15 Spukstories
Klassische und moderne Geschichten aus der Geisterwelt ausgewählt und herausgegeben von Manfred Kluge
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15 Spukstories
Klassische und moderne Geschichten aus der Geisterwelt ausgewählt und herausgegeben von Manfred Kluge
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-ANTHOLOGIEN BAND NR. 58
Wladimir Odojewski: »Das Gespenst« aus DAS GESPENST UND ANDERE SPUKGESCHICHTEN © der deutschen Übersetzung by Aufbau-Verlag Berlin und Weimar Cynthia Asquith: »Ein Grab zu wenig« aus SCHRECKSEKUNDEN hrsg. von Lady Cynthia Asquith © der deutschen Übersetzung by Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen Karel Michal: »Wie Pupenec zu seinem Glück kam« aus GESPENSTER FÜR DEN ALLTAG © 1970 by Carl Hanser Verlag, München Andrew Salkey: »Anancy und der Geisterkampf« aus WESTINDIEN Band XIII, Reihe Moderne Erzähler der Welt, 2. Auflage 1974 © by Horst Erdmann Verlag, Tübingen Printed in Germany 1978 Scan by Brrazo 03/2009 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg ISBN 3-453-45031-0
Inhalt Vorwort Joseph Sheridan Le Fanu Ultor de Lacy. Die Legende von Capercullen Guy de Maupassant Die Erscheinung Wladimir Odojewski Das Gespenst Bram Stoker Das Haus des Richters Jules Amedee Barbey d’Aurevilly Der rote Vorhang Gustavo Adolfo Becquer Das Miserere Friedrich Gerstäcker Germelshausen Algernon Blackwood Verlockender Schnee A. J. Mordtmann Der Untergang der Carnatic
Hans Esch Ein geheimnisvolles Telegramm Cynthia Asquith Ein Grab zu wenig Karel Michal Wie Pupenec zu seinem Glück kam Brian Lumley Der Windgott Andrew Salkey Anancy und der Geisterkampf Ron Goulart Das Spukhaus
Vorwort Was ist Spuk? Wahn oder Wirklichkeit? – Irrglaube oder Wahrglaube? Aus der Perspektive des kühlen Rationalisten zweifellos ein grober Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand, etwas Unfaßbares und folglich Unzumutbares. Gespenster in unserer aufgeklärten Welt? Undenkbar, Ärgernis für die einen, Spott für die anderen. Skepsis ist geboten. Gewiß: Nicht alles, was sich dem erhellenden Zugriff der Vernunft entzieht, muß notwendigerweise Fantasterei, Täuschung oder Lüge sein … aber dennoch: Vorsicht bei Phänomenen, die vernünftigen Erklärungen Hohn zu sprechen scheinen! C. G. Jung hat darauf hingewiesen, daß die Voreingenommenheit aufgeklärter Menschen gegenüber dem scheinbar Unmöglichen, Unerklärlichen viele Symptome primitiver Gespensterfurcht aufweist. Und diese Gespensterfurcht steckt uns noch allen unbewußt in den Gliedern. Je rationalistischer sich das Bewußtsein gebärdet, desto lebendiger wird die spukhafte Welt des Unbewußten. Weiß Gott, es spukt noch immer – man mag sich zum Übersinnlichen stellen, wie man will. Im Grunde wissen wir vom Spuk heute kaum mehr als einst. Deshalb ist es auch kein Zufall, daß die fantastische Literatur in unserer Zeit wieder eine üppige Blüte erlebt. Je unbefriedigender die Realität, desto stärker die Sehnsucht nach dem Irrealen. In der Literatur hat es seit jeher gespukt, angefangen von dem alttestamentarischen Geistermahl des Belsazar bis hin zum raffinierten Horror zeitgenössischer Autoren. Der lustvolle Schauer und die Begierde, ihn erzählend oder lesend nachzuempfinden, sind uralt. Geschichten von Zauberern, Hexen,
Geistern, Vampiren, Werwölfen und ähnlich dunklem Gelichter gehören zum festen Bestandteil der Überlieferung aller Völker und Zeiten. Auch unser von Ratio und Wissenschaft geprägtes Weltbild ist nicht gegen den Einbruch des Irrealen gefeit. Und die Literatur reagiert auf solche Einbrüche höchst empfindlich. Noch einmal: Was ist Spuk? Die Frage ist vollkommen überflüssig, solange es um literarischen Spuk geht. Es gibt ihn, und es hat ihn immer gegeben. Am allerwenigsten kommt es darauf an, ob der Leser an die Gespenster glaubt, welche die Autoren heraufzubeschwören versuchen. Entscheidend ist nur eines: Wenn die Geschichte als Geschichte überzeugt, dann kann der Leser für die Dauer der Geschichte auch daran glauben. Auf den Lusteffekt kommt es an. Denn es ist schauerlich schön, Angst zu haben, wenn einem selbst nichts passieren kann: Nur so wird Angst zum Genuß. Die vorliegende Sammlung klassischer und moderner Spukgeschichten ist aus dem Wunsch heraus entstanden, dem Leser diesen Genuß schmackhaft zu machen. Manfred Kluge
Ultor de Lacy Die Legende von Capercullen von Joseph Sheridan Le Fanu Einer anglo-irischen Familie französischen Ursprungs entstammte Joseph Sheridan Le Fanu (1814-1873), der in Dublin aulwuchs und nach seinem Jurastudium einer der glänzendsten Journalisten seiner Zeit wurde. Seit dem Ende der dreißiger Jahre erschienen seine Erzählungen in verschiedenen Zeitschriften. 1851 kam anonym der Sammelband ›Ghost Stories und Tales of Mystery‹ heraus, in dem Le Fanus Vorliebe für das Übernatürliche, Dämonische und Verbrecherische bereits stark in den Vordergrund trat. Schon bald zog sich der erfolgsverwöhnte Schriftsteller aus der Dubliner Gesellschaft zurück und verbrachte seine letzten Lebensjahre vollkommen zurückgezogen in einem riesigen Haus, verfolgt von den Schimären einer unheimlichen Welt abseits der Wirklichkeit, die er unermüdlich schreibend zu bannen versuchte. ——————
In meiner Kindheit hörte ich viele irische Familienüberlieferungen von mehr oder weniger übernatürlicher Art, einige sehr seltsam und alle, wenigstens für ein Kind, höchst interessant. Eine davon will ich jetzt erzählen, obwohl das ohne die passende Umgebung des altmodischen Feuerplatzes in der Stube und den lauschenden Kreis erregter Gesichter, ohne die Winterstürme und das Ächzen der kahlen Äste draußen und das gelegentliche Klappern der schweren alten Fensterrahmen doch nicht ganz einfach ist. Ungefähr halbwegs das Tal von Capercullen hinauf, nahe der 9
Stelle, wo die Grafschaften Limerick, Clare und Tipperary zusammentreffen, auf der damals abgeschiedenen, waldigen Hügelkette von Slieve-Felim, standen zu den Regierungszeiten der beiden ersten Georgs die malerisch mächtigen Überreste eines der schönsten anglo-irischen Schlösser von Munster – vielleicht von ganz Irland. Es krönte die steil abfallenden Hänge der bewaldeten Schlucht, mitten in einem wilden Forst gelegen, der die weite, einsame Fläche bedeckte. Im Umkreis von vielen Meilen gab es keine menschliche Behausung außer dem halben Dutzend elender Hütten und der kleinen, strohgedeckten Kapelle, die das Dorf Murroa bildeten, das am Fuß der Schlucht in den Ausläufern des Waldes lag. Die Eigentümer dieses noblen Gebäudes und eines Gebietes in den von mir genannten angrenzenden Grafschaften waren Engländer – die de Lacy. Sie hatten diesen Teil ihres Besitzes während der Regierungszeit Heinrichs VIII. erworben und hielten ihn, mit wenigen Veränderungen, bis zum Ausbruch der Revolution in Irland, als sie, wie andere große Familien zu dieser Zeit, Ehre und Eigentum verloren und schließlich ganz erloschen. Der de Lacy dieser Tage zog sich nach Frankreich zurück, wo er für kurze Zeit ein Kommando in der irischen Brigade hielt, dann seinen Abschied nahm und verarmt am Hof von St. Germain lebte. Er starb Anfang des achtzehnten Jahrhunderts – soweit ich mich erinnere 1705 – und hinterließ einen einzigen Sohn, kaum zwölf Jahre alt, mit dem wunderlichen, aber bedeutsamen Namen Ultor. An diesem Punkt beginnt meine Erzählung. Als sein Vater im Sterben lag, rief er ihn an sein Lager. Niemand außer seinem Beichtvater war anwesend; nachdem er ihm zuerst befohlen hatte, bei Erreichung des einundzwanzigsten Lebensjahres Anspruch auf einen kleinen Besitz mütterlicherseits in der Grafschaft Clare in Irland zu erheben, und nachdem 10
er ihm eingeschärft hatte, nicht zu heiraten, bevor er dreißig sei, mit der Begründung, daß frühe Ehen den Geist und die Kraft zu Unternehmungen zerstören und ihn unfähig machen würden, seine Bestimmung zu erfüllen – nämlich die Wiedereinsetzung seiner Familie –, begann er, dem Kind eine Angelegenheit zu enthüllen, die es so erschreckte, daß es jämmerlich zu weinen begann, am ganzen Leibe zitterte, sich mit der Hand an das Gewand des Priesters klammerte, mit der anderen an seines Vaters kaltes Handgelenk, und ihn mit Entsetzensrufen beschwor, von der Mitteilung Abstand zu nehmen. Aber der Priester, zweifellos von der Notwendigkeit überzeugt, bat ihn zuzuhören. Und dann zeigte ihm sein Vater ein kleines Bild, von dem sich das Kind ebenfalls schreiend abwandte, bis es abermals zum Hinsehen genötigt wurde. Sie ließen es nicht gehen, bis es das Porträt sorgfältig studiert hatte und es aus der Erinnerung beschreiben konnte, die Farbe der Augen und des Haares, die Art und Färbung der Kleider. Dann gab ihm sein Vater ein schwarzes Kästchen, welches das Bild enthielt, eine Miniatur der ganzen Gestalt, ungefähr zwanzig Zentimeter lang, sehr sorgfältig in Öl gemalt, glatt wie Emaille, und darüber gefaltet ein Blatt Papier, mit einer sauberen, gut leserlichen Schrift bedeckt. Die Urkunde und dieses schwarze Kästchen stellten das wichtigste Vermächtnis dar, das der verarmte Jakobiter seinem einzigen Kind hinterließ. Er übergab es dem Priester zu treuen Händen, bis sein Sohn Ultor alt genug sein würde, den Wert zu erkennen. Bis Ultor das einundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, blieb er unter der Obhut des Geistlichen in Frankreich und kehrte dann nach Irland zurück. Sein Anspruch war durch die Ächtung seines Vaters nicht berührt worden, und so konnte er seine Forderung auf den kleinen Besitz in der Grafschaft Clare leicht durchsetzen, wo er sich dann auch niederließ. 11
Gelegentlich besuchte er Paris, den gemeinsamen Mittelpunkt englischer, irischer und schottischer Abneigung, und dort, etwas über dreißig Jahre alt, heiratete er die Tochter eines anderen verarmten irischen Hauses. Seine Braut kehrte mit ihm in die melancholische Abgeschiedenheit seines Schlosses zurück, wo sie ihm zwei Töchter gebar – Alice, die ältere, dunkeläugig und dunkelhaarig, ernst und vernünftig, und Una, vier Jahre jünger, mit großen blauen Augen und schönen, langen, blonden Haaren. Nach wenigen Jahren starb die Mutter, und die Kinder waren der alleinigen Fürsorge ihres trauernden, verbitterten Vaters überlassen. Im Laufe der Zeit wuchsen die Mädchen zu Schönheiten heran. Die Ältere war für das Kloster bestimmt, die Jüngere hoffte ihr Vater so vornehm zu verheiraten, wie es ihre hohe Geburt und ihre große Schönheit erwarten ließ, wenn nur das große Spiel, auf das er so entschlossen alles gesetzt hatte, glückte. Der Aufstand des Jahres 1745 kam, und Ultor de Lacy war einer der wenigen Iren, der in diese kühne romantische Rebellion verstrickt war. Natürlich wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen, aber er war nicht zu finden. Seine Töchter lebten weiter in dem einsamen Schloß ihres Vaters in Clare; ob er über das Meer gegangen war oder sich noch in Irland befand, war sogar ihnen lange Zeit unbekannt. In Abwesenheit wurde er verurteilt, und sein kleiner Besitz verfiel dem Staat. Offiziere der Krone kamen und nahmen das Schloß in Besitz, die jungen Damen mußten ausziehen. Zu ihrem Glück war der Geistliche, den ich erwähnte, nicht so zuversichtlich wie ihr Vater gewesen, was die Zurückgewinnung des glänzenden Erbes der Ahnen betraf; dank seines Rates waren jeder Tochter im Heiratsvertrag der Eltern zwanzig Pfund jährlich zugesichert worden, und das war buchstäblich alles, was sie vor bitterster Armut rettete. Eines Abends, als einige kleine Buben aus dem Dorf von ei12
nem Streifzug durch das dunkle, abgelegene Tal von Capercullen zurückkehrten, sahen sie zu ihrem Erstaunen und Schrecken ein Licht aus dem schmalen Fenster eines der Schloßtürme scheinen, die sich zwischen Efeu und mächtigen Zweigen über dem Abhang erhoben. »Seht, seht, seht, es ist der Phooka-Turm!« riefen sie und liefen davon. Der kleine Shaeen Mull Ryan, der letzte in der verschreckten Schar, rief seinen Kameraden zu, auf ihn zu warten, da sah er plötzlich eine weiße Gestalt aus dem Dickicht am Fuße der Treppe, die von der Schloßmauer den Abhang hinabführte, auftauchen, und eine mißtönende männliche Stimme schrie: »Habe ich dich!« Im selben Augenblick stolperte und fiel der Knabe mit einem Schrei des Entsetzens, fühlte sich rauh am Arm gepackt, geschüttelt und wieder auf die Füße gestellt. »Wer ist das, Larry? Was ist los?« rief eine Stimme hoch oben aus dem Turmfenster. Die Worte schwebten durch die Bäume herab, klar und süß, wie die tiefen Töne einer Flöte. »Nur ein Kind, Mylady; ein Knabe.« »Ist er verletzt?« »Bist du verletzt?« fragte der weiße Mann, aber der Knabe fuhr fort, zu weinen und um Gnade zu betteln. Er war verletzt und blutete über dem Auge. »Ein bißchen angekratzt, Mylady!« »Bring ihn herauf.« Shaeen Mull Ryan ergab sich. Er befand sich unter den ›Guten Leuten‹, die ihn für immer und einen Tag gefangengehalten würden. Sich zu wehren half gar nichts. Sie gelangten aus der Schlucht auf die Plattform darüber; die knotige Hand seines Entdeckers lag immer noch auf seinem Arm. Shaeen sah rundum die großen, geheimnisvollen Bäume und die graue Fassade des Schlosses, die sich im Mondlicht wie ein Traumbild enthüllte. 13
Der alte Mann, der auf dünnen, drahtigen Beinen neben ihm ging, trug einen schäbigen weißen Rock mit blauen Aufschlägen und großen Zinnknöpfen, und seine silbergrauen Haare quollen unter einem verbeulten Dreispitz hervor. Sein verrunzeltes, listiges Gesicht, in dem der Knabe kein Anzeichen von Mitgefühl lesen konnte, schien im Mondlicht weiß und gespenstisch – das fleischgewordene Idealbild eines Zauberers. Die Gestalt führte ihn schweigend durch den großen Torbogen und über den grasbewachsenen Schloßhof zu einer Tür in der hintersten Ecke des Gebäudes, eine steinerne Wendeltreppe hinauf und um eine Ecke in einen großen Raum, wo ein Feuer in einem großen Herd brannte. Ein Topf hing darüber, an dem sich eine alte Frau mit einem Holzlöffel zu schaffen machte. Auf dem Boden des Raumes wie auch auf dem Tisch und den Stühlen herrschte ein großes Durcheinander. Berge von alten verblichenen Vorhängen, Kästen, Koffern, Kleidern, Zinntellern und Zinntassen lagen herum. Was den ängstlichen Blick des Knaben sofort gefangennahm, waren die Gestalten zweier Damen; sie trugen rote Umhänge aus grober Wolle wie die Bauernmädchen aus Munster und Connaugh, und ihre übrige Kleidung paßte dazu. Doch es umgab sie Vornehmheit, ein verfeinerter Ausdruck, Schönheit und darüber hinaus die ruhige Sicherheit, die den Menschen höherer Schichten zu eigen ist. Die ältere Dame, mit schwarzem Haar und großen dunklen Augen, saß schreibend an dem Kiefernholztisch, auf dem eine Kerze stand. Die andere, die Kapuze zurückgeschlagen, schön und heiter, mit einer Flut welliger, goldener Haare, großen blauen Augen und einem freundlichen, schalkhaften und seltsamen Ausdruck, erschien ihm als die wunderbarste Schönheit, die er sich vorstellen konnte. Sie befragten den Mann in einer dem Kind fremden Sprache. Der Bericht des Mannes schien sie zu erheitern. Die beiden 14
Damen tauschten einen Blick und lächelten geheimnisvoll. Er war mehr denn je überzeugt, unter den ›Guten Leuten‹ zu sein. Da trat die Jüngere vor und sagte: »Weißt du, wer ich bin, kleiner Mann? Nun, ich bin die Fee Una, und dies ist mein Palast; und die Fee, die du dort siehst, ist meine Schwester, die Lady Gravairs; und diese« – wobei sie auf den alten Mann und die Frau blickte – »sind meine Höflinge. Ich überlege jetzt, was ich mit dir tun soll. Ob ich dich heute nacht noch auf einem Schilfrohr reitend nach Lough Guir schicken soll, um den Grafen von Desmond in seinem verwunschenen Schloß meine Grüße zu überbringen, oder gleich in dein Bett, zweitausend Meilen unter der Erde, bei den Zwergen, oder für dreimal dreihundert Jahre und einen Tag ins Gefängnis auf der kleinen Ecke des Mondes, die du durch das Fenster siehst, den Mann im Mond als Wächter. Na, weine doch nicht. Du siehst jetzt, wie gefährlich es ist, meinem Schloß zu nahe zu kommen. Nun, für dieses Mal will ich dich noch gehen lassen. Aber von jetzt an soll jeder Knabe, den ich oder einer meiner Leute im Umkreis von einer halben Meile um mein Schloß finden, mir auf Lebenszeit gehören und sein Heim und seine Leute nie wiedersehen.« Und sie sang eine kleine Melodie und machte einige zierliche, geheimnisvolle Tanzschritte, ihren Umhang mit ihren hübschen Fingern ausbreitend, und vollführte dann einen tiefen Knicks. Darauf sagte sie mit einem kleinen Lachen: »Mein kleiner Mann, wir müssen deinen Kopf versorgen.« Sie wuschen die Schramme, und die Ältere legte ein Pflaster auf. Die mit den großen blauen Augen nahm aus ihrer Tasche eine kleine Dose mit Bonbons, leerte sie in seine Hand und sagte: »Du kannst sie ruhig essen, sie sind sehr gut – und jetzt schicke ich den Zauberer Weiß-Blau, dich freizulassen. Nimm ihn«, sagte sie zu Larry, »ermahne ihn und laß ihn frei.« 15
Abermals öffnete sich die Eichentür, und Shaeen und sein Führer stiegen die Treppe hinab. In finsterem Schweigen ging er den halben Weg den wilden Abhang nach Murroa zu neben dem verschreckten Knaben her, dann hielt er an und sagte: »Du hast die Feen nie zuvor gesehen, Bursche, und es geschieht nicht oft, daß die, die uns mit Augen gesehen haben, zurückkehren, um davon zu berichten. Wer jemals näher als bis zu diesem Stein kommt, am Tage und in der Nacht«, und er tippte mit der Spitze seines Stockes darauf, »wird sein Heim nie mehr erblicken, denn wir behalten ihn bis zum Jüngsten Tag; nun fort mit dir!« Die beiden ›Feen‹ waren Alice und Una gewesen, die auf Anweisung ihres Vaters mit zwei alten Dienstboten ihren Wohnsitz in einem Seitentrakt des alten Schlosses genommen hatten, der über die Schlucht blickte; mit einigen Möbeln und Vorhängen, die sie aus ihrer früheren Residenz geholt hatten, und mit Hilfe von Glas in den Fensterhöhlen, einigen anderen unerläßlichen Ausbesserungen und einer gründlichen Durchlüftung hatten sie die ausgesuchten Räume notdürftig bewohnbar gemacht, eine karge, vorübergehende Unterkunft. Zuerst hörten und sahen sie nichts von ihrem Vater. Sie wußten aber, daß er plante, Dienst in Frankreich zu nehmen und sie dorthin zu bringen. Ihr gegenwärtiges seltsames Heim war nur vorübergehend, und jeden Tag glaubten sie, Anweisung zu erhalten, die Reise anzutreten. Der Ruf des Schlosses, verwunschen zu sein – denn in dieser Zeit waren in Sachen des Übernatürlichen die ältesten Leute wie die Kinder –, sicherte ihnen die Abgeschiedenheit, die sie wünschten. Ein- oder manchmal zweimal in der Woche machte der alte Laurence mit seinem struppigen kleinen Pony eine heimliche Reise in die Stadt Limerick, brach vor der Morgendämmerung auf und kehrte im Schutze der Nacht mit seinen 16
Einkäufen zurück. Außerdem gab es gelegentlich bei Mondschein verstohlene Besuche des alten Gemeindepfarrers und eine Mitternachtsmesse für die kleine geächtete Gemeinschaft. Als die Unruhe und die Untersuchungen gegen ihn nachließen, machte ihnen ihr Vater hin und wieder kurze heimliche Besuche. Zuerst dauerten diese nur eine Nacht, unter großen Vorsichtsmaßnahmen; aber nach und nach dehnten sie sich aus. So kam es, daß er zuletzt bis zu zwei Monate hintereinander blieb und dann so plötzlich und geheimnisvoll wieder verschwand, wie er gekommen war. Ich vermute, er hatte immer einen vielversprechenden Plan zur Hand und den Kopf voller unerfüllter Hoffnungen. Die Unterbrechung der geheimen Besuche des alten Priesters waren die erste Folge der mysteriösen Erscheinungen, die sich plötzlich zu zeigen begannen. Eines Nachts, nachdem er sein Reittier in der Obhut seines alten Sakristan gelassen hatte, wanderte er mühselig den sich windenden Pfad zwischen den grauen Felsen entlang, in der Absicht, den Einsiedlerinnen im Schloß einen heimlichen Besuch zu machen, da kam er auf merkwürdige Weise von seinem Weg ab. Zwar schien der Mond, aber ein langer Zug düsterer Wolken segelte langsam über den Himmel, so daß, schwach und bleich wie es war, das Licht selten voll leuchtete und oft für eine oder zwei Minuten ganz verschwand. Als der Priester den Punkt in der Schlucht erreicht hatte, wo die Treppe zum Schloß sich befinden mußte, konnte er sie nicht entdecken und auch keine Spur von den Türmen des Schlosses oben. So setzte er leicht verwundert seinen Weg fort, erstaunt, wie ungewöhnlich beschwerlich und ermüdend dieser war. Endlich sah er das Schloß so klar wie nur möglich vor sich; eine einzelne Kerze leuchtete, wie immer, wenn er erwartet 17
wurde, aus einem Turmfenster. Aber die Treppe war nicht zu finden, und so mußte er so gut es ging über Felsen und durch Unterholz klettern. Als er endlich oben anlangte, war da nichts als die nackte Heide. Dann stahlen sich wieder Wolken über den Mond; zögernd und beschwerlich bewegte er sich weiter, und wieder sah er die Umrisse des Schlosses scharf und klar gegen den Himmel abgehoben, da schob sich eine ganze Wolkenbank am Horizont heran. Plötzlich war er ganz nahe vor der grauen Fassade, die sich drohend in dem schwachen Licht auftürmte, doch bevor er sie mit seinem eichenen Knüppel hätte berühren können, entdeckte er, daß es nur einer der wilden grauen Felsen war, die hier und da malerisch an den Abhängen der einsamen Hügel liegen. Und so jagte er bis zum Morgengrauen durch Wasser und über Steine dem Trugbild des Schlosses nach und verbrachte eine Nacht voll jämmerlichen Mißgeschicks und großer Anstrengungen. In einer anderen Nacht ritt er die Schlucht hinauf, soweit der Weg es gestattete, mit der Absicht, sein Reittier am gewohnten Baum festzumachen, da hörte er plötzlich einen schrecklichen Schrei von der Höhe der steilen Felsen über seinem Kopf, und etwas – es schien eine riesenhafte menschliche Gestalt zu sein – fiel kopfüber durch die Felsen und prallte mit fürchterlicher Wucht direkt vor die Hufe seines Pferdes, wo es liegen blieb. Das Pferd erschrak und ebenso sein Reiter, erst recht, als dieses augenscheinlich leblose Ding plötzlich aufsprang, die Arme ausbreitend ihren weiteren Weg versperrte und ihnen sein riesengroßes weißes Gesicht näherte. Das Pferd bäumte sich auf, warf dabei beinahe den Priester ab und verfiel in einen wilden ungezügelten Galopp. Ich brauche nicht all die merkwürdigen und mannigfachen Mißgeschicke, die der Priester in seinem Bemühen, das Schloß und seine abgeschiedenen Bewohner zu besuchen, erlitt, aufzu18
zählen. Sie reichten aus, die Besuche oder auch nur den Versuch dazu – einzustellen. Nun waren die jungen Damen im Schloß mehr denn je allein. Ihr Vater, dessen Anwesenheit häufig von langer Dauer war, hatte in letzter Zeit völlig aufgehört, von der erwogenen Reise nach Frankreich zu sprechen, wurde bei jeder Erwähnung davon ärgerlich und hatte, wie sie befürchteten, den Plan ganz aufgegeben. Kurz nachdem die Besuche des Priesters aufgehört hatten, sah der alte Laurence eines Nachts zu seinem Erstaunen Licht aus einem Fenster im Glockenturm fallen, ein zitternder, rötlicher Schein, nur für Minuten sichtbar. Alle waren über das Erscheinen des Lichtschimmers besorgt. Niemand wußte ihn sich zu erklären. Aber Laurence, der mit seinem alten Herrn, dem Großvater der jungen Damen, in Italien gekämpft hatte, war entschlossen, es herauszufinden, nahm seine großen Reiterpistolen und stieg zu dem Korridor hinauf, der zum Turm führte, aber seine Suche war vergebens. Das Licht rief ein Gefühl großer Unruhe unter den Bewohnern hervor, denn es war nicht angenehm, die Anwesenheit eines anderen oder womöglich gefährlichen Mieters oder sogar mehrerer in den Mauern des alten Gebäudes vermuten zu müssen. Das Licht erschien bald wieder, diesmal stetiger und heller. Wieder legte der alte Laurence seine Waffen an, im stillen einen unheilvollen Schwur ablegend und ernsthaft zum Kampf entschlossen. Die jungen Damen sahen in erregter Erwartung von ihrem Fenster aus zu. Aber als man annehmen konnte, daß Laurence sich der Kammer näherte, von der dieses geheimnisvolle Leuchten ausging, wurde es schwächer und verschwand schließlich ganz, einige Sekunden ehe Laurence aus dem gewölbten Fenster fragte, wohin das Licht denn verschwunden sei. 19
Dieses Leuchten in der großen Kammer im Glockenturm wurde am Ende eine häufige, fast ständige Erscheinung. Es kam von dort, wo früher in Zeiten der Not und Gefahr die de Lacy jener Tage über gefangene Gegner zu Gericht zu sitzen pflegten und, wie die Überlieferung berichtet, ihnen oft nicht mehr Zeit für Beichte und Gebet ließen als nötig war, die Brustwehr des Turmes zu ersteigen, wo sie am Halse aufgehängt wurden als Warnung und Abschreckung für alle, die von unten zusahen. Der alte Laurence beobachtete dieses geheimnisvolle Licht halb ärgerlich, halb besorgt, und mannigfaltig waren die Listen, die er vergeblich anwandte, um die verwegenen Eindringlinge zu vertreiben. Schließlich kam die Familie dazu, das geheimnisvolle Licht ruhig hinzunehmen. Der alte Laurence, wenn er in dem grasbewachsenen Hof seine Pfeife rauchte, warf einen ärgerlichen Blick hinüber, wenn es sanft durch die dunkle Öffnung leuchtete, und murmelte einen Fluch oder ein Gebet. Und die alte Peggy Sullivan, das Mädchen für alles, bekreuzigte sich oder drehte ihren Rosenkranz, wenn sie zufällig einen Schimmer davon im Augenwinkel einfing (absichtlich sah sie niemals auf den verwunschenen Trakt). Die Leichtfertigkeit, mit der die jungen Damen, über die das Licht seine Macht verloren hatte, sich angewöhnt hatten, darüber zu sprechen, zeigte nur, daß Gewöhnung mit Mißachtung verbunden ist. Als diese Aufregung abgeklungen war, verursachte die alte Peggy Sullivan eine neue, indem sie feierlich schwor, einen schmalgesichtigen Mann mit einem häßlichen roten Mal auf einer Wange gesehen zu haben, der aus dem bewußten Fenster blickte, just bei Sonnenuntergang, bevor die jungen Damen von ihrem Abendspaziergang zurückkehrten. In deren Ohren klang das wie ein Hirngespinst einer alten 20
Frau, trotzdem war es aufregend; lustig am Morgen, gruselig, wenn die Nacht das riesige verlassene Gebäude einhüllte, im ganzen aber nicht unangenehm. Der alte Laurence jedoch, der nicht zu Träumereien neigte und einen kühlen, klaren Kopf hatte und Augen wie ein Falke, sah die gleiche Gestalt zur gleichen Stunde, als der letzte schräge Strahl der Sonne die Spitzen der Türme und der großen Bäume färbte. Er hatte den Schloßhof gerade durch das große Tor betreten, als er auf einmal das laute eigenartige Zwitschern vernahm, welches Spatzen von sich geben, wenn eine Katze oder ein Habicht sie bedroht. Es kam aus dem dichten Efeu, das die Mauer zu seiner Linken überwucherte. Gleichgültig hob er die Augen und sah einen dünnen, unscheinbaren Mann in der Fensternische lehnen, aus der sonst das Licht leuchtete, die Ellbogen auf die steinerne Brüstung gestützt, mit einem schwachen, höhnischen Lächeln heruntersehend, seine eingesunkenen gelben Wangen auf einer Seite tief verfärbt durch das, was man ein Blutmal nennt. »Hab’ ich dich endlich, du Schurke«, schrie Larry. »Komm herunter und ergib dich, oder ich schieße.« Die Drohung wurde durch einen Fluch unterstrichen, und er zog die große Pistole aus seiner Rocktasche und nahm seinen Mann aufs Korn. »Ich gebe dir Zeit, bis ich bis zehn gezählt habe: eins – zwei – drei – vier. Wenn du dich nicht verdrückst, schieße ich; fünf – sechs – beeil dich lieber – sieben – acht – neun – noch ist Zeit; willst du herunterkommen? Da hast du es also – zehn!« ›Bäng‹ machte seine Pistole. Der unheimliche Fremde war kaum fünfzehn Fuß von ihm entfernt, und Larry war ein sicherer Schütze. Aber diesmal schoß er schmählich vorbei. Der Schuß löste nur ein wenig weißen Staub aus der Steinwand einen guten Meter daneben; der Kerl änderte währenddessen 21
nicht einmal seine nachlässige Haltung oder sein höhnisches Lächeln. Larry war tief gedemütigt und wütend. »Diesmal kommst du nicht davon, Freundchen«, schrie er und tauschte die rauchende Waffe gegen die geladene Reservepistole aus. »Was schießt du da, Larry?« fragte eine bekannte Stimme dicht neben ihm, und er sah seinen Herrn in Begleitung eines gutaussehenden jungen Mannes. »Den Schurken dort am Fenster, Euer Gnaden, da!« »Aber da ist niemand, Larry«, sagte de Lacy lachend, obwohl das sonst nicht zu seinen Gewohnheiten zählte. Als Larry hinsah, zerfloß die Gestalt und löste sich gleichsam auf. Ein hängendes Büschel gelben und roten Efeus nickte wunderlich an Stelle des Gesichts, zerbrochenes, verfärbtes Mauerwerk nahm in der Perspektive die Umrisse und die Farbe von Armen und Gestalt an, und zwei schadhafte rote und gelbe Flechtenstreifen an der Wand zeichneten die spindeligen Beine nach. Larry bekreuzigte sich, fuhr mit der Hand über die Augen und konnte eine Minute lang nicht sprechen. Das alles war ein teuflischer Trick. Der junge Herr, der mit de Lacy gekommen war, blieb über Nacht und teilte mit offensichtlichem Vergnügen das einfache Mahl der Familie. Er war ein fröhlicher ritterlicher Franzose, und die Schönheit der jüngeren Dame, ihre Artigkeit und ihr Geist ließen ihm die Stunden scheinbar allzu schnell vergehen und erschwerten den Augenblick der Trennung. Nachdem er am Morgen aufgebrochen war, hatte Ultor de Lacy ein langes Gespräch mit seiner älteren Tochter. Er erzählte, daß er Frankreich besucht habe, seit er zuletzt in Capercullen gewesen war, und daß er eine vornehme Heirat für ihre Schwester Una arrangiert hätte. Der junge Mann sei von hoher Geburt und obwohl nicht reich, hätte er doch sein Land und seinen ›Nom de Terre‹ neben seinem Rang als Hauptmann 22
in der Armee. Es war, kurz gesagt, der gleiche Herr, von dem sie sich an diesem Morgen verabschiedet hatten. Er hatte ihn hergebracht, um ihn seiner Tochter vorzustellen, und hatte gefunden, daß der Eindruck, den sie machte, ganz der erwünschte war. »Du, du weißt es, liebe Alice, bist dem Kloster versprochen. Wäre es anders –« Er zögerte einen Augenblick. »Ihr habt recht, lieber Vater«, sagte sie und küßte seine Hand. »Ich bin versprochen, und keine irdische Bindung oder Lockung hat die Kraft, mich dieser heiligen Verpflichtung zu entziehen.« »Ich habe nicht die Absicht, dich in diesem Punkt zu drängen«, bemerkte er. »Nur kann es auf keinen Fall sein, bevor Unas Heirat stattgefunden hat. Aus vielen guten Gründen geht das nicht früher als in einem Jahr; dann werden wir diesen schrecklichen, barbarischen Ort mit Paris vertauschen, wo es viele passende Klöster gibt, in die einige der vornehmsten Damen Frankreichs als Nonnen eingetreten sind; und dort wird durch Unas Heirat, wenn auch nicht im Namen, so doch jedenfalls im Blut, unser Geschlecht und unser Titel fortgeführt und, so wahr Gerechtigkeit am Ende siegt, wird er in diesem Lande wieder machtvoll und geehrt eingesetzt werden. In der Zwischenzeit dürfen wir die Verlobung Una gegenüber nicht erwähnen. Hier läuft sie nicht Gefahr, umworben und gewonnen zu werden; aber das bloße Wissen, daß ihre Hand vergeben ist, könnte Widerstand und Murren hervorrufen, wie weder du noch ich es wünschen. Darum sei verschwiegen.« Am selben Abend nahm er Alice mit sich auf einen Streifzug um die Schloßwälle. Sie schritten über Rasen von tiefstem Grün, der auf der einen Seite von den Schloßmauern überschattet wurde und auf der anderen von den Bäumen des Waldes, da begegneten sie, gerade als sie um die Ecke des Glockenturmes biegen wollten, einer Person, die direkt auf sie zukam. Der An23
blick eines Fremden war an diesem Ort so völlig unwahrscheinlich, daß Alice erstaunte und erschrak und einen Moment stockstill stehenblieb. Die Gestalt war sehr fremdartig: ein großer, magerer, linkischer Mann, nach spanischer Art in einen schmutzigbraunen Anzug, einen braunen, spitzenbesetzten Mantel und rote Strümpfe gekleidet. Er hatte lange, dünne Beine, lange Arme, Hände und Finger und ein schmales, kränkliches Gesicht mit einer langen, hängenden Nase, einem verschlagenen, höhnischen Grinsen und einem großen, purpurnen Fleck, der mehr als die Hälfte einer Wange überzog. Als er vorbeiging, berührte er mit dünnen, verfärbten Fingern seine Mütze, warf einen gemeinen Seitenblick auf sie und verschwand um eine Ecke. Die Augen von Vater und Tochter folgten ihm stumm. Ultor de Lacy schien anfangs völlig entgeistert und dann von unbändiger Wut erfüllt zu sein. Er zog seinen Degen und setzte, ohne einen Gedanken an seine Tochter zu verschwenden, hinterher und erhaschte noch einen Schimmer der sich entfernenden Gestalt. Die Feder, das spärliche Haar, die Spitze des Rapiers, der flatternde Mantelsaum, ein roter Strumpf, die Ferse; das war alles, was er von ihm sah. Als Alice ihn erreichte, hielt er den Degen noch in der Hand und befand sich in einem Zustand heftigster Erregung. »Dem Himmel sei Dank, er ist fort!« rief sie aus. »Er ist fort«, echote Ultor mit seltsam starrem Blick. »Und du glaubst nicht, daß er zurückkommt?« »Er! – Wer?« »Der Fremde, der uns gerade begegnet ist. Kennst du ihn, Vater?« »Ja – und nein, Kind. Ich kenne ihn nicht – und doch kenne ich ihn nur zu gut. Wollte der Himmel, wir könnten diesen verfluchten Ort noch heute verlassen. Der Elende ist von weither 24
gekommen, um mit sicherem Instinkt meine letzte Hoffnung zu zerstören – uns in unserer letzten Zuflucht aufzustöbern – und in seinem Triumph noch den Schutt und die Ruinen unseres Hauses zu vernichten. Was fällt dem blöden Priester ein, seine Besuche einzustellen? Sollen meine Kinder ohne Messe und Beichte bleiben? Ohne die Sakramente, die sowohl schützen als auch retten – nur weil er einmal im Nebel seinen Weg verfehlt hat oder Schaum im Burggraben für das Antlitz eines Toten hielt? Verflucht soll er sein! Sieh zu, Alice, ob er nicht kommen will«, fuhr er fort, »du mußt nur deine Beichte aufschreiben – du und Una –, Larry ist vertrauenswürdig, er wird sie überbringen – und wir werden die Erlaubnis vom Bischof oder, wenn nötig, vom Papst einholen, daß er euch die Absolution erteilen darf. Ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, aber ihr sollt die Sakramente empfangen. In meiner Jugend bin ich ein wilder Geselle gewesen und habe nie Frömmigkeit vorgetäuscht; aber ich weiß, es gibt nur einen sicheren Weg und – und – nehmt jede hiervon ein Stückchen« – er öffnete eine kleine Silberdose – »und tragt es immer bei euch, solange ihr hier seid – hüllt es ehrfurchtsvoll in ein Stück von dem alten Psalterpergament ein und tragt es auf dem Herzen – es ist ein Teil der geweihten Hostie – mit Hilfe der Heiligen wird es euch vor Unheil bewahren –, und haltet die Fasten ein und seid stetig im Gebet. Ich kann nichts tun noch auf Hilfe sinnen. Der Fluch ist auf mich und die Meinen gefallen.« Und Alice sah schweigend, wie Tränen der Verzweiflung über sein bleiches Gesicht rannen. Auch dieses Abenteuer blieb ein Geheimnis zwischen ihnen, und Una sollte nichts davon erfahren. Nun begann Una – niemand wußte warum – ihre Lebhaftigkeit zu verlieren und immer blasser zu werden. Vorbei waren ihre lustigen Streiche und Scherze; sogar ihre Lieder verstummten. In Gegenwart ihrer Schwester schwieg sie und bevorzugte die 25
Einsamkeit. Sie sagte, sie sei gesund und ganz glücklich, und konnte auf keine Weise dazu gebracht werden, die Veränderung, die über sie gekommen war, zu erklären. Alice war darüber sehr unglücklich. Was war die Ursache dieser Entfremdung? Hatte sie sie gekränkt, und wie? Aber Una hatte früher nie auch nur eine Stunde lang einen Groll gehegt. Was konnte ihr ganzes Wesen so verändert haben? Konnte es der Schatten und die Kälte einer kommenden Geistesverwirrung sein? Ein- oder zweimal, wenn ihre Schwester sie unter Tränen drängte und sie anflehte, ihr das Geheimnis ihres veränderten Benehmens zu enthüllen, dann sah sie sie einen Augenblick voll an und schien im Begriff, alles zu offenbaren, aber dann senkte der ernste abwesende Blick sich wieder, sie lächelte ein seltsam listiges Lächeln und begann, mit sich selbst zu flüstern. Das Lächeln und das Flüstern waren für Alice ein Rätsel. Sie und Una schliefen im gleichen Raum, einer Kammer in einem vorspringenden Turm, die sie bei ihrer Ankunft, als die arme Una noch so fröhlich war, mit alten Wandteppichen behängt und nach Fertigkeit und Laune fantastisch ausgestattet hatten. Eines Abends, als sie zu Bett gingen, sagte Una, wie zu sich selbst: »Das ist meine letzte Nacht in diesem Raum. Ich werde nicht mehr bei Alice schlafen.« »Warum sprichst du davon, nicht mehr hier zu schlafen?« fragte Alice. »Warum? Alice, Liebe – kein Warum – kein Grund – nur ein Wissen. Es muß so sein, oder Una wird sterben.« »Sterben? Liebste Una, was soll das heißen?« »Ja, süße Alice, sterben. Wir müssen alle einmal sterben, weißt du, oder eine – Wandlung durchmachen; und meine Zeit ist nah – sehr nah –, wenn ich nicht getrennt von dir schlafe.« »Wirklich, Una, ich glaube, du bist krank.« 26
»Una weiß, was du denkst, kluge Alice, aber sie ist nicht verrückt – im Gegenteil, sie ist verständiger als andere Leute.« »Und sie ist auch trauriger und sonderbarer«, sagte Alice. »Wissen bringt Sorgen«, antwortete Una. »Genug jetzt, es muß so sein. Das Bett muß von hier fort, oder Unas Lager wird bald sehr kalt sein. Sieh, es ist ja nicht weit weg, nur in diesen kleinen Raum hier.« Sie deutete auf einen kleinen Innenraum, der von dem Raum ausging, in dem sie sich befanden. Die Wände des Schlosses waren enorm dick, mit doppelten Eichentüren zwischen den Gemächern. Alice dachte mit einem Seufzer daran, wie vollkommen sie getrennt sein würden. Gleichwohl erhob sie keinen Einspruch. Die Veränderung wurde vorgenommen, und die Mädchen schliefen zum erstenmal seit ihrer Kindheit in getrennten Zimmern. Einige Nächte danach erwachte Alice aus einem schrecklichen Traum, in dem die unheimliche Gestalt, die ihr Vater und sie bei ihrem Gang um das Schloß getroffen hatten, eine wichtige Rolle spielte. Als sie sich aufsetzte, hatte sie immer noch die Geräusche im Ohr, die sich mit ihrem Traum vermischt hatten. Es war eine tiefe, tönende Baßstimme, die sich aus der Schlucht unter der Schloßmauer erhob – zwischen Summen und Singen, träge, ungleichmäßig, oft unterbrochen, wie das Lied eines Mannes, der sich bei der Arbeit die Zeit vertreibt. Plötzlich trat Stille ein und – durfte sie ihren Ohren trauen? Es war ganz sicher Unas klare leise Altstimme, die am Fenster einige Töne sang. Dann wieder Stille – und wieder die fremdartige männliche Stimme. Mit einem heftigen Gefühl des Mißtrauens und Entsetzens huschte Alice ans Fenster und sah für einen Augenblick das rötliche Flackern einer Kerze in Unas Fenster und den Schatten ihres Kopfes in der tiefen Fensternische. Dann war es vorbei, und in dieser Nacht gab es keine Geräusche und Erscheinungen mehr. 27
Als sie beim Frühstück saßen, sangen die kleinen Vögel fröhlich in den sonnenbeschienenen Bäumen. »Ich liebe diese Musik«, sagte die ungewöhnlich blasse und traurige Alice. »Ich erinnere mich, Una, wie du im strahlenden Morgenlicht den lustigen Vögeln gleich zu singen pflegtest; das war in den alten Zeiten, als Una noch keine Geheimnisse vor der armen Alice hatte.« »Und Una weiß, was ihre kluge Alice meint; aber es gibt auch andere Vögel, die süßesten, wie man sagt, die nur des Nachts singen und am Tage schweigen.« So gingen die Dinge weiter – das ältere Mädchen war traurig und gequält, das jüngere still, verändert, eigenartig. Kurze Zeit danach hörte Alice, als sie spät nachts erwachte, eine Unterhaltung, die im Zimmer ihrer Schwester geführt wurde. Es schien nichts Geheimnisvolles dabei zu sein. Die Worte konnte sie durch die sechs Fuß dicken Wände und die beiden Eichentüren nicht verstehen, wohl aber Unas klare Stimme und die tiefen, glockenähnlichen Töne des Unbekannten vernehmen. Alice sprang aus dem Bett, warf ihre Kleider über und versuchte, das Zimmer ihrer Schwester zu betreten; die innere Tür war jedoch verriegelt. Als sie klopfte, brach die Unterhaltung ab. Una öffnete und stand, eine Kerze in der Hand, im Nachtgewand vor ihr. »Una, Una, sag mir, wer ist da?« rief die verstörte Alice. Una wich zurück, die großen, unschuldig blauen Augen voll auf ihre Schwester gerichtet. »Komm herein, Alice«, sagte sie kalt. Und Alice trat ein, ängstlich um sich blickend. Hier gab es kein Versteck; ein Stuhl, ein Tisch, die kleine Bettstatt und ein oder zwei Haken, um die Kleider aufzuhängen; ein schmales Fenster, mit zwei eisernen Balken davor; kein Herd, kein Kamin, nur die kahlen Wände. Alice sah sich verwundert um, und ihre Augen bohrten sich 28
flehend in die der Schwester. Una lächelte ihr merkwürdig schiefes Lächeln und sagte: »Seltsame Träume. Ich habe geträumt, und Alice auch. Sie hört und sieht Unas Träume und ist verwundert – und sie hat recht.« Sie gab ihrer Schwester einen kühlen Kuß auf die Wange, legte sich auf ihr kleines Bett und schwieg. Alice, die nicht wußte, was sie denken sollte, kehrte in ihr Zimmer zurück. Um diese Zeit kam Ultor de Lacy wieder. Er hörte den befremdlichen Bericht seiner älteren Tochter mit wachsender Beklommenheit, und seine Erregung schien immer stärker zu werden. Wie die Dinge jetzt standen, konnte es nicht mehr lange dauern, bis diese Prüfung vorbei war; alles hatte sich vorteilhaft entwickelt. In wenigen Monaten konnte die Vermählung seiner jüngeren Tochter vollzogen werden; in einigen Wochen schon sollten sie auf dem Weg nach Paris sein. Ein oder zwei Nächte nach seiner Ankunft hörte Alice mitten in der Nacht die wohlbekannte, eigenartig tiefe Stimme leise sprechen, wie es schien draußen, nahe ihrem eigenen Fenster; und Unas Stimme, klar und zart, gab Antwort. Sie eilte zum Fenster, stieß es auf und sah verstohlen und ängstlich zum Fenster ihrer Schwester hinüber. Noch während sie zum Fenster ging, hatten sich die Stimmen gesenkt, und jetzt sah sie, wie von innen das Licht zurückgezogen wurde. Der Mond beschien hell und klar die Seite des Schlosses, die die Schlucht überblickte, und sie erkannte deutlich den Schatten eines Mannes, der auf die Mauer wie auf eine Leinwand projiziert wurde. Dieser schwarze Schatten rief ihr mit Schaudern die Gestalt in dem spanischen Anzug ins Gedächtnis. Da war die Kappe und der Mantel, das Rapier, die langen, dünnen Glieder und die sonderbare Eckigkeit. Der Schatten fiel so schräg, daß die Hände an die Fensterbrüstung reichten und die Füße sich bis zur 29
Erde streckten; dann schoß er mit plötzlichem Flackern, wie Schatten es an sich haben, wenn das Licht weggenommen wird, nach unten und verschwand mit einem Riesensprung von der Schloßmauer hinunter in der Dunkelheit. »Ich weiß nicht, ob ich wache oder träume; aber ich will meinen Vater bitten, mit mir zu wachen, beide können wir uns gewiß nicht täuschen. Mögen die Heiligen uns beschützen und bewahren.« In ihrer Angst begrub Alice ihren Kopf unter der Bettdecke und flüsterte ein Gebet. »Ich bin bei Vater Denis gewesen«, sagte de Lacy am nächsten Tag. »Er wird morgen kommen. Dem Himmel sei Dank, ihr dürft beide eure Beichte ablegen und die Messe hören, und mein Gewissen wird Ruhe finden. Dann wird Una glücklicher und mehr sie selbst sein.« Dem Priester war es nicht bestimmt, die Beichte der armen Una zu hören. Als sie ihrer Schwester ›Gute Nacht‹ wünschte, sah sie sie mit ihren großen, wilden, kalten Augen an, dann schien ein wenig menschliches Gefühl sich darin zu sammeln, sie füllten sich mit Tränen, die eine nach der anderen auf ihr bescheidenes Kleid fielen. Alice sprang entzückt auf und schlug ihre Arme um den Nacken der armen Una. »Mein lieber Schatz, alles ist gut; du hast deine Alice noch lieb und wirst wieder glücklich werden.« Aber während sie sie umarmt hielt, wandten sich Unas Augen dem Fenster zu, ihre Lippen teilten sich, und Alice fühlte instinktiv, daß ihre Gedanken bereits weit fort waren. »Horch! – Hör doch! – Still!« und Una hielt mit entzücktem Blick, als sehe sie weit über die Mauern des Schlosses und den dunklen Vorhang der Nacht hinaus, die erhobene Hand ans Ohr und wiegte den Kopf leicht im Takt einer Musik, die Alices Ohr nicht erreichte, und lächelte. Dann erstarb das Lächeln langsam 30
und ließ den verschlagenen, mißtrauischen Ausdruck zurück, der ihre Schwester mit einer ungewissen Ahnung kommenden Unheils erfüllte. Und sie sang mit süßen, leisen Tönen die klagende wunderbare irische Ballade ›shule, shule, shule, aroon‹, den mitternächtlichen Ruf des geächteten irischen Soldaten an seine Liebste, ihm zu folgen. Alice hatte in der Nacht davor wenig geschlafen. Jetzt überwältigte sie die Müdigkeit; und mit der brennenden Kerze neben sich fiel sie in tiefen Schlaf. Aus diesem fuhr sie plötzlich auf und sah Una den Raum betreten. Sie trug eine kleine gestickte Börse – ihre eigene Arbeit – in der Hand; langsam stahl sie sich mit ihrem seltsam schiefen Lächeln an das Bett ihrer Schwester, offenbar in dem Glauben, sie schliefe. Alice wurde von eigenartigem Entsetzen gepackt und regte sich nicht; ihre Schwester schob sachte die Hand unter ihr Kopfkissen und zog sie wieder zurück. Dann stand Una einen Moment neben dem Kamin, streckte ihre Hand zu der Umrandung hinauf, von wo sie ein Stück Kreide nahm, und legte es, wie Alice zu sehen meinte, in die Finger einer langen, gelben Hand, die sich verstohlen aus ihrer Kammertür streckte. In der dunklen Türnische hielt Una inne, lächelte über die Schulter ihrer Schwester zu, dann glitt sie in ihr Zimmer und schloß die Tür. Starr vor Entsetzen erhob sich Alice und folgte ihr weinend. »Una, Una, um Himmels willen, was quält dich?« Aber Una schien fest geschlafen zu haben, fuhr erschreckt auf, sah erstaunt um sich und sagte: »Was sucht Alice hier?« »Du warst in meinem Zimmer, Una, Liebste. Du schienst verstört und bedrückt.« »Träume, Alice. Meine Träume gehen durch deinen Kopf; nur Träume, Träume. Geh, leg dich wieder zur Ruhe.« 31
Mehr als eine Stunde lag Alice wach, dann trat Una wieder in ihre Kammer, diesmal vollständig angezogen. Sie trug ein kleines Bündel in ein Taschentuch geknüpft in der Hand und hatte die Kapuze ihres Umhanges über den Kopf gezogen; anscheinend für eine Reise gerüstet, kam sie und stand am Fuß von Alices Bett und sah sie mit einem so seelenlosen und furchtbaren Blick an, daß Alice fast die Sinne schwanden. Dann wandte sie sich ab und kehrte in ihre Kammer zurück. Ungefähr eine Stunde später wurde Alice durch ein Klopfen an der Tür aufgeschreckt – nicht am Zugang zu Unas Raum, sondern an der, die auf den kleinen Flur neben der steinernen Wendeltreppe führte. Sie sprang vom Bett, doch die Tür war von innen gesichert, und sie fühlte sich erleichtert. Das Klopfen wiederholte sich, und sie hörte draußen jemand leise lachen. Endlich kam der Morgen; die schreckliche Nacht war vorüber. Aber Una! Wo war Una? Alice sah sie nie wieder. Am Kopfende ihres leeren Bettes waren mit Kreide die Worte ›Ultor de Lacy, Ultor O’Donnell‹ gemalt. Und Alice fand unter dem Kopfkissen die kleine gestickte Börse, die sie in Unas Hand gesehen hatte. Es war ihr kleines Abschiedsgeschenk und trug die Aufschrift ›Unas Liebe‹. De Lacys Wut und Schrecken kannten keine Grenzen. Er beschuldigte den Priester mit heftigen Worten, sein Kind durch Nachlässigkeit und Feigheit den Machenschaften des Teufels ausgesetzt zu haben, und raste und lästerte wie ein Wahnsinniger. Es wird gesagt, daß es ihm gelang, eine feierliche Teufelsaustreibung durchführen zu lassen, in der Hoffnung, seine Tochter zu befreien und zurückzugewinnen. Mehrere Male, so wird berichtet, wurde sie von den alten Dienstboten gesehen, einmal an einem schönen Sommermorgen, wie sie im Turmfenster ihre wundervollen goldenen Haare kämmte und einen 32
kleinen Spiegel in der Hand hielt; zuerst, als sie sich entdeckt sah, erschrak sie, dann lächelte sie ihr listiges, schiefes Lächeln. Manchmal haben verspätet heimkehrende Dorfbewohner sie bei Mondlicht in der Schlucht getroffen, immer zuerst ängstlich, dann lächelnd und meistens Bruchstücke alter irischer Balladen singend, die eine dunkle Ähnlichkeit mit ihrem traurigen Schicksal zu haben schienen. Diese Erscheinungen haben vor langer Zeit schon aufgehört. Aber es wird erzählt, daß man dann und wann, vielleicht einmal in zwei oder drei Jahren, doch immer schwach und weit entfernt in den Tiefen der Schlucht die süßen traurigen Laute von Unas Stimme hören kann, die klagende Weisen singt. Das wird natürlich mit der Zeit auch aufhören, und alles wird vergessen sein. Als Ultor de Lacy starb, fand seine Tochter Alice zwischen seinen Papieren einen kleinen Kasten, der ein Bild enthielt. Als sie es betrachtete, fuhr sie entsetzt zurück. Da, mit seinen vielfältigen unheimlichen Besonderheiten, war das Phantom wahrheitsgetreu abgebildet, welches mit so lebhafter und schrecklicher Deutlichkeit in ihrer Erinnerung lebte. Zusammengefaltet in diesem Kästchen war ein kurzer Bericht, der besagte, daß »A. D. 1601 in dem Monat Dezember Walter de Lacy von Capercullen am Fjord von Ownhey oder Abington viele Gefangene unter den irischen und spanischen Soldaten machte, die vor der großen Niederlage der Rebellen bei Kinsale flohen. Darunter ein gewisser Roderick O’Donnell, ein Erzverräter und naher Verwandter des anderen O’Donnell, der die Rebellen anführte. Dieser nun erhob Anspruch auf Verwandtschaft mit den de Lacy von der mütterlichen Seite, bat mit dringlichem und jämmerlichem Flehen um sein Leben und bot ein hohes Lösegeld. Wurde von de Lacy aber, aus großer Ergebenheit für die Königin, wie manche glaubten, grausam zu Tode gebracht. Als er zur Turmspitze hinaufstieg, wo die Galgen waren, und sich in 33
höchster Not und ohne Hoffnung auf Gnade fand, schwor er, daß er sich nach seinem Tode der Zerstörung der Größe der de Lacy widmen wollte und sie nie Ruhe finden sollten, bis sein Werk getan sei. Seitdem ist er oft gesehen worden und immer zum Nachteil für diese Familie, dergestalt, daß es Brauch wurde, den kleinen Kindern dieses Geschlechtes das beiliegende Bild des besagten O’Donnell zu zeigen, um zu verhüten, daß sie von ihm unversehens irregeführt werden könnten, so daß er nicht seinen Willen haben sollte, der durch teuflische Ränke und höllische Schläue stetig den Niedergang dieses alten Hauses gesucht hat und insonderheit danach trachtete, es ohne Nachkommenschaft zu lassen.« Die alte Miß Crocker von Ross House – im Jahre 1821, als sie mir diese Geschichte erzählte, an die siebzig Jahre alt – hatte Alice de Lacy noch gesehen und gesprochen, die als Nonne unter dem Namen Schwester Agnes den Schleier genommen und in einem Kloster in der Kingstreet in Dublin lebte, das von der berühmten Duchess von Tyrconnell gegründet wurde, und hat den Bericht von ihren eigenen Lippen. Ich fand die Geschichte wert, erhalten zu bleiben, und habe nichts mehr hinzuzufügen.
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Die Erscheinung von Guy de Maupassant Ähnlich wie E. T. A. Hoffmann und E. A. Poe fühlte sich auch Guy de Maupassant (1850-1893) immer wieder gedrängt, die ›Nachtseiten‹ des Lebens novellistisch zu gestalten. Psychosen, Schwermut, Traumata, Wahnsinn und alle Phänomene, die sich am Rande des Bewußtseins abspielen, haben ihn stets gefesselt. Wie in den meisten seiner Erzählungen und Novellen erweist sich Maupassant auch in ›Der Erscheinung‹ als glänzender Stilist, der in knappen, klaren, unbestechlich genauen Sätzen Menschen und Geschehnisse schildert. ——————
Man sprach jüngst anläßlich eines Prozesses von Sequestrationen, und zwar gegen Ende einer kleinen Gesellschaft in einem alten, vornehmen Haus in der Rue de Grenelle. Jeder wußte eine Geschichte, und jeder behauptete, daß sie wahr sei. Da erhob sich der zweiundachtzigjährige Marquis de la Tour-Samuel, lehnte sich gegen den Kamin und sagte mit etwas zitteriger Stimme: »Ich habe auch einmal etwas Seltsames erlebt, etwas so Seltsames, daß es zur dauernden Heimsuchung meines Lebens geworden ist. Vor nunmehr sechsundfünfzig Jahren ist mir das Abenteuer begegnet; aber kein Monat vergeht, ohne daß ich es im Traum noch einmal erlebte. Seit jenem Tag ist eine Art Grauen in mir. Begreifen Sie das? Wirklich, ich habe zehn Minuten lang ein so fürchterliches Entsetzen aushalten müssen, daß ich seit jener Stunde von einer ständigen Schreckhaftigkeit befallen bin. Unerwartete Geräusche lassen mich bis ins Mark hinein erbeben; Gegenstände, die ich im Schatten der Nacht nur undeut35
lich sehen kann, flößen mir solche Furcht ein, daß ich davonlaufen möchte. Kurz, ich habe Angst vor der Nacht. Jetzt, wo ich so hoch bei Jahren bin, kann ich es ja eingestehen, kann ich alles sagen. Einem Zweiundachtzigjährigen ist es erlaubt, feige zu sein gegenüber eingebildeten Gefahren. Wirklichen Gefahren, meine Damen, bin ich nie aus dem Wege gegangen. Jenes Erlebnis hat mein Innerstes so schwer erschüttert und mich in eine so geheimnisvoll furchtbare Verwirrung gestürzt, daß ich nie davon gesprochen habe. Ich habe es in der tiefsten Tiefe meiner Seele verborgen, dort, wo wir schamhaft unsere peinlichen Geheimnisse und alle uneingestandenen Schwächen unseres Lebens verstecken. Ich will Ihnen das Abenteuer erzählen und nicht versuchen, es zu erklären. Nur wenn ich damals verrückt war, könnte es ja unerklärlich sein, aber glauben Sie mir, ich war bei Sinnen und kann es beweisen. Sie mögen von mir denken, was Sie wollen. Hören Sie die nackten Tatsachen an: Es war im Juli 1827. Ich stand in Rouen in Garnison. Als ich eines Tages am Fluß spazieren ging, begegnete mir ein Mann, der mir bekannt vorkam. Ich machte eine instinktive Bewegung, stehen zu bleiben. Der Fremde sah diese Bewegung; er musterte mich und warf sich mir in die Arme. Es war ein Jugendfreund von mir, den ich sehr geliebt hatte. Seit fünf Jahren hatte ich ihn nicht gesehen, aber er schien mir um fünfzig Jahre gealtert. Sein Haar war völlig weiß; er ging gebeugt, gleichsam erschöpft. Da er mein Erstaunen bemerkte, erzählte er mir sein Leben. Ein furchtbares Unglück hatte ihn gebrochen. Er hatte sich leidenschaftlich in ein junges Mädchen verliebt und sie in seinem Glückstaumel geheiratet. Nach einem Jahr übermenschlicher Glückseligkeit und nie gesättigter Leidenschaft war sie plötzlich an einem Herzschlag gestorben. Ohne Zweifel hatte sie die Liebe getötet. Am Tage ihrer Beerdigung verließ er sein Schloß und bezog 36
seine Stadtvilla in Rouen. Dort lebte er nun einsam, verzweifelt, von Schmerzen zerrissen und so elend, daß er dauernd an Selbstmord dachte. ›Da ich dich hier treffe‹, sagte er, ›möchte ich dich bitten, mir einen großen Dienst zu erweisen und mir aus dem Schreibtisch meines, unseres Zimmers in meinem Schloß einige Papiere zu holen, die ich dringend brauche. Kein Diener und kein Fremder kann mir diesen Dienst leisten, da höchste Diskretion und restloses Schweigen durchaus nötig sind. Ich selbst aber betrete um keinen Preis der Welt das Haus wieder. Ich will dir den Schlüssel zu dem Zimmer geben, das ich damals selbst hinter mir verschlossen habe, und auch den Schlüssel zu meinem Schreibtisch. Du mußt auch meinem Gärtner, der dir aufmachen wird, etwas von mir ausrichten. Komm doch morgen zum Frühstück zu mir; wir besprechen dann alles Weitere.‹ Ich versprach, ihm diesen leichten Dienst zu erweisen. Es war für mich ja nur ein Spazierritt; denn sein Gut lag nur fünf Meilen von Rouen entfernt. Zu Pferde konnte ich in einer Stunde draußen sein. Am anderen Tage war ich um zehn Uhr früh bei ihm. Wir frühstückten miteinander, aber er sprach keine zwanzig Worte. Er bat mich, ihm das nicht übel zu nehmen; der Gedanke, daß ich das Zimmer, in dem sein Glück gestorben war, aufsuchen würde, überwältige ihn. Er schien mir wirklich ganz sonderbar erregt und verstört zu sein, als ob sich in seiner Seele ein geheimnisvoller Kampf abspielte. Schließlich erklärte er mir genau, was ich zu tun hätte. Es war sehr einfach. Ich sollte zwei Bündel Briefe und einen Stoß Papiere aus der obersten rechten Schublade des Schreibtisches, zu dem ich den Schlüssel hatte, herausnehmen. ›Ich brauche dich wohl nicht zu bitten, keinen Blick in die Papiere zu tun‹, fügte er hinzu. 37
Ich fühlte mich durch diese Worte fast verletzt und sagte ihm das etwas heftig. Er stammelte nur: ›Verzeih mir, bitte, aber ich leide zu sehr.‹ Dann brach er in Tränen aus. Ich verließ ihn gegen ein Uhr, um meinen Auftrag auszuführen. Das Wetter war strahlend schön; ich ritt im Trab durch die Wiesen, hörte die Lerchen trillern und die taktmäßigen Schläge meines Säbels gegen den Stiefelschaft. Ich kam in den Wald und ließ mein Pferd in Schritt fallen. Die Baumzweige liebkosten mein Gesicht; zuweilen riß ich ein Blatt mit den Zähnen herab und zerkaute es in einem Anfall gieriger Lebenslust, wie sie uns, ohne zu wissen warum, zuweilen plötzlich mit stürmischer, nicht zu fassender Seligkeit, mit einem tollen Kraftgefühl überkommt. Als ich das Schloß erblickte, suchte ich in meiner Tasche nach dem Brief, den ich dem Gärtner geben sollte, und bemerkte mit Verwunderung, daß er versiegelt war. Ich war darüber so ärgerlich überrascht, daß ich drauf und dran war, unverrichteter Sache umzukehren. Dann aber bedachte ich, daß ich damit nur eine geschmacklose Empfindlichkeit zeigen würde. Mein Freund hatte in seiner schmerzlichen Aufregung den Brief vielleicht nur aus Versehen versiegelt. Das Schloß sah aus, als wäre es seit zwanzig Jahren verlassen. Die Tür des verrosteten Gitters stand offen und hing lose in den Angeln. Gras überwucherte die Alleen; die Form der Rasenplätze war nicht mehr zu erkennen. Ich stieß mit dem Fuß klopfend an einen der geschlossenen Fensterläden. Ein alter Mann trat aus einer Seitentür und schien sehr erstaunt, mich zu sehen. Ich sprang vom Pferd und gab ihm meinen Brief. Er las ihn durch, las ihn noch einmal, wandte ihn um und um, sah mich scheu von der Seite an, steckte das Blatt in die Tasche und sagte: ›Sie wünschen?‹ 38
Ich antwortete ärgerlich: ›Sie müssen es doch wissen! Sie haben doch eben durch den Brief die Befehle Ihres Herrn empfangen. Ich will ins Schloß.« Er schien vor Staunen zu erstarren. ›Sie wollen in … in das Zimmer?‹ fragte er. Meine Geduld riß. ›Zum Kuckuck! Es macht Ihnen wohl Vergnügen, mich auszufragen?« Er stammelte: ›Nein … gnädiger Herr … aber … es ist nur … es ist seit … seit ihrem Tode nicht geöffnet worden. Wenn Sie fünf Minuten hier warten wollen, werde ich nachsehen … nachsehen, ob …‹ Ich schnitt ihm zornig das Wort ab: ›Ach was! Wollen Sie mich zum besten haben? Sie können ja gar nicht hinein; ich habe doch den Schlüssel.‹ Er wußte nicht, was er noch sagen sollte. ›Ich will Ihnen den Weg zeigen, gnädiger Herr.‹ ›Zeigen Sie mir die Treppe, und lassen Sie mich allein. Ich werde das Zimmer ohne Sie finden.‹ ›Aber … gnädiger Herr … es …‹ Jetzt hatte ich aber genug. ›Halten Sie endlich den Mund! Oder Sie bekommen es mit mir zu tun!‹ Ich schob ihn ärgerlich beiseite und trat in das Haus. Ich ging erst durch die Küche, blickte durch zwei kleine Zimmer, die der Gärtner mit seiner Frau bewohnte, kam dann in eine große Vorhalle, stieg die Treppe hinauf und erkannte sofort die Tür, die mir mein Freund beschrieben hatte. Ich öffnete sie mühelos und trat ein. Die Stube war so dunkel, daß ich zuerst nichts unterscheiden konnte. Ich blieb stehen, von dem süßlichen Modergeruch gebannt, den so unbewohnte verschlossene Räume, solche toten Zimmer nun einmal haben. Allmählich gewöhnten sich meine 39
Augen an die Dunkelheit, und ich sah ziemlich deutlich einen großen Raum in voller Unordnung mit einem Bett ohne Laken, das jedoch seine Kissen behalten hatte. Das eine wies den tiefen Eindruck eines Kopfes oder eines Ellenbogens auf, als hätte noch eben erst jemand darauf gelegen. Die Stühle schienen zerschlagen zu sein. Ich bemerkte, daß eine Tür, die wohl zu einem Schrank gehörte, offen war. Ich ging zuerst ans Fenster, um es zu öffnen und Licht hereinzulassen, aber die eisernen Beschläge der äußeren Fensterläden waren so verrostet, daß es mir nicht gelang. Ich versuchte, sie mit meinem Säbel aufzubrechen, aber umsonst. Da diese vergeblichen Bemühungen mich verdrossen und meine Augen sich schließlich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, gab ich die Hoffnung auf, mehr Licht zu bekommen und ging zum Schreibtisch. Ich setzte mich in den Lehnstuhl, schlug die Platte herunter und öffnete die bezeichnete Schublade. Sie war bis zum Rand gefüllt. Ich brauchte nur die drei Bündel, die mir genau beschrieben worden waren, und fing an, sie zu suchen. Ich mußte die Augen förmlich aufreißen, um die Überschriften zu entziffern. Da glaubte ich hinter mir ein Rascheln zu hören oder vielmehr zu empfinden. Ich beachtete es nicht, denn ich meinte, ein Luftzug habe irgendeinen Stoff bewegt. Aber nach einer Minute lief mir bei einem neuen, fast unhörbaren Rascheln ein sonderbar leiser, unangenehmer Schauer über den Rücken. Es erschien mir so dumm, auch nur ein bißchen erregt zu sein, daß ich mich aus Scham vor mir selbst nicht umdrehen wollte. Ich entdeckte das zweite der gesuchten Briefbündel und endlich das dritte, als ein schwerer, tiefer Seufzer, der dicht neben meiner Schulter ausgestoßen wurde, mich wie im Wahnsinn aufspringen ließ. Dabei hatte ich mich umgedreht, die Hand am Griff meines Säbels; hätte ich ihn nicht an meiner Seite gefühlt, ich wäre davongerannt wie ein Feigling. 40
Eine große, weißgekleidete Frau stand hinter dem Lehnstuhl, auf dem ich gesessen hatte. Ein solcher Stoß fuhr mir durch alle Glieder, daß ich fast hintenüber gefallen wäre. Ich sage Ihnen: Ein Mensch, der solch furchtbares, starres Grausen nicht durchgemacht hat, kann es nicht verstehen. Die Seele zerschmilzt gleichsam; man fühlt sein Herz nicht mehr; der ganze Körper wird weich wie ein Schwamm; es ist, als stürze unser ganzes Innere in sich zusammen. Ich glaube nicht an Gespenster, durchaus nicht; aber ich erlag der schmählichen Furcht vor den Toten. Während dieser wenigen Sekunden habe ich in meiner unbesieglichen Angst vor übernatürlichen Schrecknissen mehr gelitten als mein ganzes übriges Leben lang. Hätte sie nicht zu sprechen begonnen, dann wäre ich vielleicht gestorben! Aber sie sprach, sprach mit einer sanften, traurigen Stimme, die alle meine Nerven zittern ließ. Ich wage nicht zu behaupten, daß ich wieder Herr über mich geworden wäre und meine Vernunft wiedererlangt hätte. Nein. Ich wußte nicht mehr, was ich tat. So außer mir war ich. Aber ein gewisser innerer Stolz, möglicherweise etwas von meinem Berufsstolz, ließ mich trotz allem Anstand und Fassung bewahren. Ich posierte vor mir selbst und natürlich auch vor ihr, was sie auch sein mochte, Weib oder Gespenst. Natürlich gab ich mir erst später von alledem Rechenschaft, denn in dem Augenblick, als ich die Erscheinung sah, dachte ich überhaupt nichts. Ich fürchtete mich nur. Sie sagte: ›Mein Herr, Sie können mir einen großen Dienst erweisen!‹ Ich wollte antworten, brachte aber kein Wort hervor. Nur ein schwaches Geräusch kam aus meiner Kehle. Sie sprach weiter: ›Wollen Sie? Sie können mich retten, mich heilen. Ich leide entsetzlich. Ich leide; ach, wie ich leide!‹ 41
Sie ließ sich leise in meinen Lehnstuhl sinken und blickte zu mir auf. ›Wollen Sie?‹ Ich nickte ein ›Ja!‹, denn meine Stimme war noch immer wie gelähmt. Da reichte sie mir einen Schildpattkamm und bat leise: »Kämmen Sie mich! Ach, kämmen Sie mich; das wird mich gesund machen; ich muß gekämmt werden. Sehen Sie doch meinen Kopf an … Wie ich leide! Meine Haare tun mir so furchtbar weh!‹ Ihr aufgelöstes Haar hing sehr lang, sehr schwarz über die Lehne des Sessels bis auf den Fußboden. Warum habe ich’s nur getan! Warum habe ich zitternd den Kamm ergriffen, und warum habe ich ihre langen Haare, die unheimlich kalt waren, wie Schlangen kalt, und die meine Haut erschauern ließen, mit Händen berührt? – Ich weiß es nicht. Das Gefühl dieser Kälte habe ich noch heute in den Fingern; und wenn ich an jene Stunde zurückdenke, kommt mich ein Zittern an. Ich kämmte sie. Ich frisierte sie; ich weiß selbst nicht, wie ich ihr eisiges Haar zu bearbeiten verstand. Ich löste es auf und flocht es wieder ein, wie die Mähne eines Pferdes. Sie seufzte, senkte den Kopf und schien glücklich darüber zu sein. Plötzlich sagte sie: ›Danke!‹, entriß mir den Kamm und entfloh durch die offene Tür, die ich gleich anfangs bemerkt hatte. Ich war wieder allein und eine Minute lang verwirrt, wie beim Erwachen nach einem schweren Alpdruck. Dann wurden meine Sinne klar. Ich lief an das Fenster und brach mit einem gewaltigen Stoß die Laden auf. Eine Flut von Licht strömte herein. Ich eilte zur Tür, durch die das Wesen verschwunden war. Sie war geschlossen und nicht zu öffnen. Da packte mich der fieberhafte Wunsch, zu fliehen, genausp, 42
wie das bekannte Angstfieber in der Schlacht. Ich griff rasch nach den drei Briefbündeln auf dem geöffneten Schreibtisch; ich lief durch das Zimmer, sprang die Treppe hinunter, nahm immer vier Stufen auf einmal, und war, ich weiß nicht wie rasch, draußen. Zehn Schritte vor mir stand mein Gaul, ich schwang mich mit einem Satz hinauf und galoppierte davon. Erst vor meinem Haus in Rouen machte ich halt. Ich warf die Zügel meinem Burschen zu und floh in mein Zimmer. Dort schloß ich mich ein, um erst einigermaßen zur Besinnung zu kommen. Eine Stunde lang fragte ich mich angstvoll, ob mich nicht eine Halluzination genarrt habe. Lieber hätte ich eine jener unverständlichen Nervenerschütterungen erlebt, eine jener Gehirnbetäubungen, die stets das Wunder gebären, denen das Übernatürliche seine Macht verdankt. Ich war schon bereit, an eine Sinnestäuschung zu glauben, als meine Blicke zufällig auf meine Brust fielen. Mein Husarendolman war voll von langen Frauenhaaren, die sich um die Knöpfe gewunden hatten! Ich trat ans Fenster, ergriff eins nach dem andern und ließ sie mit zitternden Fingern hinausfliegen. Dann rief ich meinen Burschen. Ich fühlte mich zu erregt, zu verwirrt, um meinen Freund noch an demselben Tag aufzusuchen. Auch wollte ich mir erst reiflich überlegen, was ich ihm sagen sollte. Ich schickte ihm die Briefe zu, und er sandte mir durch den Burschen eine Empfangsbestätigung. Er hatte ihn eingehend nach mir ausgefragt. Der Soldat hatte ihm gesagt, ich sei leidend; ich hätte mir wohl einen Sonnenstich geholt oder etwas Ähnliches. Es soll ihn sehr besorgt gemacht haben. Am nächsten Morgen ging ich schon ganz früh zu ihm, fest entschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch er war am Abend vorher ausgegangen und nicht wiedergekommen. 43
Ich ging im Laufe des Tages noch einmal hin: Er war noch nicht zurück. Ich wartete eine Woche. Er blieb verschwunden. Da meldete ich es der Polizei. Er wurde überall gesucht, aber nirgends gefunden. Das verlassene Schloß wurde peinlichst durchstöbert, aber man entdeckte nichts Verdächtiges. Keine Spur davon, daß sich dort eine Frau verborgen halte. Endlich wurden alle Nachforschungen abgebrochen. Seit fünfzig Jahren habe ich nichts weiter in der Sache erfahren. Sie blieb unaufgeklärt.«
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Das Gespenst von Wladimir Odojewski Wladimir Fürst Odojewski (1803-1869) entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht. Bereits in den dreißiger Jahren hatte er sich einen Namen als Literat, Philosoph und Musikkritiker gemacht. Im literarischen Leben Rußlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte er eine nicht unbedeutende Rolle. In seinem Frühwerk, aus dem die vorliegende Erzählung stammt, variiert Odojewski Themen, die den Einßuß der deutschen Romantik und besonders Hottmanns zeigen. Wie bei seinem Zeitgenossen Gogol ist die fantastische Form der Erzählung aber keineswegs Selbstzweck. ——————
Wir saßen zu viert in der Postkutsche: ein Hauptmann a. D. ein Sektionschef, Irinej Modestowitsch und ich. Die beiden ersteren zierten sich und erwiesen einander allerlei Aufmerksamkeiten, begannen wohl auch mitunter einen kurzen Streit, Irinej Modestowitsch aber redete ununterbrochen. Ob es nun eine vorüberfahrende Equipage war, ein Fußgänger oder ein kleines Dorf – alles war für ihn Anlaß zum Plaudern. Glücklich, daß seine Zuhörer nicht aus der Postkutsche springen und ihm entwischen konnten, erzählte er ein Märchen nach dem anderen, und darin spielten natürlich Hausgeister, Teufel und Gespenster die Hauptrolle. Ich konnte mich nicht genug wundern, woher er das ganze Teufelszeug nahm, und döste beim Gesumm seiner dünnen Stimme seelenruhig vor mich hin. Die anderen Reisegefährten lauschten aus lauter Langerweile nicht ohne Interesse, und das war es ja gerade, was Irinej Modestowitsch wollte. 45
»Was ist denn das für ein Schloß?« fragte plötzlich der Hauptmann a. D. der aus dem Fenster blickte. »Sicher können Sie uns etwas Kurioses darüber erzählen«, fügte er hinzu, an Irinej Modestowitsch gewandt. »Ich weiß von ihm nichts anderes, als was man auch von vielen heutigen Häusern berichten kann: Menschen lebten darin, aßen, tranken und starben. Doch dieses Schloß erinnert an eine sonderbare Geschichte, in der genauso ein Schloß eine große Rolle spielt. Stellen Sie sich nur vor, daß alles, was ich Ihnen sogleich erzählen werde, sich eben in diesen zerfallenen Gemäuern zutrug, Hauptsache, Sie schenken dem Erzähler Glauben, alles andere ist gleichgültig. Meistens erzählen Reisende so ihre eigenen Geschichten, nur sind sie nicht so freimütig wie ich. In meiner Jugend pflegte ich häufig das Haus meiner Nachbarin, einer äußerst liebenswürdigen Frau, aufzusuchen … Aber denken Sie nicht, daß hierbei etwa Sünde im Spiel war, nein, meine Nachbarin war bereits in den Jahren, da eine Frau von selbst gesteht, ihre Zeit sei vorüber. Sie hatte weder Töchter noch Nichten, und ihr Haus glich allen andern Häusern in ***: drei, vier Räume, ein Dutzend Sessel, ebenso viele Stühle, ein paar Lampen im Eßraum, ein paar Kerzen im Gästezimmer … doch ich weiß nicht, lag es am Wesen jener Frau, an ihrer schlichten Redeweise – ich glaube, selbst ihr Mahagonitisch mit der Wachstuchdecke oder die Wände ihres Hauses hatten etwas an sich, das einem Abend für Abend ins Ohr flüsterte: Man müßte heute zu Marja Sergejewna gehen. So empfand nicht nur ich allein, an den langen Winterabenden trafen sich uneingeladen Gäste bei ihr, als hätten sie das zuvor vereinbart. Wir befaßten uns mit ganz gewöhnlichen Dingen – tranken Tee oder spielten Boston, bisweilen blätterten wir auch in Zeitschriften, doch all das machte uns mehr Spaß bei Marja Sergejewna als in einem anderen Haus, wir wunderten uns selbst darüber. Heute meine ich, der Grund war allein, daß Marja Sergejewna nie46
