Jagdsehaden käme also nur das viel größere Weibchen in Frage. Aber damit ist es nicht weit her, das hängt mit der ganz strengen Arbeitseinteilung von Sperber und Sperberin bei Brut und Aufzucht zusammen." „Das interessiert mich sehr." „Ja, das ist eine Merkwürdigkeit, die selbst manchen Jäger überrascht. Während der gesamten Brut- und Aufzuchtzeit jagt nämlich das Sperberweibchen überhaupt nicht. Das Männchen versorgt das Weibchen und die Jungen mit der erforderlichen Nahrung. Die Brutdauer allein beträgt beim Sperberweibchen 35/36 Tage, genau so lange wie bei dem fünf- bis sechsmal so großen Habichtweibchen, das viel dickere Eier bebrüten muß." „Gibt es einen Grund für diese im Verhältnis zum Habicht überlange Brutdauer beim Sperber?" „Man hat ihn erst in neuester Zeit gefunden: Die Bruttempera-, tur beim Sperber beträgt nur 37 Grad, beim Habicht aber 42 Grad Celsius. Warum das so ist? —• dieses Rätsel, das uns die Natur aufgibt, wird wohl kaum zu lösen sein. Das brütende Weibchen macht sich darüber sicher keine Gedanken; es konzentriert sich ganz auf seine Aufgabe. Vom Legen der ersten Eier an bis zum Flüggewerden der Jungen, also über einen Zeitraum von fast drei Monaten, bleibt es an den Horst gebunden. Es macht während dieser Zeit eine Vollmauser des Großgefieders durch und ist dadurch stark flugbehindert, also auch weitgehend untauglich zur Jagd. Fest steht jedenfalls, daß der Teil des Paares, der im Revier des Jägers am ehesten Schaden anrichten könnte, monatelang keinen Anlaß zur Klage geben kann." 10
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„Ich verstehe." „Bei näherer Betrachtung der Beuteliste, von der wir ausgegangen sind, wird dieser drei Monate währende Ausfall des Weibchens ganz deutlich. Wir fanden bei den fast 900 Sperberhorsten nur 420 Beutevögel mit einem Gewicht von über 200 Gramm, das sind nicht einmal 0,7 Prozent. Alles übrige waren Kleinvögel, vom Goldhähnchen und Zaunkönig angefangen bis hin zu Singdrossel, zu Amsel und Star. Dabei war auffallend, daß der doch recht häufige Zaunkönig nur sehr selten vom Sperber erwischt wird; er ist durch seine Lebensweise im wenig zugänglichen Gebüsch ziemlich geschützt. Freifliegende Kleinvögel aber werden zur leichten Beute. Und gerade auf diese kleinen Beutevögel kommt es bei der Jungenaufzucht im Sperberhorst an. Der Sperbernachwuchs ist nämlich auf sehr zarte Nahrung eingestellt, die ihm, in kleinere Bröckchen zerteilt, dargeboten werden muß. Die Zerteilung und Zuteilung der Nahrung nimmt das Weibchen vor. Das Sperberehepaar hält diese Aufgabenteilung genau ein: Kommt das Weibchen während der Jungenaufzucht durch den Habicht oder den Marder und auch —• leider! — durch Abschuß um, so ist das Schicksal der Jungen besiegelt: Sie verhungern unweigerlich, obwohl das Männchen weiterhin Beute über Beute heranschleppt." „Ja, wie ist das möglich?" „Dem Männchen fehlt der Trieb und infolgedessen das Verständnis dazu, die Beute zu zerkleinern und in Bröckchen an die Jungen zu füttern. Es legt die erbeuteten Vögel meist ungerupft auf den Horstrand. Aber damit können die unbeholfenen Jungen nichts anfangen. So erklärt es sich auch, daß wir manchmal bis zu fünfzehn Beutevögel auf dem Rand eines Horstes gefunden haben; im Horst aber lagen die verhungerten Jungsperber; das Weibchen war offenbar während der Aufzucht irgendwo umgekommen. Es ist nur ein einziger Fall bekannt, in dem ein Sperbermännchen sozusagen wider die eigene Natur sich umstellte und die Fütterung der Jungen genau wie das Weibchen durchführte. Dieser Fall wurde wegen seiner gänzlichen Ungewöhnlichkeit in Fotoaufnahmen dokumentarisdi festgehalten." „Ich begreife jetzt, warum du das alles so ausführlich und betont 11
gerade mir als Jäger schilderst und erklärst: weil es eine ausgesprochene Roheit ist, ein Sperherweihchen während der Aurzucht abzuknallen, da man damit die Jungen dem Hungertode preisgibt. Erscheint die Natur manchmal schon grausam genug, wenn sie durch einen Habicht und einen Marder manches Sperberweibchen zugrunde gehen läßt, so sollte der Mensch wenigstens die Finger davon lassen. Aber nun möchte ich noch wissen: Was geschieht, wenn nicht das Weibchen, sondern das Männchen während der Brutzeit ausfällt?" „Dann geht trotz Behinderung durch die Mauser das Weibchen auf die Jagd. Wir haben bei unseren Horstuntersuchungen einen solchen Fall ermitteln können; er war recht bezeichnend. Bei diesem Horst hörten nämlich plötzlich die Rupfungen von Kleinvögeln auf, an ihrer Stelle fanden sich in den folgenden zwei Wochen sechzehn Rupfungen der großen Eichelhäher. Für die drei vorhandenen Jungen und für das Weibchen selbst genügte täglich ein 180 Gramm schwerer Eichelhäher. Um ihn zu erwischen, brauchte das Weibchen nur einmal am Tage die Jungen zu verlassen und mußte nicht einmal in eine allzu weite Entfernung vom Horst ausschweifen. Hätte die verwitwete Sperberin etwa acht Vögel von Finkengröße erjagt, so hätte sie sich weit vom Horst entfernen müssen und hätte mehr als einen halben Tag zu einer solchen Jagd gebraucht; die Jungen wären allzu lange Zeit ohne Schutz geblieben."