manden mit Streitigkeiten oder häuslichen Sorgen behelligte, daß sie keinen Klatsch liebte und niemandem ihre Bemerkungen über Vorkommnisse in der Umgebung oder das Verhalten ihrer Dienstboten mitteilte, daß sie nicht versuchte, einem etwas zu entlocken, was er gern für sich behalten hätte, daß sie einem nicht Freundlichkeiten ins Gesicht sagte, sich dann aber über ihn mokierte, kaum daß die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, daß sie nicht zürnte, wenn sich einer von uns länger als ein halbes Jahr nicht bei ihr sehen ließ und sogar ihren Namenstag oder den Geburtstag vergaß; sie hatte keine einzige jener Prätensionen und Launen, die die Gesellschaft der Damen von *** unerträglich machen, war weder bigott noch abergläubisch, verlangte nicht, daß man etwas Bestimmtes dachte oder über etwas Bestimmtes sprach, sie geriet nicht in Entsetzen, wenn man anderer Meinung war als sie, verlangte keinerlei Verzicht, sie nötigte niemanden zum Kartenspiel oder ans Klavier, sie übte Toleranz im weitesten Sinn, in ihrem Gästezimmer konnte jeder edle Mann tun, denken und reden, was ihm beliebte, kurzum, in ihrem Haus herrschte ein guter Ton, der dazumal in der Gesellschaft von *** selten war und dessen Natur bis zum heutigen Tag nur wenige begreifen. Ich selbst spürte lebhaft, wie sehr sich Marja Sergejewna in ihrem Verhalten und Leben von anderen Frauen unterschied, vermochte diesen Eindruck jedoch nicht mit einem Wort wiederzugeben.« »Gestatten Sie, daß ich Sie unterbreche«, sagte der Sektionschef. »Sollte tatsächlich der gute Ton allein darin bestehen, daß die Hausfrau sich nicht mit den Gästen befaßt? Nein, ich bitte Sie, wir selbst pflegen in bester Gesellschaft zu verkehren … ich möchte Ihnen widersprechen. Wie kann man nur …« »Es heißt«, erwiderte Irinej Modestowitsch, »dort, wo sich die Hausfrau schlicht gibt, fühlen sich die Gäste wohl und nicht gegängelt, und einen an gute Gesellschaft gewöhnten Menschen erkennt man stets an seinem schlichten Wesen …« 47
»Auch ich schließe mich dieser Meinung an«, fügte der Hauptmann a. D. hinzu, »ich kann Ziererei nicht ertragen! Auf den Abendgesellschaften, die unser Brigadegeneral gab, traute man sich ja nicht mal, auch nur einen Knopf zu lockern, geschweige denn sich zu rühren. Mordslangweilig war’s! Ganz anders ist’s, wenn man mit Kameraden zusammenkommt – runter mit der Uniform, eine Flasche Rum auf den Tisch, und los geht der Spaß …« »Nun, das mag Ihre Ansicht sein«, wandte der Sektionschef ein. »Ich kann sie nicht teilen! Was heißt schon Schlichtheit? Um schlicht zu sein, bedarf es nur eines eigenen Hauses, in der großen Welt jedoch ist es angenehm, wenn man zeigen kann, daß man zu leben versteht, daß man ein jedes Wort abzuwägen weiß, damit jedes Wort verrät, daß man nicht irgendwer, kein ungebildeter Mensch ist, sondern ein wohlerzogener …« Irinej Modestowitsch war völlig hilflos zwischen diesen beiden entgegengesetzten Polen und mußte etwas ersinnen, um nicht in das Punschgeschwätz des einen, aber auch nicht in die Konversation des wohlanständigen Herrn verwickelt zu werden. Als ich die Verwirrung meines Freundes bemerkte, mischte ich mich ins Gespräch. »So kommen wir doch nie mit unserer Geschichte zum Ende«, sagte ich. »Wo waren Sie eigentlich stehengeblieben, Irinej Modestowitsch?« Unsere Gegner verstummten, beide mit sich zufrieden. Der Sektionschef war felsenfest überzeugt, er habe alle Einwände meines Freundes entkräftet. Der Hauptmann dachte, Irinej Modestowitsch sei mit ihm einer Meinung. Irinej Modestowitsch fuhr fort: »Ich habe Ihnen wohl bereits gesagt, daß wir uns – wie es kam, wußten wir selber nicht – fast jeden Abend bei Marja Sergej ewna trafen, ohne uns zuvor verabredet zu haben. Ich muß jedoch gestehen, daß, wie alle Improvisationen, auch diese nicht immer eine reine Freude waren. 48
Mitunter fanden sich Männer zusammen, von denen zwei nur Whist und zwei andere nur Boston spielten, die einen spielten die neuere Art, die anderen die ältere, und es kam keine Partie zustande. So war es auch einmal im Spätherbst, wenn ich mich recht erinnere. Ein heftiger Schneeregen fiel, das Wasser floß in Strömen die Gehsteige entlang, und der Wind blies die Laternen aus. Im Gästezimmer saßen außer mir vier Mann und warteten auf Partner. Doch diese hatte offenbar das Wetter erschreckt, und zwischen uns entspann sich ein Gespräch. Wie so oft sprang die Unterhaltung von einem Thema zum anderen und verweilte schließlich bei Vorgefühlen und Geistererscheinungen.« »Das habe ich mir doch gedacht!« rief der Sektionschef. »Ohne Gespenster geht es bei ihm nie ab!« »Gar kein Wunder«, wandte Irinej Modestowitsch ein. »Diese Dinge lenken gewöhnlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich; unser von der Prosa des Lebens erschöpfter Verstand wird unwillkürlich von den geheimnisvollen Vorgängen angezogen, die die Poesie unserer Gesellschaft bilden und als Beweis dafür dienen, daß niemand in diesem Leben von der Poesie genau wie von der Erbsünde loskommen kann.« Der ehrwürdige Beamte nickte vielsagend mit dem Kopf und wünschte auf diese Weise zu bekunden, daß er den Sinn dieser Worte voll und ganz erfaßt habe. Irinej Modestowitsch aber fuhr fort: »Schon waren der Reihe nach alle wohlbekannten Ereignisse dieser Art erzählt: Menschen, die nach ihrem Tod erscheinen, Gesichter, die zu einem im zweiten Stock zum Fenster hineinschauen, tanzende Stühle und dergleichen mehr. Einer der Gesprächspartner wahrte tiefes Schweigen, während dies alles erzählt wurde; er lächelte nur verstohlen, wenn wir vor Entsetzen aufschrien. Dieser schon betagte Herr war ein 49
eingefleischter Voltaireaner alter Schule; häufig beendete er im Verlauf unserer Streitgespräche seine Beweisführungen in vollem Ernst mit einem Vers aus dem ›Epitre à Uranie‹ oder aus dem ›Discours en vers‹ von Voltaire und war höchst verwundert, wenn wir uns auch dann noch erdreisteten, anderer Meinung zu sein als er. Sein Lieblingsspruch lautete: Ich glaube nur, daß zwei mal zwei vier ist. Als unser Vorrat an Gruselgeschichten endgültig erschöpft war, wandten wir uns an diesen Herrn mit der spöttischen Bitte, er möge uns doch auch etwas dergleichen zum besten geben. Er erriet unsere Absicht und erwiderte: ›Sie wissen, ich kann diesen Unsinn nicht ausstehn. In dieser Hinsicht bin ich ganz nach meinem Großvater geraten, dem ist tatsächlich einmal ein Gespenst erschienen – ein Gespenst mit allem Drum und Dran: bleiches Antlitz und melancholischer Blick; doch der Verstorbene streckte ihm die Zunge heraus, und darüber war das Gespenst dermaßen verdutzt, daß es sich fürderhin nie mehr zu erscheinen erkühnte – weder dem Großvater noch einem anderen Mitglied unserer Familie. Wenn mir heute in einer Zeitschrift eine romantische Geschichte Ihrer modernen Schreiberlinge vor die Nase kommt, dann folge ich dem Beispiel des Großvaters. Nur habe ich bemerkt, daß Schriftsteller viel gewissenloser sind als Gespenster und mir trotz aller Grimassen, die ich ihnen schneide, immer wieder vor Augen geraten; glauben Sie jedoch nicht, ich sei nicht imstande, Ihnen ebenfalls eine Schauergeschichte zu erzählen. Hören Sie nur zu. Ich will Ihnen von einer wahren Begebenheit berichten, aber ich wette, die Haare werden Ihnen zu Berge stehn. Vor etwa dreißig Jahren – ich hatte dazumal gerade erst meinen Dienst angetreten – machte unser Regiment in einem Städtchen halt; wir lagen in Reserve, und das Gerücht wollte wissen, daß der Feldzug sich dem Ende näherte, dieses Gerücht wurde durch die Tatsache erhärtet, daß wir über einen Monat am sel50
ben Ort blieben – Zeit genug für Militärs, sich mit der Bevölkerung anzufreunden. Ich hatte im Haus einer wohlhabenden Gutsbesitzerin Quartier bezogen, einer liebenswürdigen, fröhlichen Dame, die sehr schwatzhaft war. Bald waren wir ein Herz und eine Seele. Fast jeden Abend versammelten sich bei ihr Gäste, gerade wie jetzt hier, und wir vertrieben uns die Zeit sehr unterhaltsam. Etwa eine Werst von dem Städtchen entfernt lag auf einer kleinen Anhöhe ein altertümliches Schloß mit halbkreisförmigen Fenstern, Türmchen und Wetterfahnen – kurz, mit all jenen Schrullen der sogenannten gotischen Architektur, über die wir zu jener Zeit lachten, die jedoch bei dem degenerierten Geschmack von heute wieder in Mode kommen. Damals gefiel uns das ganz und gar nicht. Wir fanden das Schloß abscheulich – das war es ja auch in der Tat – und nannten es Schuppen, Taubenschlag, Pastete, ja sogar ein Irrenhaus. »Wem gehört diese Zuckerbäckerei?« fragte ich eines Tages meine Wirtin. »Meiner Freundin, der Gräfin***«, erwiderte sie, »einer äußerst liebenswürdigen Dame. Sie müßten sie kennenlernen … Früher einmal war Gräfin Malwina sehr unglücklich«, fuhr meine Wirtin fort, »sie hat in ihrem Leben viel durchgemacht. In ihrer Jugend verliebte sie sich in einen jungen Mann, er war zwar ein Graf, jedoch arm, und ihre Eltern wollten sie ihm unter gar keinen Umständen zur Frau geben. Die Gräfin aber war eine leidenschaftliche Natur, sie liebte den jungen Mann heiß, und schließlich brannte sie nicht nur mit ihm durch, sondern heiratete ihn sogar, was meines Erachtens völlig überflüssig war. Sie können sich vorstellen, wieviel Aufsehen dieser Vorfall erregte. Die Mutter der Gräfin war eine Frau des vergangenen Jahrhunderts, eine überaus sittenstrenge Dame, stolz auf ihre vornehme Herkunft, hochnäsig, von einer Menge Schmeichler umgeben; sie hatte sich im Laufe ihres Lebens daran gewöhnt, daß sich die gesamte Umgebung ihr blindlings unterwarf. Malwinas 51
Flucht war für sie ein schwerer Schlag: Einerseits brachte sie der Ungehorsam der leiblichen Tochter zur Raserei, andererseits sah sie in dieser Handlungsweise ein ewiges Schandmal für die Familie. Da die arme Gräfin den Charakter ihrer Mutter kannte, traute sie sich lange Zeit nicht, ihr unter die Augen zu treten, ihre Briefe blieben unbeantwortet, sie war in höchster Verzweiflung, und nichts vermochte sie zu trösten, weder die Liebe ihres Mannes noch die Versicherung der Freunde, der Zorn der Mutter könne nicht ewig währen, zumal nichts mehr zu ändern sei. So vergingen sechs Monate ununterbrochener Leiden. Ich sah sie in dieser Zeit des öfteren – sie hatte sich völlig verändert. Schließlich wurde sie schwanger. Ihre Unruhe wuchs. In solcher Zeit spielen die Nerven gewöhnlich bei Frauen eine große Rolle, sie sind empfindsamer, jeder Gedanke, jedes Wort erregt sie tausendmal mehr als früher. Die Vorstellung, ein Kind zur Welt zu bringen, während die Mutter ihr zürnte, wurde für Malwina unerträglich und quälte sie, raubte ihr nachts den Schlaf und zehrte an ihren Kräften. Schließlich ertrug sie es nicht länger. ›Was immer geschehen mag‹, sagte sie, ›ich falle der lieben Mutter zu Füßen.‹ Vergebens versuchten wir sie davon abzuhalten, vergebens rieten wir ihr, sie möge die Geburt abwarten und dann mit dem Kind vor die erzürnte Gräfin treten; vergebens sagten wir ihr, der Anblick eines unschuldigen Säuglings erweiche selbst das härteste Herz – unsere Worte hatten keinerlei Wirkung. Die arme Frau überwand ihre Furcht; eines Morgens, als alle noch schliefen, verließ sie das Haus und begab sich aufs Schloß, stürmte ins Schlafzimmer, wo die Mutter noch im Bett lag, und fiel auf die Knie. Die alte Gräfin war eine sonderbare Frau – eines jener Wesen, bei denen man sich nie auskennt. Keiner weiß, was sie eigentlich wollen, sie selbst wissen es wohl am allerwenigsten. Ihre Geistesverfassung wurde von allem ringsum beeinflußt – von einem beiläufig geäußerten Wort, einem Brief, dem Wetter. 52
Dieselben Ursachen konnten bei ihr je nach den Umständen mal Freude und mal Verdruß hervorrufen. Das erste, was die Tochter mit ihrem Erscheinen bei der Mutter erreichte, war, daß die Gräfin heftig erschrak. Aus tiefem Schlaf gerissen, konnte sie sich nicht vorstellen, was das für eine weißgekleidete Frau war, die sie schluchzend um die Knie faßte und ihr die Decke wegzog. Zunächst hielt die Gräfin die Tochter für ein Gespenst, dann für eine Wahnsinnige, doch schließlich wurde ihr Schrecken zum Verdruß. Weder die Tränen der Tochter noch deren Schwangerschaft rührten sie, kein mütterliches Gefühl regte sich in ihr, der Egoismus triumphierte. ›Hinweg!‹ rief sie. ›Ich kenne dich nicht. Verflucht sollst du sein!‹ Die arme Malwina verlor fast die Besinnung, doch die Mutterschaft verlieh ihr Kraft. Mühsam, aber nachdrücklich stammelte sie: ›Verfluchen Sie mich … doch schonen Sie mein Kind!‹ – ›Ich verfluche dich und dein Kind! ‹ wiederholte die erzürnte Gräfin. ›Es soll dir den Tod bringen!‹ Die arme Malwina sank bewußtlos zu Boden. Diese Ohnmacht beeindruckte die alte Gräfin stärker als alle Worte der Tochter. Sie erschrak aufs neue. Ihre sensiblen Nerven vermochten den Anblick nicht zu ertragen. Flink sprang sie aus dem Bett, läutete, ließ einen Arzt holen, und als die unglückliche Tochter die Augen aufschlug, lag sie bereits in den Armen der Mutter. Alles war verziehen und vergessen … Von nun an wohnte Malwina mit ihrem Mann auf dem Schloß. Bald schenkte sie einem Sohn das Leben. Wohl beschämt über ihr unwürdiges Verhalten, machte es sich die alte Gräfin nun zur Lebensaufgabe, der Tochter mit allem Menschenmöglichen Freude zu bereiten. Einige Male nahm sie feierlich ihren Fluch zurück, ja sie schrieb diese Zurücknahme auf ein Stück Papier und nötigte die Tochter, sie in einem Medaillon um den Hals zu tragen. Die junge Gräfin legte das Medaillon nie ab. Ihr Sohn wuchs heran und trat seinen Militärdienst 53
an, doch bis zum heutigen Tage fühlt sich die alte Gräfin der Tochter gegenüber schuldig und müht sich redlich, sie wie ein kleines Kind zu unterhalten. Ihr Reichtum gibt ihr die nötigen Mittel dazu. Das Schicksal selbst scheint das Vergehen der alten Gräfin wiedergutmachen zu wollen. Unlängst gewannen sie bei einem Prozeß etliche Millionen. Das ermöglichte es ihnen, ihr Schloß mit allem raffinierten Luxus auszustatten. Was gibt es dort nicht alles: einen englischen Garten, eine wunderbare Tafel, einen Keller mit hundertjährigem Ungarwein, Springbrunnen mit kaltem und warmem Wasser, Marmorböden, Wintergärten – mit einem Wort – ein Paradies! Die Bälle und Abendgesellschaften reißen nicht ab. Wenn Sie wollen, stelle ich Sie der Gräfin vor. Man wird Sie begeistert empfangen! Was konnte für junge Offiziere, deren einzige Vergnügungen seit einem halben Jahr Saufgelage mit Kameraden in einer verräucherten Stube waren, angenehmer sein?‹« »Gar nicht übel!« bemerkte der Hauptmann und strich sich den Schnurrbart. »›Am folgenden Tag begaben wir uns zu der Gräfin, wurden von unserer Wirtin vorgestellt und erhielten Gelegenheit, uns zu überzeugen, daß sie nicht zuviel versprochen hatte. In diesem Hause lebte man wahrhaft fürstlich. Jedem von uns wurde ein Einzelzimmer zugewiesen, in dem es alle nur denkbaren Bequemlichkeiten gab: ein wunderschönes Daunenbett, das uns nach dem Strohlager wie ein Wunder dünkte, in jedem Zimmer eine Wanne mit Hähnen für kaltes und heißes Wasser; alle Finessen der Toilette; Diener, die auf Zehenspitzen gingen und einem den kleinsten Wunsch von den Lippen ablasen; jeden Tag ein prächtiges Mittagessen mit edlen Weinen. Die alte Gräfin, die bereits nicht mehr von ihrem Sessel aufstand, war noch liebenswürdig, und die sogenannte junge Gräfin hatte zwar die Vierzig bereits überschritten, war aber frisch, temperamentvoll und munter wie ein fünfzehnjähriges Mädchen. Viele von uns 54
hielten es für ihre Pflicht, ihr mancherlei Artigkeiten zu erweisen, und etliche verliebten sich sogar bis über beide Ohren in sie. Der Graf sah ihr manches nach, er schien sich sogar noch zu freuen, daß seine Frau Gelegenheit zum Kokettieren hatte und die Leidenschaft junger Offiziere erweckte. Ständiges Amüsement und dauernde Zerstreuung waren in diesem Haus eine Notwendigkeit, waren das Leben. Von uns wurde nur eines verlangt: Wir sollten den ganzen Tag essen und trinken und die ganze Nacht hindurch bis zum Umfallen tanzen. Wir lebten wie die Made im Speck. Nach einigen Tagen verdoppelten sich Frohsinn und Vergnügen im Haus. Der Sohn der jungen Gräfin, ein netter, lustiger Bursche, kam auf Urlaub. Ähnlich wie wir hatte auch er lange Zeit in verräucherten Stuben herumgelungert und gab sich nun mit der Unersättlichkeit der Jugend den Vergnügen hin, die ihm der häusliche Herd und der Kreis einer fröhlichen Familie boten. Der Tag, da wir ausrücken mußten, war festgelegt, und die Herrschaften wollten uns zu Ehren einen großartigen Abschiedsball geben. Eingeladen waren die Nachbarn und Nachbarinnen sämtlicher umliegenden Ortschaften, man schickte sich an, den Garten zu illuminieren und ein prächtiges Feuerwerk zu veranstalten. Am Vorabend war inmitten aller Erörterungen hinsichtlich des kommenden Tages (da wir fast zum Haus gehörten, nahmen wir an allen wirtschaftlichen Fragen regen Anteil) von Gespenstern die Rede, wie auch jetzt gerade. Die junge Gräfin erinnerte daran, daß es in dem Schloß einen Raum gäbe, der von jeher das Privleg genieße, alle Bewohner der Umgebung durch mancherlei schreckliche Laute und Erscheinungen in Furcht zu versetzen. Ebendiesen Raum bewohnte zur Zeit aus Platzmangel der Sohn der Gräfin. Lachend versicherte dieser, bislang bewirkten die Hausgeister bei ihm nur eines: Sie versenkten ihn in bleiernen Schlaf. Wir lachten mit ihm und suchten dann unsere Schlafräume auf. Am folgenden 55
Tag kamen zahlreiche Gäste ins Schloß. Wir begannen fast schon um zehn Uhr morgens zu tanzen, tanzten bis zum Mittagessen und nach dem Essen bis Mitternacht. Keiner dachte daran, daß wir uns am nächsten Tag um fünf schon aufs Pferd setzen mußten. Doch um der Wahrheit die Ehre zu geben: Gegen Mitternacht waren wir völlig erschöpft und bemerkten nicht ohne Erleichterung, daß die Gäste so um die erste Stunde herum allmählich aufbrachen. Die Zimmer leerten sich, und wir wollten uns gleichfalls in unsere Schlaf räume begeben; doch die junge Gräfin, die vierundzwanzig Stunden Tanz nicht mehr anstrengten, als ein Glas Wasser auszutrinken, bat uns immer wieder inständig, die Damen zum Walzer aufzufordern, um den Aufbruch der Gäste hinauszuzögern. Wir boten unsere letzten Kräfte auf, sahen uns jedoch schließlich genötigt, die Gräfin zu bitten, uns verabschieden zu dürfen; dabei beriefen wir uns auf ihren Sohn, der schon längst in sein Schlafzimmer gegangen war. »Oh«, sagte die Gräfin, »weshalb nehmen Sie sich diesen Faulpelz zum Vorbild? Man müßte ihm für seine Trägheit eine Lehre erteilen! Wie kann man schlafen gehen, wenn im Saal noch so viele liebreizende Damen sind? Kommen Sie!« Der junge Mann lag in dem leichten Schlummer, der einen gewöhnlich nach einem unruhig verbrachten Tag befällt. Das Quietschen der Tür weckte ihn. Doch wie groß war sein Erstaunen, als er beim bleichen Schein der Nachtlampe eine Schar weißer Gespenster erblickte, die sich seinem Bett näherten! Verschlafen griff er nach seiner Pistole und schrie: »Hinweg, oder ich schieße!«, doch das Gespenst, das vorangegangen war, kam immer näher, es sah so aus, als wollte es ihn mit weit ausgebreiteten Armen umfangen. War der Schreck daran schuld oder tat er es im Halbschlaf – der junge Mann spannte den Hahn, und ein Schuß ertönte … »Ach, ich habe vergessen, das Medaillon meiner lieben Mut56
ter anzulegen!« rief Malwina im Fallen. Wir alle, verkleidet als Gespenster, stürzten auf sie zu, hoben das Laken … Ihr Gesicht war so bleich, daß man es nicht wiedererkannte – sie war tödlich verwundet. In diesem Augenblick verkündete uns ferner Trommelwirbel, daß das Regiment bereits ausrückte. Wir verließen das leidtragende Haus, in dem wir so angenehme Tage verbracht hatten. Ich weiß nicht, wie alles endete. Wenn ich auch noch nie Gespenster sah, so war ich doch jedenfalls eines, und das ist schließlich auch etwas. Alles, was über Gespenster erzählt wird, ist so ähnlich. Gott weiß, was heute über diesen Vorfall fantasiert wird, dabei war alles so einfach, wie Sie sehen.‹ Der Erzähler lächelte. In diesem Augenblick trat ein junger Mann, der die Geschichte mit großer Aufmerksamkeit verfolgt hatte, zu ihm. ›Sie haben diese Begebenheit sehr genau wiedergegeben,‹ sagte er, ›ich kenne sie, denn ich selber gehöre jener Familie an, in der sich das zugetragen hat. Doch Sie wissen eines nicht: Die Gräfin erfreut sich bis zum heutigen Tag bester Gesundheit, und nicht sie, sondern tatsächlich irgendein Gespenst, das auch heute noch im Schloß spukt, hat Sie in das Zimmer ihres Sohnes geführt.« Der Erzähler erbleichte. Der junge Mann fuhr fort: ›Dieses Ereignis wurde auf mancherlei Art gedeutet, ließ sich aber durch nichts erklären. Bemerkenswert ist nur, daß alle, die davon erzählten, binnen zwei Wochen starben.« Nach diesen Worten nahm der junge Mann seinen Hut und verließ das Zimmer. Der Erzähler wurde noch bleicher. Der überzeugende kalte Ton des jungen Mannes hatte ihn offensichtlich bestürzt. Ich muß gestehen, wir alle teilten dieses Gefühl und verstummten unwillkürlich. Man bemühte sich rasch, ein anderes Gespräch in Gang zu bringen, doch es kam nicht zustande, und bald gingen wir auseinander. Nach einigen Tagen erfuhren wir, daß derjenige, der über die Gespenster gespottet hatte, erkrankt sei, und 57
zwar gefährlich. Zu seinen physischen Qualen gesellten sich Trugbilder der Fantasie. Ständig hatte er eine bleiche Frau mit einem weißen Laken vor Augen, sie zog ihn vom Bett, und – stellen Sie sich vor! – genau zwei Wochen später«, setzte Irinej Modestowitsch mit tragischer Stimme hinzu, »gab es bei Marja Sergejewna einen Gast weniger!« »Seltsam!« bemerkte der Hauptmann. »Höchst seltsam!« Der Sektionschef, ein Petersburger, den nichts mehr in Erstaunen zu versetzen vermochte, hörte die ganze Geschichte mit einer Miene an, als läse er ein Kanzleischriftstück über die Zustellung von Terminlisten. »Daran ist gar nichts verwunderlich«, sagte er hochmütig, »so manches kommt beim Menschen von der Einbildung, ja gerade von der Einbildung. Auch ich hatte mal einen Beamten, der machte einen ganz passablen Eindruck und bat dauernd um eine feste Anstellung. Um ihn loszuwerden, hieß ich ihn ein altes Archiv sichten und sagte ihm, ich würde ihm dann eine Stelle verschaffen, wenn er das Archiv in Ordnung gebracht habe. Und da hat der Arme freiwillig das Joch auf sich genommen – ein Jahr verging, noch eins –, Tag und Nacht wühlte er in seinem Archiv, schließlich bekam ich Mitleid mit ihm und wollte schon seinetwegen beim Direktor vorstellig werden, als man mir plötzlich sagte, daß mit meinem Archivarius etwas Schlimmes passiert sei. Ich ging in den Raum, in dem er arbeitete – er war nicht da. Plötzlich sehe ich: Er ist auf das oberste Regalbrett geklettert, hockt dort zwischen Aktenstapeln und hält ein Schriftstück in der Hand. ›Was haben Sie denn?‹ schreie ich ihm zu. ›Kommen Sie herunter!‹ Was meinen Sie, was er mir geantwortet hat? – ›Ich kann nicht, Iwan Grigorjitsch, ich kann wirklich nicht – ich bin ein abgeschlossener Vorgang!‹« Der Sektionschef lachte schallend; Irinej Modestowitsch aber traten Tränen in die Augen. »Ihre Geschichte ist noch trauriger als meine«, sagte er. 58
Der Hauptmann, der der Kanzleigeschichte wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, schien sich noch immer Gedanken über die Gespenstererzählung zu machen und fragte Irinej Modestowitsch schließlich, als sei er aus tiefem Schlaf erwacht: »Haben Sie eigentlich bei Ihrer Marja Sergejewna Punsch getrunken?« »Nein«, erwiderte Irinej Modestowitsch. »Seltsam«, sagte der Hauptmann, »höchst seltsam!« Inzwischen hielt die Postkutsche, und wir stiegen aus. »Ist der Erzähler denn tatsächlich gestorben?« fragte ich. »Das habe ich nie behauptet«, sagte Irinej Modestowitsch rasch mit seiner Piepsstimme, lächelte und stelzte davon wie gewöhnlich …
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Das Haus des Richters von Bram Stoker Der Klassiker der Horrorliteratur, Bram Stokers ›Dracula‹, ist so oft aufgelegt und in so viele Sprachen übersetzt worden, daß man ohne Übertreibung sagen kann, dieser Vampirroman habe den Namen seines Autors unsterblich gemacht. Nicht weniger beliebt waren die schauerlichen Geschichten des irischen Schriftstellers, der 1847 bei Dublin geboren wurde und 1912 in London starb. Stoker war zunächst im Staatsdienst tätig, arbeitete nebenbei als Journalist und managte den ShakespeareDarsteller Henry Irving, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. ——————
Als der Zeitpunkt seines Examens näher rückte, beschloß Malcolm Malcolmson, irgendwohin zu fahren, wo er ungestört lernen konnte. Er fürchtete die Anziehungskraft der Seebäder, und er fürchtete auch die völlige Einsamkeit auf dem Land, deren Zauber er schon früher erlegen war; deshalb machte er sich auf die Suche nach einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt, in der ihn nichts ablenken würde. Er vermied es, seine Freunde um Rat zu bitten, denn jeder würde ihm nur eine Stadt empfehlen, die er kannte und in der er Freunde hatte. Da Malcomson seinen Freunden aus dem Weg gehen wollte, hatte er nicht die Absicht, sich von ihren Bekannten belästigen zu lassen, und machte sich deshalb selbst auf die Suche. Er packte eine Reisetasche mit Kleidungsstücken und allen Büchern, die er benötigen würde, und löste eine Fahrkarte nach dem ersten Ort auf dem Fahrplan für Personenzüge, den er nicht kannte. Als er nach dreistündiger Fahrt in Benchurch ausstieg, war er 60
davon überzeugt, seine Spuren so gut verwischt zu haben, daß ihn niemand mehr daran hindern konnte, seine Studien in aller Ruhe fortzusetzen. Er ging geradewegs in den einzigen Gasthof dieses verschlafenen Nestes und nahm dort ein Zimmer für die Nacht. Benchurch war alle drei Wochen einmal zum Bersten überfüllt, wenn der Markt stattfand, aber an den übrigen zwanzig Tagen war es so reizvoll wie ein Stück Wüste. Am Tag nach seiner Ankunft hielt Malcolmson nach einem Quartier Ausschau, das noch mehr Ruhe als der ohnehin schon totenstille Gasthof The Good Traveller bieten sollte. Nur ein Haus regte seine Fantasie an, und es erfüllte bestimmt alle Vorstellungen von Ruhe und Abgeschiedenheit; Ruhe war eigentlich ein zu schwaches Wort dafür – Verlassenheit wäre richtiger gewesen, weil es die trostlose Einsamkeit besser beschrieb. Das sehr massiv gebaute alte Haus mit dem wuchtigen Giebel hatte ungewöhnlich kleine Fenster, die noch dazu höher als üblich lagen, und war von einer hohen Mauer umgeben. Bei näherer Betrachtung wirkte das Gebäude tatsächlich nicht wie ein gewöhnliches Wohnhaus, sondern eher wie eine Festung. Aber alles das gefiel Malcolmson. »Genau danach habe ich immer gesucht«, überlegte er, »und wenn ich hier wohnen kann, bin ich schon zufrieden.« Seine Begeisterung nahm noch zu, als er feststellte, daß das Gebäude zweifellos unbewohnt war. Auf dem Postamt erfuhr er den Namen des Hausverwalters, der sichtlich überrascht war, daß jemand einen Teil des alten Hauses mieten wollte. Mr. Carnford, der dortige Rechtsanwalt und Hausverwalter, war ein freundlicher alter Herr, der offen zugab, wie sehr er sich darüber freute, daß jemand bereit war, in das Haus zu ziehen. »Um ganz ehrlich zu sein«, sagte er, »wäre ich sogar im Auftrag der Eigentümer bereit, jemandem das Haus für einige Jahre mietfrei zu überlassen, damit die Leute hier sich wieder daran gewöhnen, es bewohnt zu sehen. Es steht schon so lange leer, 61
daß sich in diesem Zusammenhang ein unsinniges Vorurteil gebildet hat, das am besten dadurch widerlegt wird, daß jemand das Haus bewohnt – zum Beispiel ein gelehrter junger Mann wie Sie, der dort eine Weile in Frieden leben und arbeiten will.« Malcolmson hielt es für überflüssig, den Verwalter nach dem ›unsinnigen Vorurteil‹ zu fragen; er wußte, daß er notfalls auch von anderer Seite genügend Informationen darüber einholen konnte. Er bezahlte die Miete für ein Vierteljahr im voraus, erhielt eine Quittung, erfuhr den Namen einer Frau, die vermutlich bereit war, seinen Haushalt zu versorgen, und ging mit den Schlüsseln in der Tasche davon. Er suchte die Wirtin des Gasthofs auf, die zuvorkommend und hilfsbereit war, und bat sie um ihren Rat, weil er nicht wußte, welche Vorräte er brauchen würde. Die gute Frau schlug vor Überraschung die Hände über dem Kopf zusammen, als er ihr erzählte, wo er sich eingemietet hatte. »Doch nicht in das Haus des Richters!« sagte sie und wurde dabei blaß. Malcolmson beschrieb ihr die Lage des Hauses, dessen Namen er nicht kannte. Die Wirtin antwortete daraufhin: »Ja, ja, gewiß – eben das meine ich? Das ist allerdings das Haus des Richters, junger Herr.« Er bat sie, ihm mehr von diesem Haus zu erzählen, weshalb es so genannt wurde und was dagegen vorzubringen sei. Daraufhin berichtete sie, das Haus werde allgemein so genannt, weil dort vor vielen Jahren – vor wie vielen Jahren das gewesen war, konnte sie nicht sagen, da sie aus einer anderen Gegend nach Benchurch gekommen war – ein Richter gewohnt hatte, der wegen seiner strengen Urteile und seiner Feindseligkeit gegenüber Angeklagten allgemein verhaßt gewesen war. Sie wußte jedoch nicht, was gegen das Haus selbst vorzubringen war, denn sie hatte nie eine Auskunft erhalten, obwohl sie 62
oft genug danach gefragt hatte; nach Überzeugung der Einwohner von Benchurch gab es dort jedoch irgend etwas, und sie selbst würde nicht für alles Geld in Drinkwaters Bank eine Stunde allein in diesem Haus verbringen. Dann entschuldigte sie sich bei Malcolmson, falls ihn ihr Geschwätz beunruhigt haben sollte. »Es ist nicht recht von mir, Sir, aber daß Sie – nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich so frei bin – dort allein hausen wollen … Wären Sie mein Junge – und das dürfen Sie mir nicht übelnehmen –, würden Sie keine Nacht dort verbringen, selbst wenn ich mit eigener Hand die große Alarmglocke auf dem Dach läuten müßte!« Die gute Frau sprach so ernst und sichtlich besorgt, daß Malcolmson nicht nur erheitert, sondern auch gerührt war. Er versicherte ihr freundlich, wie sehr er ihr Interesse zu schätzen wisse, und fügte hinzu: »Aber Sie brauchen sich meinetwegen keine Sorgen zu machen, meine liebe Mrs. Witham. Ein Mann, der Mathematik an der Universität von Cambridge studiert, ist zu beschäftigt, um sich von einem seltsamen Etwas stören zu lassen, und seine Arbeit ist zu nüchtern, als daß er noch Sinn für irgendwelche Mysterien haben könnte. Nein, die Mathematik allein ist schon geheimnisvoll genug für mich!« Mrs. Witham übernahm es freundlicherweise, für seine Einkäufe zu sorgen, und Malcolm son machte sich auf den Weg zu der alten Frau, die ihm der Anwalt empfohlen hatte. Als er einige Stunden später mit ihr zu dem Haus zurückkehrte, traf er dort Mrs. Witham in Begleitung mehrerer Jungen und Männer, die verschiedene Pakete trugen, und einen Polsterer, der ein Bett auf seinem Handkarren hatte. Mrs. Witham war der Meinung, Stühle und Tische seien vielleicht ohne weiteres benutzbar, aber ein Bett, das unter Umständen fünfzig Jahre lang nicht mehr gelüftet worden sei, dürfte kaum das richtige Lager für junge Glieder sein. Sie war of63
fenbar neugierig auf das Innere des Hauses, und obwohl sie sich derart vor dem geheimnisvollen Etwas fürchtete, daß sie Malcolmsons Arm bei jedem Geräusch umklammerte, besichtigte sie das Gebäude vom Dachboden bis zum Keller. Nachdem Malcolmson das Haus inspiziert hatte, beschloß er, den großen Speisesaal wohnlich einzurichten, der seinen Ansprüchen völlig genügte; Mrs. Witham und die Zugehfrau, eine Mrs. Dempster, machten sich sofort an die Arbeit. Als die Körbe und Pakete ausgepackt wurden, stellte Malcolmson fest, daß die Wirtin ihn mit genügend Vorräten für einige Tage versehen hatte. Bevor Mrs. Witham ging, äußerte sie alle möglichen guten Wünsche; an der Tür blieb sie nochmals stehen und sagte: »Und da der Raum so groß und zugig ist, Sir, wäre es vielleicht keine schlechte Idee, nachts einen dieser Wandschirme ums Bett zu stellen – obwohl ich selbst vor Schreck sterben würde, wenn ich mit all diesen … diesen Wesen eingeschlossen wäre, die ihre Köpfe über den Schirm stecken würden, um mich zu beobachten!« Diese Vorstellung war zuviel für ihre schwachen Nerven, und sie ergriff rasch die Flucht. Mrs. Dempster rümpfte überlegen die Nase, als die Wirtin verschwand, und stellte fest, sie selbst fürchte sich nicht vor allen Gespenstern im ganzen Königreich. »Ich kann Ihnen sagen, was dahintersteckt, Sir«, behauptete sie. »Gespenster sind alle möglichen Dinge – nur keine Gespenster! Ratten und Mäuse und Käfer; quietschende Türen und lose Dachziegel und zerbrochene Fensterscheiben und lockere Schubladengriffe, die draußenbleiben, wenn man an ihnen zieht, und dann mitten in der Nacht herabfallen. Sehen Sie sich die Wandtäfelung dieses Zimmers an! Sie ist alt – Hunderte von Jahren alt! Glauben Sie etwa, dahinter gebe es keine Ratten und Schaben? Und bilden Sie sich ein, Sir, daß Sie nichts davon sehen werden. Ratten sind Gespenster, das sage ich Ihnen, und Gespenster sind Ratten – glauben Sie nur nichts anderes!« 64
»Mrs. Dempster«, sagte Malcolmson ernsthaft und machte ihr eine höfliche Verbeugung, »Sie wissen mehr als mancher andere. Lassen Sie mich noch hinzufügen – als Zeichen meiner Hochachtung für ihren unzweifelhaft gesunden Menschenverstand –, daß ich Ihnen bei meiner Abreise dieses Haus zur Benutzung überlassen werde, so daß Sie die beiden letzten Monate hier abwohnen können, da vier Wochen für meine Zwecke genügen.« »Besten Dank, Sir«, antwortete sie, »aber ich kann keine Nacht außer Haus verbringen. Ich lebe im Greenhow-Stift, und wenn ich mein Zimmer eine Nacht lang nicht benütze, verliere ich meinen Lebensunterhalt. Die Bestimmungen sind äußerst streng, und es gibt zu viele, die auf einen frei werdenden Platz warten, als daß ich in dieser Beziehung etwas riskieren dürfte. Wäre das nicht, Sir, würde ich gern hierherkommen und Ihnen während Ihres Aufenthalts Gesellschaft leisten.« »Gute Frau«, erwiderte Malcolmson hastig, »ich bin absichtlich in dieses Haus gezogen, um völlige Ruhe zu haben; und Sie dürfen mir glauben, daß ich dem seligen Greenhow dankbar bin, daß er auf so wunderbare Weise dafür gesorgt hat, daß ich keine Gelegenheit habe, dieser heftigen Versuchung zu erliegen!« Die Alte lachte krächzend. »Ah, die jungen Herren«, sagte sie, »Sie fürchten sich vor nichts, und ich glaube, daß Sie hier alle Einsamkeit finden werden, die Sie suchen.« Als Malcolmson von seinem Spaziergang zurückkehrte – er nahm stets eines seiner Bücher mit, um darin zu lesen –, war das Zimmer gekehrt und aufgeräumt. In dem alten Kamin brannte ein lustiges Feuer, die Lampe war angezündet, und auf dem Tisch stand ein Abendessen für ihn bereit, für das Mrs. Witham vorgesorgt hatte. »Das ist wahre Behaglichkeit«, meinte er und rieb sich die Hände. Nachdem er gegessen und das Tablett ans andere Tischende 65
geschoben hatte, holte er seine Bücher heran, legte Holz aufs Feuer, beschnitt den Lampendocht und vertiefte sich ernsthaft in sein Studium. Er arbeitete ohne Pause bis gegen elf Uhr, schob dann die Bücher beiseite, um Feuer und Lampe zu versorgen und sich eine Tasse Tee zu machen. Tee war sein Lieblingsgetränk, und er hatte es sich angewöhnt, abends noch eine Tasse zu trinken, wenn er bis in die Nacht hinein arbeitete. Die Ruhepause war ein großer Luxus für ihn, und er genoß sie ausgiebig. Das Feuer im Kamin flackerte, sprühte Funken und warf seltsame Schatten an die Wände des großen alten Raumes; Malcolmson trank langsam seinen heißen Tee und überlegte, wie unendlich weit er doch in diesem Augenblick von seinen Artgenossen entfernt sei. Dabei fiel ihm erstmals auf, welchen Lärm die Ratten machten. »Das können sie nicht schon vorhin getan haben«, überlegte er, »denn sonst wäre es mir bestimmt aufgefallen!« Als der Lärm wenig später zunahm, wußte er bestimmt, daß es sich um ein neues Geräusch handelte. Die Gegenwart eines Fremden, das Feuer und der Lichtschein der Lampe hatten die Ratten offenbar zunächst erschreckt; im Lauf der Zeit waren sie jedoch wieder kühner geworden und führten sich nun wie gewöhnlich auf. Wie geschäftig sie waren! Und diese seltsamen Geräusche! Auf und ab hinter der alten Wandtäfelung, über die Decke und unter dem Fußboden – überall rannten und nagten und kratzten sie! Malcolmson lächelte vor sich hin, als ihm Mrs. Dempsters Ausspruch einfiel: »Ratten sind Gespenster, und Gespenster sind Ratten!« Nun setzte die anregende Wirkung des Tees ein, und er freute sich schon jetzt auf weitere Stunden angestrengter und lohnender Arbeit; bevor er jedoch damit begann, gestattete er sich den Luxus eines kurzen Rundgangs durch das Zimmer. Er nahm die Lampe in eine Hand, ging langsam durch den Raum und fragte sich, weshalb ein so reizvolles und schönes Haus so 66
lange vernachlässigt worden war. Das Schnitzwerk der Wandtäfelung war geschmackvoll; die Umrahmung von Fenstern und Türen war sogar selten schön und künstlerisch wertvoll. An den Wänden hingen einige alte Bilder, die aber mit einer so dicken Staubschicht bedeckt waren, daß Malcolmson keine Details erkennen konnte, obwohl er die Lampe hoch über den Kopf hob. Hier und dort sah er die spitze Nase einer Ratte aus Löchern und Winkeln herausragen, so daß die Augen im Lampenlicht glitzerten, aber die Tiere verschwanden jeweils mit einem schrillen Quietschen. Am meisten interessierte er sich jedoch für das Seil der großen Alarmglocke auf dem Dach, das in einer Ecke rechts vom Kamin herabhing. Er zog einen großen geschnitzten Lehnstuhl ans Feuer und trank dort seine letzte Tasse Tee. Dann schürte er nochmals das Feuer, setzte sich wieder an den Tisch, so daß er den Kamin links neben sich hatte, und arbeitete weiter. Zunächst störte ihn das fortwährende Hinundherlaufen der Ratten, aber er gewöhnte sich an diesen Lärm, wie man sich an das Ticken einer Uhr oder das Rauschen eines Wasserfalls gewöhnen kann; und er konzentrierte sich so auf seine Arbeit, daß er nur an die Aufgabe dachte, die er eben zu lösen versuchte. Als er plötzlich wieder aufsah, ohne die Aufgabe inzwischen gelöst zu haben, lag die eigenartige Stimmung der Stunde vor Tagesanbruch in der Luft, in der allerlei zweifelhafte Erscheinungen ihr Unwesen treiben. Der Lärm der Ratten war verstummt. Malcolmson hatte sogar den Eindruck, er müsse vor kurzer Zeit verstummt sein und dadurch seine Aufmerksamkeit erregt haben. Das Feuer war zusammengesunken und niedergebrannt, glühte jedoch weiterhin dunkelrot. Als Malcolmson zum Kamin hinübersah, erschrak er trotz seiner Kaltblütigkeit. Auf dem großen Lehnstuhl rechts neben dem Kamin saß eine gigantische Ratte und starrte ihn unbeweglich mit funkelnden Augen an. Er machte eine Armbewegung, als wolle er sie ver67
scheuchen, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Dann bewegte er die Hand, als wolle er etwas werfen. Die Ratte blieb sitzen, zeigte aber wütend ihre großen weißen Zähne, und ihre grausamen Augen glitzerten im Lampenschein geradezu rachsüchtig auf. Malcolmson war überrascht, griff nach dem Schüreisen am Kamin und wollte die Ratte damit erlegen. Bevor er jedoch den ersten Stoß führen konnte, sprang das Tier mit einem Quietschen, aus dem erbarmungsloser Haß zu sprechen schien, zu Boden, kletterte das Seil der Alarmglocke hinauf und verschwand in der Dunkelheit oberhalb des Lichtkreises der Lampe mit dem grünen Schirm. Seltsamerweise machten die Ratten hinter der Wandtäfelung sich erst jetzt wieder bemerkbar. Malcolmson dachte inzwischen nicht mehr an die ungelöste Aufgabe; und als draußen ein schriller Hahnenschrei ertönte, ging er zu Bett. Er schlief so fest, daß er nicht einmal wach wurde, als Mrs. Dempster gekommen war, um aufzuräumen. Erst als sie überall Ordnung gemacht, seinen Frühstückstisch gedeckt und an den Wandschirm geklopft hatte, der sein Bett umgab, wachte er endlich auf. Da er in der vergangenen Nacht lange angestrengt gearbeitet hatte, war er noch müde, aber eine Tasse starker Tee machte ihn bald wieder munter; er brach zu seinem Morgenspaziergang auf und nahm nicht nur ein Buch, sondern auch einige Sandwiches mit, falls er keine Lust hatte, vor dem Abendessen zurückzukehren. Er fand einen ruhigen Spazierweg außerhalb der Stadt und verbrachte dort den größten Teil des Tages unter hohen Ulmen mit der Lektüre seines Lehrbuchs. Auf dem Rückweg machte er Mrs. Witham einen Besuch, um ihr für ihre Feundlichkeit zu danken. Als sie ihn kommen sah, ging sie ihm entgegen und bat ihn herein; dann betrachtete sie ihn aufmerksam, schüttelte den Kopf und sagte: »Sie dürfen es nicht übertreiben, Sir. Sie sind heute blasser, 68
als Sie sein sollten. Zuwenig Nachtruhe und zuviel geistige Anstrengung ist für keinen Mann gut! Aber erzählen Sie mir doch, Sir, wie haben Sie die Nacht verbracht? Gut, hoffe ich! Sie dürfen mir glauben, Sir, daß ich erleichtert war, als Mrs. Dempster mir heute morgen berichtete, Sie seien gesund und munter aufgewacht, als sie Sie weckte.« »Oh, meinetwegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, antwortete er lächelnd. »Von Gespenstern habe ich bisher noch nichts gemerkt. Nur die Ratten sind unangenehm, weil sie keine Minute Ruhe geben. Ein bösartig aussehender alter Teufel hat sich sogar auf meinem Stuhl am Feuer niedergelassen, und als ich ihn mit dem Schüreisen verjagen wollte, ist er das Glockenseil emporgeklettert und irgendwo über mir in der Wand oder an der Decke verschwunden – ich habe sein Schlupfloch nicht gesehen, dazu war es nicht hell genug.« »Gott sei uns gnädig«, flüsterte Mrs. Witham, »ein alter Teufel – und auf dem Stuhl am Feuer! Nehmen Sie sich in acht, Sir, nehmen Sie sich in acht! Oft wird ein wahres Wort im Scherz gesprochen.« »Wie soll ich das verstehen? Das begreife ich nicht, Mrs. Witham.« »Ein alter Teufel! Vielleicht der alte Teufel. Nein, Sir, Sie brauchen nicht zu lachen«, denn Malcolmson war in herzhaftes Gelächter ausgebrochen. »Ihr jungen Leute seid nur allzugern bereit, über Dinge zu lachen, die uns Alten einen kalten Schauer über den Rücken jagen. Ach, lassen wir das, Sir, denken Sie nicht mehr daran! Gott gebe, daß Sie Ihr Leben lang lachen können – das wünsche ich Ihnen aus ganzem Herzen!« Die gute Frau ließ sich so von seiner Heiterkeit anstrecken, daß sie ihre Befürchtungen im Augenblick vergaß. »Verzeihen Sie!« bat Malcolmson jetzt. »Halten Sie mich bitte nicht für unhöflich, aber der Gedanke war einfach zuviel für mich – daß der alte Teufel selbst gestern abend auf dem 69
Stuhl gesessen haben sollte!« Und bei dieser Vorstellung lachte er wieder. Dann ging er zum Abendessen nach Hause. An diesem Abend begannen die Ratten früher zu lärmen; sie hatten sogar schon vor Malcolmsons Eintreffen damit begonnen und nur eine kurze Pause eingelegt, bis sie sich wieder an seine Gegenwart gewöhnt hatten. Nach dem Essen saß er eine Weile am Kamin und rauchte; dann räumte er den Tisch ab und arbeitete wieder. Diesmal störten ihn die Ratten mehr als am Abend zuvor. Wie sie auf und ab, kreuz und quer über Wände und Decke kletterten! Wie sie quietschten und kratzten und nagten! Wie sie allmählich kühner wurden und sich weiter aus ihren Schlupfwinkeln hervorwagten, bis ihre Augen wie winzige Lampen glitzerten, während der Feuerschein über die Wände flackerte. Aber Malcolmson hatte sich inzwischen an sie gewöhnt und sah keine böse Absicht in ihren Augen; nur ihre Verspieltheit war auffällig. Die Kühnsten unter ihnen wagten gelegentlich Ausfälle über den Fußboden oder entlang der Wände. Störten sie dabei Malcolmson, brauchte er nur von Zeit zu Zeit mit der flachen Hand auf den Tisch zu schlagen oder laut »Husch!« zu sagen, um sie augenblicklich in ihre Schlupfwinkel zurückzutreiben. Und so verstrich der erste Teil der Nacht; und Malcomson konzentrierte sich trotz des Lärms mehr und mehr auf seine Arbeit. Plötzlich hielt er jedoch inne, denn er spürte wie am vergangenen Abend ein jähes Schweigen auf sich lasten. Nirgends war ein noch so leises Nagen oder Kratzen oder Quietschen zu hören. Das Zimmer war still wie ein Grab. Er sah instinktiv zu dem Stuhl hinüber, der noch am Feuer stand. Und dann lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Auf dem alten Lehnstuhl am Kamin saß wieder die gleiche große Ratte und starrte ihn unentwegt mit glühenden Augen an. Malcolmson nahm das nächste Buch, eine Logarithmentafel, 70
zur Hand und warf es nach dem Tier. Er hatte in der Eile schlecht gezielt, und die Ratte bewegte sich nicht, so daß der Angriff mit dem Schüreisen wiederholt wurde; auch diesmal kletterte die Ratte das Glockenseil empor, als sie sich ernsthaft verfolgt sah. Seltsamerweise begannen die übrigen Ratten ihren Lärm von neuem, sobald die große Ratte verschwunden war. Malcolmson hatte wieder nicht gesehen, wohin sie sich geflüchtet hatte, denn der grüne Schirm seiner Lampe begrenzte den Lichtschein nach oben, und das Feuer im Kamin war fast niedergebrannt. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß es fast Mitternacht war; deshalb bedauerte er diese Ablenkung nicht weiter, sondern schürte das Feuer und bereitete sich seinen gewohnten Tee. Er hatte viel gearbeitet und war gut vorangekommen, was seiner Meinung nach eine Zigarette wert war; er nahm also in dem großen Lehnstuhl am Feuer Platz und rauchte behaglich. Dabei überlegte er, daß es vielleicht gut wäre, den Schlupfwinkel der großen Ratte zu kennen, denn er schmiedete bereits Pläne für den kommenden Tag, in denen eine Rattenfalle eine gewisse Rolle spielte. Deshalb zündete er eine zweite Lampe an und stellte sie so auf, daß sie die Ecke rechts des Kamins beleuchtete. Dann stapelte er alle seine Bücher neben sich auf, um sie nach dem Ungeziefer werfen zu können. Schließlich nahm er das Ende des Glockenseils auf und legte es auf den Tisch unter die Lampe. Dabei bemerkte er, wie geschmeidig das Seil war – trotz seiner Dicke, und obwohl es schon lange niemand mehr benützt hatte. Damit könnte man einen Mann hängen, dachte er bei sich. Als diese Vorbereitungen getroffen waren, sah er sich um und meinte zufrieden: »Schön, mein Freund, diesmal werden wir wohl mehr über dich erfahren!« Er begann wieder zu arbeiten, und obwohl ihn der Lärm, den die Ratten machten, zunächst etwas störte, war er bald völlig in seine Aufgaben vertieft. 71
Plötzlich wurde ihm seine Umgebung ins Bewußtsein zurückgerufen. Diesmal war es vielleicht nicht nur das jähe Schweigen, das seine Aufmerksamkeit erregte, sondern auch ein leichtes Zucken des Glockenseils, durch das die Lampe ins Schwanken geriet. Malcolmson bewegte sich nicht, sondern sah nur zu seinen Büchern hinüber, die sich in Reichweite befanden, und folgte dann dem Seil mit den Augen. Dabei erkannte er die große Ratte, die sich vom Seil auf den Lehnstuhl fallen ließ und ihn jetzt von dort aus anstarrte. Er hob ein Buch mit der rechten Hand, zielte sorgfältig und warf es nach der Ratte, die jedoch dem Wurfgeschoß mit einer raschen Bewegung auswich. Er schleuderte ein Buch nach dem anderen in die gleiche Richtung, ohne das Tier zu treffen. Als er schließlich mit dem letzten Buch in der Hand wurfbereit stand, quiekte die Ratte und schien Angst zu haben. Dies bekräftigte Malcolmsons Entschlossenheit, und das Buch flog und traf die Ratte klatschend an der Seite. Das Tier stieß ein entsetztes Quietschen aus, warf seinem Verfolger einen haßerfüllten Blick zu, rannte die Stuhllehne hinauf, erreichte mit einem Satz das Glockenseil und kletterte blitzschnell daran empor. Die Lampe geriet heftig ins Schwanken, besaß aber einen schweren Fuß und blieb stehen. Malcolmson folgte der Ratte mit den Blicken und sah im Licht der zweiten Lampe, daß sie auf eine Leiste der Wandtäfelung sprang und von dort aus durch ein Loch in einem der großen Bilder verschwand, dessen Oberfläche unter einer dicken Schmutz- und Staubschicht unkenntlich war. »Morgen früh sehe ich mir den Schlupfwinkel meines Freundes näher an«, sagte der Student, während er sich bückte, um seine Bücher aufzuheben. »Das dritte Bild vom Kamin aus; ich werde es nicht vergessen.« Er hob die Bücher nacheinander auf und machte seine Bemerkungen dazu. »Kegelschnitte hat ihn nicht weiter gestört, Infinitesimalrechnung, Leitfaden der 72
Geometrie, Einführung in die Höhere Mathematik und die Logarithmentafel ebenfalls nicht. Nur das Buch, das ihn erwischt hat!« Malcolmson nahm es zur Hand und warf seinen Blick darauf; dabei erschrak er heftig und wurde plötzlich blaß. Er sah sich furchtsam um und zitterte leicht, als er murmelte: »Die Bibel, die meine Mutter mir geschenkt hat! Dieser seltsame Zufall …« Er setzte sich wieder an die Arbeit, und die Ratten in der Wandtäfelung lärmten wie zuvor. Sie störten ihn jedoch nicht; ihre Gegenwart vermittelte Malcolmson vielmehr das angenehme Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Aber er konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren, und nachdem er versucht hatte, eine bestimmte Aufgabe zu lösen, gab er schließlich entmutigt auf und ging zu Bett, als der Tag sich im Osten abzuzeichnen begann. Er schlief unruhig und träumte viel; und als Mrs. Dempster ihn am späten Morgen weckte, schrak er auf und schien einige Minuten lang nicht genau zu wissen, wo er sich befand. »Mrs. Dempster«, sagte er, »wenn ich heute fort bin, holen Sie bitte die Leiter und stauben oder waschen Sie diese Bilder ab – besonders das dritte vom Kamin aus –, denn ich möchte sehen, was sie darstellen.« Nachmittags machte Malcolmson wieder seinen schattigen Spaziergang, arbeitete unterwegs einige Stunden lang mit bestem Erfolg und stattete deshalb Mrs. Witham im Gasthof The Good Traveller in glänzender Laune einen Besuch ab. Im behaglichen Wohnzimmer der Wirtin saß ein Fremder, der ihm als Dr. Thornhill vorgestellt wurde. Mrs. Witham war weniger unbefangen als sonst, und da der Arzt sofort eine ganze Reihe von Fragen zu stellen begann, vermutete Malcolmson ganz richtig, daß seine Anwesenheit nicht zufällig war, deshalb sagte er ohne weitere Einleitung: »Doktor Thornhill, ich bin gern bereit, alle Ihre Fragen zu beantworten, wenn Sie mir zuerst Antwort auf meine Frage geben.« 73
Der Arzt schien überrascht zu sein, lächelte jedoch und erwiderte: »Einverstanden! Was wollten Sie fragen?« »Hat Mrs. Witham Sie gebeten, hierherzukommen, mit mir zu sprechen und mir Ihren guten Rat zu erteilen?« Dr. Thornhill war zunächst verblüfft, und Mrs. Witham wandte sich mit feuerrotem Gesicht ab; der Arzt war jedoch ehrlich und offenherzig genug, um sogleich zu antworten: »Sie haben recht, aber Mrs. Witham wollte es Sie nicht merken lassen. Ich vermute, daß meine tolpatschige Hast Ihren Verdacht erregt hat. Unsere Gastgeberin hat mir erzählt, ihr sei der Gedanke unheimlich, Sie allein in dem großen alten Haus zu wissen, und sie sei zudem der Meinung, Sie tränken zuviel starken Tee. Sie hat mich deshalb gebeten, Ihnen nach Möglichkeit von starkem Tee und nächtlichen Studien abzuraten. Ich war früher selbst ein eifriger Student und fühle mich berechtigt, von der akademischen Freiheit Gebrauch zu machen, indem ich Ihnen meinen guten Rat anbiete, den Sie hoffentlich akzeptieren werden.« Malcolmson streckte lächelnd die Hand aus, die Dr. Thornhill bereitwillig ergriff. »Ich habe Ihnen und Mrs. Witham für Ihre Freundlichkeit zu danken«, sagte er, »und diese Freundlichkeit erfordert eine Gegenleistung von meiner Seite. Ich verspreche Ihnen, keinen starken Tee mehr zu trinken – überhaupt keinen Tee, bis Sie es mir wieder erlauben – und heute spätestens um ein Uhr ins Bett zu gehen. Genügt das?« »Ausgezeichnet«, meinte der Arzt. »Berichten Sie uns nun, was Ihnen in dem alten Haus aufgefallen ist.« Daraufhin schilderte Malcolmson ausführlich die Ereignisse der vergangenen und der vorletzten Nacht. Er wurde dabei gelegentlich von Mrs. Witham unterbrochen, und als er die Episode mit der Bibel erwähnte, machten sich die aufgestauten Empfindungen dieser würdigen Dame in einem lauten Schrei Luft; sie beruhigte sich erst wieder, nachdem ihr ein großes Glas Branntwein mit Wasser verabreicht worden war. 74
Dr. Thornhill hörte mit immer ernsterem Gesichtsausdruck zu, und als Malcolmson seine Erzählung beendete, fragte er: »Die Ratte ist stets das Glockenseil emporgeklettert?« »Ohne Ausnahme.« »Sie wissen vermutlich«, sagte der Arzt nach einer Pause, »um welches Seil es sich dabei handelt?« »Nein!« »Es ist«, sagte Dr. Thornhill langsam und nachdrücklich, »der gleiche Strick, mit dem der Henker die Opfer des richterlichen Zorns vom Leben zum Tod befördert hat!« Hier unterbrach ihn ein zweiter Schrei aus Mrs. Withams Kehle, und er mußte sich ihrer nochmals annehmen. Malcolmson warf inzwischen einen Blick auf die Uhr, stellte fest, daß seine gewohnte Abendessenszeit heranrückte, und ging deshalb, bevor Mrs. Witham sich völlig erholt hatte. Als die gute Frau wieder zu sich kam, überfiel sie den Arzt förmlich mit peinlichen Fragen und erkundigte sich vor allem, was er sich dabei gedacht habe, dem jungen Mann so schreckliche Ideen in den Kopf zu setzen. »Dort gibt es schon genug, was ihn nervös machen kann«, fügte sie hinzu. »Meine liebe Mrs. Witham, ich hatte selbstverständlich einen bestimmten Grund dafür!« antwortete Dr. Thornhill. »Ich wollte seine Aufmerksamkeit auf das Seil lenken und dort fixieren. Vielleicht ist er überreizt und hat zuviel gearbeitet, obwohl ich zugeben muß, daß er geistig und körperlich völlig gesund zu sein scheint – aber andererseits die Ratten … und diese Erwähnung des Teufels.« Der Arzt schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Ich hätte ihm gern angeboten, eine Nacht bei ihm zu verbringen, aber das hätte ihn vermutlich beleidigt. Vielleicht hat er nachts seltsame Angstzustände oder Halluzinationen; sollte das der Fall sein, möchte ich, daß er an dem Seil zieht. Obwohl er ganz allein ist, werden wir dadurch gewarnt und können ihn hoffentlich rechtzeitig erreichen, um ihm zu helfen. Ich habe 75
die Absicht, heute abend ziemlich lange aufzubleiben und die Ohren zu spitzen. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Benchurch vor Tagesanbruch eine Überraschung bevorsteht.« »Oh, Doktor, was soll das heißen? Was soll das nur heißen?« »Ganz einfach, daß wir vielleicht – nein, wahrscheinlich – heute nacht die große Alarmglocke auf dem Haus des Richters hören werden.« Mit diesen Worten ging der Arzt denkbar wirkungsvoll nach Hause. Als Malcolmson seine Behausung erreichte, war es etwas später als sonst, und Mrs. Dempster war bereits gegangen, um nicht gegen die Hausordnung im Greenhow-Stift zu sündigen. Er stellte zufrieden fest, daß der Raum behaglich warm und hell war, denn das Feuer und eine Lampe brannten. Der Abend war kälter, als man im April erwartet hätte, und der Wind wurde immer heftiger, so daß nachts ein Sturm zu erwarten war. Nachdem Malcolmson das Zimmer betreten hatte, verstummte der Lärm der Ratten einige Minuten lang; sobald die Tiere sich jedoch an seine Anwesenheit gewöhnt hatten, begann er von neuem. Er freute sich sogar darüber, denn sie leisteten ihm Gesellschaft, und er dachte an die merkwürdige Tatsache, daß sie nur dann stillhielten und keinen Laut von sich gaben, wenn jene große Ratte mit den funkelnden Augen auf der Bildfläche erschien. Nur die Leselampe brannte, und ihr grüner Schirm tauchte das obere Drittel des Raumes in ein ungewisses Halbdunkel, so daß die weiße Tischdecke und das Geschirr im Schein des Kaminfeuers doppelt behaglich wirkten. Malcolmson setzte sich mit gutem Appetit und bester Laune zu Tisch; nach dem Abendessen und einer Zigarette machte er sich an die Arbeit und war entschlossen, sich von nichts stören zu lassen, denn er erinnerte sich an sein Versprechen und wollte die zur Verfügung stehende Zeit so gut wie möglich ausnützen. Er arbeitete etwa eine Stunde lang wie üblich, aber dann 76
konnte er sich nicht mehr auf seine Bücher konzentrieren. Die seltsame Umgebung, in der er sich befand, und die Geräusche, die seine Aufmerksamkeit ablenkten, waren ihm zweifellos auf die Nerven gegangen. Unterdessen hatte sich der Wind in einen Sturm verwandelt; das alte Haus schien in seinen Grundfesten zu erzittern, obwohl es so massiv gebaut war, und der Sturmwind pfiff durch die vielen Kamine und um die merkwürdigen Giebel, heulte in den leeren Korridoren und erzeugte eigenartige Geräusche in allen leerstehenden Zimmern. Selbst die große Alarmglocke auf dem Dach schien die Macht des Windes zu spüren, denn das Glockenseil bewegte sich leicht auf und ab, als schwanke die Glocke von Zeit zu Zeit. Malcolmson hörte das geschmeidige Seil hart auf den Fußboden klopfen und erinnerte sich dabei an die Worte des Arztes: »Es ist der gleiche Strick, mit dem der Henker die Opfer des richterlichen Zorns vom Leben zum Tod befördert hat.« Er ging in die Ecke neben dem Kamin und nahm das Seil in die Hand, um es näher zu betrachten. Während er dort stand, versank er einen Augenblick lang in Gedanken, fragte sich, wer diese Opfer gewesen sein mochten, und wunderte sich darüber, daß der Richter dieses gräßliche Erinnerungsstück stets hatte sehen wollen. Als er so mit dem Seil in der Hand am Kamin stand, spürte er ein leichtes Ziehen, wenn die Glocke auf dem Dach sich wieder bewegte; aber dann veränderte sich das Gefühl, und Malcolm son nahm eine Art Zittern wahr, als bewege sich etwas das Seil entlang. Er hob instinktiv den Kopf und sah die große Ratte, die langsam nach unten kletterte und ihn dabei unentwegt beobachtete. Als er mit einem gemurmelten Fluch zurücktrat und das Seil aus den Händen gleiten ließ, drehte die Ratte sich um, lief wieder nach oben und verschwand in ihrem Loch. Alles dies machte ihn nachdenklich, und ihm fiel ein, daß er weder den Schlupfwinkel der Ratte untersucht, noch die Bilder 77
betrachtet hatte, wie es seine Absicht gewesen war. Er zündete die zweite Lampe an, die keinen Schirm besaß, hielt sie hoch und ging damit auf das dritte Bild rechts neben dem Kamin zu, wo die Ratte in der vergangenen Nacht verschwunden war. Nach dem ersten Blick wich er so erschrocken zurück, daß ihm fast die Lampe aus der Hand geglitten wäre, und eine tödliche Blässe erschien auf seinen Zügen. Seine Knie zitterten, auf seiner Stirn standen große Schweißperlen, und er zitterte wie Espenlaub. Aber er war jung und mutig und riß sich zusammen und trat wenige Sekunden später nochmals vor, hob die Lampe und betrachtete das Gemälde, das inzwischen gesäubert worden und somit deutlich zu erkennen war. Es stellte einen Richter in scharlachroter Robe mit Hermelinbesatz dar. Sein Gesicht war energisch und hart, böse, verschlagen und rachsüchtig, mit sinnlichem Mund und geröteter Hakennase, die wie der Schnabel eines Raubvogels gebogen war. Das übrige Gesicht zeigte eine ungesunde, ja fast leichenhafte Blässe. Die Augen blitzten eigenartig und trugen einen erschreckend bösartigen Ausdruck. Als Malcolmson sie betrachtete, lief es ihm kalt über den Rücken, denn er erkannte in ihnen die Augen der großen Ratte wieder. Dann fiel ihm fast die Lampe aus der Hand: Die schreckliche Ratte starrte ihn mit blitzenden Augen aus einem Loch in der rechten oberen Ecke des Porträts an, während der Lärm der anderen Ratten plötzlich verstummt war. Er konnte sich nur mühsam beherrschen. Der Richter saß in einem großen geschnitzten Lehnstuhl rechts von einem offenen Kamin; in der Ecke neben ihm hing ein Seil von der Decke herab und lag auf dem Fußboden zusammengerollt. Malcolmson stellte mit Schrecken fest, daß dort ein Teil des Zimmers abgebildet war, in dem er sich gegenwärtig befand, und er sah sich furchtsam um, als erwarte er, jemand hinter sich zu sehen. Dann blickte er zum Kamin hinüber … und ließ mit einem lauten Schrei die Lampe fallen. 78
Dort im Lehnstuhl des Richters, neben dem der Henkersstrick herabhing, saß die Ratte mit blitzenden Augen und zeigte Malcolmson die Zähne, als grinse sie hämisch wie der alte Richter. Von draußen klang das Heulen des Sturms herein. Die zu Boden gefallene Lampe brachte Malcolmson wieder zur Besinnung; sie war zum Glück aus Metall, so daß kein Öl verschüttet worden war. Allein die Notwendigkeit, sie sogleich zu versorgen, bewirkte jedoch, daß seine nervöse Anspannung nachließ. Als er sie gelöscht hatte, fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn und dachte einen Augenblick nach. »Das muß aufhören«, sagte er zu sich selbst. »Wenn ich so weitermache, werde ich noch verrückt. Das muß ein Ende haben! Ich habe dem Arzt versprochen, keinen Tee mehr zu trinken. Er hat wirklich ganz recht gehabt! Meine Nerven befinden sich offenbar in einem seltsamen Zustand. Nur merkwürdig, daß mir das erst jetzt auffällt. Mir ist es nie im Leben besser gegangen. Aber jetzt ist alles vorüber, und ich führe mich nicht wieder wie ein Narr auf.« Dann bereitete er sich ein großes Glas Branntwein mit Wasser und arbeitete entschlossen weiter. Fast eine Stunde später sah er von seinem Buch auf, weil er die plötzliche Stille unangenehm empfand. Draußen heulte und pfiff der Wind lauter und lauter, und die Regentropfen prasselten wie Hagelkörner an die Fensterscheiben; in Malcolmsons Raum war es eigenartig still, wenn man vom Heulen des Windes im Kamin absah, in das sich gelegentlich ein zischendes Geräusch mischte, wenn einzelne Tropfen durch den Kamin fielen. Das Feuer war niedergebrannt und glühte nur noch dunkelrot, anstatt hell zu flackern. Malcolmson horchte aufmerksam und hörte ein leises, sehr schwaches Quietschen. Es kam aus der Ecke, in der das Seil hing, und er hielt es zunächst für das Knarren des Seils, während es von der Glocke bewegt wurde. Als er jedoch den Kopf 79
hob, sah er die große Ratte im Halbdunkel am Seil hängen und daran nagen. Der Strick war bereits fast durchgenagt – er sah die hellere Färbung, wo die Litzen freilagen. Während er noch zusah, wurde die Arbeit beendet; das abgetrennte Seilstück polterte zu Boden, und die große Ratte blieb einige Sekunden lang am Ende des Seils hängen, das jetzt zu schwingen begann. Zunächst war Malcolmson erschrocken, als ihm einfiel, daß er nun keine Möglichkeit mehr besaß, die Außenwelt zu Hilfe zu rufen, aber dann wurde sein Zorn übermächtig: er ergriff das Buch, in dem er gelesen hatte, und warf es nach der Ratte. Er hatte gut gezielt; aber bevor das Wurfgeschoß sein Ziel finden konnte, ließ sich die Ratte zu Boden fallen. Malcolmson nahm sofort die Verfolgung auf, doch das Tier huschte davon und tauchte irgendwo im Schatten unter. Malcolmson hatte das Gefühl, an diesem Abend ohnehin nichts mehr arbeiten zu können, deshalb wollte er sich etwas Abwechslung durch eine Rattenjagd verschaffen und nahm zuerst den grünen Lampenschirm ab, um mehr Licht zu haben. Dabei verschwand auch das Halbdunkel, in dem die obere Hälfte des Zimmers bisher gelegen hatte, und die Gemälde an den Wänden wurden deutlicher sichtbar. Malcolmson bemerkte sich gegenüber das dritte Bild rechts des Kamins; er rieb sich zunächst überrascht die Augen, aber dann überfiel ihn eine große Angst. Im Mittelpunkt des Bildes war ein unregelmäßiger Fleck zu sehen, als sei die Leinwand dort noch so frisch und unberührt wie am ersten Tag, als sie aufgespannt wurde. Der Hintergrund zeigte weiterhin einen Kamin, den Lehnstuhl und das Seil – aber die Gestalt des Richters war verschwunden. Malcolmson war vor Entsetzen bleich, als er sich jetzt langsam umdrehte; dann begann er zu zittern und zu beben, als bekomme er einen Schlaganfall. Er war plötzlich kraftlos und konnte sich nicht einmal bewegen. Er war kaum imstande zu denken und konnte nur sehen und hören. 80
Vor ihm in dem großen Lehnstuhl saß der Richter in seiner scharlachroten Robe mit Hermelinbesatz, mit seinen rachsüchtig glitzernden Augen und einem triumphierenden Lächeln auf den grausamen Lippen, während er mit beiden Händen ein schwarzes Barett hochhob. Malcolmson hatte das Gefühl, alles Blut ströme aus seinem Herzen, als die Spannung ihren Höhepunkt erreichte. In seinen Ohren summte es laut. Von draußen drang das Heulen und Pfeifen des Sturmes herein, aber noch gewaltiger erklangen die Glockenschläge der großen Uhr auf dem Rathausturm, die jetzt Mitternacht anzeigte. Malcolmson schien endlos lang einer Statue gleich unbeweglich zu stehen, riß erschrocken die Augen auf und vermochte kaum zu atmen. Je mehr Glockenschläge ertönten, desto triumphierender wurde das Lächeln auf dem Gesicht des Richters, und beim letzten Schlag setzte er das schwarze Barett auf. Der Richter erhob sich langsam und würdig von seinem Lehnstuhl, nahm den Strick, der zuvor das Glockenseil gewesen war, vom Boden auf, ließ ihn durch die Hände gleiten, als genieße er dieses Gefühl, und knüpfte dann ein Ende mit sicheren Bewegungen zu einer Schlinge zusammen. Diese zog er fest, zerrte daran, bis er sichtlich zufrieden war, machte dann eine Laufschlinge daraus und behielt sie in der Hand. Dann schlich er an der gegenüberliegenden Tischseite entlang und beobachtete Malcolmson dabei aufmerksam, bis er endlich mit einigen raschen Schritten die Tür erreichte. Malcolmson hatte nun das Gefühl, eingesperrt zu sein, und versuchte zu überlegen, was dagegen zu tun war. Aber die Augen des Richters faszinierten ihn, und er konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Er sah den Richter herankommen – noch immer zwischen ihm und der Tür –, die Schlinge heben und sie in seine Richtung werfen, als solle er damit gefangen werden. Mit großer Anstrengung wich er zur Seite aus und hörte den Strick neben sich zu Boden fallen. Der Richter wiederholte sei81
nen Versuch, ohne Malcolmson aus den Augen zu lassen, aber dem Studenten gelang es immer wieder, ihm mit knapper Not auszuweichen. Dies wiederholte sich noch einige Male, und der Richter schien die fehlgeschlagenen Versuche nicht als Enttäuschung zu empfinden, sondern spielte vielmehr mit Malcolmson, wie eine Katze mit einer gefangenen Maus spielt. Als Malcolmsons Verzweiflung ihren Höhepunkt erreicht hatte, sah er sich endlich suchend um. Die Lampe schien heller als zuvor zu brennen und beleuchtete den Raum ausreichend. In den vielen Rattenlöchern und den Rissen und Spalten der Wandtäfelung erkannte er Rattenaugen; und dieser rein physische Aspekt tröstete ihn etwas. Er hob den Kopf und stellte fest, daß das Seil der großen Alarmglocke förmlich mit Ratten überladen war. Es verschwand bereits unter ihren Leibern, aber trotzdem kamen mehr und mehr aus dem runden Loch in der Decke geströmt, durch das es nach oben führte, so daß sie durch ihr vereintes Gewicht die Glocke zum Schwingen brachten. Horch! Der Schwung reichte bereits aus, um Klöppel und Glocke anschlagen zu lassen. Der Ton war noch leise, aber die Glocke hatte erst zu schwingen begonnen und würde später lauter ertönen. Beim ersten Ton hob der Richter, der bisher nur Malcolmson angestarrt hatte, langsam den Kopf, und sein Gesicht zeigte hemmungslose Wut. Seine Augen glühten förmlich wie heiße Kohlen, und er stampfte so erregt mit dem Fuß auf, daß das Haus zu beben schien. Ein fürchterlicher Donner ließ die Fenster klirren, als er nochmals den Strick hob, und die Ratten liefen geschäftig an dem Seil auf und ab, als arbeiteten sie gegen die Zeit an. Diesmal warf der Richter die Schlinge nicht mehr, sondern näherte sich seinem Opfer und hielt sie dabei offen. Als er herankam, schien seine bloße Gegenwart lähmend zu wirken, und Malcolmson stand wie erstarrt. Er spürte die eiskalten Finger 82
des Richters an seinem Hals, während die Schlinge zurechtgeschoben wurde; dann zog sich die Schlinge weiter zu … immer weiter. Schließlich hob der Richter sein bewegungsloses Opfer mit beiden Armen auf, trug Malcolmson zu dem hohen Lehnstuhl, stellte ihn darauf, trat neben ihn und griff mit einer Hand nach dem schwingenden Glockenseil. Als er den Arm ausstreckte, flohen die Ratten laut quiekend durch das Loch in der Decke. Er nahm den Strick, dessen anderes Ende als Schlinge um Malcolmsons Hals lag, und verknüpfte ihn mit dem herabhängenden Glockenseil; dann stieg er herab und zog den Stuhl mit sich fort. Als die Alarmglocke auf dem Haus des Richters zu läuten begann, versammelte sich bald eine Menschenmenge. Laternen und Fackeln verschiedenster Art wurden herbeigeschafft, und wenig später erreichten die schweigenden Massen das alte Gebäude. Sie klopften laut an die Tür, erhielten aber keine Antwort. Daraufhin brachen sie die Tür auf und drangen unter Dr. Thornhills Führung in den großen Speisesaal ein. Dort hing am Ende des Glockenseils die Leiche des Studenten, und das Gesicht des Richters auf dem Porträt zeigte ein boshaftes Lächeln.