Rupfungen richtig deuten Wir hatten in unserem Gespräch eine kleine Pause eingelegt. Die häufige Nennung des Fachwortes „Rupfung" hatte meinen Besuch neugierig gemacht. Ich mußte eine Rupfung in natura vor ihm ausbreiten, damit er sich eine genaue Vorstellung davon machen konnte. „Wie kommen solche Rupfungen im Horstbereich zustande", fragte er, „und wer rupft eigentlich: das Männchen oder das Weibchen?" „In der Regel ist der Vorgang so: Das Männchen bringt den er12
beuteten Vogel ungerupft heran und lockt mit seinem Kichern. Schon fliegt das Weibchen ihm entgegen, nimmt die Beute ab und rupft sie nicht allzu weit vom Horst entfernt an geeigneter Stelle, meist auf einem Baumstumpf oder einer kleinen Bodenerhebung. Ist aber die Sperberin bei der Ankunft des Partners nicht abkömmlich, so legt das Männchen den ungerupften Vogel auf den Horstrand und fliegt sofort zu erneuter Jagd ab. Im geeigneten Augenblick macht sich die Sperberin dann frei, fliegt mit dem Beutestück an den einmal gewählten Platz und begibt sich an die Arbeit des Rupfens. Dann zerteilt sie die Beute und kröpft oder füttert mit den Bröckchen die Jungen. An einem einzigen Rupfplatz in der Nähe eines Horstes können nach Beendigung der Aufzucht bis zu 300 gerupfte Vögel gefunden werden, besonders dann, wenn es keine oder nur geringe Störungen gegeben hat. Im allgemeinen bewegt sich die Zahl zwischen 100 und 200." „Du sagtest, in der Regel spiele sich der Vorgang in der geschilderten Weise ab, daß also das Männchen die Beute ungerupft herbeibringt. Gibt es auch andere Möglichkeiten?" „Ja, wir haben Sperberhorste gefunden, bei denen keine einzige Rupfung entdeckt werden konnte. Dafür habe ich nur die eine Erklärung, daß das Männchen gerupft hat, und zwar am Ort der Tat, zum mindesten in deren Nähe. Solche Rupfungen zu registrieren, ist fast unmöglich, denn sie liegen an verschiedenen Stellen: irgendwo versteckt am Dorfrand oder in einem unzugänglichen Gartengebüsch, am Waldrand zerstreut, in kleinen Feldgehölzen oder Hecken, aber auch auf freiem Feld, obwohl der Sperber es im allgemeinen vorzieht, für diese Rupfarbeit in Deckung zu gehen, um sich keiner Gefahr auszusetzen. Eine Begründung für dieses Abweichen von der Regel dürfte sich nur schwer finden lassen. Lebende Wesen sind nun einmal keine berechenbaren Maschinen, damit muß man sich abfinden." „Ein Glück, daß es so ist; denn das geheimnisvoll und rätselhaft Bleibende bietet dem Forscher nicht weniger Reiz als das, was ojr mit dem Verstand durchschaut hat." „Gelegentlich kommt es vor, daß ein Sperberweibchen nicht auf dem Boden oder einem Stumpf, sondern auf dem Baum selber 13
rupft. Der Baumfalk tut das, nebenbei bemerkt, immer, so daß bei ihm das Auflesen von Rupfungen schwierig wird, da die Federn vom Winde verstreut werden oder in den Ästen oben hängen bleiben. Das gleiche ist natürlich der Fall bei einem baum-rupfenden Sperber. Man hat dann seine Mühe, wenigstens das Wichtigste an Federmaterial zusammenzubekommen." „Und aus den aufgesammelten Federn läßt sich die Art der Beutevögel genau bestimmen?" „Ganz einwandfrei! Nur gehört einige Federkenntnis dazu, die einzig durch Übung zu erwerben ist. Selbst der erfahrene Kenner muß sich eine Vergleichssammlung von Federn zulegen, nach der er in zweifelhaften Fällen entscheiden kann. Recht häufig kommt es vor, daß bei den Rupfplätzen im Horstrevier eine Anzahl Rupfungen über- und durcheinanderliegen, weil ein Baumstumpf zum Lieblingsrupfplatz der Sperberin geworden ist." „Und das läßt sich alles auseinanderwirren?" „Vom Kenner oder besser vom Könner — gewiß! Selbst die Feststellung, um wieviel Vögel es sich gehandelt hat, ist mit Hilfe bestimmter Kennfedern möglich, wobei allerdings vorausgesetzt wird, daß sorgfältig aufgelesen wurde und vom Großgefieder nichts liegengeblieben ist." „Das ist wirklich erstaunlich!" „Ja, es ist schon überraschend, was darin geleistet wird. Ich erinnere mich an einen Fall in der Neumark. Hier hatte in der Nähe seines Horstes ein Sperberweibchen den weitaus größten Teil der Beutevögel auf einer krumm gebogenen Birke gerupft. Etwa eine Stunde hatten die beiden Entdecker dieses Horstplatzes zu tun, um den gewaltigen Federhaufen aufzulesen. Die Hauptarbeit freilich kam erst hinterher am Arbeitstisch zu Hause: Die einwandfreie Sortierung der Unzahl von Federn ergab rund neunzig Vögel in fast zwanzig verschiedenen Arten."