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Der rote Vorhang von Jules Amedee Barbey d’Aurevilly Jules Amedee Barbey d’Aurevilly (1808-1889), ein Zeitgenosse Heinrich Heines, schrieb in den Jahren zwischen 1860 und 1870 sein berühmtestes Werk, die Novellensammlung ›Les Diaboliques‹ (›Die Teuflischen‹). Die unheimliche Geschichte vom ›Roten Vorhang‹ ist die erste der teuflischen Novellen, die den Namen d’Aurevillys bis auf den heutigen Tag lebendig erhalten haben. Aber nicht an Heine denken wir, wenn sein Name genannt wird, auch nicht an Emile Zola, dessen naturalistische Romane in der Entstehungszeit der ›Teuflischen Geschichten‹ die Welt zu erobern begannen, sondern eher an Villiers de L’Isle Adam, E. A. Poe und E. T. A. Hoffmann, den Bahnbrechern der fantastischen Literatur in Europa. ——————
Vor vielen Jahren wollte ich in den Sümpfen des Westens auf Entenjagd gehen, und da die Gegend, in die mich meine Reise führen sollte, noch keine Eisenbahn hatte, bestieg ich auf dem Halteplatz vor dem Château de Rueil die Postkutsche, in deren Abteil erster Klasse nur ein einziger Fahrgast saß. Diese in jeder Beziehung sehr bemerkenswerte Person, die ich kannte, denn ich hatte sie oft in der Gesellschaft getroffen, war ein Mann, den ich Vicomte de Brassard nennen möchte. Diese Vorsichtsmaßnahme ist wahrscheinlich ganz überflüssig! Die paar hundert Menschen, die sich in Paris als ›Gesellschaft‹ bezeichnen, werden sofort wissen, wer sich hinter diesem Namen verbirgt …
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Es war ungefähr fünf Uhr abends. Die Sonne beleuchtete mit ihrer abnehmenden Glut eine staubige Straße, die von Pappeln und Weiden umsäumt war, und über die uns vier kräftig galoppierende Pferde zogen, deren muskulöse Kruppen sich bei jedem Peitschenschlag des Postillons … des Postillons, dieses Abbilds des Lebens, der bei Beginn der Fahrt immer zu laut mit der Peitsche knallt … schwer hoben. Der Vicomte de Brassard hatte jenen Augenblick des Daseins erreicht, in dem man nicht mehr mit der Peitsche knallt … Er ist einer jener Menschen, die ihrem Charakter nach Engländer sein könnten (er wurde in England erzogen), und die, wenn sie zu Tode verwundet wären, das niemals eingestehen, sondern mit der Behauptung auf den Lippen, sie lebten, sterben würden. In der Gesellschaft und auch in den Büchern spottet man gern über die gewollte Jugendlichkeit derer, die diese glückliche Zeit der Unerfahrenheit und Torheit längst hinter sich haben, und man hat damit nur zu sehr recht, wenn die Art dieses Anspruches auf Jugend lächerlich ist. Ist er das aber nicht, ist er im Gegenteil imposant wie der Stolz, der sich nicht selbst aufgeben will, und in dem er wurzelt, dann ist meiner Meinung nach eine derartige Haltung, trotz ihrer Nutzlosigkeit, nicht unsinnig, sondern schön wie so viele unsinnige Dinge. Wenn die Haltung der Garde bei Waterloo, die stirbt, sich aber nicht ergibt, heroisch ist, so ist es die gleiche Haltung dem Greisenalter gegenüber, dem die Poesie der Bajonette, die uns durchbohren, versagt ist, nicht weniger. Soldatisch empfindende Menschen haben, wie die Garde bei Waterloo, nur den einen Grundsatz: sich in keiner Situation ergeben. Der Vicomte de Brassard, der sich nicht ergeben hat (er lebt noch, und wie er lebt, werde ich später berichten, denn das zu wissen, ist der Mühe wert), der Vicomte de Brawsard also war in dem Augenblick, in dem ich in die Postkutsche stieg, genau das, was die Gesellschaft, die so grausam ist wie eine junge 85
Frau, gehässig einen ›alten Beau‹ nennt. Für den, der sich in dieser Frage des Alters … man ist ja immer nur so alt, wie man aussieht … nicht mit Worten und Zahlen abspeisen läßt, konnte der Vicomte de Brassard als ›Beau‹ ohne die Hinzufügung des Wortes ›alter‹ gelten. Wenigstens trug zu dieser Zeit die Marquise de V…, die sich auf junge Leute verstand und ein Dutzend von ihnen geschoren hatte, wie einst Delila Simson schor, in einem sehr breiten, aus goldenen und schwarzen Plättchen schachbrettartig gearbeiteten Armband auf blauem Grund ziemlich auffällig ein paar Schnurrbarthaare des Vicomte, die der Teufel roter gefärbt hatte als die Zeit … Ob nun alt oder nicht, man verbinde mit dem Wort ›Beau‹, das die Gesellschaft geprägt hat, nichts Frivoles, nichts Kleines oder Winziges, wenn man sich eine richtige Vorstellung von dem Vicomte de Brassard machen will, bei dem Geist, Haltung und Gesicht Weite, Kraft, Reichtum und jene vornehme Bedachtsamkeit verrieten, wie sie sich für den herrlichsten Dandy geziemten, den ich je gekannt habe … und ich habe erlebt, wie Brummel dem Irrsinn verfiel, und wie d’Orsay starb! Der Vicomte de Brassard war ein wirklicher Dandy. Wäre er weniger Dandy gewesen, er wäre Marschall von Frankreich geworden. Schon in seiner Jugend war er einer der glänzendsten Offiziere des ersten Kaiserreichs gewesen. Mehr als einmal habe ich von seinen Regimentskameraden gehört, daß er sich durch eine Tapferkeit auszeichnete, wie sie Murat und Marmont zusammen eigen war. Damit … hinzu kam bei ihm noch ein sehr kühler und gesunder Verstand … hätte er in sehr kurzer Zeit die obersten Stufen der militärischen Hierarchie erreichen können, wenn nicht sein Dandytum gewesen wäre … Verbindet man das Dandytum mit den Eigenschaften, die den Offizier ausmachen – Manneszucht, Pünktlichkeit im Dienst usw. –, so erkennt man bald, was in dieser Verbindung von dem Offizier übrig bleibt, der einfach auffliegt wie ein Pulvermagazin! Und 86
wenn der Offizier de Brassard bei zwanzig Gelegenheiten seines Lebens nicht aufflog, so kam das daher, daß er, wie alle Dandys, vom Glück begünstigt war. Mazarin hätte ihn in seine Dienste genommen … und seine Nichten hätten das auch getan, wenn bei ihnen auch andere Gründe ausschlaggebend gewesen wären: er war ein herrlicher Mann! Er hatte jene Schönheit besessen, die dem Soldaten notwendiger ist als jedem anderen, denn ohne Schönheit gibt es keine Jugend, und die Armee ist die Jugend Frankreichs! Diese Schönheit übrigens, die nicht nur die Frauen, sondern auch die Umstände … diese Schelme … verführt, war nicht der einzige Schutz, der den Kopf des Hauptmanns de Brassard umgab. Er stammte, wenn ich mich nicht irre, aus normannischem Geschlecht, aus dem Geschlecht Wilhelm des Eroberers, und hatte, wie man erzählte, sehr viel erobert … Nach der Abdankung des Kaisers war er natürlich zu den Bourbonen übergegangen und ihnen während der ›Hundert Tage‹ … was geradezu übernatürlich war … treu geblieben. Als die Bourbonen zum zweitenmal zurückgekehrt waren, wurde der Vicomte von Karl X. eigenhändig zum Ritter des Heiligen Ludwig geschlagen. Während der ganzen Zeit der Restauration zog der Beau de Brassard nicht ein einziges Mal in den Tuilerien auf Wache, ohne daß die Herzogin d’Angouleme im Vorbeigehen ein paar huldvolle Worte an ihn gerichtet hätte. Sie, in der das Unglück alle Anmut hatte ersterben lassen, fand sie dem Vicomte gegenüber wieder. Der Minister hätte gern alles getan, den Mann zu befördern, den Madame in dieser Weise auszeichnete. Aber auch der beste Wille scheiterte an der Haltung dieses echten Dandys, der bei einer Parade gegen den Generalinspekteur wegen einer rein dienstlichen Bemerkung den Degen gezogen hatte … Daß man ihn damals vor dem Kriegsgericht rettete, war schon genug. Diese unbekümmerte Verachtung der Disziplin hatte der Vicomte de Brassard überall zur Schau getragen, nur nicht im 87
Felde, wo er wieder ganz Offizier wurde und sich nie seinen Soldatenpflichten entzog. Man hatte es verschiedene Male erlebt, daß er sich, selbst auf die Gafahr langen Arrestes hin, heimlich aus seiner Garnison entfernte, um sich in der benachbarten Stadt zu amüsieren, und erst wieder heimkehrte, wenn eine Truppenschau vor der Tür stand, wovon ihn ein Soldat, der ihn gern mochte, unterrichtete; denn wenn seine Vorgesetzten keinen Wert darauf legten, einen Mann unter ihrem Befehl zu haben, dem jede Art von Disziplin zuwider war, so war er der Abgott seiner Soldaten. Er verlangte von ihnen Tapferkeit, Sauberkeit und gepflegtes Aussehen und verwirklichte auf diese Weise den alten französischen Soldaten, wie wir ihn aus drei bis vier alten Liedern, die wahre Meisterwerke sind, in so genauer und reizender Erinnerung haben. Vielleicht trieb er sie ein wenig zu sehr zum Duell, aber er behauptete, das wäre das beste Mittel, in ihnen soldatischen Geist zu entwickeln und zu fördern. »Ich bin keine Regierung«, sagte er, »und ich kann ihnen keine Orden verleihen, wenn sie sich tapfer untereinander schlagen. Die Orden, über die ich als Großmeister verfüge (er war persönlich sehr reich), sind Handschuhe und Lederzeug, mit dem sie sich herausstaffieren können, ohne damit gegen das Reglement zu verstoßen.« So stellte denn auch seine Kompanie durch ihr gepflegtes Äußere alle anderen Grenadierkompanien der an sich schon glänzenden Garderegimenter in den Schatten, und so überspitzte er die Persönlichkeit des Soldaten, der in Frankreich immer zur Geckenhaftigkeit und Koketterie neigt, die beide – die eine durch ihren Ton und die andere durch den Neid, den sie erregt – eine dauernde Herausforderung bedeuten. Man wird daher nicht überrascht sein, daß die anderen Kompanien seines Regiments auf die seine eifersüchtig waren. Man hätte sich geschlagen, um in diese eintreten und nochmals geschlagen, um in ihr verbleiben zu können. Derart war unter der Restauration die ganz außergewöhnliche 88
Stellung des Hauptmanns Vicomte de Brassard gewesen, und da damals nicht mehr, wie unter dem Kaiserreich, tätiger Heroismus immer wieder alles verzeihen ließ, konnte niemand voraussehen oder auch nur ahnen, wie lange diese fortwährende Insubordination dauern würde, die seine Kameraden in Erstaunen versetzte, und die er seinen Vorgesetzten mit der gleichen Kühnheit bot, mit der er sein Leben im feindlichen Feuer aufs Spiel gesetzt hatte, als die Revolution von 1830 jenen ihre Sorge … falls sie diese Sorge überhaupt gehabt hatten … nahm und dem unvorsichtigen Hauptmann die Demütigung einer Entlassung ersparte, die ihm jeden Tag mehr drohte. Während der ›Drei Tage‹ schwer verwundet, hatte er es abgelehnt, unter der neuen Dynastie der Orleans, die er verachtete, Dienst zu tun. Als die Juli-Revolution sie zu Herren eines Landes machte, das sie nicht zu halten verstanden, lag der Hauptmann mit einer Fußverletzung zu Bett, die er sich … wie bei einem Angriff … beim Tanzen auf dem letzten Ball der Herzogin de Berry zugezogen hatte. Aber beim ersten Trommelwirbel war er deshalb doch aufgestanden, um zu seiner Kompanie zu eilen, und da er wegen seiner Verletzung keine Stiefel anziehen konnte, war er in den Aufstand gestürzt, als ginge er zum Ball, mit Lackschuhen und seidenen Strümpfen, und hatte sich so an die Spitze seiner Grenadiere auf den Platz vor der Bastille gestellt, denn er hatte den Auftrag, den Boulevard in seiner ganzen Länge zu säubern. Paris, in dem nur wenige Barrikaden errichtet waren, bot einen unheimlichen und fürchterlichen Anblick. Es war wie ausgestorben. Wie ein erster Feuerregen, dem bald ein zweiter folgen sollte, denn alle durch ihre Läden geschlossenen Fenster sollten gleich Tod und Vernichtung speien, prallte die Sonne in die Stadt hinein … Der Hauptmann de Brassard stellte seine Soldaten in zwei Linien längs und möglichst nahe an den Häusern auf, so daß jede Reihe nur den Schüssen ausgesetzt war, die von gegenüber kamen … während er, ein größerer Dandy 89
als je … in der Mitte des Fahrwegs ging. Wenn auch von beiden Straßenseiten aus, von der Bastille bis zur Rue de Richelieu, Tausende von Flinten, Pistolen und Karabinern auf ihn zielten, so war er trotz der Breite seiner Brust, auf die er vielleicht ein wenig zu stolz war … der Hauptmann de Brassard wölbte im Feuer seine Brust wie eine schöne Frau, die auf einem Ball die ihre zur Geltung bringen will …, bisher nicht getroffen worden, als vor Frascati, an der Ecke der Rue de Richelieu, in dem Augenblick, als er seiner Truppe befahl, hinter ihm aufzuschließen, um die erste Barrikade zu stürmen, die ihm den Weg versperrte, eine Kugel seine schöne Brust traf, die sowohl durch ihre Breite als auch durch die langen, silbernen Schnüre, die von einer Schulter zur anderen reichten, so herausfordernd wirkte. Dazu zerschmetterte ihm ein Stein den Arm … was alles ihn aber nicht hinderte, die Barrikade zu nehmen und an der Spitze seiner begeisterten Soldaten bis zur Madeleine vorzudringen. Hier stellten ihm zwei Damen, die in einer Kalesche aus dem aufrührerischen Paris flohen und den verwundeten, blutüberströmten Gardeoffizier auf den Steinblöcken hatten liegen sehen, die zu dieser Zeit um die Madeleine, an der man noch arbeitete, herumlagen, ihren Wagen zur Verfügung, und er ließ sich von ihnen nach dem Gros-Caillou fahren, wo sich damals der Marschall von Ragusa aufhielt, dem er meldete: »Herr Marschall, ich habe vielleicht noch zwei Stunden zu leben. Setzen Sie mich für diese zwei Stunden ein, wo Sie wollen!« Aber er irrte sich … Er lebte länger als zwei Stunden. Die Kugel, die ihn durchbohrt hatte, tötete ihn nicht. Fünfzehn Jahre später machte ich seine Bekanntschaft, und er behauptete damals, er verdankte seine Rettung nur dem Umstand, daß er gegen alle Medizin und alle Vorschriften seines Arztes, der ihm während des Wundfiebers jegliches Getränk verboten, tüchtig Bordeaux getrunken habe. Denn er war, wie in allem anderen, auch im Trinken ein 90
Dandy. Er trank wie ein Pole. Er hatte sich ein herrliches Glas aus böhmischem Kristall anfertigen lassen, das, bei meiner Seele, eine ganze Flasche Bordeaux faßte, und er leerte es auf einen Zug. Wenn er das Glas geleert hatte, sagte er gern, daß er alles in diesem Maße täte, und das entsprach der Wahrheit. Aber zu einer Zeit, in der die Kraft in jeglicher Form immer geringer wird, ist man vielleicht der Ansicht, daß man auf solche ›Heldentaten‹ nicht besonders stolz zu sein braucht. Er war wie Bassompierre und vertrug den Wein genauso gut wie dieser. Ich habe ihn sein böhmisches Glas zwölfmal leeren sehen, ohne daß man ihm etwas angemerkt hätte. Ich habe ihn außerdem des öfteren bei jenen Schmausereien erlebt, die sittsame Leute als ›Orgien‹ bezeichnen, und bei denen er trotz heftigen Trinkens kaum in jenen leichten Rauschzustand versetzt wurde, den er mit soldatischer Grazie als ›angerissen‹ bezeichnete. Da mir viel daran liegt, den Leser erkennen zu lassen, welche Art Mensch er war … das erfordert das Interesse an der Geschichte, die ich gleich erzählen werde …, scheue ich mich nicht, zu sagen, daß dieser ›Bruder Leichtfuß‹ des XIX. Jahrhunderts, wie ihn das XVI. Jahrhundert in seiner pittoresken Sprache sicher genannt hätte, sieben Geliebte auf einmal hatte. Er nannte sie poetisch die ›sieben Saiten meiner Leier‹, was ich berichte, wenn ich auch diese musikalische und leichte Art, von seiner eigenen Unmoral zu sprechen, in keiner Weise billige. Aber was soll man machen? Wäre der Hauptmann Vicomte de Brassard nicht so gewesen, wie ich die Ehre habe, ihn meinen Lesern zu schildern, dann wäre meine Geschichte viel weniger reizvoll, und wahrscheinlich wäre ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, sie zu erzählen. Es ist sicher, daß ich kaum darauf gefaßt gewesen war, ihm zu begegnen, als ich auf dem Halteplatz vor dem Château de Rueil in die Postkutsche stieg. Wir hatten einander schon lange nicht mehr gesehen, und in der Hoffnung, ein paar Stunden mit 91
ihm zu verbringen, freute ich mich über die Begegnung mit einem Menschen, der zwar noch in unserer Zeit lebte, sich aber doch schon von den Menschen dieser Zeit unterschied. Der Vicomte de Brassard, der ohne Schwierigkeit die Rüstung Franz I. hätte tragen und sich in ihr mit der gleichen Leichtigkeit hätte bewegen können wie in seiner bequemen, blauen Uniform als Offizier der königlichen Garde, zeigte weder in seiner Haltung noch in seinen Körpermaßen Ähnlichkeit mit den so sehr gerühmten jungen Leuten von heute. Diese untergehende Sonne einer grandiosen und so lange strahlenden Eleganz hätte alle diese kleinen Halbmonde der Mode, die jetzt am Horizont aufgehen, kümmerlich und fahl erscheinen lassen. Schön wie Kaiser Nikolaus, dem er, was den Oberkörper anbetrifft, ähnelte, dessen ideales Gesicht und griechisches Profil er aber nicht erreichte, trug er einen kurzen Bart, der, ebenso wie sein Haar, durch ein unergründliches Geheimnis seines Organismus oder der Toilette schwarz geblieben war. Dieser Bart bedeckte zum größten Teil seine Backen, die eine lebhafte und männliche Farbe zierte. Unter einer sehr edlen Stirn, einer gewölbten Stirn ohne Runzeln und weiß wie ein Frauenarm, barg der Vicomte de Brassard sozusagen … so tief lagen sie in den Augenhöhlen … zwei funkelnde, tiefblaue Augen, die in ihrer Fassung wie zwei spitz geschliffene Saphire leuchteten. Diese Augen gaben sich nicht die Mühe, jemanden zu ergründen … ihr Blick war durchdringend genug. Wir reichten einander die Hand und begannen gleich ein Gespräch. Der Hauptmann de Brassard sprach langsam, mit bebender Stimme, die, das fühlte man, imstande war, ein Marsfeld mit ihren Kommandos zu erfüllen. Wie ich bereits berichtet habe, war er in England erzogen worden, und vielleicht dachte er englisch. Aber diese Langsamkeit, der übrigens keinerlei Verlegenheit anhaftete, gab dem, was er sagte, auch seinen Scherzen … der Hauptmann scherzte gern und scheute auch vor 92
einem gewagten Scherz nicht zurück …, eine ganz besondere Note. Er war sehr schlagfertig. »Der Hauptmann Brassard ging immer zu weit«, sagte die Komtesse de F., die schöne Witwe, die, seitdem sie Witwe ist, nur noch drei Farben trägt: schwarz, violett und weiß. Man mußte ihn wohl für einen so guten Umgang halten, daß man nicht auf den Gedanken kam, in ihm einen schlechten zu sehen. Wer aber wirklich zur guten Gesellschaft gehört, kann sich, wie man weiß, im Faubourg SaintGermain alles erlauben! Einer der Vorteile eines Gespräches während einer Fahrt liegt darin, daß man es abbrechen kann, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat, ohne daß das für einen der Beteiligten peinlich zu sein braucht. Im Salon hat man diese Freiheit nicht. Die Höflichkeit macht es einem hier zur Pflicht, trotz allem zu reden, und für diese unschuldige Heuchelei wird man oft durch die Leere und Langeweile jener Gespräche bestraft, bei denen die Dummen und die von Natur Schweigsamen (die gibt es) sich alle Mühe geben und abquälen, etwas zu sagen und liebenswürdig zu sein. In einem öffentlichen Wagen ist jeder ebenso sehr für sich wie mit den anderen zusammen, und man kann, ohne gegen die Schicklichkeit zu verstoßen, in jenes wohltuende Schweigen gleiten, in dem die Träumerei dem Gespräch folgt … Leider sind die Zufälle des Lebens so ungeheuer flach, und früher (schon kann man nur noch von früher reden) stieg man zwanzigmal in einen öffentlichen Wagen … wie man heute zwanzigmal in ein Eisenbahnabteil steigt … ohne einem lebhaften und interessanten Plauderer zu begegnen … Zuerst tauschten der Vicomte de Brassard und ich einige Gedanken aus, die die Zufälligkeiten des Weges, die Besonderheiten der Landschaft und einige Erinnerungen an die Gesellschaft, in der wir uns so oft begegnet waren, in uns hatten erwachen lassen, und dann nahm uns der sich neigende Tag in das Schweigen seiner Dämmerung. Die Nacht, die im Herbst plötzlich vom Himmel 93
zu fallen scheint, so schnell ist sie da, packte uns mit ihrer Frische, und wir hüllten uns in unsere Mäntel, suchten mit der Schläfe die harte Ecke, die das Kopfkissen derjenigen ist, die reisen. Ich weiß nicht, ob mein Gefährte in seiner Ecke einschlief, ich jedenfalls war in der meinen wach. Die Straße, über die wir fuhren, und über die ich schon so oft gefahren war, interessierte mich so wenig, daß ich kaum auf die Gegenstände draußen achtete, die in der Bewegung des Wagens verschwanden und in der Nacht nach rückwärts zu eilen schienen, während wir nach vorn strebten. Wir fuhren durch mehrere kleine Städte, die hier und da an dieser langen Straße verstreut liegen. Die Nacht wurde schwarz wie ein erloschener Ofen, und in dieser Dunkelheit hatten die unbekannten Städte, durch die wir kamen, ganz seltsame Gesichter und erweckten in uns ein Gefühl, als befänden wir uns am Ende der Welt … Diese Art von Empfindungen, die ich hier aufzeichne als Erinnerung an die letzten Eindrücke von einem Zustand der Dinge, der längst verschwunden ist, gibt es heute nicht mehr und wird es auch niemals wieder geben. In den meisten dieser kleinen Städte, durch die wir kamen, waren die Laternen eine Seltenheit, und man sah in ihrem Schein weniger als auf den Straßen, die wir verlassen hatten. Dort hatte der Himmel wenigstens seine Weite, und die Größe des Raumes schuf ein vages Licht, während hier die dicht nebeneinander stehenden Häuser, die sich zu umarmen schienen, und ihre Schatten, die in die engen Straßen fielen, das bißchen Himmel und die wenigen Sterne, die man zwischen den beiden Reihen der Dächer erblickte, zum Geheimnis dieser schlafenden Städte beitrugen, in denen der einzige Mensch, dem man begegnete, ein Stallknecht mit seiner Laterne war, der die Wechselpferde herbeiführte und die Schnallen ihres Geschirrs anzog, wobei er pfiff oder auf seine widerspenstigen oder zu lebhaften Pferde schimpfte … Abgesehen hiervon und von der ewigen, immer gleichen Frage eines schlaftrunkenen 94
Fahrgastes, der ein Fenster herunterließ und in die Nacht, die durch die tiefe Stille noch klingender wurde, hinausrief: »Wo sind wir denn, Postillon?«, hörte und sah man nichts Lebendiges um und in diesem Wagen voll von schlafenden Menschen, in dieser schlafenden Stadt, in der vielleicht ein Träumer wie ich durch das Fenster seines Abteils die Fassade der von der Nacht verwischten Häuser zu erkennen versuchte, oder seinen Blick und seine Gedanken auf irgendein Fenster heftete, das zu dieser vorgerückten Stunde noch erleuchtet war. Das Wachen eines menschlichen Wesens … und wäre es auch nur eine Schildwache … wenn alle anderen Lebewesen in jene Betäubung versunken sind, die man die Betäubung der Animalität nennen kann, hat immer etwas Imposantes. Aber daß man nicht weiß, aus welchem Grund irgend jemand hinter einem Fenster mit geschlossenen Vorhängen erwacht, wo das Licht noch Leben und Denken verrät, fügt die Poesie des Traumes zu der Poesie der Wirklichkeit hinzu. Das gilt jedenfalls für mich. Nie habe ich ein in der Nacht erleuchtetes Fenster in einer schlafenden Stadt, durch die ich kam, sehen können, ohne diesem Rahmen aus Licht eine ganze Welt von Gedanken zu widmen. Heute, nach so vielen Jahren, spuken in meinem Kopf immer noch diese erleuchteten Fenster, leuchten dort immer noch mit ihrem traurigen Licht, lassen mich oft, wenn ich sie in meinen Träumereien wiedersehe und an sie denke, sagen: »Was geschah wohl hinter jenen Vorhängen?« Nun, eins von jenen, die mir besonders stark in der Erinnerung haften (warum, werde ich gleich berichten), ist ein Fenster in einer der Straßen der Stadt, durch die wir in dieser Nacht fuhren. Es waren drei Häuser … so genau ist meine Erinnerung … oberhalb des Gasthofes, wo wir die Pferde wechselten. Aber ich hatte Zeit, dieses Fenster länger zu betrachten, als ein einfacher Pferdewechsel in Anspruch nimmt. Eines der Räder unseres Wagens war nicht mehr so, wie es sein sollte, und man muß95
te den Wagner holen, der schon schlief. In einer schlafenden Provinzstadt einen Wagner zu wecken und zum Aufstehen zu veranlassen, um an einer Postkutsche, die auf dieser Linie keine Konkurrenz hat, eine Schraube anzuziehen, war keine Kleinigkeit und dauerte länger als nur ein paar Minuten. Wenn der Wagner in seinem Bett ebenso fest schlief wie die Insassen unseres Wagens, dann konnte es lange dauern, bis man ihn geweckt hatte … Durch die Wand unseres Abteils hörte ich das Schnarchen der Reisenden im Inneren, und keiner der Reisenden auf dem Verdeck, die bekanntlich die Manier haben, auszusteigen, sobald die Postkutsche hält, wahrscheinlich nur (denn Eitelkeit findet man in Frankreich überall, selbst auf dem Verdeck der Postkutschen), um zu zeigen, mit welcher Geschicklichkeit sie wieder hinaufkletterten, war ausgestiegen. Allerdings war der Gasthof, vor dem wir hielten, geschlossen. Man aß hier nicht zu Abend. Das hatte man bereits anläßlich des vorhergehenden Pferdewechsels getan. Der Gasthof schlummerte genau wie wir. Nichts in ihm verriet Leben. Kein Geräusch störte seine tiefe Stille … vielleicht tat das nur das eintönige und müde Geräusch eines Besens, mit dem irgend jemand (ob Mann oder Frau, das wußte niemand, denn es war zu dunkel, das zu erkennen) den großen Hof des stummen Gasthofes, dessen Einfahrt gewöhnlich offen stand, fegte. Der Besen, der so lässig über das Pflaster strich, schien auch zu schlafen oder doch große Sehnsucht nach Schlaf zu haben! Die Fassade des Gasthofes war dunkel wie die der anderen Häuser der Straße, in der nur ein einziges Fenster erhellt war … gerade jenes Fenster, das heute noch in meiner Erinnerung lebt, und das sozusagen hinter meiner Stirn leuchtet … Das Haus, in dem das Licht eigentlich nicht leuchtete, denn es wurde durch einen doppelten roten Vorhang, dessen Dichte es geheimnisvoll durchdrang, gesiebt, war ein großes Haus mit nur einem, allerdings sehr hohen Stockwerk … 96
»Seltsam«, sagte der Vicomte de Brassard, als führte er ein Selbstgespräch, »man könnte fast glauben, daß es immer noch der gleiche Vorhang ist.« Ich wandte mich ihm zu, als hätte ich ihn in dem dunklen Abteil des Wagens sehen können. Aber die Lampe, die unter dem Kutschersitz hing, und deren Aufgabe es war, die Pferde und die Straße zu beleuchten, war gerade erloschen … Ich glaubte, er schliefe. Aber er schlief nicht. Er war, genau wie ich, von dem Aussehen jenes Fensters betroffen, nur wußte er, weshalb er es war. Ich aber wußte es nicht! Der Ton, in dem er das sagte … etwas, das an sich so ungeheuer einfach war …, paßte so wenig zu der Stimme des Vicomte de Brassard und erstaunte mich derart, daß ich meiner Neugierde, sofort sein Gesicht zu sehen, nicht widerstehen konnte und ein Streichholz anzündete, als wollte ich mir eine Zigarre anstecken. Der bläuliche Blitz des Streichholzes zerriß die Dunkelheit. Er war bleich, nicht wie ein Toter … sondern wie der Tod selbst. Warum diese Blässe? … Das so seltsame Fenster und diese Blässe bei einem Mann, der sonst kaum blaß wurde, denn er war vollblütig, und wenn er erregt war, wurde er vor Erregung rot bis unter das Schädeldach, das Beben, das ich durch die Muskeln seines mächtigen Bizeps rinnen fühlte … bei der Enge des Wagens berührte er meinen Arm … alles das ließ mich ein Geheimnis wittern, das ich als Geschichtenjäger vielleicht erfuhr, wenn ich mich nicht gar zu dumm dabei anstellte. »Sie scheinen jenes Fenster zu kennen?« sagte ich in dem uninteressierten Ton, der auf eine Antwort keinen Wert zu legen scheint und die Heuchelei der Neugierde ist. »Und ob ich es kenne!« erwiderte er mit seiner gewöhnlichen, wohlklingenden Stimme, die jedes Wort unterstrich. Schon war die Ruhe in diesen Dandy zurückgekehrt … den vollkommensten und majestätischesten aller Dandys, die … das ist ja bekannt … jede Erregung als etwas Inferiores verachten 97
und nicht wie dieser Dummkopf Goethe glauben, daß Staunen jemals für den menschlichen Geist ehrenvoll sein könnte … »Ich komme nicht oft durch diese Stadt«, fuhr der Vicomte de Brassard ganz ruhig fort, »ja, ich meide sie, wo ich nur kann. Aber es gibt Dinge, die man nicht vergißt. Viele sind es nicht. Ich kenne drei: die erste Uniform, die man angezogen, die erste Schlacht, in der man angegriffen, und die erste Frau, die man besessen hat … dieses Fenster ist nun das vierte …« Er sprach nicht weiter, ließ das Fenster herunter, das er vor sich hatte … Wollte er das Fenster, das er eben erwähnte, deutlicher sehen? … Der Kondukteur war unterwegs nach dem Wagner und kam wohl so bald nicht wieder. Die Wechselpferde waren auch noch nicht da. Die, die uns bis nach hier gebracht hatten, rührten sich nicht vor Erschöpfung. Sie waren noch nicht ausgespannt, ließen den Kopf zwischen die Beine hängen und schlugen nicht einmal, während sie von ihrem Stall träumten, mit dem Huf das stumme Pflaster. Unsere schlafende Postkutsche glich einem verzauberten Wagen, den der Zauberstab der Feen an irgendeinem Kreuzweg auf der Lichtung in Dornröschens Wald hatte erstarren lassen. »Für einen Mann von Fantasie hat dieses Fenster in der Tat ein Gesicht«, sagte ich. »Was es für Sie hat, weiß ich nicht«, erwiderte der Vicomte de Brassard, »was es aber für mich bedeutet, das weiß ich nur zu gut. Es ist das Fenster des Zimmers, das mein erstes Garnisonszimmer war. Heute, vor fünfunddreißig Jahren habe ich dort gewohnt, hinter jenem Vorhang … der seit all den Jahren nicht geändert worden zu sein scheint und genauso erleuchtet ist wie damals, als …« Wieder schwieg er und gebot seinen Gedanken Einhalt. Aber ich legte Wert darauf, sie kennen zu lernen. »Als Sie nächtlicherweile als Unterleutnant Ihre Taktik studierten, Hauptmann?« 98
»Sie tun mir viel zu viel Ehre an«, erwiderte er. »Ich war damals tatsächlich Unterleutnant, aber meine Nächte verbrachte ich nicht mit dem Studium der Taktik. Wenn meine Lampe noch zu dieser ungehörigen Stunde … um einen Ausdruck der Leute zu gebrauchen, deren Leben nach der Uhr verläuft … brannte, dann las ich gewiß nicht den ›Marschall von Sachsen‹.« »Nun«, sagte ich … als schlüge ich ihm einen Federball zu …, »vielleicht brannte die Lampe, damit Sie ihm nacheifern konnten.« Er fing den Federball auf und schlug ihn zurück. »Nein«, sagte er, »in der von Ihnen angedeuteten Weise eiferte ich dem Marschall von Sachsen nicht nach … Das habe ich erst viel später getan. Damals war ich nur ein kleiner Unterleutnant mit gutsitzender Uniform, aber den Frauen gegenüber sehr linkisch und schüchtern, wenn sie das auch vermutlich wegen meines verteufelten Aussehens nie glauben wollten … Meine Schüchternheit hat mir jedenfalls bei ihnen nichts geholfen! Ich war in jener schönen Zeit erst siebzehn Jahre alt. Ich hatte gerade die Militärschule hinter mir. Man verließ die Schule damals in dem Alter, in dem man heute in sie eintritt, denn hätte der Kaiser, dieser furchtbare Menschenvertilger, noch länger regiert, er hätte schließlich zwölfjährige Soldaten gehabt, wie die Sultane in Asien neunjährige Odalisken in ihrem Harem haben.« Wenn er jetzt anfängt, vom Kaiser und von Odalisken zu reden, dachte ich, dann erfahre ich sicher nichts … »Und dennoch, Vicomte«, erwiderte ich, »möchte ich wetten, daß die Erinnerung an dieses Fenster, das da oben leuchtet, nur deshalb in Ihnen so lebendig ist, weil Sie hinter seinem Vorhang eine Frau sehen.« »Und Sie würden Ihre Wette gewinnen«, entgegnete er ernst. »Also doch«, erwiderte ich, »dessen war ich sicher. Für ei99
nen Mann wie Sie kann in einer kleinen Provinzstadt, die Sie vielleicht zehnmal, seit Sie hier in Garnison lagen, wiedergesehen haben, nur eine Belagerung, die Sie hier auszuhalten hatten, oder eine Frau, die Sie hier im Sturm nahmen, das lebhafte Interesse erklären, das Sie für ein Fenster zeigen, das in der Dunkelheit auf eine gewisse Weise erleuchtet ist.« »Und doch habe ich hier keine Belagerung, wenigstens keine militärische Belagerung ausgehalten«, antwortete er immer noch sehr ernst … wenn er ernst war, scherzte er sonst meistens …, »und kann man andererseits von einer Belagerung sprechen, wenn man sich so schnell ergibt? … Was nun die Eroberung einer Frau mit oder ohne Sturm anbetrifft, so habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich in jener Zeit dazu nicht imstande war … Es wurde denn auch keine Frau erobert … wer erobert wurde, das war ich!« Ich machte ihm eine Verbeugung … Sah er es in dem dunklen Abteil? »Berg-op-Zoom wurde auch erobert«, entgegnete ich. »Und die Unterleutnants von siebzehn Jahren«, fügte er hinzu, »sind für gewöhnlich, was Zurückhaltung und Enthaltsamkeit anbetrifft, kein uneinnehmbares Berg-op-Zoom.« »Also wieder einmal«, sagte ich belustigt, »Frau oder Fräulein Potiphar …« »Es war ein Fräulein«, unterbrach er mich mit ziemlich komisch wirkender Einfalt. »Sie kommt zu den vielen anderen hinzu, Hauptmann! Nur war in diesem Fall der Joseph ein Soldat … und der ist doch sicher nicht geflohen …« »Natürlich ist er geflohen«, entgegnete er mit der größten Kaltblütigkeit, »wenn auch zu spät und mit einer Angst im Herzen … mit einer Angst, die mich die Worte des Marschalls Ney verstehen ließ, die ich mit eigenen Ohren gehört habe, und die mich, das gebe ich offen zu … da sie aus dem Munde eines sol100
chen Mannes kamen …, ein wenig getröstet haben: ›Ich möchte nur wissen, wer von sich behaupten kann, niemals Angst gehabt zu haben! …‹« »Ein Erlebnis, bei dem Sie dieses Gefühl gehabt haben, Hauptmann, entbehrt doch sicher nicht der Spannung …« »Meinetwegen«, sagte er barsch, »wenn Sie die Geschichte hören wollen, will ich sie Ihnen erzählen … Sie ist ein Ereignis gewesen, das an meinem Leben frißt wie Säure an Stahl, und das mich meine Freuden als toller und wilder Kerl nie mehr hat so richtig genießen lassen … Ja, Tollheit bringt nicht immer etwas ein«, fügte er mit einer Schwermut hinzu, die mich bei diesem Mann, der meiner Ansicht nach mit Kupfer beschlagen war wie eine griechische Brigg, besonders stark berührte. Er schloß das Fenster, das er heruntergelassen hatte, vielleicht, weil er fürchtete, der Klang seiner Stimme könnte nach draußen dringen, und man könnte hören, was er erzählte, obgleich niemand in der Nähe des unbeweglichen und verlassenen Wagens zu sehen war, vielleicht, weil ihm das regelmäßige Hin und Her des Besens, der sich so schwerfällig über das Pflaster des großen Hofes des Gasthauses bewegte, eine zu seiner Geschichte wenig passende Begleitung schien … Ich hörte ihm also zu … achtete genau auf seine Stimme … auf die geringsten Schwingungen dieser Stimme … da ich in diesem dunklen und geschlossenen Abteil sein Gesicht nicht sehen konnte … und starrte dabei gespannter als je auf jenes Fenster mit dem roten Vorhang, das immer noch mit dem gleichen sonderbaren Licht leuchtete, und von dem er mir erzählen wollte … »Ich war, wie gesagt, siebzehn Jahre alt und hatte gerade die Militärschule verlassen«, begann er. »Zum Unterleutnant in einem einfachen Infanterieregiment ernannt, das mit der Ungeduld, die uns alle damals beherrschte, auf den Befehl wartete, nach Deutschland zu marschieren, wohin der Kaiser jenen Feldzug unternahm, den die Geschichte den Feldzug von 1813 nennt, 101
hatte ich eben noch Zeit, meinen alten Vater in seiner Provinz zu umarmen, um dann in der Stadt, in der wir uns heute abend befinden, zu dem Bataillon zu stoßen, dem ich zugeteilt worden war. In der kleinen Stadt, die im Höchstfall ein paar tausend Einwohner hatte, lagen nur unsere beiden ersten Bataillone in Garnison … Die zwei anderen waren auf die zwei benachbarten Dörfer verteilt worden. Sie, der Sie sich in dieser Stadt wahrscheinlich nur kurze Stunden aufgehalten haben, wenn Sie in Ihren Westen fahren, können sich gar nicht vorstellen, was sie für den ist … oder vor dreißig Jahren für den war …, der wie ich in ihr wohnen mußte. Sie war die schlimmste Garnison, in die mich der Zufall … das heißt der Teufel, der zu dieser Zeit sicher Kriegsminister war … für mein Debüt verschlagen konnte. Donnerwetter! Es war zum Auswachsen! Ich kann mich nicht erinnern, je wieder etwas so Ödes und Langweiliges erlebt zu haben. Aber bei meinem Alter und in der ersten Trunkenheit der Uniform … ein Gefühl, das Ihnen fremd ist, das aber jeder kennt, der Uniform getragen hat … litt ich kaum unter dem, das mir später unerträglich vorgekommen wäre. Was kümmerte mich auch schließlich diese trübselige Provinzstadt? Nun … ich wohnte in ihr … mein ganzes Interesse aber galt meiner Uniform, die meine ganze Freude war. Diese Uniform verhüllte und verschönte mir alles. Und so war denn … Sie werden das kaum für möglich halten … diese Uniform buchstäblich meine wahre Garnison. Wenn ich mich in dieser Stadt, die weder Bewegung noch Interesse oder Leben kannte, zu sehr langweilte, dann zog ich meine Galauniform mit allen ihren Schnüren an … und vor dem hohen Ringkragen floh alle Langeweile davon! Ich war genau wie jene Frauen, die Toilette machen, selbst wenn sie allein sind und niemanden erwarten. Ich zog mich für mich an! Ich erfreute mich an meinen Schulterstücken und meiner Degenquaste, die in der Sonne funkelte, wenn ich gegen vier Uhr über die einsame Hauptstraße spazieren ging, ohne jeman102
den zu suchen, um glücklich zu sein … und die Brust schwellte sich mir ebenso sehr wie später auf dem Boulevard de Gand, als ich in dem Augenblick, in dem ich einer Frau den Arm reichte, jemanden hinter mir sagen hörte: ›Besser kann ein Offizier nicht aussehen!‹ In dieser kleinen, sehr wenig reichen Stadt, die keinerlei Handel und Verkehr hatte, lebten nur fast ruinierte alte Familien, die dem Kaiser nicht verzeihen konnten, daß er die Diebe der Revolution nicht gezwungen hatte, das gestohlene Gut, wie sie sagten, wieder herauszugeben, und die aus diesem Grunde für seine Offiziere kaum etwas übrig hatten. So hatten wir denn auch in der Stadt weder Bälle noch Gesellschaften. Höchstens gab es am Sonntag einen kleinen Spaziergang auf der Hauptstraße, wo … nach der Mittagsmesse und wenn das Wetter schön war … die Mütter ihre Töchter ausführten … bis zwei Uhr, der Stunde der Vesper, die, sobald der erste Glockenschlag ertönte, alle Röcke wegfegte, so daß die armselige Straße im Handumdrehen leer war. Diese Mittagsmesse, die ich übrigens niemals besuchte, wurde unter der Restauration eine rein militärische Messe, an der die Offiziere teilnehmen mußten, und war so wenigstens ein lebendiges Ereignis in diesem Nichts der toten Garnisonen. Für lustige Brüder wie wir, die in dem Lebensalter standen, in dem Liebe und Leidenschaft der Frauen einen so großen Platz einnehmen, war diese militärische Messe ein gefundenes Fressen! Abgesehen von denen, die während dieser Zeit Dienst hatten, saß das ganze Offizierskorps in der Kirche verstreut. Meistens suchten wir uns unseren Platz hinter den schönsten Frauen, die diese Messe besuchten, und während der sie die Gewißheit hatten, betrachtet zu werden, und wir bemühten uns, ihnen alle nur erdenkliche Zerstreuung zu verschaffen, indem wir uns mit halblauter Stimme … aber doch so, daß sie verstehen konnten, was wir sagten … über die Vorzüge ihres Gesichtes und ihrer Gestalt unterhielten. Ach! Diese militärische Messe! Wie viele Romane hatten 103
hier ihren Anfang! Wie mancher Brief wurde heimlich in den Muff der jungen Mädchen gesteckt, den sie, wenn sie neben ihrer Mutter niederknieten, auf den Stuhl legten, und auf den sie uns im selben Muff am nächsten Sonntag dann die Antwort brachten … Aber unter dem Kaiser gab es keine militärische Messe … und damit auch kein Mittel, sich diesen sogenannten besseren Mädchen zu nähern … die in dieser kleinen Stadt, in der sie lebten, für uns immer nur in Schleier gehüllte und aus der Ferne gesehene Träume blieben. Eine Entschädigung dafür, daß uns dieser interessanteste Teil der Bevölkerung der Stadt unzugänglich war, gab es nicht. Die Gasthöfe … das wissen Sie …, von denen man in der guten Gesellschaft nicht spricht, waren eine Unmöglichkeit. Die Cafés, in denen man so viel Heimweh, das in dem furchtbaren Müßiggang der Garnisonen seine Wurzeln hat, ertränkt, waren derart, daß der, welcher etwas auf seine Schulterstücke hielt, sie nicht betreten konnte. Auch gab es in dieser kleinen Stadt, in die heute, wie überall, der Reichtum seinen Einzug gehalten hat, kein einziges Hotel, in dem wir einen Offizierstisch hätten haben können, ohne … wie in einem finsteren Wald … nach allen Regeln der Kunst ausgeplündert zu werden … so daß viele von uns auf ein Gemeinschaftsleben verzichtet und in Privatpensionen, bei wenig begüterten Bürgern, ein Unterkommen gefunden hatten, das diese möglichst teuer vermieteten, um der Mittelmäßigkeit ihrer Einkünfte ein wenig auf die Beine zu helfen. Zu diesen Mietern gehörte auch ich! Einer meiner Kameraden, der im Gasthof zur Post wohnte, wo er ein Zimmer hatte … die Post lag damals in dieser Straße … ein paar Häuser hinter uns … wenn es Tag wäre, würden Sie vielleicht auf der Fassade dieser noch die alte, goldene Sonne sehen, die zur Hälfte aus dem Untergrund von Bleiweiß hervorschaut und früher die Umschrift trug: ›Zur aufgehenden Sonne‹ …, einer meiner Kameraden hatte also für mich in seiner Nähe eine Wohnung aus104
findig gemacht … Das Fenster da oben war ihr Fenster … und heute abend habe ich ein Gefühl, als wäre es wieder das Fenster meines Zimmers … als wäre es gestern …! Ich hatte mich von ihm dort einquartieren lassen. Er war älter als ich und schon länger beim Regiment. Er hatte seine Freude daran, meiner Unerfahrenheit … die auch ein gut Teil Sorglosigkeit war …, in diesen ersten Augenblicken und ersten Einzelheiten meines Offizierslebens als Steuermann zu dienen. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, war mir damals alles einerlei, außer meiner Liebe zu meiner Uniform … die aber betone ich ganz besonders, weil sie von Ihrer Generation mit den Friedenskongressen, dem philosophischen und humanitären Geschwafel kaum noch verstanden wird … und der Hoffnung, bald die Kanonen in der ersten Schlacht brüllen zu hören, in der ich (verzeihen Sie mir den soldatischen Ausdruck!) meine militärische Jungfernschaft verlieren sollte … Ich lebte nur in diesen beiden Gedanken … besonders in dem zweiten … weil er eine Hoffnung darstellte und man ja mehr in dem Leben lebt, das man nicht hat, als in dem, das man hat. Nur der Zukunft wegen war ich sozusagen in mich verliebt … genau wie ein Geizhals …, und ich konnte sehr gut die Frommen verstehen, die den Aufenthalt auf dieser Erde hinnehmen wie eine Nacht in einer üblen Spelunke. Nichts hat größere Ähnlichkeit mit einem Mönch als ein Soldat … und ich war Soldat! So wurde ich mit meiner Garnison fertig. Außer den Stunden der Mahlzeiten, die ich mit meinen Wirtsleuten zusammen einnahm, und außer den Stunden des Dienstes und der täglichen Manöver verbrachte ich den größten Teil meiner Zeit zu Hause und lag auf einem großen Sofa, das mit dunkelblauem Leder überzogen war, dessen Frische mich nach dem Dienst wie ein kühles Bad umfing. Ich verließ das Sofa nur, um mit meinem Freund von gegenüber ein paar Gänge zu fechten oder eine Partie Karten zu spielen. Er hieß Louis de Meung und hatte weniger Muße als ich, denn er hatte unter den Grisetten 105
der Stadt ein ziemlich hübsches Mädel aufgetan und es zu seiner Geliebten gemacht, damit sie ihm … wie er sagte … hülfe, die Zeit totzuschlagen … Aber was ich von Frauen wußte, reizte mich wenig, meinen Freund Louis nachzuahmen. Was ich wußte, hatte ich nämlich auf die denkbar ordinärste Weise dort kennen gelernt, wo die Schüler von Saint-Cyr an den Ausgangstagen ihre Erfahrungen sammeln … Es gibt ja Temperamente, die erst spät erwachen. Haben Sie nicht Saint-Remy gekannt, den tollsten Kerl einer Stadt, die wegen ihrer tollen Kerle berühmt war, und den wir den Minotaurus nannten, nicht etwa in Hinblick auf die Hörner … obwohl er auch mit denen geziert war, denn er hatte den Liebhaber seiner Frau getötet, sondern im Hinblick auf das, was er ›verzehrte‹?« »Ja, ich habe ihn gekannt«, entgegnete ich, »aber damals war er schon alt … Natürlich habe ich ihn gekannt, diesen lustigen Kumpan, wie Brantôme ihn genannt hätte.« »Er war eine echt Brantômesche Gestalt«, fuhr der Vicomte fort. »Mit siebenundzwanzig Jahren hatte dieser Saint-Remy weder ein Glas noch einen Weiberrock angerührt. Fragen Sie ihn selbst, er wird Ihnen meine Worte bestätigen. Mit siebenundzwanzig Jahren war er, was Frauen anbetrifft, so unschuldig wie ein neugeborenes Kind … und wenn er auch nicht mehr an den Brüsten seiner Amme saugte, so hatte er doch immer nur Milch und Wasser getrunken.« »Er hat das Versäumte aber gründlich nachgeholt«, bemerkte ich. »Gewiß«, sagte der Vicomte, »genau wie ich, nur daß ich nicht so viel nachzuholen hatte. Meine erste Periode der Zurückhaltung endete mit der Zeit, die ich in der Stadt verbrachte, und wenn ich auch nicht mehr die absolute Jungfräulichkeit besaß, von der Saint-Remy spricht, so lebte ich damals doch wie ein Malteserritter, der ich ja auch war … wußten Sie das? Ich wäre sogar der Nachfolger eines meiner Onkel in seiner 106
Komturei geworden, wenn die Revolution den Orden nicht aufgelöst hätte. Trotzdem habe ich mir hin und wieder erlaubt, das Ordensband zu tragen … Was nun die Wirtsleute angeht, die ich mir durch die Mietung des Zimmers gegeben hatte«, fuhr der Vicomte fort, »so können Sie sich etwas Spießerhafteres nicht vorstellen. Sie waren nur zwei, der Mann und die Frau, beide schon alt und ebenso höflich wie anständig. In ihren Beziehungen zu mir legten sie sogar jene Höflichkeit an den Tag, der man in ihrer Gesellschaftsklasse kaum noch begegnet, und die wie ein Duft aus längst vergangener Zeit anmutet. Ich war nicht in dem Alter, in dem man beobachtet, um zu beobachten, und die beiden interessierten mich zu wenig, als daß ich auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, in die Vergangenheit dieser alten Menschen einzudringen, mit deren Leben ich mich auf die oberflächlichste Art zwei Stunden lang täglich, beim Mittag- und beim Abendessen, vermischte. Nichts aus dieser Vergangenheit sickerte in meiner Gegenwart in ihre Unterhaltungen, die sich gewöhnlich um die Vorkommnisse und die Leute der Stadt drehten, die ich auf diese Weise kennen lernte. Der Mann sprach über alles mit einer Art heiterer Bosheit; die Frau, die sehr fromm war, äußerte sich mit mehr Zurückhaltung, wenn auch bestimmt mit nicht weniger Vergnügen. Wenn ich mich nicht irre, hat mir der Mann einmal erzählt, er sei in seiner Jugend für irgend jemand und in irgendwas gereist und habe, als er nach vielen Jahren zurückkam, seine Frau geheiratet, die auf ihn gewartet hatte … Es waren also brave Leute, deren Leben bisher in sehr ruhigen Bahnen verlaufen war. Die Frau verbrachte ihr Dasein mit dem Stricken von gerippten Strümpfen für ihren Mann, und der Mann, der eine Vorliebe für Musik hatte, das seine damit, daß er in einer Dachkammer, die über meinem Zimmer lag, auf seiner Geige Viotti zu spielen versuchte … Vielleicht waren sie früher einmal wohlhabend gewesen. 107
Vielleicht hatte sie ein Vermögensverlust, den sie verbergen wollten, gezwungen, einen Pensionär bei sich aufzunehmen. Alles in ihrer Wohnung atmete noch den Wohlstand jener Häuser der alten Zeit, die gut duftende Wäsche und schweres Silberzeug reichlich besaßen, und deren Möbel einem wie Immobilien vorkamen, um deren Erneuerung man sich ja auch nur ungern kümmert. Ich fühlte mich bei den Leuten ganz wohl. Das Essen war gut, und ich machte in weitgehendem Maß von der Erlaubnis, aufstehen zu dürfen, Gebrauch, sobald ich mir ›den Bart abgewischt‹ hatte, wie Olivia, die uns bediente, sagte. Das Wort ›Bart‹ war wirklich zu viel Ehre für die paar Flaumhärchen des Herrn Unterleutnants, der noch nicht erwachsen war. Hier lebte ich also seit etwa sechs Monaten und zwar genauso ruhig wie meine Wirtsleute, die bisher noch mit keinem einzigen Wort die Existenz der Person erwähnt hatten, der ich bei ihnen begegnen sollte, als ich eines Tages, ich kam zur gewohnten Stunde zum Essen nach unten, in einer Ecke des Eßzimmers eine weibliche Gestalt sah, die sich auf die Fußspitzen erhob, um ihren Hut mit den Bändern an einen Haken zu hängen. Ihr Tun machte ganz den Eindruck, als sei sie hier zu Hause und eben von einem Ausgang zurückgekommen. In ihrem Bemühen, den hohen Haken zu erreichen, straffte sich ihr Körper … wie der einer Tänzerin …, so daß ihre herrliche Gestalt ganz in Erscheinung trat. Ihr Oberkörper war in dem leuchtenden Harnisch eines grünseidenen Mieders mit langen Fransen gefangen (das ist das einzig richtige Wort, denn sie war sehr geschnürt), die auf einen weißen Rock herabfielen, einen jener Röcke der damaligen Zeit, die eng um die Hüften sitzen, und deren Trägerinnen sich nicht scheuen, die Hüften zu zeigen, wenn sie welche haben … Mit erhobenen Armen wandte sie sich um, als sie mich eintreten hörte, und drehte mir den Kopf so weit zu, daß ich ihr Gesicht sehen konnte. Aber sie vollendete ihr Tun, als wenn ich nicht da gewesen wäre, vergewisserte 108
sich, daß die Hutbänder beim Aufhängen nicht zerknittert waren, und als sie das langsam, aufmerksam und beinahe unverschämt getan hatte, denn schließlich stand ich ja da und wartete auf den Augenblick, sie grüßen zu können, nahm sie endlich Notiz von mir und erwies mir die Ehre, mich mit zwei schwarzen, sehr kalten Augen anzusehen, denen ihr nach Titus-Art geschnittenes Haar, das sich in Locken auf ihrer Stirn wölbte, jene Art von Tiefe gab, die diese Frisur dem Blick verleiht … Ich hatte keine Ahnung, wer diese Frau, der ich zu dieser Stunde und an diesem Ort gegenüberstand, war. Meine Wirtsleute hatten noch nie einen Gast zu Tisch gehabt und sie kam wahrscheinlich zum Essen. Der Tisch war gedeckt … für vier Personen gedeckt. Aber mein Staunen, sie hier zu sehen, wurde bei weitem von meinem Staunen übertroffen, als ich erfuhr, wer sie war … als meine Wirtsleute, die das Eßzimmer betraten, sie mir als ihre Tochter vorstellten; die aus der Pension zurückgekommen sei und von nun an mit ihnen zusammen leben werde. Ihre Tochter! Es ist ganz unmöglich, daß jemand weniger die Tochter solcher Menschen war als dieses Mädchen! Damit will ich nicht sagen, daß die schönsten Mädchen der Welt nicht von jeder Art von Menschen in die Welt gesetzt werden können. Ich habe solche Mädchen gekannt … und Sie doch sicher auch? … Physiologisch kann das häßlichste Wesen der Welt das schönste Wesen hervorbringen. Aber sie! Zwischen ihr und ihnen lag der Abgrund einer Rasse … Übrigens fiel sie physiologisch … da ich mir erlaube, dieses pedantische Wort zu gebrauchen, das aus Ihrer Zeit und nicht aus der meinen stammt … nur durch ihr Gesicht auf, das bei einem jungen Mädchen ganz seltsam berührte und eine Art Gefühllosigkeit verriet, die schwer zu charakterisieren ist. Hätte sie dieses Gesicht nicht gehabt, man hätte gesagt: Ein schönes Mädchen!, um dann weiter nicht an sie zu denken wie an alle anderen schönen Mädchen auch, denen man zufällig begegnet, und von denen man dasselbe sagt. Aber 109
dieses Gesicht, das sie nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von allen anderen trennte, deren Gefühle und Leidenschaften sie nicht zu kennen schien, ließ einen vor Staunen sozusagen erstarren … Velasquez’ Infantin mit dem Wachtelhund … Sie kennen das Bild doch sicher … könnte Ihnen am ehesten eine Vorstellung von diesem Gesicht geben, das weder stolz noch wegwerfend oder verächtlich … sondern eben nur gefühllos war, denn ein stolzes, wegwerfendes oder verächtliches Gesicht sagt den Leuten, daß sie existieren, da man sich ja der Mühe unterzieht, sie zu verachten, während ein solches Gesicht in aller Ruhe zum Ausdruck bringt: ›Für mich existieren Sie nicht!‹ Ich gebe ohne weiteres zu, daß dieses Gesicht mich an diesem ersten und vielen anderen Tagen die Frage stellen ließ, auf die ich heute noch keine Antwort gefunden habe: Wie konnte dieses große Mädchen die Tochter dieses dicken Spießers in dem gelbgrünen Gehrock und der weißen Weste sein, dessen Gesicht die Farbe des Eingemachten seiner Frau hatte, und der außerdem stotterte? … Wenn der Ehemann auch weiter kein Problem war, denn bei dieser Art von Fragen ist er es nie, so schien es mir ebenso unmöglich, die Mutter zu ergründen. Fräulein Albertine (so hieß die stolze Erzherzogin, die bei diesen Spießern zur Welt gekommen war, als hätte sich der Himmel über sie lustig machen wollen), Fräulein Albertine, die ihre Eltern Alberte nannten, um sich den langen Namen zu ersparen, der vollkommen zu ihrem Gesicht und ihrer Gestalt paßte, schien weder die Tochter des einen noch der anderen zu sein. Bei diesem ersten Mittagsmahl, wie auch bei denen, die ihm folgten, machte sie ganz den Eindruck eines wohlerzogenen Mädchens, das nicht affektiert ist, gewöhnlich schweigt und, wenn es spricht, das, was es zu sagen hat, in wohlgesetzten Worten äußert, diese Linie aber nie überschreitet … Wäre sie sehr geistreich gewesen … ob das der Fall war, wußte ich nicht …, sie hätte kaum Gelegenheit gehabt, das bei unseren gemein110
samen Mahlzeiten zu zeigen. Die Gegenwart ihrer Tochter hatte den gewöhnlichen Gesprächen der beiden alten Leute notwendigerweise eine andere Richtung gegeben. Von den kleinen Skandalgeschichten sprachen sie nicht mehr. Man sprach buchstäblich an diesem Tisch nur noch von so interessanten Dingen wie Regen und Schönwetter. So kam es denn, daß ich von Fräulein Albertine oder Alberte, von deren gefühllosem Gesicht ich zuerst so sehr betroffen war, und die mir nichts anderes zu bieten wußte, bald genug hatte. Wäre ich ihr in der Gesellschaft begegnet, für die ich geschaffen war, und in der ich eigentlich hätte verkehren müssen, dann hätte mich diese Gefühllosigkeit sicher lebhaft gereizt … Aber für mich war sie ja kein Mädchen, dem ich den Hof machen konnte … nicht einmal mit den Augen. Meine Stellung ihr gegenüber … ich war ja bei ihren Eltern in Pension … war sehr delikat, und ein Nichts konnte mich auf einen falschen Weg drängen. Sie war mir im Leben weder nahe noch fern genug, als daß sie mir etwas hätte sein können … und so hatte ich denn schon sehr bald … ohne irgendwelche Absicht … in einer vollkommenen Gleichgültigkeit ihrer Gefühllosigkeit gegenüber die richtige Antwort gefunden. Das blieb sich stets gleich, von meiner wie von ihrer Seite. Zwischen uns herrschte die kälteste, mit Worten sparsamste Höflichkeit. Sie war für mich nur ein Bild, das ich kaum betrachtete. Und was war ich für sie? Bei Tisch … nur da begegneten wir einander … galten ihre Blicke mehr dem Pfropfen der Karaffe oder der Zuckerdose als meiner Person. Was sie sagte … immer sehr korrekt und vollendet im Ausdruck, dabei aber doch unbedeutend … lieferte mir keinen Schlüssel zu ihrem Wesen. Nun, was kümmerte mich das schließlich? Ich hätte mein ganzes Leben lang mit keinem Gedanken daran gedacht, in diesem Mädchen, das so unverschämt an eine Infantin erinnerte, etwas Besonderes zu sehen … Dazu bedurfte es eines Ereignisses, das ich Ihnen jetzt berichten werde, und das mich 111
traf wie ein Blitz … wie ein Blitz, der aus dem Himmel zuckt, ohne daß es gedonnert hat. Eines Abends … seit etwa einem Monat war Fräulein Alberte in das elterliche Haus zurückgekehrt … setzten wir uns zum Essen zu Tisch. Sie saß neben mir, und ich achtete so wenig auf sie, daß es mir bisher eigentlich noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen war, daß sie bei Tisch neben mir und nicht zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter saß, als ich in dem Augenblick, in dem ich meine Serviette auf den Knien entfaltete … nein, nie werde ich imstande sein, Ihnen auch nur eine Vorstellung von diesem Gefühl und diesem Erstaunen zu geben … eine Hand fühlte, die unter dem Tisch kühn die meine ergriff. Ich glaubte zu träumen … oder besser, ich glaubte gar nichts … Ich fühlte nur diese kühne Hand, die die meine sogar unter der Serviette suchte! Das war ebenso unerhört wie unerwartet! All mein Blut, das unter dieser Berührung in Flammen geriet, jagte aus meinem Herzen in diese lockende Hand, um dann, wie von einer Pumpe gejagt, wild in mein Herz zurückzufluten. Mein Blick trübte sich, in meinen Ohren begann es zu klingeln. Ich bin sicher sehr blaß geworden! Ich glaubte, ohnmächtig zu werden, glaubte, in dem unsagbaren Wohlgefühl zu vergehen, das durch das feste Fleisch dieser ein wenig großen Hand hervorgerufen wurde, die stark war wie die Hand eines jungen Burschen und die meine fest umschloß … Das liegt fünfunddreißig Jahre zurück, und Sie werden mir wohl die Ehre erweisen, zu glauben, daß sich im Laufe dieser Zeit meine Hand an den warmen Druck der Hand einer Frau gewöhnt hat. Aber wenn ich an den Druck dieser Hand denke, dann fühle ich heute noch, wie despotisch er in seiner unsinnigen Leidenschaft war. Als Beute von tausend Schauern, die diese umhüllende Hand mir durch den Körper jagte, fürchtete ich, meine Empfindungen vor diesem Vater und dieser Mutter zu 112
verraten, deren Tochter es unter ihren Augen wagte … Beschämt, weniger Mann zu sein als dieses kühne Mädchen, das sich unbedenklich allen Gefahren aussetzte und ihr Abweichen vom Pfad der Tugend unter einer unglaublichen Kaltblütigkeit verdeckte, biß ich mir die Lippen blutig in der übermenschlichen Anstrengung, meiner bebenden Lust Herr zu werden, die diesen armen, vertrauensseligen Menschen alles verraten konnte, und meine Augen suchten die andere dieser beiden Hände, die ich nicht bemerkt hatte, und die in diesem gefährlichen Augenblick an einer Lampe drehte, die man gerade auf den Tisch gestellt hatte, denn der Abend brach herein … Ich betrachtete sie … Das war also die Schwester dieser Hand, die ich die meine durchdringen fühlte; wie ein Ofen war sie, dessen ungeheure Flammen mir in die Adern drangen. Diese ein wenig dicke Hand, die aber lange und wohlgeformte Finger zierten, und an deren Ende das Licht der Lampe, das auf sie fiel, ein rosafarbiges Leuchten entzündete, zitterte nicht und erledigte die kleine Arbeit, die Lampe in Ordnung zu bringen, mit einer selbstverständlichen Sicherheit und anmutigen Lässigkeit in der Bewegung, wie ich sie noch nie erlebt hatte! … Aber wir konnten doch in dieser Haltung nicht verharren … Zum Essen bedurften wir unserer beiden Hände … Fräulein Albertes Hand gab also die meine frei. In dem Augenblick aber, in dem sie das tat, bemächtigte sich ihr Fuß, der ebenso ausdrucksvoll war wie ihre Hand, mit derselben Sicherheit, derselben Leidenschaft und Selbstherrlichkeit des meinen und ließ ihn während des Essens … das leider nicht lange dauerte … nicht wieder frei, ich kam mir vor wie in einem jener zuerst unerträglich heißen Bäder, an das man sich aber schnell gewöhnt, und in dem man sich schließlich so wohl fühlt, daß man auf den Gedanken kommt, die Verdammten müßten sich eines Tages in der Hölle ebenso frisch und munter fühlen wie die Fische im Wasser. Wie mir das Essen an diesem Tage schmeckte, das können Sie sich wohl 113
vorstellen … wie es Ihnen ja auch wohl klar sein dürfte, daß ich für das Geplauder meiner anständigen Wirtsleute kein Ohr hatte, die in ihrer Harmlosigkeit gar nicht ahnten, welch geheimnisvolles und schreckliches Drama sich unter dem Tisch vorbereitete. Sie merkten nichts … aber sie konnten etwas merken …, und ich machte mir mehr Sorge wegen der beiden Alten als meinet- und ihretwegen. In mir war noch die Anständigkeit meiner siebzehn Jahre lebendig … Ich fragte mich: ›Ist sie schamlos? Ist sie nicht bei Sinnen?‹ … Von der Seite betrachtete ich diese Närrin, die während des Essens auch nicht eine Sekunde lang ihr hoheitsvolles und unnahbares Wesen aufgab, und deren Gesicht ebenso ruhig blieb, als wenn ihr Fuß dem meinen nicht alle Torheiten verraten hätte, die ein Fuß sagen und tun kann … Ich gebe offen zu, daß mich ihre Sicherheit weit mehr erstaunte als ihre Torheit. Ich hatte eine ganze Reihe jener leichten Bücher gelesen, in denen die Frau nicht geschont wird. Ich war in einer Militärschule erzogen worden. Theoretisch wenigstens war ich ein Lovelace an Geckenhaftigkeit, wie es mehr oder weniger alle jungen Leute sind, die sich für hübsche Burschen halten, und die hinter den Türen und auf den Treppen von den Lippen der Kammermädchen ihrer Mütter die Küsse scheffelweise ernten. Aber das hier brachte das bißchen Sicherheit eines siebzehnjährigen Lovelace arg ins Schwanken. Es erschien mir viel stärker als alles, was ich gelesen hatte, als alles, was ich über die Verlogenheit der Frauen … über die Geschicklichkeit, mit der sie ihre heftigsten und tiefsten Erregungen zu verbergen imstande sind, gehört hatte. Vergessen Sie eins nicht: sie war achtzehn Jahre alt! War sie wirklich so alt? … Sie kam aus einer Pension zurück, die zu beargwöhnen ich keinerlei Grund hatte. Dieses Fehlen jeglicher Verlegenheit, dieser absolute Mangel an Scham, diese leichte Selbstbeherrschung, während sie Unvorsichtigkeiten beging, die für ein junges Mädchen besonders gefährlich sind, das den Mann, dem es sich durch ein so 114
ungeheuerliches Entgegenkommen auslieferte, durch keine Geste, durch keinen Blick benachrichtigt hatte … das alles beschäftigte mein Hirn und stand trotz der Wirrnis meiner Empfindungen ganz klar vor meinem Geist … Aber weder in diesem Augenblick noch später kam mir der Gedanke, hierüber philosophische Betrachtungen anzustellen. Es war auch keineswegs so, daß ich den über das Verhalten dieses jungen Mädchens, das im Bösen eine so erschreckende Frühreife an den Tag legte, Entsetzten spielte. Weder in jenem Alter noch später hält man die Frau, die sich einem auf den ersten Blick hingibt, für aller Sittlichkeit bar. Man neigt vielmehr dazu, das für ganz einfach und natürlich zu halten, und wenn man sagt: ›Die arme Frau!‹, dann ist dieses Mitleid schon viel Bescheidenheit. Kurzum, wenn ich schon schüchtern war, so wollte ich unter keinen Umständen ein Tropf sein. Damit entschuldigt sich der Franzose, wenn er ohne Gewissensbisse auch das Schlimmste tut. Ich wußte zweifellos, daß das, was das junge Mädchen für mich empfand, keine Liebe war. Die Liebe geht nicht mit dieser Schamlosigkeit und Frechheit zu Werke, und ich wußte ebenso genau, daß das, was sie mich empfinden ließ, auch keine Liebe war … Ob nun Liebe oder nicht … ich wollte es für mich haben! … Als ich vom Essen aufstand, war ich fest entschlossen … Die Hand dieser Alberte, an die ich erst in dem Augenblick dachte, in dem sie die meine ergriff, hatte mich bis in die Tiefe meines Wesens mit dem Wunsch erfüllt, mich ganz mit ihr zu vereinen, wie ihre Hand sich mit der meinen vereint hatte! Wie von Sinnen eilte ich in mein Zimmer, und als mich nüchterne Überlegungen ein wenig ruhiger hatten werden lassen, fragte ich mich, was ich nun tun sollte, um mit einem so verteufelt herausfordernden Mädchen ›die Sache in Schwung zu bringen‹, wie man in der Provinz sagt. Ich wußte … wie jemand, der auf genauere Feststellungen keinen Wert legt …, daß ihre Mutter sie niemals allein ließ. Daß sie meist in ihrer Nähe 115
am selben Nähtisch arbeitete, der in der Nische des Eßzimmers stand, das ihnen auch als Wohnzimmer diente. Daß sie in der Stadt keine Freundin hatte, die sie besuchte, und daß sie nur sonntags das Haus verließ, um mit ihren Eltern zusammen die Messe und die Vesper zu besuchen. Besonders ermutigend war das nicht! … Ich fing an, zu bereuen, nicht ein wenig intimer mit diesen beiden guten Alten gewesen zu sein, die ich zwar ohne Hochmut, doch mit jener losgelösten und manchmal zerstreuten Höflichkeit behandelt hatte, die man denen gegenüber an den Tag legt, an denen man nur ein nebensächliches Interesse hat. Aber ich sagte mir, daß ich mein Verhalten ihnen gegenüber nicht ändern konnte, ohne mich der Gefahr auszusetzen, ihnen zu verraten oder sie ahnen zu lassen, was ich ihnen verbergen wollte … Für eine heimliche Unterhaltung mit Fräulein Alberte blieben nur die Begegnungen auf der Treppe, bei denen man uns aber sehen und hören konnte … In diesem so geregelten und kleinen Haushalt, wo der eine den anderen mit dem Ellbogen anstieß, blieb mir nur ein Ausweg: an sie schreiben! Und da die Hand dieses so kühnen jungen Mädchens die meine unter dem Tisch so gut zu finden wußte, würde sie auch wohl, ohne sich weiter zu sträuben, den Brief in Empfang nehmen, den ich ihr zustecken wollte … So schrieb ich ihr denn. Es war der bei solchen Gelegenheiten übliche Brief, der flehende, gebieterische und trunkene Brief eines Menschen, der einen ersten Schluck aus dem Becher des Glücks getrunken hat und sich nun nach dem zweiten sehnt. Um ihn ihr zu geben, mußte ich das Mittagessen am nächsten Tag abwarten … und das erschien mir unendlich lang. Aber dann kam auch dieses Mittagessen! Die Hand, deren Berührung ich seit vierundzwanzig Stunden auf der meinen fühlte, suchte meine Hand so wie am Abend vorher unter dem Tisch … Fräulein Alberte fühlte meinen Brief und nahm ihn … wie ich es vorausgesehen hatte. Aber nicht vorausgesehen hatte ich, 116
daß sie ihn mit dem gleichgültigen, herausfordernden Stolz einer Infantin in dem Ausschnitt ihres Mieders verschwinden ließ, indem sie mit einer kleinen, harten Bewegung eine etwas verrutschte Spitze zurechtzupfte … und das alles mit einer solchen Natürlichkeit und Behendigkeit, daß ihre Mutter, die die Suppe ausgab, nichts merkte und ihr Dummkopf von Vater, der mit seinen Gedanken, auch wenn er nicht spielte, immer bei seiner Geige war, sich keinen Vers darauf machen konnte.« »Das geht den meisten so, Hauptmann«, unterbrach ich ihn lustig, denn ich hatte den Eindruck, daß seine Geschichte sich ziemlich schnell zum Bericht über eines der üblichen Garnisonsabenteuer entwickelte … aber ich ahnte ja nicht, was alles noch kommen sollte! … »Vor einigen Tagen sah ich in der Oper, in einer Loge neben der meinen, eine Frau, die mit Ihrem Fräulein Alberte Ähnlichkeit haben dürfte. Sie war älter als achtzehn Jahre … aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich selten eine Frau gesehen habe, die in ihrer Schicklichkeit majestätischer wirkte. Während der ganzen Vorstellung saß sie unbeweglich da, als wäre sie aus Granit. Sie wandte sich weder nach rechts noch nach links … kein einziges Mal. Aber vielleicht sah sie mit ihren sehr nackten und sehr schönen Schultern; denn in meiner Loge, und folglich hinter uns beiden, saß ein junger Mann, der genau wie sie gegen alles, was nicht die Oper war, die man spielte, gleichgültig zu sein schien. Ich kann bezeugen, daß der junge Mann keine einzige jener Affereien von Stapel ließ, mit denen die Männer an öffentlichen Orten die Frauen bedenken. Als aber die Vorstellung zu Ende war, als in der Art eines allgemeinen Tumults die Logen sich leerten und die Dame sich in der ihren erhob, um ihren Umhang zuzuhaken, hörte ich, wie sie zu ihrem Mann mit ehelich befehlender und besonders deutlicher Stimme sagte: ›Henri, hebe doch bitte meine Kapuze auf!‹ Und während Henri sich bückte, streckte sie über seinen Rücken hinweg … den Arm und die Hand und nahm aus 117
der des jungen Mannes einen Brief in Empfang, als hätte sie aus den Händen ihres Mannes ihren Fächer oder ihren Blumenstrauß in Empfang genommen … Inzwischen hatte der arme Ehemann sich wieder aufgerichtet … in der Hand hielt er eine Kapuze aus hochrotem Satin, der allerdings nicht so rot war wie sein Gesicht … So gut er es vermochte, hatte er, selbst auf die Gefahr eines Schlaganfalls hin, die Kapuze unter den kleinen Fußbänken herausgefischt … Meiner Treu! Nach diesem Erlebnis verließ ich die Oper und dachte, daß der Mann besser daran getan hätte, die Kapuze nicht seiner Frau zu geben, sondern sie für sich zu behalten, um das zu verbergen, was plötzlich auf seinem Kopf zu wachsen begann!« »Ihre Geschichte ist nicht schlecht«, sagte der Vicomte ziemlich kühl … zu einer anderen Zeit hätte er sie vielleicht besser genossen … »Aber lassen Sie mich Ihnen die meine zu Ende erzählen. Ich gestehe, daß ich mir bei einem solchen Mädchen über das Schicksal meines Briefes keine zwei Minuten lang Sorgen machte. Wenn sie auch am Gängelband ihrer Mutter ging, würde sie doch Mittel und Wege finden, den Brief zu lesen und mir zu antworten. Ich rechnete … für eine ganze Zukunft schriftlicher Unterhaltung … mit dieser kleinen Post unter dem Tisch. Doch als ich am folgenden Tage das Eßzimmer mit der Gewißheit betrat, sofort eine sehr kategorische Antwort auf meinen Brief vom Abend vorher zu erhalten, traute ich meinen Augen nicht, als ich sah, daß die Tischordnung eine andere war und Fräulein Alberte dort saß, wo sie schon immer hätte sitzen müssen: zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter … Warum diese Änderung? Was hatte sich ereignet, ohne daß ich etwas davon wußte? Ahnten der Vater oder die Mutter etwas? Fräulein Alberte saß mir gegenüber, und ich betrachtete sie mit jener Starrheit, die zu verstehen sucht. In meinen Augen standen fünfundzwanzig Fragezeichen, die ihren aber waren genauso ruhig, stumm und gleichgültig wie immer. Sie sahen mich an, 118
als wenn sie mich nicht sähen. Ich habe nie Blicke erlebt, die einen ungeduldiger machen, als jene langen, ruhigen Blicke, die auf einen fallen, als wäre man ein lebloses Ding. Ich brannte vor Neugierde, vor Widerstreit und Unruhe … in mir tobte ein ganzer Vulkan erregter und enttäuschter Gefühle … und ich konnte gar nicht fassen, wie diese Frau, die ihrer so sicher war, daß man glauben konnte, sie hätte an Stelle der Nerven unter ihrer feinen Haut fast ebenso viele Muskeln wie ich, es nicht zu wagen schien, mir ein Zeichen des Einverständnisses zu machen, das mich benachrichtigte … mich denken ließ … mir sagte, daß wir uns verstanden, daß wir Wisser des gleichen Geheimnisses waren, daß es Liebe oder auch keine Liebe war! Ich fragte mich, ob die, die mir gegenüber saß, das Mädchen mit der Hand und dem Fuß unter dem Tisch war … die gleiche, die am Abend vorher meinen Brief in Empfang genommen und ihn vor ihren Eltern so natürlich in ihrem Mieder hatte verschwinden lassen, als steckte sie eine Blume an ihm fest! Sie hatte bisher schon so viel getan, daß es sie nicht in Verlegenheit setzen konnte, mich mit einem verheißungsvollen Blick zu bedenken. Aber nein! Nichts dergleichen? Das Essen verging ohne diesen Blick, auf den ich immer wartete, der sich an dem meinen entzünden sollte, und der sich nicht entzündete! Vielleicht hat sie andere Mittel und Wege gefunden, mir zu antworten, sagte ich mir, als ich vom Essen aufstand und mich in mein Zimmer begab, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß jemand, der mir so weit entgegengekommen war, nun plötzlich zurückweichen sollte. Ebenso wenig konnte ich mir denken, daß sie vor etwas zurückschreckte, wenn es eine ihrer Launen galt … und ganz offen gesagt: ich glaubte, daß ich eine dieser ihrer Launen war. Wenn ihre Eltern keinen Argwohn haben … wenn diese Änderung der Tischordnung nur ein Zufall ist, sagte ich mir, dann sitze ich morgen wieder neben ihr … Aber weder am nächsten 119
noch an den anderen Tagen saß ich neben Fräulein Alberte, die weiterhin mit demselben unfaßbaren Gesichtsausdruck und losgelösten Ton die Nichtigkeiten und Gemeinplätze äußerte, die an diesem Tisch kleiner Bürger gang und gäbe waren. Sie können sich wohl denken, daß ich sie mit dem allergrößten Interesse beobachtete. Sie schien weiter gar nicht verärgert, während ich furchtbar verärgert war und meine Verärgerung schon an eine Wut grenzte, die ich doch verbergen mußte. Ihr Gesichtsausdruck, der immer der gleiche war, entfernte mich von ihr noch mehr, als die geänderte Tischordnung es tat. Ich war so erbost, daß ich schließlich nicht mehr fürchtete, sie durch meine Blicke zu kompromittieren, und ihren großen, undurchdringlichen, eiskalten Augen die drohende und glühende Schwere der meinen entgegenstellte. War ihr Verhalten vielleicht eine List? War es Koketterie? War es nur eine Laune nach einer anderen Laune? … Oder war es nur Stumpfsinn? Ich habe in der Folgezeit Frauen kennen gelernt, die zu Anfang in hellen Flammen standen, um dann in Stumpfsinn zu versinken! Wenn man nur den Augenblick kennt, sagte Ninon. War der Augenblick Ninons schon vorbei? Aber ich wartete immer noch. Auf was? Ein Wort, ein Zeichen, ein gewagtes Nichts, das, während wir vom Tisch aufstanden, im Lärm der zurückgeschobenen Stühle gesagt wurde … und als nichts dergleichen erfolgte, kamen mir allerlei tolle Gedanken, die wohl das Absurdeste darstellten, das es auf der Welt gibt. Ich bildete mir ein, daß sie mir wegen all der Unmöglichkeiten, die uns in diesem Haus umgaben, ihre Antwort durch die Post schicken würde … daß sie wohl gerissen genug sein würde, einen Brief in den Kasten zu werfen, wenn sie mit ihrer Mutter das Haus verließ … und unter dem Zwang dieses Gedankens packte mich schon eine Stunde, bevor der Briefträger das Haus betrat, täglich zweimal eine wilde Unruhe. Während dieser Stunde sagte ich wohl zehnmal mit erstickter Stimme zu der alten Olivia: ›Ist Post für mich da, O1ivia?‹ Und 120
immer wieder erhielt ich die gleiche Antwort: ›Nein, Herr, der Briefbote hat nichts gebracht.‹ Dieser Zustand war unerträglich! Aus der betrogenen Begierde wurde wilder Haß. Ich begann, diese Alberte zu hassen und aus einem Haß, der seine Wurzeln in betrogener Begierde hatte, ihr Verhalten mir gegenüber durch Motive zu erklären, die es mir gestatteten, sie mehr als alles andere zu verachten, denn Haß dürstet nach Verachtung. Verachtung ist Nektar für den Haß. ›Die gemeine Schurkin hat Angst vor einem Brief!‹ sagte ich mir … Wie Sie bemerken, fing ich schon an, zu schimpfen. In Gedanken beleidigte ich sie, ohne daß mir dabei zum Bewußtsein kam, daß ich sie vielleicht verleumdete. Ich bemühte mich sogar, nicht mehr an die zu denken, die ich mit den gemeinsten Soldatenausdrücken bedachte, wenn ich Louis de Meung von ihr erzählte … denn das tat ich. Die Wut hatte alle Ritterlichkeit in mir ertötet … und ich hatte meinem braven Louis das ganze Abenteuer haarklein berichtet. Mir zuhörend, hatte Louis seinen langen, blonden Schnurrbart gedreht und mir dann ohne jede Hemmung … wir waren bei den 27ern keine Moralisten … gesagt: ›Mache es wie ich! Ein Keil treibt den anderen! Nimm dir eine kleine Näherin aus der Stadt als Geliebte, und denke nicht weiter an das blöde Frauenzimmer!‹ Aber ich befolgte Louis’ Rat nicht. Dazu war ich zu empfindlich getroffen. Wenn sie erfuhr, daß ich eine Geliebte hatte, sagte sie sich vielleicht, daß ich nur ihr Herz oder ihre Eitelkeit durch die Eifersucht treffen wollte … Aber sie würde es nicht erfahren … Wie sollte sie es denn erfahren? Hätte ich eine Geliebte mit in meine Wohnung genommen, wie Louis es tat, der in der Post wohnte, so hätte das zu einem Bruch mit den guten Leuten geführt, bei denen ich wohnte, und die mich sofort gebeten hätten, mir eine andere Wohnung zu suchen … aber um diesen Preis wollte ich nicht auf die Möglichkeit verzichten, die Hand oder den Fuß dieser mich rasend machenden Alberte wie121
derzufinden, die trotz allem, was sie bisher gewagt hatte, immer noch das große gefühllose Fräulein blieb … ›Sag’ lieber stillos‹, meinte Louis, der sich über mich lustig machte … So verging ein ganzer Monat, und trotz meines Entschlusses, mich ebenso vergeßlich und gleichgültig wie Alberte zu zeigen, Marmor gegen Marmor und Kälte gegen Kälte zu stellen, lebte ich doch immer in einer Spannung, wie man sie auf dem Anstand empfindet … und dabei habe ich immer diese Art von Anstand verabscheut. Ja, mein lieber Herr, meine Tage waren ein dauerndes Lauern! Lauern, wenn ich zum Essen nach unten ging und hoffte, sie allein im Eßzimmer anzutreffen wie an jenem Tage, als ich sie zum erstenmal sah. Lauern beim Essen, wenn mein Blick den ihren von vorn oder von der Seite aufs Korn nahm … und der war immer klar und verteufelt ruhig und wich dem meinen weder aus, noch beantwortete er ihn … Lauern nach dem Essen, denn ich blieb jetzt noch ein wenig mit den Damen zusammen, wenn sie nach dem Essen ihre Handarbeiten hervorholten, mit denen sie sich in die Fensternische setzten. Immer wieder wartete ich darauf, daß sie etwas fallen ließe: ihren Fingerhut, ihre Schere, ein Stückchen Stoff, das ich dann aufheben und ihr reichen könnte, um dabei ihre Hand zu berühren … denn diese Hand ging mir nicht mehr aus dem Kopf! Lauern, wenn ich in mein Zimmer hinaufgegangen war … denn immer wieder glaubte ich, auf dem Flur den Fuß zu hören, der sich mit so absolutem Willen auf den meinen gestellt hatte. Lauern auch auf der Treppe, wo ich glaubte, ihr begegnen zu können, und wo mich die alte Olivia eines Tages zu meiner großen Verwirrung überraschte. Lauern an meinem Fenster … an dem Fenster, das Sie da oben sehen … an das ich mich stellte, wenn sie mit ihrer Mutter ausging, und das ich erst verließ, wenn sie das Haus wieder betreten hatte … Aber auch das war ebenso vergeblich wie alles andere auch. Wenn sie, in ihren Jungmädchenschal gehüllt, ausging … ein rot-weiß gestreifter 122
Schal: ich habe nichts vergessen!, der auf den beiden Streifen mit gelben und schwarzen Blumen übersät war …, dann wandte sie ihren frechen Oberkörper nicht ein einziges Mal um, und wenn sie dann, an der Seite der Mutter gehend, nach Hause kam, hob sie weder den Kopf noch die Augen nach dem Fenster, an dem ich sie erwartete. Zu solchen Demütigungen hatte sie mich verurteilt … Ach, an das Glück, das mir meine Uniform gab, dachte ich nicht mehr! Wenn ich meinen Dienst hinter mir hatte … Exerzieren oder Besichtigung … dann eilte ich nach Hause … aber nicht, um haufenweise Memoiren oder Romane, die damals meine einzige Lektüre waren, zu verschlingen. Ich ging nicht mehr zu Louis Meung. Meine Florette rührte ich nicht mehr an. Ich kannte nicht die beruhigende Wirkung des Tabaks, der den Tätigkeitsdrang einschläfert, wenn er einen verschlingt … ihr jungen Leute kennt ihn nur zu gut. Damals rauchte man nicht bei den 27ern … oder besser: nur die gemeinen Soldaten rauchten im Wachlokal, wenn sie auf der Trommel eine Partie Karten spielten … Ich blieb also körperlich untätig, zermarterte mir … vielleicht … das Herz, wenn ich auf dem Sofa lag, dem ich früher die mir so angenehme Kühle verdankte, während ich jetzt in diesem sechs Quadratmeter großen Zimmer herumlief wie ein junger Löwe in seinem Käfig, wenn er frisches Fleisch wittert. So war es am Tage, und so war es während eines Teiles der Nacht. Ich ging spät zu Bett. Ich konnte nicht mehr schlafen. Sie hielt mich wach, diese teuflische Alberte, die mir die Hölle in den Adern angezündet hatte und dann weggegangen war wie der Brandstifter, der nicht einmal den Kopf wendet, die Flammen seines Feuers zu sehen! Ich ließ vor dem Fenster … genau wie heute abend …«, der Vicomte fuhr mit dem Handschuh über die Fensterscheibe, um die Feuchtigkeit, die auf ihr zu perlen begann, abzuwischen …,, »denselben roten Vorhang herab … denn das Fenster hatte damals ebensowenig Läden wie heute 123
… damit die Nachbarn, die in der Provinz neugieriger sind als anderswo, nicht hineinschauen konnten. Es war ein Zimmer, wie es damals üblich war … ein Empire-Zimmer mit Parkettfußboden und ohne Teppich, die Möbel aus Kirschbaum mit Bronzebeschlägen … Sphinxköpfe an den vier Ecken des Bettes und Löwentatzen unter den vier Füßen, an allen Schubladen der Kommode und des Sekretärs gemmenartige Löwenköpfe mit Kupferringen in grünlichen Mäulern, an denen man ziehen mußte, wollte man eine Lade öffnen. Ein viereckiger Tisch aus rötlicherem Kirschbaum als die übrigen Möbel, mit einer Platte aus grauem Marmor, die mit Kupfer eingefaßt war, stand dem Bett gegenüber an der Wand zwischen dem Fenster und der Tür eines großen Ankleideraums. Dem Kamin gegenüber stand das große Sofa mit dem Bezug aus blauem Leder, von dem ich Ihnen schon erzählt habe … In allen Ecken dieses sehr hohen und sehr großen Zimmers standen Ecktische aus unechtem Lack, und auf einem von ihnen sah man … geheimnisvoll und weiß in der dunklen Ecke … eine alte Büste der Niobe, auf die man bei diesen Spießern in keiner Weise vorbereitet war … Aber war ich auf diese unbegreifliche Alberte mehr vorbereitet gewesen? Die getäfelten und gelblichweiß gestrichenen Wände zierten weder Bilder noch Stiche. Ich hatte auf ihnen meine Waffen an langen, kupfervergoldeten Haken aufgehängt. Als ich diese Riesenbude, wie der Leutnant Louis Meung das Zimmer nannte … er nennt die Dinge gern beim richtigen Namen …, gemietet hatte, hatte ich einen großen runden Tisch in die Mitte des Raumes stellen lassen und mit militärischen Karten, Büchern und Papieren bedeckt: es war mein Arbeitstisch. An ihm schrieb ich, wenn ich etwas zu schreiben hatte … Eines Abends oder besser eines Nachts hatte ich das Sofa vor diesen großen Tisch geschoben, an dem ich beim Licht der Lampe zeichnete … nicht etwa, um den einzigen Gedanken zu verscheuchen, der mich seit einem Monat nicht mehr losließ, 124
sondern um mich noch tiefer in ihn zu versenken … denn ich zeichnete den Kopf dieser rätselhaften Alberte … das Gesicht dieses Weibes, von dem ich besessen war wie von einem Teufel … so sagen ja wohl die Frommen … Es war spät … die Straße, durch die in jeder Nacht, genau wie heute, zwei Postkutschen in entgegengesetzter Richtung fuhren, die eine um ein Viertel vor eins und die andere um halb drei morgens, und die beide vor dem Gasthof zur Post hielten, um die Pferde zu wechseln … die Straße war so still wie ein tiefer Brunnen. Man hätte eine Fliege fliegen hören können, und wenn zufällig in meinem Zimmer keine war, dann schlummerte sie sicher in irgendeiner Fensterecke oder einer der kannelierten Falten dieses Vorhangs aus geköperter Seide, den ich von seinen Rosetten gelöst hatte, so daß er senkrecht vor der ganzen Breite des Fensters hing. Das einzige Geräusch, das mich in diesem tiefen und vollkommenen Schweigen umgab, rührte von meinem Bleistift und meinem Wischer her. Ja, ich zeichnete sie … und der liebe Gott weiß, mit welch liebender Hand und welcher Begeisterung ich arbeitete. Plötzlich … ohne daß das Knacken des Schlosses mich gewarnt hätte … öffnete sich meine Tür mit jenem leichtquietschenden Ton, der davon herrührt, daß die Angeln nicht geschmiert sind. Die Tür blieb halbgeöffnet, als hätte sie der Ton, den sie von sich gab, erschreckt. Ich sah von meiner Arbeit auf, denn ich glaubte, ich hätte die Tür nicht ordentlich geschlossen, und sie hätte sich von selbst unversehens geöffnet, wobei sie diesen kläglichen Ton von sich gab, der ganz dazu angetan ist, die, die nächtlicherweile noch auf sind, zu erschrecken und die, die schlafen, zu wecken. Ich stand auf, um die Tür zu schließen. Aber die halbgeöffnete Tür öffnete sich weiter … ein Stückchen nach dem anderen … und wieder hörte ich das Quietschen, das wie ein Stöhnen durch das stille Haus zog … und als die Tür dann endlich ganz geöffnet war, sah ich – Alberte! … Alberte, die trotz aller Vorsicht, die in einer tiefen Angst wur125
zelte, das Quietschen dieser verdammten Tür nicht hatte vermeiden können. Donnerwetter! Wer daran glaubt, spricht von Visionen … aber die übernatürlichste Vision hätte mich nicht so überrascht, hätte mir nicht so nach dem Herzen gegriffen, das auf einmal wie wild zu schlagen begann, als ich durch diese geöffnete Tür … Alberte auf mich zukommen sah … erschreckt über das Geräusch, das die Tür beim Öffnen gemacht hatte. Vergessen Sie nicht, daß ich damals noch keine achtzehn Jahre alt war! Sie erkannte vielleicht meine Angst an der ihren: durch eine energische Geste unterdrückte sie den Schrei der Überraschung, der mir entschlüpfen konnte … der mir auch ohne diese Geste sicher entschlüpft wäre … und sie schloß die Tür … nicht langsam, denn dann hätte die Tür gequietscht … sondern schnell, um dieses Schreien der Angeln zu vermeiden. Aber die Angeln quietschen schriller, lauter … und als sie die Tür geschlossen hatte, legte sie das Ohr gegen sie und lauschte, ob nicht ein anderes Geräusch, das beunruhigender und schrecklicher gewesen wäre, laut werden würde … Ich glaubte, sie wanken zu sehen … Ich eilte auf sie zu, und bald lag sie in meinen Armen.« »Ihre Alberte geht aber scharf ran«, sagte ich zu dem Hauptmann. »Sie glauben vielleicht«, fuhr der Vicomte fort, als hätte er meine Bemerkung nicht gehört, »daß sie vor Schrecken, Leidenschaft oder Kopflosigkeit mir in die Arme sank, wie eine Frau, die man verfolgt oder verfolgen kann … die nicht mehr weiß, was sie tut, wenn sie die letzte aller Torheiten begeht, wenn sie sich diesem Dämon ausliefert, der in allen Frauen lebt … wie man behauptet … und der unumschränkt über sie herrschen würde … wenn nicht noch zwei andere in ihnen lebten … die Feigheit und die Scham … Nein! Das war es nicht. Wenn Sie das glaubten, Sie irrten sich ganz gewaltig … Sie hatte nichts von dieser gemeinen Angst … Sie schloß mich eher in 126
die Arme als ich sie. Ihre erste Bewegung war gewesen, ihre Stirn an meiner Brust zu bergen, aber schon bald hob sie den Kopf wieder und sah mich mit großen … unendlich großen Augen an … als wollte sie sich davon überzeugen, daß sie mich in den Armen hielt. Sie war furchtbar blaß, blasser, als ich sie je gesehen hatte. Aber ihr Gesicht hatte immer noch seinen hochmütigen Ausdruck … war unbeweglich und starr wie das Bildnis auf einer Medaille. Nur über ihrem Mund mit den leicht aufgeworfenen Lippen lag irgend etwas wie Verwirrung, die aber nicht die Verwirrung aus augenblicklicher oder zukünftiger glücklicher Leidenschaft war, und diese Verwirrung hatte etwas so Unheimliches, daß ich, um sie nicht zu sehen, auf diese schönen roten und aufgeworfenen Lippen den kräftigen, alles mit sich reißenden, triumphierenden und selbstsichern Kuß der Begierde drückte. Der Mund öffnete sich halb, aber die dunklen, tiefschwarzen Augen, deren lange Wimpern die meinen fast berührten, schlossen sich nicht … zuckten nicht einmal … doch sah ich, durch ihre Tiefe wie über ihren Mund, den Wahnsinn huschen! In diesem Feuerkuß gefangen und gleichsam davongetragen von den Lippen, die die ihren durchdrangen, eingesogen von dem Atem, der sie einatmete, trug ich sie, die mich immer noch fest umschlungen hielt, auf das Sofa mit dem Bezug aus blauem Leder … für mich seit einem Monat der Rost des Heiligen Laurentius, auf dem ich mich wälzte, wenn ich an sie dachte … und dessen Leder wollüstig unter ihrem nackten Rücken zu knarren begann … denn sie war halbnackt zu mir gekommen. Sie hatte ihr Bett verlassen und, um mein Zimmer zu erreichen … vielleicht glauben Sie das nicht …, das Zimmer durchquert, in dem ihre Eltern schliefen. Sie hatte sich mit vorgestreckten Händen, um nirgendwo anzustoßen, durch das Zimmer getastet. »Tapferer kann man im Laufgraben auch nicht sein«, sagte ich. »Sie war schon wert, die Geliebte eines Soldaten zu sein.« 127
»Das wurde sie in dieser ersten Nacht«, fuhr der Vicomte fort … »Sie war ebenso leidenschaftlich wie ich … und ich schwöre Ihnen, daß ich es an Leidenschaft nicht fehlen ließ! Aber das spielt keine Rolle … die Vergeltung blieb nicht aus! Weder sie noch ich konnten, selbst in den wildesten Augenblicken nicht, die Situation vergessen, die sie für uns heraufbeschworen hatte. Im Schoß dieses Glücks, das sie mir bot und bei mir suchte, war sie doch wie betäubt über das, was sie mit so festem Willen und wilder Hartnäckigkeit tat. Aber ich wunderte mich weiter nicht darüber. Auch ich war wie betäubt! Ohne es ihr zu sagen oder zu zeigen, hatte ich, während sie mich so an sich drückte, daß mir fast der Atem verging, die schlimmste Angst im Herzen. Durch ihr Stöhnen und ihre Küsse, durch das erschreckende Schweigen, das auf diesem schlafenden und vertrauensseligen Haus lastete, lauschte ich nur auf eins: ob ihre Mutter nicht aufwachte, ob ihr Vater nicht aufstand. Über ihre Schulter hinweg sah ich nach der Tür, aus deren Schloß sie nicht den Schlüssel gezogen hatte, weil das wieder ein Geräusch verursacht hätte, ob sie sich nicht ein zweites Mal öffnete, um mir, bleich und voller Empörung, diese beiden Medusenhäupter, diese beiden alten Menschen, zu zeigen, die wir mit so kühner Feigheit betrogen … ein Bild der vergewaltigten Gastfreundschaft und der Gerechtigkeit. Selbst das wollüstige Knarren des blauen Leders ließ mich vor Angst erbeben … Mein Herz schlug gegen das ihre, das mir sein Schlagen zurückzuwerfen schien … Es war berauschend und ernüchternd zugleich … Aber auch daran gewöhnte ich mich später. Da ich diese namenlose Unvorsichtigkeit immer wieder ungestraft beging, wurde ich in dieser Unvorsichtigkeit ganz ruhig. Da mir immer die Gefahr drohte, überrascht zu werden, gewöhnte ich mich an die Gefahr. Ich dachte nicht mehr an sie. Ich dachte nur noch daran, glücklich zu sein. Schon in dieser ersten furchtbaren Nacht, die ihr vor den anderen hätte Angst einflößen müs128
sen, hatte sie sich entschlossen, eine über die andere Nacht zu mir zu kommen, da ich ja nicht zu ihr kommen konnte … sie konnte ihr Mädchenzimmer nur durch das Zimmer ihrer Eltern verlassen … und sie kam regelmäßig jede zweite Nacht. Aber niemals verlor sie die dumpfe Starrheit der ersten Nacht. Die Zeit wirkte nicht auf sie, wie sie auf mich wirkte. Sie wurde nicht hart der Gefahr gegenüber, der wir jede Nacht die Stirn boten. Immer blieb sie, auch dann, wenn sie an meinem Herzen ruhte, schweigsam, sprach zu mir kaum mit der Stimme, während sie sonst … wie Sie sich wohl denken können … sehr beredt war. Als mich später nach der immer wieder überstandenen Gefahr eine tiefe Ruhe überkam und ich mit ihr wie mit einer Geliebten über das sprach, was sich zwischen uns beiden ereignet hatte … über ihre unerklärliche Kälte, die sich selbst Lügen strafte … ich hielt sie ja in meinen Armen … über das, was auf ihre ersten Kühnheiten gefolgt war … als ich schließlich alle diese unersättlichen ›Warum‹ der Liebe an sie richtete, die im Grunde vielleicht nur Neugierde sind, antwortete sie immer nur mit langen Umarmungen. Ihr trauriger Mund blieb stumm. Er konnte nur noch küssen. Es gibt Frauen, die zu einem sagen: ›deinetwegen renne ich in mein Unglück …‹, und andere, die sagen: ›Nun wirst du mich verachten …‹ Beides bringt nur das ›Schicksalhafte‹ der Liebe zum Ausdruck. Aber sie … sie sagte kein einziges Wort. Seltsam … genauso seltsam wie sie selbst. Ich glaubte immer, daß einmal doch der Augenblick kommen müßte, in dem der Marmor endlich unter der glühenden Hitze barst … aber nie verlor der Marmor seine starre Dichte. In den Nächten, in denen sie zu mir kam, war sie weder aufgeschlossener noch gesprächiger, und … gestatten Sie diesen kirchlichen Ausdruck … es war genauso schwer wie in der ersten Nacht, ihr die Beichte abzunehmen. Ich konnte nichts aus ihr herausholen. Höchstens entriß ich diesen schönen Lippen, auf die ich um so mehr versessen war, als ich sie tagsüber immer nur kalt und 129
gleichgültig sah, ein Wort … das mir aber über das Wesen dieses Mädchens, das mir sphinxartiger vorkam als alle Sphinxe um mich in diesem Empirezimmer, keinen Aufschluß zu geben vermochte.« »Aber Hauptmann«, unterbrach ich ihn wieder, »das alles mußte doch mal ein Ende haben? Sie sind ein starker Mann, und alle Sphinxe sind Fabelwesen. Im Leben gibt es die nicht, und schließlich haben Sie doch sicher festgestellt, was Ihr Fabeltier in sich hatte.« »Ein Ende! … Ja, ein Ende hatte das alles schon«, antwortete der Vicomte de Brassard, der plötzlich das Fenster des Abteils öffnete, als böte der kleine Raum seiner monumentalen Brust nicht genug Luft … als bauche er neue, seine Geschichte zu Ende erzählen zu können … »Aber deswegen blieb mir das Innere dieses seltsamen Mädchens doch genauso verschlossen wie bisher. Unsere Liebe, unsere Beziehung, unsere Intrige … nennen Sie es, wie Sie es wollen … gab uns oder vielmehr mir Sensationen, die ich seitdem nie wieder mit Frauen erlebt habe, die ich mehr liebte als diese Alberte, die mich vielleicht nicht liebte, und die auch ich vielleicht nicht liebte! Ich habe nie so recht verstanden, was sie für mich und was ich für sie empfand … und doch dauerte ›unsere Liebe‹ länger als ein halbes Jahr. Was ich während dieses halben Jahres begriff, war eine Art Glück, von dem man in der Jugend keine Vorstellung hat. Ich begriff das Glück derer, die sich verbergen. Ich begriff die Freude an einem gemeinsamen Geheimnis, die, auch wenn keine Hoffnung auf Erfolg besteht, immer wieder unverbesserliche Verschwörer schafft. Am Tisch ihrer Eltern war Alberte, wie überall anderswo, immer noch die stolze Infantin, die mich an dem Tage, an dem ich sie zum erstenmal sah, so betroffen gemacht hatte. Ihre römische Stirn unter dem blauschwarzen Haar, das sich hart lockte und ihre Augenbrauen berührte, verriet nichts von der sündigen Nacht, die sie mit keinerlei Röte 130
bedeckte. Und ich, der ich versuchte, ebenso undurchdringlich zu sein wie sie, der ich mich aber, dessen bin ich sicher, zehnmal verraten hätte, wenn ich mit Beobachtern zu tun gehabt hätte, ich sättigte mich stolz und fast sinnlich in der Tiefe meines Seins an dem Gedanken, daß diese herrliche Gleichgültigkeit nur mir gehörte, daß sie für mich alle Gemeinheiten der Leidenschaft hatte, wenn Leidenschaft überhaupt gemein sein kann. Nur wir auf Erden wußten das … und dieser Gedanke war köstlich! Auch meinem Freund Louis de Meung erzählte ich nichts mehr, seitdem ich glücklich war. Er hatte zweifellos alles erraten; doch war er ebenso verschwiegen wie ich. Er fragte mich nicht. Ohne irgendwelche Schwierigkeit hatte ich meinen vertrauten Umgang mit ihm wieder aufgenommen … unsere Spaziergänge in großer oder kleiner Uniform auf der Hauptstraße, unser Kartenspiel, unser Fechten und unseren Punsch! Bei Gott! Wenn man weiß, daß das Glück in Gestalt eines jungen Mädchens, dessen Herz in wilder Gier brennt, regelmäßig jede zweite Nacht zur selben Stunde zu einem kommt, so vereinfacht das das Leben ganz ungeheuer.« »Die Eltern dieser Alberte schliefen wohl wie die Siebenschläfer?« bemerkte ich spöttisch, um den Reflexionen des alten Dandys durch einen Scherz ein Ende zu machen. Ich wollte außerdem den Vicomte nicht merken lassen, wie sehr mich seine Geschichte ergriff … und nur durch einen Scherz kann man sich bei den alten Dandys ein wenig Achtung verschaffen. »Sie glauben doch wohl nicht, daß ich nach Effekt hasche und etwas erzähle, was der Wirklichkeit nicht entspricht?« fragte der Vicomte. »Ich bin kein Dichter! … Manchmal kam Alberte nicht. Die Tür, deren Angeln geölt waren und sich wie in Watte bewegten, öffnete sich die ganze Nacht nicht … Dann hatte die Mutter sie gehört, hatte gerufen, dann hatte der Vater sie gesehen, als sie sich durch das Zimmer tastete. Aber jedesmal hatte Alberte, die sich so leicht nicht aus der Fassung brin131
gen ließ, einen triftigen Grund. Sie war leidend … Sie suchte die Zuckerschale und hatte kein Licht anmachen wollen, um niemanden zu wecken.« »So etwas kommt häufiger vor, als Sie zu glauben scheinen, Hauptmann«, unterbrach ich ihn wieder. Ich war unausstehlich … »Ihre Alberte war schließlich nicht anders als jenes junge Mädchen, das jeden Abend im Zimmer seiner Großmutter, die hinter ihren Vorhängen schlief, den Geliebten empfing, der durch das Fenster geklettert war und sich, da kein blaues Ledersofa zur Verfügung stand, mit dem Mädchen auf dem Fußboden belustigte … Aber Sie kennen die Geschichte ja genauso gut wie ich … Eines Abends nun … augenscheinlich konnte das junge Mädchen die Fülle ihres Glücks nicht fassen … weckte ein Seufzer, der stärker war als alle bisherigen, die Großmutter, die hinter ihren Vorhängen her rief: ›Was hast du denn, Kleine?‹, so daß der Kleinen an der Brust ihres Geliebten fast die Sinne schwanden. Aber deswegen antwortete sie doch von ihrem Platze aus: ›Ich suchte eine Nadel, die mir auf den Teppich gefallen ist, und dabei habe ich mich gestochene« »Ja, die Geschichte kenne ich«, erwiderte der Vicomte de Brassard, den ich durch den Vergleich in der Person seiner Alberte zu demütigen geglaubt hatte. »Wenn ich nicht irre, war das junge Mädchen, von dem Sie sprechen, eine Herzogin von Guise. Sie zog sich aus der Verlegenheit, wie es sich für ein Mädchen ihres Namens ziemte. Aber Sie haben zu sagen vergessen, daß sie von dieser Nacht an ihrem Geliebten, der, wie ich glaube, ein Herr de Noirmoutier war, das Fenster nicht mehr öffnete, während Alberte trotz dieser furchtbaren Hindernisse am nächsten Tag wieder zu mir kam und sich von neuem der Gefahr, der sie eben entgangen war, aussetzte. Ich war damals nur ein kleiner Unterleutnant, der von Mathematik, die mich nicht sonderlich interessierte, kaum eine Ahnung hatte … aber es war mir trotzdem klar, daß nach der Wahrscheinlichkeits132
rechnung eines Tages … eines Nachts … eine Lösung … so oder so … kommen mußte.« »Gewiß«, antwortete ich, indem ich mich seiner Worte vor Beginn der Geschichte erinnerte, »die Lösung, die Sie die Angst lehrte, Hauptmann.« »Ganz richtig«, antwortete er in einem Ton, dessen Ernst gegen meinen leichten Ton seltsam abstach … »Seit dem Augenblick, als Alberte nachts wie eine Erscheinung im Rahmen meiner Tür erschien, hatte sie mir gegenüber mit Erregungen nicht geknausert. Mehr als eine Art Schauer, mehr als ein Entsetzen hatte sie mir durch die Seele gejagt … aber bisher war es kaum etwas anderes gewesen als das Gefühl, das man hat, wenn einem die Kugeln um die Ohren pfeifen und die Kanonen donnern … man zittert ein wenig … aber man geht weiter. Nun! So war es jetzt nicht mehr. Es war Angst, richtige Angst, wahre Angst und zwar nicht mehr Angst um Alberte, sondern um mich, um mich ganz allein. Was ich empfand, war bestimmt jenes Gefühl, das das Herz ebenso erblassen läßt wie das Gesicht … es war jene Panik, die ganze Regimenter die Flucht ergreifen läßt. Ich habe mit eigenen Augen ganz Chamboran mit verhängtem Zügel fliehen sehen, das heldenhafte Chamboran, das in seiner entsetzten Flucht seinen Oberst und seine Offiziere mit sich riß. Aber damals hatte ich noch nichts gesehen, und ich lernte kennen, was ich für ganz unmöglich hielt … Hören Sie also weiter zu … Es war eine Nacht … Für das Leben, das wir führten, kam ja nur die Nacht in Frage … eine lange Winternacht … und sicher nicht eine unserer ruhigsten Nächte. Die meisten unserer Nächte waren ruhig. Sie waren es geworden durch die Überfülle des Glücks, das sie in sich bargen. Wir schliefen sozusagen auf der geladenen Kanone. Wir empfanden nicht die geringste Unruhe, während wir uns auf dieser Säbelklinge, die über einem Abgrund lag wie die Brücke 133
nach der Hölle der Türken, der Liebe hingaben … Alberte war in dieser Nacht früher gekommen als sonst, um länger bei mir bleiben zu können. Wenn sie kam, galt meine erste Liebkosung, die erste Äußerung meiner Liebe ihren Füßen, die nicht mehr in ihren grünen oder hortensienfarbenen Schuhen steckten … diesen beiden Koketterien, die meine ganze Wonne waren … sondern nackt waren und so kalt wie die Ziegelsteine, über die sie durch den langen Flur gegangen waren, der vom Zimmer ihrer Eltern nach meinem Zimmer führte. Ich wärmte diese Füße, die meinetwegen erstarrt waren, und meinetwegen, wenn sie das warme Bett verließen, vielleicht unterwegs die Keime auflasen zu einer schrecklichen Lungenkrankheit … und ich wußte, wie ich sie am besten erwärmen konnte, wie ich diesen blassen und kalten Füßen am besten ihre rosa Farbe wiedergab … Aber in dieser Nacht hatte mein Mittel keinen Erfolg. Mein Mund vermochte nicht, auf diesem reizenden, hohen Spann den roten Flecken hervorzuzaubern … wie ich es so gern tat … und der aussah wie eine hochrote Rose … In dieser Nacht war Alberte stiller verliebt als je. Ihre Umarmungen hatten jenes Schmachten und jene Kraft, die für mich eine Sprache, eine so eindrucksvolle Sprache war, daß ich, wenn ich zu ihr sprach, um sie auf diese Weise an meinem Rausch und meiner Wollust teilnehmen zu lassen, keine andere Antwort von ihr verlangte. Ihre Umarmungen waren mir Antwort genug, und ich verstand sie … Dann, auf einmal, verstand ich nichts mehr. Ihre Arme hörten auf, mich an ihr Herz zu drücken, und ich glaubte, sie sei in eine jener Ohnmachten verfallen, in denen sie bisher bisweilen die verkrampfte Kraft der Umarmung verloren hatte … Wir beiden sind ja nicht prüde und können wie Männer miteinander reden … Ich kannte die wollüstigen Krämpfe Albertes, und wenn sie von ihnen befallen wurde, unterbrachen sie nie meine Zärtlichkeiten. Ich blieb, wo ich war, auf ihrem Herzen, wartete darauf, daß sie in das bewußte Leben zurückkehrte, in der stol134
zen Gewißheit, daß sie durch die Kraft meiner Sinne wieder zu sich kam, daß der Blitz, der sie gefällt hatte, sie, wieder treffend, zu neuem Leben erwecken würde … Aber meine Bemühungen hatten diesmal keinen Erfolg. Ich betrachtete sie, die eng an mich geschmiegt auf dem blauen Sofa lag, erwartete den Augenblick, in dem ihre Augen, die unter ihren großen Lidern verschwunden waren, mir wieder ihre schönen Rundungen aus schwarzem Samt und Feuer zeigen würden … in dem ihre Zähne, die sich aufeinanderbissen und knirschten, daß man glauben konnte, der Schmelz spränge von ihnen, bei dem leisesten Kuß, der von ihrem Hals bis zu ihren Schultern irrte, sich halb öffnen und mich wieder ihren Atem spüren lassen mußten. Aber ihr Blick kam nicht wieder, und ihre Zähne lösten sich nicht. Die Kälte war von Albertes Füßen hinaufgekrochen bis in ihre Lippen und unter die meinen … Als ich diese entsetzliche Kälte fühlte, richtete ich mich halb auf, um sie besser zu betrachten … riß mich aus ihren Armen, von denen der eine auf sie fiel, der andere von dem Sofa, auf dem sie lag, zu Boden hing. Erschreckt, aber immer noch bei klaren Sinnen, legte ich ihr meine Hand auf das Herz … Nichts … Der Puls schlug nicht, die Schläfen pochten nicht, die Schlagadern waren ohne Leben … überall nur der Tod … der Tod in seiner furchtbaren Starre! Ich wußte, daß sie tot war, und wollte es doch nicht glauben … Das menschliche Hirn sträubt sich ja so dumm gegen den klarsten Beweis und das augenfälligste Schicksal. Alberte war tot … Woran war sie gestorben? … Ich wußte es nicht. Ich war kein Arzt. Aber sie war tot, und wenn es mir auch sonnenklar war, daß alles, was ich unternahm, zwecklos war, so tat ich dennoch, was mir so verzweifelt zwecklos schien. Da ich weder über die erforderlichen Kenntnisse noch über Instrumente oder andere Hilfsmittel verfügte, leerte ich auf diese Stirn alle Flaschen meines Toilettisches. Ich klopfte ihr die Hände, selbst auf die Gefahr hin, in diesem Haus, in dem uns das geringste Ge135
räusch erschreckt hatte, Geräusch zu machen. Ich hatte einen meiner Onkel … er war Schwadronschef bei den 4. Dragonern … erzählen hören, er hätte eines Tages einen Kameraden von einem Schlaganfall gerettet, indem er ihm mit dem Eisen, dessen sich der Tierarzt bei Pferden bedient, schnell zur Ader gelassen hätte. Mein Zimmer war voll von Waffen. Ich ergriff einen Dolch und versuchte, Alberte zur Ader zu lassen. Ich massakrierte sozusagen diesen herrlichen Arm, aus dem das Blut nicht mehr floß. Einige Tropfen nur … und die gerannen sofort. Weder Küsse noch Saugen oder Bisse konnten diesen starren Körper galvanisieren, der unter meinen Lippen eine Leiche geworden war. Nicht mehr wissend, was ich tat, legte ich mich auf sie wie die Zauberer, die Menschen zum Leben erwecken … so berichten wenigstens die alten Geschichten … und während ich so auf diesem eiskalten Körper lag, stand plötzlich ein ganz klarer Gedanke vor mir, der sich bisher nicht aus dem Chaos hatte lösen können, in das mich der plötzliche, alles verwirrende Tod Albertes stieß … und ich bekam Angst. Angst! Ungeheure Angst! Alberte war in meinem Zimmer gestorben … und das sagte alles … Was sollte aus mir werden? … Was sollte ich tun? … Bei diesem Gedanken fühlte ich die körperliche Hand dieser häßlichen Angst in meinen Haaren, die auf einmal ebenso viele Nadeln wurden … Meine Wirbelsäule wurde eiskalter Schlamm … und vergebens versuchte ich, gegen dieses entehrende Gefühl anzukämpfen … Ich redete mir zu, kaltblütig zu bleiben … ich sei doch ein Mann … und ein Soldat dazu. Ich nahm meinen Kopf in beide Hände, und als das Hirn in meinem Schädel anfing sich zu drehen, bemühte ich mich, die fürchterliche Situation, in der ich mich befand, klar zu erkennen und alle Gedanken, die mir das Hirn peitschten, daß es sich drehte wie ein wild gewordener Kreisel, die immer wieder um diese Leiche kreisten, die in meinem Zimmer lag, um diesen leblosen Körper Albertes, die nicht 136
mehr in ihr Zimmer zurück konnte, und den die Mutter am nächsten Tag im Zimmer des Offiziers totwund entehrt finden würde, einzuhalten, zu fesseln und zu prüfen. Der Gedanke an diese Mutter, der ich vielleicht die Tochter getötet hatte, indem ich sie entehrte, bedrückte mich mehr als Albertes Leiche … Den Tod konnte man nicht verbergen … aber gab es denn kein Mittel, die Schande zu verbergen, die durch die bei mir gefundene Leiche nur zu klar bewiesen wurde? … Diese Frage stellte ich mir immer wieder … sie war der Punkt, auf den alle meine Gedanken starrten, und je mehr ich diese Schwierigkeit erwog, desto größer wurde sie, nahm Proportionen einer absoluten Unmöglichkeit an … Entsetzliche Halluzination! In manchen Augenblicken schien mir Albertes Leiche das ganze Zimmer zu füllen, so daß es unmöglich war, sie aus ihm herauszuschaffen … Ach, hätte ihr Zimmer nicht hinter dem Schlafzimmer ihrer Eltern gelegen, ich hätte sie, auf jede Gefahr hin, in ihr Bett getragen. Aber konnte ich, mit ihrer Leiche in den Armen, vollbringen, was sie zu ihren Lebzeiten so unvorsichtig gewagt hatte … konnte ich ein Zimmer durchschreiten, das ich nicht kannte, das ich nie betreten hatte, und in dem der Vater und die Mutter der Unglücklichen den leichten Schlaf des Alters schliefen? Und doch war meine geistige Verfassung derart, jagte mich die Angst vor dem kommenden Tag und dieser Leiche, die man bei mir finden mußte, mit solcher Wut, daß mir die Ausführung dieses aberwitzigen Gedankens als das einzige Mittel erschien, die Ehre des armen Mädchens zu schützen, mir die Vorwürfe des Vaters und der Mutter zu ersparen und mich vor der Schande zu retten. Können Sie das glauben? Ich kann es selbst kaum fassen, wenn ich daran denke. Ich hatte die Kraft, Albertes Leiche in die Arme zu nehmen und sie auf meine Schultern zu laden … Eine furchtbare Kutte … schwerer als die der Verdammten in Dantes Hölle! Man muß sie getragen haben, wie ich sie trug, diese Kutte aus Fleisch, das mein Blut noch vor einer 137
Stunde vor Begierde hatte brennen lassen und mich jetzt mit Eiseskälte füllte … Nur wer sie getragen hat, weiß, was das heißt! Mit dieser Last beladen, öffnete ich die Tür, und barfuß wie sie, um möglichst wenig Lärm zu machen, drang ich vor in den Korridor, der nach dem Zimmer der Eltern führte, dessen Tür ich am anderen Ende wußte. Nach jedem Schritt blieb ich mit wankenden Knien stehen, um auf das Schweigen des nächtlichen Hauses zu lauschen, das ich wegen des wilden Klopfens meines Herzens nicht mehr hörte … Es dauerte lange … Nichts rührte sich … Ein Schritt folgte dem anderen … Und als ich dann vor der furchtbaren Tür des Zimmers ihrer Eltern stand … durch die ich hindurch mußte, und die sie, wenn sie zu mir ging, nie ganz geschlossen hatte, um sie halbgeöffnet wiederzufinden, wenn sie in ihr Zimmer zurückkehrte … als ich den langen und ruhigen Atem dieser armen beiden Alten hörte, die ahnungslos schliefen … da wagte ich es nicht mehr! … Ich wagte es nicht mehr, die schwarze und in die Finsternis führende Schwelle zu überschreiten … Ich wich zurück und floh fast mit meiner Last! Von immer wachsender Angst bedrängt, kam ich wieder in mein Zimmer … Ich legte Albertes Leiche wieder auf das Sofa, und vor ihr niederkniend, begann ich wieder dieselben flehenden Fragen zu stammeln: ›Was soll ich tun? Was soll aus mir werden?‹ … In dem Zusammenbruch, der sich in meinem Inneren vollzog, huschte mir der wahnwitzige und gemeine Gedanke durch den Kopf, die Leiche dieses schönen Mädchens, das sechs Monate lang meine Geliebte gewesen war, aus dem Fenster zu werfen. Verachten Sie mich! Ich öffnete das Fenster, ich schob den Vorhang zurück, den Sie da oben sehen, und sah hinunter in das dunkle Loch, auf dessen Grund die Straße war, denn es war in dieser Nacht sehr düster. Ich sah das Pflaster nicht … ›Man wird an einen Selbstmord glauben‹, dachte ich … und wieder hob ich Alberte auf … Aber da zuckte es wie 138
gesunder Menschenverstand durch meinen Wahnsinn … ›Und von wo aus hat sie sich in die Tiefe gestürzt, wenn man sie morgen unter meinem Fenster findet?‹ fragte ich mich. Die Unmöglichkeit dessen, was ich vorhatte, schlug mir ins Gesicht. Ich schloß das Fenster, dessen Griff knarrte. Eher tot als lebendig infolge all des Lärms, den ich machte, zog ich den Vorhang wieder vor das Fenster. Ob ich die Leiche nun aus dem Fenster warf, ob ich sie auf die Treppe oder in den Korridor schaffte, immer wieder und überall zeugte sie gegen mich … Die Untersuchung würde alles ans Tageslicht bringen, und das Auge einer Mutter, die so grausam benachrichtigt wurde, würde alles sehen, was Arzt und Richter ihr verheimlichen möchten … Was ich empfand, war unerträglich, und in dem Zustand meiner demoralisierten Seele (ein Wort des Kaisers, das ich erst später begriffen habe) kam mir, als ich meine Waffen an der Wand meines Zimmers funkeln sah, der Gedanke, aller Qual durch einen Pistolenschuß ein Ende zu machen … Aber was wollen Sie? … Ich will ganz offen sein: Ich war siebzehn Jahre alt und liebte … meinen Degen. Aus Neigung und Rassegefühl war ich Soldat. Ich hatte bisher noch kein Feuer erlebt und wollte es erleben. Ich hatte soldatischen Ehrgeiz. Beim Regiment machten wir unsere Glossen über Werther, den Helden der damaligen Zeit, der uns Offizieren nur leid tun konnte. Der Gedanke, der mich hinderte, mich durch Selbstmord der gemeinen Angst zu entledigen, die mich immer noch in ihren Klauen hielt, führte mich zu einem anderen, der Rettung aus meiner Not versprach … Wenn ich zum Oberst ginge? … Der Oberst ist der Vater der Soldaten … und ich zog mich an, wie man sich anzieht, wenn bei einem Überfall Generalmarsch geschlagen wird … Aus soldatischer Vorsicht nahm ich meine Pistole mit. Wer wußte, was sich ereignen konnte? Ein letztes Mal küßte ich mit dem Gefühl, das man mit siebzehn Jahren hat, den stummen Mund … er war eigentlich immer stumm gewesen … dieser schönen, 139
toten Alberte, die mich seit sechs Monaten mit ihrer berauschenden Liebe überschüttet hatte … Auf den Fußspitzen schlich ich über die Treppe dieses Hauses, in dem ich den Tod zurückließ … Keuchend wie jemand, der flieht, gebrauchte ich eine Stunde (es kam mir vor, als ob ich eine Stunde dazu gebrauchte), den Riegel der Haustür zurückzuschieben und den schweren Schlüssel in dem großen Schloß zu drehen … und nachdem ich die Tür mit der Vorsicht eines Diebes wieder geschlossen hatte, raste ich wie ein Flüchtling zu meinem Oberst. Ich läutete, als sei ich nicht bei Sinnen. Ich schlug einen Lärm, als wenn der Feind im Begriff gewesen sei, die Regimentsfahne zu stehlen. Was sich mir in den Weg stellte, warf ich um, sogar die Ordonnanz, die verhindern wollte, daß ich zu dieser Stunde das Zimmer ihres Herrn betrat … Und als dann der Oberst durch den Krach, den ich machte, wach geworden war, erzählte ich ihm alles. Ich legte eine umfassende Beichte ab … schnell und ohne Stocken, denn die Zeit drängte … und bat ihn, mich zu retten … Der Oberst war ein famoser Mensch! Er erkannte gleich, in welch furchtbarer Lage ich mich befand … Er hatte Mitleid mit dem jüngsten seiner Kinder … wie er uns nannte … und ich glaube, daß ich mich damals in einem Mitleid erregenden Zustand befand. Er stieß den wildesten unserer Flüche aus und sagte mir dann, ich müßte sofort aus der Stadt verschwinden … er würde alles andere erledigen … die Eltern aufsuchen, sobald ich fort wäre … aber ich müßte weg, sollte die Postkutsche nehmen, die in zehn Minuten vor dem Gasthof zur Post die Pferde wechselte, sollte mich in eine Stadt begeben, deren Namen er mir nannte, und wohin er mir schreiben würde … Er gab mir Geld … ich hatte vergessen, welches einzustecken, drückte mir seinen alten, grauen Schnurrbart herzlich auf beide Backen, und zehn Minuten später kletterte ich (nur der Platz war noch frei) auf das Verdeck der Postkutsche, die die gleiche Strecke 140
fuhr wie die, in der wir augenblicklich sitzen … und im Galopp sauste ich unter dem Fenster (Sie können sich denken, welche Blicke ich nach oben warf) des verhängnisvollen Zimmers vorbei, in dem ich die tote Alberte zurückgelassen hatte, und das genauso erleuchtet war wie heute abend …« Der Vicomte de Brassard schwieg. Seine kräftige Stimme hatte zum Schluß ein wenig gebrochen geklungen. Mir war alle Lust zu scherzen vergangen. Aber das Schweigen dauerte nicht lange. »Und dann?« fragte ich ihn. »Ja – ein ›dann‹ gibt es eigentlich nicht«, antwortete er. »Und das hat mich seitdem immer ganz besonders schwer bedrückt und gequält … Blindlings befolgte ich die Anweisungen des Obersten. Voll Ungeduld wartete ich auf einen Brief, der mir mitteilen sollte, was er unternommen und was sich ereignet, nachdem ich die Garnison verlassen hatte. Ich wartete ungefähr einen Monat. Aber nach Verlauf dieses Monats hatte ich keinen Brief vom Oberst erhalten, der immer nur mit dem Säbel in das Gesicht des Feindes schrieb, sondern den Befehl, mich bei einem anderen Truppenteil zu melden. Mir wurde aufgetragen, mich zum 35. Korps zu begeben, das im Begriff stand, ins Feld zu rücken … Innerhalb von vierundzwanzig Stunden mußte ich an Ort und Stelle sein … Die ungeheuren Abwechslungen eines Feldzuges, die erste Schlacht, die ich mitmachte, die Strapazen und Liebesabenteuer, die diesem ersten folgten, ließen es mich versäumen, an den Oberst zu schreiben, und lenkten meine Gedanken ab von der grausamen Erinnerung an das Erlebnis mit Alberte, ohne es aber verwischen zu können. Es sitzt immer noch in mir wie eine Kugel, die man nicht entfernen kann … Ich sagte mir, daß ich eines schönen Tages dem Oberst begegnen müßte, der mir dann sicher berichten würde, was ich so gern gewußt hätte. Aber der Oberst fiel an der Spitze seines Regiments bei Leipzig … Einen Monat vorher war Louis de Meung gefallen … Es mag verachtungswürdig klingen«, fügte 141
der Hauptmann hinzu, »aber auch in der stärksten Seele kommt alles zur Ruhe … vielleicht, weil sie so stark ist … Die verzehrende Neugierde, zu erfahren, was sich seit meinem Fortgehen ereignet hatte, verebbte schließlich und quälte mich nicht mehr. Da ich äußerlich ein anderer geworden war, hätte ich schon vor sehr vielen Jahren in diese kleine Stadt zurückkommen können, um mich wenigstens nach dem zu erkundigen, was man wußte, was vor meinem tragischen Abenteuer durchgesickert war. Aber etwas, das gewiß nicht Achtung vor der öffentlichen Meinung ist … über die ich mein Lebtag mich lustig gemacht habe … etwas, das Ähnlichkeit mit dieser Angst hatte, die ich nicht ein zweites Mal erleben wollte, hat mich davon zurückgehalten.« Dieser Dandy, der mir ohne das geringste Dandytum eine Geschichte von so trauriger Wirklichkeit erzählt hatte, schwieg wieder. Ganz unter dem Eindruck dieser Geschichte gab ich mich meinen Gedanken hin und begriff, daß dieser herrliche Vicomte de Brassard, der nicht nur der eleganteste aller Stutzer, sondern auch der leuchtendste Vertreter des Dandytums war, dieser grandiose Zecher, der den Bordeauxwein trank, wie die Engländer es tun, wie so mancher andere doch tiefer veranlagt war, als es den Anschein hatte. Mir fiel ein, was er zu Anfang von der scharfen Säure gesagt hatte, die ein ganzes Leben lang seine wilden Vergnügen und Freuden angefressen habe … als er plötzlich, um mich in noch größeres Staunen zu versetzen, hastig meinen Arm ergriff: »Dort! Sehen Sie!« sagte er. »Sehen Sie nach dem Vorhang!« Der schlanke Schatten einer Frauengestalt zeichnete sich auf ihm ab, als ginge sie an ihm vorüber … »Albertes Schatten!« flüsterte der Hauptmann … »Der Zufall ist heute abend besonders boshaft«, fügte er mit leiser Bitternis hinzu … Der Vorhang zeigte wieder sein leeres, rotes und leuchtendes 142
Viereck … Während der Vicomte gesprochen hatte, war der Wagner mit seiner Arbeit an der Schraube fertig geworden. Die Wechselpferde standen bereit und schlugen mit den Hufen Feuerfunken aus den Steinen. Der Führer des Wagens, die Astrachanmütze über den Ohren, das Eintragebuch zwischen den Zähnen, ergriff die Zügel, schwang sich auf seinen Bock und rief mit seiner lauten Stimme in die Nacht: »Abfahren!« Wir fuhren los und hatten schon bald das geheimnisvolle Fenster hinter uns gelassen, das ich in meinen Träumen immer wieder mit seinem roten Vorhang sehe.
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Das Miserere von Gustavo Adolfo Becquer Gustavo Adolfo Becquer (1836-1870) war der Sohn des angesehenen spanischen Malers Joaquin Becquer. Als Siebzehnjähriger verließ Gustavo Adolfo Sevilla, wo er sich zum Kaufmann hätte ausbilden sollen, ging nach Madrid und wurde Schriftsteller. Für seinen Unterhalt malte er gelegentlich. Becquers Ruhm bilden seine ›Legenden‹, denen der folgende Text entnommen ist, eine fantastische Prosadichtung, die den Autor an die Seite Poes oder Hoffmanns stellt. ——————
Vor ein paar Monaten entdeckte ich bei einem Besuch der berühmten Abtei von Fitero, als ich in der vernachlässigten Bibliothek etliche Bände durchblätterte, in einem Winkel zwei oder drei ziemlich alte, staubbedeckte Musikhefte, die schon die Ratten anzufressen begonnen hatten. Es war ein Miserere. Ich verstehe nichts von Musik; gleichwohl liebe ich sie so sehr, daß ich, ohne sie zu verstehen, manchmal die Partitur einer Oper zur Hand nehme und ganze Stunden damit hinbringe, die Seiten umzublättern und die mehr oder weniger dichten Notengruppen, die Taktstriche, die Bogen, die Triangeln und die übrigen Zeichen, die man Schlüssel nennt, und all das, ohne ein Jota zu begreifen oder den kleinsten Nutzen zu haben. Meiner Manie gemäß ging ich die Hefte durch, und das, was zunächst meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war, daß, obwohl auf der letzten Seite das in allen Werken so gewöhnliche lateinische Wort Finis stand, das Miserere in Wahrheit nicht vollendet war; denn die Musik reichte nur bis zum zehnten Vers. 144
Das hat zweifellos zuerst meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt; kaum aber hatte ich mich ein wenig in die Notenblätter vertieft, nahm es mich noch weit mehr Wunder, daß ich statt jener allgemein gebrauchten italienischen Worte wie maestoso, allegro, ritardando, più vivo, a piacere hier ein paar Zeilen in sehr kleiner Schrift und in deutscher Sprache geschrieben sah, von deren Vorschriften einige so schwierig auszuführen waren wie diese: Knacken … Knacken der Knochen; aus ihrem Mark scheinen Wehrufe zu dringen; oder diese andre: die Geigen heulen, ohne zu distonieren, das Blech dröhnt, ohne zu betäuben; hier fällt alles ein, aber nichts vermischt sich, und die ganze Menschheit schluchzt und seufzt. Die originellste von allen verlangte am Schlusse des letzten Verses: Die Töne sind mit Fleisch bekleidete Gebeine; unverlöschliches Licht, die Himmel und ihre Harmonie … Kraft! … Kraft und Süße. »Wissen Sie, was das ist?« fragte ich meinen greisen Führer, als ich diese Zeilen, Worte, die mir ein Wahnsinniger geschrieben zu haben schien, zur Hälfte übersetzt hatte. Der Alte erzählte mir darauf folgende Legende. Vor vielen Jahren kam in einer regnerischen, dunklen Nacht an die Klosterpforte dieser Abtei ein Pilger und bat um einen Platz am Feuer, um seine Kleider zu trocknen, um einen Ranft Brot, um seinen Hunger zu stillen, und um irgendein Obdach, um da die Nacht zu verbringen und früh mit der Sonne seinen Weg fortzusetzen. Der Frater, an den diese Bitte gerichtet wurde, stellte dem Wanderer seine bescheidene Mahlzeit, sein ärmliches Lager und seinen flackernden Kamin zur Verfügung, und dann, nachdem er sich ihn von seiner Ermüdung hatte erholen lassen, fragte er ihn nach dem Zweck seiner Wallfahrt und nach dem Ziel, wohin er pilgere. »Ich bin Musikus«, antwortete der Gefragte, »ich wurde sehr 145
fern von hier geboren und war in meinem Vaterland einmal sehr berühmt. In meiner Jugend diente mir meine Kunst als ein mächtiges Mittel zur Verführung, und ich entzündete durch sie Leidenschaften, die mich zu einem Verbrechen hinrissen. In meinem Alter möchte ich die Talente, die ich zum Bösen benutzt habe, zum Guten wenden, um eben durch das, was mich zum Verderben führte, mir das Heil zu erwerben.« Da die rätselvollen Worte des Unbekannten dem Laienbruder durchaus nicht klar schienen und die Neugierde in ihm zu erwachen begann, er darum in seinen Fragen fortfuhr, erzählte sein Besucher weiter folgendes: »Ich beweinte im Grunde meiner Seele das Verbrechen, das ich begangen hatte, aber wenn ich Gott um Erbarmen anflehen wollte, fand ich keine Worte, die meine Reue geziemend ausdrücken konnten; da fielen meine Augen eines Tages zufällig auf ein heiliges Buch. Ich schlug dieses Buch auf und begegnete auf einer der Seiten einem gigantischen Aufschrei wahrhafter Reue, einen Psalm Davids, den, der beginnt: Miserere mei, Deus! Von dem Augenblick an, da ich seine Verse gelesen, war mein einziger Gedanke, eine musikalische Form von solcher Macht, solcher Erhabenheit zu finden, daß sie der gewaltigen Schmerzenshymne des königlichen Sängers würdig wäre. Bis jetzt habe ich sie noch nicht gefunden; aber, wenn es mir gelingt, das auszudrücken, was ich in meinem Herzen fühle, was ich verworren in meinem Haupte vernehme, bin ich gewiß, daß ich ein Miserere schreibe, so wunderbar, wie die Sterblichen kein ähnliches vernommen haben; so ergreifend, daß bei den ersten Akkorden die Erzengel, die Augen von Tränen erfüllt, mit mir zugleich zum Herrn gewendet sagen sollen: Erbarmen!, und der Herr es seinem armen Geschöpf zuteil werden wird lassen.« Da der Pilger in seinem Bericht so weit gelangt war, schwieg er einen Augenblick, dann nahm er, aufseufzend, den Faden 146
seiner Rede wieder auf. Der Laienbruder, etliche Dienstpersonen der Abtei und zwei, drei Hirten des Klostermeierhofs, die einen Kreis um den Kamin bildeten, lauschten ihm in tiefem Schweigen. »Darauf«, fuhr er fort, »bin ich durch ganz Deutschland, ganz Italien und durch dieses für die geistliche Musik klassische Land gezogen, habe aber noch kein Miserere gehört, das mich inspiriert hätte, nicht eins, nicht eins, und ich habe so viele gehört, daß ich wohl sagen kann, ich habe alle gehört.« »Alle?« unterbrach ihn da einer der Großhirten. »Haben Sie auch das Miserere in den Bergen gehört?« »Das Miserere in den Bergen?« rief der Musiker erstaunt. »Was für ein Miserere ist das?« »Habe ich’s nicht gesagt?« murmelte der Hirt, und dann fügte er in geheimnisvollem Ton hinzu: »Dieses Miserere, das nur die zufällig hören, die wie ich tags und nachts hinter der Herde her durch Dorn und Fels streifen, das hat eine ganze Geschichte; eine sehr alte Geschichte, die aber darum nicht weniger wahr ist, weil sie unglaublich scheint. In dem wildesten Teil dieser Bergketten nämlich, die den Horizont dieses Tales begrenzen, auf dessen Grunde die Abtei liegt, stand vor vielen Jahren, was sage ich: vor vielen Jahren? – vor vielen Jahrhunderten ein berühmtes Kloster; ein Kloster, das, wie es scheint, ein Edelmann auf seine Kosten hatte erbauen lassen, und zwar mit dem Vermögen, das er seinem Sohn hinterlassen haben würde, wenn er ihn auf seinem Sterbebette nicht zur Strafe für dessen Missetaten enterbt hätte. Bis daher war alles gut; aber dieser Sohn muß, wie sich zeigen wird, ein Teufelsbalg, wenn nicht der Teufel in Person gewesen sein, denn als er sah, daß sein Gut in den Händen der Mönche sei, die seine Burg in eine Kirche verwandelt hatten, tat er sich mit einer Anzahl Buschreuter zusammen, den Genossen des sündhaften Lebens, das er führte, seit er das Haus seiner 147
Väter verlassen, und so legten sie an einem Gründonnerstag in der Nacht, als die Mönche sich eben im Chor befanden und das Miserere zu singen begonnen hatten, Feuer an das Kloster, plünderten die Kirche und ließen, wie man sagt, ohne daß ich es beschwören will, auch nicht einen am Leben. Nach dieser Freveltat verschwanden die Banditen und ihr Anstifter mit ihnen, niemand weiß, wohin sie gingen, wahrscheinlich zur Hölle. Die Flammen legten das Kloster in Trümmer; die Ruinen der Kirche stehn noch auf dem Felskulm, woher der Wasserfall kommt, der erst von Klippe zu Klippe stürzt und dann den kleinen Bach bildet, der die Mauern dieser Abtei bespült.« »Aber«, unterbrach ihn der Musikus ungeduldig, »das Miserere?« »Wartet nur«, fuhr der Großhirt ganz gelassen fort, »alles nach der Reihe.« Darauf erzählte er weiter: »Die Leute der Umgegend waren über das Verbrechen entrüstet: Mit Grauen erzählten davon in den langen Winternächten die Väter den Söhnen und die Söhne den Enkeln; aber was es noch lebendiger im Gedächtnis erhält, ist, daß man jedes Jahr in derselben Nacht, da die Kirche vernichtet wurde, hinter ihren zerbrochenen Fenstern Lichter erglänzen sieht, daß man eine Art seltsamer Musik vernimmt und dazu wie schauerliche Klagegesänge, die der Windhauch in Pausen herüberträgt. Das sind die Mönche, die vielleicht gestorben sind, ohne sich vorbereitet zu haben, daß sie rein von aller Schuld vor dem Richterstuhl Gottes erschienen, und nun aus dem Fegefeuer kommen, um das Miserere zu singen und Ihn um Erbarmen anzuflehen.« Die Umstehenden blickten einander mit ungläubigen Mienen an; nur der Pilger, den die Erzählung dieser Geschichte lebhaft ergriffen zu haben schien, fragte begierig den, der sie erzählt hatte: 148
»Und Ihr sagt, dieses Wunder wiederhole sich jedes Jahr?« »In drei Stunden wird es ohne jeden Zweifel wieder beginnen, denn heute ist gerade die Nacht auf Gründonnerstag, und die Uhr der Abtei hat eben acht geschlagen.« »Wie weit von hier ist das Kloster?« »Knapp anderthalb Meilen … aber was habt Ihr? Wohin wollt Ihr in einer solchen Nacht? Hat Gott seine Hand von Euch abgezogen?« riefen alle, als sie sahen, daß der Pilger von seinem Sitz aufstand, den Stecken ergriff und vom Kamin zur Türe schritt. »Wohin ich gehe? Die wunderbare Musik anhören, das große, das wahrhaftige Miserere anhören, das Miserere derer, die aus dem Tod wieder zur Welt zurückkehren und wissen, was es heißt, in Sünden zu sterben.« Nach diesen Worten schwand er dem erschrockenen Laienbruder und den nicht weniger erschreckten Hirten aus den Augen. Der Wind stöhnte und ließ die Tore krachen, als ob eine riesenstarke Hand sie aus ihren Angeln zu reißen versuchte; der Regen rauschte in Strömen und peitschte an die Fensterscheiben, und dann und wann erhellte der Schein eines Blitzes für einen Augenblick den ganzen Horizont, so weit man sehen konnte. Nach dem ersten Augenblick der Verblüffung rief der Bruder: »Er ist toll!« »Er ist toll!« wiederholten die Hirten, und man fachte das Feuer wieder an und rückte rings um den Kamin zusammen. Nach einer oder zwei Stunden Wegs kam der geheimnisvolle Mann, den sie in der Abtei für toll erklärt hatten, an dem Bach entlang, den der Großhirt in seiner Geschichte erwähnt hatte, stromaufwärts dahin, wo die schwarzen, mächtigen Ruinen des Klosters aufragten. 149
Der Regen hatte aufgehört; die Wolken zogen in schwarzen, zerrissenen Streifen dahin, nur manchmal von einem flüchtigen Strahl blassen, ungewissen Lichtes durchbrochen, und der Wind schien, wie er gegen die starken Pfeiler schlug und durch die verödeten Klostergänge strich, gleichsam zu seufzen. Trotzdem nichts Übernatürliches, nichts Ungewöhnliches, das die Fantasie erregt hätte. Einem Menschen, der mehr als eine Nacht ohne anderes Obdach als die Trümmer eines verlassenen Turms oder einer einsamen Burg geschlafen hatte, der auf seiner weiten Pilgerfahrt hundert und hundert Unbilden erlitten hatte, waren all diese Geräusche vertraut. Die Wassertropfen, die aus den Rissen der geborstenen Bogen sickerten und mit dem regelmäßigen Klang eines Uhrpendels auf die Fliesen fielen; die Schreie des Uhus, der, hinter die steinerne Aureole einer noch aufrecht stehenden Statue geflüchtet, krächzte; das Rascheln der Eidechsen, die der Sturm aus ihrer Lethargie erweckt hatte und die ihre ungestalten Köpfe aus den Schlupflöchern hervorsteckten oder zwischen den am Fuße des Altars wachsenden Ranken und Brombeeren, zwischen den Fugen der den Boden der Kirche bildenden Grabplatten herumschlüpften: alle diese seltsamen, geheimnisvollen Laute des freien Landes, der Einsamkeit und der Nacht drangen deutlich ans Ohr des Pilgers, der, auf der abgebrochenen Statue eines Grabmals sitzend, ungeduldig der Stunde harrte, da das Wunder zur Wirklichkeit werden sollte. Weile um Weile verrann, aber er nahm nichts wahr; jene tausend verworrenen Geräusche wiederholten sich und verbanden sich auf tausenderlei Weise, aber es waren stets dieselben. »Wenn er mich zum besten gehabt hätte!« dachte der Musikus; aber in diesem Augenblick vernahm er einen neuen Laut, einen an diesem Ort unerklärlichen Laut, dem ähnlich einer Uhr, einige Sekunden bevor sie die Stunde schlägt; den Laut sich drehender Räder, gespannter Schnüre, des Werks, das sich 150
dumpf in Bewegung setzt und sich anschickt, seine geheimnisvolle mechanische Kraft spielen zu lassen, und ein Glockenschlag erscholl, ein zweiter … dritter … bis elf. In dem zerstörten Dom gab es keine Glocke, keine Uhr, keinen Turm überhaupt. Noch war der letzte Schlag von Echo zu Echo weiterklingend, nicht verstummt, noch hörte man seine zitternden Schwingungen in der Luft, da begannen die granitenen Baldachine über den Bildwerken, die Marmorstufen der Altäre, die Quadern der Spitzbogen, die durchbrochenen Brüstungen des Chors, die kleeblattförmigen Verzierungen der Karniese, die schwarzen Mauerpfeiler, der Boden, die Wölbungen, die ganze Kirche plötzlich von Licht zu glänzen, ohne daß eine Fackel, Kerze oder Lampe, die diese ungewöhnliche Helle verbreiteten, zu sehen gewesen wäre. Das ganze war wie ein Gerippe, von dessen gelben Knochen jenes phosphoreszierende Gas aufsteigt, das wie ein unruhiges, banges blaues Licht im Dunkel schimmert. Alles schien sich zu beleben, aber mit diesem galvanischen Krampf, der den Tod das Leben parodierende Zuckungen machen läßt, dem jähen Krampf, der noch schrecklicher ist als die Reglosigkeit des Leichnams, den eine unbekannte Kraft sich bewegen läßt. Stein fügte sich an Stein; der Altar, dessen zermorschte Trümmer vorher zerstreut umherlagen, erhob sich unversehrt, als hätte der Künstler eben daran den letzten Meißelschlag getan, und zugleich mit dem Altar erhoben sich die eingestürzten Kapellen, die zerbrochenen Kapitelle und die zerstörten unendlichen Reihen von Bogen, die, einander kreuzend und sich kraus verschlingend, mit ihren Säulen ein Labyrinth von Porphyr bildeten. Sobald der Dom wieder aufgebaut war, begann ein ferner Akkord zu erklingen, der für das Rauschen des Windes genommen werden konnte, aber ein Zusammenklang ferner, feier151
licher Stimmen war, der aus dem Schoß der Erde aufzusteigen und langsam höher und höher zu kommen schien; wobei er immer deutlicher vernehmbar wurde. Dem wagemutigen Pilger begann bange zu werden; aber seine Furcht wurde von seiner Leidenschaft für alles Ungewöhnliche und Wunderbare bezwungen, und durch sie ermutigt, verließ er das Grabmal, worauf er gesessen, beugte sich über den Rand des Abgrunds, über dessen Felsen der Wasserfall mit unaufhörlichem, schrecklichem Donner zu Tal stürzte, und vor Grausen sträubten sich ihm die Haare. Schlecht eingehüllt in die Fetzen ihrer Gewänder, mit zerrissenen Kapuzen, unter deren Falten die schwarzen Augenhöhlen ihrer Totenschädel mit den fleischlosen Kiefern und den weißen Zähnen kontrastierten, sah er die Gerippe der Mönche, die von der Brüstung der Kirche in diesen Abgrund geworfen worden waren, aus der Tiefe der Wasser aufsteigen und, sich mit den langen Fingern ihrer Knochenhände an die Felszacken anklammernd, daran emporklimmen, bis sie den Rand erreichten, während sie mit leiser Grabesstimme, aber wildem Schmerzesausdruck den ersten Vers des Davidischen Psalmes sangen: Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam. Als die Mönche das Peristyl des Domes erreicht hatten, ordneten sie sich in zwei Reihen, zogen ins Innere und knieten da im Chor nieder, wo sie mit erhobener feierlicher Stimme die weiteren Verse des Psalmes sangen. Musik erklang zur Begleitung ihrer Stimmen: Diese Musik war fernes Donnerrollen, das sich, nachdem der Sturm sich gelegt hatte, murrend verzog; war das Sausen des Windes, der in der Bergschlucht seufzte; war das eintönige Rauschen des Wasserfalls, der von den Felsen stürzte, und der sickernde Wassertropfen und der Schrei des verborgenen Uhus und das Rascheln der ruhelosen Eidechsen. Alles das war die Musik und etwas noch dazu, das sich nicht erklären und kaum erfassen ließ, etwas wie das Echo einer Or152
gel, die die Verse der gewaltigen Reuehymne des königlichen Psalmisten mit Tönen und Akkorden begleitete, so gewaltig wie ihre furchtbaren Worte. Es folgte das Amt; der Musikus, der ihm beiwohnte, bezwungen und schaudernd, wähnte sich außerhalb der wirklichen Welt, glaubte in jener fantastischen Region des Traumes zu leben, worin sich alles in seltsame, unwirkliche Formen kleidet. Eine furchtbare Erschütterung rüttelte ihn aus jener Betäubung, die all seine Geisteskräfte übernommen hatte, auf. Eine überaus heftige Bewegung ließ seine Nerven zucken, seine Zähne schlugen, von einem nicht zu beschreibenden Beben geschüttelt, aneinander, und der Frost drang ihm bis in das Mark seiner Knochen. Die Mönche sprachen in diesem Augenblick diese grausigen Worte des Misereres: In iniquitatibus conceptus sum, et in peccatis concepit me mater mea. Als dieser Vers verklungen war und seine Echos von Wölbung zu Wölbung weiterschwebten, erhob sich ein entsetzlicher Klageruf wie ein Schmerzensaufschrei der ganzen Menschheit im Bewußtsein ihrer Missetaten; ein grauenhafter Aufschrei, aus allen Klagen des Unglücks, allem Geheul der Verzweiflung, allen Lästerungen der Gottlosigkeit gebildet, ein ungeheuerlicher Chorus, würdiger Dolmetsch derer, die in der Sünde leben und empfangen worden sind in Ungerechtigkeit. Der Gesang nahm seinen Fortgang, bald voll schwerer Trauer und tief, bald einem Sonnenstrahl gleich, der durch die dunklen Wolken eines Sturmes bricht, so daß auf einen Schreckensblitz ein Jubelblitz folgte, bis, dank einer plötzlichen Verwandlung, die Kirche in einer Flut von himmlischem Licht strahlte; die Gebeine der Mönche bekleideten sich mit ihrem Fleisch, eine leuchtende Aureole schimmerte rings um ihre Stirnen; die Kuppel riß, und darüber erschien der Himmel wie ein Meer von 153
Licht, aufgetan den Blicken der Gerechten. Die Seraphim, die Erzengel, die Engel und die Hierarchien begleiteten mit einer Jubelhymne den folgenden Vers, der jetzt wie ein harmonischer Wirbelsturm, wie eine gigantische Spirale tönenden Weihrauchs zum Thron des Herrn emporstieg: Auditumeodabisgaudiumetlaetitiam, et exultabunt ossa humiliata. In diesem Augenblick beraubte der blendende Glanz den Pilger des Gesichts; seine Schläfen pochten heftig, in seinen Ohren brauste es, und besinnungslos sank er zur Erde und hörte nichts mehr. Am folgenden Tag sahen die friedsamen Mönche der Abtei von Fitero, denen der Laienbruder von dem sonderbaren Besuch in der vergangenen Nacht erzählt hatte, den unbekannten Pilger, blaß und wie außer sich, in ihr Kloster treten. »Habt Ihr endlich das Miserere gehört?« fragte ihn der Laienbruder nicht ohne Ironie, während er seinen Oberen verstohlen einen Blick des Einverständnisses zuwarf. »Ja«, antwortete der Musikus. »Und wie hat es Euch gefallen?« »Ich will es aufschreiben. Gebt mir ein Asyl in Euerm Haus«, fuhr er zum Abt gewendet fort, »ein Asyl und Brot für ein paar Monate, und ich schaffe Euch dafür ein unsterbliches Kunstwerk, ein Miserere, das in Gottes Augen meine Schuld tilgt, meinen Namen unsterblich macht und zugleich damit den dieser Abtei.« Die Mönche redeten aus Neugier dem Abt zu, seiner Bitte zu willfahren; der Abt bewilligte es endlich aus Mitleid, obwohl er ihn für einen Narren hielt, und der Musikus nahm im Kloster Wohnung und begann sein Werk. Nacht und Tag arbeitete er mit nicht nachlassender Emsigkeit. Mitten in seinem Schaffen hielt er inne und schien gleich154
sam Stimmen zu lauschen, die in seiner Fantasie erklangen, und seine Pupillen erweiterten sich, er sprang vom Sitz auf und rief: »Das ist es; so, so, ohne Zweifel … so!« Und in fieberhafter Hast, die seine unbemerkten Beobachter mehr als einmal Wunder nahm, schrieb er weiter an seinen Noten. Er schrieb die ersten Verse und die folgenden und kam bis in die Mitte des Psalmes; aber als er zu dem letzten kam, den er in den Bergen gehört hatte, war es ihm unmöglich, fortzufahren. Er schrieb einen, zwei, zehn, zweihundert Entwürfe, alles umsonst. Seine Musik kam der bereits niedergeschriebenen nicht gleich, und der Schlaf floh von seinen Augenlidern, und er verlor die Eßlust, und das Fieber nahm seinen Kopf ein, und er wurde wahnsinnig und starb am Ende, ohne das Miserere vollenden zu können, und dieses wurde von den Brüdern nach seinem Tode als Merkwürdigkeit aufbewahrt und ist noch heute im Archiv der Abtei erhalten. Als der Alte seine Geschichte beschlossen hatte, konnte ich nicht umhin, noch einmal in das verstaubte alte Manuskript des Misereres zu blicken, das auf einem der Tische noch aufgeschlagen lag. In peccatis concepit me mater mea. Das waren die Worte der Seiten, die ich vor mir hatte, und die mit ihren Noten, ihren Schlüsseln und ihren Häkchen, die der Musiklaie nicht verstand, meiner zu spotten schienen. Ich hätte wer weiß wieviel dafür gegeben, sie lesen zu können. Wer weiß, sie sind vielleicht wirklich das Werk des Wahnsinns.