Das Sperberrevier Wir hatten bisher noch gar nicht von der allgemeinen Lebensweise des Sperbers gesprodien oder sie nur kurz gestreift. Gerade 14
darüber konnte ich meinem Besucher aus langjähriger Beobachtung manche Auskunft geben. Er wollte zunächst wissen, welche Gegenden die Sperber bevorzugen und wo sie ihren Horst bauen. „In großen, geschlossenen Wäldern' 4 , entgegnete ich, „insbesondere in Wäldern mit einseitiger Fichten- oder Kiefernkultur wirst du kaum einen Sperber finden, es sei denn an ihren Rändern, und da wieder bevorzugt in der Nähe menschlicher Siedlungen. Das Innere derartig eintöniger Waldgebiete ist verhältnismäßig arm an Vogelleben, nur mühsam würde hier ein Sperber genügend Beute finden. Dort aber, wo eine Landschaft von größeren und kleineren Waldstücken durchsetzt ist, mit Feld und Wiese dazwischen, mit einzelnen Busch- und Baumgruppen, mit viel Hecken und, nicht zu vergessen, mit Bauerngehöften, dort fühlt er sich sehr wohl, dort ist der richtige Lebensraum für unseren Raubvogel. Hier hat er als Grundlage für seine Ernährung viel Vogelvolk beieinander. Da lockt der Hausspatzenreichtum der Siedlung, an ihrem Rand tummeln sich die Feldspatzen, dazu kommen in großer Zahl: Amseln und Stare, Kohl-, Blau- und Nonnenmeisen, Rauch- und Mehlschwalben, Haus- und Gartenrotschwänze, Buchfinken und Grünlinge. Die größeren und kleineren Waldreviere sind bevölkert von Sing- und Misteldrosseln, von Eichelhähern, von Ringel- und Turteltauben, von Tannen- und Haubenmeisen. Am Waldrand aber sind Goldammer, Buchfink und Baumpieper zu Hause, und zumeist auch zahlreiche Rotkehlchen. Im Buschwerk an den Waldrändern wie in den Hecken, die Feld und Wiese durchschneiden, brüten Dornund Gartengrasmücken, und hier treibt auch der Neuntöter sein nicht ganz sauberes Handwerk. Dazu treten nicht wenige Hänflinge und, freilich nicht überall, Stieglitze. Feld und Wiese aber bieten Lerchen und Bachstelzen an, die natürlich auch im Dorf zu haben sind. Sie alle bilden den Rückhalt für den Nahrungsbedarf einer Sperberfamilie. In einer Gegend, wie ich sie beschrieben habe, ist eine Siedlungsdichte von 10 bis 12 Quadratkilometern für je ein Sperberpaar durchaus möglich, ohne daß das Vogelleben in nennenswerter Weise darunter leidet." „Ich wundere midi eigentlich, daß dann das hiesige Gebiet Niedersachsens, auf das deine ideale Sperberlandschaft doch genau 15
paßt, so wenig Sperber aufweist; er ist mir hier nur ganz selten zu Gesicht gekommen." „Du hast recht: Unser Raubvogel ist hier kaum vertreten, obwohl die Gegend geradezu für ihn geschaffen erscheint. Ich selber habe in den zwölf Jahren meines Hierseins nur zwei Sperberhorste entdeckt, wobei ich zugebe, daß ich nicht gerade eifrig danach gesucht habe. Aber die Tatsache bleibt: Die Sperber sind hier recht dünn gesät. Auch im Winter ist nur ganz selten einmal ein richtiger Sperberrupfplatz zu entdecken. Der Habicht kann nicht daran schuld sein, denn er ist gar nicht vorhanden. Es gibt nur eine Erklärung: die rücksichtslose Verfolgung durch den Menschen. Mindestens während Brut- und Aufzuchtzeit müßte auch der Sperber unter Schutz stehen, das heißt, von Anfang April bis Ende Juli." „Ich gebe dir völlig recht, aber als einzelner kann man nur wenig tun, um Abhilfe zu schaffen." Der Sperberhorst Ich setzte meinen Vortrag fort und beschrieb den Horstbau des Sperbers: „Da, wo genügend Nadelholz vorhanden ist — ob es Kiefern oder Fichten sind, spielt keine Rolle —, wird der Sperber seinen Horst anlegen, wie gesagt, sofern die Reviere nicht eintönig und geschlossen sind. Insgesamt gibt er wohl den Fichten den Vorzug, zumal wenn er fünfundzwanzig- bis fünfzigjährige Bäume darunter findet. Von etwa 600 in vielen Jahren entdeckten Sperberhorsten der südlichen Oberlausitz standen 35 auf Kiefern und 4 auf Lärchen, alle übrigen, d. h. 94 Prozent, auf Fichten. Bei Greifswald dagegen wurde in fünfzig Prozent der Fälle die Kiefer benutzt, und aus einigen holländischen Landschaften wird berichtet, daß dort die Sperber überwiegend Kiefern als Horstbaum wählten. Selbstverständlich brütet der Sperber dort, wo Kiefern und Fichten seltener sind oder ganz fehlen, auch auf Laubbäumen. So fand ich den einen meiner Horste auf einer Buche mitten im Laubwald." „Ich erinnere mich, irgendwo gelesen zu haben, daß der Sperber gar nicht so tief in den Wald vordringt. Besteht da nicht ein Widerspruch mit deiner letzten Angabe?" 16
Herr über ein Revier von 10 bis 12 Quadratkilometern „Du hast recht. Wenn ich ,mitten im Laubwald' sage, so ist das summarisch zu verstehen. Selten steht der Horst tiefer als 300 Meter vom Waldrand entfernt und fast immer in unmittelbarer Nähe einer Schneise, eines Waldwegs oder eines Baches. An solchen lichteren Stellen berühren sich die Wipfel der Bäume nicht. Wenn der Sperber auch als gewandter Flieger jeden Zweig leicht vermeiden kann, so wird dort der An- und Abflug erleichtert. Das einmal gewählte Horstrevier wird zäh festgehalten. Wir kannten Brutreviere, die zehn, ja fünfzehn Jahre hintereinander immer wieder besetzt waren. Erst wenn der Bestand zu hoch wurde, suchte sich der Sperber einen geeigneten Platz. Dabei ist es der Sperbermann, der da» 17
Revier für sich und seine Gemahlin auswählt. Fällt er durch Abschuß oder Raubzeug aus, so bezieht im folgenden Jahr das Weibchen, das hier gebrütet hat, den gleichen Fichtenbestand und lockt sich ein neues Männchen herbei." „Ich glaube, es ist nicht leicht, einen Sperberhorst ausfindig zu machen. Der Raubvogel wird wohl seine Tarnmethode haben." „Das ist richtig. Der Horst steht in fünf bis fünfzehn Meter Höhe. Je mehr das betreffende Waldstück von Menschen, zum Beispiel von Beeren- oder Pilzsammlern begangen ist, desto höher rückt der Sperber mit seinem Bau, selbst wenn er gar nicht belästigt wird. Aber der Mensch ist ihm nun einmal ein höchst verdächtiges Wesen, und er hat ja Gründe, ihm gegenüber mißtrauisch zu sein. Deshalb baut er die Anlage möglichst dicht an den Stamm, meist gut gedeckt gegen Sicht von unten. Im Gegensatz zum Habicht benützt er kaum einmal den alten Bau. Hingegen ist der Baum häufig der gleiche, wenn das nicht der Fall ist, so liegt der Neubau nicht weit entfernt von der alten Stelle. Als Baumaterial holt er sich mit Vorliebe Lärchenzweige, die leicht brechen, er gibt sich aber auch mit Fichtenzweigen zufrieden. Im allgemeinen baut er mit viel Sorgfalt, doch finden sich auch liederliche Horste. Das sind individuelle Verschiedenheiten, die in der Natur viel häufiger vorkommen, als man gemeinhin annimmt. Nicht immer kann man von einer Art sagen, sie benehme sich so und so und sie habe die und die Gewohnheiten. Schaut man genauer zu, so erkennt man oft auffallende Eigentümlichkeiten. Das ist auch beim Sperber der Fall." „Er ist demnach so etwas wie eine Persönlichkeit, die ihre Eigenwilligkeit besitzt." „Das zu behaupten, wäre übertrieben. Aber das einzelne Tier weiß sich anzupassen und hat auch bestimmte ,Charakter'eigenheiten, die es von anderen seiner Art deutlich abheben. Doch ich will noch etwas über die Brutpflege sagen. Das Weibdien beginnt nicht erst zu brüten, wenn alle Eier im Nest liegen, sondern bereits nach dem ersten oder zweiten Ei. Da die Eier im Abstand von zwei Tagen gelegt werden, sdilüpfen bei einem Fünfer-Gelege, das gar nidit so selten vorkommt, die beiden ersten Eier etwa sechs Tage 18
eher als das fünfte. Das ergibt von vornherein einen nicht ganz unwesentlichen Größenunterschied bei den Jungen. Ob das eine ,Absicht' der Natur ist, um für den Fall eintretenden Nahrungsmangels den älteren, größeren Jungen das Auffressen der kleineren Geschwister zu erleichtern, möchte ich nicht entscheiden. Solche Fälle von ,Kannibalismus' sind dem Sperber vielmals nachgewiesen worden. Im Normalfall wachsen sie aber alle friedlich nebeneinander auf. Das Weibchen, dem die Aufzudit und die Bewachung der Jungen obliegt, ist bei Verteidigung der Brut außerordentlich tapfer und scheut sich nicht, im ernstlichen oder vermeintlichen Notfall auch gegen den Menschen vorzugehen. Wegen seiner Kleinheit kann es zwar nicht wirklich gefährlich werden; aber wer einmal Sperberjunge beringen wollte und den Horstbaum bestieg, weiß, wie wacker die Sperberin angreift und wie lästig das sein kann, wenn man die Hände nicht frei hat."
Auf Beutesuche „Du willst gewiß auch etwas über die Jagdmethoden der Sperber erfahren, ich muß deshalb noch einmal auf die Rupfungen zurückkommen. Sie sind auch in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich. Das Gebiet, in dem unsere Raubvögel-Arbeitsgemeinschaft seinerzeit gearbeitet hat, die südliche Oberlausitz, ist fast vierzig Jahre lang unter sorgfältiger Kontrolle gehalten worden. Das galt auch für die Sperberhorste. Im Laufe der Zeit lernten wir aus den einzelnen Horsten und aus den Rupfungsfunden in ihrer Umgebung bestimmte Schlüsse ziehen: Wir erfuhren recht genau, wo jeweils der betreffende Sperber — fast immer war es das Männchen —• gejagt hatte. Den Sperbern standen hier drei verschiedene Lebensräume für die Jagd zur Verfügung. Da waren einmal der Wald und seine mit Büschen bestandenen Ränder, da waren weiter Feld und Wiese, die von Hecken, einzelnen Busch- und Baumgruppen und kleinen Wäldchen durchschnitten lagen, und schließlich waren es die menschlichen Siedlungen, darunter einige langgestreckte Industriedörfer. 19
„Demnach wird sich wohl bei den einzelnen Sperberhorsten ein recht buntes Bild in der Zusammenstellung der Beutetiere ergeben haben, nehme ich an." „Das sollte man meinen, und teilweise stimmt das auch. Die Wirklichkeit zeigte uns jedoch ein viel interessanteres Bild: Die erfaßten Rupfungen bewiesen nämlich eindeutig, daß der Sperber wohl in allen drei genannten Lebensräumen jagte, daß er aber sehr häufig einen dieser Lebensräume einseitig bevorzugte. Ich kann dir einige Speisezettel von Sperberhorsten nachweisen, die das belegen. Da gab es einen Horst mit 260 aufgefundenen Rupfungen, darunter 119 Haus- und 15 Feldsperlinge, dazu weiter an Dorfvögeln: 29 Rauchschwalben, 10 Grünlinge, 8 Hausrotschwänze. Vom Feld stammten nur 8 Feldlerchen. Der Rest, darunter Kohlmeisen und Amseln, konnte sowohl im Dorf wie im Wald erbeutet worden sein. Du siehst: Es war ein Sperber, der den Lebensraum Dorf sehr stark für seine Jagd in Anspruch genommen hatte. „Ein regelrechter Dorfsperber! Die Spatzenmenge ist ja außerordentlich groß!" „Solche Dorfsperber sind nicht selten. Aber neben diesem Dorfspezialisten gibt es noch die anderen Typen, zunächst die Waldsperber: Bei einem von ihnen fanden sich unter 174 Rupfungen nur 5 Feld- und 2 Haussperlinge, an weiteren Siedlungsvögeln noch 4 Hausrotschwänze und 1 Mehlschwalbe sowie vom Feld 2 Lerchen, alles andere stammte aus dem Wald und von seinen Rändern: Buchfinken, Rotkehlchen, Heckenbraunellen, Dorngrasmücken, Tannenmeisen, Kreuzschnäbel, Baumpieper, Singdrosseln, Goldhähnchen, Zeisige, Zaunkönige, Waldlaubsänger, Haubenmeisen und Gimpel. Und nun schließlich der Feldsperber. Er kommt weniger oft vor, und sein Typ erscheint niemals so rein wie die beiden anderen. Das ist leicht erklärlich: Feld und Wiese werden von Hecken, Buschwerk und kleinen Gehölzen unterbrochen. Und dadurch gerät dem Sperber bei seiner Feldjagd noch dies und jenes andere in die Fänge; das Hauptcharakteristdkum des Feldsperbers sind die vielen erbeuteten Feldlerehen — bei einem unserer Horste waren es über 70 Stück! —, sodann die Rauch- und Mehlschwalben, die bei ihrer Insektenjadg vom Sperber erwischt wurden." 20
Er späht von einem Waldbaum nach Beute aus .