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Germelshausen von Friedrich Gerstäcker Friedrich Gerstäcker (1818-1872) durchstreifte sechs Jahre lang ›mit Büchse und Jagdtasche‹ die exotische Wunderwelt der Prärien Nordamerikas, die James Fenimore Cooper für Europa literarisch erschlossen hat. Eine stattliche Reihe von Romanen, Erzählungen und Reiseberichten war die Ausbeute dieser abenteuerlichen Reisezeit. ›Die Regulatoren in Arkansas‹ und die ›Flußpiraten des Mississippi sind‹ auch heute noch vielgelesene Werke der Abenteuerliteratur. Daneben schrieb Gerstäcker in der Nachfolge E. T. A. Hoffmanns auch ›Heimliche und unheimliche Geschichten‹. ——————
Im Herbst des Jahres 184– wanderte ein junger, lebensfrischer Bursch, den Tornister auf dem Rücken, den Stab in der Hand, langsam und behaglich den breiten Fahrweg entlang, der von Marisfeld hinauf nach Wichtelhausen führte. Es war kein Handwerksbursch, der Arbeit suchend von Ort zu Ort ging; das sah man ihm auf den ersten Blick an, hätte ihn nicht schon die kleine, sauber gefertigte Ledermappe verraten, die er auf den Tornister geschnallt trug. Den Künstler konnte er überhaupt nicht verleugnen. Der keck auf einer Seite sitzende schwarze, breitrandige Hut, das lange, blonde, gelockte Haar, der weiche, noch ganz junge, aber volle Bart – alles sprach dafür, selbst der etwas abgetragene schwarze Samtrock, der ihm jedoch bei dem warmen Morgen ein wenig zu heiß werden mochte. Er hatte ihn aufgeknöpft, und das weiße Hemd darunter – denn er trug keine Weste – wurde um den Hals von einem schwarzseidenen Tuch nur locker zusammengehalten. 156
Als er sich ein Viertelstündchen von Marisfeld entfernt haben mochte, läutete es dort zur Kirche, und er blieb stehen, stützte sich auf seinen Stecken und lauschte aufmerksam den vollen Glockentönen, die gar wundersam zu ihm herüberschallten. Das Läuten war lange vorüber, und noch immer stand er dort und blickte träumerisch hinaus auf die Bergeshänge. Sein Geist war daheim bei den Seinen, in dem kleinen freundlichen Dorf am Taunusgebirge – bei seiner Mutter, bei seinen Schwestern, und es schien fast, als ob sich eine Träne in sein Auge drängen wollte. Sein fröhliches Herz aber ließ die trüben Gedanken nicht aufkommen. Nur den Hut nahm er ab und grüßte mit einem herzlichen Lächeln der Richtung zu, in der er die Heimat wußte, und dann, fester seinen derben Stecken fassend, schritt er munter die Straße entlang, der begonnenen Bahn folgend. Die Sonne brannte indessen ziemlich warm auf den breiten, eintönigen Fahrweg nieder, auf dem der Staub in dicker Kruste lag, und der Wanderer hatte sich schon eine Zeitlang nach rechts und links umgeschaut, ob er nicht irgendeinen bequemeren Fußpfad entdecken könne. Rechts zweigte allerdings einmal ein Weg ab, der aber zu weit aus seiner Richtung führte. Er behielt also den alten noch eine Zeitlang bei, bis er endlich an ein klares Bergwasser kam, an dem er die Trümmer einer steinernen Brücke erkennen konnte. Drüben lief ein Rasenweg, der in den Grund hineinführte. Mit keinem bestimmten Ziel vor sich, da er ja nur dem schönen Werratal zuzog, seine Studienmappe zu bereichern, sprang er auf einzelnen großen Steinen trockenen Fußes über den Bach zur kurz gemähten Wiese drüben und schritt hier auf dem federnden Rasen und im Schatten dichter Erlenbüsche rasch und sehr zufrieden mit seinem Tausch vorwärts. »Jetzt hab’ ich den Vorteil«, lachte er dabei vor sich hin, »daß ich gar nicht weiß, wohin ich komme. Hier steht kein langwei157
liger Wegweiser, der einem immer schon Stunden vorher sagt, wie der nächste Ort heißt, und dann jedesmal mit der Entfernung unrecht hat. Wie die Leute hier nun ihre Stunden messen, möcht’ ich wissen! Merkwürdig still ist es hier im Grunde. Freilich, am Sonntag haben die Bauern draußen nichts zu tun, und wenn sie die ganze Woche hinter ihrem Pflug oder neben dem Wagen herlaufen müssen, halten sie am Sonntag nicht viel vom Spazierengehen, schlafen morgens erst in der Kirche tüchtig aus und strecken die Beine dann nach dem Mittagessen unter den Wirtstisch. – Hm – ein Glas Bier wäre jetzt nicht so übel. Aber bis ich das bekommen kann, löscht auch diese klare Flut den Durst.« – Damit warf er Tornister und Hut ab, stieg zum Wasser nieder und trank nach Herzenslust. Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf einen alten, wunderlich verwachsenen Weidenbaum, den er rasch und mit geübter Hand abzeichnete. Dann, erfrischt und ausgeruht, nahm er seinen leichten Tornister wieder auf und setzte seinen Weg fort, unbekümmert, wohin er ihn führe. Eine Stunde mochte er gewandert sein, hier ein Felsstück, dort ein eigentümliches Erlengebüsch, da wieder einen knorrigen Eichenast in seine Mappe sammelnd. Die Sonne war dabei höher gestiegen, und er nahm sich eben vor, nun rüstig auszuschreiten, um wenigstens im nächsten Dorf das Mittagessen nicht zu versäumen, als er vor sich im Grunde, dicht am Bach und an einem alten Stein, auf dem früher vielleicht einmal ein Heiligenbild gestanden, eine Bäuerin sitzen sah, die den Weg herabschaute, den er kam. Von Erlen gedeckt, hatte er sie früher sehen können als sie ihn. Aber kaum trat er über das Gebüsch hinaus, das ihn bis dahin ihren Blicken entzogen hatte, als sie aufsprang und mit einem Freudenschrei ihm entgegeneilte. Arnold, wie der junge Maler hieß, blieb überrascht stehen. Es 158
war ein bildhübsches, kaum siebzehnjähriges Mädchen, das, in eine ganz eigentümliche, aber sehr vorteilhafte Bauerntracht gekleidet, mit ausgestreckten Armen auf ihn zuflog. Arnold wußte sofort, daß sie ihn für einen andern hielt. Schon blieb sie erschrocken stehen, erst blaß und dann über und über errötend, und sagte endlich schüchtern und verlegen: »Nehmt’s nicht ungütig, fremder Herr – ich – ich – glaubte –« »Daß es dein Schatz wäre, nicht wahr?« lachte der junge Bursch. »Und jetzt bist du verdrießlich, daß dir ein anderes, fremdes und gleichgültiges Menschenbild in den Weg läuft? Sei nicht böse, daß ich’s nicht bin.« »Ach, wie könnt Ihr nur so reden«, flüsterte sie ängstlich, »wie dürft’ ich böse sein – aber wenn Ihr wüßtet, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte …« »Dann verdient er’s aber auch nicht, daß du noch länger auf ihn wartest«, sagte Arnold, dem jetzt erst die wahrhaft wunderbare Anmut des schlichten Bauernkindes auffiel. »War’ ich an seiner Stelle, du hättest nicht eine einzige Minute warten sollen.« »Wie Ihr nur so redet«, sagte das Mädchen verschämt, »wenn er hätt’ kommen können, wär’ er gewiß schon da. Vielleicht ist er krank oder – oder gar – tot«, setzte sie langsam hinzu. »Hat er so lange nichts von sich hören lassen?« fragte Arnold betroffen. »Gar sehr, sehr lange nicht.« »Dann ist er wohl weit von hier daheim?« »Weit? Gewiß – schon eine recht lange Strecke von hier«, sagte das Mädchen, »in Bischofsroda.« »Bischofsroda?« rief Arnold. »Da habe ich vier Wochen gehaust und kenne jedes Kind im Dorf. Wie heißt er?« »Heinrich – Heinrich Vollgut«, sagte das Mädchen verschämt, »des Schulzen Sohn in Bischofsroda.« 159
»Hm«, meinte Arnold, »bei dem Schulzen bin ich ein und aus gegangen. Der aber heißt, soviel ich weiß, Bäuerling, und den Namen Vollgut hab’ ich im ganzen Dorf nicht gehört.« »Ihr werdet wohl nicht alle Leut dort kennen«, meinte das Mädchen, und durch den traurigen Zug, der über dem lieben Antlitz lag, stahl sich ein leises Lächeln, das ihr noch besser als die Schwermut stand. »Aber von Bischofsroda«, meinte der junge Maler, »kann man über die Berge recht gut in zwei Stunden herüberkommen.« »Und doch ist er nicht da«, sagte sie wieder mit einem schweren Seufzer, »und doch hat er mir’s so fest versprochen.« »Dann kommt er auch gewiß«, versicherte Arnold treuherzig, »denn wenn man dir einmal etwas versprochen hat, müßte man ja ein Herz von Stein haben, wenn man nicht Wort hielte – und das hat dein Heinrich gewiß nicht.« »Nein«, sagte sie, »aber jetzt wart’ ich doch nicht länger auf ihn; denn zu Mittag muß ich daheim sein, sonst schilt der Vater.« »Und wo bist du daheim?« »Dort, gleich im Grunde – hört Ihr die Glocke? Eben wird der Gottesdienst ausgeläutet.« Arnold horchte auf, und gar nicht weit entfernt konnte er das langsame Anschlagen einer Glocke hören. Aber nicht voll und tief tönte es zu ihm herüber, sondern scharf und mißtönend, und als er länger hinschaute, war es fast, als ob ein dichter Höhenrauch über jenem Teil des Tales läge. »Eure Glocke hat einen Sprung«, lachte er, »die klingt bös.« »Ja, ich weiß es wohl«, erwiderte gleichmütig das Mädchen, »hübsch klingt sie nicht, und wir hätten sie lange schon umgießen lassen. Aber es fehlt immer an Geld und an Zeit dazu; denn hierherum sind keine Glockengießer. Doch was tut’s. Wir kennen sie einmal und wissen, was es bedeutet, wenn es anschlägt – da verrichtet’s auch die gesprungene.« 160
»Und wie heißt dein Dorf?« »Germelshausen.« »Kann ich von dort nach Wichtelhausen kommen?« »Recht leicht – den Fußweg hinüber ist’s kaum ein halbes Stündchen – vielleicht nicht einmal so weit, wenn Ihr gut ausschreitet.« »Dann geh’ ich mit durch dein Dorf! Wenn Ihr ein gut Wirtshaus habt, ess’ ich dort zu Mittag.« »Das Wirtshaus ist nur zu gut«, sagte das Mädchen, indem es einen Blick zurückwarf, ob der Erwartete nicht doch noch käme. »Kann ein Wirtshaus je zu gut sein?« »Für den Bauern – ja«, sagte das Mädchen ernst, während es an seiner Seite langsam hinschritt, »der hat auch des Abends nach der Arbeit noch manches im Haus zu tun, was er versäumt, wenn er bis spät in der Nacht im Wirtshaus sitzt.« »Aber ich versäume heute nichts mehr.« »Ja, mit den Stadtherren ist es etwas anderes – die arbeiten doch nichts und versäumen deshalb auch nicht viel; muß doch der Bauer das Brot für sie verdienen.« Arnold lachte. »Nun, eigentlich doch nicht. Verdienen müssen wir es selber, und manchmal sauer genug; denn was der Bauer tut, läßt er sich auch gut bezahlen.« »Aber Ihr arbeitet doch nichts.« »Warum denn nicht?« »Eure Hände sehen nicht danach aus.« »Dann will ich dir gleich einmal beweisen, wie und was ich arbeiten kann«, sagte Arnold. »Setz dich auf den flachen Stein da unter den alten Fliederbusch.« »Aber was soll ich dort?« »Setz dich nur hin«, rief der junge Maler, indem er seinen Tornister abwarf und Mappe und Bleistift vornahm. »Aber ich muß heim!« 161
»In fünf Minuten bin ich fertig – ich möchte gern eine Erinnerung an dich mitnehmen, gegen die auch dein Heinrich nichts wird einzuwenden haben.« »Eine Erinnerung an mich? Wie Ihr gespaßig seid.« »Ich will dein Bild mitnehmen.« »Ihr seid – ein Maler?« »Ja.« »Das wär’ schon gut«, sagte sie leise. »Dann könntet Ihr in Germelshausen gleich die Bilder in der Kirche wieder einmal frisch anmalen. Die sehen so gar bös und mitgenommen aus.« »Wie heißt du?« fragte Arnold, der indessen schon seine Mappe geöffnet hatte und die lieblichen Züge des Mädchens rasch abzeichnete. »Gertrud.« »Und was ist dein Vater?« »Der Schulze im Dorf. – Wenn Ihr ein Maler seid, dürft Ihr auch nicht ins Wirtshaus gehn. Da nehm’ ich Euch gleich mit nach Haus, und nach dem Essen könnt Ihr mit dem Vater sprechen.« »Über die Kirchenbilder?« lachte Arnold. »Ja, gewiß«, sagte ernsthaft das Mädchen, »und Ihr müßt dann bei uns bleiben, recht, recht lange – bis wieder unser Tag kommt und die Bilder fertig sind.« »Nun, davon sprechen wir nachher, Gertrud«, sagte der junge Maler. »Aber wird dein Heinrich nicht bös werden, wenn ich bei euch bin und – recht viel mit dir plaudere?« »Der Heinrich?« sagte das Mädchen. »Der kommt jetzt nicht mehr.« »Heut wohl nicht. Aber vielleicht morgen?« »Nein«, sagte Gertrud ruhig, »da er bis elf nicht da war, bleibt er aus, bis einmal wieder unser Tag ist.« »Euer Tag? Was meinst du damit? Sie sah ihn mit großen Augen an. Aber sie antwortete nicht 162
auf seine Frage, und während ihr Blick nach den hoch über ihnen ziehenden Wolken schweifte, haftete er mit einem eigenen Ausdruck von Schmerz und Wehmut an ihnen. Gertrud war in diesem Augenblick wirklich engelschön, und Arnold vergaß in der Anteilnahme, die er an der Vollendung des Bildes nahm, alles andere. Es blieb ihm auch nicht mehr viel Zeit. Das junge Mädchen stand plötzlich auf, und ein Tuch über den Kopf werfend, sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen, sagte sie: »Ich muß jetzt fort – der Tag ist so kurz, und sie erwarten mich daheim.« Arnold hatte sein kleines Bild schon fertig, und mit ein paar Strichen den Faltenwurf der Kleidung angebend, sagte er, ihr das Bild entgegenhaltend: »Hab’ ich dich getroffen?« »Das bin ich?« rief Gertrud fast erschrocken. »Nun, wer denn sonst?« lachte Arnold. »Und das Bild wollt Ihr behalten und mit Euch nehmen?« fragte sie schüchtern. »Gewiß will ich«, rief der junge Mann, »und wenn ich dann weit, weit von hier bin, noch oft und fleißig an dich denken.« »Aber wird das mein Vater leiden?« »Daß ich an dich denke? Kann er mir das verwehren?« »Nein – aber – daß Ihr das Bild da mit Euch – in die Welt hinaus nehmt.« »Er kann es nicht hindern, mein Herz«, sagte Arnold freundlich, »aber wäre es dir selber unlieb, es in meinen Händen zu wissen?« »Mir? – Nein«, erwiderte nach kurzem Überlegen das Mädchen, »wenn – nur nicht – ich muß doch den Vater darum fragen.« »Du bist ein närrisches Kind«, lachte der junge Maler, »selbst eine Prinzessin hätte nichts dagegen; dir geschieht kein Schade dadurch. Aber lauf doch nicht so. Ich gehe ja mit – oder willst du mich hier ohne Mittagessen zurücklassen? Hast du die Kirchenbilder vergessen?« 163
»Ja, die Bilder«, sagte das Mädchen, stehenbleibend. Arnold aber, der seine Mappe rasch wieder zusammengebunden hatte, war bereits an ihrer Seite, und schneller als vorher setzten sie ihren Weg fort, dem Dorf zu. Das Dorf lag näher, als Arnold vermutet hatte. Denn das, was der junge Mann von weitem nur für ein Erlendickicht gehalten hatte, zeigte sich, als sie näher kamen, als eine heckenumzogene Reihe von Obstbäumen, hinter denen dicht versteckt, aber im Norden und Nordosten von weiten Feldern umgeben, das alte Dorf mit seinem niedrigen Kirchturm und seinen rauchgeschwärzten Häusern lag. Hier auch betraten sie zuerst eine gut angelegte und feste Straße, die an beiden Seiten mit Obstbäumen bepflanzt war. Über dem Dorf aber hing der düstere Höhenrauch, den Arnold schon von weitem gesehen hatte, und brach das helle Sonnenlicht, das nur mit einem gelblichen, unheimlichen Schein auf die alten grauen, verwitterten Dächer fallen konnte. Arnold aber hatte für das alles kaum einen Blick; denn Gertrud hatte, als sie sich den ersten Häusern näherten, seine Hand gefaßt, und so bog sie mit ihm in die nächste Straße ein. Ein sonderbares Gefühl durchzuckte den jungen lebenslustigen Burschen bei der Berührung dieser Hand, und unwillkürlich suchte sein Blick dem Blick des jungen Mädchens zu begegnen. Aber Gertrud sah zu Boden. So führte sie den Gast dem Hause ihres Vaters zu, und Arnolds Aufmerksamkeit wurde von den ihm begegnenden Dorfbewohnern abgelenkt, die alle still an ihm vorübergingen, ohne ihn zu grüßen. Das fiel ihm auf; denn in den benachbarten Dörfern hätte man es fast für ein Vergehen gehalten, einem Fremden nicht wenigstens einen ›Guten Tag‹ oder ein ›Grüß Gott‹ zu bieten. Hier dachte niemand daran, und wie in einer großen Stadt gingen die Leute entweder teilnahmslos vorbei oder blieben auch hier und da stehen und sahen den beiden nach. Aber niemand redete sie an. Selbst das Mädchen grüßte keiner von allen. 164
Obwohl es Sonntag war, sahen die runden, in Blei gefaßten Fensterscheiben der spitzgiebeligen Häuser trüb und angelaufen aus. Hier und da öffnete sich ein Flügel, als sie vorüberschritten, und freundliche Mädchengesichter oder alte würdige Matronen schauten heraus. Auch die seltsame Tracht der Leute fiel Arnold auf, die sich wesentlich von jener der Nachbardörfer unterschied. Dabei herrschte eine fast lautlose Stille überall, und Arnold, dem das Schweigen peinlich wurde, sagte zu seiner Begleiterin: »Haltet ihr denn in eurem Dorfe den Sonntag so streng, daß die Leute, wenn sie einander begegnen, nicht einmal einen Gruß haben? Wenn man nicht hier und da einen Hund bellen oder einen Hahn krähen hörte, könnte man den ganzen Ort für stumm und tot halten.« »Es ist Mittagszeit«, sagte Gertrud ruhig. »Da sind die Leute nicht zum Reden aufgelegt. Heute abend werdet Ihr sie desto lauter finden.« »Gott sei Dank«, rief Arnold, »da sind wenigstens Kinder, die auf der Straße spielen! Mir fing schon an, ganz unheimlich zu werden. Da feiern sie in Bischofsroda den Sonntag auf andere Art.« »Dort ist meines Vaters Haus«, sagte Gertrud leise. »Dem aber«, lachte Arnold, »darf ich nicht so unversehens in die Schüssel fallen. Ich könnte ihm ungelegen kommen. Zeig mir lieber das Wirtshaus, mein Kind, oder laß mich es selber finden; denn Germelshausen wird von anderen Dörfern keine Ausnahme machen. Dicht neben der Kirche steht gewöhnlich auch die Schenke, und wenn man nur dem Turm folgt, geht man nie fehl.« »Da habt Ihr recht. Das ist bei uns geradeso«, sagte Gertrud ruhig. »Aber daheim erwarten sie uns schon, und Ihr braucht nicht zu fürchten, daß man euch unfreundlich aufnimmt.« »Erwarten sie uns? Du meinst dich und deinen Heinrich? Ja, Gertrud, wenn du mich heute an seiner Stelle nehmen wolltest, 165
dann bliebe ich bei dir – bis du mich selber wieder fortgehen hießest.« Er hatte bei den letzten Worten ihre Hand gedrückt, die noch immer die seine gefaßt hielt. Da blieb Gertrud plötzlich stehen, sah ihn voll und groß an und sagte: »Wolltet Ihr das wirklich?« »Mit tausend Freuden«, rief der junge Maler, von der wunderbaren Schönheit des Mädchens ganz verwirrt. Gertrud erwiderte nichts weiter darauf, und ihren Weg fortsetzend, als ob sie sich die Worte ihres Begleiters überlege, blieb sie endlich vor einem hohen Haus stehen, zu dem eine mit Eisenstäben verwahrte steinerne Treppe hinaufführte, und sagte mit ihrer früheren, schüchternen und verschämten Stimme: »Hier wohne ich, lieber Herr, und wenn’s Euch gefreut, so kommt mit hinauf zu meinem Vater, der stolz darauf sein wird, Euch an seinem Tisch zu sehen.« Ehe Arnold aber etwas darauf erwidern konnte, trat oben auf der Treppe schon der Schulze in die Tür, und während ein Fenster geöffnet wurde, aus dem der freundliche Kopf einer alten Frau herausschaute und ihm zunickte, rief der Bauer: »Aber Gertrud, heute bist du lange ausgeblieben! Aber schau, was für einen schmucken Gesellen sie sich mitgebracht hat!« »Mein bester Herr«, begann Arnold. »Nur keine Umstände – kommt herein, die Klöße sind fertig und werden sonst hart und kalt.« »Das ist aber nicht der Heinrich«, rief die alte Frau aus dem Fenster. »Hab’ ich’s denn nicht immer gesagt, daß der nicht wiederkäme?« »Schon gut, Mutter, schon gut!« meinte der Schulze. »Dieser hier tut’s auch«, und dem Fremden die Hand entgegenstreckend, fuhr er fort: »Schön willkommen in Germelshausen, mein junger Herr, wo Euch das Mädel auch mag aufgelesen haben. Und jetzt kommt herein zum Essen und langt zu nach 166
Herzenslust – alles Weitere können wir nachher besprechen.« Er ließ dem jungen Maler keine Zeit zu einer Entschuldigung, sondern derb seine Hand schüttelnd, die Gertrud losgelassen hatte, sobald er den Fuß auf die steinerne Treppe setzte, faßte er ihn zutraulich unter den Arm und führte ihn in die breite und geräumige Wohnstube hinein. Im Haus selbst herrschte eine dumpfe, erdige Luft, und obwohl Arnold die Gewohnheit des deutschen Bauern kannte, der sich in seinem Zimmer am liebsten von jeder frischen Luft abschließt und selbst im Sommer nicht selten einheizt, um die ihm behagliche Brathitze zu erzeugen, so fiel es ihm doch auf, daß hier offenbar seit Tagen oder sogar Wochen nicht gelüftet worden war. Der schmale Hausgang hatte gleichfalls wenig Einladendes. Der Kalk war von den Wänden gefallen und schien eben nur flüchtig beiseite gekehrt zu sein. Das einzige erblindete Fenster konnte kaum ein notdürftiges Licht hereinlassen, und die Treppe, die in das obere Stockwerk führte, sah alt und zerfallen aus. Es blieb aber nur wenig Zeit, das alles zu beobachten; denn im nächsten Augenblick schon warf der gastliche Wirt die Tür der Wohnstube auf, und Arnold sah sich in einem nicht hohen, aber breiten und geräumigen Zimmer, das, frisch gelüftet, mit weißem Sand gestreut, mit dem großen, von schneeigem Linnen bedeckten Tisch in der Mitte gar freundlich gegen die übrige Einrichtung des Hauses abstach. Außer der alten Frau, die jetzt das Fenster geschlossen hatte und ihren Stuhl zum Tisch rückte, saßen noch ein paar rotbäckige Kinder in der Ecke, und eine rüstige Bauersfrau öffnete eben der mit einer großen Schüssel hereinkommenden Magd die Tür. Schon dampften die Klöße auf dem Tisch, und alles drängte an die Stühle. Keins aber setzte sich, und die Kinder schauten, wie es Arnold vorkam, fast ängstlichen Blickes auf den Vater. Dieser trat zu seinem Stuhl, lehnte sich mit dem Arm darauf 167
und sah still und schweigend, ja finster vor sich nieder. Betete er? Arnold sah, daß er die Lippen fest zusammengepreßt hielt, während seine rechte Hand zusammengeballt an der Seite niederhing. Gertrud ging leise auf ihn zu und legte ihre Hand auf seine Schulter, und die alte Frau sah ihn mit ängstlich bittenden Blicken an. »Laßt uns essen!« sagte da barsch der Mann. »Es hilft doch nichts!« Seinen Stuhl beiseite rückend und seinem Gaste zunickend, ließ er sich selber nieder, ergriff den großen Schöpflöffel und legte allen vor. Arnold kam das ganze Wesen des Mannes fast unheimlich vor, und in der gedrückten Stimmung der übrigen konnte er sich ebenfalls nicht behaglich fühlen. Der Schulze war aber nicht der Mann, der sein Mittagessen mit trüben Gedanken verzehrt hätte. Als er auf den Tisch klopfte, trat die Magd wieder herein und brachte Flaschen und Gläser, und mit dem kostbaren alten Wein, den er jetzt einschenkte, kam bald ein ganz anderes Leben in alle Tischgenossen. Durch Arnolds Adern strömte das herrliche Getränk wie flüssiges Feuer. Nie im Leben hatte er etwas Ähnliches gekostet. Auch Gertrud trank davon. Der Schulze selber war wie ausgewechselt. So ernst und schweigsam er vorher gewesen war, so lustig und aufgeräumt wurde er jetzt. Ohne daß Arnold eigentlich genau wußte, wie es gekommen war, hatte der Schulze eine Violine in die Hand genommen und spielte einen heiteren Tanz, und Arnold, die schöne Gertrud im Arm, wirbelte mit ihr in der Stube so heftig herum, daß er das Spinnrad umwarf und gegen die Magd anrannte, die das Geschirr hinaustragen wollte. Die anderen wollten sich ausschütten vor Lachen. Plötzlich aber wurde alles still in der Stube. Als sich Arnold erstaunt nach dem Schulzen umschaute, deutete dieser mit seinem Violinbogen nach dem Fenster und legte das Instrument 168
wieder in den großen Holzkasten zurück. Arnold sah, wie draußen auf der Straße ein Sarg vorbeigetragen wurde. Sechs Männer, in weiße Hemden gekleidet, trugen ihn auf den Schultern, und hinterher ging ganz allein ein alter Mann, mit einem kleinen blondhaarigen Mädchen an der Hand. Der Alte schritt wie gebrochen auf der Straße hin. Die Kleine aber, die kaum vier Jahre zählen mochte und wohl noch keine Ahnung hatte, wer da in dem dunklen Sarg lag, nickte überall freundlich hin, wo sie ein bekanntes Gesicht traf, und lachte hell auf, als sich ein paar Hunde vorüberhetzten und der eine gegen die Treppe des Schulhauses anrannte und sich überkugelte. Aber nur solange der Sarg in Sicht war, dauerte die Stille. Gertrud war zu dem jungen Maler getreten und sagte: »Ihr habt genug getollt, und der schwere Wein steigt Euch in den Kopf. Kommt, nehmt Euren Hut. Wir wollen einen kleinen Spaziergang machen. Bis wir zurückkommen, wird es Zeit, in die Schenke zu gehen; heute abend ist Tanz.« »Tanz? Das ist recht«, rief Arnold vergnügt, »da bin ich gerade zur guten Zeit gekommen. Du gibst mir den ersten Tanz, Gertrud?« »Gewiß, wenn Ihr wollt.« Arnold hatte schon Hut und Mappe aufgegriffen. »Was wollt Ihr mit dem Buch?« fragte der Schulze. »Er zeichnet, Vater«, sagte Gertrud. »Er hat auch mich schon abgemalt. Seht Euch einmal das Bild an.« Arnold öffnete die Mappe und hielt dem Mann das Bild entgegen. Der Bauer betrachtete es still und schweigend eine Weile. »Und das wollt Ihr mit nach Hause nehmen«, sagte er endlich, »und vielleicht in einen Rahmen machen und in die Stube hängen?« »Und warum nicht?« 169
»Darf er, Vater?« fragte Gertrud. »Wenn er nicht bei uns bleibt«, sagte der Schulze, »habe ich nichts dagegen. – Aber dahinten fehlt immer noch etwas.« »Was?« »Der Leichenzug von vorhin. Malt den auch auf das Blatt, und Ihr mögt das Bild mitnehmen.« »Aber der Leichenzug zu Gertrud.« »Da ist noch Platz genug«, sagte hartnäckig der Schulze, »der muß mit aufs Bild, sonst leid’ ich nicht, daß Ihr meines Mädels Gesicht so ganz allein mit fortnehmt. In so ernster Gesellschaft kann niemand etwas Übles davon denken.« Arnold schüttelte über den wunderlichen Vorschlag, dem hübschen Mädchen einen Leichenzug als Ehrenwache mitzugeben, den Kopf. Der Mann schien aber nun einmal die krankhafte Einbildung zu haben, und um ihn zufriedenzustellen, tat er ihm den Willen. Später konnte er die traurige Beigabe ja leicht wieder entfernen. Mit geübter Hand hatte er die Gestalten, wenn auch nur aus der Erinnerung, auf das Papier gebracht, und die ganze Familie drängte sich dabei um ihn her und sah mit offenbarem Staunen zu. »Hab’ ich’s so recht gemacht?« rief Arnold, indem er von seinem Stuhl aufsprang und das Bild in Armeslänge vor sich hielt. »Vortrefflich!« nickte der Schulze. »Hätt’s nimmer gedacht, daß Ihr’s so schnell fertigbrächtet. Jetzt mag’s sein. Und nun geht mit dem Mädel hinaus und seht euch das Dorf an. – Möchtet es doch so bald nicht wieder zu sehen bekommen. – Bis um fünf Uhr seid aber wieder da – wir feiern ein Fest heute, und da müßt Ihr dabeisein!« Arnold selber war es in der dumpfigen Stube beklommen zumute geworden. Er sehnte sich ins Freie, und wenige Minuten 170
später schritt er an Gertruds Seite die Straße entlang, die durch das Dorf führte. Jetzt lag der Weg nicht mehr so still da wie vorhin. Die Kinder spielten auf der Straße, die Alten saßen vor ihren Türen und sahen zu, und der ganze Ort mit seinen wunderlichen Gebäuden hätte ein freundliches Ansehen gehabt, wäre die Sonne nur imstande gewesen, durch den dichten, bräunlichen Rauch zu dringen, der wie eine Wolke über den Dächern lag. »Ist hier ein Moor- oder Waldbrand in der Nähe?« fragte der Maler das Mädchen. »Dieser Rauch liegt über keinem anderen Dorf und kann nicht von den Schornsteinen herrühren.« »Es ist Erdrauch«, sagte ruhig Gertrud. »Aber habt Ihr nie von Germelshausen gehört?« »Nie.« »Das ist sonderbar, und das Dorf ist doch schon so alt – so alt.« »Die Häuser sehen wenigstens danach aus, und auch die Leute haben alle ein so wunderliches Benehmen, und eure Sprache klingt so ganz anders als in den Nachbarorten. Ihr kommt wohl wenig hinaus aus eurem Ort?« »Wenig«, sagte Gertrud einsilbig. »Und keine einzige Schwalbe ist mehr da? – Die können doch noch nicht fortgezogen sein?« »Schon lange –«, antwortete das Mädchen. »In Germelshausen baut sich keine mehr ihr Nest. Sie können vielleicht den Erdrauch nicht vertragen.« »Aber den habt ihr doch nicht immer?« »Immer.« »Dann ist der Rauch auch schuld daran, daß eure Obstbäume keine Früchte tragen. Noch in Marisfelde mußten sie die Äste stützen, so reich gesegnet ist das Jahr.« Gertrud erwiderte kein Wort darauf und ging schweigend an seiner Seite, bis sie das äußerste Ende des Dorfes erreichten. 171
Unterwegs nickte sie nur manchmal einem Kind freundlich zu oder sprach mit einem der jungen Mädchen – vielleicht über den heutigen Tanz und Ballstaat – ein paar leise Worte. Die Mädchen sahen dabei den jungen Mann mit so mitleidsvollen Blicken an, daß es diesem, er wußte selber nicht recht, warum, ganz weh ums Herz wurde. Aber er getraute sich nicht, Gertrud zu fragen. Endlich hatten sie die letzten Häuser erreicht, und so lebendig es im Dorf selber gewesen war, so still und einsam wurde es hier. Die Gärten sahen aus, als ob sie seit langen Jahren nicht betreten worden wären. In den Wegen wuchs Gras, und besonders merkwürdig schien es dem jungen Fremden, daß kein Obstbaum auch nur eine Frucht trug. Da begegneten ihnen Menschen, die von draußen hereinkamen, und Arnold erkannte augenblicklich den rückkehrenden Leichenzug. Die Leute zogen still an ihnen vorüber, wieder in das Dorf hinein, und fast unwillkürlich lenkten sich beider Schritte dem Friedhof zu. Arnold suchte seine Begleiterin, die ihm gar zu ernst vorkam, aufzuheitern, erzählte ihr von anderen Orten, wo er gewesen war, und wie es draußen in der Welt aussähe. Sie hatte noch nie eine Eisenbahn gesehen, ja nie davon gehört, und horchte aufmerksam und erstaunt seiner Erklärung. Auch von dem Telegrafen hatte sie keine Ahnung, ebensowenig von all den neueren Erfindungen, und der junge Maler begriff nicht, wie es möglich sei, daß noch Menschen in Deutschland so abgeschieden, ja förmlich getrennt von der übrigen Welt, leben konnten. Unter diesen Gesprächen erreichten sie den Gottesacker, und hier fielen dem jungen Fremden gleich die altertümlichen Steine und Denkmale auf, so einfach sie auch waren. »Das ist ein alter Stein«, sagte er, als er sich zu dem nächsten niederbog und mit Mühe die Schnörkelschrift desselben entzif172
fert hatte: »Anna Maria Berthold, geborene Sieglitz, geboren am 1. Dezember 1188, gestorben den 2. Dezember 1224.« »Das ist meine Mutter«, sagte Gertrud, und ein paar große helle Tränen drängten sich in ihr Auge und fielen langsam auf ihr Mieder nieder. »Deine Mutter?« sagte Arnold erstaunt. »Deine Ururelternmutter, ja, die könnte es gewesen sein.« »Nein«, sagte Gertrud, »meine rechte Mutter – der Vater hat nachher wieder gefreit, und die zu Hause ist meine Stiefmutter.« »Aber steht da nicht: gestorben 1224?« »Was kümmert mich das Jahr?« sagte Gertrud. »Es tut gar weh, wenn man so von der Mutter getrennt wird, und doch«, setzte sie mit leiser Stimme hinzu, »war es vielleicht gut – daß sie vorher zu Gott eingehen durfte.« Arnold beugte sich kopfschüttelnd über den Stein, die Inschrift genauer zu erforschen, ob die erste 2 in der Jahreszahl vielleicht eine 8 sei; denn die altertümliche Schrift machte das nicht unmöglich. Aber die andere 2 glich der ersten auf ein Haar, und 1884 schrieben sie noch lange nicht. Vielleicht hatte sich der Steinmetz geirrt. Das Mädchen war so in das Andenken an die Verstorbene vertieft, daß er nicht weiter durch vielleicht lästige Fragen stören mochte. Er ließ sie deshalb bei dem Stein, bei dem sie niedergesunken war und leise betete. Von der niederen Kirchhofsmauer aus hatte man einen trefflichen Überblick über das alte Dorf, und Arnold benutzte die Gelegenheit, eine flüchtige Zeichnung davon zu entwerfen. Aber auch über diesem Platz lag der wunderliche Höhenrauch, und weiter dem Wald zu konnte Arnold doch die Sonne hell und klar auf die Berghänge niederfallen sehen. Da schlug im Dorf wieder die alte zersprungene Glocke an, und Gertrud, sich rasch emporrichtend und die Tränen aus den Augen schüttelnd, winkte freundlich dem jungen Mann, ihr zu folgen. Er war rasch an ihrer Seite. 173
»Jetzt dürfen wir nicht mehr trauern«, sagte sie lächelnd, »die Kirche läutet aus, und nun geht es zum Tanz. Ihr habt wohl geglaubt, daß die Germelshausener lauter Kopfhänger wären? Heute abend sollt Ihr das Gegenteil gewahr werden.« »Aber dort drüben ist doch die Kirchentür«, sagte Arnold, »und ich sehe niemanden herauskommen.« »Das ist sehr natürlich«, sagte das Mädchen, »weil niemand hineingeht – nicht einmal der Pfarrer. Nur der alte Sakristan gönnt sich keine Ruhe und läutet die Kirche aus und ein.« »Und keins von euch geht in die Kirche?« »Nein – weder zur Messe noch Beichte«, sagte das Mädchen ruhig, »wir liegen in einem Streit mit dem Papst, der bei den Welschen wohnt, und der will es nicht leiden, bis wir ihm wieder gehorchen.« »Aber davon hab’ ich im Leben nichts gehört.« »Ja, das ist schon lange her«, sagte das Mädchen leichthin, »seht Ihr, da kommt der Sakristan ganz allein aus der Kirche und schließt die Tür zu; der geht auch nicht ins Wirtshaus, sondern sitzt still und allein daheim.« »Und der Pfarrer kommt?« »Das sollt’ ich meinen. Der ist der Lustigste von allen. Er nimmt sich’s nicht zu Herzen.« »Und weshalb ist das alles geschehen?« sagte Arnold, der sich fast weniger über die Tatsachen als über des Mädchens Unbefangenheit wunderte. »Das ist eine lange Geschichte«, meinte Gertrud, »und der Pfarrer hat das alles in ein großes, dickes Buch aufgeschrieben. Wenn’s Euch Spaß macht und Ihr Lateinisch versteht, mögt Ihr’s darin lesen. – Aber«, setzte sie warnend hinzu, »sprecht nicht davon, wenn mein Vater dabei ist; denn er hat’s nicht gern. Seht Ihr – da kommen die Burschen und Mädchen schon aus den Häusern. Jetzt muß ich machen, daß ich heimkomme; denn ich möchte nicht die Letzte sein.« 174
»Und den ersten Tanz, Gertrud?« »Tanze ich mit Euch! Ihr habt mein Versprechen.« Rasch schritten die beiden in das Dorf zurück, wo jetzt ein ganz anderes Leben herrschte als am Morgen. Überall standen lachende Gruppen von jungen Leuten. Die Mädchen waren zu der Festlichkeit geschmückt, die Burschen ebenfalls in ihrem besten Staat, und an dem Wirtshaus, an dem sie vorbeigingen, hingen Blattgewinde von einem Fenster zum andern und zogen über der Tür einen weiten Triumphbogen. Arnold mochte sich, da er alles aufs beste herausgeputzt sah, nicht in seinen Reisekleidern zwischen die Festtägler mischen, schnallte deshalb in des Schulzen Haus seinen Tornister auf, nahm seinen guten Anzug heraus und war eben mit dem Ankleiden fertig, als Gertrud an die Tür klopfte. Wie wunderbar schön sah das Mädchen in dem einfachen und doch so reichen Schmuck aus, und wie herzlich bat sie ihn, sie zu begleiten, da Vater und Mutter erst später folgten. Die Sehnsucht nach ihrem Heinrich kann ihr das Herz nicht abdrücken, dachte der junge Mann, als er ihren Arm in den seinigen zog und mit ihr durch die einbrechende Dämmerung dem Tanzsaal zuschritt. Aber er hütete sich wohl, einem derartigen Gedanken Worte zu geben; denn ein eigenes wunderliches Gefühl durchzuckte seine Brust, und sein Herz klopfte ungestüm. »Und morgen muß ich wieder fort«, seufzte er leise vor sich hin. Ohne daß er es wollte, waren die Worte zum Ohr seiner Begleiterin gedrungen, und sie sagte lächelnd: »Sorgt Euch nicht um das. – Wir bleiben länger zusammen – länger vielleicht, als Euch lieb ist.« »Und würdest du es gern sehen, Gertrud, wenn ich bei euch bliebe?« fragte Arnold, und er fühlte dabei, wie ihm das Blut mit voller Gewalt in Stirn und Schläfe schoß. »Gewiß«, sagte das junge Mädchen unbefangen, »Ihr seid gut und freundlich – mein Vater hat Euch gern, ich weiß es, und – 175
Heinrich ist doch nicht gekommen!« setzte sie leise und wie zürnend hinzu. »Und wenn er nun morgen käme?« »Morgen?« sagte Gertrud und sah ihn mit ihren großen dunklen Augen ernst an. »Ihr werdet morgen begreifen, was das Wort bedeutet. Aber heute sprechen wir nicht davon«, brach sie kurz und freundlich ab, »heute ist das frohe Fest, auf das wir uns so lange gefreut haben, und das wollen wir uns nicht verkümmern!« Arnold wollte etwas erwidern. Aber lärmende Musik, die aus dem Wirtshaus tönte, übertäubte seine Worte. Wunderliche Weisen spielten die Musikanten auf. Er kannte keine einzige davon und wurde durch den Glanz der vielen Lichter, die ihm entgegenfunkelten, fast geblendet. Gertrud führte ihn mitten in den Saal hinein, wo eine Menge junger Bauernmädchen plaudernd zusammen standen, und dort erst ließ sie ihn los, so daß er sich, bis der Tanz begann, ein wenig umsehen und mit den übrigen Burschen bekannt werden konnte. Im ersten Augenblick fühlte er sich zwischen den vielen fremden Menschen nicht behaglich. Auch die wunderliche Tracht und Sprache der Leute stieß ihn ab. So lieb diese harten, ungewohnten Laute von Gertruds Lippen klangen, so rauh tönten sie von anderen an sein Ohr. Die jungen Burschen waren aber alle freundlich gegen ihn, und einer von ihnen kam auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und sagte: »Das ist gescheit von Euch, Herr, daß Ihr bei uns bleiben wollt – führen auch ein lustiges Leben, und die Zwischenzeit vergeht rasch genug.« »Welche Zwischenzeit?« fragte Arnold, weniger erstaunt über den Ausdruck, als daß der Bursche so fest seine Überzeugung aussprach, daß er dieses Dorf zu seiner Heimat machen wollte. »Ihr meint, daß ich hierher zurückkehre?« »Wollt Ihr denn wieder fort?« fragte der junge Bauer rasch. 176
»Morgen – ja – oder übermorgen – aber ich komme wieder.« – »Morgen? – So?« lachte der Bursche. »Ja, dann ist’s schon recht – na, morgen sprechen wir weiter darüber. Jetzt kommt, daß ich Euch unsere Vergnüglichkeit einmal zeige, denn wenn Ihr morgen schon wieder fort wollt, bekämet Ihr die am Ende nicht einmal zu sehen.« Die anderen lachten heimlich miteinander. Der junge Bauer aber nahm Arnold an der Hand und führte ihn im ganzen Haus herum, das dichtgedrängt voll lustig schwärmender Gäste war. Erst kamen sie durch Zimmer, in denen Kartenspieler saßen und große Haufen Geldes vor sich liegen hatten. Dann betraten sie eine Kegelbahn, die mit hell glänzenden Steinen ausgelegt war. In einem dritten Zimmer wurden Ringe- und andere Spiele gespielt, und die jungen Mädchen liefen lachend und singend aus und ein und neckten sich mit den jungen Burschen, als auf einmal ein Tusch von den Musikanten, die bis dahin lustig fortgespielt hatten, das Zeichen zum Beginn des Tanzes gab. Plötzlich war auch Gertrud an Arnolds Seite und faßte seinen Arm. »Kommt, wir dürfen nicht die Letzten sein«, sagte das schöne Mädchen. »Denn als des Schulzen Tochter muß ich den Tanz eröffnen.« »Aber was für eine seltsame Weise ist das?« fragte Arnold. »Ich finde mich gar nicht in den Takt.« »Es wird schon gehen«, lächelte Gertrud. »In den ersten fünf Minuten findet Ihr Euch hinein.« Laut jubelnd drängte jetzt alles, nur die Kartenspieler ausgenommen, dem Tanzsaal zu, und Arnold vergaß in dem einen seligen Gefühl, das wunderschöne Mädchen in den Armen zu halten, alles andere. Wieder und wieder tanzte er mit Gertrud, und kein anderer schien ihm seine Tänzerin streitig machen zu wollen, wenn ihn die übrigen Mädchen im Vorbeifliegen auch manchmal neckten. Eins nur fiel ihm auf und störte ihn: Dicht neben dem 177
Wirtshaus stand die alte Kirche, und im Saal konnte man deutlich die grellen, mißtönenden Schläge der zersprungenen Glocke hören. Bei dem ersten Schlag aber war es jedesmal, als ob der Stab eines Zauberers die Tanzenden berührt hätte. Die Musik hörte mitten im Takt auf zu spielen. Die lustig durcheinanderwogende Schar stand, wie an ihre Plätze gebannt, still und regungslos, und alles zählte schweigend die einzelnen langsamen Schläge. Sobald aber der letzte Glockenschlag verhallt war, ging das Leben und das Jauchzen von neuem los. So war es um acht, so um neun, so um zehn Uhr, und wenn Arnold nach der Ursache des so sonderbaren Betragens fragen wollte, legte Gertrud ihren Finger an die Lippen und sah dabei so ernst und traurig aus, daß er sie um nichts in der Welt hätte mehr betrüben mögen. Um zehn Uhr wurde im Tanzen eine Pause gemacht, und das Musikkorps, das eiserne Lungen haben mußte, schritt dem jungen Volke voran in den Eßsaal hinab. Dort ging es lustig her. Der Wein floß nur so, und Arnold, der nicht gut hinter den übrigen zurückbleiben konnte, berechnete schon im stillen, welchen Riß dieser verschwenderische Abend in seiner bescheidenen Kasse machen würde. Aber Gertrud saß neben ihm, trank mit ihm aus einem Glas, und wie hätte er da einer solchen Sorge Raum geben können! – Und wenn Heinrich morgen kam … ? Der erste Schlag der elften Stunde tönte, und wieder schwieg der laute Jubel der Zechenden, wieder war dieses atemlose Lauschen. Ein stilles Grauen überkam Arnold, er wußte selber nicht, weshalb, und der Gedanke an seine Mutter daheim zog ihm durch das Herz. Langsam hob er sein Glas und hob es als Gruß den fernen Lieben. Mit dem elften Schlag aber sprangen die Gäste von den Tischen auf. Der Tanz sollte aufs neue beginnen, und alles eilte in den Saal zurück. 178
»Wem habt Ihr zuletzt zugetrunken?« fragte Gertrud, als sie ihren Arm wieder in den seinigen gelegt hatte. Arnold zögerte mit der Antwort. Lachte ihn Gertrud vielleicht aus, wenn er es ihr sagte? Aber nein – so inbrünstig hatte sie ja noch am Nachmittag an ihrer eigenen Mutter Grab gebetet, und mit leiser Stimme sagte er: »Meiner Mutter.« Gertrud erwiderte kein Wort und ging schweigend neben ihm die Treppe wieder hinauf. Aber sie lachte nun auch gar nicht mehr, und ehe sie wieder zum Tanz antraten, fragte sie: »Habt Ihr Eure Mutter so lieb?« Arnold nickte stumm. »Und sie Euch?« »Liebt eine Mutter nicht ihr Kind?« »Und wenn Ihr – nicht wieder heim zu ihr kämet?« »Arme Mutter!« sagte Arnold. »Ihr Herz würde brechen!« »Da beginnt der Tanz wieder!« rief Gertrud rasch. »Kommt, wir dürfen keinen Augenblick mehr säumen!« Die jungen Burschen, von dem starken Wein erhitzt, jubelten und johlten. Ein Lärmen entstand, das die Musik zu übertäuben drohte. Arnold fühlte sich nicht mehr so wohl in dem Toben, und auch Gertrud war still geworden. Nur bei den anderen allen schien der Jubel zu wachsen. In einer Pause kam der alte Schulze auf die beiden zu, schlug dem jungen Manne herzhaft auf die Schulter und sagte lachend: »Das ist recht, Herr Maler, nur lustig die Beine geschwenkt den Abend. Wir haben Zeit genug, uns wieder auszuruhen. Na, Trudchen, weshalb schneidest du denn so ein ernstes Gesicht? Da geht’s wieder los! Jetzt muß ich meine Alte suchen, mit ihr den letzten Tanz zu machen. Stellt euch an! Die Musikanten blasen schon wieder die Backen auf.« Mit einem Juchzer drängte er sich durch den Schwarm. Arnold hatte schon den Arm um Gertrud gelegt, als diese sich plötzlich von ihm losmachte, seinen Arm ergriff und flüsterte: »Kommt!« 179
Er behielt keine Zeit, sie zu fragen, wohin; denn sie glitt ihm unter den Händen weg, der Saaltür zu. »Wohin, Trudchen?« riefen ihr ein paar der Gespielinnen nach. »Bin gleich wieder da«, lautete die kurze Antwort, und wenige Sekunden später stand sie mit Arnold draußen in der frischen Abendluft vor dem Haus. »Wo willst du hin, Gertrud?« »Kommt!« Wieder ergriff sie seinen Arm und führte ihn durch das Dorf, an ihres Vaters Haus vorbei, in das sie schnell hineinsprang und aus dem sie sogleich mit einem kleinen Bündel zurückkehrte. »Was hast du vor?« fragte Arnold erschreckt. »Kommt!« war das einzige, was sie erwiderte. An den Häusern vorbei schritt sie mit ihm dahin, bis sie die äußere Ringmauer des Dorfes hinter sich hatten. Sie waren bis hier der breiten, festen und hartgefahrenen Straße gefolgt. Jetzt bog Gertrud links vom Wege ab und schritt einen kleinen, flachen Hügel hinauf, von dem man gerade auf die hell erleuchteten Fenster und Türen des Wirtshauses sehen konnte. Hier blieb sie stehen, reichte Arnold die Hand und sagte herzlich: »Grüßt Eure Mutter von mir – lebt wohl!« »Gertrud!« rief Arnold, so erstaunt wie bestürzt. »Jetzt mitten in der Nacht willst du mich von dir schicken? Habe ich dir mit irgendeinem Worte weh getan?« »Nein, Arnold«, sagte das Mädchen, ihn zum erstenmal bei seinem Vornamen nennend, »eben – eben weil ich Euch gern hab’, müßt Ihr fort.« »Aber so lasse ich dich nicht von mir – im Dunkeln, allein in das Dorf zurück!« bat Arnold. »Mädchen, du weißt nicht, wie lieb ich dich habe, du weißt nicht –« »Sprecht nicht weiter«, unterbrach ihn Gertrud rasch, »wir wollen keinen Abschied nehmen. Wenn die Glocke zwölf geschlagen hat – es kann kaum noch zehn Minuten dauern –, so 180
kommt wieder an die Tür des Wirtshauses – dort werd’ ich Euch erwarten.« »Und so lange –« »Bleibt Ihr hier auf dieser Stelle stehen! Versprecht mir, daß Ihr keinen Schritt zur Rechten oder zur Linken gehen wollt, bis die Glocke zwölf geschlagen hat.« »Ich verspreche es, Gertrud. Aber dann?« »Dann kommt«, sagte das Mädchen, reichte ihm die Hand zum Abschied und wollte fort. »Gertrud!« rief Arnold. Sie blieb einen Augenblick wie zögernd stehen – dann plötzlich wandte sie sich gegen ihn, warf ihre Arme um seinen Nacken, und Arnold fühlte die eiskalten Lippen des schönen Mädchens fest auf den seinen. Aber es war nur ein Augenblick. In der nächsten Sekunde hatte sie sich losgerissen und floh dem Dorf zu, und Arnold blieb, bestürzt über ihr wunderliches Betragen, aber seines Versprechens eingedenk, an der Stelle stehen, wo sie ihn verlassen hatte. Jetzt erst sah er auch, wie sich das Wetter in den wenigen Stunden verändert hatte. Der Wind heulte durch die Bäume, der Himmel war mit dichten, jagenden Wolken bedeckt; einzelne große Regentropfen verrieten ein nahendes Gewitter. Durch die dunkle Nacht glänzten hell die Lichter aus dem Wirtshaus heraus, und wie der Wind von dort herübersauste, konnte er in einzelnen unterbrochenen Stößen den Klang der Instrumente hören – aber nicht lange. Nur wenige Minuten hatte er auf seiner Stelle gestanden, da hob die alte Kirchturmglocke zum Schlagen aus. In demselben Augenblick verstummte die Musik oder wurde von dem heulenden Sturm übertäubt, der so arg über den Hang tobte, daß Arnold sich zum Boden niederbeugen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vor sich auf der Erde fühlte er das Paket, das Gertrud aus dem Haus geholt hatte – seinen eigenen Tornister und seine Mappe. Erschreckt richtete 181
er sich wieder empor. Die Uhr hatte ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber. Aber nirgends im Dorf entdeckte er mehr ein Licht. Die Hunde, die kurz vorher gebellt und geheult hatten, waren still, und dichter, feuchter Nebel quoll aus dem Grunde herauf. »Die Zeit ist um«, murmelte Arnold vor sich hin, indem er seinen Tornister auf den Rücken warf, »und ich muß Gertrud noch einmal sehen; denn so kann ich nicht von ihr scheiden. Der Tanz ist aus. Die Tänzer werden nach Hause gehen, und wenn mich der Schulze nicht über Nacht behalten will, bleib’ ich im Wirtshaus, In der Dunkelheit fänd’ ich überdies nicht meinen Weg durch den Wald.« Vorsichtig stieg er den Abhang wieder hinunter, den er mit Gertrud heraufgekommen war, den breiten und weißen Weg zu treffen, der in das Dorf hineinführte. Aber umsonst tappte er in den Büschen herum. Der Grund war weich und sumpfig. Mit seinen dünnen Stiefeln sank er bis über die Knöchel ein, und dichtes Erlengebüsch schoß überall dort empor, wo er den Weg vermutet hatte. Gekreuzt konnte er ihn in der Dunkelheit auch nicht haben. Er mußte ihn fühlen, wenn er darauf trat. Außerdem wußte er, daß die Ringmauer des Dorfes querüber lief. Diese konnte er nicht verfehlen. Aber umsonst suchte er mit ängstlicher Hast danach. Der Boden wurde weicher und sumpfiger, je weiter er darin vordrang, das Gestrüpp dichter und überall von Dornen durchzogen, die seine Kleider zerrissen und seine Hände blutig ritzten. War er rechts oder links abgekommen? Er fürchtete, sich noch weiter zu verirren, und blieb auf einer ziemlich trockenen Stelle, dort zu erwarten, bis die alte Glocke eins schlagen würde. Aber es schlug nicht an. Kein Hund bellte, kein menschlicher Laut tönte zu ihm herüber, und mit Mühe und Not, durch und durch naß und vor Frost zitternd, arbeitete er sich wieder zu dem höher gelegenen Hügelhang zurück, an dem ihn Gertrud 182
verlassen hatte. Wohl versuchte er von hier aus noch ein paarmal, in das Dickicht einzudringen und das Dorf zu finden, aber vergebens. Erschöpft, von eigentümlichem Grausen erfaßt, mied er zuletzt den tiefen, dunklen, unheimlichen Grund und suchte einen schützenden Baum, um die Nacht dort zu verbringen. Aber wie langsam zogen die Stunden an ihm vorüber. Zitternd vor Frost, war er nicht imstande, der langen Nacht auch nur eine Sekunde Schlaf abzustehlen. Immer wieder horchte er in die Dunkelheit hinein; jedesmal aufs neue glaubte er den rauhen Schlag der Glocke zu vernehmen, um jedesmal sich aufs neue getäuscht zu sehen. Endlich dämmerte der erste lichte Schein im Osten. Die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war wieder rein und sternenhell, und die erwachenden Vögel zwitscherten leise in den dunklen Bäumen. Breiter wurde der goldene Himmelsgürtel und lichter. Schon konnte Arnold deutlich um sich her die Wipfel der Bäume erkennen. Aber vergebens suchte sein Blick den alten braunen Kirchturm und die wettergrauen Dächer. Nichts als ein altes Erlengestrüpp mit einzelnen verkrüppelten Weiden dazwischen dehnte sich vor ihm aus. Kein Weg war zu erkennen, der links oder rechts ab führte, kein Zeichen einer menschlichen Wohnung in der Nähe. Heller und heller brach der Tag an. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die weite grüne, vor ihm ausgebreitete Fläche, und Arnold, nicht imstande, sich dieses Rätsel zu erklären, wanderte ein ganzes Stück in den Grund zurück. Er mußte sich in der Nacht, während er den Ort suchte, verirrt und weiter davon entfernt haben und war jetzt fest entschlossen, ihn wieder aufzufinden. Endlich erreichte er den Stein, an dem er Gertrud gezeichnet hatte. Den Platz hätte er unter Tausenden wiedererkannt; denn der alte Fliederbusch mit seinen starren Ästen bezeichnete ihn 183
zu genau. Er wußte jetzt auch, woher er gekommen war und wo Germelshausen liegen müßte, und schritt rasch das Tal zurück, die Richtung beibehaltend, der er gestern mit Gertrud gefolgt war. Dort erkannte er auch die Biegung des Hanges, über dem der düstere Höhenrauch gelegen hatte. Nur das Erlengebüsch schied ihn noch von den ersten Häusern. Jetzt hatte er es ereicht – drängte sich hindurch und – befand sich wieder in dem nämlichen sumpfigen Morast, in dem er in der letzten Nacht herumgewatet war. Ratlos und seinen eigenen Sinnen nicht trauend, wollte er den Durchgang hier erzwingen. Aber das Sumpfwasser zwang ihn endlich, das trockene Land wieder zu suchen, und vergebens wanderte er dort jetzt auf und ab. Das Dorf war und blieb verschwunden. Mit diesen unnützen Versuchen mochten mehrere Stunden vergangen sein, und die müden Glieder versagten ihm zuletzt den Dienst. Er konnte nicht weiter und mußte sich ausruhen. Was half ihm auch das nutzlose Suchen! Von dem ersten Dorf, das er erreichte, konnte er leicht einen Führer nach Germelshausen bekommen, und dann würde er den Weg nicht wieder verfehlen. Er warf sich unter einen Baum. Wie war sein bester Anzug zugerichtet! Aber das kümmerte ihn jetzt nicht. Seine Mappe nahm er vor und aus der Mappe Gertruds Bild. Mit bitterem Schmerz hing sein Auge an den Zügen des Mädchens. Da hörte er hinter sich das Laub rascheln. Ein Hund schlug an, und als er rasch emporsprang, stand ein alter Jäger nicht weit von ihm und betrachtete neugierig die wunderliche, so anständig gekleidete und so verwildert aussehende Gestalt. »Grüß Gott!« rief Arnold, froh, einem Menschen zu begegnen, indem er das Blatt wieder in die Mappe schob. »Sie kommen mir wie gerufen, Herr Förster; denn ich glaube, ich habe mich verirrt.« 184
»Hm«, sagte der Alte, »wenn Sie hier die ganze Nacht im Busch gelegen haben – und es ist kaum eine halbe Stunde nach Dillstedt hinüber zu einem guten Wirtshaus –, so glaub’ ich das auch. Donnerwetter, wie sehen Sie aus, gerade als ob Sie aus Dornen und Sumpf kämen.« »Sie sind hier im Walde genau bekannt?« sagte Arnold, der vor allem wissen wollte, wo er sich befand. »Ich sollt’ es denken«, lachte der Jäger, indem er Feuer schlug und seine Pfeife wieder in Brand brachte. »Wie heißt das nächste Dorf?« »Dillstedt – gerad dort hinüber. Wenn Sie da drüben auf die kleine Anhöhe kommen, können Sie es gleich unter sich liegen sehen.« »Und wie weit hab’ ich von hier nach Germelshausen?« »Wohin?« rief der Jäger und nahm erstaunt die Pfeife aus dem Munde. »Nach Germelshausen.« »Gott sei mir gnädig!« sagte der Alte, während er einen scheuen Blick umherwarf. »Den Wald kenn’ ich gut genug. Wieviel Klafter tief im Erdboden drinnen aber das verwünschte Dorf liegt, das weiß nur Gott – und geht unsereinen auch nichts an.« »Das verwünschte Dorf?« rief Arnold erstaunt. »Germelshausen – ja –«, sagte der Jäger. »Gleich da drinnen im Sumpf, wo jetzt die alten Weiden und Erlen stehen, soll es vor vielen hundert Jahren gelegen haben. Nachher ist’s weggesunken. Niemand weiß, warum und wohin, und die Sage geht, daß es alle hundert Jahre an einem bestimmten Tag wieder ans Licht gehoben wird. Möchte keinem Christenmenschen wünschen, daß er zufällig dazukäme. Aber, zum Wetter noch einmal, das Nachtlager im Busch scheint Ihnen nicht gut bekommen zu sein. Sie sehen käseweiß aus. Da – nehmen Sie einmal einen Schluck aus der Flasche hier. Der wird Ihnen gut tun!« 185
»Ich danke!« »Ach was, das war nicht halb genug – einen ordentlichen, dreimal geknoteten Schluck – so – das ist der echte Stoff. Und nun machen Sie, daß Sie hinüber ins Wirtshaus und in ein warmes Bett kommen!« »Nach Dillstedt?« »Nun ja, natürlich – näher haben wir keins.« »Und Germelshausen?« »Tun Sie mir den Gefallen und nennen Sie den Ort nicht wieder – gerade an der Stelle, wo wir stehen. Lassen wir die Toten ruhen, und besonders solche, die überhaupt keine Ruhe haben und unversehens zwischen uns auftauchen könnten!« »Aber gestern hat das Dorf noch hier gestanden«, rief Arnold, seiner Sinne selber kaum mehr mächtig. »Ich war darinnen – ich habe darin gegessen, getrunken und getanzt.« Der Jäger betrachtete die Gestalt des jungen Mannes ruhig von oben bis unten. Dann sagte er lächelnd: »Aber es hieß anders, nicht wahr? – Wahrscheinlich kommen Sie gerade von Dillstedt herüber. Dort war gestern abend Tanz, und das starke Bier, das der Wirt jetzt braut, kann nicht ein jeder vertragen.« Arnold öffnete, statt aller Antwort, seine Mappe und nahm die Zeichnung heraus, die er vom Kirchhof aus entworfen hatte. »Kennen Sie das Dorf!« »Nein«, sagte der Jäger kopfschüttelnd, »solch ein flacher Turm ist hier in der ganzen Gegend nicht.« »Das ist Germelshausen«, rief Arnold. »Und tragen sich so die Bauernmädchen in der Nachbarschaft wie das Mädchen hier?« »Hm – nein! Was ist das für ein wunderlicher Leichenzug, den Ihr da darauf habt?« Arnold antwortete nicht. Er schob die Blätter wieder in seine Mappe zurück, und ein eigenes, wehes Gefühl durchbebte ihn. »Den Weg nach Dillstedt können Sie nicht verfehlen«, sagte 186
der Jäger gutmütig; denn ein dunkler Verdacht stieg in ihm auf, daß es im Kopfe des Fremden nicht so ganz richtig sein möchte. – »Wenn Sie es aber wünschen, will ich Sie begleiten, bis wir den Ort liegen sehen.« »Ich danke Ihnen«, wehrte Arnold ab. »Dort hinüber finde ich mich schon zurecht. Also alle hundert Jahre nur soll das Dorf nach oben kommen?« »So erzählen die Leute«, meinte der Jäger. »Wer weiß aber, ob’s wahr ist.« Arnold hatte seinen Tornister wieder aufgenommen. »Grüß Gott!« sagte er, dem Jäger die Hand entgegenstreckend. »Schönen Dank!« erwiderte der Forstmann. »Wo gehen Sie jetzt hin?« »Nach Dillstedt.« »Das ist recht. Dort über den Hang kommen Sie auch wieder auf den breiten Fahrweg.« Arnold wandte sich und schritt langsam seine Bahn entlang. Erst auf dem Hange droben, von dem aus er den ganzen Grund übersehen konnte, blieb er noch einmal stehen und schaute zurück. »Leb wohl, Gertrud!« murmelte er leise, und als er über den Hang hinüberschritt, drängten sich ihm die hellen Tränen aus den Augen.
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Verlockender Schnee von Algernon Blackwood Für den Kenner der fantastischen Literatur ist Algernon Blackwood (1869-1951) längst kein Unbekannter mehr. Blackwood ist fast noch ein echter Viktorianer. Dennoch wirken seine unheimlichen Schreckens- und Geistergeschichten auf verblüffende Weise modern. 1906 erschien sein erster Sammelband, ›Das leere Haus und andere Geistergeschichten‹, dem mehr als zwanzig weitere Bände folgen sollten. ——————
Hibbert, der immer zwei Welten in sich fühlte, war sich in diesem Gebirgsdorf dreier Welten bewußt. Das Dorf lag an den Hängen der Walliser Alpen, und er hatte sich ein Zimmer über dem kleinen Postamt genommen, wo er Ruhe haben würde, sein Buch zu schreiben und gleichzeitig dem Wintersport zu frönen und in den großen Hotels Gesellschaft zu finden, falls er es wünschte. Die drei Welten, die hier zusammentrafen und miteinander verschmolzen, waren für seine starke Einbildungskraft ganz klar zu erkennen, obwohl zweifelhaft ist, ob sie das auch für einen weniger intuitiven Geist gewesen wären. Da war die Welt der englischen Touristen, zivilisiert, halbgebildet, zu der er der Geburt nach gehörte; da war die Welt der Bauern, zu der er sich hingezogen fühlte – denn er liebte und bewunderte ihr einfaches, mühevolles Leben –, und da war diese andere, die er nur die Welt der Natur nennen konnte. Zu letzterer, so fühlte er mit einem ungestümen heidnischen Instinkt in seinem Blut, gehörte der größte Teil von ihm. Hier lag der Mittelpunkt seines Daseins. 188
Hibbert fühlte sich ausgeschlossen und dennoch gefangen – in drei Richtungen gezerrt, denn teilweise war er in jeder Welt, ganz nur in einer. In ihm wuchs ein ständiges heimliches Streben, der Wunsch, sie zu einen und dann zu entscheiden, in welche er gehörte. Dies war ihm natürlich größtenteils unbewußt. Es war der natürliche Instinkt einer reichlich einbildungskräftigen Natur, die ihr Gleichgewicht sucht, damit der Geist Frieden findet und der Verstand gute Arbeit zu leisten vermag. Unter den Gästen fand niemand sein besonderes Interesse. Die Männer waren nett, aber kaum zu unterscheiden – sportliche Lehrer, Ärzte auf einem kurzen Urlaub, alles gute Kerle; die Frauen ebenso – die Gescheiten, die Leicht-zu-Habenden, die Verstehenden und die übliche Meute fröhlicher Tänzerinnen und Backfische. Und Hibbert mit seinen mehr als vierzig Jahren reicher Erfahrung kam gut mit ihnen aus; er verstand sie alle, sie gehörten einem Schlag Menschen an, den er auf der ganzen Welt angetroffen hatte. Aber er gehörte nicht zu ihnen. Seine Natur war zu vielschichtig. Aber da alle ihn mochten und fühlten, daß er außerhalb stand – Zuschauer, Betrachter –, versuchten alle, ihn zu beanspruchen. In gewissem Sinn kämpften die drei Welten um ihn: Einheimische, Zugereiste, Natur … So begann der einzigartige Kampf um Hibberts Seele, und in seiner Seele fand er statt. Weder die Bauern noch die Touristen waren sich darüber im klaren, daß sie um etwas kämpften. Und die Natur, sagt man, ist blind. Der Angriff der Bauern auf ihn kann außer acht gelassen werden, denn es ist klar, daß sie keine Erfolgschance hatten. Die Welt der Touristen jedoch machte einen tapferen Versuch, ihn sich zu unterwerfen. Aber die Abende im Hotel, falls nicht getanzt wurde, waren – englisch. Die provinzielle Überheblichkeit saß auf ihrem Thron und wurde mit dem Weihrauch der 189
denkbar dümmsten Konventionen angebetet. Hibbert pflegte früh in sein Zimmer zurückzukehren, um zu arbeiten. »Es ist mein Fehler, daß ich erkannt habe, daß es überhaupt einen Konflikt gibt«, dachte er, als er um Mitternacht von einem der Tanzvergnügen nach Hause ging. »Es wäre besser gewesen, sich da herauszuhalten und zu arbeiten. Besser und – sicherer.« Das Wort entschlüpfte ihm ganz unbewußt. Unwillkürlich aufgeschreckt sah er um sich. Er wußte nur zu gut, was er bedeutete, dieser Gedanke, der da aus seinem Unterbewußtsein aufgestiegen war. Er verstand den Sinn, der sich in der Wahl des Wortes ausdrückte. Wenn er das Vorhandensein eines Konfliktes ignoriert hätte, wäre er außerhalb der Arena geblieben, während er jetzt in die Schranken getreten war. Jetzt mußte sich der Kampf um seine Seele entscheiden. Und er wußte, daß die Macht der Natur über ihn größer war als jeder andere Zauber der Welt zusammengenommen – größer als Liebe, Genuß, Vergnügen, sogar größer als die Wissenschaft. Das kleine Dorf schlief bereits. Die Welt war unter Schnee begraben. Die Dächer der Chalets schimmerten weiß im Mondlicht, und schwarze Schatten sammelten sich an der Kirchenmauer. Seine Augen ruhten einen Augenblick lang auf dem viereckigen steinernen Turm mit seinem vereisten Kreuz, das zum Himmel zeigte. Wie ein Wald standen die großen Gipfel über dem schlafenden Dorf. Sie winkten ihm. Und etwas, geboren aus der verschneiten Einsamkeit, geboren aus der Mitternacht und dem Schweigen, geboren aus der großen lauschenden Tiefe der Nacht, etwas, das zwischen Schrecken und Staunen lag, fiel von diesen ausgedehnten winterlichen Weiten in seine Seele – und rief ihn. Sehr leise legte es seinen Zauberbann auf ihn. Schneeige Finger fuhren über sein Herz. Die Kraft und stille Majestät der Winternacht erschreckte ihn … 190
Nach einigen Schwierigkeiten mit dem unhandlichen Schlüssel öffnete er und ging nach oben zu Bett. Zwei Gedanken begleiteten ihn – scheinbar ganz vernünftige und normale: »Was für Narren die Bauern sind, eine solche Nacht zu verschlafen!« Und der andere: »Diese Tanzereien ermüden mich. Ich werde nicht wieder hingehen. Meine Arbeit leidet am Morgen darunter.« Die Ansprüche der Bauern und Touristen schienen in einem einzigen Augenblick dahinzuschwinden. »Gehen Sie nicht in die langweilige Post zurück. Wir essen auf meinem Zimmer zu Abend – etwas Gutes. Kommen Sie mit, schnell.« Ein Eiskarneval hatte stattgefunden, und die letzte Gruppe, die den verschneiten Hang hinaufzog, rief ihn. Die Kälte war schneidend, und der Mond schien nur augenblicksweise durch die hohen, ziehenden Wolken. Von dem Schuppen her, wo die Leute ihre Schlittschuhe mit Schneeschuhen vertauschten, rief er ihnen zu, daß er folgen würde, aber es kam keine Antwort; die sich bewegenden Schatten derer, die gerufen hatten, verschmolzen bereits mit dem dunklen Dorf. Die Stimmen erstarben, Türen schlugen. Hibbert fand sich allein auf der verlassenen Eisbahn. Und dann plötzlich kam der Impuls: Bleib und lauf allein Eis! Der Gedanke an den heißen stickigen Hotelraum und an die lärmenden Menschen mit ihren seichten Witzen und ihrem Gelächter bedrückte ihn. Er fühlte ein Sehnen, allein mit der Nacht zu sein, ihre Wunder ganz für sich hier unter den Sternen auszukosten, über das Eis zu gleiten. Es war ein Impuls, ja, und kein unverständlicher; doch es schien ihm, daß etwas anderes als ein bloßer Impuls dahinter verborgen lag. Mehr als eine Einladung, doch bestimmt weniger als ein Befehl, gab es da das schwache, sonderbare Gefühl, so daß er blieb, weil er mußte, fast, als ob da etwas sei, das er ver191
gessen, übersehen, ungetan gelassen hatte. Einbildungsstarke Gemüter sind häufig so; und Impuls ist immer Schwäche. Es war noch nicht Mitternacht. Kaum empfing er die flüchtige Warnung, als er sie schon als absurd verwarf, und in der nächsten Minute wirbelte er in schönen Bögen und Kurven im Mondlicht über das glatte Eis. Der Schatten der sich auftürmenden Berge fiel über die Eisbahn, und ein kalter Wind kam vom Wald her, wo der Schnee zehn Fuß hoch lag. Die Lichter des Hotels blinzelten und erloschen. Das Dorf schlief. Der hohe Maschendraht konnte das Wunder der Winternacht nicht ausschließen. Er lief weiter und weiter, lebhaftes Vergnügen prickelte in seinem Blut, und die Müdigkeit war vergessen. Und dann, mitten in dem Entzücken des flüchtigen Augenblicks, sah er eine Gestalt hinter dem Maschenzaun, die ihn beobachtete. Mit einem Ruck, der ihn beinahe aus dem Gleichgewicht brachte – denn die Plötzlichkeit der Erscheinung kam zu unerwartet –, hielt er an und schaute. Obwohl die Beleuchtung nicht sehr hell war, konnte er erkennen, daß es die Gestalt einer Frau war und daß sie sich am Zaun entlangtastete, um hereinzugelangen. Sie war groß und schlank und anmutig. Und dann verstand er. Es war ein weiterer wagemutiger Eisläufer, wie er selbst, der sich unbeobachtet aus dem Hotel oder Chalet gestohlen hatte und jetzt nach dem Eingang suchte … Sofort machte er ein Zeichen, deutete mit der Hand und glitt zu dem kleinen Eingang auf der anderen Seite. Aber bevor er dort ankam, hörte er hinter sich auf dem Eis ein Geräusch, und verwundert sah er die Frau über die Weite der Bahn auf sich zuschweben. Sie hatte irgendeinen anderen Zutritt gefunden. Hibbert war in der Regel nicht förmlich und machte nie eine Annäherung, falls nicht vorher eine Art Vorstellung den Weg geebnet hatte, wenn auch nur zu seinem eigenen Schutz. Aber schweigend im Halbdunkeln zusammen Schlittschuh zu laufen, 192
sich dabei häufig, fast unvermeidlich, berührend, das war zu absurd. Daher zog er seine Kappe und sprach. An seine tatsächlichen Worte scheint er sich nicht mehr erinnern zu können, noch daran, was das Mädchen zur Antwort gab. Sie trug irgendwelche grauen Kleider, ihre Hände waren nackt, und er wunderte sich sofort über ihre Trockenheit und eisige Kälte. Es war ein Vergnügen, mit ihr zu laufen – sie war geschmeidig, sicher und leicht. Als er fragte, wo sie es gelernt hätte, murmelte sie – er spürte ihren Atem an seinem Ohr und erinnerte sich später, wie ausnehmend kalt dieser gewesen war –, daß sie es kaum wisse, denn sie sei an das Eis gewöhnt, seit sie denken könne. Aber ihr Gesicht sah er nie richtig. Weißer Pelz verbarg ihren Hals bis zu den Ohren, und ihre Kappe ging bis über die Augen. Er sah nur, daß sie jung war. Auch konnte er nicht erfahren, wo sie wohnte, denn als er fragte, deutete sie unbestimmt die Hänge hinauf. »Da drüben«, sagte sie und nahm schnell wieder seine Hand. Die Berührung ihrer Hand erregte ihn mehr als alles andere, an das er sich erinnern konnte; sogar durch seinen dicken Handschuh hindurch fühlte er diese kalte zarte Weichheit. Es hatte lange Mitternacht von dem alten Kirchturm geschlagen, als sie sich trennten. Sie gab ein Zeichen, und er lief schnell zu dem Schuppen, um ihr beim Ablegen der Schlittschuhe behilflich zu sein. Doch als er sich umwandte – war sie schon fort. Er sah ihre schlanke Gestalt über den Schnee huschen – und auf einer letzten, raschen Runde um die Bahn suchte er vergeblich nach der Öffnung, die sie zweimal auf so seltsame Weise benutzt hatte. »Wie sonderbar«, dachte er. »Sie muß den Zaun angehoben haben und ist darunter durchgekrochen.« Er fragte sich, wie in aller Welt sie das wohl fertiggebracht hatte und was ihm eingefallen war, so frei mit ihr zu reden und wer sie wohl sein mochte, und dabei ging er den steilen Hang 193
zum Postamt hinauf und ins Bett. Ihr Versprechen, ein anderes Mal nachts wiederzukommen, klang ihm lieblich im Ohr. Und seltsam waren seine Gedanken und Gefühle. Am merkwürdigsten vielleicht die vage Vorstellung, daß er dieses Mädchen kannte, sie irgendwo getroffen hatte, mehr, daß sie ihn kannte. Denn in ihrer Stimme – eine leise, tiefe, kleine Stimme war es, zärtlich und beruhigend, trotz aller Kälte – lag eine schwache Erinnerung an zwei andere, die er gekannt hatte, beide schon lange verklungen; die Stimme der Frau, die er geliebt hatte, und die Stimme – seiner Mutter. Am Morgen wurde es Hibbert bewußt, daß er womöglich etwas Törichtes getan hatte. Mit einem Mädchen allein um Mitternacht Schlittschuh zu laufen, egal, wie unschuldig die Sache auch gewesen sein mochte, war unklug – unfair ihr gegenüber. Der Klatsch in diesen kleinen Wintersportorten war schlimmer als in einer Provinzstadt. Er hoffte, daß niemand sie gesehen hatte. Glücklicherweise war die Nacht dunkel gewesen. Entschlossen, zukünftig vorsichtiger zu sein, stürzte er sich in die Arbeit und suchte die Sache aus seinen Gedanken zu verbannen. Aber in seinen Mußestunden kam die Erinnerung beharrlich zurück und verfolgte ihn. Wo er auch war, was er auch tat, immer suchte er die seltsame Begleiterin jener Nacht. Hundertmal glaubte er, sie zu sehen, aber immer trog der Schein. Nirgends zwischen den anderen erhaschte er einen Schimmer dieses schlanken jungen Geschöpfes. Auch seine Nachforschungen über die Bewohner der Privathäuser brachten kein Ergebnis. Er hatte sie verloren. Aber sonderbarerweise glaubte er, sie in seiner Nähe zu spüren; er wußte, sie war nicht wirklich fort. Während jeden Tag Leute kamen und gingen, kam es ihm nie in den Sinn, daß sie abgereist sein könnte. Im Gegenteil, er war sicher, sie wiederzutreffen. 194
In der Zwischenzeit war die Saison in vollem Gange. Hibbert fühlte sich vollkommen wohl, arbeitete hart, lief Schi, fuhr Schlitten und ging recht häufig tanzen. Er suchte überall nach ihr, ohne es vor sich selber zuzugeben; und die Hotelwelt, in der Annahme, ihn gewonnen zu haben, neckte ihn und zog ihn auf, und er beobachtete und suchte und – wartete. Einige Tage blieb der Himmel klar, hell und kalt, nichts deutete auf Neuschnee hin, und die Schiläufer begannen zu jammern. Auf den Bergen lag eine Eiskruste, die das Laufen gefährlich machte; sie wollten trockenen Pulverschnee. Aber der scharfe Ostwind brachte zehn Tage lang kein Zeichen einer Änderung. Dann plötzlich eine Spur milderer Luft, und die Wetterfrösche begannen zu prophezeien. Hibbert, der für die geringste Änderung auf der Erde oder am Himmel empfänglich war, fühlte es vielleicht als erster, nur gab er keine Prognosen ab. Er spürte mit jedem Nerv seines Körpers, daß Feuchtigkeit in der Luft lag, die sich sammelte und bald fallen würde. Er sprach auf die Stimmungen der Natur an wie ein feines Barometer. Und dieses Wissen brachte eine unbekannte leise Bewegung in sein Herz, die schwer zu begründen war – ein Gefühl unerklärlicher Unsicherheit und beunruhigender Freude. Dahinter, oder damit verwoben, schwang eine schwache Heiterkeit, die sich mit dieser köstlichen Unruhe, dieser winzigen, ahnungsvollen Scheu verband, die ihn so verwirrte, wenn er an seine Begegnung mit seiner Eislaufgefährtin aus jener Nacht dachte. Sie war nicht zu beschreiben, diese sonderbare Verbindung zwischen den beiden; aber irgendwie gingen das Mädchen und der Schnee zusammen durch seine Gedanken. Inzwischen hatte die Sonne ihre Leuchtkraft verloren, der Himmel bewölkte sich langsam; in der Dämmerung waren die Berge einzigartig klar und scharf zu sehen, das entfernte Tal rückte lächerlich nah. Die Luftfeuchtigkeit stieg rapide und nä195
herte sich dem Punkt, wo sie in Schneefall übergehen mußte. Hibbert beobachtete und wartete. Am Morgen lag die Welt begraben unter einem frischen weißen Teppich. Bis zum Mittag schneite es heftig, unaufhörlich, erstickend, einen Fuß oder mehr; dann klarte es sich auf, die Sonne schien strahlend, der Wind drehte sich wieder nach Osten, und der Frost kam mit seinem härtesten Biß über die Berge. Der Temperatursturz war enorm, aber die Schiläufer jubelten. Morgen würde man herrlich laufen können. Schon setzten sich die Schneemassen, und die Oberfläche gefror zu staubfeinen Kristallen, die die Schier fast von allein gleiten lassen, mit dem Geräusch einer Vogelschwinge in der Luft. An diesem Abend herrschte große Aufregung in der kleinen Hotelwelt: Erstens weil ein Kostümball stattfand, aber hauptsächlich weil der Neuschnee gekommen war. Und Hibbert ging – fühlte sich zum Hingehen getrieben. Er war nicht kostümiert, wollte aber mit den anderen Männern reden und zur gleichen Zeit … Ah, da war die Wahrheit, die tiefere Notwendigkeit, die rief. Denn die einzigartigen Zusammenhänge zwischen der Fremden und dem Schnee zeigten sich wieder, vollkommen unerklärlich wie zuvor, aber lebendig und beharrlich. Ein verborgener Instinkt in seiner Seele flüsterte, daß mit dem Schnee das Mädchen aus ihrem Versteck kommen, sich nach ihm umsehen würde. Es war absolut unbegründet. Er lachte, während er vor dem kleinen Spiegel stand und seinen Schnurrbart stutzte, seiner schwarzen Fliege den richtigen Sitz zu geben versuchte und seinen Smoking glattzog, damit er faltenfrei über den Schultern lag. Seine braunen Augen glänzten. »Ich sehe jünger aus als sonst«, dachte er. Das war ungewöhnlich, sogar bezeichnend für einen Mann, der ohne Eitelkeit war und bestimmt nie sein 196
Alter in Frage stellte oder versuchte, jünger zu erscheinen. Liebesgeschichten – mit jener einen rauschartigen Ausnahme, die keinen Raum für nachfolgende kleinere Feuer mehr ließ – hatten ihn nie belästigt. Die Kräfte seiner Seele und seines Geistes, die nicht für das ›Werk‹ oder alltägliche Pflichten benötigt wurden, flossen der Natur zu. Die einsamen wilden Plätze der Erde waren es, die er liebte; Nacht und die Schönheit der Sterne und des Schnees. Und an diesem Abend fühlte er ihren Anspruch auf ihn sich mächtig rühren. Eine steigende Wildheit war in seinem Blut, beschleunigte seinen Puls, weckte Sehnsucht und Leidenschaft. Der Schnee wirbelte durch seine Gedanken wie ein weißer, verführerischer Traum … denn der Schnee war gekommen; und sie, so schien es, war irgendwie mit ihm eingezogen – in seinen Geist. Und doch stand er vor dem kleinen Spiegel und zog ein dutzendmal an seiner Krawatte, als ob das eine Rolle spielte. »Was in aller Welt ist los mit mir?« dachte er. Dann, mit einem kleinen Lachen, wandte er sich vor dem Verlassen des Zimmers um und nahm die grüne Lederschreibmappe, die seine Privatpapiere enthielt, vom Regal und legte sie auf den Tisch. Auf der Vorderseite war eine Visitenkarte mit der Londoner Adresse seines Bruders befestigt, ›im Falle eines Unfalles‹. Auf dem Weg ins Hotel fragte er sich, warum er das getan hatte, denn obwohl von starker Einbildungskraft, war er doch nicht ein Mann, der in Vorahnungen schwelgt. »Es ist fast wie eine Warnung«, dachte er lächelnd. Er zog seinen schweren Mantel enger um sich, als die kalte Luft ihn traf. »Diese Warnungen, von denen man manchmal in Geschichten liest.« In der Halle war Licht und Gewühl; Leute trafen aus anderen Hotels und Chalets ein, ihre Kostüme unter vielen Hüllen verborgen. Gruppen von Männern in Abendanzügen standen herum und sprachen über Schilauf und Schnee. Die Kapelle stimm197
te die Instrumente. An den großen Glasfenstern der Veranda hielten die Bauern auf ihrem Weg vom Caféhaus einen Augenblick an und spähten hinein. Hibbert dachte lachend an den Konflikt, den er sich eingebildet hatte. Er lachte, weil es plötzlich so unwirklich erschien. Er gehörte so völlig der Natur und den Bergen, auf denen jetzt dick und frisch der Schnee lag, und die Frage eines Konfliktes erhob sich gar nicht. Die Macht des neugefallenen Schnees hatte ihn gefangen und mühelos den Beweis erbracht. Da draußen, auf den einsamen Weiten der mondbeschienenen Kämme, lag der Schnee bereit – Massen und Massen davon, kühl, weich, einladend. Er sehnte sich danach. Der Schnee erwartete ihn. Er dachte an das berauschende Vergnügen, im Mondlicht Schi zu laufen … Und, wie immer geheimnisvoll mit dem Zauber des Schnees verbunden, floß auch der Zauber des Mädchens durch sein innerstes Sein. Er konnte sich die beiden, die in seinen Geist eingedrungen waren, nicht aus dem Kopf schlagen. Er erinnerte sich an den seltsamen Drang, Schlittschuh zu laufen, diesen Impuls, der sie herbeigebracht hatte. Hibbert fand ein seltsames Vergnügen daran, sich diesen Fantasien hinzugeben. Etwas Unbotmäßiges in ihm, das ihn zum alten heidnischen Glauben zog, hatte die Oberhand gewonnen. Mit einer Art sinnlichem Vergnügen ließ er sich erobern. Alle schienen in dieser Nacht an den Schnee zu denken. Die tanzenden Paare sprachen davon; die Hotelbesitzer gratulierten einander, es bedeutete guten Sport und zufriedene Gäste; jeder plante Ausflüge, redete von Abfahrten und Schwüngen, von Geschwindigkeit und Entfernung. Lebensfreude und Begeisterung lag in der Luft; alle waren wach und lebhaft, positiv, strahlten schöpferische Lebenskraft aus, sogar in der Schwüle des überfüllten Ballsaales. Und das hatte der Schnee bewirkt, der Schnee hatte es gebracht; diese ganze eifrige, funkelnde Energie war in erster Linie dem Schnee zu verdanken. 198
Aber in Hibberts Geist wurde durch eine Alchimie seiner heidnischen Begierde die Energie umgewandelt. Sie verfeinerte sich, erglühte in einem weißen, kristallenen Strom leidenschaftlicher Erwartung, welche er in seiner Imagination auf das Mädchen übertrug – das Schneemädchen. Irgendwo wartete sie auf ihn, erwartete ihn, rief ihn leise von den mondhellen Bergen. Er erinnerte sich an die Berührung dieser kühlen trockenen Hand, an den sanften eisigen Atem an seiner Wange; an die Heimlichkeit und Weiche ihrer Gegenwart, wie sie gekommen und wieder gegangen war – wie eine Schneewolke, die der Wind die Hänge hinaufbläst. Sie, wie er selbst, gehörte dort hin. Er bildete sich ein, ihre kleine atemlose Stimme zu hören, die durch die verschneiten Äste der Bäume zu ihm drang, seinen Namen rief … diese ihn heimsuchende kleine Stimme, die bis in sein innerstes Leben drang, wie es einst, vor langer Zeit, zwei andere Stimmen zu tun pflegten … Aber nirgends zwischen den kostümierten Tänzern sah er ihre schmale Gestalt. Er tanzte viel, erregt und abwesend, ein langweiliger Partner, wie die Mädchen feststellten. Seine Augen waren dauernd auf die Tür und die Fenster gerichtet in der Hoffnung, das lockende Gesicht zu erhaschen, die Vision, die nicht kam, er hoffte bis zum Schluß. Der Ballsaal leerte sich; Gruppen gingen eine nach der anderen in ihre Hotels und Chalets, die Kapelle ermüdete zusehends. Es war kurz vor Mitternacht. Hibbert ging durch die Halle, um seinen Mantel zu holen. Eine Zigarette ansteckend, die ihm ein Freund anbot, gab er eine wirre Antwort auf die Frage, ob er am Morgen mit von der Schipartie sein wollte. Er schien nicht recht zu verstehen und ging durch das Vestibül hinaus in die Nacht. Er hatte die Einladung nicht verstanden, das war alles. Der Ruf der Hotelwelt verhallte. Er hörte ihn nicht länger. Ein anderer, wilderer Ruf klang in seinen Ohren. Denn vor sich auf der Straße hatte er eine kleine Gestalt gese199
hen. Im Schatten der Häuser glitt sie dahin – weiß, lockend, schlank. Sofort kam ihm die Stille und Weiche des Schnees in den Sinn – doch mit einer suchenden, sehnenden Wildheit nach der Höhe. Eine rasche Eingebung sagte ihm, daß sie ihn nicht auf der Dorfstraße treffen wollte. Nicht hier zwischen den beengenden Häusern würde sie zu ihm sprechen. In der Tat war sie schon verschwunden, mit dem weißen mondhellen Weg verschmolzen. Drüben, hinter den Chalets, wo sich die Straße plötzlich zu einem Bergpfad verengte, würde sie bestimmt auf ihn warten. Es fiel ihm nicht ein, zu zögern; dieses plötzliche Sehnen nach der Höhe, nach weiten Flächen, wo der Schnee dick und frisch lag, war zu zwingend. Er erinnerte sich nicht, in sein Zimmer gegangen zu sein, den Sweater über den Abendanzug gezogen zu haben und in die pelzgefütterten Handschuhe geschlüpft zu sein. Ganz gewiß erinnerte er sich nicht, die Schier angelegt zu haben. Die Fähigkeit zu normaler Wahrnehmung hing in der Schwebe. Sein Geist war schon draußen vor dem Dorf – draußen bei den schneeigen Bergen und dem Mond. Hibbert erinnerte sich nur an eines, bevor er die Häuser hinter sich ließ und sie am Waldrand suchte, wo das Mondlicht einen verwirrenden Fries fantastischer Schatten in den Schnee zeichnete. Nämlich, daß er an der Kirche vorbeikam. Beim Anblick des Kirchturmes unter dem Sternenhimmel durchfuhr ihn ein kurzer Anflug von Zögern. Eine verschwommene Unsicherheit kam und ging – rührte unangenehm an den Strom seiner erregten Gefühle, kühlte seine Heiterkeit. Er spürte den Mißklang des Augenblicks, verwarf ihn und – ging weiter. Die Verführung des Schnees besänftigte seinen Geist. Und dann sah er sie. Sie stand wartend im schimmernden Schnee, ganz in Weiß gekleidet, ein Teil des Mondlichtes und 200
des glitzernden Hintergrundes, ihre schmale Gestalt war gerade noch zu erkennen. »Ich habe gewartet, denn ich wußte, du würdest kommen« – die silberne kleine Stimme voll atemloser Schönheit schwebte zu ihm herab. »Du mußtest kommen.« »Ich bin bereit«, antwortete er. »Ich habe es auch gewußt.« Die Welt der Natur zog ihn mit diesen wenigen Worten an ihr Herz – das Wunder und die Herrlichkeit der Nacht und des Schnees. Leben sprang in ihm auf. Seine leidenschaftliche Seele frohlockte, erhob sich freudig, kam ihr entgegen. Er dachte weder nach noch überlegte er, er ließ sich gehen wie ein Schuljunge im Rausch der ersten Liebe. »Reich mir deine Hand«, rief er. »Ich komme …!« »Noch ein Stückchen weiter, ein wenig höher«, kam ihre bezaubernde Antwort. »Hier ist das Dorf zu nahe – und die Kirche.« Er beschleunigte seinen Schritt, konnte sie aber nicht ganz einholen. Bald ließen sie die Bäume hinter sich und kamen zu den breiten Hängen, auf denen eine Woge von Schnee bis zu den Sternen rollte. Der Zauber dieser weißen Welt umfing ihn. Im gleichmäßigen Licht des Mondes war sie mehr als geisterhaft. Eine lebendige, weiße, verwirrende Kraft, die ihm die Sinne umnebelte und einen Zauberbann auf sein Herz legte. Es war ein Wesen, das sich verhüllte und sich doch durch die weiße Decke von Schnee hindurch zu erkennen gab. Es erhob sich, ging mit ihm, eilte voraus und blieb zurück. Langsam schlangen sich schlanke, schimmernde Arme um seinen Hals, umfaßten ihn … Seine innerste Seele wurde sanft überredet, vorwärts gedrängt, aufwärts, weiter, zu den höheren, eisigen Regionen. Urteil und Vernunft verließen ihn vollkommen in diesem irrsinnigen Rausch. Das Mädchen, schlank und verführerisch, blieb dicht vor ihm, er holte sie nie ganz ein. Er sah den bleichen 201
Zauber ihres Antlitzes und ihrer Gestalt und hörte die Lockung ihrer wispernden Stimme: »Noch ein bißchen weiter, ein wenig höher … dann gehen wir gemeinsam heim!« Manchmal sah er ihre ausgestreckte Hand, die die seine suchte, aber jedesmal, wenn er sie erreichte, sah er sie wieder entfernt vor sich, die Hand war ihm entzogen. Die Anstrengung des Aufstiegs schien gering. In dieser berauschenden, kristallenen Luft schwand die Müdigkeit. Das Zischen der Schier durch den pulvrigen Schnee war der einzige Laut, der die Stille unterbrach. Kaltes Mondlicht, Schnee und Schweigen umfingen die Welt. Der Himmel war schwarz, und die Gipfel schnitten wie gefrorene Spitzen aus Eisen und Stahl hinein. Tief unten im Tal schlief das Dorf. Er meinte, nie mehr müde zu werden … der Klang der Kirchenglocken drang von Zeit zu Zeit schwach herauf … weiter und weiter entfernt. »Gib mir deine Hand. Es ist Zeit, umzukehren.« »Nur noch einen Hang« – sie lachte. »Dieser Kamm da vor uns. Dann machen wir uns auf den Heimweg.« »Ich bin noch nie so hoch gewesen. Es ist herrlich! Diese stille Welt des Schnees, der Mond – und du! Ich könnte schwören, du bist ein Kind des Schnees. Laß mich näherkommen – dein Gesicht sehen – deine kleine Hand berühren.« Ihr Lachen antwortete ihm. »Komm nur. Ein wenig höher noch. Hier sind wir ganz allein.« »Es ist prachtvoll«, rief er. »Aber warum hast du dich so lange verborgen? Ich habe dich immer vergebens gesucht, seit wir zusammen Schlittschuh gelaufen sind –« »Du hast mich an den falschen Orten gesucht«, hörte er sie dicht bei sich murmeln. »Du hast an Orten gesucht, wo ich nie hinkomme. Hotels und Häuser bringen mich um. Ich meide sie.« Sie lachte – ein dünnes, schrilles, atemloses kleines Lachen. 202
»Ich verabscheue sie auch –« Er hielt an. Das Mädchen war plötzlich sehr nahe gekommen. Ein Eiseshauch ging durch seine Seele. Sie hatte ihn berührt. »Das ist schrecklich kalt«, schrie er auf. »Diese eisige Kälte, die mich umfängt! Der Wind erhebt sich; es ist ein eisiger Wind. Komm, laß uns umkehren!« Doch als er sich nach vorn warf, um sie festzuhalten oder sie wenigstens zu sehen, hatte das Mädchen sich schon wieder entfernt. Trotz des Mondscheins konnte er seltsamerweise ihr Gesicht nicht deutlich erkennen, obwohl es so nahe war. Den Schimmer der Augen sah er, aber der Rest schien weiß und schneeig, als sähe er über sie hinaus – hinaus in den Weltraum … Der Schlag der Kirchturmuhr drang schwach aus dem Tal herauf, und er zählte – fünf. Eine plötzliche eigenartige Schwäche überkam ihn, während er lauschte. Tief innen saß es, tödlich und doch süß, unwiderstehlich. Er wollte sich in den Schnee sinken lassen und dort liegenbleiben, sie waren fünf Stunden gestiegen, es war ein natürlicher Vorbote der völligen Erschöpfung. Mit großer Anstrengung bekämpfte und besiegte er sie. »Wir kehren um«, sagte er mit überraschender Entschiedenheit. »Es wird dämmern, bevor wir wieder im Dorf sind. Komm, es ist Zeit, nach Hause zu gehen.« Das Gefühl der Heiterkeit hatte ihn völlig verlassen. Ein der Furcht verwandtes Gefühl durchfuhr ihn, und ihre geflüsterte Antwort verwandelte sich sogleich in Entsetzen – ein Entsetzen, das ihn ergriff und schwach und widerstandslos zurückließ. »Unser Heim ist – hier!« Ein wildes, hohes Gelächter, laut und schrill, begleitete diese Worte. Wind hatte sich erhoben, und Wolken verdeckten den Mond. »Ein wenig höher noch, wo wir die bösen Glocken nicht hören müssen«, rief sie und nahm ihn zum erstenmal fest bei der Hand. Sie bewegte sich, war auf einmal dicht neben seinem Gesicht. Wieder berührte sie ihn. 203
Hibbert versuchte, sich zur Flucht zu wenden, und dabei erkannte er, daß die Macht des Schnees – diese andere Kraft, die nicht froh stimmt, sondern alle Anstrengungen zunichte macht – ihm über war: die erstickende Schwäche, die sie erschöpften Menschen bringt, sie in ihrer sanften Umklammerung in den Todesschlaf wiegt, den Willen einlullt und jeden Lebenswillen auslöscht. Seine Füße waren schwer. Er konnte sich nicht bewegen. Das Mädchen stand ganz nahe vor ihm; er fühlte ihren eisigen Atem auf seinem Gesicht; ihre Haare wehten über seine Augen und machten ihn blind; ein eisiger Wind begleitete sie. Ihre Arme lagen um seinen Nacken. Sie zog ihn sanft auf die Knie. Er sank, ergab sich vollkommen, gehorchte. Ihr Gewicht war auf ihm, erstickend, köstlich. Sie küßte ihn sanft auf den Mund, auf die Augen, und dann sprach sie seinen Namen mit einer Stimme voller Liebe und Verwunderung, der Stimme, die den zwei anderen längst gestorbenen glich – der Stimme seiner Mutter und der Frau, die er geliebt hatte. Er machte noch einen schwachen Versuch, zu widerstehen. Dann erkannte er, noch während er kämpfte, daß dieses weiche Gewicht auf seinem Herzen süßer war als alles, was das Leben bieten konnte, und er gab nach und sank tief in die sanfte Vergessenheit des allesbedeckenden Schnees. Winterkühle Küsse trugen ihn in den Schlaf. Die Stunden vergingen, und der Mond versank hinter den Rand der weißen Welt. Dann tat es auf einmal einen kleinen Schlag auf seine Brust und seinen Nacken – und Hibbert erwachte. Langsam wandte er verwunderte schwere Augen zu den einsamen Bergen, starrte benommen um sich und versuchte aufzustehen. Zuerst gehorchten ihm seine Muskeln nicht; ein schrecklicher Schmerz durchfuhr ihn. Er stieß einen langen schwachen Hilferuf aus und hörte, wie er vom Wind verschlun204
gen wurde. Und dann wußte er plötzlich, warum er nicht tot, sondern noch warm war. Denn derselbe Wind, der seinen Ruf entführte, hatte, während er schlief, einen schützenden Wall aus Schnee um ihn aufgetürmt. Wie eine sich brechende Woge lief er neben ihm. Ihr überschlagender Kamm hatte den Schlag verursacht, und die Kälte der Schneemassen an seinem Hals hatte ihn geweckt. Er sah die Spitzen seiner Schier direkt unter sich herausragen. Dann erinnerte er sich. Es scheint, als hätte er gerade genug Kraft zu der Erkenntnis gehabt, daß er sich nur zu erheben und aufzustehen brauchte, um mit furchtbarem Ungestüm zu den Wäldern und dem Dorf tief unten zu fliegen. Die Schier würden ihn tragen. Aber wenn er versagte und fiel … Wie er es fertigbrachte, wußte Hibbert später nie; die Todesangst rief seine ganzen verfügbaren Reserven auf. Er erhob sich langsam, suchte sein Gleichgewicht zu halten, dann schoß er im Zickzack den steilen Hang hinunter. Der Schnee stach wie feine Stahlnadeln in Gesicht und Augen; Kamm nach Kamm flog vorbei, die Gipfel rasten über den Himmel, das Tal sprang auf, ihm entgegen. Er fühlte kaum den Grund unter den Füßen, als die weiten Hänge und Entfernungen vor der rasenden Abfahrt vom Tod ins Leben dahinschmolzen. Hibbert hatte alles Zeitgefühl verloren. Ganz andere Gefühle und Gedanken beherrschten ihn während dieses wilden raschen Falles durch die Luft, der wie ein Vogelflug war. Denn mit dem wirbelnden Schneestaub kamen verfolgende Schatten und Stimmen immer näher. Er hörte die kleine silberne Stimme des Todes lachend in seinem Rücken. Schrill und wild im Pfeifen des Windes, aber böse jetzt, nicht länger sanft und drängend. Und sie folgte ihm nicht allein. Ein Heer dieser fliegenden Schneegeschöpfe schien ihm rasend nachzujagen. Er fühlte, wie sie wütend nach seinem Gesicht und Nacken schlugen, nach seinen Händen haschten und versuchten, seine Schier in Wäch205
ten zu verstricken. Sie blendeten seine Augen und nahmen ihm den Atem. Und dann sah er ein Licht sich langsam am Waldrand bewegen. Ein Mann trug es. Eine dunkle Prozession menschlicher Gestalten ging in einer Reihe mühselig durch den Schnee. Und – er hörte Gesang. Instinktiv, ohne eine Sekunde zu zögern, änderte er seine Richtung. Die schreckliche Steile schreckte ihn nicht. Er wußte genau, daß es am Ende einen krachenden Sturz geben würde, aber er wußte auch, daß er seine Geschwindigkeit verdoppelte – und Sicherheit ihn erwartete. Denn obwohl er keinen klaren Gedanken fassen konnte, war ihm doch bewußt, daß es der Dorfpfarrer war, der das Licht trug und die Hostie zu einem Bauern in Todesnot brachte. Er erinnerte sich an ihr Entsetzen vor den Glocken und der Kirche. Sie fürchtete die heiligen Symbole. Undeutlich erinnerte er sich an das Gemurmel von Männerstimmen, an starke Arme, die ihn aufhoben, und den stechenden Schmerz, als der Schi von dem verletzten Knöchel entfernt wurde … denn als er wieder die Augen öffnete, war er in seinem Bett über dem Postamt, und der Arzt saß an seiner Seite. Noch lange wird die Geschichte von dem ›verrückten Hibbert‹, der nachts Schi läuft, in dem Bergdorf erzählt. Er ging, so heißt es, Hänge hinauf und auf Höhen, auf die sich kein normaler Mensch je gewagt hat. Am gleichen Tag noch gingen zwei der mutigeren Männer über die zurückgelegte Strecke und fotografierten die Abhänge. Später sah Hibbert die Bilder und bemerkte etwas Seltsames: Es gab nur eine einzige Spur.