„Und deine Erklärung für diese Spezialisierung?" „Ich spreche lieber von Deutungsversuchen als von Erklärung, denn es bieten sich da verschiedene Möglichkeiten. Ausgangspunkt ist die jagdliche Leistung des Sperbermännchens während der Brut- und Aufzuchtzeit. Es ist unglaublich, was während dieser reichlich drei Monate — von etwa Mitte April bis etwa Mitte Juli — der Sperber jagdlich vollbringt. Solange das Weibchen brütet, muß das Männchen täglich etwa vier Vögel von Finkengröße erbeuten: zwei bis drei für die Gattin, einen bis zwei für sich selbst. Zwar führt die Sperberin ein seßhaftes Leben, da sie drei Monate lang nicht mitjagt, aber sie braucht doch viel Aufbaustoffe für die Erneuerung ihres Großgefieders. Das Männchen aber muß bemüht sein, in dieser Zeit besonders „in Form" zu bleiben; denn die Hauptarbeit beginnt ja erst, wenn die Jungen da sind. Mit bequemer Lauerjagd, etwa vom Waldrand aus, bis ihm etwas Geeignetes vor Schnabel und Fänge kommt, ist es da nicht getan. Vielmehr gilt es, das ganze Revier abzufliegen, um geeignete Beute zu finden. Das Fliegen ist dabei nicht einmal die eigentliche Leistung, vielmehr ist es der Stoß auf die Beute, der eine große Kraftanstrengung erfordert. Dieser Stoß, der etwa auf den letzten zehn bis zwanzig Metern einsetzt, erfolgt mit unerhörter Schnelligkeit und Wucht. Es ginge noch, wenn der Angriff jedesmal von Erfolg begleitet wäre. Aber so ist es in der Wirklichkeit nicht. Genau wie du auf der Jagd manchen Fehlschuß abgeben wirst . . ." „Gewiß, gewiß! Ich bin nicht gerade stolz auf meine Schießkunst . . . " „ . . . also genau so macht der Sperber seine Fehlstöße, und sie sind genau so häufig, wenn nicht noch häufiger als die erfolgreichen. Für fünf Junge, fürs Weibchen und für sich selbst gilt es aber, täglich mindestens zehn Vögel von Finkengröße zu erjagen. Es ist das einschließlich der Fehlstöße ein mühevolles Tagewerk. Die Jagd wird vereinfacht, wenn größere Vögel, wie Stare, Amseln, Sing- und Misteldrossel, erbeutet werden, von ihnen werden weniger gebraucht. Handelt es sich aber um Meisen, Grasmücken, Baumpieper — sie wiegen alle weniger als ein Fink und sind auch verdaulicher —, dann heißt es, sich dranhalten." 22
Dorf-, Wald- und Wiesensperber „Ich verstehe, worauf du hinaus willst: Bei der großen Anstrengung, die der Sperber bei der Jagd aufwenden muß, greift er natürlich nach dem, was sich am bequemsten und zahlreichsten anbietet." „Ganz recht. Und das ist wohl auch der Grund für seine Spezialisierung auf einen bestimmten Lebensraum bei seiner Jagd: In diesem einmal erwählten Jagdrevier kennt er sich ganz genau aus, und diese Kenntnis erleichtert ihm seine Jagd erheblich. Selbstverständlich spielen aber auch die Entfernungen eine große Rolle. Es gibt da gewisse Grundsätze bei ihm, wie der holländische Forscher Tinberger nachgewiesen hat. Er kontrollierte fünf Jahre lang in ähnlicher Weise wie unsere Arbeitsgemeinschaft zwei Sperberhorstgebiete seiner Heimat. Er stellt nach sehr sorgfältigen Untersuchungen folgendes fest: Beträgt der Abstand des Sperberhorstes vom Dorf nicht mehr als 0,9 km, so machen die Spatzen (Haus- und Feldspatz) 41 Prozent der Beute aus, wächst der Abstand auf 1,9 km, so sinkt der Spatzenanteil auf durchschnittlich 29 Prozent, vergrößert sich aber die Entfernung zwischen Dorf und Horst auf 2 bis 2,9 km, so finden sich nur noch 11,5 Prozent Beutespatzen. „Das ist eine weitere sehr einleuchtende und eindeutige Erklärung für die Bevorzugung eines bestimmten Lebensraumes als Jagdrevier." „Ganz richtig! Und doch sind die genannten Entfernungsmaße keine Gesetzmäßigkeiten, die Natur ist zu mannigfaltig, und die individuellen Verschiedenheiten sind zu groß. Dafür ein Beispiel wiederum aus der Oberlausitz: Einer der unter Kontrolle gehaltenen Sperberhorste stand nur 400 Meter von einem Dorf entfernt, also erheblich unter der von Tinbergen gezogenen Grenze für spezialisierte Spatzenjäger. Aber das Sperbermännchen dieses Horstes kümmerte sich drei Jahre lang überhaupt nicht um das so nahe gelegene Dorf, sondern war ein ausgesprochener Waldjäger mit einigen Beigaben vom Feld. Erst im vierten Jahr der Kontrolle war der Horstbewohner aus einem Wald- zu einem regelrechten Dorfjäger geworden." 23
„Dann wird es wohl im vierten Jahr nicht mehr das gleiche Männchen gewesen sein! Der Waldjäger der ersten drei Jahre war vermutlich ausgefallen und ist im vierten Jahr durch ein anderes Sperbermännchen ersetzt worden." „Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte es so gewesen sein, wenn wir's auch nicht beweisen können. Aber damit ist noch nicht erklärt, wie trotz der Nähe des Dorfes drei Jahre lang das erste Sperbermännchen ein Spezialist für die Jagd im Walde war. Vielleicht kann folgendes der Grund gewesen sein: Als dieser Waldsperber erstmalig ein Horstrevier übernahm, war das Revier vielleicht weit von einem Dorf entfernt, der Sperber war auf die Waldjagd angewiesen und ließ sich für diese Jagdform sozusagen ,prägen'. Aus uns unbekannten Gründen — durch Holzumschlag? — wurde ihm vielleicht dieses sein erstes Brutrevier verleidet; so übernahm er im nächsten Jahr das Gebiet in der Nähe des Dorfes. Er kümmerte sich jedoch nicht um die Dorfspatzen, in ihm war als ,Leitbild 4 die Waldjagd fest verankert. — Einen ähnlichen Fall habe ich beim Waldkauz erlebt. Ich hatte zwei Waldkauzbruten, die noch keine 1000 Meter voneinander entfernt lagen, unter Beobachtung. Ihr Lebens- und Jagdraum war, was die Beute anging, nahezu der gleiche. In einem mäusearmen Jahr verstand es der eine, sich auf Vogeljagd umzustellen, er hatte gelegentlich 100 Prozent an Vögeln in seinen Gewöllen, der andere vermochte das anscheinend nicht. Er schlug sich kümmerlich durchs Dasein, ein Junges verhungerte. Selbstverständlich liegen beim Sperber die Dinge etwas anders, er ist fast reiner Vogeljäger, und er ist an sich reiner Waldjäger; 6eine kurzen Flügel und sein langer Stoß lassen ihn zu wendigem Flug, wie er im Walde erforderlich ist, wie geschaffen erscheinen. Die Waldjagd liegt ihm von Urzeiten her sozusagen im Blut. „Um so unverständlicher ist es mir, wie ein Sperber zum Dorfspezialisten werden kann?" „In den letzten Jahrhunderten ist der Sperber mehr und mehr in die Zivilisation einbezogen worden. Der Mensch hat diesem Raubvogel an Stelle der gerodeten Wälder oder der vogelarmen einseitigen Fichten- und Kiefernwälder der modernen Forstwirtschaft neue Nahrungsreviere erschlossen: In den Dörfern und den 24
Flugbilder von Raubvögeln
Mäusebussard
Wanderfalk Habicht
Schreiadler
Turirrfalk
cspennuss ard
Baumfalk Sperber
Flugbild des Sperbers und anderer Raubvögel
gartenreichen Randgebieten der Städte, selbst in den ausgedehnten Grün- und Parkanlagen der Großstadt hat sich das Vogelvolk so sehr vermehrt, daß auch der Sperber hier Beute gefunden hat. Er ist nicht wie manch anderer Vogel vor der sich ausbreitenden Kultur zurückgewichen, sondern weiß sie sich auf seine Weise nutzbar zu machen. Und nun stelle dir einen jungen Sperber vor, der von seiner ersten Winterreise zurückgekehrt ist. Er landet nicht weit von der Gegend, in der er vor zehn Monaten aus dem Ei geschlüpft ist. Er findet nicht weit vom Waldrand ein Fichtenstangenholz, das ihm für die Horstanlage gut scheint. Er späht von einem der Bäume am Waldrand nach Beute aus. Ein paar hundert Meter vor ihm liegt ein Dorf, und er entdeckt dort mit seinen scharfen Raubvogelaugen interessantes Leben. Dieses Leben erinnert ihn daran, daß Kropf und Magen noch leer sind. Er besinnt sich nicht lange, sondern fliegt mit raschen, fördernden Flügelschlägen zum Dorf hinüber. Bei bestimmten Häusergruppen und Gebüschen fallen ihm Schwärme von Vögeln auf: Hausspatzen. Er faßt einen Schwärm ins Auge, läßt sich etwas abseits davon fallen und streicht dicht überm Erdboden auf die Sträucher zu. Etwa 20 Meter entfernt setzt er zu jähem Stoß an. Es glückt: Mit einem Hausspatzen in den Fängen kehrt er zum Waldrand zurück. Am Nachmittag klappt das gleiche noch einmal. Doch die Spatzen sind alarmiert, es war nicht mehr ganz so einfach. Drum zielt die Jagd am nächsten Morgen auf eine Spatzengruppe am anderen Ende des Dorfes. Diese Spatzen wiegen 26 bis 36 Gramm, je nachdem, ob man ein mageres Weibchen oder ein fettes Männchen erwischt. Von der letzteren Sorte genügt eines beinahe für den ganzen Tag. Bei seinen Jagdflügen ins Dorf entdeckt unser Sperber, daß es außer den Spatzen noch allerhand anderes Jagdbares gibt: Amseln, Stare, Kohl- und Blaumeisen. Anfangs April kommen Hausrotschwänze dazu, Mitte April Rauchschwalben. Inzwischen sind auch der Horstbaum gewählt und die Gattin gefunden, die es jetzt zu versorgen gilt. Der Dorfsperber ist fertig, und Dorfsperber wird er bleiben, auch wenn er zwisdiendurch einmal am Waldrand oder überm Feld etwas anderes erwischt."