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Der Untergang der Carnatic von A. J. Mordtmann Ein Hang zum Abenteuerlichen und Geheimnisvollen zeichnet A. J. Mordtmann (1839-1912) aus, den langjährigen Chefredakteur der ‚Münchner Neuesten Nachrichten’. In einem 1905 in Buchform erschienenen Roman läßt Mordtmann von einer Romanfigur die Geschichte vom ‚Untergang der Carnatic’ erzählen. ——————
Kapitän Clifford, unser Kapitän, war mit seiner Jugendgeliebten Fanny, der er mit leidenschaftlicher Liebe zugetan war, seit zwei Jahren verheiratet, als er, von ihr begleitet, auf seinem damaligen Schiff, der englischen Bark ›Carnatic‹, eine Reise von Rio de Janeiro nach Batavia antrat. Das Unglück wollte, daß das Schiff weit aus seinem eigentlichen Kurs nach Süden verschlagen wurde und dem Gürtel des antarktischen Treibeises näher kam als rätlich. Bald war die ›Carnatic‹ von Eisbergen und Eisfeldern umgeben, die ihre Fahrt immer gefährlicher gestalteten. Anstatt sich aus dem Eis herauszuarbeiten, geriet sie durch den andauernd ungünstigen Wind immer tiefer hinein; nach einer kalten und stürmischen Nacht war sie zwischen Schollen von fast unabsehbarer Ausdehnung geraten, die sich zusammenpreßten und das Schiff hoben, so daß es, ohne im übrigen Schaden zu nehmen, festsaß; es war, da starker Frost eintrat, bald vollkommen eingefroren. Ein Bleiben auf dem Schiff würde nur das Verderben der ganzen Mannschaft im Gefolge gehabt haben; der vom Kapitän zusammenberufene Schiffsrat entschied sich einstimmig für das Verlassen der Bark. 207
Die beiden Boote wurden mit großer Anstrengung in offenes Wasser gebracht und mit Kompaß, Wasser und Mundvorräten versehen. Dann brach man auf. Das Boot, welches zuerst abfahren sollte, wurde unter den Befehl des Steuermanns gestellt; in ihm sollte die Frau des Kapitäns Aufnahme finden, weil es größer war und mehr Bequemlichkeit bot als das andere, das der Kapitän in Person führen wollte. Als die Mannschaft des ersten Bootes fort war, schickte Kapitän Clifford die des zweiten nach und beeilte sich, nachdem er das Schiffsjournal an sich genommen und noch einmal im Raum nachgesehen hatte, ihnen zu folgen, weil von Süden her eine unheimliche weiße Wand heranrückte, einer jener Nebel, die in Polargegenden oft einfallen und so außerordentlich dicht sind, daß man tatsächlich auf drei Schritt Entfernung nichts mehr unterscheiden kann. Als der Kapitän sich über den Bug der ›Carnatic‹ hinabließ, war es höchste Zeit, denn schon umhüllte ihn der Nebel; er war froh, als er in der undurchdringlichen, lichtlosen Luft sein Boot erreichte und die fünf Mann, die außer ihm die Besatzung ausmachten, beisammen fand. Das andere Boot war schon fort, aber niemand hatte es abfahren sehen. Man steuerte in dem dichten Nebel nordwärts, immer nach dem größeren Boot auslugend, aber man bekam es nicht wieder zu Gesicht. Den ganzen Tag und die ganze Nacht setzte man die düstere Fahrt fort. Als der Morgen graute, sprang ein heftiger Südost auf, der das Gute hatte, daß er den Nebel vertrieb. Gegen Mittag flaute der Wind ab; bald darauf schimmerte durch die einförmig graue Masse der erste Fetzen blauen Himmels, er dehnte sich immer weiter aus, und nach einer halben Stunde lagen heller Sonnenschein und heitere Himmelsbläue auf dem unruhig wogenden und mit leichten Schaumspitzen gekrönten Meer. Vom Eis war weit und breit nichts mehr zu sehen, dagegen wurde ein anderer, erfreulicherer Anblick der Bootsmannschaft 208
zu teil: In einer Entfernung von etwa zwei Seemeilen lag eine Brigg unter kleingemachten Segeln bei; sie mußten dort an Bord guten Ausguck halten, denn kaum war das Schiff in Sicht gekommen, als dieses auch schon Manöver einleitete, um sich ihnen zu nähern. Kapitän Clifford schloß daraus, daß die Brigg das erste größere Boot schon aufgenommen haben müsse und, von diesem benachrichtigt, nach dem zweiten ausgeschaut habe. Das erwies sich als richtig, denn der erste, der Clifford, als er hinaufgeklettert war, auf dem Verdeck entgegentrat, war sein Steuermann. Aber trotzdem erstarrte dem Kapitän beim Anblick seines Untergebenen das Blut in den Adern, und das Antlitz des Steuermanns war totenbleich, als er mit heiserer Stimme fragte: »Wo ist denn Ihre Frau, Kapitän? Haben Sie sie nicht bei sich?« »Ich! Meine Frau? Sie war doch in Ihrem Boot!« »Allmächtiger Gott – nein!« Die übrigen Matrosen drängten sich mit verworrenen Rufen um Steuermann und Kapitän. Denn die wunderliebliche Frau Fanny Clifford war für sie alle wie ein höheres Wesen gewesen. Man hatte sie das Glück der ›Carnatic‹ genannt. Aus dem in abgebrochenen Sätzen gestammelten Bericht des Steuermanns kam rasch die niederschmetternde Wahrheit zu Tage: Die Frau des Kapitäns, der allgemeine Liebling, war an Bord des im Eis eingeschlossenen Schiffes zurückgeblieben, allein, hilflos, einem sicheren Tod preisgegeben. Der Zusammenhang, so unerklärlich er anfangs schien, war doch im Grunde sehr klar und einfach. Frau Clifford war mit der Mannschaft des ersten Bootes bis an den Rand des Eises gegangen, wie sie aber abfahren wollten, bemerkte sie den heraufziehenden Nebel, und der erfahrenen Frau des Seemanns war alsbald klar, daß eine Trennung der Boote nicht nur möglich, sondern vollkommen gewiß sei. »Ich 209
bleibe bei meinem Mann!« rief sie entschlossen und sprang wieder auf das Eis zurück. Allen erschien das so natürlich, daß niemand daran dachte, sie zurückzuhalten. Die Mannschaft des zweiten Bootes war noch nicht eingetroffen; die Frau winkte dem Steuermann zum Abschied zu und rief: »Ich gehe Ihnen entgegen! Fahrt ab!« Das Boot stieß denn auch ab und war nach wenigen Sekunden bereits so von Nebel eingehüllt, daß sie das Eis und alles darauf Befindliche aus dem Gesicht verloren. Das war das Letzte, was man von ihr gesehen hatte. Sie mußte in dem dichten Nebel ihren Weg verfehlt haben und in einiger Entfernung von dem Kapitän und seiner Mannschaft vorbeigekommen sein, ohne sie zu bemerken oder von ihnen bemerkt zu werden. Den Seelenzustand des unglücklichen Kapitäns kann man sich vorstellen; er war wie wahnsinnig und wollte über Bord springen und den tollen Versuch machen, das Eis schwimmend zu erreichen; nur mit Anwendung von Gewalt gelang es, ihn zurückzuhalten. Der Kapitän der Brigg war von diesem furchtbaren Verhängnis so ergriffen, daß er mehr tat, als er eigentlich seinen Reedern gegenüber verantworten konnte. Er wich von seinem Kurs ab und steuerte südwärts, bis man das Treibeis erreichte; hier kreuzte er zwei Tage, aber ohne Erfolg; die ›Carnatic‹ wurde nicht gesehen, und der Brigg war es ohne große Gefahr unmöglich, bis zum festen Eis vorzudringen; sie mußte unverrichteter Sache ihren alten Kurs wieder aufnehmen. Die Verzweiflung Cliffords hatte einem stumpfen Dahinbrüten Platz gemacht. Erst als man sich Kapstadt näherte, trat in diesem Zustand eine Änderung ein; er wurde wieder etwas redseliger, seine umdüsterte Miene nahm einen ruhigen, sinnenden, man möchte sagen fernschauenden Ausdruck an; er hatte das Wesen eines Mannes, der sich zu einem unabänderlichen Entschluß durchgerungen hat. 210
In Kapstadt rüstete Clifford einen kleinen Schoner aus, mit dem er auf eigene Faust eine Aufsuchungsreise nach den antarktischen Gewässern unternahm; seine Frau, davon war er unerschütterlich überzeugt, lebte noch. Seine gesamte Mannschaft blieb ihm treu und begleitete ihn. Die Reise war erfolglos, obgleich sie allen Gefahren trotzten, um die mit schwimmendem Eis bedeckten Gewässer nach allen Richtungen zu durchforschen. Man kehrte erst um, als die Proviantvorräte vollständig aufgezehrt waren. Noch einmal wiederholte Clifford diesen Versuch – abermals vergebens. Dann waren seine Mittel erschöpft, und er mußte das in den Augen jedes Verständigen aussichtslose Unternehmen aufgeben. Wenn ich sage: jedes Verständigen, so sind darunter die Mannschaften Cliffords nicht mit einbegriffen. Er selbst ist ja unzurechnungsfähig und hat dafür eine vollwichtige Entschuldigung, aber es ist merkwürdig, seine fixe Idee hat auf eine so nüchterne und erfahrene Schar von Leuten wie seine ehemaligen Offiziere und Mannschaften ansteckend gewirkt. Denn, um das hier zu erwähnen, die Leute, die jetzt auf meinem Schiff, der ›Lady Godiva‹, dienen, sind noch immer dieselben, die auf der ›Carnatic‹ gewesen sind, und sie alle teilen den unverbrüchlichen Glauben ihres Kapitäns, daß sie eines Tages doch noch die ›Carnatic‹ und Frau Fanny Clifford wiederfinden werden. Darum nehmen sie nur Dienst auf Schiffen, deren Dienst sie nach den südlichen Teilen des Atlantischen und des Indischen Ozeans führt. Sogar der Steuermann ist geblieben; er hätte längst selbst Kapitän sein können, aber er verläßt seinen alten Vorgesetzten nicht; er macht dessen Torheiten mit. Der Steuermann hat mir diese ganze Gesichte erzählt, und sein fester Glaube an die Illusionen des Kapitäns rührt wohl daher, daß er ein Norweger und, wie viele seiner Landsleute, eine mystisch veranlagte Natur ist. Ole Johannesen hat einen 211
ganzen Abend auf seiner Wache mit mir darüber gesprochen und meinen ursprünglichen Skeptizismus stark erschüttert. Die ›Carnatic‹ war, als sie verlassen wurde, noch vollkommen dicht und seetüchtig. Man konnte daher, wenn sie in offenem Wasser trieb, darauf rechnen, daß sie trotz ihres Mangels an jeglicher Besatzung nicht gleich verunglücken würde. Sie war allerdings im Eis eingefroren und daher mancherlei Gefahren ausgesetzt, aber die sind nicht so schlimm, wie man glauben könnte. Das Eisfeld, auf das sie gehoben war, hatte eine große Ausdehnung, so daß ein Zusammenstoß mit Eisbergen eine sehr fernliegende Eventualität war. Vielmehr mußte diese eisige Umklammerung eher als eine Art Schutzwall dienen. Da sie nun bei den verschiedenen Expeditionen nicht aufgefunden worden ist, so ist die Annahme gerechtfertigt, daß sie mit ihrem treibenden Eisfeld noch weiter südwärts in den Gürtel des festen Eises geraten und dort vollkommen eingefroren ist. Die letzten Winter sind ungewöhnlich streng, die Sommer kalt und unfreundlich gewesen; ein milderer Winter und ein früherer Sommer werden das feste Eis wegschmelzen und die ›Carnatic‹ befreien; sie wird ins Wasser sinken und von den vorherrschenden Strömungen nordwärts getrieben werden. Gegen diese Ausführungen Johannesens hatte ich nicht viel einzuwenden. Ein Bedenken jedoch konnte ich nicht unterdrücken. Ich fragte ihn: »Nach Ihren Mitteilungen ist der traurige Vorfall vor ungefähr drei Jahren passiert, nicht wahr?« »Genau drei Jahre und fünf Monate.« »Wie wird, angenommen, daß alles so verlief, wie Sie sich vorstellen, Frau Clifford sich während dieser langen Zeit ernähren?« Da kam ich aber schön an! Johannesen lachte gerade hinaus: »Wir hatten für unsere gesamte Mannschaft für ein Jahr Proviant an Bord; davon war höchstens ein Viertel verbraucht, mit dem Rest könnte ein starker Esser über zehn Jahre leben.« 212
Ich schwieg. Wie ich schon vorhin bemerkte, die Zuversicht dieser wackeren Leute hat mich angesteckt. So unterdrückte ich meine Besorgnis, Fanny Clifford könnte der Kälte erlegen sein oder in einem Anfall leicht begreiflicher Verzweiflung Hand an sich selbst gelegt haben. Die Antwort würde lauten: ›Das könnte sein, aber es müßte nicht sein.‹ Übermorgen fahren wir von hier weiter. Ich bin von derselben unvernünftigen und fieberhaften Spannung ergriffen wie meine Schiffsgenossen; es sollte mich nicht wundern, wenn eines schönes Morgens die ›Carnatic‹ vor uns auftauchte, eine weiße Gestalt an der Brüstung stehend, die uns zuwinkte! … Das Abenteuer des Kapitäns Clifford hat ein so hochdramatisches Ende genommen, daß ich noch jetzt nicht ohne die tiefste Erschütterung daran denken kann. Bis in meine Träume hinein verfolgt mich das Erlebnis, und ich fahre in Schweiß gebadet und an allen Gliedern zitternd auf, wenn ich noch einmal sehe und höre, was ich dort sehen und hören mußte. Die Eisverhältnisse waren dies Jahr besonders günstig, und man durfte darauf rechnen, daß wir dem Pol näher kommen würden, als sonst möglich war. Unter diesen Umständen wuchs die Spannung an Bord unserer ›Lady Godiva‹ mit jeder Stunde, und als eines Mittags der Kapitän ankündigte, wir hätten heute den Breitengrad erreicht, unter dem damals die ›Carnatic‹ eingefroren war, da ging es durch uns alle wie ein Erschauern. Noch segelten wir südwärts und diesen Kurs änderten wir erst am nächsten Tag, als wir an das feste Packeis kamen; dann wurde der Bug des Schiffes nach Osten gerichtet, und wir blieben, soweit es ohne Gefahr geschehen konnte, dicht an der Grenze des Eises. Nachts wurden die Segel beschlagen, und wir legten bei, damit wir nicht etwa in der Dunkelheit an der ›Carnatic‹ vorbeifuhren. So waren wir drei Tage gesegelt und hatten dabei auch den 213
Längengrad erreicht, unter dem die eingefrorene ›Carnatic‹ lag. Wir fuhren unmittelbar über den Fleck hinweg, wo sie gelegen haben mußte, und obgleich die Sonne bei heiterer Luft hell schien und weit und breit keine Spur von einem Schiff zu sehen war, hatten wir doch alle ein Gefühl, wie man es haben mag, wenn man die Nähe eines Geistes ahnt. Wir warfen das Blei und hatten mit hundertzwanzig Faden Grund; der Talg am unteren Ende des Bleies brachte Kies und Sand herauf; hier lag kein versunkenes Schiff. Am nächsten Morgen winkte mir der Steuermann Ole Johannesen zu, um mir heimlich etwas mitzuteilen. Sein Gesicht war aschfahl. »Ich will’s dem Alten nicht sagen«, flüsterte er mir zu, indem er auf den Kapitän zeigte, der mit einem Fernrohr den ganzen Horizont absuchte. »Aber Sie sollen es wissen, weil Sie von uns allen der ungläubigste sind. Merken Sie auf meine Worte, und denken Sie daran, wenn Sie wieder zweifeln wollen: Heute nachmittag werden wir die ›Carnatic‹ sichten.« Ich starrte den Mann mehr erschrocken als ungläubig an. »Ja, Sie werden es erleben«, fuhr Johannesen fort. »Ich bin heute nacht aufgewacht, und da habe ich es gesehen. Die ›Carnatic‹ schwimmt noch, und in wenigen Stunden werden ihre Masten am Horizont auftauchen – dort im Nordosten – und dann …« »Sie haben geträumt, Mensch«, sagte ich. »Das ist der Alp – da bildet man sich ein, daß man wacht, und in Wirklichkeit schläft man …« »Na ja, wie Sie meinen«, erwiderte Johannesen gleichmütig. »Wir werden ja sehen. Passen Sie nur auf, wie’s kommt. Ich habe deutlich den Namen ›Carnatic‹ am Bug gesehen – so nahe war ich heran.« »Und die Frau des Kapitäns?« 214
»Davon weiß ich nichts. Das Gesicht erlosch mit dem Augenblick, da wir das Boot aussetzten. Aber aus dem Nebel ist dann noch ein anderes Bild aufgestiegen …« Er neigte sich zu mir und flüsterte mir etwas ins Ohr, was mich bis an die Lippen erbleichen machte. Das Mittagessen ging sehr schweigsam vorüber; Clifford war von einer Unruhe erfaßt, als habe er ebenso wie Johannesen eine Ahnung, daß die Erfüllung seiner Wünsche unmittelbar bevorstehe. Kaum hatte er einige Löffel Hühnersuppe gegessen, als er aufstand und wieder auf das Verdeck eilte. Johannesen sah ihm gedankenvoll nach und nickte. »Wir haben noch eine Stunde Zeit«, sagte er. »Lassen Sie uns essen; wer weiß, ob wir nachher noch Appetit haben!« Trotzdem beeilten auch wir uns nach Möglichkeit und folgten dann dem Kapitän nach oben. Merkwürdig! Die gesamte Mannschaft war von demselben Fieber verzehrender Ungeduld ergriffen und stand vollzählig an Deck, vom Bug und über das Bollwerk hinweg nach Nordosten blickend. Vier Glasen zum Zeichen der abgelaufenen vollen Stunde schlug der Mann am Steuer an: Es war ein Uhr nachmittags. Das Fieber meiner Erwartung war auf einen unerträglichen Grad gestiegen. Noch eine Viertelstunde verging, da ertönte vom Mastkorb herunter der Ruf: »Ship ahoy!« Ein Schiff in diesen Breiten? Es konnte kein andres sein! Johannesen stand bei mir – stumm sahen wir beide uns an –, jedem war der letzte Blutstropfen aus dem Gesicht gewichen. »Wo?« rief der Kapitän hinauf. Der Mann wies mit der Hand nach links und vorn, Clifford sprang ans Steuer und drehte selbst das Rad, bis der Bug des Schiffes gerade nach dem Himmelsstrich wies, wo unser Ausguck das Schiff gesichtet hatte. 215
»So – stetig!« unterwies Clifford den Mann am Steuer. »Nord-Nord-West-West …« Der Kapitän nahm nun sein Fernrohr und stieg selbst in den Mastkorb hinauf. Fünf Minuten sah er unausgesetzt nach der Gegend, wo das fremde Schiff sichtbar war; dann schob er das Fernrohr zusammen und kam langsam herunter. »Es ist ein Dreimaster«, sagte er. »Und es ist – ich kenne ihn – es ist die ›Carnatic‹.« Und nun zuckte es plötzlich in seinem starren Gesicht, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen; er nahm seine Mütze ab und hielt sie, wie betend, in den gefalteten Händen vor das Gesicht. Von den Matrosen wischten sich einige mit dem Ärmel über die Augen, andere starrten unverwandt ins Weite – die Masten knarrten, der Wind pfiff im Tauwerk – sonst war es an Brod der ›Lady Godiva‹ still wie in einer Kirche. Das Kielwasser schäumte und gurgelte hinter unserm Heck in schnurgerader Linie, nach einer Viertelstunde konnte man die drei Mastspitzen mit bloßem Auge erkennen – noch eine Viertelstunde weiter, und wir sahen, daß der Fremde segel- und steuerlos in der Dünung schlingerte. Das Boot wurde hergerichtet, um gleich zu Wasser gelassen zu werden, sobald wir dem verlassenen Schiff so nahe gekommen sein würden, daß eine weitere Annäherung gefährlich wurde. Es war fast keine Überraschung mehr für uns, als wir nach Verlauf von anderthalb Stunden den vom Wetter hart mitgenommenen Rumpf so weit unterscheiden konnten, daß sein Zustand das jahrelange Verlassensein des Dreimasters zur Gewißheit machte. Nun drehte sich der Rumpf schwerfällig ein wenig, und der letzte Zweifel schwand; dort stand es in verblichenen goldenen Buchstaben: ›Carnatic.‹ Ein Bild trostloser Öde und Melancholie war das unglückli216
che Schiff, dessen Planken von Farbe entblößt waren, dessen Segelbruchstücke in kurze Fetzen zerrissen an den Rahen hingen, dessen Taue und Wanten jene Lockerung aufwiesen, die dem Auge des sorgsamen Seemanns ein so widriger Anblick ist. Wir waren so nahe, daß wir das Knarren der Masten und das Knirschen der rostigen Ruderketten hören konnten. Das Boot wurde bemannt, Kapitän Clifford, Ole Johannesen, ich und sechs Matrosen stiegen ein, und wir ruderten nach dem Schiff hin. Während der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Für einen Nichtseemann wäre es schwierig gewesen, auf das Verdeck des ziemlich hoch aus dem Wasser aufragenden Schiffes zu gelangen, da keine Treppe und kein Tau hinaushing; Johannesen aber und der Kapitän kletterten ohne große Mühe hinan, und der erstere half mir hinauf; als ich fröstelnd und aufgeregt vom Bollwerk auf das Deck sprang, war der Kapitän schon die Kajütentreppe hinuntergeeilt; wir folgten langsamer. Zwei der Matrosen, die ebenfalls an Bord geklettert waren, begaben sich in den Raum und in das vorn gelegene Mannschaftslogis, um auch diese Örtlichkeiten zu durchsuchen. In der Kajüte fanden wir nichts, auch im Schlafzimmer des Kapitäns nichts; das Suchen der Matrosen blieb ebenfalls erfolglos; stundenlang setzten wir unsere Nachforschungen fort, und wir würden jetzt das Schiff wieder verlassen haben, wenn uns nicht ein eigentümlicher und unheimlicher Umstand zurückgehalten hätte. Die Luft in der Kajüte und im Mannschaftslogis war dick und muffig, wurde aber, da wir alle Türen und Luken öffneten, bald besser. Und nun merkten wir, daß ein beängstigendes Gefühl, das wir in der Kajüte nicht los werden konnten, nicht, wie wir anfänglich geglaubt hatten, der schlechten Beschaffenheit der Luft, sondern etwas anderem zuzuschreiben war. Während uns auf dem Verdeck und in allen übrigen Räumlichkeiten des 217
Schiffes nichts auffiel, hatten wir in der Kajüte ein nicht zu beschreibendes, beklemmendes Gefühl, vor dem sich mir die Haare sträubten. »Wie ist Ihnen hier?« fragte mich Johannesen, und ich las in seinen Augen, welche Antwort er erwartete. »Wie Ihnen, Maat«, erwiderte ich. »Ich sehe niemand, aber …« »Es ist außer uns noch jemand da«, vollendete Johannesen den Satz. Das war es, und wir merkten Clifford an, daß es ihm ebenso gehe wie uns. Darum ließen wir mit Suchen nicht nach und suchten an den unmöglichsten Stellen, auch an solchen, wo wir schon gesucht hatten, immer wieder. Die Sonne stand schon tief am Horizont, als wir endlich, voll müder Traurigkeit, unsere Bemühungen aufgaben. Der Kapitän bedeutete uns, daß er noch einmal in die Kajüte gehen wolle, um nachzusehen, was von dort zu bergen der Mühe wert sei. Wir wußten aber, daß dies nur ein Vorwand sei, und Clifford noch einmal allein und ungestört an dem Ort sein wollte, wo er mit seinem Weib so glücklich gewesen war; wir achteten dies Gefühl und blieben oben an der Treppe stehen. Zwei Minuten mochten verstrichen sein, da hörten wir einen lauten Schrei und stürzten hinunter. Indem wir in die Kajüte eintraten, sahen wir deutlich, wie die Tür zu einer der Seitenkabinen zugeschoben wurde. Ein einfacher und doch grauenhafter Umstand! Denn außer uns und dem Kapitän war kein irdisches Wesen im Zimmer. Doch etwas andres nahm unsre Aufmerksamkeit zunächst in Anspruch. Der Kapitän saß starr und regungslos auf dem Sofa. Er war tot. In der Hand hielt er einen Fetzen bunten Wollenzeuges, seine offenen Augen trugen den Ausdruck des Entzückens, sein Antlitz war wie zu einem freudigen Lachen verzogen. Johannesen und ich drückten uns wortlos die Hand. Das war es, was wir gefürchtet hatten, seit wir Johannesens 218
Vision kannten. Er hatte nämlich geschaut, wie man die Leiche des Kapitäns nach Seemannsart in das Meer versenkte. Doch waren damit die grauenhaften Umstände noch nicht erschöpft. Der Schrei, den wir oben gehört hatten, war ein weiblicher gewesen. Und in der Kabine, deren Tür vor unsern Augen zugeschoben worden war, fanden wir, als wir endlich den Mut faßten, einzutreten, eine zur Mumie eingetrocknete weibliche Leiche, die von Johannesen und den Matrosen als Frau Fanny Clifford erkannt wurde. Sie trug ein buntes wollenes Kleid, dem am Ärmel das abgerissene Stück fehlte, das wir in Cliffords Hand gefunden hatten. Noch eins darf ich nicht unerwähnt lassen; jene Kabine war von uns wie jeder andere Raum des Schiffes vorher genau durchsucht worden, ohne daß wir darin eine Spur von Frau Clifford gefunden hätten. Wir hatten nur den einen Gedanken, von dem unheimlichen Schiff so rasch wie möglich fortzukommen. Wir ruderten nach der ›Lady Godiva‹ zurück, und erst nach geraumer Zeit hatten wir uns so weit überwunden, daß wir noch einmal an Bord der ›Carnatic‹ zurückkehrten, um den Verstorbenen ein christliches Begräbnis zuteil werden zu lassen. Wir holten die Leiche des Kapitäns zu uns an Bord und bahrten sie in der Nacht in der Kajüte auf, nachdem wir sie in Segeltuch eingenäht und eine eiserne Kugel an ihren Füßen befestigt hatten. Meine Anregung, auch die verstorbene Frau des Kapitäns in gleicher Weise für das Begräbnis vorzubereiten, war auf den hartnäckigen Widerstand der Seeleute gestoßen. Keiner wollte, um die Leiche zu holen, an Bord des verfluchten Schiffes zurückkehren. Alle meine Vorstellungen und Bitten waren vergebens; ich nahm mir vor, diese am nächsten Morgen zu wiederholen, aber was in der Nacht geschah, war derartig, daß ich selbst um alle Schätze der Welt nicht auf die ›Carnatic‹ zurückgekehrt wäre. 219
Ich war nämlich, wie wir alle, lange wach geblieben; da, kurz vor dem Schlafengehen, wurde ich noch einmal von Johannesen auf das Deck hinaufgerufen, um etwas zu sehen, was die gesamte, auf dem Hinterdeck stehende Mannschaft mit Staunen und Grausen erfüllte. Die ›Carnatic‹ trug die vorgeschriebenen Lichter, grün an Steuerbord und rot an Backbord, und die Kajütenfenster waren hell erleuchtet. – Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und doch sollte auch mit diesem nächtlichen Spuk noch nicht die letzte Szene der furchtbaren Tragödie gekommen sein. Als wir die Leiche des Kapitäns über die Reling in ihr nasses Grab hinabgleiten ließen, erhob sich, unser stilles Gebet unterbrechend, plötzlich ein gemeinsamer Ruf aus allen Kehlen. Die ›Carnatic‹, die nur wenige Kabellängen von uns entfernt dahintrieb, drängte ohne ersichtliche Ursache stärker als bisher erst nach Backbord und darauf nach Steuerbord über und schoß dann jählings, mit dem Bug voran, in die Tiefe. Die Wellen liefen in wirbelnden Strudeln über der Stelle ihres Untergangs zusammen, der Schaum spritzte in die Luft, die ›Lady Godiva‹ schwankte in den von dort herüberkommenden Wogenreihen, die ihren Weg weiter nach Süden fortsetzten, und dann war alles vorbei. Wir hatten gestern die ›Carnatic‹ genau untersucht und wußten gewiß, daß sie nur sehr wenig Wasser im Rumpf und nirgends ein Leck hatte. Der Untergang des gespenstischen Schiffes war ebenso unerklärlich wie alles andere, was mit ihm zusammenhing.
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Ein geheimnisvolles Telegramm von Hans Esch Hans Esch, der vorwiegend als Übersetzer tätig war, scheint eigene Arbeiten nicht publiziert zu haben. Die folgende kurze Erzählung erschien im ›Hamburger Fremdenblatt‹, ohne Angabe eines Autors, als Übersetzer wird Hans Esch genannt, der um die Jahrhundertwende in Hamburg lebte. ——————
Gegenüber der Westfront des Hauptpostamtes in London steht ein kleines Haus, in dem wir Beamte des Telegrafenbüros einmal wöchentlich unseren Klubabend abhielten. An einem solchen Abend war es, als unser alter Kollege, der Telegrafist Davison, uns eine Begebenheit aus seinem Leben erzählte, die uns bis zum Schluß in größter Spannung erhielt und die zu vergessen uns allen unmöglich war. Ich will ihn selbst erzählen lassen. »Wie ihr wißt«, begann er, »bin ich seit dreizehn Jahren Telegrafist. Ich bin kein nervöser oder überspannter Mensch, im Gegenteil, ich habe stets gelacht über Geistergeschichten, Spiritismus, Erscheinungen und dergleichen, und habe diejenigen, die daran glauben, als geistig nicht ganz normal bedauert. Diese Meinung hielt ich aufrecht, bis ich selbst etwas erlebte, das über die Grenzen des Natürlichen ging. Meine Dienstzeit in dem Londoner Büro, in dem ich seit vier Jahren angestellt war, begann abends siebeneinhalb Uhr und war beendet zweieinhalb Uhr nachts. Eines Abends, als ich mich nicht ganz wohl fühlte und mir Erlaubnis erbeten hatte, etwas früher nach Hause gehen zu dürfen, hatte ich kurz vor meinem Fortgehen noch ein Telegramm 221
auszufertigen, es war an einen in Whitechapel wohnenden Mann adressiert und enthielt nur die Worte ›Sieh dich vor‹, unterzeichnet ›H‹. Ich beförderte das Telegramm, übergab meinen Dienst einem Kollegen und ging direkt nach Hause. Bevor ich zu Bett ging, trat ich zufällig noch einmal auf den Korridor hinaus und bemerkte, daß im Badezimmer, dessen Tür halb offen stand, Licht brannte. Dies kam mir sonderbar vor, denn es war niemand im Zimmer und ich selbst hatte das Licht nicht angezündet. Ich ging aber hinein, um die Lampe auszulöschen. Hierbei sah ich, daß der eine Wasserhahn nicht vollständig geschlossen war und daß die Tropfen in Zwischenräumen auf den Boden der Badewanne fielen. Das Geräusch, welches dadurch hervorgerufen wurde, zog nun meine Aufmerksamkeit derartig auf sich, daß ich aufhorchend stehenblieb. Die Tropfen schienen mir in einer seltsam unregelmäßigen Weise zu fallen. Ich lauschte aufmerksam und sagte dann beinahe mechanisch zu mir selbst: ›Das klingt ja wie ein Telegramm!‹ Tropp-tropp, tropp-tropp-tropp … es war tatsächlich ein Telegramm! Ich hörte deutlich, wie verschiedene Male wiederholt wurde: ›Sieh dich vor!‹ und dann nach einer Pause das Zeichen ›H‹ folgte. Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Es war das Telegramm, welches ich zuletzt expediert hatte, ich setzte mich auf den Rand der Badewanne, hörte nochmals auf das Tropfen, beobachtete den Wasserhahn – kein Zweifel, es war das Telegramm ›Sieh dich vor‹. Im höchsten Grade erstaunt, ging ich zu einem eine Etage unter mir wohnenden Kollegen, um ihn zu bewegen, zu mir heraufzukommen. Auch er sollte sich von der eigentümlichen Erscheinung überzeugen. Es war inzwischen spät geworden, und er hatte sich natürlich schon zu Bett begeben. Über die Störung nicht wenig ärgerlich, erklärte er sich jedoch schließlich bereit, mir zu folgen. Ich erzählte ihm nichts von dem Telegramm, sondern warte222
te, bis er es selbst gehört haben würde. Er lauschte und sagte dann erstaunt: ›Das ist ja ein Telegramm! – Sieh dich vor! – unterzeichnet – H –‹. Ich sagte ihm, daß auch ich es so hörte. Wir horchten und beobachteten beide noch eine Weile, und auch er konnte sich die Sache nicht erklären. Schließlich verließ mich mein Freund und ging wieder auf sein Zimmer, nicht ohne vorher noch weidlich über die Geschichte gelacht und sie für Unsinn erklärt zu haben. Ich ging ebenfalls auf mein Zimmer und setzte mich an den Tisch, um noch über die Sache nachzudenken, denn ich war doch zu aufgeregt geworden, um schlafen zu können. Endlich aber erhob ich mich, ging zum Waschtisch, um mich auszukleiden, und sah, noch immer über das Telegramm nachdenkend, in den Spiegel. Ich war starr! Auf dem Platz, den ich eben noch eingenommen hatte, saß ein Mann und schrieb! Das Blut stockte in meinen Adern, und es war mir unmöglich, mich umzuwenden und der Erscheinung direkt ins Angesicht zu sehen. Meine Augen waren wie gebannt an das Bild im Spiegel! Es war ein großer, schlanker Mann. Sein Gesicht farblos, weiß wie Kalk; und unter den Augen sah ich große, dunkle Ringe. Ein ähnliches Gesicht hatte ich einst in der Morgue gesehen, und der grünliche Schatten unter den Augen jener Leiche hatte genau dieselbe Farbe der dunklen Ringe unter den Augen jenes Mannes. Ich beobachtete seine Hand – sie malte ein großes ›S‹. Dann kam ein ›i‹, ein ›e‹ und ›h‹. Dann schrieb sie ein großes ›D‹ und so fort. – ›Sieh Dich vor!‹ Ich wußte genau, wie der nächste Buchstabe lauten würde – und er war ein ›H‹. Der Mann stand auf. Als ob er nicht wüßte, daß ich in dem Zimmer sei, sah er weder nach mir, noch wendete er überhaupt sein Antlitz, sondern ging lautlos durch die offene Tür hinaus auf den Korridor. Ich stand und sah in den Spiegel, nicht imstande, mich bewegen zu können, und erwartete jeden Augen223
blick die Rückkehr der Erscheinung aus dem Dunkeln des Korridors. Aber sie kam nicht zurück, und ich fand schließlich den Mut, zum Tisch zu gehen, um zu sehen, was dort geschrieben stand. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich nicht ein einziges Wort fand. Ich ging zur Tür, schloß sie leise, aber schnell und setzte mich, mich fragend, ob ich geträumt hätte oder was eigentlich geschehen sei. Wie lange ich in dieser Verfassung gesessen habe, weiß ich nicht; aber plötzlich hörte ich das lustige Zwitschern der Vögel aus dem nahen Garten zu mir dringen. In meinem aufgeregten Zustand war es mir unmöglich, an Schlafen zu denken; mein Kopf glühte fieberhaft, und ich ging deshalb an das Fenster, um die kühle Morgenluft zu atmen. Eine Zeitlang sah ich hinunter in die um diese Zeit gänzlich vereinsamten Straßen, als wie aus der Erde emporgestiegen auf dem jenseitigen Trottoir ein Mann erschien. Sein Gehen verursachte nicht das geringste Geräusch; scheinbar geisterhaft schwebte er über das Pflaster. Als er sich meinem Fenster gegenüber befand, blieb er stehen. Er wendete mir anfangs den Rücken; plötzlich drehte er sich aber um und sah mir direkt ins Gesicht. Unsere Blicke trafen sich. Ein angstvoller Ausdruck war in seinen Zügen, und er zeigte mit dem Arm nach Osten. Es war der Fremde, welcher mich in der Nacht besucht hatte! Bestürzt von all diesem Geheimnisvollen, lehnte ich mich weit aus dem Fenster und rief, als er sich zum Gehen wandte, ihm mit lauter Stimme nach. Ob er mich nun hörte oder nicht hören wollte, weiß ich nicht. Er beachtete jedenfalls weder mein Rufen, noch sah er zurück, und ich bemerkte nur noch, daß er um die nächste Straßenecke verschwand. Ich lief die Treppe hinunter und auf die Straße, um ihm zu folgen. Ich erreichte die Ecke, um die er gegangen war, bevor er bei der nächsten Ecke angelangt sein konnte, aber keine Spur von ihm 224
war zu sehen. Und wenn er gelaufen wäre, er hätte mir nicht so schnell außer Sicht kommen können. Nach Hause zu gehen und zu ruhen, war mir unmöglich. Ganz mechanisch schlug ich die Richtung zu meinem Büro ein. Als ich dort ankam, war natürlich jeder erstaunt, mich zu sehen. Ich erklärte, ich sei nervös und könne nicht schlafen; ging zu den Telegrammfächern, suchte die Abschrift des Telegramms, das ›H‹ gezeichnet war, und fand auch die Adresse, welche ich mir notierte, in der Absicht, den Adressaten aufzusuchen. Obwohl ich mir sagte, daß es aufdringlich und unberechtigt von mir sein würde, dem Empfänger des Telegramms irgendwelche Fragen zu stellen, wollte ich hingehen. Ich ging dann schnell durch die Straßen, in der etwas bangen Erwartung, den Mann, welcher mich zweimal in wenigen Stunden wie ein Gespenst genarrt hatte, wiederzusehen. Vor dem bezeichneten Haus fand ich eine große Menschenansammlung. Ich versuchte mich durchzudrängen, wurde aber angehalten und mit Fragen bestürmt, denn man hielt mich für einen Detektiv. Erst nach meiner gegenteiligen Versicherung ließ man mich los, und es gelang mir, durch den Haufen der aufgeregten Nachbarn und des sonstigen Publikums zu kommen. Ich fragte einen an der Tür postierten, mir bekannten Schutzmann, was passiert sei. ›Ein schrecklicher Mord ist in diesem Haus verübt worden‹, antwortete er, ›wenn Sie wollen, können Sie hineingehen.‹ Ich ging hinein und wurde von einem zweiten Schutzmann in ein kleines Zimmer geführt. Es war ein schrecklicher Anblick, der sich mir hier bot. Der Körper eines Mannes lag auf dem Boden in einer Blutlache – Blut überall und neben dem Körper eine Axt. Ich mußte mich mit Gewalt abwenden; jedoch etwas in den Zügen des Mannes zog meine Blicke immer wieder dorthin. 225
Dies Gesicht hatte ich schon einmal gesehen; doch konnte ich über die Persönlichkeit, der es gehörte, nicht klar werden. Der Beamte durchsuchte die Taschen des Toten nach etwaigen Papieren. In seiner Westentasche fand er ein Telegramm. Er entfaltete es und las: ›Sieh Dich vor! H.‹ Es war das Telegramm, welches ich zuletzt expediert hatte. Später kam es in meinen Besitz, und ich habe es bis heute aufbewahrt. Ganz verstört von dem Erlebten, ging ich hinaus, nahm eine Droschke und fuhr zum Amt, wo ich die Geschichte einem Kollegen erzählte. Der sah mich nur zweifelhaft an und schien zu glauben, daß mein Gehirn wohl etwas gelitten habe. Nach diesem habe ich die Geschichte niemandem mehr mitgeteilt. Sechs Monate waren vergangen, und der Mörder war noch nicht ergriffen. Alle Recherchen der Polizei waren resultatlos geblieben. Es war auch nicht ein einziger Anhaltspunkt vorhanden, wo die Ermittlungen hätten eingesetzt werden können. Aber die Erscheinung jener Nacht kam mir nicht wieder aus dem Sinn. Eines Abends, als ich wie gewöhnlich an meinem Schalter saß, betrat ein großer, kräftig gebauter Mann das Büro; ging zu dem Pult am Fenster, nahm ein Telegrammformular und begann zu schreiben. Nachdem er fertig war, kam er auf meinen Schalter zu, um bei mir das Telegramm aufzugeben. Ich sah ihm ins Gesicht – es war die Erscheinung aus jener Nacht! Und doch, dieser Mann sah anders aus. Sein Gesicht war fleischiger, seine Stirn niedriger, mit einem Ausdruck des Brutalen, Rohen. Und auch die Augen hatten nicht die dunklen Ringe jenes Mannes. Mit möglichster Ruhe nahm ich das Telegramm entgegen. Als ich die Worte zählte, kam einer meiner Mitarbeiter herein. Zu ihm gehend, sagte ich ihm, so leise es meine Erregung zuließ, daß dieser Mann der Mörder von Whitechapel sei und daß wir ihn verhaften lassen müßten. 226
Der Mann sah uns von der Seite beobachtend an. Als wir dies bemerkten, hielten wir mit Sprechen inne. Ich ging zurück zum Schalter. Während ich so langsam als möglich die Sendung fertig machte, verließ mein Kollege das Büro, um einen Schutzmann herbeizuholen. Um Zeit zu gewinnen, wollte ich meinen Partner in eine Unterhaltung verflechten; aber anscheinend behagte ihm das Sprechen nicht. Als er bezahlt hatte, wandte er sich zum Gehen. Es war nun für mich die höchste Zeit zu handeln. Ich berührte seinen Arm und sagte: ›Entschuldigen Sie, sind Sie nicht Herr Atkins?‹ Es war der schlechteste Gedanke, der mir kommen konnte, denn er durchschaute meine Absicht sofort. Mit einem Fluch warf er sich auf mich und packte mich blitzschnell bei der Kehle. ›Du Schuft, du willst mich fangen!‹ zischte er. Er preßte seinen Daumen tief in meinen Hals und drückte mir so die Luft ab. Mir schwanden die Sinne. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem Hospitalzimmer. Mir wurde erzählt, daß mich der Fremde beinahe getötet hätte, aber daß zur rechten Zeit die Schutzleute erschienen wären und mich befreit hätten. Vor dem Untersuchungsrichter bekannte der Gefangene, daß er der Mörder von Whitechapelhouse sei. Später wurde er zum Tode verurteilt. Der Mörder hatte einen Bekannten in Louth, namens Anthony Usina. Er verlor einst gegen diesen im Spiel eine größere Summe, durch den Verlust und reichlich genossene Getränke erregt, fing er mit ihm Händel an, welche jedoch zu seinen Ungunsten ausfielen. Nun schwur er seinem Freund Rache, und als Usina nach London ging, folgte er ihm. Des Mörders Bruder, ein in Louth hochangesehener Mann, welcher die Absicht desselben erriet, suchte vergeblich ihn zurückzuhalten. Er wollte nicht indirekt den Tod eines Menschen verschulden; und deshalb sandte er das Telegramm an Usina, um ihn zu warnen. Einige Stunden später erlag er plötzlich einem Schlaganfall. 227
Dieser plötzliche Tod ist meiner Ansicht nach die mittelbare Ursache der Erscheinung und des eigentümlichen Tropfens des Wassers gewesen. Die Gedanken des Mannes hatten sich unausgesetzt mit der Verhinderung des geplanten Verbrechens beschäftigt. Sein Tod aber machte es ihm unmöglich, dem Mord vorzubeugen. Der Körper war tot, der Geist jedoch lebte weiter und versuchte, aller irdischen Fesseln ledig, mich, den einzigen, der Kenntnis von dem Telegramm hatte, zu bewegen, den Ermordeten zu warnen. Ich kam zu spät. Doch wenn ich auch nicht das unglückliche Opfer vor dem Tod bewahren konnte, so wurde ich doch infolge der Erscheinung in jener Nacht zum Werkzeug des Schicksals, das den Mörder ereilte, als er sich am sichersten fühlte.« Davison hatte geendet. Er stand auf und verabschiedete sich. Wir aber unterhielten uns noch lange über das merkwürdige Ereignis. Wir setzten nicht den geringsten Zweifel in Davison, denn er war ein ehrenhafter, ernster Mann; aber erklären haben wir uns die Sache nie können. Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.
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Ein Grab zu wenig von Cynthia Asquith Aus dem Geisterkabinett der Lady Cynthia Asquith stammt eine Sammlung von Geschichten hervorragender englischer Autoren des 20. Jahrhunderts, die den Gespenstern unserer Zeit oder der modernen Art, Geister zu sehen, gewidmet ist. Daß die Herausgeberin selbst ein überaus glückliches Verhältnis zu diesem Genre hat, beweist diese Geschichte aus ihrer Feder. ——————
»Glauben Sie an Geister?« fragte ich in jugendlicher Unüberlegtheit den vornehmen alten Herrn, der sich die meiste Zeit seines Lebens mit der Erforschung psychischer Phänomene beschäftigt hatte. Er war so höflich, meine allzu direkte Frage ernsthaft zu beantworten; wie mir vorkommt, tat er das zum Teil auch, weil meine Jugend ihn rührte. »Es kommt ganz drauf an, liebes Kind, was Sie unter Geistern verstehen«, sagte er mit seiner von Trauer verschleierten, wohlklingenden Stimme. »Ich glaube nicht daran, daß die Geister der Toten auf die Erde zurückkehren, um die Lebenden heimzusuchen. Nein, an solche Geistererscheinungen glaube ich nicht. Aber ich glaube an gewisse Phänomene, die darin bestehen, daß die Vergangenheit andauert. Das heißt, ich denke – genauer gesagt, ich weiß –, daß es in einem Haus spuken kann, weil es früher einmal der Schauplatz eines intensiven Erlebnisses gewesen ist, dessen Schwingungen wie eine Aufzeichnung in der Luft hängenbleiben. So können bestimmte Geräusche oder Anblicke, die vor sehr langer Zeit dort zum erstenmal gehört und gesehen wurden, sich auch später auf die Augen und Ohren einer lebenden Person übertragen. Natürlich nicht bei jedem. 229
Manche sind ganz unempfindlich für diese – wie soll ich sagen – für diese Dauer der Vergangenheit; andere wieder sind so anfällig dafür, daß sie sich wie unter Zwang geradezu identifizieren mit einem anderen, dessen seelische Qual noch in der Luft zittert. Und wenn sich ein schreckliches Erlebnis – Schmerz, Leiden, Angst – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt überträgt, da der oder die Betroffene unter außerordentlichem seelischem Druck steht und die fleischliche Hülle, die uns dagegen abschirmt, durchlässig wird, dann sind die Wirkungen sehr gefährlich für das Nervensystem. Der Schock kann eventuell fatale Folgen haben.« »Ist Ihnen selbst schon so ein Fall untergekommen?« fragte ich. »Allerdings«, erwiderte er sehr ernst. »Ich habe einen Mann gekannt, der so fest an derlei verhängnisvolle Auswirkungen glaubte, daß er das reizendste Landhaus in England, das man sich vorstellen kann, dem Boden gleichmachen ließ.« Ich bat ihn, mir doch genau zu erzählen, was diesen Mann dazu gebracht hatte, sein eigenes Haus zu zerstören. Und zuletzt konnte er meinen Bitten nicht länger widerstehen und teilte mir die ›nachweisbaren Fakten‹ – wie er sich ausdrückte – mit, die sich aus eingeholten Augenzeugenberichten ergaben, und zwar waren, wie er betonte, Aussagen der verschiedensten Leute aufgezeichnet worden. Der gänzlich gebrochene junge Mensch, dem das Haus gehörte, habe, soweit er sich dazu aufraffen konnte, alles gesagt, was er wußte; und außer ihm waren zwei Ärzte, eine Krankenschwester, der Vikar und einige Dorfbewohner ins Kreuzverhör genommen worden. Seit ich selbst diese komplizierte Geschichte gehört habe, sind zwanzig Jahre vergangen. Ich habe mich bemüht, die verschiedenen Handlungsfäden zu einer zusammenhängenden Erzählung zu verflechten. Hier ist sie. Es war im Mai 1910, als John und Lara Bryan nach Greystock Manor übersiedelten, das sie zehn Monate vorher, 230
gleich nach ihrer Heirat, gekauft hatten. Sie hatten sich beide auf den ersten Blick in den kleinen Herrensitz verliebt. Das Haus stand schon seit Jahren leer, aber Laura wollte ihr erstes Kind unbedingt im künftigen Elternhaus zur Welt bringen und bestand darauf, sofort einzuziehen, als die ersten paar Zimmer bewohnbar gemacht worden waren. Was sonst noch adaptiert werden mußte, mochte warten, bis sie wieder ganz auf dem Damm sein würde; während sie, zu dritt, für eine Weile auf Reisen gingen, konnten die Handwerker alles fix und fertig machen. Der Häusermakler hatte den Bryans gesagt, die Familie Thorne – die ursprünglichen Besitzer des Herrenhauses – sei seit über hundert Jahren ausgestorben. Das war alles, was die neuen Besitzer über die Vorgeschichte des Hauses wußten. Sie interessierten sich auch nicht sehr dafür – was kümmerte sie die Vergangenheit, sie dachten nur an die Zukunft und die eigenen Verschönerungspläne. Laura war gleich entzückt von dem länglichen, niedrigen, weiß getäfelten Schlafzimmer mit dem hohen, schöngeschnitzten Kaminaufsatz und dem großen Erkerfenster, das Ausblick auf den gepflasterten Vorhof bot und darüber hinweg auf die weiten Wiesen, die sich bis an das Flüßchen erstreckten, das als silbernes Band tief unten dahinzog. Sie brauche aber unbedingt einen versenkten Garten, erklärte sie ihrem John eifrig und zeigte ihm auch die Stelle, wo er ausgehoben werden sollte. Im nächsten Jahr um dieselbe Zeit sollten dort schon die Traubenhyazinthen blühen. Als sie den mittleren Fensterflügel aufmachte, entdeckte sie eine Inschrift, die jemand in die von einem Metallrahmen eingefaßte Scheibe geritzt hatte. »Prudence Prew, 1840«, las sie laut vor. »Was für ein hübscher Name! Und 1840. Das ist siebzig Jahre her! Prudence Prew … schade, daß ich nicht weiß, wer das war. Hoffentlich war sie glücklich in meinem Zimmer. Wie stellst du dir eine vor, die Prudence Prew heißt, John?« 231
Jedenfalls, äußerte John, müsse sie sehr groß gewesen sein, sonst hätte sie ihren Namen nicht so weit oben in die Scheibe einritzen können. Und Laura machte sofort einen Stegreifvers über sie: »Sieh die arme Prudence an, wie man nur so lang sein kann!« Nachdem Laura jeden Winkel und jedes verschlungene Weglein in dem verwilderten Garten gründlich erforscht hatte, schlug sie vor, als nächstes den Friedhof zu besichtigen, sie sehe schon jetzt, daß Greystock Manor nicht nur schön genug sei, um hier leben zu wollen, man wünschte sich auch, nirgends anders begraben zu sein. Sie habe Lust, sich jetzt schon den Platz auszusuchen, wo sie einmal liegen würden. Solche Sachen sagt man natürlich nur, wenn man viel zu jung ist und viel zu glücklich, um den eigenen Tod für möglich zu halten. Es gab eine stattliche Anzahl verstorbener Thornes, die auf diesem Friefhof ruhten. Ihre Gruft lag im Schatten dunkler, uralter Eiben mit total verknorrten, gewundenen Stämmen, die aussahen, als seien sie seit Jahrhunderten bemüht, die krummen Wurzeln aus der Erde zu drehen. Alle diese stattlichen Grabmonumente gehörten der einen Familie, doch sie waren auffallende Ausnahmen auf dem kleinen Friedhof, ansonsten gab es da fast nur sehr bescheidene Gräber, und von manchen war nichts mehr übrig als ein namenloser, grasbewachsener Hügel; andere hatten noch schmucklose Grabsteine, die aber meist nicht mehr aufrecht in der Erde steckten, sondern nach allen Seiten schief oder gar ganz umgefallen waren. Lächelnd lasen John und Laura die einzelnen Inschriften, auf denen die zahllosen Tugenden jener aufgezählt wurden, die vorangegangen, aber nicht vergessen‹ waren und nun hier ›im Herrn entschlafen‹ oder ›in Frieden zur Ruhe gegangen‹ waren. Denn gestorben war anscheinend niemand davon. Dann blieb Laura vor einem armseligen, grasüberwachsenen Hügelchen stehen. In ihrem Zustand zitternder, innerer Glückseligkeit neigte sie zur 232
Rührung und bekam sehr leicht nasse Augen. Mit bebender Stimme las sie die Inschrift auf dem nur roh zugeschnittenen Brettchen: »Mein heißgeliebtes Täubchen, es wurde mir entrissen.« »Ein Kindergrab. Soviel ich sehe, das einzige«, sagte John. »Wahrscheinlich sind die rauhen Vorfahren der Leute hier sehr langlebig und bis ins Greisenalter rüstig gewesen. Da, sieh dir das an! ›Hier ruht Matthew Mudd‹ – wieder ein famoser Name, nicht wahr? –, ›entschlafen im 99sten Lebensjahre. Nebst seiner Ehefrau, die ihm im Alter von 92 Jahren folgte.‹« Laura lief von einem Grab zum anderen. »Nur die arme Prudence Prew kann ich nicht finden. Hast du sie gesehen? « »Wahrscheinlich hat sie als Jungfer hier gewohnt und dann geheiratet, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.« »Hoffentlich!« sagte Laura. »Ach, schau nur, John! Wieder so ein hübscher Name. ›Zum ewigen Gedenken an Grizel Cramp, 1770-1850. Vierzig Jahre lang Hebamme im Pfarrsprengel Greystock. Lasset die Kindlein zu mir kommen.‹« Die beiden lachten. Einen passenderen Bibelvers hätte man kaum wählen können. »Grizel Cramp, sie ruht in Frieden, war Engelmacherin hinieden!« sagte Laura lachend. Sie nannte es selbst eine Unsitte, daß sie es nicht lassen konnte, sofort auf alles einen Reim zu machen. »Die Ärmste! Aber ich muß sagen, ich bin froh, daß ich nicht auf ihre Hilfe angewiesen bin.« Die moosbewachsenen, verwitterten Steine paßten gut in das Grün und die Stille des Friedhofs, wohingegen John und Laura die beiden Ausnahmen, die mit ihrem blendenden Weiß grell davon abstachen, unter lautem Geschrei begrüßten. »Sehen wir nach, wer diese Scheußlichkeit da auf dem Gewissen hat«, sagte Laura und eilte auf einen gräßlichen Alabas233
ter-Engel mit Harfe und Palmzweig zu, der den Zeigefinger mahnend zum Himmel streckte. »Gewidmet dem Andenken an Lilian, heißgeliebte Gattin des Herrn Still auf Greystock Manor, 1877-1899.« »Meine Güte!« rief Laura. »Mit zweiundzwanzig! Woran mag sie so jung gestorben sein?« Dann besichtigten sie das zweite monströse Grabdenkmal, eine überlebensgroße weiße Statue des ›Schnitters Tod‹ mit Sense und Stundenglas. »Zur Erinnerung an Rachel, die heißgeliebte Frau von James Gowan, 1878-1903. Sie ging im Lenz des Lebens, der Winter blieb ihr erspart.« »Ach, die arme!« seufzte Laura. »Wo die wohl gewohnt hat und woran sie gestorben ist?« »Vermutlich im Pfarrhaus«, sagte John. »Keiner von den armen Bauern hier hätte so viel Geld für so was hinausgeworfen, und reiche Häuser gibt es sonst keine.« »Dann würde dort aber stehen: Pfarrer James Gowan.« Hand in Hand gingen sie weiter durch die lange Eiben-Allee. Laura sagte, jetzt müßten sie gleich zum Gärtner und ihm sagen, daß sie einen versenkten Garten haben wolle. John meinte, der Gärtner werde sicherlich nicht begeistert sein. Warum es denn unbedingt ein versenkter Garten sein müsse? Ihre Antwort erschien unwiderlegbar: Weil sie als Kind daheim einen gehabt habe, und kein Kind solle auf den ganz besonderen Reiz verzichten müssen, den dieser Garten auf sie als Kind ausgeübt habe. Für John und Laura war das ganze Leben hell und herrlich – sie waren vollkommen glücklich. Das ist nicht jedem beschieden, und keinem für immer – und so war es auch diesen beiden nach jenem ersten, von Freude vergoldeten Abend im neuen Heim nie wieder vergönnt, ganz ungetrübt glücklich miteinander zu sein. Laura war heute so hinreißend wie nie, aber ermüdet von der Reise und den Aufregungen der Ankunft, darum 234
ging sie früh schlafen. Und da bereitete ihr das reizende Schlafzimmer, auf das sie sich schon so gefreut hatte, die erste Enttäuschung: Sie, die stets einen so gesunden und traumlosen Schlaf gehabt hatte, brachte darin die erste schlaflose Nacht ihres Lebens zu. John erschrak, als er am nächsten Morgen die tiefen blauen Schatten um ihre Augen sah. Und sie wirkte auch sonst ziemlich bedrückt. Sie war zerstreut, nahezu deprimiert – etwas, das er an ihr gar nicht kannte. Als er sie ausfragte, gestand sie, sie sei heute »nicht ganz sie selber«. Es lag aber weniger daran, daß sie nicht hatte einschlafen können, als vielmehr an dem gräßlichen Traum, der sie quälte, als sie endlich doch einschlief. Sie wollte um keinen Preis erzählen, was sie geträumt hatte. »Lauter wirres Zeug«, sagte sie nur. Doch John hatte den Eindruck, daß der Traum sie noch immer in seinem Bann hielt, als sich der Tag schon dem Ende zuneigte. Und als sie am Abend todmüde zu Bett ging, sagte sie mit einem tiefen Seufzer: »Es ist zwar das schönste Zimmer, das ich kenne, aber ich fürchte fast, ein glückliches Zimmer ist es nicht.« Etwa eine Woche danach kam der Vikar zum erstenmal zum Essen zu ihnen. Er war ein liebenswerter, ein wenig jüngferlich verschrobener kleiner Herr, der sichtlich sehr stolz war auf seine schöne Kirche und den ›reizend altvaterischen‹ Friedhof, wie er sich ausdrückte. Er war entzückt, daß die Bryans lebhaft zustimmten, und bemühte sich sehr zu zeigen, daß er kein humorloser Mensch war (auch darauf war er sichtlich stolz), und darum lachte er laut, als Laura ihm sagte, wie komisch sie den Grabspruch für die Dorfhebamme fand. Ja, die Grizel Cramp, sagte er, die sei geradezu eine legendäre Gestalt, und das ganze Dorf sei stolz, weil es hier eins von diesen ›uralten Weiblein‹ gebe, die sie noch persönlich gekannt hatte, und zwar die Martha Mudd, die Schwiegertochter jenes einstigen Küsters Matthew Mudd. 235
Daraufhin fragte ihn Laura, ob er ihr vielleicht auch über eine gewisse Prudence Prew etwas sagen könne, ihr Name sei nämlich in eine Fensterscheibe hier im Haus eingeritzt. Er antwortete, er wisse nur, daß das Landhaus einmal einer Familie Prew gehört habe, allerdings nur kurze Zeit. John verhehlte seinen Abscheu vor den beiden Alabastergrabmälern nicht, die alles verunstalteten, und der Vikar war derselben Ansicht und sagte, ja, das sei ein »wahrer Jammer«. »Woran ist eigentlich die arme Lilian Still, die in diesem Haus Hausfrau war, wenn ich mich recht erinnere, so jung gestorben?« fragte Laura weiter. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, Mrs. Bryan. Das war ja vor meiner Zeit. Ich bin erst seit zwei Jahren hier«, erwiderte der Geistliche. »Aber prächtiges Wetter haben wir für diese Jahreszeit, nicht wahr?« »Und wem ist die Aufstellung der zweiten weißen Scheußlichkeit zu verdanken – der Schnitter Tod mit der Sense?« fragte Laura. »Das weiß ich nicht«, sagte der Vikar und zerkrümelte zerstreut sein Brot zu winzigen grauen Kügelchen, die er immer noch zerkleinerte. John hatte das bestimmte Gefühl, die Wendung »Ich kann es Ihnen nicht sagen« habe der Vikar bewußt so gebraucht, um eine direkte Lüge zu umgehen, und als Laura etwas später hinaufgegangen war, um sich auszuruhen, brauchte er keinen besonderen Druck auszuüben, um den schwachen Widerstand seines Gastes zu brechen. »Es tut nicht gut«, zwitscherte der Vikar, »nein, es tut nicht gut, wenn ich Ihnen das verheimliche, was Ihnen ohnehin jeder im Dorf mit Vergnügen erzählen wird. Da Sie mich ausdrücklich fragen, muß ich zugeben, daß es sich zwar ganz sicher nur um ein zufälliges Zusammentreffen handelt – und nicht mehr. Andererseits, noch dazu unter den gegebenen – ä – freudigen 236
Umständen – hatte ich keine Lust, Ihrer reizenden Frau Gemahlin zu sagen, daß die zweite junge Frau, die unglückseligerweise – ä – so jung hinweggerafft wurde – die, nach der sie mich gefragt hat –, ebenfalls – ä – hier im Hause verstorben ist.« »Und woran sind sie alle beide gestorben?« fragte John. Der kleine Geistliche sah ganz zerknittert drein. »Nun ja«, blökte er. »Um die Wahrheit zu sagen – aber das war, wie gesagt reinster Zufall –, sie sind alle beide – ä – ja, alle beide im Kindbett gestorben. Traurig! Traurig! Heutzutage aber eine Seltenheit. Hoffentlich machen Sie sich keine Gedanken über diesen Zufall, Mr. Bryan?« »Ganz und gar nicht. Warum denn?« sagte John entschieden, dann redeten sie von etwas anderem. Nachdem sich der Vikar verabschiedet hatte, ging John hinauf zu Laura. Sie lag im Bett und schlief. Er hatte sie noch nie so schön gefunden – und so jung sah sie aus. Gott sei Dank war sie keine Fantastin. Dennoch, sie durfte nichts erfahren von den merkwürdigen Zufällen … Wie hoch war eigentlich der Prozentsatz an Frauen, die heute noch im Kindbett starben? Ein lächerlicher Prozentsatz! Hatte es in seinem Umkreis je einen solchen Fall gegeben? Er konnte sich nicht erinnern. Aber er mußte doch achtgeben, damit der Dorfklatsch Laura nicht zu Ohren kam. Am nächsten Tag sah sie so müde aus, daß John sich entschloß, den Arzt zu holen, und bei dieser Gelegenheit suchte er ihn – wie er sich selbst einreden wollte, aus reiner Neugier – über die beiden traurigen Fälle auszuhorchen. Der Arzt stellte fest, daß bei Laura alles in Ordnung sei, und verschrieb ihr nur ein Beruhigungsmittel. Als er im Begriff war, das Haus zu verlassen, hielt John ihn zurück und kam zur Sache. Er versicherte dem Arzt, daß »derlei Dinge für ihn natürlich nichts bedeuteten«, aber bei Frauen wisse man nie, deshalb hoffe er, daß seiner Frau nichts zu Ohren kommen werde über die beiden Frau237
en, die vor nicht allzu langer Zeit, im Abstand von kaum zwei Jahren, in diesem Haus gestorben seien. Ob ihm übrigens die Todesursache zufällig bekannt sei? Was war bei den Geburten schiefgegangen? Der Arzt sagte, die beiden Damen hätten nie zu seinen Patientinnen gehört, er habe die Praxis hier erst seit neun Jahren. Als John nicht lockerließ, nannte er ihm, aber offenbar nicht sehr gerne, den Namen und die Anschrift seines Vorgängers, der etwa fünfzig Meilen von hier wohnte. John fiel es nicht leicht, den Brief an einen ihm persönlich unbekannten Arzt zu formulieren, und die Antwort, die er bekam, war unbefriedigend – sie bestand in der knappen Feststellung, er, Dr. Brown, könne leider keine Auskunft über den Tod von Mrs. Still geben, er habe sich vor seiner Zeit hier zugetragen. Mrs. Gowan sei im Kindbett gestorben. John rief ihn an und bat um eine Aussprache. Der Arzt machte nicht den Versuch zu verbergen, wie unangenehm ihm dieser Besuch war. John versicherte sofort, er wolle keineswegs der Anlaß zu einer Verletzung des Arztgeheimnisses sein, doch schließlich sei seine Frau im siebten Monat schwanger und er befürchte, gewisse im Dorf kursierende Gerüchte könnten ihr hinterbracht werden, worauf sie peinliche Fragen stellen werde; darum bitte er Dr. Brown, ihm zu sagen, woran Mrs. Gowan gestorben sei. Lag es an ihrer zarten Konstitution? »Nein«, sagte der Arzt. »Meiner Feststellung nach hat der bedauernswerten jungen Frau nichts gefehlt. Sie ist an einem Herzinfarkt gestorben.« »So«, sagte John. »Vermutlich hatte sie ein Herzleiden.« »Dann wäre mir bei ihr die schlimmste Fehldiagnose anzulasten gewesen, die mir je passiert ist«, antwortete der Arzt kurz. »Wie ich nach gründlicher Untersuchung festgestellt habe, war ihr Herz ganz gesund und normal.« 238
»Das ist aber sehr sonderbar, finden Sie nicht auch?« »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, Mr. Bryan, dann kann ich nur sagen, die Patientin ist nach meiner Meinung an einem Schock gestorben. Was den Schock ausgelöst hat, kann ich mir, ehrlich gesagt, nicht recht vorstellen.« Nun, für eine nervöse Frau, meinte John, sei eine Erstgeburt an sich aufregend genug. »Es war gar nicht ihr erstes Kind«, sagte der Arzt. »Sie hat zwei Jahre zuvor ein Kind bekommen und es spielend geschafft. Wie gesagt, auch die zweite Entbindung war ganz normal. Es ist und bleibt einer jener sehr seltenen unerklärlichen Fälle.« »Und was wissen Sie über die junge Frau, die zwei Jahre zuvor im Haus gestorben ist?« »Diese Frage habe ich befürchtet. Natürlich ist im Dorf darüber geklatscht worden, darum habe ich damals Schritte unternommen und mich mit dem Arzt in Verbindung gesetzt, der sie behandelte. Seltsamerweise fehlte auch in diesem Fall jede medizinische Erklärung für den Tod der unglücklichen jungen Mutter. Der verstorbene Doktor Field – unter uns, ein ziemlich nervöser Sonderling – hat einen nicht ganz fachlichen Terminus gebraucht. Er hat gesagt, die Patientin sei an einem Schreck gestorben.« »An einem Schreck?« »Keine Ahnung, wie er das gemeint hat. Vielleicht war sie wirklich hypersensibel, und in ihrem Fall war es eine Erstgeburt.« John schwieg eine Weile. Plötzlich entschloß sich der Arzt, etwas mehr zu sprechen, als das unbedingt Nötige. »Sehen Sie, Mr. Bryan«, sagte er in wesentlich herzlicherem Ton. »Sie und ich, wir sind vernünftige Leute. Wir wissen, daß die beiden tragischen Fälle im selben Haus nur ein Zufall gewesen sein können. Was sonst? Aber die Tatsache der Autosuggestion ist unleugbar, ebenso wie ihre 239
Wirkungen. Aus Sorge, daß Ihrer Frau die sonderbaren Umstände bekannt werden könnten – nirgends kommt ein Gerücht rascher unter die Leute als in einem kleinen Ort –, wäre es besser, wenn sie sich in ein anderes Zimmer legte, finden Sie nicht? Ich nehme an, sie hat das große Frontzimmer mit dem Erker als Schlafzimmer?« John bedankte sich bei Dr. Brown für diesen Rat und eilte heim. Als er Tränenspuren auf Lauras Gesicht sah, erschrak er und fragte, warum sie geweint habe. »Ach, nichts«, sagte sie. Sie sei übermüdet, weil sie nächtelang schlecht geschlafen habe. Ob sie wieder einen schlimmen Traum gehabt habe? John fragte so lange hartnäckig weiter, bis sie zugab, sie habe mehrmals denselben Traum gehabt, der sie schon in der ersten Nacht aufgeschreckt habe. Was sie geträumt hatte, wollte sie aber noch immer nicht sagen. Bitte, nein, nicht fragen. Er würde sie doch nur für einen Kindskopf halten. John nützte die Gelegenheit, um ihr wenigstens vorzuschlagen, sie möge in ein anderes Zimmer übersiedeln, doch sie erklärte, das komme gar nicht in Frage. Die beiden anderen Räume, die als Schlafzimmer geeignet wären, seien noch nicht hergerichtet, bei dem einen regne es herein und beim anderen müsse der Boden frisch gelegt werden. Als Laura hinaufgegangen war, um ihr Mittagsschläfchen zu halten, machte John einen Spaziergang. Er trat durch das schmiedeeiserne Gartentor und sah draußen eine uralte, gebeugte Frau stehen, die durch ein Loch in der hohen Eibenhecke in den Garten spähte. Als sie ihn sah, wurde sie sehr aufgeregt. Hastig strich sie sich die weißen Haarsträhnen aus der Stirn, die ihre triefenden Augen verdeckten, und starrte ihm prüfend ins Gesicht. Dann reckte sie die gichtige Hand und wies auf das Haus, dazu kam ein Schwall unverständlichen Geplappers aus ihrem Mund. John erkannte, daß sie im Kopf recht wirr sein mußte. Oder verstand er nur nicht, was das zahnlose Gemurmel bedeu240
tete? Jedenfalls war erkennbar, daß sie bemüht war, ihm um jeden Preis etwas begreiflich zu machen. »Grizel Cramp, Grizel Cramp«, wiederholte sie mehrmals unüberhörbar. Im ersten Augenblick waren diese beiden Worte das einzige, was er überhaupt verstand, aber nach und nach fing er an, ganz Satzteile zu begreifen: »Ich sag es ihr, der alten Grizel Cramp. Ja, ich sag es ihr. Ich schon … Armes Ding! … Hab’ sie meiner Lebtag nicht mehr vergessen können. Geschrien hat sie – und wie! Ich hör sie noch! … »Hilfe! Hilfe! Hilfe! Holt die Grizel! Holt die Grizel!‹ Ein schönes Mädel war sie und hat keinem was getan, sicher nicht, so ein Unschuldsgesicht, Gott segne sie! Der ist schlimmes Unrecht geschehen, das beschwöre ich. Und Sie, junger Herr, passen Sie nur gut auf Ihre junge Frau auf, Gott segne sie. Ein Anblick, bei dem einem das Herz aufgeht. Aber das ist kein guter Platz für sie, nicht jetzt, wo sie in Umständen ist. Hören Sie auf mich, Sir. Bringen Sie sie weg, so rasch es geht.« Die Alte griff nach Johns Arm. Sie zeigte zum Friedhof hinüber, legte den einen Finger an die Lippen und flüsterte: »Ein Grab zu wenig. Ja, ja. Ein Grab zu wenig.« John wußte nicht, wie er die Alte wieder loswerden sollte, und wollte sie doch nicht hier allein lassen, am Ende versuchte sie, sich Eingang in den Garten zu verschaffen. Das durfte nicht sein. Daher war er erleichtert, als eben der Vikar auftauchte. »Schon gut, Tibby. Was treibst du denn da?« fragte der Geistliche. »Du darfst doch nicht allein fortgehen, das weißt du doch.« Er nahm das alte Weiblein an dem dürren Arm und führte es heim, denn ihr Haus lag ohnedies nicht weit von hier. »Ihr dürft doch die alte Ahne nicht allein herumlaufen lassen, Miß Mudd«, sagte er zu der Frau mittleren Alters, die ihm öffnete. 241
»Ich nehme an, das war dieses ›uralte Weiblein‹, von dem Sie erzählt haben, Herr Pfarrer?« sagte John, als die beiden gemeinsam weitergingen. »Ja, die alte Tibby Mudd.« »Sie hat etwas von der Grizel Cramp gefaselt, aber ich habe nicht alles verstanden. Sie hatte sich’s anscheinend in den Kopf gesetzt, daß sie mir unbedingt etwas sagen müsse.« »Na, viel Verstand ist in diesem Kopf nicht mehr vorhanden!« sagte der Geistliche. »Ich habe auch gehört, daß der Sparren, den sie hat, irgendwie mit der alten Hebamme zusammenhängt.« Falls der Vikar wußte, was es mit dem Sparren der Alten auf sich hatte, schien er jedenfalls nicht gewillt, etwas davon zu erzählen. John drang also nicht weiter in ihn. Er war seiner Sache ganz sicher: die Enkelin der Alten war das bei weitem geeignetere Objekt zum Ausfragen. Darum ging er am nächsten Tag unter dem Vorwand, er wolle nur ein wenig Obst für die alte Frau bringen, wieder in ihr Haus. Miß Mudd sagte, die Großmutter sei oben in ihrem Zimmer und liege im Bett. Da sagte er, er wäre dankbar, wenn sie ihn ein wenig aufklären könne, was ihm die Großmutter eigentlich unbedingt habe sagen wollen. Miß Mudd meinte, sie wisse wirklich nicht, ob sie ihm das sagen solle, eigentlich dürfe sie es ihm doch nicht sagen. Trotzdem dauerte es nicht lang, ihre Verschwiegenheit zu durchbrechen. Sie wurde sogar richtig geschwätzig und redelustig. Im wesentlichen sagte sie ihm das Folgende über die ›Geschichte der Oma‹: »Die Oma ist die letzte, die die alte Grizel Cramp zu Lebzeiten noch gekannt hat – die so lang hier Hebamme war. Weiß Gott, wie viele Kinder die hier auf die Welt bringen geholfen hat, aber die Großmutter sagt, einmal war es so, daß man um die Grizel hätte schicken müssen, und dann ist sie doch nicht geholt worden. Alte Leute reden ja viel, wenn der Tag lang ist, 242
und man darf nicht alles glauben, was sie sagen, aber, wenn der Herr schon fragt, die Oma behauptet, so war’s und nicht anders. Das sagt sie, und ihr Alter – ich meine, der Großvater –, der hier vierzig Jahre lang als Küster war, sagt auch, sie haben ihn ein Grab zu wenig schaufeln lassen, denn er hat immer die Gräber ausheben müssen. Ja, Sir, die Oma hat auch immer gesagt, auf dem alten Friedhof, da ist um ein Grab zu wenig. Ich behaupte nicht, daß etwas dran ist, Sir, verstehen Sie, aber wenn die alte Oma sich etwas einbildet, kann es ihr keiner mehr ausreden. Es ist schon lang her, es war in den achtziger Jahren, und sie war damals nichts als ein junges Ding, als das junge Mädchen ins Herrschaftshaus kam, angeblich hat sie Prew geheißen. Die Leute haben nur zwei Jahre da gewohnt, der Mann, die Frau und die einzige Tochter. Harte und strenge Leute waren sie, sagt die Großmutter – echte Puritanische. Sie haben nur das eine Kind gehabt, die Junge, und die Oma sagt immer, jeder hat sich nur wundern können, wie so ein Vater und so eine Mutter zu einer solchen Tochter gekommen sind. Das schönste Mädchen, das sie gesehen hat, sagt die Oma. Und riesengroß! Ein so großes Mädel hat sie ihrer Lebtage nicht gesehen! Die Prew-Leute haben mit keinem Menschen verkehrt, die sind unter sich geblieben. Kein Mensch hat sie näher gekannt. Und die Dienstboten durften kaum aus dem Haus. Einmal, im Spätsommer, haben alle Dienstboten auf einmal die Kündigung bekommen, sogar der Gärtner. Und im ganzen Dorf hat es geheißen, das junge Fräulein, Miß Prudence hieß sie, hat eine ansteckende Krankheit, darum sind alle entlassen worden, damit sie nicht angesteckt werden. Aber einen Doktor haben sie nicht geholt. Und einmal verläuft sich der kleine Kater von der Großmutter, drum geht sie durch das Tor in den Vorgarten, nachschauen, ob er sich nicht dorthin verirrt hat, und wie sie noch sucht, geht auf einmal das Haustor auf, und die Lange, Miß Prudence Prew, 243
schleicht sich aus dem Haus, als ob jemand hinter ihr drein wäre. Die Oma hat es genau gesehen. Die hat dreingeschaut – halb verrückt vor Angst! Ihr Gesicht war weiß wie ein Leintuch und geweint hat sie, zum Herzerweichen. Die Oma sagt, so was hat sie noch nicht erlebt. Und dann sieht sie die alte Prew oben aus dem Fenster schauen, und wie die ihre Tochter dort unten sieht und merkt, daß sie fort will, droht sie ihr mit der Faust. Und im nächsten Moment rennen sie und ihr Mann aus dem Haus und packen die Tochter und schleppen sie zurück ins Haus. Die Großmutter sagt, es war ein Jammer, wie sie sich gewehrt und geschrien hat, und die Hände gerungen hat sie auch. Sie hat keinen Ring am Finger gehabt, das arme Ding, aber die Großmutter sagt, sie hätte schon einen haben sollen; denn sie war soweit, es war höchste Zeit, die Grizel Cramp zu holen. Man hat ihr’s angesehen, und da ist ihr der hübsche junge Mensch eingefallen – die haben allerdings immer nur gesagt, dieser ›bettelarme Student‹ –, der im Sommer einmal kurz da war und gleich wieder weg, und dann ist ihr auch wieder eingefallen, daß sie ihn mit Miß Prudence einmal hat aus dem Wald kommen sehen. Aber die Prews, was glauben Sie, was das für Leute waren, Leute, die vor nichts zurückschrecken, bevor sie zugeben, daß jemand Schande über ihre Familie bringt. Die Oma hat es ihrer Mutter erzählt und ihre Mutter hat zu ihr gesagt, red keine Dummheiten und steck deine Nase nicht in Sachen, die dich nichts angehen. Nachher hat die Oma oft in den Garten geguckt, aber es war immer zugesperrt, und so hat sie nichts weiter gesehen, wenigstens ein paar Wochen lang. Und einmal am Abend faßt sie sich ein Herz und klettert einfach über das Schmiedeeisentor hinein und versteckt sich hinter einem Baum, ganz nah beim Haus. Und das hat sie dann öfter gemacht. Einmal steht sie so dort, da sieht sie die arme Prudence aus dem Fenster schauen mit einem 244
ganz blassen und verzerrten Gesicht – wie eine Wilde. Und wie sie die Oma sieht, reißt sie das Fenster auf und schreit: ›Hilfe! Hilfe! Hilf mir doch, hol mir die Grizel! Hol die Grizel!‹ Aber da sind gleich ihr Vater und ihre Mutter beim Fenster gewesen und haben sie weggezerrt. Und die Mutter mit ihrem grausamen und harten Gesicht hat rasch die Vorhänge heruntergezogen, und so hat die Oma nichts mehr gesehen. Sie hat es unbedingt der Grizel sagen wollen, daß nach ihr gerufen wird, aber ausgerechnet an dem Tag kriegt sie einen Ausschlag, und die Mutter steckt sie ins Bett mit den Masern. Sie hat sie sehr arg gehabt, und wie sie dann wieder aufstehen kann, hat sie gehört, ein paar Tage, nachdem sie krank geworden ist, sind die Prew-Leute mit einer Mietdroschke davongefahren und nie mehr zurückgekommen. Und als sie wegfuhren, waren die Vorhänge von der Droschke zu, damit keiner hineinsieht. Im Dorf hat es geheißen, Miß Prudence ist so entstellt von der Krankheit, darum wollen sie nicht haben, daß sie jemand sieht; aber die Oma sagt, sie ist todsicher, daß damals nicht mehr als zwei Leute in der Droschke waren, wie die weggefahren sind. Dann ist das Haus an Mr. Still verkauft worden, der die Frau so jung verloren hat. So was Trauriges! Und der arme junge Witwer! Er hat das Haus dann an die Gowans verkauft, und auch die ist gestorben, und nachher ist es jahrelang leer gestanden.« John dankte Miß Mudd für den ausführlichen Bericht, sagte jedoch, er glaube, die Großmutter habe die ganze Geschichte geträumt. Auf dem Heimweg kam er am Haus des Arztes vorbei, also betrat er es und fragte ihn, was man tun könne gegen Lauras schlechten Schlaf; nebenbei ließ er durchblicken, er habe soeben eine merkwürdige Sache gehört, die sein Haus betreffe. Der Arzt sagte, ja, er wisse, daß ein altes Weib im Dorf mit ihrer Geschichte hausieren gehe, er habe sich aber 245
nicht besonders dafür interessiert. Seiner Ansicht nach sei es aber trotzdem von Bedeutung, daß Mrs. Bryan, die anscheinend ohnedies mit den Nerven ziemlich herunter sei, keinerlei unangenehmen Klatsch zu hören bekomme. Es sei nicht ratsam, sie allein aus dem Haus gehen zu lassen. »Da Sie, Mr. Bryan, ja geschäftlich oft fortfahren müssen, mache ich Ihnen einen Vorschlag«, sagte der Arzt. »Ich weiß eine ausgezeichnete Pflegerin, die in sechs Wochen herkommen soll, doch jetzt schon zu haben wäre. Lassen Sie sie doch gleich kommen, damit sie ein wenig auf Ihre Frau aufpaßt.« Mit Freuden ging John auf den Vorschlag ein, obwohl er noch nicht wußte, was Laura dazu sagen würde. Doch sie hatte gar nichts dagegen, im Gegenteil – und das versetzte ihm einen Schlag –, sie schien geradezu erleichtert. Die neue Pflegeschwester war John und Laura vom ersten Blick an sympathisch. Ihr kluges, empfindsames Gesicht und ihre ruhige Stimme machten den besten Eindruck. »Es ist ein wahrer Segen, daß sie ganz anders aussieht, als ich mir die Grizel Cramp vorgestellt hatte!« rief Laura aus. Die Schwester konnte das schöne Haus nicht genug loben. »Was für eine Ausstrahlung es hat!« sagte sie bewundernd, und fügte hinzu: »Ich bin nämlich ein bißchen medial veranlagt.« Äußerungen dieser Art, die meist selbstgefällig gemacht werden, hatten John jederzeit gelangweilt, aber die Schwester sagte das mit so ungekünstelter Selbstverständlichkeit, daß sie ihm nur ein Lächeln entlockte. Zwei Tage nach ihrem Eintreffen mußte er geschäftlich nach London und wollte über nacht ausbleiben. Als er dann wieder vor seinem Haus vorfuhr, sah er befriedigt, daß der widerspenstige alte Gärtner sich nun doch bequemt hatte, Lauras versenkten Garten anzulegen – er hatte die Erdarbeiten bisher immer wieder aufgeschoben und behauptet, er fühle sich nicht wohl, und er habe die Gicht, oder der Grund hier sei viel zu hart. 246
Die Schwester kam John schon in der Halle entgegen und fragte, ob sie ihn sprechen könne. Sie fürchte zwar, er werde sie sehr dumm finden, da sie aber etwas medial sei, wisse sie genau, wie bedeutsam es sei, daß eine Patientin nicht in einem Raum mit unguter Ausstrahlung wohne. Sie habe sich jede Mühe gegeben, sich daran zu gewöhnen, vergeblich, Mrs. Bryans Schlafzimmer sei ein ungutes Zimmer. Sie habe es gleich gespürt und nur nichts sagen wollen. Jetzt sei etwas eingetreten, das ihr Gefühl bestätige. Da die Patientin von schlimmen Träumen geplagt sei, habe sie es besser gefunden, sie nachts nicht allein zu lassen, und sich daher erlaubt, in seiner Abwesenheit das zweite Bett zu benützen. Und sie habe ihr Leben lang noch keinen so grauenhaften Alptraum gehabt wie in dieser Nacht – noch dazu einen außerordentlich lebhaften Traum. Sie könne ihn beim besten Willen nicht mehr aus dem Kopf bringen. Was sie aber geträumt hatte, war: Die Tür zum Schlafzimmer, zu Mrs. Bryans Schlafzimmer, sei aufgesprungen und ein Mann und eine Frau hätten eine ungewöhnlich große junge Frau in einem blauen Kittelkleid hereingezerrt. Die Junge habe sich mit der Kraft der Verzweiflung losreißen wollen und versucht, die Tür zu erreichen. Aber der Mann habe sie brutal zu Boden geworfen und niedergehalten, bis die Frau den Schlüssel innen abgezogen hatte. Ehe das halb betäubte Mädchen wieder auf die Beine kam, seien sie draußen gewesen und hätten die Tür zugeschlagen. Das bejammernswerte Mädchen sei endlich aufgestanden und zur Tür gewankt, aber die war bereits zugesperrt. Man habe ihr eindeutig angesehen, daß sie dringend Hilfe brauchte. Halb wahnsinnig vor Schmerzen und Angst sei sie gewesen. Die armen, ringlosen Hände hätten verzweifelt an dem zugenagelten Fensterladen gezerrt. Sie habe geschrien, um Hilfe geschrien, dann sei sie hingefallen und habe sich auf dem Boden gekrümmt. Und dann war sie aufgewacht … »Das war ein entsetzlicher Traum, Mr. Bryan. Aber ich hätte trotzdem nicht daran 247
gedacht, Sie damit zu behelligen, wäre nicht noch etwas dazugekommen.« »Und zwar, Schwester?« »Da Sie und der Herr Doktor mir gesagt hatten, die Patientin werde von einem Angsttraum geplagt, habe ich ihn ihr herausgelockt. Sie wollte ihn zwar nicht genau erzählen – es fiel ihr sichtlich schwer, alles zu sagen –, aber den Rest konnte ich mir zusammenreimen, Mr. Bryan, und er gefiel mir ganz und gar nicht.« »Und was war es, Schwester, erzählen Sie doch.« »Daß sie genau dasselbe geträumt hat, und zwar mehr als einmal, das von der übergroßen jungen Frau im blauen Umstandskleid. Sie wollte mir nicht sagen, was mit dem Mädchen los war, sondern nur, es sei in der größten Not gewesen.« Das genügte. Laura mußte weg von hier, und zwar gleich! Das Baby sollte anderswo zur Welt gebracht werden. Er eilte zum Arzt. Der telefonierte mit einem Entbindungsheim und ließ noch für denselben Abend ein Zimmer reservieren. John zerriß es förmlich das Herz, als er sah, mit welcher Erleichterung seine Laura von dieser Anordnung erfuhr. So beschlossen sie, daß er sie gleich nach dem Abendessen, zusammen mit der Schwester, in das Heim fahren sollte. Um die zwei Stunden bis dahin irgendwie hinzubringen, machte er einen Spaziergang. Jetzt erst merkte er, wie erleichtert er selber war. Anscheinend hatte die Angelegenheit – Lauras immer wiederkehrender Traum, der Name Prudence auf der Fensterscheibe, Tibby Mudds verworrene Anspielungen – seine Nerven schon lange Zeit hindurch mehr belastet, als er sich eingestehen wollte. Er hatte schon angefangen, die Schönheit dieses Herrenhauses zu verabscheuen und sehnte sich danach, Laura in der unpersönlichen, alltäglichen Atmosphäre eines Entbindungsheims in Sicherheit zu wissen. Eigentlich waren, sagte er sich nun, alte Häuser immer auf irgendeine Weise bedrückend, 248
so schön sie aussahen. Sie waren wohl doch zu sehr von vergangenen Ereignissen befleckt, notgedrungen meist von solchen tragischer Natur. Er würde seiner Laura ein neues Haus bauen, auf das sie beide ihre glückliche Atmosphäre übertragen konnten. Seit die ungewisse Bedrohung weg war, war ihm eine Bürde von der Seele gefallen, er fühlte sich geradezu wie neu geboren. Der lange rasche Gang durch die feuchten Wiesen gewährte ihm ein lebhaftes Vergnügen, und als er wieder auf den Garten zuging, begann er sogar laut zu singen, als er unter Lauras offenstehendem Fenster vorüberkam: »Wer ist Lau-ri-a? Wer ist sie? Daß all unsre Schwäne herschwimmen …« Doch das Lied erstarb ihm auf den Lippen, als er den Wagen des Arztes vor dem Tor stehen sah. Wozu brauchte man jetzt den Doktor? Mit vier langen Schritten stand John schon auf der obersten Treppenstufe und platzte mitten in die allgemeine Aufregung und Hast hinein, die einen Beigeschmack von freudigem Ereignis an sich hatte, wenn es auch ein wenig zu früh eingetreten war. Hinaufgerollte Hemdsärmel, siedende Heißwassertöpfe. Dienstboten, die in freudiger Erregung hin und her flitzten. Der Arzt kam ihm auf dem Treppenabsatz entgegen. »Die Natur hat uns einen Streich gespielt«, sagte er. »Gleich sind Sie Papa.« »Kann man sie denn nicht mit dem Rettungswagen in das Entbindungsheim schaffen?« fragte John. »Unmöglich«, sagte der Arzt. »Es ging zu rasch. Das Baby hatte es zu eilig, zur Welt zu kommen. In ein bis zwei Stunden kann es da sein. Tut mir leid. Aber, Hauptsache, es ist da – wozu sich noch länger Sorgen machen?« Er sagte noch, alles laufe gänzlich programmgemäß ab, Mrs. Bryan sei ein Muster von 249
einer Patientin, und eine bessere Schwester hätte man gar nicht finden können; er werde das Haus nicht verlassen, ehe alles gut vorübergegangen sei. Mr. Bryan dürfe hinaufgehen und seine Frau besuchen. John sah eine verwandelte Laura vor sich. Rosig im Gesicht, mit glänzenden Augen, lachte sie ihn triumphierend und strahlend an. Dann ballte sie die Fäuste und ihr Gesicht verzerrte sich. Die Schwester hielt nichts davon, »daß der Ehemann dabei im Weg steht«, sie schob John kurzerhand aus dem Zimmer. Er brauche sich keine Sorgen mehr zu machen wegen der Ausstrahlung, flüsterte sie ihm an der Tür noch rasch zu, die Patientin denke nicht einmal mehr daran, für sie existiere die Vergangenheit nicht mehr. Sie denke nur noch an die Zukunft und an das zu erwartende Kind, außer wenn sie von den Wehen in die Gegenwart zurückgerissen werde. Unten versicherte ihm der Arzt nochmals, er brauche keine Angst zu haben, daß seine Gattin sich aufregen könne. Er werde ihr bald eine Dosis Chloroform verabreichen, bis alles vorbei sei. Während der Arzt noch sprach, rief ihn die Schwester hinauf. John stürmte aus dem Haus und lief auf dem Rasen davor aufgeregt hin und her. Der alte Gärtner, der keine Ahnung hatte, was im Haus vorging, kam schlotternd auf ihn zu. »Bitte, Sir, ich muß Ihnen etwas sagen!« John war wie im Traum und hörte nur mit halber Aufmerksamkeit auf das Gemurmel des Alten hin. Er und der Gärtnerjunge hätten die Erde ausgehoben, um den versenkten Garten anzulegen, den die Dame unbedingt haben wollte, und auf einmal seien sie mit den Spaten auf etwas Hartes gestoßen. Und, wer hätte das für möglich gehalten? Sie hätten zwei menschliche Skelette gefunden, eins davon wahnsinnig lang, das andere ganz winzig – es konnte nur von einem ganz kleinen Kind stammen. Ob Mr. Bryan nicht mitkommen und sich’s ansehen und ihnen dann sagen wolle, was sie damit tun sollten? 250
John antwortete, man müsse natürlich die Polizei verständigen. Er wolle sich’s aber später erst ansehen, jetzt habe er keine Zeit. In der Absicht, nochmals einen Blick auf Laura zu werfen, ging er die Treppe hinauf und spähte in das Zimmer. Bleich wie das Kissen lag Laura da und schien zu schlafen. Sie war nicht bei sich. Der Arzt nickte John ermutigend zu. Die Schwester schob ihn hinaus. Gegen sieben Uhr wurde sein Sohn geboren. Alles ging vollkommen normal vor sich. Erst als die Mutter das Bewußtsein wiedererlangte, geschah das Unglück. Laura kam zu sich und fuhr in wilder Angst im Bett hoch. Sie stieß die Schwester beiseite, die sofort hingelaufen war, um ihr zu helfen, und zeigte auf den Fußboden. »Helfen Sie ihr!« schrie sie. »Mir geht es gut. Helfen Sie doch ihr! Rasch! Rasch! Rasch!« Der Arzt und die Schwester taten, was sie konnten, um die junge Mutter zu beruhigen. Sie drückten sie gewaltsam in die Kissen zurück, doch alles verfehlte seine Wirkung. Sie rang mit ihnen, soweit sie in ihrem Zustand dazu noch imstande war, und sie brauchten alle Kräfte, um sie überhaupt im Bett zu halten, konnten aber nicht hindern, daß sie sich wehrte und wehrte und unbedingt herausspringen wollte – und dabei überanstrengte sie sich entsetzlich. Ehe das erschöpfte Herz aussetzte, schrie sie laut auf, mit einer Stimme, die fremd klang – einer gepeinigten, verzweifelten Stimme: »Helft mir! Helft mir doch! Um Gottes willen, helft mir! Holt die Grizel! Holt die Grizel!« Nun wird mich der Leser fragen, woher mein alter Herr so genau unterrichtet war über gewisse Einzelheiten, die ich erzählt habe, etwa, was zwischen den beiden jungen Ehegatten gesprochen wurde. Diese Frage habe ich mir selbst vorgelegt, und – vielleicht war es sehr begriffsstutzig von mir – erst ganz kurz, ehe die Geschichte zu Ende war, ist mir endlich klargeworden, daß der 251
alte Herr, dem ich zuhörte, vor sehr langer Zeit jener junge Eigentümer des Landsitzes Greystock Manor gewesen war.