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Die Familie löst sich auf „Doch zurück zu unseren Jungsperbern, die inzwischen größer und größer geworden sind. Noch haben sie den Horst nicht verlassen, noch jagt die Sperberin nicht mit. Jetzt wird es dem Sperbermannchen zu viel mit der Jagd, und so wird er zum Nestplünderer wie Eichelhäher und Eichhorn. Aber das dauert nur wenige Tage, dann verlassen die Jungen den Horst, und das Sperberweibchen fliegt nun wieder aus. Die Jungen sitzen auf Bäumen in der Nähe des Horstbaumes. Die Beute wird ihnen nicht mehr zerkleinert und auch nicht mehr gerupft vorgelegt, sie müssen diese Arbeit jetzt selbst verrichten. Anfänglich wird das noch recht liederlich getan, wie ihre Speiballen verraten, die häufig noch ungerupftes Großfieder enthalten. Niemand lernt die Jungsperber zur Jagd an, sie können es. Alle Erfahrungen, die einen jungen Jäger zu fördern geeignet sind, müssen sie selbst sammeln, höchstens daß ein paar spielerische Übungen nachhelfen: Einer der Altvögel läßt einen toten Beutevogel fallen, ein Jungsperber stößt dem fallenden Vogel nach und erwischt ihn bestimmt noch, bevor er den Erdboden erreicht. Dieses Leben der Sperberfamilie im Horstrevier dauert acht bis vierzehn Tage; dann sind unsere Raubvögel, alte wie junge, verschwunden, und bis zum nächsten Frühjahr laßt sich kein Sperber mehr hier blicken. Die Auflösung der Familie vollzieht sich in Normalfällen Mitte Juli, gelegentlich Ende Juli." „Und wo verbleiben sie?" „Darüber geben uns die Ringfunde Auskunft. Ein erheblicher Teil sowohl der Alten wie der Jungen zieht nicht weit, verbleibt auf alle Fälle in Deutschland. Der kleinere Teil — nach den bisherigen Ringfunden zu schließen etwa ein Drittel — zieht nach Südwesten und Süden. Dabei liegen die südlichsten Ringfunde in Südspanien und Marokko, ein großer Teil dieser Südgruppe kommt aber im Winter nicht über Frankreich hinaus. Die Alpen werden leicht überflogen, sie bilden für den Sperber wie für viele unserer Zugvögel kein Hindernis. Die Hauptzugrichtung weist aber an den Alpen vorbei. Die Sperber, die uns verlassen, werden durch Zuzug 27
aus dem Norden ersetzt, zum Beispiel aus Finnland. Auch hierfür erbringen Ringfunde den Beweis. Die nordischen Sperber sind um ein weniges größer als die unseren, aber auch sie werden der Jagd nicht wirklich gefährlich. Denn im Winter gibt es keine jungen Rebhühner und Fasane, auch keine jungen Hasen, und die Ringeltauben befinden sich in der überwiegenden Masse in den Winterquartieren." „Und was ist zwischen Sommer und Winter mit dem Sperber?" „Du bringst mich wirklich in Verlegenheit. Ich kann dir nämlich über die Monate August und September so gut wie nichts berichten. Die Rupfungsfunde lassen uns hier einfach im Stich. Die Sperberfamilie hat sich aufgelöst, die einstigen Familienmitglieder bummeln durch die Gegend: die einen bereits auf langsamem Zug nach Südwest und Süd, die anderen stridiweise hier und da. Ein fester Mittelpunkt fehlt und damit auch ein fester Rupfplatz. Was sie erbeuten, wird an Ort und Stelle entfedert: auf freiem Feld, in einem Garten, an einer Hecke, in einem Gebüsch, am Waldrand, alles vereinzelt und sozusagen zufällig. Und wie der Sperber in dieser Zeit unruhig hin- und herstreicht, so tun es auch zumeist seine Beutetiere. Jetzt zieht auch das Dorf nicht mehr, wo es noch vieles zu schlagen gäbe. Mehr läßt sich über diese Zeit wirklich nicht sagen. Erst von Oktober an wird es wieder anders, dann beginnt ein neuer Abschnitt." „Es lohnt sich also, dem Sperber im Spätsommer nachzuspüren, vielleicht, daß man ein paar Steine beitragen kann, um das Lebensbild abzurunden!" „Das ist kein schlechter Gedanke, aber es wird nicht leicht sein, dem Vagabunden in dieser Zeit auf die Schliche zu kommen."
Sperber im Winter „Ich sagte dir schon, daß erst im Oktober wieder ein deutlich abgehobener Abschnitt im Leben unserer Sperber beginnt. Rupfungen tauchen wieder auf, diesmal vor allem auf Teichdämmen, an Waldrändern und auf Waldwegen in der Nachbarschaft größerer Teiche. 28
Um diese Zeit versammeln sich nämlich jeden Abend in den Schilfwäldern der Gewässer Zehntausende von Staren und große Mengen von Rauchschwalben zum Übernachten. Neben Hermelin, Iltis und Habicht hält jetzt auch der Sperber reiche Ernte. Er sitzt irgendwo auf einem Baum und lauert auf die Stare und Schwalben, wenn sie abends ins Schilf einfallen. Gerupft wird auf einem der Dämme, wo rechts und links das hohe Schilf gute Deckung bildet. Die Sperber kröpfen sich voll; nach der reichlichen Mahlzeit schlafen sie in einer der dichten Fichten, an den Stamm gekuschelt. Am nächsten Morgen wiederholt sich die Jagd, wenn Stare und Schwalben erwachen. Der Winter steht bevor und es ist auf alle Fälle besser, wenn man nicht abgemagert in ihn hineingeht." „Die günstige Gelegenheit zum Beutemachen wird meines Erachtens nur kurz sein, Mitte Oktober sind ja die Schwalben ganz und die Stare zum allergrößten Teil verschwunden." „Das ist richtig, aber Mangel tritt deshalb noch nicht ein. Auf den Feldern, die jetzt bis auf einige Rübenschläge abgeerntet siwd, treiben sich Körnerfresserschwärme herum. Und in der Nähe der Dörfer sind bestimmt an geeigneter Stelle einzelne Spatzen, eine Amsel oder eine Kohlmeise zu finden. Aber wirklichen Großbetrieb gibt's erst wieder, wenn der erste Schnee fällt und die Kälte einsetzt. Fast die gesamte Wintervogelwelt konzentriert sich dann um die Menschenbehausungen, weil hier für viele der Tiere der Tisch reichlich gedeckt zu sein pflegt. Die Sperber, die das schon einmal mitgemacht haben, kennen sich aus, und die Jungsperber, die über Winter bei uns geblieben sind, haben das gleichfalls sehr rasch heraus. Der Wald ist vogelarm geworden, da gibt's nur noch Tannenund Haubenmeisen nebst Goldhähnchen, ein paar Eichelhäher und Spechte, einige Zaunkönige und Waldbaumläufer, für einen Sperbermagen viel zu wenig! Und fällt Schnee, so werden auch die Felder leer von Vögeln. Der Sperber hat jetzt wieder seine verschiedenen Rupfplätze, die Jahr für Jahr benutzt werden. Ich empfehle dir aber, solche Winterrupfplätze erst aufzusuchen, wenn der Winter vorbei ist, also etwa in der Zeit von Ende Februar bis Mitte März, dann hast du gleich alles beisammen. Etwa zwei Drittel der Gesamtbeute werden Sperlinge sein; der Rest umfaßt alle anderen 29
Wintervögel, die sieh vor Kälte und Schnee in die Dörfer zu retten suchten."