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Wie Pupenec zu seinem Glück kam von Karel Michal Der 1932 in Prag geborene Karel Michal schreibt Spukgeschichten aus unserer Zeit, die in grotesker Weise zugleich natürlich und unwirklich sind. Seine ›Gespenster für den Alltag‹, in der CSSR außerordentlich erfolgreich, sind in mehrere Sprachen übersetzt worden und haben Michal auch in Deutschland bekannt gemacht. ——————
Burgverwalter Pupenec lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Pfeiler des Kreuzgangs und suchte in seiner Tasche nach einer Zigarette. Die ersten drei Streichhölzer zerbrachen in seinen zitternden Fingern. Mit dem vierten gelang es ihm endlich, die Zigarette anzuzünden. Er machte ein paar Züge, dann hatte er sich wieder soweit gefaßt, seinen Hut vom Boden aufheben und aufsetzen zu können, denn im Kreuzgang zog es. Nur sehr langsam erholte er sich von seinem Schrecken. Noch allzu stark stand er unter dem Eindruck der Erscheinung der Weißen Frau, die vor kaum drei Minuten an ihm vorübergegangen war. Als er aus der Biegung des Kreuzgangs herausgekommen war, sah er sich ihr auf wenige Schritte gegenüber, so daß ihm kaum Zeit geblieben war, auszuweichen und den Hut zu ziehen. Wortlos war sie an ihm vorübergeschritten, ihr langes Gewand schleifte hinter ihr über die Fliesen, und der Verwalter hatte noch ihre vornehme, freundliche Geste wahrnehmen können, mit der sie ihm für seinen Gruß dankte, ehe sie hinter dem Eckpfeiler verschwand. Sie war es, daran bestand kein Zweifel. Das Mondlicht drang hell in die Arkaden des Kreuzgangs und hatte ihn ganz deutlich 253
jede Falte ihres Gewandes, den Schlüsselbund an ihrem Gürtel, selbst den Schleier, der unter ihrem lieblichen, kreidebleichen Gesicht gebunden war, erkennen lassen. Und gerade die Lieblichkeit und Würde ihrer Erscheinung hatten Pupenec in seiner ersten Gemütsregung dazu gezwungen, seinen Hut zu ziehen. Es war das erstemal, daß er die Weiße Frau erblickte. Pupenec war zwar schon seit fünf Jahren Verwalter auf Saratice und wußte, daß sich dort die Weiße Frau zeigen soll, doch glaubte er einesteils nicht an sie, da er überzeugter Realist war, andernteils war er bisher während einer Vollmondnacht noch nie in den Kreuzgang gekommen. Was hätte er denn auch dort tun sollen. Bis vor kurzem hatte er in einem kleinen Haus auf dem Burgvorhof gewohnt und war erst vor drei Wochen in die freigewordenen Räume im ersten Stock des Hauptgebäudes gezogen, denn in dem ebenerdig gelegenen Häuschen ließ es sich der Feuchtigkeit wegen nicht mehr aushalten. Und so kam es auch, daß er in dieser Vollmondnacht durch den Kreuzgang ging, weil das Klosett nicht mehr wie bisher neben seiner Wohnung gelegen war und er nachts nicht durch das Hauptgebäude laufen mußte. Nicht, daß er sich etwa gefürchtet hätte, denn wer an solche Dinge nicht glaubt, fürchtet sich verständlicherweise auch nicht vor ihnen, und zudem war die Weiße Frau auch keine gefürchtete Erscheinung, doch als anständiger Mensch blieb er nachts halt immer zu Hause. In der Burg mußte er tagsüber wegen der Führungen ohnedies mehr herumlaufen, als ihm lieb war. In dieser Nacht hatte er den Weg durch den Kreuzgang genommen, um nicht über den ganzen Hof zu dem Bretterhäuschen gehen zu müssen, und so war es eben geschehen. Der glückliche Zufall, der ihm die Erscheinung erst auf seinem Rückweg begegnen ließ, war ihm in diesem Augenblick noch gar nicht zu Bewußtsein gekommen. Verstört sah er auf die grauen Steine der gegenüberliegenden Wand, bis ihm die 254
Glut der Zigarette fast seine Finger verbrannte. Da fuhr er zusammen, schüttelte den Kopf und begab sich in seine Wohnung. Das Ganze kam ihm völlig absurd vor. Noch vor zehn Minuten war er doch oben in der Küche gesessen und hatte in der Lehrerzeitung gelesen. Verwalter Pupenec war eigentlich Lehrer von Beruf. Fast zwanzig Jahre hatte er unten im Dorf unterrichtet, und wenn auch sein leicht zweideutiger Familienname* und seine kleine Statur ihn schließlich dazu bewogen, das Unterrichten aufzugeben, so blieb er seinem Beruf wenigstens durch Lektüre der Fachpresse weiter verbunden. Im Vorzimmer seiner Wohnung hängte er seinen Hut an den Haken, ging ins Schlafzimmer und weckte seine Frau. »Du Maria, ich habe die Weiße Frau gesehen!« »Schon recht, mein Lieber«, beruhigte ihn die Ehefrau, »nun geh’ schon zu Bett!« Sie war eine vernünftige Frau. Begreiflicherweise glaubte sie, daß ihr Mann in der Burgwirtschaft einen über den Durst getrunken hatte, wenn es auch sonst nicht seine Gewohnheit war, und ihre Klugheit bewahrte sie davor, mit einem Betrunkenen einen Streit zu beginnen. »Aber ich habe sie wirklich gesehen«, sagte Pupenec hartnäckig, »unten im Kreuzgang!« »Ja gewiß, du hast schon recht«, sagte seine Ehefrau in freundlicher Zustimmung und wühlte ihren Kopf voller Lockenwickler tiefer in die Kissen, »aber geh’ jetzt endlich schlafen, morgen erzählst du mir das alles genau.« Am nächsten Morgen erwachte der Verwalter mit dem Gefühl, daß sich am Tage zuvor etwas Ungewöhnliches ereignet hatte. Ein solches Gefühl am frühen Morgen ist äußerst unangenehm, und als dem Verwalter einfiel, was eigentlich gesche*
Pupenec = Knospe, Wimmerl (Akne)
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hen war, fühlte er sich noch schlechter. Seine Frau bewahrte absolutes Stillschweigen über das gestrige Gespräch und setzte ihm zum Frühstück rücksichtsvoll, statt weißem, schwarzen Kaffee vor. Ihr war die Situation klar. Eine weitere, wertvolle Erfahrung, durch Generationen ihrer Familie weitergegeben, hatte sie nämlich gelehrt, daß die Wohnung beschädigt werden könnte, wenn man dem Mann unter ganz bestimmten Umständen weißen Kaffee zum Frühstück gibt. Schweigsam frühstückte Pupenec, und da heute keine Führungen stattfanden, nahm er danach die Chronik zur Hand, um über die Saraticer Erscheinungen nachzulesen. Wenn er auch schon alles, was darin stand, beinahe auswendig wußte, so wollte er doch sicherheitshalber nochmals die Stelle nachlesen, wo gesagt wird, daß schon seit Menschengedenken in der Burg Saratice während der Vollmondnächte im Kreuzgang zwischen dem Haupttreppenaufgang und der früheren Kapelle die Weiße Frau wandeln soll. Angeblich ist die Erscheinung nicht bösartig, sie danke freundlich für jeden Gruß, und nur wenn sie absichtlich beleidigt würde, soll sie zischen und spucken, was jedoch nicht glaubhaft bestätigt werden kann. Der Chronik zufolge wurde die Weiße Frau zum letztenmal im Jahre 1869 gesehen, denn kurz danach verfiel die Burg, und später hauste dort nur ein dem Trunk ergebener Förster, den niemand ernst nahm. An den nicht weniger originellen Nachfolger des alten Försters konnte sich Pupenec noch gut erinnern. Denn damals machte er noch nebenberuflich die Führungen durch die Burg, und dieser Förster drohte ihm, zu schießen und die Hunde auf ihn zu hetzen, doch von Erscheinungen war niemals die Rede. Andere Fakten konnte der Verwalter weder in der Chronik noch in seiner Erinnerung finden. Die Burg Saratice war erst fünf Jahre zuvor wieder restauriert worden, und Pupenec hatte man dort als Verwalter eingesetzt, während der Förster in den wohlverdienten Ruhestand ging. 256
Der Verwalter setzte sich im Burghof auf die Bank unter der jahrhundertealten Linde, zündete sich eine Zigarette an, grübelte nach und spuckte gelegentlich aus. Er machte eine Krise durch. Verwalter Pupenec war mit Leib und Seele Empiriker, einer jener Fanatiker konkreter Erkenntnisse, den nichts überzeugt, was er nicht selbst gesehen oder kennengelernt hat oder was nicht von wirklich sachverständigen Autoritäten gesehen oder anerkannt worden ist. Was er nicht überprüfen konnte, hielt er teils für Obskurantismus, teils für Folklore, je nachdem, worum es gerade ging. Und eben deshalb war er nicht geneigt, die Dinge leicht zu nehmen. Das langjährige, autoritäre Predigen der elementaren Erkenntnisse entwickelt nämlich im Lehrerberuf zwei Grenztypen. Der eine Typ, der schlechthin alles ernst nimmt, und der zweite, der überhaupt nichts ernst nimmt. Pupenec gehörte ausnahmslos zum ersten Typ. Aus diesem Grunde hatte er es schwer, da sich die Leute über ihn lustig machten. Diejenigen, die schulpflichtige Kinder hatten, machten sich allerdings nur heimlich über ihn lustig. Wer sich aber über Pupenec nicht lustig machte, war seine Frau. Zu Beginn ihrer Ehe deshalb, weil es ihr eher traurig erschien, und später einfach deshalb, weil sie schon an ihn gewöhnt war. Da sie ihn gern hatte, hegte sie vor ihm keine allzu große Ehrfurcht. Sie ging von der Voraussetzung aus, daß jeder Mann spinnt, nur nicht in gleichem Maße, und war ursprünglich der Meinung, daß es letzten Endes weniger riskant sei, die Wahrheit zu sagen, als Karten zu spielen. Im Verlauf ihrer Ehe erkannte sie zwar, daß es gerade umgekehrt ist, da Pupenec aber zum Kartenspielen kein Talent zeigte, gab sie sich damit zufrieden, ihn ein wenig zu bremsen, so oft er zu viel daherredete und sich zu wenig um das tägliche Brot kümmerte. Von dem Zeitpunkt an, da er Burgverwalter geworden war, hatte sie sich einigermaßen beruhigt. Sie war der Meinung, daß er in dieser Stellung sowieso nicht allzu viel Schaden anrichten könne. Sie 257
verließ sich auf die Vertrautheit mit den Menschen ihres Heimatorts. So oft der Herr Kaplan früher gegen den Atheisten Pupenic gewettert hatte, verlachten die Einwohner Pupenec ebenso wie den Herrn Kaplan, doch schließlich zuckten sie die Achseln, sagten, daß Marena eine gute Haut sei, daß sie nur kein Glück gehabt habe, und widmeten sich wieder friedlich ihrer Schweinezucht. Diejenigen, die Schweine hielten, waren nämlich überzeugt, daß sie die Schweinezucht ernähre, die Wahrheit dagegen nicht, und die anderen wurden erst gar nicht gefragt. Pupenec saß unter der Linde, spuckte ab und zu aus und schüttelte den Kopf. Später begann er sogar vor sich hinzureden. Er wußte weder aus noch ein. Die Weiße Frau kann doch nicht existieren, die Wissenschaft schließt das aus. Und die Wissenschaft schätzte Pupenec über alles, doch was er selbst gesehen hatte, daran war nicht zu rütteln. Nur mit Widerwillen entschloß er sich zu der Kompromißlösung, daß er das Opfer einer optischen Täuschung geworden war. Das Gefühl, zu sich selbst nicht ehrlich zu sein, quälte ihn vier Wochen lang. Bis zur nächsten Vollmondnacht. Seine Frau beobachtete ihn besorgt, da er wenig aß und viel grübelte, und sie fürchtete sich davor, was er wieder im Schilde führe. In der nächsten Vollmondnacht blieb der Himmel bewölkt und Pupenec stand im Kreuzgang und befürchtete, seine Untersuchung könnte mißlingen. Nach der elften Stunde aber riß die Wolkendecke auf. Der Vollmond kam allmählich zum Vorschein und leuchtete hell, als die weiße Erscheinung den Gang entlangschritt. Der Verwalter trat hinter der Säule hervor, und aus einer Entfernung von kaum drei Metern stieß er mit einer gewissen Überwindung das Konzentrat seiner historisch-folkloristischen Forschungsarbeit hervor: »Du zehnfache Erzhure!« 258
Im Gesicht der Weißen Frau zeigte sich schmerzliches Erstaunen. »Du ungewaschener, abgegriffener Besen!« fuhr der Verwalter zu schimpfen fort im Bewußtsein, daß für die Wissenschaft und die Notwendigkeit der Wahrheitsfindung jedes Mittel erlaubt und kein Opfer zu groß sei. Ein wütendes Zischen hallte vom Gewölbe wider. Die Dame verzog den Mund wie zum Weinen, und auf einmal spürte Pupenec auf seiner Wange Speichel aufklatschen. Als die Erscheinung mit raschen Schritten um die Ecke verschwunden war, wischte sich der Verwalter die Wange ab, doch fühlte er keine Feuchtigkeit auf seiner Hand. Er war zufrieden. Am Abend des nächsten Tages setzte sich Pupenec im Rittersaal an den runden Eichentisch, an dem seinerzeit der marastische Förster seine Jagdhunde bewirtet hatte, schüttelte seine Füllfeder und schrieb, zuerst im Konzept, dann in Reinschrift, einen Bericht an das Kultusministerium, Abteilung für Denkmalspflege. Er berichtete, was er gesehen hatte, betonte den Widerspruch zwischen dem Gesehenen und seiner eigenen Weltanschauung, schloß mit dem Gruß Heil dem Frieden und unterschrieb als Jindrich Pupenec, Verwalter der Staatlichen Burg Saratice. Er hatte nun das Gefühl, der Wahrheit Genugtuung geleistet zu haben. Den Brief schickte er eingeschrieben ab. Der Brief war angekommen. Man entsandte darauf eine Kommission, bestehend aus Doktor Tomecek und Doktor Boukal, auf die Burg Saratice. Die Kommission war recht verschieden zusammengesetzt: Dr. Tomecek war dick, Dr. Boukal mager, und soweit sich Charaktereigenschaften ebenso summarisch wie die körperlichen bewerten lassen, war Dr. Boukal ein guter Mensch, während Dr. Tomecek böse war. Das nahm ihm jedoch nicht den Appetit zum Essen, denn er war sich dessen nicht bewußt. Dr. Tomecek war seines Zeichens Kunsthistoriker, Dr. Boukal Psychiater. 259
Beide trafen um die Mittagszeit in Saratice ein und gingen unverzüglich an die Arbeit, jeder in seinem Bereich. Dr. Tomecek erkundigte sich, ob die Erscheinung den Schleier unter dem Kinn gebunden oder mit einer Spange befestigt hatte, während Dr. Boukal wissen wollte, ob der Verwalter in seiner Jugend nicht einen Unfall erlitten habe, und ob ein Kilogramm Kupfer schwerer sei als ein Kilogramm Bettfedern. Diese Fragen, wie noch viele weitere, beantwortete Verwalter Pupenec zufriedenstellend, und aus lauter Eifer nannte er bei Kupfer noch das spezifische Gewicht, das Dr. Boukal gar nicht kannte und deshalb verlegen wurde. Dr. Tomecek machte sich Notizen, Dr. Boukal machte sich keine. Er hatte die Hände nicht frei, da er den Schädel von Pupenec abtastete. Nach Beendigung dieses Gesprächs forderte der Verwalter die Herren auf, mit ihm in den Kreuzgang zu gehen und sich mit eigenen Augen von der Erscheinung zu überzeugen, denn eine Vollmondnacht stand bevor. Dr. Tomecek folgte der Aufforderung, da er die Pflichterfüllung schätzte. Dr. Boukal lehnte ab. Zwar schätzte auch er die Pflichterfüllung, doch hatte er seine eigene Meinung, und zudem schlief er gern. Die Nacht war kühl. Pupenec trug einen Lodenmantel, Dr. Tomecek hatte sich in eine Decke gehüllt, da er in die Kleidung des Verwalters nicht hineinpaßte. Es war kurz vor Mitternacht, als die Weiße Frau hinter der Biegung des Kreuzgangs hervortrat. Dr. Tomecek nahm sein Notizbuch heraus, während Pupenec den Hut zog, denn er schämte sich doch ein wenig seines vorausgegangenen Exzesses, den sein Verlangen nach der Wahrheit hervorgerufen hatte. Die Weiße Frau dankte für seinen Gruß mit einem freundlichen Nicken, zum Zeichen, daß sie gegen den Verleumder keinen Zorn mehr hegte, ging ihres Weges und verschwand. »Haben Sie gesehen?« fragte Verwalter Pupenec. Er hatte keineswegs ein Gefühl der Genugtuung. Er wollte ja weder je260
manden überzeugen noch dabei etwas gewinnen, er verlangte nur eine Bestätigung des Gesehenen. »Darüber sprechen wir noch«, erwiderte Dr. Tomecek ausweichend. Er liebte es nicht, klare Antworten zu geben, solange er sich selbst nicht im klaren war. Am folgenden Tag reiste die Kommission ab, ohne dem Verwalter einen abschließenden Bescheid zu geben. Während der Reise nach Prag wurde von der Weißen Frau nicht gesprochen und nach der Ankunft schrieb Dr. Boukal ein Gutachten, in dem er feststellte daß er Verwalter Pupenec, unabhängig von dem ihm vorliegenden Schreiben, weder als geistesverwirrt noch als idiotisch erkannt habe, und vergaß danach die ganze Angelegenheit, da er damit hinreichend seine Pflicht erfüllt hatte. Dr. Tomecek dagegen schrieb kein Gutachten. Er hielt das nicht für ratsam. Statt dessen lockerte er seine Krawatte, um zu betonen, daß er vom Außendienst komme, und suchte den Genossen Vorstand auf. Er klopfte an und trat mit einer Verbeugung ein. Etwas Ehrerbietung schadet nie. »Was gibts Schönes, Genosse?« »Genosse«, erwiderte Dr. Tomecek, »ich war also in diesem Saratice, wie du mir aufgetragen hattest.«. »Nun gut, das ist schön. Und was hast du dort herausbekommen?« »Ja, das ist eine schwierige Sache.« »Was denn für eine schwierige Sache«, sagte der Genosse Vorstand, »falls dieser Pupenec verrückt ist, lassen wir ihn heilen. Verrückt zu sein ist doch keine Schande.« »Richtig, das nenne ich eine menschliche Einstellung«, sagte der Kunsthistoriker Dr. Tomecek. »Na und? Was hast du dort gesehen, so erzähl doch!« »Ob Pupenec verrückt ist oder nicht«, sagte vorsichtig Dr. Tomecek, »davon hat sich gewiß der Psychiater überzeugen können. Ich bin nicht kompetent, um so etwas festzustellen.« 261
Der mächtige Mann sah die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch. »Der Psychiater schreibt hier, daß Pupenec nicht verrückt ist. Aber was sagst du? Du warst doch auch dort, du mußt doch irgendeinen Eindruck gewonnen haben, nicht?« »Nun ja«, brachte Dr. Tomecek mit Mühe hervor, »es war nämlich so, das heißt, ich war mit ihm in der Nacht in diesem Kreuzgang, also … weil er … nicht wahr …« »Nun, so hast du also die Weiße Frau gesehen, oder warum drückst du dich so verquält aus?« Dr. Tomecek geriet in größte Verlegenheit. Was er gesehen hatte, hatte er schließlich gesehen. Wenn er auch glaubte, es wäre besser gewesen, er hätte nichts gesehen, konnte er es doch nicht leugnen. Er war zwar feige, aber außerdem war er auch Wissenschaftler. Nun bedauerte er es sehr, daß er sich nicht krank gemeldet hatte. »Etwas Derartiges habe ich gesehen«, gab er widerwillig zu. »Was soll das heißen, etwas Derartiges? Hast du nun die Weiße Frau gesehen oder nicht?« »So ähnlich hat es ausgesehn, aber daß es …« »Warst du nicht vielleicht besoffen?« »Ich trinke doch nicht«, sagte Dr. Tomecek voll Würde und ekelte damit den Genossen Vorstand noch mehr an, denn der mächtige Mann konnte Heuchler nicht leiden. Dr. Tomecek war ihm seit jeher zuwider, aber er ließ ihn nicht fallen, da er ihn für einen Fachmann hielt. »Du warst also nicht besoffen«, sagte er und zog die Stirn kraus, »und Pupenec ist nicht verrückt. Und beide habt ihr die Weiße Frau gesehen. War denn dieser Psychiater nicht mit dabei?« »Er war schlafen gegangen«, sagte Dr. Tomecek in klagendem Ton und hoffte einen Augenblick, sein Vorgesetzter würde sich über den Psychiater ärgern und ihn dafür in Ruhe lassen. 262
Doch seine Hoffnung wurde sogleich wieder zunichte gemacht. »Nun«, sagte der Vorstand, »dann bin eben ich verrückt. Wie hat es denn ausgesehen, das dort?« Doktor Tomecek begann eilends zu erklären, daß die Erscheinung ihrer Tracht nach auf eine verheiratete Frau aus dem Adels- oder Ritterstand schließen lasse, etwa aus der Zeit zwischen 1380 und 1420, und begründete und schilderte alles sehr ausführlich und erfreut, denn in seinem Fachgebiet fühlte er sich bei weitem sicherer als auf dem glatten Boden von Weltanschauungen. Der Genosse Vorstand hörte ihm widerwillig doch geduldig zu. Nach ungefähr zwanzig Minuten, als Dr. Tomecek den Besatz des Obergewands zu beschreiben begann, unterbrach er schließlich den Vortragenden mit der Frage: »Nun ja, gewiß! Aber um was, meinst du, kann es sich bei diesem Spuk handeln?« Diese Frage hatte Dr. Tomacek von Anfang an gefürchtet, denn er ahnte, daß sie kommen würde. »Also ich als Kunsthistoriker …«, versuchte er sich herauszureden. »Aber nein«, jammerte der Genosse Vorstand, »ich will nur wissen, was das deiner Meinung nach war. War das ein Schwindel, oder war es kein Schwindel, oder was war es eigentlich?« Dr. Tomecek gab zwar zu, daß er nicht vermute, es handle sich hier um einen Schwindel, weil das technisch schwer durchzuführen wäre, noch deutete er die Möglichkeit einer Massensuggestion an. Diese Möglichkeit mußte er aber unmittelbar darauf wieder in Abrede stellen. Selbst wenn Pupenec oder ein anderer ihm etwas suggerieren wollte, könnte niemand ihn dazu zwingen, etwas zu sehen oder sich vorzustellen, welches der andere gar nicht wissen kann, da er kein Fachmann ist wie er, Dr. Tomecek. Außerdem war klar, daß Pupenec schließlich nicht das geringste Interesse an diesem Übelstand in dem ihm anvertrauten Objekt haben könnte. 263
»Also, du hattest den Eindruck, als wäre es tatsächlich diese Weiße Frau?« Dr. Tomecek zuckte die Achseln und sagte bedächtig, daß er schwer darüber entscheiden könne, da er ja nicht die Möglichkeit habe mit anderen Erscheinungen ähnlicher Art Vergleiche anzustellen, und er sich auch deshalb schwer zu einer Meinung durchringen könne, da er eine andere Weiße Frau in seiner langen Praxis noch nie gesehen habe. »Aber die Weiße Frau kann doch gar nicht existieren«, sagte der Genosse Vorstand stöhnend, »weißt du denn das nicht?« »Gewiß«, versicherte nun eifrig Dr. Tomecek, »so etwas ist natürlich ganz undenkbar!« »Na siehst du«, sagte befriedigt derGenosse Vorstand, »du weißt es selbst nur zu gut und erzählst mir hier solchen Blödsinn. Wir müssen nun weitere Schritte unternehmen, dabei kann es ja schließlich nicht bleiben. Was also schlägst du vor?« Dr. Tomecek atmete erleichtert auf. Er hatte das Gefühl, die unmittelbare Gefahr sei nun vorüber. Damit nicht er für alles geradezustehen hatte, empfahl er, eine größere Kommission nach Saratice zu entsenden, die die ganze Angelegenheit im Detail untersuchen und an Ort und Stelle Blitzlichtaufnahmen machen sollte, um objektiv die Gestalt dieser Erscheinung festzuhalten. Sein Vorschlag fand aber keine Zustimmung. Dr. Tomecek schien heute kein Glück zu haben. »Das fehlte gerade noch«, sagte der Genosse Vorstand ärgerlich. »Eine Kommission zur Erforschung von Gespenstern! Mensch, wie willst du denn etwas erforschen, von dem du von vornherein weißt, daß es nicht existiert? Wenn sie dort nichts finden, wird es eine schreckliche Blamage, weil man uns dann vorhalten kann, daß wir es logischerweise hätten voraussehen und einen verantwortlichen Standpunkt einnehmen müssen, und wenn sie dort doch etwas finden sollten, das dann in entstellter Form an die Öffentlichkeit dringt, so wäre das ebenso schlimm. 264
Glaubst du denn, wir wollen aus Saratice einen Wallfahrtsort machen? Schon eine weitere Untersuchung würde die Gefahr mit sich bringen, daß dort die Betweiber aus dem ganzen Kreis zusammenlaufen. Du bist wohl verrückt geworden? Mach’ gefälligst einen anderen Vorschlag! Aber einen vernünftigen!« Dr. Tomecek fiel momentan kein vernünftiger Vorschlag ein. Wie er über die Ursache all dieser Unannehmlichkeiten nachdachte, drängte sich ihm der Gedanke auf, daß diese ganze verdammte Angelegenheit eigentlich nur der wißbegierige Pupenec angezettelt hatte, und daß er auch auslöffeln sollte, was er anderen eingebrockt hatte. Er setzte die Miene eines Mannes auf, der kompromißlos für seine Ideale kämpft. »Pupenec«, sagte er mit scharfer Stimme, »spricht in seinem Brief von der Erscheinung wie von einer Tatsache, und das kennzeichnet seine Einstellung zur Genüge. Mit seinem Gerede, er sei sich völlig der Konsequenzen bewußt und so weiter, versucht er doch nur, uns zum Narren zu halten. Und was auch immer seine Beweggründe sein mögen, für die sich im übrigen andere Instanzen interessieren sollten, so glaube und denke ich, daß wir verantwortungsbewußt handeln und nicht zulassen sollten, daß ein Mensch, der dazu fähig ist, andere den Glauben an eine Erscheinung aufzuzwingen, in der heutigen Zeit Verwalter einer staatlichen Burg bleibt. Auf Geistesgestörtheit kann er sich nicht herausreden, da uns hier das Gutachten von Dr. Boukal vorliegt. Damit ist, glaube ich, die Sache ziemlich klar.« »Du bist also der Meinung, Pupenec sollte suspendiert werden?« »Ja, denn wir würden uns mit ihm nur Schwierigkeiten auf den Hals laden«, sagte Dr. Tomecek. »Also gut, sehr gut. Dann lauf zu!« Und Dr. Tomecek lief. Es freute ihn doch sehr, seine Kompromißlosigkeit erneut unter Beweis gestellt zu haben, und er bedauerte nur, daß ihm nicht eingefallen war hinzuzufügen, wer 265
nicht mit uns ist, ist gegen uns, da die heutige Zeit doch keine Kompromisse kennt. Der Genosse Vorstand war der gleichen Ansicht. Wenn Dr. Tomecek das ausgesprochen hätte, wäre der Genosse Vorstand gewiß erfreut gewesen. Nur legte er gewissermaßen einen anderen Maßstab an. Die Menschen bekennen sich oft zum gleichen Prinzip, nur die Maßstäbe sind ihnen irgendwie im Wege, um auch in gleicher Weise zu handeln. Und das ist ein Fehler, da es dann oft nicht leicht ist zu sagen, wie sie wirklich sind. Beispielsweise kann man ganz der Wahrheit entsprechend sagen, Dr. Boukal sei gut, dumm und mager, Dr. Tomecek dagegen dick, schlau und böse, denn so verhält es sich ja tatsächlich. Der Genosse Vorstand besaß bestimmt auch einige dieser Eigenschaften. Welche und wieviele, läßt sich schwer sagen. Er selbst redete meistens nicht darüber. Dafür redeten die Leute so manches über ihn. Zum Beispiel behauptete Dr. Tomecek, er sei ein Rindvieh. Wenige Tage danach erhielt Verwalter Pupenec eine Zuschrift. Da er daraufhin nach Prag fahren mußte, war er gezwungen, sich mit der ganzen Angelegenheit seiner Frau anzuvertrauen. Sie nahm es standhaft auf. In der letzten Zeit hatte sie sich innerlich bereits auf verhängnisvolle Folgen der erhöhten seelischen Aktivität ihres Mannes vorbereitet. »Also, auf dich sollte man wirklich wie auf ein kleines Kind aufpassen! Was mischst du dich auch in solche Sachen? Hast du denn ganz den Verstand verloren? Na ja, du hast gar keinen zu verlieren, das weiß ich, aber mach dir nichts draus. Wenn es ganz schlimm kommen sollte, könntest du ja vielleicht in der Genossenschaft als Buchhalter unterkommen. Ich werde mich inzwischen mal deswegen erkundigen. « »Meister Jan Hus«, sagte Pupenec mit Nachdruck, »ließ sich um der Wahrheit willen am Scheiterhaufen verbrennen!« »Meister Jan Hus! Meister Jan Hus, du Esel, hatte keine Familie zu ernähren!« 266
Und daran hielt sie fest. Trotzdem aber beobachtete sie es mit gewissem Stolz, wie der wahrheitsliebende Pupenec im Sonntagsgewand, dekoriert mit etlichen Orden, dem Bahnhof zustrebte. In Prag wurde er zuvorkommend behandelt. Nicht einmal angeschrien wurde er. Man führte ihn zum Genossen Vorstand, er bekam einen Sessel und eine Zigarette angeboten und wurde gefragt, ob ihm seine Arbeit denn Freude mache. Er bejahte das. Niemand zweifelte daran. Dies stand ja auch in seiner Personalakte. Auf eine weitere Frage gab er dann zu, daß sich der Mensch auch manchmal irren könne. »Na siehst du, der Mensch kann sich irren, auch wenn er es gar nicht böse meint. Er irrt sich eben«, erklärte ihm der Vorstand. »Und mit dieser Erscheinung oder was das war, hast du dich auch geirrt, nicht wahr?« Verwalter Pupenec richtete sich auf und legte die Zigarette in den Aschenbecher. »Also, das, was ich da gesehen habe«, sagte er verlegen, »war kein Irrtum. Ich habe mich davon überzeugt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« »Nun, und du glaubst, daß so etwas möglich ist?« »Das glaube ich nicht. Ich glaube sogar, daß so etwas völlig ausgeschlossen ist. Aber ich habe es gesehen.« »Die Weiße Frau?« »Die Weiße Frau.« »Nun ja. Und was würdest du dazu sagen, wenn ich dir eröffne, daß ein normaler, gesunder Mensch solche Dinge gar nicht sehen kann, und daß du dich ärztlich behandeln lassen solltest.« »So lasse ich mich eben ärztlich behandeln«, sagte hartnäckig der Verwalter, »denn was ich gesehen habe, habe ich gesehen, und werde es wieder sehen, wenn es dort ist, und wenn jemand mit mir geht, wird auch er es sehen.« 267
»Möglich. Aber du weißt doch, welche Folgen so eine Behauptung nach sich ziehen kann! Und willst du um den Preis solcher Folgen deine Behauptung aufrechterhalten? Ja oder nein?« »Ja«, sagte Verwalter Pupenec und war sich in diesem Augenblick nicht einmal sicher, ob die Buchhalterstelle in der Genossenschaft für ihn überhaupt frei sein würde. Der Mann hinter dem Schreibtisch dachte eine Weile nach. Dann bot er Pupenec eine weitere Zigarette an. »Nun ja, was du gesehen hast, hast du gesehen, ich will dir das gar nicht nehmen. Aber hör einmal, kennst du auch die Burg Chuchvalec?« »Ja, die kenne ich«, sagte Pupenec. »Nun, wie gefällt sie dir?« »Sehr gut. Sie ist tadellos erhalten, groß und komplett eingerichtet. Eine wirklich herrliche Burg.« »Eine sehr schöne Burg«, stimmte der Mann hinter dem Schreibtisch zu. »Dort ist auch das Gehalt etwas höher. Und dort wird ein gewissenhafter Mensch gebraucht. Ein Mensch, der seine Pflichten der Gesellschaft gegenüber kennt. Unter allen Umständen, verstehst du? Ich will dich nicht drängen, aber überleg es dir gut! Hast du nun auf Saratice die Weiße Frau gesehen oder nicht?« Verwalter Pupenec legte die halbangerauchte Zigarette auf den Aschenbecher. Er hatte das Gefühl, eine Zigarette passe nicht zu den großen Augenblicken seines Lebens. »Ich habe sie gesehen«, sagte er fast weinend, »ich habe die Weiße Frau auf Saratice gesehen, im Kreuzgang, sie hat gezischt und nach mir gespuckt, ich habe sie gesehen und werde sie wieder sehen. Es tut mir sehr leid, daß ich sie gesehen habe, mir wäre wohler, wenn ich sie nie gesehen hätte, aber nun habe ich sie mal gesehen und kann es nicht leugnen. Wenn die Menschen Angst hätten zu sagen, was sie sehen, so hätte doch alles keinen Sinn.« 268
»Nun gut, sehr gut«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Es hätte keinen Sinn, sagst du. Nun gut. Du weißt hoffentlich, was du da sagst, nicht wahr? Also fahr nach Hause, und pack deine Sachen zusammen. Du wirst umziehen.« Vierzehn Tage danach nagelte Verwalter Pupenec mit gewaltigen Schlägen ein Bild des Jan Hus vor dem Konzil zu Konstanz an die jahrhundertealte Mauer der Burg Chuchvalec. In seinem Falle wäre ein Bild der Jeanne d’Arc eher geeignet gewesen, aber einesteils war es ihm nicht eingefallen, und andernteils hätte er es auch nicht zur Hand gehabt. Zur gleichen Zeit beendete sein Nachfolger auf Saratice seine letzte Führung des Tages, zeigte mit dem Finger auf den Kreuzgang und sagte: »Dies ist das architektonische Juwel unserer Burg, der frühere Kreuzgang, einer der letzten Überreste des ursprünglichen Baus aus dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Treten Sie doch bitte näher, um die frühgotischen Säulenkapitelle genau sehen zu können, und das steinerne Blattwerk an den Kreuzrippen, die eine Probe vortrefflicher Steinmetzarbeit geben, ausgeführt mit örtlichem Sandstein. Man sagt, daß diese Arkaden einen besonders schönen Anblick bei Mondschein bilden. Und damit Sie noch etwas zu lachen haben, erzähle ich Ihnen noch, daß sich der Sage nach hier in diesem Kreuzgang die Weiße Frau von Saratice zeigen soll. Während der Nacht ist allerdings der Kreuzgang aus Sicherheitsgründen gesperrt, um Unfälle auf den schadhaften Fliesen zu vermeiden. So können wir das schwer nachprüfen, ha, ha, ha! Nun darf ich Sie zum Ausgang bitten! Die Führung ist damit beendet.«
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Der Windgott von Brian Lumley Brian Lumley hat sich in dem renommierten amerikanischen ›Magazin of Fantasy and Science Fiction‹ einen Namen als Virtuose der modernen Horrorstory gemacht. In seiner Erzählung ›Der Windgott‹ zeichnet er eine schemenhalte Welt voller Schrecken und Wunder, die am Rande unserer eigenen Existenz lauern. ——————
Man bedenke, daß ich ein einigermaßen bekannter Meterologe bin oder war, ein Mann also, der nicht viel für das Fantastische oder das sogenannte ›Übersinnliche‹ übrig hat – und doch glaube ich seit kurzem felsenfest, daß es einen Wind gibt, der zwischen den Welten weht, und daß in diesem Wind ein Wesen lebt, welches auf fedrigen Cirruswolken und in tosenden Gewittern den Eishimmel der Arktis durchstreift. Da ich als einziger alle Einzelheiten kenne, will ich im folgenden zu schildern versuchen, wie es zu einem derartigen Widerstreit der Gesinnung kam. Sollte ich mich getäuscht haben – sollte das, was sich meiner Ansicht nach wirklich zugetragen hat, nichts anderes sein als eine verrückte Kette von Zufällen, vermengt mit einer abscheulichen Halluzination –, dann gelingt es mir mit ein wenig Glück vielleicht noch, dieser weißen Wildnis zu entrinnen und heimzukehren in meine vertraute Umgebung. Aber sollte ich recht behalten, und ich fürchte, ich werde recht behalten, dann ist es aus mit mir, und diese Zeilen geben Zeugnis von einer bisher unbekannten Existenzebene, in der eines jener Wesen haust, welche man nur aus den Legenden der düsteren, wilden Anfänge unserer Erde kennt. 270
Die ganze Sache entwickelte sich innerhalb weniger Wochen, denn ich befinde mich erst seit Anfang August, gut zwei Monate also, in Navissa, um hier oben im Norden von Manitoba meine angegriffenen Lungen auszukurieren. Da die Meteorologie für mich Hobby und Broterwerb zugleich ist, hatte ich ein wenig Arbeit mitgenommen; keine Bücher und Instrumente, versteht sich – aber in meinem Gehirn spukte das eine oder andere kleine Problem herum, das ich während meiner Rekonvaleszenz zu lösen gedachte. Mein Werkzeug bestand in der Hauptsache aus Schreibutensilien und Notizpapier, damit ich, falls mich die Lust packte, meine Beobachtungen über das beinahe arktische Klima dieser Gegend festhalten konnte. Wind und Regen, Wolken und Gewitterstürme – Kanada bietet dem Wetterkundler eine Fülle von Material. In einer klaren Nacht weht hier in Manitoba eine reine, kräftige Brise, die den Lungen wohltut, und die Sterne scheinen so kristallklar, daß man sich manchmal versucht fühlt, sie vom Firmament zu holen. Auch heute haben wir eine solche Nacht – obwohl das Barometer fällt und mit neuen Schneestürmen zu rechnen ist. Ich sitze vor meinem Stövchen und fühle mich warm, nur meine Finger sind klamm von der Nachtkälte draußen, denn ich habe zum Schreiben die Handschuhe ausgezogen. Bis vor kurzem war Navissa nicht mehr als ein Durchgangslager, eins von vielen, die sich zu einer bescheidenen Handelsstation und dann zu einer richtigen Stadt erweiterten. Es liegt in der Nähe des alten Olassie Trail; nur wenige Meilen trennen es von dem unseligen, heute verlassenen Stillwater. Doch zu diesem Ort komme ich noch … Ich wohnte im Haus des Richters, einem hübschen Backsteinbau mit erhöhter Holzveranda und einem Dach im Gebirgsstil. Es lag auf der Seite der Stadt, die sich zu einer niedrigen Hügelkette hin erstreckte, und gehörte zu den wenigen mo271
dernen Häusern von Navissa. Richter Andrews, ein alter Freund meines Vaters, stammt aus New York. Er ist Witwer und befindet sich im Ruhestand. In den letzten Jahren hat er ein recht zurückgezogenes Leben geführt, und da er niemandem zur Last fällt, lassen ihn die Leute auch in Ruhe. Als leidenschaftlicher Anthropologe widmet der Richter sich hier oben im dünnbesiedelten Norden den weniger bekannten Aspekten dieser Wissenschaft. Als Richter Andrews von der Krankheit erfuhr, die mich befallen hatte, war er so nett und lud mich ein, die Zeit der Genesung in Navissa zu verbringen. Zu dem Zeitpunkt, da ich seinen Brief erhielt, war ich allerdings schon fast geheilt. Die Einladung stellte übrigens keinen Freibrief für mich dar, in das Privatleben des Richters einzudringen. Ganz im Gegenteil. Ich ging meiner Wege und belästigte ihn nur, wenn es sich gar nicht anders vermeiden ließ. Nein, wir hatten das nicht ausdrücklich vereinbart; ich wußte nur, daß es dem Richter so am liebsten war. Ich hatte freien Zutritt zu allen Räumen des Hauses, auch zur Bibliothek des alten Herrn, und hier stieß ich eines Nachmittags gegen Ende meines Aufenthalts auf die Werke eines gewissen Samuel R. Bridgeman, Professor für Anthropologie. Dieser Mann hatte kaum ein Dutzend Meilen nördlich von Navissa auf rätselhafte Weise den Tod gefunden. Im Normalfall wäre mir das gleichgültig gewesen, aber ich wußte, daß die Theorien, die Bridgeman entwickelt hatte, von seinen Kollegen mit äußerster Skepsis aufgenommen wurden. Manche der Ansichten, zu denen er sich bekannte, lagen ein gutes Stück außerhalb der orthodoxen Lehre. Da ich Richter Andrews als einen Menschen kannte, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stand und nicht viel auf Fantastereien oder wunderliches Zeug gab, fragte ich mich natürlich, was ihn bewogen haben mochte, die Werke des exzentrischen Bridgeman in seine Bücherregale zu stellen. 272
Ich stand eben im Begriff, den Richter wegen dieser Angelegenheit in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen, als ich sah, wie eine vornehme, allerdings auffallend erregte Dame das Haus verließ. Es war schwer, ihr Alter zu schätzen; obschon von schlanker Gestalt und glatter, straffer Haut, hatte sie völlig ergrautes Haar. Man merkte ihr an, daß sie in ihrer Jugend sehr anziehend, ja eine Schönheit gewesen sein mußte. Sie nahm mich nicht wahr – oder wenn sie mich sah, dann drang diese Tatsache nicht in ihr Bewußtsein, so aufgewühlt war sie. Gleich darauf hörte ich draußen einen Wagen losfahren. Ich ging weiter zum Arbeitszimmer des Richters. Von der Türschwelle aus stellte ich meine Frage. »Bridgeman?« wiederholte der alte Mann. Er musterte mich mit scharfem Blick. »Sie haben seine Bücher in der Bibliothek stehen«, erklärte ich. »Und mir will nicht in den Kopf, daß Sie ein Anhänger seiner Theorien sind.« »Na so etwas. Ich wußte gar nicht, daß Sie sich mit Anthropologie befassen, David.« »Nicht so richtig. Ich entsinne mich nur, daß über Bridgeman ein paar merkwürdige Gerüchte in Umlauf waren. Das ist alles.« »Das ist wirklich alles?« »Wie? Aber gewiß.« Ich trat näher. »Weshalb fragen Sie?« »Hmm«, brummte er. »Ein sonderbarer Zufall. Haben Sie die Dame bemerkt, die vor wenigen Minuten das Haus verließ? Das war Lucille Bridgeman, Sams Witwe. Sie bewohnt ein Zimmer im Neison.« »Sam?« Ich horchte sofort auf. »Sie kannten den Professor also?« »Ja, sogar recht gut – auch wenn das viele Jahre zurückliegt. Seine Bücher dagegen habe ich erst vor kurzem gelesen. Wußten Sie, daß er hier ganz in der Nähe starb?« 273
Ich nickte. »Und unter den seltsamsten Umständen, wenn ich mich nicht täusche?« »Sie täuschen sich nicht.« Er zog die Stirn kraus, und ich hatte den Eindruck, daß er eine innere Unruhe zu verbergen suchte. Einen Moment lang wartete ich, aber der Richter schwieg, und so fragte ich: »Nun … ?« »Wie?« Obwohl er den Blick auf mich gerichtet hielt, schien er mit seinen Gedanken weit fort zu sein. Mühsam kehrte er in die Gegenwart zurück. »Nichts weiter. Ich – ich habe eine Menge Arbeit.« Er setzte die Brille auf und vertiefte sich in ein Buch. Ich nickte mit einem etwas verlegenen Lächeln. Da ich die Gewohnheiten des alten Richters kannte, wußte ich, was seine knappen, abweisenden Worte bedeuteten: »Wenn du mehr über die Sache erfahren willst, dann mußt du dich schon selbst darum kümmern!« Und welche bessere Möglichkeit gab es, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, als sich erst einmal das Werk von Samuel R. Bridgeman vorzunehmen? Daraus ließ sich bestimmt einiges auf den Menschen selbst schließen. Als ich mich zum Gehen wandte, rief mir der Richter nach: »Noch etwas, David – ich weiß nicht, welche Vorurteile Sie gegen Bridgeman und sein Werk hegen, aber wenn ich mich selbst betrachte … sehen Sie, ich bin nun fast am Ende meines Lebens angelangt, und doch vermag ich heute ebensowenig wie vor fünfzig Jahren zu sagen, was ist und was nicht ist. Sam hatte zumindest den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen.« Was sollte ich davon halten? Und was sollte ich darauf antworten? Ich verabschiedete mich mit einem vagen Nikken und ließ den Richter mit seinen Büchern und Gedanken allein. Noch am gleichen Nachmittag suchte ich erneut die Bibliothek auf und nahm mir einen der Bridgeman-Bände vor. Insgesamt waren drei Bücher von ihm da, und sie enthielten viel Material 274
über die Arktis und ihre Randgebiete. Er beschrieb die Volksstämme des hohen Nordens, ihre Götter, Riten und Legenden. Ich ließ mir noch einmal durch den Kopf gehen, was ich über den englischen Professor wußte, und versuchte die spärlichen Fakten zu ordnen: Bridgeman hatte sich vor allem mit dem Norden von Kanada befaßt, und er war hier in der Nähe umgekommen – auf rätselhafte Weise. Nun tauchte, zwanzig Jahre nach seinem Ableben, auf ebenso rätselhafte Weise seine Witwe in Navissa auf; sie befand sich in einem Zustand hochgradiger Nervenzerrüttung, wenn nicht gar in geistiger Verwirrung. Und Richter Andrews, der stets hilfsbereite alte Freund unserer Familie, hüllte sich in Schweigen, sobald die Rede auf den englischen Anthropologen kam. Er schien Bridgemans umstrittene Theorien aber nicht unbedingt abzulehnen. Aber worin bestanden jene Thesen überhaupt? Wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich ließ, betrafen sie einen Windgeist oder Windgott der Arktis, der in manchen Indianer- und Eskimosagen auftauchte. Auf den ersten Blick schien nichts in den Büchern des Professors darauf hinzudeuten, daß er diesen Legenden mehr als das normale Interesse für anthropologische und ethnische Probleme entgegenbrachte. Allerdings verweilte er unnötig lange bei Gaoh und Hotoru, Windgeistern der Irokesen und Pawnees, und insbesondere bei Negafok, dem Kältegeist der Eskimos. Ich merkte, daß er diese Mythen mit der wenig bekannten Wendigo-Sage zu verknüpfen suchte, der er meiner Meinung nach einfach zuviel Gewicht beimaß. »Der Wendigo-Kult«, so schrieb Bridgeman, »bedeutet die Inkarnation einer Macht, welche aus dem Sagengut der grauen Vorzeit überliefert wurde bis in unsere Tage. Jener große Tornasuk ist kein anderer als Itha-qua, Der-mit-dem-Windwandert. Der Unglückselige, der ihn erblickt, muß auf der Stelle erfrieren. Zu Anbeginn der Schöpfung bekriegte Itha275
qua, vielleicht der berühmteste aller Luftgeister in der Mythologie, die Alten Götter; wegen dieser Freveltat verbannte man ihn in den Raum zwischen den Sternen und in die Kälte der Arktis, auf daß er ›für ewige Zeiten mit dem Wind wandere‹. Nach Äonen des Umherstreifens traf er auf die Esquimaux und erfüllte sie mit Angst und Schrecken, bis sie ihn als Herrn anerkannten und ihm Opfer darbrachten. Nur sie, die ihn anbeten, dürfen einen Blick auf ihn werfen – für alle anderen bedeutet es den sicheren Tod. Er zeigt sich als dunkler Umriß gegen den Himmel, Mensch und Tier zugleich; den tiefhängenden Eisnebel durchschreitet er ebenso wie die Stratokumulus-Schichten in großer Höhe. Seine Augen gleichen karminrot glühenden Sternen.« Die bekannteren mythologischen Gestalten dagegen behandelt Bridgeman sehr viel sachlicher; er blieb stets in den Grenzen der wissenschaftlich anerkannten Thesen. Hier ein Beispiel: »›Herr der Winde‹, so nannte man den babylonischen Sturmgott Enlil. Die abergläubischen Festlandbewohner erblickten den quirligen, stets zu Streichen aufgelegten Gesellen in Wirbelstürmen und Wasser- und Sandhosen …« Oder: »Die alten Germanen verehrten den Donnergott Thor. Wenn er mit seinem Streitwagen über das Firmament zog, brauten sich Gewitterwolken zusammen, und der Himmel grollte.« Mir fiel auf, daß der Autor die klassische Götterlehre fast ein wenig veralberte, was er zuvor bei Itha-qua nicht getan hatte. Auch äußerte er sich recht trocken und nüchtern zur Abbildung einer Tontafel, die man im Taurus-Gebirge der Türkei ausgegraben hatte und die Tha-thka, den Sturmgott der Hethiter, darstellte. Mehr noch, er zog Parallelen zwischen Tha-thka und Ithaqua und behauptete, der phonetische Gleichklang der beiden Namen sei kein Zufall. »Itha-qua«, so schrieb er, »hinterließ im Schnee der Arktis riesige Fußspuren, die deutlich zeigten, daß er Schwimmhäute 276
zwischen den Zehen besaß. Die alten Esquimaux-Stämme hatten einen weiten Bogen um diese Spuren gemacht. Und Tha-thka war auf der Tontafel mit roten, sternförmigen Augen und mit Entenfüßen abgebildet.« (Um die ethnische Verwirrung vollkommen zu machen, wies das Kunstwerk starke Ähnlichkeit mit dem sogenannten Amarna-Stil von Ägypten auf.) Professor Bridgemans Argument wirkte hier stichhaltig, ja sogar naheliegend, aber ich verstand es, daß es die Koryphäen der alten Schule gegen ihn aufbrachte. Für sie war es undenkbar, einen Gott der längst versunkenen Hethiter-Kultur mit den vergleichsweise jungen Legenden der Eskimos in Beziehung zu bringen. Dabei vergaßen sie allerdings eine seltsame Sage, nach der Itha-qua in den Norden verbannt worden war, weil er gegen die Alten Götter rebelliert hatte. Konnte es sein, daß sich der Wind-Wanderer einst in den Luftströmen des chaldäischen Ur oder des alten Khem gewiegt hatte? Hier mußte ich über mich selbst lachen. Die mit soviel Bestimmtheit vorgetragenen Theorien des Schriftstellers hatten meine Fantasie angeregt. Aber mein Lachen klang ein wenig gepreßt, denn ich spürte eine kühle Logik in Bridgeman, die selbst seine verrücktesten Thesen glaubhaft machte. Und einige seiner Thesen waren in der Tat verrückt. Ich hatte mir den schmälsten der drei Bände vorgenommen, und schon nach den ersten paar Seiten war mir klar, daß die Fantasieflüge, die Bridgeman hier vollführte, seine Kollegen dazu veranlassen mußten, sich von ihm zu distanzieren. Gerade dieses Buch enthielt eine Fülle – eine Überfülle – mystischer Andeutungen und halbversteckter Hinweise, die schemenhaft Welten voller Schrecken und Wunder zeichneten, welche am Rande dieser eigenen Existenz lauern und sie manchmal durchdringen. Die Leidenschaft, mit der Bridgeman schrieb, schlug mich in den Bann. Ich erkannte, daß hinter dem Hokuspokus ein großes 277
Geheimnis stecken mußte – ein Geheimnis, von dem man, gleich einem Eisberg, nur die Spitze sah –, und ich beschloß, nicht eher zu ruhen, bis ich alles über den ›Fall Bridgeman‹ in Erfahrung gebracht hatte. Immerhin waren die Voraussetzungen für dieses Vorhaben ideal. Der Professor hatte hier ganz in der Nähe den Tod gefunden, an der Grenze eines Territoriums, das seiner Überzeugung nach unter der Herrschaft des Windgottes stand. Und Richter Andrews – vorausgesetzt, ich brachte ihn zum Reden – war, was Bridgeman betraf, so etwas wie eine Autorität. Dazu kam, daß sich Bridgemans Witwe ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in der Stadt aufhielt, ein Umstand, der meine Nachforschungen wesentlich erleichtern konnte. Ich weiß heute noch nicht, weshalb mich der Entschluß, das Geheimnis zu lüften, so sehr begeisterte. Vielleicht hatte es mit der Tontafel aus den Taurus-Bergen zu tun, die in dem Band abgebildet war. Sie zeigte Tha-thka – nach Bridgeman Itha-qua – spreizfüßig zwischen Kumulonimbus- und Nimbostrafus-Schichten einherschreiten, Wolkenformationen also, die unweigerlich Schnee und Unwetter bringen. Der Schöpfer jenes alten Reliefs hatte das Reich des Windgottes treffend umrissen und dem mythischen Verlangen in meinem Innern eine gewisse Nahrung gegeben, obwohl es immer noch viel leichter für mich war, die drohenden Wolken zu akzeptieren, als jenes Wesen, das sich in ihrer Mitte bewegte … Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und erschrak. Bridgemans Bücher hatten mich den ganzen Nachmittag festgehalten. In der kleinen Bibliothek wurde es dunkel, und meine Augen schmerzten vom vielen Lesen. Ich machte Licht und hätte mich wohl erneut in die Bücher vertieft, als ich unvermittelt an der Haustür ein leises Klopfen vernahm. Der Richter öffnete und begrüßte jemanden in seiner kurzangebundenen Art. 278
Ich war sicher, daß die Stimme, die ihm antwortete, Bridgemans Witwe gehörte; sie hatte einen nervösen, zittrigen Klang. Die Besucherin trat ein und folgte dem Richter in sein Arbeitszimmer. Nun, ich hatte mir gewünscht, ihr zu begegnen. Das hier schien die beste Gelegenheit, ihre Bekanntschaft zu machen. Die Tür zum Arbeitszimmer war nur angelehnt. Ich zögerte auf der Schwelle, denn ich hatte den Eindruck, als ob mein Gastgeber ein Streitgespräch mit der Fremden führte. »Nicht mit mir, meine Liebe, das kommt gar nicht in Frage!« erwiderte er eben auf einen Vorschlag, den ich nicht mehr vernommen hatte. »Wenn Sie diesen wahnwitzigen Plan wirklich in die Tat umsetzen wollen, dann werde ich dafür sorgen, daß ein anderer Sie begleitet. Gott weiß, daß ich Ihnen meinen Beistand gern anbieten würde – obwohl ich das Unternehmen für sinnlos und wegen der drohenden Schneefälle für äußerst gefährlich halte! Aber, meine Liebe … ich bin ein alter Mann. Meine Augen taugen nichts mehr, und in meinen Gliedern sitzt nicht mehr die Kraft von früher. Ich habe Angst, daß mich mein Körper im unpassendsten Moment im Stich lassen würde. Der Norden ist tückisch, wenn es erst schneit.« »Ist es nur das, Jason?« entgegnete sie mit ihrer nervösen Stimme. »Oder halten Sie mich in Wirklichkeit für verrückt? Das haben Sie mir doch bei meinem letzten Besuch mehr oder weniger vorgeworfen.« »Ich bitte Sie, mir das nachzusehen, Lucille, aber offen gestanden – diese Geschichte, die Sie mir auftischten, ist einfach … grotesk! Es gibt keinen schlüssigen Beweis dafür, daß der Junge in den Norden wollte. Ihr Gefühl kann Sie täuschen.« »Was ich Ihnen erzählt habe, Jason, ist die reine Wahrheit. Und damit Sie mir glauben, habe ich etwas mitgebracht. Hier, sehen Sie sich das an …« Es entstand eine längere Pause. Dann fragte der Richter ruhig: 279
»Aber was stellt das Ding dar, Lucille? Warten Sie, ich hole meine Lupe. Hmm – das hier ist wohl …« »Nein!« unterbrach sie ihn mit einem schrillen Aufschrei. »Hüten Sie sich, seinen Namen auszusprechen!« Hysterie schwang in ihrer Stimme mit, doch als sie nach einer kleinen Pause fortfuhr, wirkte sie ruhiger. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen …« Ich hörte einen metallischen Klang, so als habe jemand eine Münze auf den Tisch geworfen. »Behalten Sie es hier im Haus! Sie werden selbst sehen, was es darstellt. Sam hielt es fest umklammert in der Rechten, als … als man ihn zermalmt auffand.« »Aber das liegt zwanzig Jahre zurück …«, sagte der Richter. Er schwieg eine Weile, dann setzte er hinzu: »Ist es aus Gold?« »Ja, aber kein Mensch weiß, woher es stammt. Ich zeigte es im Laufe der Jahre drei oder vier Experten, und stets erhielt ich die gleiche Antwort. Es muß sehr, sehr alt sein, doch es läßt sich in keine der bekannten Kulturen einordnen. Wäre es nicht aus Gold, so könnte man vermuten, es käme von einem fremden Stern. Und selbst das Gold ist … irgendwie anders. Kirby besitzt übrigens auch eins.« »Was?« Die Stimme des Richters klang überrascht. »Und woher? Also, ich hätte geschworen, daß es ebenso selten wie alt ist!« »Ganz bestimmt sind diese Dinger sehr selten. Ich glaube, sie zeugen von einer Epoche, die weit vor den Anfängen der Menschheitsgeschichte liegt. Fühlen Sie nur, wie eisig es ist! Es hat etwas von der Kälte, die am Meeresgrund herrscht, und wenn man es anwärmen will … nun, versuchen Sie’s selbst! Ich kann Ihnen allerdings jetzt schon verraten, daß es nicht warm bleibt. Und ich weiß, was das bedeutet … Kirby erhielt sein Amulett heuer im Sommer. Es kam per Post nach Merida. Wie Sie wissen, lebe ich in Yucatan, seit … seit …« »Ja, ja, ich weiß. Aber wer sollte dem Jungen so ein Ding schicken – und weshalb?« 280
»Ich glaube, es war als – als Wink und nichts anderes gedacht, als ein Mittel, all das in ihm zu wecken, was ich mühsam zu unterdrücken versucht hatte. Ich sprach bereits über Kirby – wie sonderbar er schon als kleines Kind war. Ich dachte, das würde sich im Laufe der Jahre bessern. Leider täuschte ich mich. In jenem letzten Monat vor seinem Verschwinden war es am schlimmsten. Es begann, nachdem er den Talisman erhalten hatte. Dann, vor drei Wochen, packte er einfach seine Habseligkeiten und …« Sie sprach nicht weiter, und ich gewann den Eindruck, daß sie sich bemühte, ihrer Erregung Herr zu werden. Ihre Worte berührten mich seltsam. »… ich habe keine Ahnung, wer ihm dieses Ding schickte. Ich kann nur raten. Aber das Päckchen trug den Poststempel von Navissa. Deshalb bin ich hier.« »Von Navissa?« wiederholte der Richter verwirrt. »Aber wer erinnert sich hier an eine Sache, die vor zwanzig Jahren geschah? Und wer würde einem völlig Fremden ein so seltenes, kostbares Geschenk machen?« Die Antwort war so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte. »Es muß noch andere gegeben haben, Jason. Diese Leute aus Stillwater waren nicht die einzigen, die Ihm dienten. Der Kult des Windgottes existiert noch – das glaube ich felsenfest. Vermutlich hat einer aus der Anhängerschar den Befehl seines Herrn und Meisters ausgeführt. Und was die ursprüngliche Herkunft des Talismans betrifft, nun, wo sonst als …« »Nein, Lucille, das ist ganz ausgeschlossen«, schnitt ihr der Richter das Wort ab. »Ich mag nicht einmal daran denken, daß es so etwas gibt. Es wäre …« »Ein Wahnsinn, den die Welt nicht ertragen könnte?« »Ja, genau.« »Sam pflegte das gleiche zu sagen. Dennoch spürte er dem Grauen nach und schleppte mich mit hierher, und dann …« »Ja, Lucille, ich weiß, wie Sie die Geschehnisse von damals sehen, aber …« 281
»Kein Aber, Jason. Ich will meinen Sohn zurück. Helfen Sie mir, oder helfen Sie mir nicht – ganz wie Sie es für richtig halten. Es macht keinen Unterschied. Ich bin fest entschlossen, ihn zu suchen, und ich werde ihn hier irgendwo finden, das weiß ich. Wenn mir keine andere Wahl bleibt, mache ich mich eben allein auf den Weg, bevor es zu spät ist!« Ihre Stimme klang jetzt wieder schrill vor Hysterie. »Nein, das auf keinen Fall!« warf der alte Mann beschwichtigend ein. »Gleich morgen früh sehe ich mich nach jemandem um, der Sie begleitet. Und wir können die Mounties* von Nelson benachrichtigen. Sie haben ein Winterlager in Fir Valley, nur ein paar Meilen vor Navissa. Es besteht eine Telefonverbindung, zumindest bis der große Schnee kommt.« »Und Sie glauben, daß es Ihnen gelingt, einen Begleiter zu finden, dem ich vertrauen kann?« »Das sagte ich. Offen gestanden, ich habe bereits einen jungen Mann im Sinn, der für diese Aufgabe in Frage käme. Er stammt aus sehr gutem Hause – und ist im Moment mein Gast. Ich mache Sie morgen mit ihm bekannt …« Hier vernahm ich das Scharren von Stuhlbeinen und schloß daraus, daß die Besucherin sich zum Gehen anschickte. Beschämt darüber, daß ich an fremden Türen lauschte, flüchtete ich zurück in die Bibliothek. Kurze Zeit später, nachdem die Dame gegangen war, begab ich mich ein zweites Mal zu Richter Andrews Arbeitszimmer. Diesmal klopfte ich und trat ein. Der alte Mann ging mit sorgenschwerer Miene auf und ab. Als er mich gewahr wurde, blieb er stehen. »Ach, David. Nehmen Sie bitte Platz! Ich habe eine Frage an Sie.« Er setzte sich ebenfalls, aber er schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Wenn ich nur wüßte, wo ich beginnen soll …« *
Berittene Polizei von Kanada
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»Beginnen Sie bei Samuel R. Bridgeman!« schlug ich vor. »Ich hatte inzwischen Zeit, seine Bücher zu lesen. Offen gestanden, ich brenne darauf, mehr über den Mann zu erfahren.« Er nickte und nahm von seinem Schreibtisch ein goldenes Medaillon von der Größe einer mittleren Münze. Mit den Fingerspitzen fuhr er über das Bas-Relief. Dann erst antwortete er: »Ja, Sie haben recht, aber …« »Nun?« Er seufzte tief. »Also schön, ich will Ihnen die ganze Geschichte erzählen, soweit ich sie kenne – das ist das mindeste, was ich tun kann, wenn ich Sie schon um Hilfe bitte.« Er schüttelte den Kopf. »Die arme, verstörte Frau …« »Ist sie – nicht ganz richtig?« »Keineswegs!« wehrte er hastig und beinahe schroff ab. »Sie ist geistig völlig normal. Nur ein wenig – nun, wie soll ich sagen? – wirr.« Und dann erzählte er mir alles. Er redete bis tief in die Nacht hinein. Ich gebe seine Worte so wieder, wie ich sie im Gedächtnis behalten habe, und ich muß gestehen, daß sie mich in meinem Entschluß bestärkten, Bridgemans Geheimnis auf die Spur zu kommen. »Wie Sie inzwischen wissen«, begann der Richter, »war ich in meinen jüngeren Tagen mit Sam Bridgeman befreundet. Es ist unwichtig, wie diese Freundschaft zustande kam, aber ich kannte auch Lucille, bevor die beiden heirateten, und deshalb wendet sie sich jetzt nach all den Jahren hilfesuchend an mich. Es ist ein reiner Zufall, daß ich in Navissa lebe, so nahe an dem Ort, an dem Sam den Tod fand. Schon in jener Anfangszeit war Sam so etwas wie ein Rebell. Von den orthodoxen Wissenschaften in der anerkannten Form, darunter Anthropologie und Ethnologie, hielt er wenig. Seine Leidenschaft galt toten, sagenumwobenen Städten, Ländern mit exotischen Namen und geheimnisvollen Göttern. Ich sehe ihn 283
noch vor mir, wie er, anstatt zu lernen, dasaß und träumte – von Atlantis und Mu, Ephiroth und Khurdisan, von G’harne und dem verschollenen Leng, R’lyeh und Theem’hdra, vergessene Welten uralter Legenden und Mythen. Vor sechsundzwanzig Jahren heiratete er Lucille, und da er nach einer größeren Erbschaft finanziell ziemlich gut gestellt war, konnte er es sich leisten, auf eine wissenschaftliche Karriere zu verzichten und sich ganz seinen Träumen und Idealen zu widmen. Durch seine Bücher, insbesondere das letzte, geriet er ins Kreuzfeuer seiner Kollegen und sämtlicher anerkannter Kapazitäten jener Wissenschaften, in denen seine Fantasie schwelgte. Denn man betrachtete seine Thesen als die Ausgeburt einer krankhaften Vorstellung – geeignet, die geltenden Ordnungen aller Bereiche, einschließlich der Theologie, zu zerstören. Schließlich haftete ihm der Ruf eines Narren an, eines naiven Clowns, der seine wirren Argumente auf Blawatski und die absurden Theorien von Scott-Elliot stützte, auf die Wahnsinnsepisteln von Eibon und die verfälschten Übersetzungen von Harold Hadley Copeland, anstatt sich der nüchternen, aber wohlfundierten Schriften von Historikern und Wissenschaftlern zu bedienen. Ich weiß nicht, warum oder wann genau Sam sich zum erstenmal mit der Theogonie unseres Nordens befaßte, ganz besonders aber mit bestimmten Kulten von Indianern und Mestizen sowie mit den Legenden der Eskimos, die noch weiter droben im Norden hausen. Aber letzten Endes begann er selbst daran zu glauben. Sein Hauptaugenmerk galt der Sage von Itha-qua, dem Schnee- oder Windgott, auch ›Wind-Wanderer‹, ›Todeswanderer‹ und ›Wanderer-zwischen-den-Sternen‹ genannt – ein Wesen, das der Legende nach mit den eisigen Nordwinden und den wildbewegten Luft- und Wasserströmen der Arktis einherzieht. 284
Wie das Glück – oder das Unglück – es wollte, fiel sein Entschluß, dieser Gegend einen Besuch abzustatten, mit Schwierigkeiten in einigen der Dörfer hier zusammen. Es gab starke Unterströmungen. Anhänger eines halbreligiösen Geheimkultes hatten sich in der Nähe versammelt, viele davon offensichtlich auf der Durchreise, um Zeugen einer ›Großen Ankunft‹ zu werden. Seltsam, sicherlich, aber können Sie mir eine einzige Religion auf diesem Erdball nennen, die nicht ihre Auswüchse hätte? Wir hier hatten jedenfalls in dieser Angelegenheit schon immer Kummer … Nun, ein Teil der Sektierer wirkte intelligenter als die meisten hiesigen Indianer, Mestizen und Eskimos; sie stammten in der Hauptsache aus New England, aus dekadenten Massachusetts-Kaffs wie Arkham, Dunwich und Inssmouth. Die Mounties von Nelson sahen allerdings keinen Grund zum Einschreiten, denn man war Zusammentreffen dieser Art gewöhnt. Ja, man kann fast sagen, daß die Leute das Getue im Laufe der Zeit nicht mehr ernst nahmen. Damals glaubte man, daß gewisse Vorkommnisse in und um Stillwater und Navissa das bunte Gemisch von Besuchern angezogen hatten, denn fünf Jahre zuvor waren in der Tat einige Menschen auf seltsame Weise spurlos verschwunden, ganz zu schweigen von einer Reihe unerklärlicher Todesfälle. Ich habe mich selbst ein wenig mit diesen Ereignissen befaßt. Sprechen wir nicht von meinen Vermutungen – die sind zu vage. Aber die nackten Zahlen und Tatsachen bieten Grund genug zur Besorgnis. So verschwand zum Beispiel über Nacht die gesamte Einwohnerschaft von Stillwater! Sie brauchen mir nicht zu glauben – forschen Sie selbst nach! Die Zeitungen waren damals voll davon. Fügen Sie nun zu diesem Hintergrund eine Handvoll Gerüch285
te über gigantische, flossenartige Fußspuren im Schnee, über Götzenaltäre in den Wäldern und ein Geschöpf, das mit den Schwingen des Windes herniederkommt, um sich Menschenopfer darbringen zu lassen – und vergessen Sie nicht, daß all dies gelegentlich in der Geschichte und Folklore dieser Gegend auftaucht – dann werden Sie mir beipflichten, daß es nicht wundernimmt, wenn sich im Laufe der Zeit so viele absonderliche Menschen hier eingefunden haben. Wohlgemerkt, Sam Bridgeman zählte nicht zu dieser Kategorie, aber der Zyklus hysterischen Aberglaubens und geheimnisvoller Riten, der alle fünf Jahre seinen Höhepunkt erreichte, gehörte zu den Dingen, die ihn unwiderstehlich anzogen. Eines Tages also traf er hier ein, und er brachte seine Frau mit … Im Norden lag bereits tiefer Schnee, doch das schreckte Sam nicht im geringsten ab; er war gekommen, um den alten Legenden nachzuspüren, und er gab nicht nach, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Er heuerte zwei frankokanadische Führer an, zwielichtige Burschen, die ihn und Lucille begleiten sollten. Wohin? Nun, auf die Fährte von Träumen und Mythen, Märchen und Geistergeschichten … Sie begaben sich auf den langen Marsch nach Norden, und trotz des ungeschlachten Benehmens seiner Führer kam Sam bald zu dem Schluß, daß er mit den beiden Männern eine gute Wahl getroffen hatte: sie schienen die Gegend recht genau zu kennen. Im Gegenteil, hier draußen wirkten sie eher eingeschüchtert von den Schneemassen, ganz anders als in Navissa, wo Sam sie betrunken und grölend in einer Bar entdeckt hatte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben – es war ihm kaum etwas anderes übriggeblieben, als die beiden zu nehmen; keiner der Bürger Navissas hätte sich weit von der Stadt fortgewagt, jetzt da der rätselhafte Fünfjahreszyklus seinem Höhepunkt zu286
strebte. Und in der Tat, als Sam seine Führer fragte, weshalb sie so unruhig seien, erwiderten sie, das habe mit der Jahreszeit zu tun. Nein, nicht mit dem Winter, erläuterten sie, als er genauer nachforschte, sondern mit diesem sonderbaren Mythos. Mehr war nicht aus ihnen herauszuholen, was Sams Neugier um so stärker anstachelte – besonders da er merkte, daß ihre Nervosität wuchs, je weiter sie nach Norden vorstießen. Dann, in einer stillen Schneenacht, als die Zelte aufgeschlagen waren und ein helles Holzfeuer brannte, fragte einer der Männer Sam, was er denn eigentlich hier draußen suche. Sam begann von den alten Mythen zu sprechen und erwähnte die Gerüchte, die über Itha-qua, das Schneewesen, in Umlauf waren. Beim Namen des Windwanderers preßte der Kanadier beide Hände an die Ohren und weigerte sich, Sam weiter anzuhören. Statt dessen zog er sich früh in sein Zelt zurück, wo er erregt und drängend auf seinen Gefährten einsprach. Als Sam am nächsten Morgen erwachte, merkte er zu seinem Entsetzen, daß er und seine Frau allein waren – daß seine Führer die Flucht ergriffen und sie im Stich gelassen hatten. Nicht nur das – sie hatten sämtliche Vorräte mitgenommen. Die Bridgemans besaßen nur noch ihr Zelt, die Kleider, die sie am Leibe trugen, ihre Schlafsäcke und die persönlichen Dinge. Sie hatten nicht einmal eine Schachtel Streichhölzer, um ein Feuer zu entfachen. Nun, völlig hoffnungslos war ihre Lage dennoch nicht. Sie hatten bis dahin klares Wetter gehabt, und sie waren erst drei Tagesmärsche von Navissa entfernt. Aber sie hatten alles andere als eine direkte Route eingeschlagen, so daß sich Sam gezwungen sah, die Richtung zu schätzen. Er kannte sich jedoch mit den Sternen aus, und als die arktische Nacht hereinbrach, konnte er mit einiger Bestimmtheit sagen, daß sie auf den Süden zuhielten. So einsam sie sich auch fühlten, sie merkten von der ersten 287
Minute an, daß sie nicht wirklich allein waren. Hin und wieder stießen sie auf frische Spuren; sie erblickten auch Gestalten, die verstohlen hinter Tannen und Schneewächten verschwanden, wenn Sam sie anrief. Am zweiten Morgen, kurz nachdem sie ihr Lager im Windschatten hoher Föhren verlassen hatten, stießen sie auf die Leichen ihrer Führer; man hatte die beiden vor ihrem Tod grausam gefoltert und verstümmelt. In den Taschen des einen Toten fand Sam Streichhölzer, und in dieser Nacht froren sie wenigstens nicht, auch wenn der Hunger sie zu quälen begann. In den tanzenden Schatten am Rande ihres Sichtkreises kauerten jene vagen Gestalten lautlos im Schnee und warteten – worauf? Sam und Lucille saßen dicht aneinandergedrängt vor dem Feuer am Zelteingang und berieten im Flüsterton, wie und warum jene beiden Männer ein so schreckliches Ende gefunden hatten; und sie schauderten beim Anblick der Schatten und der Schemen, die sich in diesen Schatten bewegten. Das Gebiet, so mutmaßte Sam, mußte in der Tat das Reich von Itha-qua, dem Windwanderer, sein. Hin und wieder, wenn der Einfluß der alten Riten und Geheimnisse sich verstärkte, dann strömten die Anhänger des Schneegottes – Indianer, Mestizen und vielleicht auch andere Pilger aus weiter entfernten Zonen – zusammen, um Seinen Kult zu feiern. Für den Außenstehenden, den Ungläubigen, war dann die ganze Region verboten, tabu! Die Führer waren Außenstehende gewesen … Sam und Lucille waren auch Außenstehende … Etwa um diese Zeit ließ Lucilles Nervenkraft nach, was mehr als verständlich war. Die eisige Kälte und die Schneewüste, die sich nach allen Seiten hin bis zum Horizont erstreckte, nur gelegentlich aufgelockert durch die Stämme und tiefhängenden Zweige von Tannen und Föhren – der Hunger, der jetzt in ihren Eingeweiden fraß – jene huschenden Gestalten, die stets am Rande ihres Sichtfeldes und ihres Bewußtseins lauerten – das 288
entsetzliche Wissen, daß ihnen das gleiche Schicksal drohte wie den beiden Führern – dazu eine Tatsache, die Sam nicht länger leugnen konnte: sie hatten sich verirrt! Zwar wanderten sie immer noch nach Süden, aber wer konnte sagen, ob Navissa auf ihrem Weg lag und ob sie noch die Kraft haben würden, sich bis in die Stadt durchzuschlagen? Ja, ich bin der Überzeugung, daß sie von da an die meiste Zeit im Delirium verbrachte, denn es steht fest, daß ihre ›Erinnerung‹ der letzten Etappe trotz vieler genauer Details gezeichnet war von Sinnestäuschungen. Jedenfalls nahmen die Ereignisse in der dritten Nacht eine noch merkwürdigere Wende. Aus irgendeinem Grund waren die Streichhölzer feucht geworden, und sie konnten kein Feuer entfachen. Es gelang ihnen aber, das Zelt zu errichten, und Sam war nach drinnen gegangen, um die Schlafsäcke aufzurollen. Lucille stapfte unterdessen draußen auf und ab, um sich warm zu halten. Plötzlich rief sie Sam zu, daß sie in der Ferne an allen vier Ecken des Kompasses Feuer sehen könne. Sekunden später schrie sie gellend auf; eine heftige Sturmböe erfüllte das Zelt; die Temperatur sank auf der Stelle. Steif vor Kälte stolperte Sam ins Freie. Lucille lag im Schnee. Sie konnte ihm nicht sagen, was geschehen war, sondern stammelte nur zusammenhanglos: ›Am Himmel – etwas am Himmel!‹ … Gott allein weiß, wie sie diese Nacht überlebten. Lucilles Erinnerungen sind verwischt und undeutlich; sie glaubt heute, daß sie zu jenem Zeitpunkt mehr tot als lebendig war. Drei Tage und Nächte in jener Schneewüste, völlig ohne Essen und meist auch ohne die Wärme eines Feuers … Aber am Morgen des nächsten Tages … Erstaunlicherweise hatte sich über Nacht eine Wandlung zum Besseren vollzogen. Ihre Ängste, daß sie vor Kälte und Erschöpfung sterben oder durch Mörderhand umkommen könnten 289
wie die beiden Führer, schienen unbegründet. Vielleicht, so nahm Sam an, hatten sie irgendwie das verbotene Territorium verlassen, und die Anhänger Itha-quas konnten ihnen nun ihre Hilfe zuteil werden lassen. Zumindest entstand dieser Eindruck, denn sie fanden im Schnee neben ihrem Zelt Suppenkonserven, Streichhölzer, einen Petroleumkocher von der gleichen Art, den ihnen die beiden Führer gestohlen hatten, einen Haufen trockener Zweige und einen Zettel mit den Worten: ›Navissa liegt sieben Meilen südöstlich!« Offenbar war Lucilles Vision der vergangenen Nacht ein gutes Omen gewesen; Itha-qua selbst schien herabgeblickt und entschieden zu haben, daß die beiden verzweifelten Menschen noch eine Chance verdienten … Gegen Mittag, ausgeruht und mit heißer Suppe im Magen, waren sie bereit, das letzte Stück des Weges anzutreten. Aber kurz nach ihrem Aufbruch kam Sturm auf, gegen den sie sich vorankämpfen mußten, bis sie eine niedrige, waldbedeckte Hügelkette erreichten. Navissa, so rechnete Sam, lag jenseits dieser Hügel. Trotz des zunehmenden Sturms und der sinkenden Temperatur beschlossen sie, den Weg fortzusetzen, solange sie noch Kraft besaßen. Doch kaum stieg das Gelände an, da schien es, als hätten sich sämtliche Naturelemente gegen sie verschworen. Ich habe ihre Angaben überprüft. Jene Nacht war in der Tat eine der schlimmsten, die dieses Land je erlebt hatte. Es zeigte sich bald, daß es keinen Sinn hatte, dem Sturm zu trotzen. Eben als Sam den Entschluß faßte, das Unwetter irgendwo abzuwarten, erreichten sie ein dichtes Tannen- und Föhrengehölz, und da sie hier den Wind nicht so stark spürten, gingen sie noch ein Stück weiter. Kurz danach jedoch heulte der Sturm mit solcher Wut los, daß sie keine andere Wahl hatten, als Zuflucht vor den Naturgewalten zu suchen. Und sie entdeckten eine wahre Oase inmitten des Chaos. Durch die windgepeitschten Bäume und das Schneetreiben 290
glaubten sie zuerst eine niedrige Blockhütte zu erspähen, doch als sie näherkamen, erkannten sie, daß es sich in Wirklichkeit um ein riesiges Podest aus grobgefügten Baumstämmen handelte. An drei Seiten vom Schnee zugeweht, erinnerte es in der Tat an eine flach hingeduckte Hütte. Die vierte Seite dagegen war völlig offen, und als die beiden unter das Gerüst krochen, fanden sie ausreichenden Schutz gegen den Sturm. Sam zündete das Petroleumstövchen an und machte ein wenig Suppe heiß. Sie waren viel zu müde, um sich Gedanken über den Sinn der sonderbaren Vorrichtung zu machen. Sie dankten dem Schicksal, das sie zur rechten Zeit an diesen Zufluchtsort geführt hatte, und als der Sturm nach einigen Stunden immer noch nicht nachlassen wollte, richteten sie ihre Schlafsäcke her und legten sich zur Ruhe. Beide schliefen sofort ein. Das Unheil nahm seinen Lauf. Es wird wohl immer ein Rätsel bleiben, auf welche Weise Sam ums Leben kam, aber ich vermute, daß Lucille sein Sterben mit ansah und der Anblick ihre ohnehin geschwächten Nerven völlig versagen ließ. Jedenfalls steht fest, daß sich die Dinge, die sie erlebt haben will – ganz besonders ein Ereignis –, niemals zugetragen haben können. Gott bewahre uns! Dieser letzte Teil von Lucilles Geschichte setzt sich aus Fragmenten und Visionen zusammen, die man schwer deuten und noch schwerer in Worte kleiden kann. Da ist die Rede von Leuchtfeuern, die in die Nacht loderten, von einer ›Kongregation an Itha-quas Altar‹, von einem schaurigen alten Eskimogesang – der aus hundert preisenden Kehlen drang – und von dem Ding,, das aus den Wolken kam, um das Rufen Seiner Anbeter zu erhören … Ich will nicht im einzelnen schildern, was Lucille zu sehen glaubte, sondern wiederhole nur, daß Sam den Tod fand und dies der armen, gequälten Frau wohl den Rest gab. Eins scheint 291
allerdings festzustehen: Sie muß nach all diesem … Grauen … von jemandem Hilfe erhalten haben; allein und zu Fuß hätte sie in ihrem Zustand kaum eine Meile zurücklegen können – und doch fand man sie hier, dicht vor Navissa. Man brachte sie zu einem hier ansässigen Arzt, der nicht begreifen konnte, daß sie noch am Leben war. Sie wirkte durch und durch erstarrt, und es dauerte Wochen, bis sie sich soweit erholt hatte, daß man ihr die Wahrheit über Sam sagen konnte. Man hatte ihn draußen im Schnee aufgefunden, tot, zu einem Block aus Eis gefroren. Als sie Einzelheiten wissen wollte und nicht lockerließ, kam heraus, daß der Leichnam auf seltsame Weise zerschmettert und zerfleischt gewesen war, als hätten ihn wilde Tiere angefallen oder als sei er aus großer Höhe herabgestürzt – vielleicht auch beides. Die offizielle Version lautete, daß er auf einer Klippe ausgeglitten, abgestürzt und auf Felsbrocken gefallen sei und daß ihn anschließend die Wölfe ein Stück mit fortgeschleift hätten. Letzteres vermutet man, weil sein Körper alle Anzeichen eines heftigen Aufpralls aufwies, in der unmittelbaren Nähe des Fundorts jedoch keine Klippen zu finden sind. Weshalb die Wölfe ihn nicht fraßen, bleibt ungeklärt.« Damit schloß der Richter seine Erzählung; ich blieb noch eine Weile sitzen, in der Hoffnung, daß er fortfahren würde, doch er schwieg. Schließlich sagte ich: »Und sie glaubt, daß …« »Daß Itha-qua ihn tötete? – Ja, das glaubt sie – das und noch Schlimmeres …« Ich schaute ihn fragend an, aber er gab mir keine Gelegenheit, ihn festzunageln, sondern setzte hastig hinzu: »Übrigens ist Lucilles Körpertemperatur seit jener Zeit nie mehr völlig normal. Die Mediziner behaupten, jeder andere Mensch müßte bei dieser niedrigen Temperatur an Unterkühlung sterben. Sie sehen darin ein Symptom ernster seelischer Störungen, müssen andererseits jedoch zugeben, daß sie völlig 292
gesund wirkt. Und dann eben das hier …« Er streckte mir das Medaillon entgegen. »Nehmen Sie es bitte an sich! Man fand es bei Sams Leichnam; genauer gesagt, er hielt es fest umklammert in der Hand. Lucille bekam es später zusammen mit Sams Habseligkeiten. Sie ist der Ansicht, daß es ein merkwürdiges – Phänomen in sich birgt. Mal sehen, ob Sie das gleiche feststellen …« Ich nahm das Medaillon und betrachtete es aus der Nähe: ein abstoßendes Flachrelief, das eine Kampfszene zwischen brutalen Monstern zeigte. Nur ein genialer Künstler, der sich in den Klauen des Wahnsinns befand, konnte so etwas schaffen. Nach einer Weile fragte ich: »Das ist alles?« »Ja, ich glaube – oder halt! Da war noch etwas. Gewiß, nun fällt es mir wieder ein. Lucilles Sohn – Kirby. Er … nun, in mancher Hinsicht besitzt er starke Ähnlichkeit mit Sam: ein ungestümer junger Mann, der eine Vorliebe für das Ausgefallene, Absonderliche in alten Sagen und Legenden hat – im Grunde seines Herzens wohl so eine Art Zigeuner. Aber Lucille hat ihn in seinem Bewegungsdrang stets eingeschränkt. Jedenfalls ist er nun von daheim ausgerissen. Lucille glaubt, daß er sich in den Norden begeben hat. Vielleicht will er die Gegend aufsuchen, in der sein Vater umkam. Fragen Sie mich nicht, weshalb! Es heißt, daß Kirby in allen Dingen, die seinen Vater betreffen, äußerst empfindlich, ja geradezu neurotisch reagiert. Das hat er vielleicht von seiner Mutter geerbt. Sams Witwe ist fest entschlossen, den Jungen aufzuspüren und wieder heimzuholen. Falls es keinen sicheren Beweis dafür gibt, daß er sich hier aufhält, können Sie die Sache wieder vergessen. Sollte er jedoch tatsächlich in der Nähe sein, richte ich die Bitte an Sie, Lucille zu begleiten und sich ein wenig um sie zu kümmern. Gott weiß, was es für sie bedeutet, noch einmal die Schneewüste aufzusuchen, an die sie so böse Erinnerungen hat.« »Jederzeit, Richter, und mit Vergnügen«, entgegnete ich so293
fort. »Offen gestanden, je mehr ich über Bridgeman erfahre, desto mehr lockt mich das Geheimnis an. Denn daß es ein Geheimnis gibt, können Sie trotz aller vernunftmäßiger Deutungen nicht leugnen, oder?« »Ein Geheimnis?« Er schien darüber nachzudenken. »Der Schnee hat es in sich, David, und zuviel Schnee und Entbehrung kann zu den verrücktesten Täuschungen führen – wie eine Fata Morgana in der Wüste. Im Schnee kann es geschehen, daß die Menschen mit offenen Augen träumen. Andererseits läßt sich dieser unheimliche Fünfjahreszyklus nicht wegleugnen. Ich persönlich meine, daß alles eine ganz einfache Erklärung hat. Ein Geheimnis? – Nun, die Welt ist voll von Geheimnissen …« In dieser Nacht erlebte ich einen ersten Vorgeschmack auf das Grauen, das Rätselhafte, das Anderssein. Und in dieser Nacht erfuhr ich ferner, daß auch ich empfänglich sein mußte für diesen seltsamen Fünfjahreszyklus – entweder das, oder ich hatte vor dem Zubettgehen zuviel gegessen. Da war zuerst dieser Traum. Ich sah zyklopenhafte Städte unter dem Meer, in verrückten Perspektiven und Proportionen, dann wieder vage, aber unheimliche Bilder vom Raum zwischen den Sternen, durch den ich mit ungeheurer Geschwindigkeit zu wandern oder zu gleiten schien. Nebel schwebten wie Luftblasen in einem Weinglas, fremdartige Gestirne tauchten groß und drohend vor mir auf und entschwanden wieder, als ich vorbeiraste. Dazu vernahm ich die dröhnenden, weltenerschütternden Schritte eines Riesen. Ein heulender Äthersturm blies mir den Geruch der Sterne und die Splitter zertrümmerter Planeten ins Gesicht. Schließlich lösten sich all diese Eindrücke in Nichts auf, und ich war ein Staubkorn, verloren im Dunkel toter Äonen. Dann kam erneut Wind auf – nicht der Wind, der den Hauch der Unermeßlichkeit oder den Pollen aufkeimender Welten herbei294
trug – sondern ein echter, kreischender Sturm, der mich durchschüttelte und umherwirbelte, bis ich mich schwindlig und elend fühlte und Angst hatte, in Stücke gerissen zu werden. Und ich erwachte. Ich erwachte und glaubte zu erkennen, was diese seltsamen Visionen hervorgerufen hatte, diesen Alptraum völlig außerhalb meines Erlebnisbereichs. Denn draußen im Dunkel hörte ich ein Heulen und Pfeifen, einen Sturm, der das Zimmer mit seinem Brüllen erfüllte und zornig an den Dachplatten zu rütteln schien. Ich kroch aus dem Bett, trat ans Fenster und zog leise den Vorhang auf, um einen Blick ins Freie zu tun. Im nächsten Moment wich ich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Ein erstaunter Aufschrei entrang sich meinen Lippen. Die Nacht draußen war vollkommen ruhig. Hell und klar brannten die Sterne, und die kleinen Fichten im Garten des Flichters standen kerzengerade da. Nicht die leiseste Brise wehte. Bei meinem hastigen Rückzug – immer noch umgeben vom Tosen des Windes, der mitten im Zimmer zu entspringen schien – stieß ich versehentlich das goldene Medaillon vom Fenstersims, wo ich es vor dem Schlafengehen hingelegt hatte. Im gleichen Moment, da das mattgelbe Ding über die Fichtenbretter rollte, verstummte das Fauchen des Windes – so unvermittelt, daß ich die plötzliche Stille kaum ertragen konnte. Es war kein allmähliches Verklingen, sondern im wahrsten Sinn des Wortes ein Abschneiden jedes Lauts. Zitternd bückte ich mich und hob das Medaillon auf. Ich stellte fest, daß es trotz der Wärme in meinem Zimmer eine Temperatur um den Gefrierpunkt hatte. Aus einem Impuls heraus hielt ich das Ding dicht an mein Ohr. Und für ganz kurze Zeit glaubte ich ein Rauschen und Dröhnen wie im Innern einer Muschel zu vernehmen. Es ließ mich an ferne Stürme denken – an Stürme, die am Rande der Welt tobten.