Gerechter Ausgleich Wir hatten wohl das Wichtigste aus dem Leben und von dem Wirken des Sperbers erörtert. Das Porträt des Raubvogels hatte sich im Verlaufe des Gesprächs doch erheblich aufgehellt, selbst die Vernichtung so vieler Singvögel hatte, aufs Ganze gesehen, viel von ihrer Schrecklichkeit verloren. „Ja, so geht es in der Natur zu", bemerkte ich, „das eine lebt vom andern, der Marienkäfer nährt sich von Blattläusen, er selbst wird vom Frosch verzehrt, den sich der Waldkauz greift, und den schnappt sich der Habicht, der im übrigen auch verhindert, daß der Sperber überhandnimmt; er zehntet die Sippschaft des kleinen Bruders ganz ordentlich, wie die bei Habichthorsten gefundenen Sperberrupfungen beweisen; auch bei einem großen Teil der von unbekannten Tätern gerupften Sperber kommt nur der Habicht als der stärkere Räuber in Frage. Selbst der Waldkauz greift sich manchen Sperber, denn nicht allzu selten hat er seinen Gewöllplatz im Horstrevier unseres Raubvogels, und dann ist der Sperber im nächtlichen Schlaf stark gefährdet." „Ich sehe, es ist für gerechten Ausgleich gesorgt, und der Mensch wird es nur selten nötig haben einzugreifen." „Es freut mich, daß mir dir gegenüber eine kleine Ehrenrettung des Sperbers gelungen ist. Ich will dir noch einen gänzlich anderen Beweis dafür geben, daß des Sperbers Bäume nicht in den Himmel wachsen. Von 146 beringten sächsischen Sperbern wurden 100 im 1. Lebensjahr zurückgemeldet, 29 im 2. Lebensjahr, 9 im 3. Lebensjahr und je 3 im 4. und 5. Lebensjahr, nur einer brachte es auf fast 7, und einer sogar auf fast 12 Jahre." „Das muß ein ganz ausgekochter Bursche gewesen sein!" „Ganz bestimmt! Aber sonst beweisen diese Rückmeldungen eindeutig, daß die Mehrzahl der Sperber ein recht kurzes Leben hat. Nun könnte mancher fragen, ob man diesen Raubvogel nicht doch 30
vielleicht den nützlichen Vögeln zurechnen müsse. Das würde natürlich viel zu weit gehen, selbst wenn man berücksichtigt, daß der Sperber neben vielen Vögeln auch gelegentlich Mäuse vertilgt und sich in Maikäferjahren an der Maikäferjagd beteiligt. Seine Hauptnahrung sind nun einmal sehr viele Singvögel, davon kann ihn keiner freisprechen; doch wir haben gesehen, daß er im wesentlichen dabei nach dem greift, was in großer Zahl vorhanden ist, so daß tatsächlich keine Lücken entstehen. Das gilt vor allem von seiner Hauptnahrung, dem Haus- und dem Feldspatz, die beide als schädlich angesehen werden müssen. Sorgfältige Untersuchungen haben ergeben, daß ein Hausspatz jährlich zweieinhalb Kilogramm Getreide verzehrt. Der Hauptschaden entsteht dabei an Getreidefeldern, deren Körner noch in „Milch" stehen. Solche Felder reichen oft bis in unmittelbare Nähe der Dörfer. Wer einmal einen Schwärm von Hunderten Haus- und Feldspatzen hier bei der Arbeit gesehen hat, weiß den Schaden zu ermessen, der dabei zu verzeichnen ist. Der Mensch ist fast wehrlos dagegen. Naht er mit etwas Schießprügelähnlichem in der Hand, so verschwinden sämv liehe Spatzen, um sofort wieder da zu sein, wenn das verdächtige Wesen sich entfernt hat. Klopfen, Klappern, Lärmen hilft gar nichts. Stellt man Fallnetze mit daruntergelegten Körnern auf, so glückt das vielleicht dreimal. Dann aber wissen die Spatzen Bescheid und verzichten lieber auf das Angebot. Manche Bauern helfen sich durch Ausnehmen der Nester, das aber kostet Arbeit, und man muß damit rechnen, daß nach wenigen Wochen neue Nester entstanden sind. Die wirksamste Waffe gegen Haus- und Feldspatzen ist und bleibt ein Sperberhorst in möglichster Nähe des Dorfes, es können auch zwei sein. Die Sperber halten im Sommer wie im Winter das Spatzenvolk in Grenzen. Ausrotten wollen wir auch den Spatzen nicht, es wäre auch vergebliche Mühe. Und damit dürfte unser Sperber-Kolloquium beendet sein. Wenn wir zu unseren Eulen, erst recht zu unseren Vögeln am Fenster, aber auch zum Habicht, diesem trotzigen und kühnen Gesellen, ohne Schwierigkeit ein ausgesprochen persönliches Verhältnis gewinnen, so will uns das beim Sperber nicht recht glücken. Wir haben gewisse Hemmungen ihm gegenüber, weil er nun einmal un31
s e r e n L i e b l i n g e n s o s t a r k n a c h s t e l l t . A b e r w e n n w i r i h n schon nicht l i e b g e w i n n e n , s o w o l l e n w i r i h m doch G e r e c h t i g k e i t w i d e r f a h r e n lassen. D a r a u f h a t e r d u r d i a u s b e r e c h t i g t e n A n s p r u c h . E r e r f ü l l t als Geschöpf d e r N a t u r d i e A u f g a b e , d i e i h m g e s t e l l t ist. K a n n m a n m e h r von i h m e r w a r t e n ?
Wer d e n g r ö ß e r e n B r u d e r des S p e r b e r s , d e n Habicht, n ä h e r k e n n e n l e r n e n will, d e m sei L u x - L e s e b o g e n 253, „Der Habicht" vom gleichen Verfasser empfohlen.
Umschlagbild: Karlheinz Dobsky .
F o t o s : U l l s t e i n - B i l d e r d i e n s t u n d Archiv L u x - V e r l a g
L u x - L e s e b o g e n 2 9 9 (Naturkunde) H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturUundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lui-Lesebogen sind In jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München