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Am Morgen wußte ich natürlich, daß alles nur ein Traum gewesen war, nicht nur die wunderliche Bilderfolge von Meeresstädten und der Tiefe des Raums, sondern auch jene Vorkommnisse nach meinem ›Erwachen‹. Dennoch fragte ich den Richter, ob er im Laufe der Nacht etwas Außergewöhnliches gehört habe. Er verneinte, und ich fühlte mich seltsam erleichtert … Es vergingen drei Tage, in denen Lucille, nach Kräften unterstützt von Richter Andrews, nach dem Verbleib ihres Sohnes forschte. Wir glaubten schon, ihr Verdacht sei haltlos, da erreichte uns von den Mounties aus Fir Valley die Nachricht, daß man in der Tat einen jungen Mann gesehen hatte, auf den Kirbys Beschreibung paßte. Er hatte mit einer Gruppe fremder Landstreicher, verstärkt durch ein paar Herumstreuner aus Navissa, in den Ruinen von Stillwater kampiert. Die Beobachter – zwei alte Prospektoren, die es nicht lassen konnten, nach Gold zu schürfen – waren nicht gerade freundlich empfangen worden. Dennoch hatte sie bei der kurzen Begegnung gemerkt, daß sich jener junge Mann in einer Art Trance oder Betäubungszustand zu befinden schien und daß die anderen ihn bedienten und umsorgten. Natürlich hatten sie an Rauschgift gedacht und es den Mounties gemeldet. Ich beschloß, bei Gelegenheit Mrs. Bridgeman vorsichtig nach Kirby auszufragen, denn irgendwie hatte ich den Eindruck gewonnen, daß er nicht ganz richtig im Kopf war. Doch im Moment war ich zu sehr damit beschäftigt, mich mit einem Gefährt vertraut zu machen, das der Richter ›Schneekatze‹ nannte: ein relativ großer Motorschlitten moderner Bauart, den er von einem Freund in der Stadt für Mrs. Bridgeman gemietet hatte. Das Vehikel schien eine recht wirtschaftliche Angelegenheit zu sein. Es beförderte im Bedarfsfall zwei Erwachsene und ihre Ausrüstung mit einer Geschwindigkeit bis zu zwanzig Meilen pro Stunde über den Schnee, überwand aber auch normales Gelände, wenngleich etwas langsamer. Mit einem solchen Schlit296
ten konnten zwei Leute bequem an die hundertfünfzig Meilen am Tag zurücklegen – ohne nachzutanken – und in einem Territorium, das für Autos absolut unzugänglich war. Am nächsten Morgen brachen wir auf. Obwohl wir die Absicht hatten, alle zwei oder drei Tage nach Navissa zurückzukehren, um Sprit nachzufüllen, nahmen wir Proviant für eine ganze Woche mit. Unser erstes Ziel war Stillwater. In der Nacht hatte es geschneit, und die Strecke, die in die Geisterstadt führte, lag größtenteils unter einer geschlossenen weißen Decke. Dennoch befand sie sich unverkennbar in einem miserablen Zustand. An manchen Stellen wirkte sie nicht breiter als ein Trampelpfad. Mir fiel ein, daß der Richter gesagt hatte, seit der seltsamen Geschichte vor zwanzig Jahren ginge kaum noch ein Mensch nach Stillwater. Zweifellos lag darin der Grund für die heruntergekommene Fahrbahn. In Stillwater trafen wir einen Konstabler der Mounties, der eben nach Fir Valley aufbrechen wollte. Er hatte sich eigens in die Geisterstadt begeben, um der Story der beiden alten Goldsucher nachzugehen. McCauley, so hieß der Mann, begleitete uns bei einem Rundgang durch den Ort. Ursprünglich hatte die Siedlung aus soliden Holzbauten – Läden, Wohnhäusern und einem schäbigen Saloon – entlang der Main Street und einer Reihe abseits gelegener kleiner Hütten und Behelfsheime bestanden. Nun jedoch machte sich allenthalben und selbst auf der Hauptstraße Gras und Unkraut breit; auch die festeren Gebäude zeigten bereits deutliche Spuren des Verfalls. Die Hütten abseits der Main Street neigten sich wie Greise unter der Last ihrer Jahre. Die morschen Türpfosten, von denen längst die Farbe abgeblättert war, drohten jeden Moment einzustürzen und das Rahmenwerk mit in den Schnee zu reißen. Hier und da war eine Scheibe heil geblieben, aber meist hingen nur noch Splitter in den windschiefen Fensterstöcken. Sie sahen aus wie spitze Zähne in grinsenden schwarzen Mäulern. 297
Die Fetzen eines fleckigen, halb verrotteten Vorhangs flatterten in der Mittagsbrise. Obwohl wir einen sonnigen Tag erwischt hatten, lag eine gewisse Düsterkeit über Stillwater, das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte, eine Art Drohung, die den Ort wie ein Mantel des Bösen einzuhüllen schien. Ungeachtet der Tatsache, daß seit Verschwinden der letzten Bewohner zwanzig Jahre vergangen waren, erhielt man den Eindruck, daß die Stadt viel zu rasch verfiel – fast, als läge ein Bann über den Häusern, der sie vor der Zeit zerstörte. Kräftige junge Schößlinge bohrten sich durch die Schneedecke in der Hauptstraße; Gras und Unkraut wucherten auf Fenstersimsen, entlang Mauervorsprüngen und in den schwarzen Höhlen, wo sich verrottete Bohlen gelöst hatten und zu Boden gestürzt waren. Mrs. Bridgeman schien nichts davon zu bemerken. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein darum, daß ihr Sohn nicht mehr in der Stadt weilte – wenn er überhaupt dagewesen war. Im größten Gebäude, einer Schänke, die dem Verfall besser getrotzt hatte als die benachbarten Häuser, machten wir Kaffee und kochten einen Topf Suppe. Hier, in einem der Räume, entdeckten wir frische Spuren eines Lagers: Der Boden war mit leeren Konservendosen und Flaschen geradezu übersät, und in der Ecke hatte jemand auf Steinen ein Feuer entfacht; schwarze Aschereste lagen herum. Der Bericht der Prospektoren stimmte also. Der Konstabler stellte fest, daß es in dem Haus unangenehm kalt sei, und erst jetzt fiel mir auf, daß im Innern der alten Schänke tatsächlich stärkerer Frost herrschte als draußen auf den zugigen Straßen. Ich wollte diesen Gedanken eben aussprechen, als Mrs. Bridgeman mit zitternder Hand den Kaffeebecher hinstellte und sich von ihrem altersschwachen Stuhl erhob. Sie schaute zuerst mich an – mit einem seltsamen, durchdringenden Blick – und dann McCauley. 298
»Er war hier«, sagte sie unvermittelt und mit einer Stimme, die jeden Zweifel ausschloß. »Kirby war hier!« Der Mountie musterte sie scharf und sah sich dann verwundert im Raum um. »Woran erkennen Sie das, Mrs. Bridgeman?« Sie hatte sich abgewandt und gab einen Moment lang keine Antwort. Angespannt schien sie in die Ferne zu lauschen. »Hört ihr es nicht?« Konstabler McCauley schaute mich fragend von der Seite an. Er runzelte die Stirn. Im Zimmer war es vollkommen still. »Was sollen wir hören, Mrs. Bridgeman? Was?« »Nun, den Wind!« erwiderte sie, und ihre Blick wirkte umwölkt. »Den Wind, der weit draußen zwischen den Welten weht!« Eine halbe Stunde später waren wir wieder startbereit. Der Mountie hatte mich inzwischen unauffällig beiseite genommen und gefragt, ob die Suche angesichts Mrs. Bridgemans Zustand nicht ein wenig gefährlich sei. Für ihn gab es keinen Zweifel dran, daß er eine Verrückte vor sich hatte. Nun, ich schloß die Möglichkeit nicht aus. Bei Gott, wenn die Erzählung des Richters der Wahrheit entsprach, dann hatte die arme Frau genug mitgemacht, um den Verstand zu verlieren. Da ich jedoch das Kernproblem zu jener Zeit noch nicht kannte, tat ich ihr seltsames Gebaren mit einem Achselzucken ab und erwiderte nur, daß sie in abgöttischer Liebe an ihrem Sohne hinge. Diesen Eindruck hatte ich zumindest gewonnen – aber es erklärte nicht das andere. Dem Mountie gegenüber erwähnte ich es mit keiner Silbe; erstens ging es ihn nichts an, und zweitens wollte ich nicht, daß er auch mich für übergeschnappt hielt. Aber ich hatte in der Tat etwas gehört, als Mrs. Bridgeman in der heruntergekommenen Schänke ihre Frage stellte. Im gleichen Moment, da sie die 299
Worte sprach: »Hört ihr es nicht?«, hatte ich gerade in meiner Parkatasche nach einer Zigarettenschachtel gekramt. Dabei stieß ich auf das seltsame goldene Medaillon, und als sich meine Finger um das eiskalte Metall schlossen, spürte ich das Pulsieren unheimlicher Energien, ein elektrisches Kribbeln, das alle meine Sinne aufzuputschen schien. Ich fühlte die Kälte des Raums zwischen den Sternen; wie in meinen Träumen drangen die Gerüche fremder Welten auf mich ein; für den Bruchteil einer Sekunde eröffneten sich mir schwindelnde Ausblicke, zogen Äonen an mir vorüber; und auch ich vernahm einen Wind – ein heulendes Etwas, das nichts mit unserem Universum gemein hatte! Diese … Version? … war so schnell verflogen, daß ich kaum darüber nachdachte. Wahrscheinlich hatte mein Gehirn, als ich das Medaillon berührte, die Träume der Nacht wieder heraufbeschworen. Das war die einzige Erklärung. Ich schätze, daß wir uns gegen fünf Uhr nachmittags an die fünfzig Meilen nördlich von Stillwater befanden. Hier, im Windschatten eines bewaldeten kleinen Hanges, beschlossen wir die Nacht zu verbringen. Die Äste der hoch aufragenden Nadelbäume bogen sich unter ihrer weißen Last. Auf der Schneedecke hatte sich bereits eine dünne Harschkruste gebildet. Ich errichtete unsere beiden winzigen Biwaks unter einer Föhre, deren überhängende Äste selbst eine Art Zelt formten. Dort machte ich unser Stövchen an und bereitete das Essen zu. Ich fand, daß es nun an der Zeit war, Mrs. Bridgeman taktvoll nach einigen Einzelheiten ihrer Geschichte zu befragen, die mir noch Kopfzerbrechen bereiteten; aber dann, als gäbe es noch nicht genug Ungewöhnliches, sah ich mit eigenen Augen etwas, das der Richter bereits angedeutet hatte: Unser Mahl war beendet. Ich richtete meinen Schlafsack her und schichtete Schnee um das Zelt, damit keine Zugluft durch 300
die Ritzen dringen konnte. Als ich Mrs. Bridgeman anbot, diese Arbeit auch für sie zu erledigen, versicherte sie mir, daß sie schon allein zurechtkäme. Im Moment wollte sie nur ›ein wenig frische Luft schnappen‹. Diese Worte allein hätten gereicht, um mich in Erstaunen zu setzen (denn frischer konnte die Luft kaum sein!), aber dann streifte sie auch noch ihre Parka ab und trat, nur mit Pullover und langer Hose bekleidet, in die arktische Abendkälte hinaus. Ich selbst hatte mich dick vermummt, doch nun überkam mich ein Frösteln, als ich sie aus unserem Lager unter den Ästen beobachtete. Eine halbe Stunde lang stapfte sie einfach im Schnee umher; gelegentlich warf sie einen Blick zum Himmel oder in die dunkle Ferne. Schließlich war ich vom langen Warten völlig klamm. Ich nahm ihre Parka und trat steif vor Kälte zu ihr hinaus. Als ich ihr den Anorak um die Schultern legte, machte ich mir Vorwürfe, daß ich sie so lange allein gelassen hatte. Man stelle sich jedoch mein Erstaunen vor, als sie sich mit einem fragenden Blick umdrehte und nicht die Spur von Unbehagen verriet. Im Gegenteil, meine Besorgnis schien sie maßlos zu überraschen. Offenbar sah sie sofort, wie sehr ich selbst unter der Kälte litt. Sie schalt mich, daß ich nicht längst das Zelt aufgesucht hatte, und eilte an meiner Seite in den Schutz der überhängenden Föhrenzweige. Dort stellte sie rasch Wasser auf und machte Kaffee. Sie trank selbst jedoch keinen Schluck des heißen, belebenden Gebräus, und ich war so verwirrt über ihre Unempfindlichkeit gegenüber der Kälte, daß ich alle meine Fragen vergaß. Da Mrs. Bridgeman sich allem Anschein nach zurückziehen wollte und mein eigener Schlafsack bereitlag, trank ich nur den Kaffee leer, schaltete das Stövchen aus und kroch ins Zelt. Ich war mit einemmal todmüde. Das letzte, was ich vor dem Einschlafen durch die Zweige schimmern sah, war ein Stück Himmel, übersät von hellen Sternen. Dieser Anblick grub sich in 301
mein Bewußtsein und spukte durch meine Träume. Denn ich träumte die ganze Nacht – von Dingen, die mich beunruhigten. Denn die Sterne, die ich sah, schienen ein eigenes Leben zu besitzen; sie erinnerten an ein Augenpaar. Karminrot glühten sie gegen einen beweglichen schwarzen Hintergrund von grausigen Umrissen und gigantischen Ausmaßen … Beim Frühstück am nächsten Morgen – es gab Käse- und Tomaten-Sandwiches, dazu noch Kaffee und Fruchtsaft – kam ich beiläufig auf Mrs. Bridgemans verblüffende Kälteimmunität zu sprechen. Sie warf mir einen merkwürdigen Blick zu und meinte: »Sie dürfen mir glauben, Mister Lawton, ich gäbe alles darum, wenn ich nur ein einziges Mal den Frost spüren könnte. Ich habe mir dieses – Leiden –, das äußerst selten auftritt, hier oben im Norden zugezogen. Und es zeigt sich auch bei …« »Bei Kirby?« ergänzte ich. »Ja.« Sie musterte mich von der Seite. »Wieviel hat Ihnen Richter Andrews erzählt?« Ich konnte meine Verlegenheit nicht verbergen. »Er … er berichtete mir vom Tod Ihres Mannes und …« »Was sagte er von meinem Sohn?« »Sehr wenig. Sehen Sie, Mrs. Bridgeman, er haßt Klatsch aller Art und …« »Und Sie sind der Meinung, daß es in meinem Fall eine Menge zu klatschen gäbe?« Sie wirkte mit einemmal verärgert. »Ich weiß nur, daß ich hier bin, um einer Frau bei der Suche nach ihrem Sohn zu helfen, und daß ich ihrem Instinkt und ihren Launen nachgebe, um einem alten Mann einen Gefallen zu erweisen. Offen gestanden, vermute ich ein großes Geheimnis hinter der ganzen Sache, und ich gebe zu, daß Geheimnisse mich reizen. Aber meine Neugier ist ohne jede Bosheit, das müssen Sie mir glauben, und ich habe den ehrlichen Wunsch, Ihnen beizustehen.« 302
Sie wandte sich einen Moment lang ab, und ich dachte, sie sei immer noch verärgert, doch als sie mich wieder ansah, wirkte ihre Miene sehr viel beherrschter. »Hat der Richter Ihnen nicht gesagt, daß Sie in Gefahr geraten könnten?« »In Gefahr? Nun ja, die Schneestürme setzen bald ein …« »Mit dem Schnee hat das nichts zu tun. Der Richter besitzt Sams Werke. Haben Sie darin gelesen?« »Gewiß. Aber welche Gefahr steckt schon im Mythos, in der Folklore?« Ich ahnte zwar, worauf sie abzielte, aber ich wollte aus ihrem eigenen Mund hören, ob sie den gleichen ›Glauben‹ hatte wie ihr verstorbener Mann. »Welche Gefahr in Mythen und Legenden steckt?« Sie lächelte düster. »Ich stellte Sam die gleiche Frage, als er mich in Navissa zurücklassen wollte. Gott, hätte ich nur auf ihn gehört! Welche Gefahr in der Folklore liegt? Ich kann darauf nicht so antworten, wie ich möchte – Sie würden mich für verrückt halten. Selbst der Richter zweifelt an meinem Verstand, das merke ich genau. Aber ich will Ihnen eins sagen: Wir kehren heute noch nach Navissa zurück. Auf dem Heimweg zeigen Sie mir, wie man den Schlitten steuert. Ich lasse nicht zu, daß auch Sie in diese grauenhafte Geschichte verwickelt werden.« Ich versuchte ihr die Sache auszureden, aber sie blieb hart. So lösten wir schweigend das Lager auf, packten die Zelte und Geräte auf den Motorschlitten und brachen in Richtung Navissa auf, nachdem ich noch einmal vergeblich versucht hatte, sie umzustimmen. Eine halbe Stunde lang folgten wir in gemächlicher Fahrt einem zugefrorenen Wasserlauf durch düstere Föhrenwälder. Die schneebeladenen Baumwipfel ließen kaum einen Lichtstrahl durch. Als ich dann vom Bachbett weg mehr nach Süden steuerte, vorbei an einem niedrigen Wäldchen, da stieß ich durch 303
Zufall auf etwas, das Mrs. Bridgemans Hinweis auf schreckliche Gefahren zu bestätigen schien. Es war eine große Vertiefung im Schnee, der ich rasch ausweichen mußte, damit der Schlitten nicht umkippte. Ich hielt das Gefährt an. Wir stiegen ab, um einen genaueren Blick auf die seltsame Mulde zu werfen. Der Schnee lag in diesem Gebiet höher, drei bis vier Fuß, aber in der Mitte der Senke war er wie durch ein Riesengewicht bis fast zum Erdreich hin flachgepreßt. Die Vertiefung hatte eine Länge von zwanzig Fuß und eine Breite von sieben bis acht Fuß; in der Form erinnerte sie an … Unvermittelt fielen mir die Worte des Richters ein, der von den Spuren Itha-quas, des Windwanderers, gesprochen hatte – von seinen gigantischen, flossenähnlichen Fußabdrücken! Aber das war natürlich lächerlich. Und doch … Ich schickte mich eben an, dem Rand der wunderlichen Mulde entlangzuwandern, als ich hinter mir Mrs. Bridgemans Aufschrei hörte. Bleicher, als ich sie ja zuvor gesehen hatte, lehnte sie am Schlitten, die Hand vor den Mund gepreßt. Rasch ging ich zu ihr. »Mrs. Bridgeman?« »Er … Er war hier!« wisperte sie entsetzt. »Ihr Sohn?« »Nein, nicht Kirby – Er!« Sie deutete und starrte mit weit aufgerissenen Augen den flachgewalzten Schnee an. »Itha-qua, der Windwanderer – das hier ist Sein Zeichen. Und es bedeutet, daß ich vielleicht schon zu spät komme.« »Mrs. Bridgeman«, begann ich ein wenig lahm, »in dieser Kuhle hat heute nacht eine Tierherde geschlafen. Die seltsamen Ränder stammen von Schneewehen.« »Heute nacht hat es wieder geschneit und gestürmt, Mister Lawton«, entgegnete sie, inzwischen etwas gefaßter. »Aber Ihre Erklärung ist ohnehin unsinnig. Sehen Sie sich um! Erken304
nen Sie irgendwo Tierfährten? Nein – keine einzige! Es ist die Spur des Bösen. Er war hier – und zu dieser Stunde versucht mein Sohn irgendwo in der Nähe Kontakt mit Ihm aufzunehmen, unterstützt von den armseligen Teufeln, die Ihn verehren.« Ich sah meine Chance, die Rückkehr nach Navissa zu vereiteln. Wenn wir jetzt heimkehrten, erfuhr ich vielleicht nie die ganze Geschichte. Außerdem würde ich mich vor meinem Wohltäter, dem alten Richter, schämen. »Mrs. Bridgeman, wenn wir unseren Weg nach Süden fortsetzen, verschwenden wir nur Zeit. Was mich betrifft, so fürchte ich mich nicht vor der Gefahr, worin immer sie auch bestehen mag. Falls jedoch Kirby unsere Hilfe braucht – in Navissa sind uns die Hände gebunden. Allerdings wäre es von Vorteil, wenn Sie mir etwas ausführlicher erzählten, was sich damals zugetragen hat. Einen Teil der Geschichte kenne ich bereits, aber es muß mehr dahinterstecken. Sehen Sie, der Sprit reicht noch für etwa hundertzwanzig Meilen. Ich schlage vor, daß wir wieder in den Norden fahren und dort nach Ihrem Sohn suchen. Sollten wir ihn bis zu dem Zeitpunkt, da unser Benzin zur Hälfte verbraucht ist, nicht entdeckt haben, kehren wir auf kürzestem Wege nach Navissa zurück. Außerdem schwöre ich hier und jetzt, daß ich, solange Sie leben, kein Wort über die Dinge verlauten lasse, die Sie mir anvertrauen oder die ich hier in der Wildnis mitansehe. Nun – was halten Sie davon?« Sie zögerte mit der Antwort, dachte über meinen Vorschlag nach. Meine Blicke schweiften inzwischen nach Norden. Ich sah die Wolkenwand, die rasch heraufzog, und spürte jenen merkwürdigen, kaum wahrnehmbaren Umschwung in der Atmosphäre, der jedem Schneesturm vorausgeht. Ich begann zu drängen. »Wir können hier nicht herumstehen, wenn wir Kirby noch vor dem Losbrechen des Unwetters finden wollen! Das Barometer fällt …« »Die Kälte macht Kirby nichts aus, Mister Lawton – aber Sie 305
haben recht. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Von nun an werden wir nur kurze Pausen einlegen und so schnell wie möglich fahren. Unterwegs erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß. Aber ich warne Sie noch einmal: Wenn wir Kirby finden, dann müssen wir uns auf Schreckliches gefaßt machen!« Ich behielt recht mit meiner Wettervorhersage. Gegen halb elf fiel der Schnee bereits in dichten Flocken. Wir umfuhren tiefe Föhrenwälder und überquerten zugefrorene Wasserläufe. Das Barometer sank immer noch, doch zum Glück herrschte bislang nur schwacher Wind. Während der ganzen Fahrt hielt ich Ausschau nach jenen seltsamen, unerklärlichen Mulden im Schnee, obwohl ich tief im Innern wußte, daß ich keine mehr entdecken würde. Ein dichtes Wäldchen mit stark verfilzten Baumkronen, die wie ein großer Schirm den Schnee auffingen, diente uns mittags als Rastplatz. Während des Essens begann Mrs. Bridgeman von ihrem Sohn zu erzählen, von seiner bemerkenswerten frühen Kindheit und den absonderlichen Neigungen, die er als Heranwachsender entwickelte. Ihre erste Enthüllung war jedoch geradezu skurril, und der Richter vermutete wohl nicht zu Unrecht, daß die Dinge, die zwanzig Jahre zuvor geschehen waren, ihren Geist verwirrt hatten – zumindest, soweit es ihren Sohn betraf. »Kirby«, begann sie ohne Umschweife, »ist nicht Sams Sohn. Ich hänge an ihm, gewiß, aber er war alles andere als ein Kind der Liebe. Er kam mit dem Wind zu mir. Nein, unterbrechen Sie mich nicht – ich will keine Vernunftdeutung! Können Sie mich verstehen, Mister Lawton? Nein, das ist wohl zuviel verlangt. Ich dachte anfangs selbst, daß ich den Verstand verloren hatte, daß alles ein Alptraum gewesen sei. Ich redete mir das ein, bis – bis Kirby zur Welt kam. Dann, als er heranwuchs, stellten sich die ersten Zweifel ein. Heute weiß ich, daß ich keine Sekunde lang verrückt war. Was mir hier im 306
Schnee widerfuhr, war kein Alptraum, sondern ein echtes, wenn auch ungeheuerliches Erlebnis! Und warum nicht? Sind nicht die ältesten, uns bekannten Religionen und Mythen voll von Erzählungen über Götter, die den Töchtern der Menschen nachstellten? In grauer Vorzeit gab es Riesen, Mister Lawton. Es gibt sie heute noch. Erinnern Sie sich an die Wendy-Smith-Expedition von 33? Was mag der arme Mann wohl in den unerforschten Gebieten Afrikas gefunden haben? Was veranlaßte ihn, diese Sätze zu schreiben, die ich inzwischen auswendig kann: ›Es gibt Legenden und Fabeln von Geschöpfen eines fremden Sterns, die vor Jahrmillionen die Erde bewohnten und noch an manchen verborgenen Plätzen hausten, als die Menschheitsevolution einsetzte. Ich bin überzeugt davon, daß es sie da und dort auch heute noch gibt.‹ Wendy Smith war überzeugt davon – ebenso wie ich es bin! 1913 gebar eine Geisteskranke in Dunwich zwei Monster. Die beiden sind längst tot, aber in Dunwich gehen heute noch Gerüchte um, daß der Vater dieser Wesen kein Mensch gewesen sein kann. Oh, es gibt eine Menge Beispiele von fremden Wesen und Kräften, die wie Götter verehrt wurden. Weshalb sollte nicht das eine oder andere dieser Geschöpfe tatsächlich existieren? Um auf Itha-qua zu kommen – nun, jeder Mythos auf der Erde kennt Luftgeister. Und mit Recht, denn selbst heute gibt es die absonderlichsten Luftströmungen, die den Menschen mit Qualen und Wahnsinn erfüllen. Denken Sie nur an den Föhn, den Fallwind der Alpen! Oder an das Wispern und Orgeln in den Höhlen Kalabriens, das aus kerngesunden, normalen Männern über Nacht weißhaarige, stammelnde Idioten gemacht hat! Was verstehen wir von solchen Kräften? Unsere Rasse ist eine Ameisenkolonie, Mister Lawton, die einen Hügel am Rande eines grenzenlosen Abgrunds namens 307
Ewigkeit bewohnt. In dieser Ewigkeit kann alles geschehen. Wir haben keine Ahnung, was uns erwartet. Was wissen wir schon von den Fakten in unserer winzigen Ecke des niemals endenden Universums, in dieser vergänglichen Spanne des Raum-Zeit-Kontinuums? Zu Anbeginn kamen Riesen von den Sternen – Geschöpfe, die den Raum zwischen den Welten überwanden, die nach Belieben ganze Systeme in ihren Besitz nahmen und bewohnten – und manche von ihnen leben heute noch. Was ist die Menschheit für solche Wesen? Ich will es Ihnen sagen: Sie ist nicht mehr als das Plankton auf den Meeren von Raum und Zeit! Aber ich schweife ab. Kehren wir zurück zu den Tatsachen! Noch bevor ich mit Sam nach Navissa kam, hatten wir erfahren, daß er steril war – aber dann, nachdem dieses Ungeheuer meinen Mann umgebracht hatte, war ich plötzlich schwanger. Natürlich glaubte ich anfangs, daß sich die Ärzte getäuscht hatten, daß Sam in Wirklichkeit doch nicht steril gewesen war und wir das Kind gezeugt hatten. Und das schien sich als richtig zu erweisen, denn das Baby kam acht Monate nach Sams Tod auf die Welt. Offensichtlich hatte ich es noch vor unserer Fahrt in den Norden empfangen. Und doch, es war eine harte Schwangerschaft, und das Neugeborene sah so sonderbar aus – zart, verträumt und viel zu still –, daß ich, obwohl ich wenig von kleinen Kindern verstand, unwillkürlich an eine … Frühgeburt dachte. Die Füße des Babys waren ungewöhnlich groß und hatten eine dünne rosa Haut zwischen den Zehen, die mit der Zeit härter und kräftiger wurde. Verstehen Sie das bitte nicht falsch: Mein Sohn war in keiner Weise eine Mißgeburt. Diese Haut zwischen den Zehen haben viele Leute; bei manchen wächst sie sogar zwischen den Fingern. Von dieser Besonderheit abgesehen schien er sich ganz normal zu entwickeln. Nun, so ganz normal vielleicht doch nicht … 308
Lange bevor er gehen konnte, plapperte er bereits. Es waren Babylaute für jeden, der nicht so genau hinhörte. Er plapperte unentwegt, auch wenn er allein in seinem Bettchen lag – und immer, wenn draußen der Wind ging. Er sprach mit dem Wind. Aber das war nicht weiter bemerkenswert. Selbst größere Kinder plaudern oft mit unsichtbaren Spielgefährten, mit Menschen, Tieren und Dingen, die nur sie sehen können. Nur – manchmal hätte ich schwören können, daß der Wind Kirby Antwort gab! Lachen Sie meinetwegen, Mister Lawton, ich könnte es Ihnen nicht verdenken – aber um unser Haus wehte immer der Wind, auch wenn sich in der Umgebung kein Lüftchen rührte … Als Kirby älter wurde, ließ das nach – vielleicht hatte ich mich auch daran gewöhnt und nahm es nicht mehr wahr. Er erreichte das Schulalter, doch ich konnte nicht daran denken, ihn zum Unterricht zu schicken. Er war so verspielt – nicht langsam oder zurückgeblieben, nein, aber er lebte ständig in einer Art Traumwelt. Und immer faszinierte ihn der Wind. In einer Sommernacht, als er sieben war, kam ein Sturm auf, der das Haus hinwegzufegen drohte. Er wehte vom Meer her, ein Nordwind aus dem Golf von Mexiko – oder vielleicht auch von weiter her, wer weiß? Jedenfalls hatte ich Angst, wie die meisten meiner Nachbarn. So dämonisch war die Wut des Sturms, daß er mich an … an einen anderen Sturm erinnerte, den ich miterlebt hatte. Kirby spürte meine Furcht. So unglaublich es klingt, er riß ein Fenster auf und schrie nach draußen. Er schrie dem heulenden, geifernden Sturm mitten ins Gesicht. Können Sie sich so etwas vorstellen? Ein kleines Kind mit gefletschten Zähnen und flatterndem Haar brüllte in den Sturm hinaus, der es mit einer einzigen Bö um die ganze Welt wirbeln könnte! Und doch war gleich darauf die ärgste Wut des Unwetters gebrochen. Kirby lehnte sich ins Freie und schalt die kleineren 309
Ausläufer des Windes, bis rundherum wieder vollkommene Stille herrschte … Mit zehn begann er sich für Modellflugzeuge zu interessieren. Sein Privatlehrer ermutigte ihn, eigene Modelle zu bauen, und half ihm dabei. Sie müssen wissen, in diesen Dingen war Kirby den anderen Kindern seines Alters weit voraus. Einer seiner Entwürfe erregte bei der Ausstellung unseres Modellklubs großes Aufsehen. Das Ding hatte eine ungewöhnliche Form; die Unterseite war gerippt und irgendwie verwunden. Es funktionierte nach einem Prinzip, das mein Sohn selbst entdeckt hatte. Ich erinnere mich, daß er es noch am gleichen Tag stolz zum Segelfliegerverein brachte. Dort lachten ihn Kinder und Erwachsene aus und prophezeiten ihm, es könne sich auf gar keinen Fall in der Luft halten. Kirby führte ihnen das Miniaturflugzeug eine Stunde lang vor, und sie konnten sich nicht genug darüber wundern, daß es allen Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen schien. Dann aber, weil sie ihn ausgelacht hatten, zerbrach er das Modell in kleine Schnipsel aus Balsaholz und Japanseide und warf sie den Zuschauern wie Konfetti vor die Füße. Schon damals besaß er diesen verrückten Stolz. Ich selbst war nicht dabei, aber man sagte mir, daß der Konstrukteur einer der großen Modellfirmen Tränen in den Augen hatte, als Kirby seinen Gleiter kaputt machte … Und er liebte Drachen – er hatte immer einen Drachen. Stundenlang konnte er dasitzen und dem Papiergebilde hoch oben am Himmel nachträumen. Als Dreizehnjähriger wünschte er sich ein Fernglas, damit er die Vögel im Flug beobachten konnte. Ganz besonders hatten es ihm die Falken angetan, wenn sie mit kurzen Schwingenschlägen ihre Kreise zogen oder beinahe reglos in der Luft standen. Dann ereignete sich etwas, das mir zu Bewußtsein brachte, wie gefährlich Kirbys Schwärmerei für den Wind war. Ich hatte 310
schon seit längerem eine starke Unruhe an ihm bemerkt, eine gedrückte Stimmung, eine Art dumpfe Besessenheit. Um Kirby abzulenken, unternahm ich mit ihm einen Ausflug nach Chichen Itza. Ich war schon einmal mit Sam dort gewesen und erhoffte mir von der Reise auch eine Erinnerung an glückliche Zeiten. Es gab jedoch eine ganze Reihe von Dingen, die ich vorher nicht bedacht hatte. Um die alten Gemäuer weht oft ein scharfer Wind, und die Ruinen selbst mit ihrer Aura des längst Vergangenen, ihren fremdartigen Schriftzeichen und den Zeugnissen blutrünstiger Götzenkulte – nun, sie sind dazu angetan, den Betrachter zu … ängstigen. Ich hatte auch vergessen, daß die Maya ihren eigenen Gott der Lüfte hatten, Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange – und das hätte um ein Haar zum Verhängnis geführt. Kirby war während der ganzen Fahrt still und gedankenversunken gewesen, und das blieb er auch, nachdem wir uns erfrischt hatten und zu den alten Bauwerken und Tempeln hinauswanderten. Während ich mir einige der Ruinen ansah, erklomm Kirby den hoch aufragenden, mit grausigen Szenen geschmückten Tempel der Krieger, an dessen Fassade sich gefiederte Schlangen mit entblößten Fängen und peitschenden Leibern aufrichten. Mindestens zwei Dutzend Leute, in der Hauptsache Mexikaner, sahen ihn fallen, und sie alle erzählten später die gleiche Geschichte: daß ein plötzlich aufgekommener Wirbelwind den Sturz abgefangen habe, bis Kirby beinahe in Zeitlupe nach unten trudelte, und daß der Junge einen unheimlichen Schrei ausgestoßen habe, bevor er ins Leere trat – fast, als wolle er die fremden Götter herausfordern. Es war ein Sturz aus großer Höhe, und Kirby schlug auf harte Steinplatten … Die Umstehenden konnten es nicht fassen, daß er noch lebte. Kirby war ohnmächtig, aber unverletzt. Es gelang mir, die 311
Behörden davon zu überzeugen, daß er nur ausgerutscht sei, und ich schleppte ihn weg, bevor er das Bewußtsein wiedererlangte. Denn wie hätte ich Kirbys Gesichtsausdruck erklären sollen – dieses Lächeln des Triumphs, der höchsten Befriedigung? Der Zwischenfall ereignete sich kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag, zu einer Zeit, da hier im Norden der Fünfjahreszyklus des ›Aberglaubens und der Massenhysterie‹ wieder einmal seinen Höhepunkt erreichte. Wenn Sie mich fragen – der Zusammenhang läßt sich nicht leugnen. Seit damals – und ich mache mir Vorwürfe, daß ich erst so spät dahinterkam – hat Kirby heimlich jeden Pfennig gespart. Heute weiß ich natürlich, daß er seine Reise nach Norden schon lange geplant und vorbereitet hatte. Sehen Sie, er ist von Anfang an einem vorgezeichneten Weg gefolgt, und ich glaube nicht, daß ich daran etwas hätte ändern können. Vor kurzem nun geschah etwas, das seinen Entschluß bestärkte, etwas, das ihn wie einen Magneten nach Norden zog. Ich weiß nicht, wie das alles enden soll, aber ich muß mir Gewißheit verschaffen, so oder so, ein für allemal …« Gegen halb zwei brachen wir erneut auf. Hin und wieder gerieten wir in ein Schneegestöber, doch zum Glück herrschte ein leichter Rückenwind, der unsere Fahrt erleichterte. Und schon bald stießen wir auf Zeichen, die uns verrieten, daß noch andere Menschen in dieser Schneewüste unterwegs waren: frische Spuren von Schneeschuhen, die fast parallel zu unserem Weg verliefen und zu einer niedrigen Hügelkette führten. Wir folgten dieser Fährte, die von mindestens drei Personen stammte, bis sie auf einer kahlen Bergkuppe mit anderen zusammenstieß. Hier verließ ich den Schlitten und warf einen Blick in die Wildnis, die uns umgab. Durch das Schneetreiben konnte ich verschwommen unseren letzten Lagerplatz ausmachen. Mir dämmerte sofort, daß dieser Hügel ein idealer Platz gewesen sein mußte, um uns zu beobachten. 312
Mrs. Bridgeman zupfte mich am Parkaärmel und deutete nach Norden. Ich entdeckte eine Reihe dunkler Punkte, die einem fernen Föhrenwald zustrebten. »Wir müssen ihnen folgen«, erklärte sie. »Es werden Anhänger Seines Kultes sein, auf dem Wege zu einer Kulthandlung. Vielleicht befindet sich Kirby bei ihnen.« Bei dem Gedanken klang ihre Stimme erregt. »Rasch – wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren!« Aber genau das geschah. Als wir die Stelle erreichten, wo Mrs. Bridgeman die Gruppe erspäht hatte, waren die Leute bereits im Dunkel des hohen Waldes untergetaucht. Ich fuhr bis zum Waldrand und hielt dort an. Obwohl es mir ein Leichtes gewesen wäre, die Spuren weiterzuverfolgen – was auch im Sinn meiner Begleiterin lag –, zögerte ich, denn ein solcher Schritt hätte bedeutet, daß wir unser Gefährt im Stich lassen mußten. Statt dessen schlug ich vor, den Wald im Bogen zu umfahren, einen Aussichtspunkt am Nordrand zu suchen und dort die Ankunft der Gruppe zu erwarten. Mrs. Bridgeman stimmte diesem Kompromiß auch bereitwillig zu, und es verging keine Stunde, bis wir gut getarnt in einem Föhrengestrüpp jenseits des großen Waldes kauerten. Wir beobachteten abwechselnd den Waldrand, und während ich die erste Wache übernahm, kochte Mrs. Bridgeman einen Topf Kaffee. Wir hatten nur das Stövchen abgeladen; es erschien uns unklug, ein Lager zu errichten, das wir dann vielleicht in aller Eile abbrechen mußten. Nach etwa zwanzig Minuten hätte ich schwören können, daß für den Rest des Tages kein Schnee mehr fallen würde. Ich sagte das auch zu meiner Begleiterin, als sie mir einen Becher Kaffee brachte. Der bleigraue Himmel hatte sich aufgehellt, und die Wolken zogen davon. Aber dann kam aus dem Nichts der Wind! Augenblicklich sank die Temperatur, und ich spürte, wie 313
beim Einatmen der eisigen Luft die winzigen Härchen in meinen Nasenlöchern erstarrten. Der Kaffeerest gefror im Handumdrehen, und Reif überzog meine Augenbrauen. Obwohl ich dick vermummt war, drang die Kälte bis zu den Knochen durch. Ich zog mich in den dürftigen Schutz der Föhren zurück. Meteorologisch ließ sich dieser Umschwung einfach nicht erklären, ebensowenig wie das schreckliche Unwetter, das etwa eine halbe Stunde später über uns hereinbrach. Als ich durch eine Lücke der schneebeladenen Äste zum Himmel hinaufschaute, konnte ich die Wolkenbänke erkennen, die drohend näherrückten – ein merkwürdiges Gemisch aus Kumulonimbus- und Nimbostratus-schichten. Hatte der Himmel am Vormittag bleiern gewirkt, so sah er jetzt schwarz und düster aus. Er lag wie eine schwere Last über dem Land. Und dann begann es zu schneien. Obwohl alles auf einen Orkan hindeutete, blieb der Wind zum Glück mäßig; dafür fiel der Schnee dichter als je zuvor. Die Flocken senkten sich zu Myriaden, blieben mit einem leisen Wispern liegen. Da die Sicht nicht mehr weiter als ein paar Fuß reichte, gab ich meinen Beobachtungsposten auf. Wir saßen fest, aber das gleiche galt für die verdächtige Gruppe, die in den Wald eingedrungen war – »Seine Jüngerschar«, wie Mrs. Bridgeman beharrte. Wir mußten ebenso wie sie darauf warten, daß das Schneetreiben nachließ. In den nächsten beiden Stunden, bis gegen fünf Uhr, errichtete ich einen Windschutz aus heruntergefallenen Ästen und Schnee. Dann entzündete ich nahe dem Schlitten ein niedriges Feuer. Was immer geschah, ich mußte verhindern, daß der Motor unseres Gefährts einfror. Mrs. Bridgeman saß die ganze Zeit über einfach da und grübelte; die Kälte schien ihr nicht das geringste anzuhaben. Ich nehme an, daß sie mit dem Schicksal haderte, weil wir unsere 314
Suche nicht fortsetzen konnten. Während ich den Schnee um unser Versteck festklatschte, dachte ich über alles nach, was uns bis jetzt widerfahren war. Um die Wahrheit zu gestehen, die Vielzahl der ›Zufälle‹, die hier zusammentrafen, machte mich mißtrauisch. Ich hatte zu viele Dinge erlebt, die ich bis jetzt für unmöglich gehalten hatte. Es gelang mir nicht mehr, die Erinnerung an meinen seltsamen Traum zu unterdrücken oder die Gefühle zu verdrängen, die beim Berühren des goldenen Medaillons in mir aufgestiegen waren. Dazu kam – wie der Richter, Mrs. Bridgeman und Ranger McCauley bestätigt hatten –, daß in dieser Gegend unleugbar alle fünf Jahre eine hektische Aktivität einsetzte, ein morbides Sektentum mit fremdartigen Riten und Zeremonien. Was mochte sich hier vor zwanzig Jahren wirklich ereignet haben? Es mußten Dinge von ungeheurer Tragweite gewesen sein, denn die Echos von damals reichten bis in die Gegenwart. Nur – so wie Mrs.Bridgeman die Sache geschildert hatte, konnte sie sich nicht abgespielt haben. Andererseits war mir die Witwe, abgesehen von ihrer Nervosität und vereinzelten Reaktionen, die sich vielleicht durch den emotionellen Streß entschuldigen ließen, völlig normal erschienen … Oder doch nicht? Ich schwankte. Was sollte ich von dieser seltsamen Kälteunempfindlichkeit halten? Auch jetzt saß Mrs. Bridgeman blaß und geistesabwesend da und starrte einfach in den Schnee hinaus. Sie merkte nicht, daß ihre Kleidung reifbedeckt war, und schien auch nicht zu frieren, obwohl sie wieder einmal die schwere Parka ausgezogen hatte. Nein, ich schwindelte mir selbst etwas vor! Diese Frau war alles andere als normal. Sie hatte – ein Erlebnis gehabt. Ein Erlebnis, das sie physisch und psychisch von der übrigen Menschheit trennte … Aber konnte dieses Erlebnis mit den Schreckensdingen iden315
tisch sein, an die sie sich ›erinnerte‹? Selbst zu jenem Zeitpunkt wollte ich das noch nicht glauben. Und doch – diese Mulde, auf die wir gestoßen waren, dieser riesige, flossenähnliche Fußabdruck? Meine Gedanken wanderten zurück zu jener Nacht, die wir im Freien verbracht hatten. War mir da nicht im Traum ein Koloß erschienen – eine dunkle Gestalt, die mit karminrot glühenden Sternaugen vom Himmel herabstarrte? Aber das hatte alles keinen Sinn. Puh! Da saß ich nun, ein Nervenbündel, das schon erschrak, wenn Schnee von den Zweigen fiel! Ich lachte über meine verrückten Gedanken, allerdings ein wenig unsicher, denn als ich den Blick vom Feuer abwandte, glaubte ich einen Moment lang eine schemenhafte Gestalt ganz am Rande meines Gesichtsfeldes zu erkennen. »Sie zucken zusammen, Mister Lawton«, stellte meine Begleiterin fest. »Sehen Sie etwas?« »Ich glaube nicht«, entgegnete ich rasch, und meine Stimme klang lauter als nötig. »Es war wohl nur ein Schatten im Schnee.« »Er ist seit fünf Minuten da und beobachtet uns.« »Was? Sie glauben im Ernst, daß da draußen jemand lauert?« »Ja. Sicher einer von Seinen Anhängern, den die anderen ausgeschickt haben. Sehen Sie, wir gehören nicht zu ihrer Glaubensgemeinschaft. Aber ich bin überzeugt davon, daß sie uns nichts tun werden. Kirby würde das niemals zulassen.« Sie hatte recht. Plötzlich, als eine Böe den wirbelnden Schnee zur Seite fegte, erspähte ich ihn – dunkel gegen den weißen Hintergrund. Ein Eskimo oder Indianer, der uns mit unbewegter Miene beobachtete. Von da an verstärkte sich die Wut des Unwetters. Der Wind peitschte die Schneeflocken vor sich her. Wir hatten es hinter der 316
Schutzmauer aus Ästen und Schnee einigermaßen bequem, denn die Barriere war so angelegt, daß nur eine schmale Öffnung nach Süden zu freiblieb. Und der Sturm kam vom Norden. Der Schneewall hatte sich längst mit einer harten Eiskruste überzogen, die keinen Windhauch durchließ, und die erstarrten Astgeflechte der Föhren wölbten sich wie ein Schirm über uns. Ich hatte mich noch einige Male hinausgewagt und trockene Zweige gesammelt, die ich nach Indianerart aufschichtete. So verbreitete mein niedriges Feuer weiterhin Wärme und Licht innerhalb der Einfriedung. Jenseits unseres Schneewalls herrschte vollkommene Finsternis. Immer noch fiel dichter Schnee. Unser Bewacher hatte uns Stunden zuvor lautlos verlassen. Es war gegen zehn Uhr abends, als der nächste Besucher kam. Mrs. Bridgeman sah ihn zuerst. Sie umklammerte meine Ellbogen so hart, daß ich erschrocken aufsprang. Im Eingang unseres Lagerplatzes, umrahmt vom Widerschein der Flammen, stand ein Mann, von Kopf bis Fuß mit Schnee bedeckt. Er klopfte sich die Flocken von den Kleidern und trat näher. Als er die Kapuze seiner Pelzjacke zurückschob, erkannte ich, daß er ein Weißer war, hochgewachsen, mit dunklen, buschigen Augenbrauen. Eine Weile schwieg er, dann, als sei ich überhaupt nicht da, wandte er sich an Mrs. Bridgeman. Mir fiel auf, daß er den Akzent der New Engländer hatte. »Kirby wünscht, daß Sie nach Navissa zurückkehren und von dort heimreisen. Er will nicht, daß Ihnen etwas zustößt. Er weiß jetzt alles. Er weiß, weshalb er hier ist, und er will bleiben. Sein Schicksal ist der Raum zwischen den Welten, das Wissen um die Mysterien der Alten, die noch vor der Menschenrasse auf der Erde weilten. Er will zusammen mit seinem Herrn und Meister über die eisigen Winde der Erde und des Raums herrschen. Sie hatten ihn nun fast zwanzig Jahre. Von jetzt an will er frei sein.« 317
Ich wollte ihn eben fragen, was ihn zu diesen anmaßenden Worten berechtigte, als mir Mrs. Bridgeman ins Wort fiel. »Frei? Um hier in der Eiswüste herumzustreifen, bis jeder Versuch, in die Menschenwelt zurückzukehren, mit dem Tod enden müßte? Eine schöne Freiheit! Und das alles, um mehr über diese Monsterbrut zu erfahren, die aus den schwarzen Abgründen jenseits von Zeit und Raum stammt!« Ihre Stimme nahm einen schrillen Klang an. »So frei, daß er nie die Liebe einer Frau erfährt, sondern seine Lust an Fremden austobt, denen er den Tod oder Schlimmeres bringt – wie diese Bestie, sein Vater!« Der Fremde riß zornig die Hand hoch. »Sie wagen es, so von Ihm zu sprechen …« Ich sprang dazwischen, aber es zeigte sich, daß Mrs. Bridgeman meine Hilfe nicht benötigte. Die Veränderung, die in ihr vorging, war fast beängstigend. Noch Sekunden zuvor war sie einem Hysterieanfall nahe gewesen; nun sprühten ihre Augen zornerfüllt in dem bleichen Gesicht. Sie richtete sich so ehrfurchtgebietend auf, daß unser unbekannter Besucher einen Schritt zurückwich und den erhobenen Arm sinken ließ. »Ob ich es wage?« Ihre Stimme war so schneidend wie der Wind. »Ich bin Kirbys Mutter! Ja, ich wage es – aber was unterstehen Sie sich …! Sie bringen es fertig, die Hand gegen mich zu erheben?« »Ich … es war nur … der Zorn übermannte mich«, stammelte der Mann, doch dann fand er seine Gelassenheit wieder. »Aber all das macht keinen Unterschied. Bleiben Sie, wenn Sie wollen; es wird Ihnen nicht gelingen, die Feier zu stören, denn wir haben Wachen aufgestellt. Falls Sie es dennoch schaffen, diese Posten zu überlisten – nun, dann tragen Sie selbst die Verantwortung für alles, was daraus folgt. Andererseits kann ich Ihnen, wenn Sie sich zur Rückkehr entschließen, bis Navis318
sa gutes Wetter versprechen. Aber nur, wenn Sie unverzüglich aufbrechen!« Der Fremde gewann ohne Zweifel den Eindruck, daß sie über seinen Vorschlag nachdachte, und er brachte sein stärkstes Argument vor: »Überlegen Sie, Mrs. Bridgeman, überlegen Sie gut! Es kann nur einen Ausgang geben, wenn Sie hierbleiben – denn Sie haben Itha-qua erblickt!« Sie wandte sich vom Feuer ab und überhäufte ihn mit verzweifelten Fragen. »Müssen wir unbedingt heute nacht fort? Kann ich meinen Sohn noch ein einziges Mal sehen? Wird ihm … ?« »Ihm wird nichts zustoßen!« schnitt er ihr das Wort ab. »Seine Zukunft ist – groß! Ja, Sie müssen sofort aufbrechen; er wünscht kein Gespräch mit Ihnen, und wir haben so wenig …« Er unterbrach sich, erschrocken, daß er zuviel veraten hatte, aber Mrs. Bridgeman schien den Schnitzer gar nicht wahrzunehmen. Er hatte sagen wollen: »Und wir haben so wenig Zeit!« Meine Begleiterin seufzte und ließ die Schultern hängen. »Wenn ich mich einverstanden erkläre – werden wir gutes Wetter brauchen. Läßt sich das … einrichten?« Der Besucher nickte eifrig (obwohl mir der Gedanke, daß er irgendeinen Einfluß auf das Wetter nehmen könnte, völlig absurd erschien) und erwiderte: »Von jetzt bis Mitternacht wird der Schneefall nachlassen und der Wind schweigen. Danach …« Er zuckte die Achseln. »Aber bis dahin sind Sie weit fort.« Sie nickte, augenscheinlich besiegt. »Gut, wir fahren, sobald wir unsere Sachen verstaut haben. Das dauert ein paar Minuten. Aber …« »Keine Aber, Mrs. Bridgeman! Da war ein Mountie, der wollte auch nicht gehen. Jetzt …« Wieder zuckte er die Achseln, und die Geste sprach Bände. »McCauley!« keuchte ich. 319
»Nein, so hieß er nicht«, antwortete der Fremde. »Aber wer immer er war, er suchte ebenfalls nach dem Sohn dieser Lady.« Er schien einen anderen Ranger aus Fir Valley zu meinen, und mir fiel ein, daß McCauley einen Kollegen erwähnt hatte, der weiter oben im Norden nach Kirby forschen wollte. »Was geschah mit diesem Mann?« erkundigte ich mich. Er beachtete meine Frage nicht, sondern zog seine Handschuhe an und wandte sich wieder an Mrs. Bridgeman. »Ich warte, bis Sie fort sind.« Damit setzte er die Kapuze auf und trat in den Schnee hinaus. Die kurze Unterredung hatte mich vollends verwirrt. Mein Erstaunen war mit jedem Wort gewachsen. Ganz abgesehen davon, daß der Mann offen einen Mord zugab – denn etwas anderes konnte sein Hinweis auf den Mountie nicht bedeuten –, hatte er die wildesten Fantastereien bestätigt: Dinge des Grauens, die bis dahin nur in den Werken von Samuel Bridgeman und den Erzählungen seiner Witwe aufgetaucht waren. Stellte das den endgültigen Beweis dar für die Wirkung, die dieser morbide Fünfjahreszyklus auf den Menschenverstand ausübte? Oder konnte es etwas anderes sein? Schließlich sah ich meine Begleiterin an. »Kehren wir wirklich nach Navissa zurück, nachdem Sie all die Mühen auf sich genommen haben? Und gerade jetzt, da wir unserem Ziel so nahe sind?« Sie warf einen mißtrauischen Blick in das Schneegestöber hinaus, dann schüttelte sie den Kopf und legte zugleich warnend den Finger an die Lippen. Nein, es war, wie ich vermutet hatte. Das beinahe unterwürfige Nachgeben im Anschluß an ihre kühle, überlegene Zurechtweisung stellte nichts anderes als eine List dar. Sie hatte keineswegs die Absicht, ihren Sohn im Stich zu lassen, ob er nun damit einverstanden war oder nicht. »Rasch – brechen wir das Lager ab!« flüsterte sie. »Die Ze320
remonie findet heut nacht statt, davon bin ich überzeugt. Wir haben wirklich nicht viel Zeit.« Von da an kam ich kaum noch zum Nachdenken; ich befolgte Mrs. Bridgemans Anweisungen, ohne Fragen zu stellen. Es stand fest, daß sie jetzt keine andere Wahl hatte, als den Feind (unwillkürlich nannte ich die verrückten Sektenanhänger ›den Feind‹) zu überlisten; Gewaltanwendung oder Überredungskunst schieden aus. Wenn sie vor einem Mord nicht zurückschreckten, um ihre Ziele durchzusetzen, dann würden sie sich erst recht nicht von den Worten einer Frau beeinflussen lassen. Als wir daher den Schlitten bestiegen und nach Süden losfuhren, etwa in Richtung Navissa, wußte ich, daß wir schon bald in einer Schleife umkehren würden. Und in der Tat, eine halbe Stunde später, gegen elf Uhr nachts, als wir eben eine niedrige Hügelkuppe hinter uns gelassen hatten, bat mich Mrs. Bridgeman, in einem weiten Bogen nach Westen zu fahren. Wir hielten diesen Kurs zehn Minuten lang ein, dann wandten wir uns scharf nach rechts und schlugen erneut den Weg nach Norden ein. Zwanzig Minuten lang fuhren wir durch leichtes Schneetreiben. Der Wind blies uns jetzt ins Gesicht, und die Eiskörner stachen wie Nadeln in die Haut. Dann, wiederum auf Mrs. Bridgemans ausdrücklichen Befehl, erklomm ich mit unserem Schlitten einen spärlich bewaldeten Hang und hielt am Gipfel an. Der Ort lag keine zwanzig Minuten von unserem Ausgangspunkt entfernt. Bei dem Tempo, das wir eingeschlagen hatten (und vorausgesetzt, der ›Feind‹ besaß keine Schneekatze), schien es kaum denkbar, daß uns jemand gefolgt war. Hier im Schutz der Bäume würde uns wohl niemand vermuten. Während wir uns eine kurze Rast gönnten, stiegen erneut Fragen in mir auf, Fragen, auf die ich keine Antwort fand. Ich hatte eben beschlossen, sie laut auszusprechen, als Mrs. 321
Bridgeman plötzlich durch die Zweige deutete, hinunter zu einer dunklen Waldmasse, die etwa eine halbe Meile entfernt von uns im Norden lag. Es handelte sich um den gleichen Wald, in dem die von uns verfolgte Gruppe früher am Tage verschwunden war. Nun loderten mit einemmal an allen vier Ecken gewaltige Feuer auf. Und der Nordwind trug, manchmal schwächer, dann wieder stärker, einen schaurigen Gesang aus vielen Kehlen zu uns herüber. Der Chor rief Itha-qua an: »Ia! Ia! – Itha-qua! Itha-qua! Ai! Ai! Ai! – Itha-qua! Ce-fyak vulg-t’uhm – Itha-qua fhtagn! Ugh! – Ia! Ia! – Ai! Ai! Ai!« Immer wieder erklangen diese fremdartigen Silben, und mir schien das Blut in den Adern zu erstarren. Es war nicht der gutturale, grausige Klang der Stimmen, der mich erschauern ließ, sondern die Präzision des – Gesangs? – und die offenkundige Vertrautheit der Gläubigenschar mit dem Text und der Melodie. Das hier war kein blindes Nachplappern obskurer Laute, sondern ein Zusammenwirken von hundert oder mehr perfekt aufeinander abgestimmten Sängern – die Darbringung eines furchteinflößenden Psalms, der in der Tat bis in die Leere zwischen den Welten vordringen konnte! Plötzlich wußte ich, daß Itha-qua, falls es ihn wirklich gab, die Stimmen seiner Jünger hören und darauf Antwort geben würde. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, murmelte meine Begleiterin, mehr zu sich selbst als an mich gewandt. »Die Feier findet mitten im Wald statt – und Kirby ist dabei.« Ich starrte angestrengt durch den Schnee, der jetzt wieder in dichten Flocken zu fallen begann. Eins der Feuer brannte ein 322
wenig nordöstlich vor unserem Versteck, das andere eine halbe Meile entfernt im Südwesten. »Wenn wir genau zwischen den beiden Feuern in den Wald eindringen«, sagte ich, »und schnurgerade auf den Lichtschein im Norden zuhalten, müßten wir in die Nähe des Zentrums gelangen. Wir können mit dem Schlitten bis an den Waldrand fahren, aber von da an geht es zu Fuß weiter. Falls es uns irgendwie gelingt, Kirby herauszuholen – nun, für eine kurze Strecke schafft der Motor sicher eine zusätzliche Last.« Sie nickte. »Es ist einen Versuch wert. Wenn es zum Schlimmsten kommt … nun, dann weiß ich wenigstens, daß ich alles getan habe …« Damit ließ ich erneut den Motor der Schneekatze an. Der Wind war günstig für uns; er trug das Motorengeräusch in die entgegengesetzte Richtung, und ich rechnete mir bei dem lauten Gesang eine faire Chance aus, unbemerkt bis zum Waldrand zu gelangen. Als wir über die schneebedeckte Ebene auf den Forst zusteuerten, fielen mir die hochgetürmten, seltsam brodelnden Nimbostratuswolken auf, die vom Widerschein der Flammen rot gesäumt waren. Bei ihrem Anblick wußte ich instinktiv, daß uns ein Sturm von ungeheurer Gewalt erwartete. Am Waldsaum stiegen wir ab und verbargen den Schlitten unter den tiefhängenden Ästen einer breiten Föhre. Zu Fuß drangen wir in die dunklen Tiefen vor. Da wir kein Licht anzumachen wagten, kamen wir nur langsam voran, aber nach ein paar hundert Metern erkannten wir in der Ferne den Schein einzelner Fackeln, und der Gesang erreichte uns klar und laut. Falls die Glaubensgemeinde Wachen aufgestellt hatte, waren wir wohl unbemerkt an ihnen vorbeigeschlüpft. Der Gesang verriet jetzt eine gewisse Hysterie, eine Ekstase, die sich zum Crescendo steigerte und die eisige Luft mit unsichtbaren, bedrohlichen Energien auflud. 323
Unvermittelt stießen wir auf eine große freie Fläche. Man hatte Bäume gefällt und so eine künstliche Lichtung geschaffen. Ein gigantisches Holzpodest erhob sich in der Mitte des Kreises. Um diese Plattform scharten sich Männer und Frauen, in Pelze oder Parkas gehüllt. Ihre Gesichter waren ins rötliche Licht der Fackeln getaucht, und ihre Augen glänzten wie im Fieber. Ich sah Eskimos, Indianer, Neger und Weiße – Menschen, deren Herkunft so unterschiedlich war wie ihre Hautfarbe und Rasse – insgesamt wohl hundertfünfzig an der Zahl. Inzwischen ging es auf Mitternacht zu, und der ohrenbetäubende, grauenvolle Choral hatte eine Lautstärke erreicht, die sich kaum noch steigern ließ. Dennoch – die Steigerung kam. Mit einem letzten, langgezogenen Aufschrei warf sich das Volk rund um die Holzplattform in den Schnee – alle bis auf einen! »Kirby!« keuchte Mrs. Bridgeman. Ein junger Mann, stolz und aufrecht, den Oberkörper entblößt, erklomm mit langsamen Schritten die Holzstufen des Podests. »Kirby!« Diesmal schrie sie seinen Namen und stürzte nach vorn, ehe ich sie zurückreißen konnte. »Er kommt! Er kommt!« Verzückt erklang der Ruf aus hundertfünfzig Kehlen, übertönte Lucille Bridgemans Schrei – und mit einemmal spürte auch ich die Erwartung, die in der Luft lag. Die im Schnee ausgestreckten Gestalten schwiegen jetzt; nicht der leiseste Windhauch regte sich; es hatte zu schneien aufgehört. Nur die vorwärts hastende Gestalt durchbrach die Erstarrung; sie und die unruhig tanzenden Flammen der Fackeln. Nur Mrs. Bridgemans Schritte störten die Stille, als sie über den Harsch knirschten. Kirby hatte die Spitze der Pyramide erreicht, und seine Mutter drängte sich eben in den Kreis der Gläubigen, als es geschah. Unvermittelt blieb Lucille Bridgeman stehen. Sie warf 324
einen entsetzten Blick zum Nachthimmel und preßte eine Hand vor den aufgerissenen Mund. Auch ich legte den Kopf weit in den Nacken und starrte nach oben. Etwas bewegte sich in den brodelnden Wolken! »Er kommt! Er kommt!« Wieder stieg das Wispern auf. Und dann geschah alles zugleich, kam die Szene zu einem turbulenten, atemberaubenden Höhepunkt. Ich bete jetzt noch, daß die Dinge, die ich in jenem Moment sah und hörte, die Dinge, die ich miterlebte, eine Täuschung waren – hervorgerufen durch die Nähe einer Massenhalluzination, durch den Wahnsinn jener, die dem Ruf des Fünfjahreszyklus gehorchen. Wie soll ich nur das, was geschah, beschreiben? Ich weiß noch, daß ich ein paar Schritte nach vorn lief, in die Lichtung hinaus, bevor meine Augen Mrs. Bridgemans Blick zum aufgewühlten Himmel folgten, wo ich anfangs nichts außer den wirbelnden Wolken sah. Und ich erinnere mich an Kirby. Er stand breitbeinig auf der Spitze der hohen Holzpyramide, die Arme in einer Willkommensgeste weit ausgebreitet und das Haar wild zerzaust – denn mit einemmal setzte der Sturm wieder ein … schräg von oben. Aus den Wolken löste sich, gleich einem schwarzen Meteoriten, eine – Dunkelheit, ein grotesker, menschenähnlicher Schatten, in dessen aufgequollenem Schädel anstelle der Augen zwei große karminrote Sterne funkelten. Und meine Ohren dröhnen noch jetzt von den schrillen Schreien, welche die arme, erstarrte Frau in ihrem Ekel und ihrer Todesfurcht ausstieß. Auch sie sah und erkannte die Bestie, die vom Himmel herabstieg. Der Dämonengott kam mit dem Wind, langsam jetzt, und man gewann den Eindruck, als schreite er mit seinen unförmigen Entenfüßen über eine unsichtbare Treppe herab, der Gestalt auf der Pyramide entgegen. Dann aber wandte das Ding namens Windwanderer den schwarzen Kopf und erspähte die krei325
schende Frau inmitten seiner Anhängerschar – erspähte und erkannte sie! Itha-qua verharrte mitten in der Luft. Dann sprühten die Karminaugen noch heller, und die schwarz umrissenen Arme hoben sich in einer Geste wilden Zorns zum Himmel. Eine Monsterklaue griff in die aufgetürmten Wolken und schleuderte Sekunden später etwas Rundes, Schweres zur Erde. Immer noch schrie Mrs. Bridgeman – durchdringend, von Entsetzen erfüllt – als das Geschoß pfeifend auf sie niedersauste, sie zu Boden walzte und rundum in Eisbrocken zerschellte. An der hölzernen Pyramide muß in jenem höllischen Moment das reine Chaos geherrscht haben. Mich schleuderte die Druckwelle in den Wald. Als ich mich hochrappelte und einen Blick auf die Lichtung warf, sah ich ein Schlachtfeld. An der Stelle, wo sich Mrs. Bridgeman befunden hatte, lagen weit verstreut die zerfetzten und zermalmten Leiber der Sektenanhänger. Eisbrocken schlugen noch jetzt mit der Wucht von Granaten in den Altar. Ein heulender Sturm fegte über den Platz hinweg. Aber Itha-qua war noch lange nicht fertig! Der Unhold tobte in den Lüften. Ich erriet, was in seinem Innern vorging: Waren diese Leute nicht Seine Jünger? Und nun hatten sie Ihn verhöhnt, hatten das erste Zusammentreffen mit Seinem Erdensohn vereitelt! Oh, sie sollten dafür büßen, daß sie jenem Menschenweib, der Mutter Seines Sohns, den Zutritt zu dieser Zeremonie nicht verwehrt hatten! Innerhalb weniger Sekunden klatschten zwei weitere Bomben aus Eis zu Boden. Ihre Wirkung war verheerend. Die scharfen Splitter fanden ihr Ziel, und der Schnee färbte sich rot. Über den Teufelswind, den Itha-qua aus der Tiefe des Raums mitgebracht hatte, erhob sich das Wimmern der Schwerverletzten und Sterbenden. Die Bäume am Rand der Lichtung bogen sich, und die dicken Stämme der Pyramide knickten ein wie Streichhölzer. 326
Aber in der einsamen Gestalt, die windumtost auf der schwankenden Plattform stand, war eine Veränderung vorgegangen. Kirby hatte von seinem Platz an der Spitze der Pyramide miterlebt, wie sein Dämonenvater Tod und Vernichtung aus den Wolken herabschleuderte. Er hatte zugesehen, wie seine Mutter von Eisgeschossen grausam zermalmt wurde. Er hatte beobachtet, wie eine ganze Reihe – oder gar alle – der irregeleiteten Anhänger Itha-quas ihr Leben ließen. Wie erstarrt stand er da und betrachtete das furchtbare Gemetzel auf der Lichtung – und dann warf er den Kopf zurück und schrie voller Schmerz und Hilflosigkeit, voller Entsetzen, Verzweiflung und … rasendem Zorn! Und der Zorn gewann die Oberhand. Und in diesem monumentalen Ausbruch zeigte sich sein Dämonenerbe. Denn der Wind schrie mit ihm, röhrte, heulte und kreischte, umwirbelte die Plattform, riß Stämme in die Luft und warf sie umher wie dünne Halme, die in einen Strudel geraten waren. Selbst die Wolken eilten herbei und ballten sich über der Lichtung zusammen – bis endlich der unirdische Vater den Schrei vernahm. Aber begriff Er die Herausforderung? Wieder kam der Windwanderer vom Himmel herab, schritt durch die wildbewegte Luft, streckte die Arme in einer väterlichen Geste aus … Und dann, zerschlagen wie ich war, halb ohnmächtig von der Wut des Sturms, erhielt ich den endgültigen Beweis dafür, daß auch ich dem Fünfjahreszyklus eines von Legenden ausgelösten Wahns, einer Massenhysterie erlegen war. Denn als der Alte Gott niederstieg, eilte ihm Sein Sohn entgegen – hob sich mit sicheren, weitausgreifenden Sprüngen in die Lüfte. Seine Stimme orgelte wie ein Orkan, spaltete den Himmel und jagte die Wolken zurück zum Horizont. Kirby dehnte sich aus, schien ins Unendliche zu wachsen. Seine Umrisse hoben sich gigantisch gegen die Nacht ab. Der Sohn Itha327
quas streckte mordgierig die Hände aus, schrie dem Windgeist seine Rachelust entgegen. Einen Moment lang verharrte Itha-qua, erstaunt und verwirrt – und dann standen zwei Riesensilhouetten am Himmel, dunkel mit karminrot glühenden Augenpaaren. Und diese Gestalten stürzten einander mit solcher Vehemenz entgegen, daß ich das eigentliche Kampfgeschehen nicht mitverfolgen konnte. Grelle Blitze spalteten die Nacht, und der Donner grollte unaufhörlich. Ich wischte Reif und festgefrorenes Blut von der Stirn, versuchte mühsam, einen klaren Gedanken zu fassen. Als ich dann den Blick wieder zum Himmel hob, sah ich nichts als die Wolken, die davonstoben – die Wolken und hoch, hoch darüber zwei winzige, ineinander verkrallte Gestalten, die zwischen den Sternbildern des Polarkreises verschwanden … An die vierundzwanzig Stunden sind seither vergangen. Wie ich das Grauen der letzten Nacht überlebte, wird mir ewig ein Rätsel bleiben; aber ich kam durch, ohne körperlichen Schaden, wenngleich ich befürchte, daß meine Sinne für immer verwirrt bleiben werden. Bei dem Versuch, die Angelegenheit zu rationalisieren, kann man vielleicht sagen, daß ich in einen Sturm von bisher unbekanntem Ausmaß geriet und dabei den Verstand verlor. Mrs. Bridgeman ist seitdem im Schnee verschollen und hat trotz ihrer bemerkenswerten Kälteempfindlichkeit wohl den Tod gefunden. Aber alles andere … ? Wenn ich dagegen auf eine Vernunfterklärung verzichte und nur auf das Wispern des Windes lausche … Soll ich wirklich gegen die eigenen Sinne ankämpfen? Ich erinnere mich nur noch bruchstückhaft an das, was dem gräßlichen Gemetzel und dem Kampfgetümmel in der Luft folgte: an meine Rückkehr zum Schlitten und daran, daß der Motor eine halbe Stunde später im Toben des Blizzards versagte; an meinen verbissenen Kampf gegen die Schneewehen, in 328
denen ich mit meiner schweren Ausrüstung zu versinken drohte; an den harten Sturz in eine Senke, deren Umrisse mich zähneklappernd fliehen ließen, bis ich erschöpft hier zwischen den Bäumen zusammenbrach. Ich weiß noch, daß mir zu Bewußtsein kam, ich würde erfrieren, wenn ich einfach liegenbliebe; und ich weiß auch noch, welche Mühe und Qual es bereitete, den niedrigen Schutzwall zu errichten und das Stövchen in Gang zu setzen. Von da an jedoch herrscht Leere, bis zu dem Moment, da ich – gegen Mittag – erwachte. Die Kälte hatte mich geweckt. Das Stövchen war längst erloschen, aber die leeren Suppenbüchsen, die herumlagen, verrieten mir, daß ich noch eine Mahlzeit zu mir genommen hatte, bevor ich der Müdigkeit nachgab. Ich öffnete den Petroleumbehälter des Stövchens und zündete es noch einmal an, stillte meinen Hunger, bevor ich meine Sachen einzeln trocknete und anwärmte. Dann, gestärkt und fast mit einem Gefühl des Wohlbehagens, machte ich mich daran, diese meine letzte Zufluchtsstätte auszubauen; denn ich wußte inzwischen, daß es keinen Sinn hatte, den Weg fortzusetzen. Gegen vier Uhr nachmittags erblickte ich neue Sturmzeichen am Himmel, und da kam mir der Gedanke, den Schlitten zu suchen und den kostbaren Brennstoff für meinen Ofen abzufüllen. Um ein Haar hätte ich mich verirrt, als es wieder zu schneien begann, aber um sechs Uhr langte ich wieder in meinem Unterschlupf an. Ich brachte fast eine Gallone Sprit mit. Eine Viertelstunde lang hatte ich vergeblich versucht, das Gefährt wieder in Gang zu setzen. Dann ließ ich es stehen, kaum eine Meile von hier entfernt. Mir ist klar geworden, daß ich im Freien nur noch wenige Tage überleben kann, und deshalb habe ich mit dieser Niederschrift begonnen. Das hat nichts mit einer bösen Vorahnung zu tun. Es gibt einfach keine Möglichkeit, dem Tod in der Schneewüste zu entrinnen. Zu Fuß schaffe ich die Rückkehr 329
nicht; Navissa liegt zu weit entfernt. Proviant und Brennstoff reichen im Höchstfall drei Tage. Hier halte ich vielleicht ein wenig länger durch, und wenn mich zufällig jemand findet … Falls ich dagegen versuche, mich nach Navissa durchzuschlagen, mitten im Schneesturm – ein, zwei Tage, dann bin ich mit meinen Kräften am Ende. Und in dieser Zeit kann ich die lange Strecke niemals zurücklegen. Es muß gegen vier Uhr morgens sein. Meine Armbanduhr ist stehengeblieben. Draußen herrscht Schneetreiben. Ich hatte gehofft, der Sturm würde nach Norden weiterziehen, aber sein Heulen hat mich geweckt. Ich scheine gegen Mitternacht beim Schreiben eingeschlafen zu sein. Es ist merkwürdig: Der Wind pfeift und gellt, aber durch eine Öffnung im Zelt erkenne ich, daß die Schneeflocken ruhig zu Boden sinken. Nicht die leiseste Brise wirbelt sie auf. Was hat das zu bedeuten? Ich kenne nun die Antwort. Das goldene Medaillon hat mich getäuscht. Als ich das Ding in meiner Tasche entdeckte, schleuderte ich es hinaus in eine Schneewehe. Dort liegt es nun und hallt wider vom Kreischen des ewigen Sturms, der zwischen den Welten weht. Wenn ich jetzt meinen Unterschlupf verlasse, bedeutet das den sicheren Tod. Und wenn ich bleibe … ? Ich muß rasch schreiben, denn Er ist da! Herbeigelockt von dem Dämonenwinseln des Medaillons, lauert er draußen! Das ist keine Illusion, keine Ausgeburt meiner Fantasie, sondern die entsetzliche Wahrheit. Da draußen hockt er! Ich wage es nicht, Ihm in die brennenden Augen zu schauen. Ich habe Angst vor den Dingen, die ich in der karminroten Tiefe erblicken würde. Aber ich weiß jetzt, wie ich sterben werde. Es wird schnell gehen. Die Stille ist vollkommen. Der Schnee, der vom Himmel fällt, dämpft alles. Das schwarze Ding kauert draußen – ein 330
Schatten auf weißem Grund. Die Temperatur sinkt immer schneller. Ich komme nicht nahe genug an das Stövchen heran. So also werde ich diese Welt verlassen, erstarrt im Eisgrab meines Zeltes – denn ich habe Itha-qua erblickt! Das ist das Ende … Reif legt sich auf meine Stirn … die Lippen platzen … mein Blut friert ein … ich kann die Luft nicht mehr atmen … meine Finger sind weiß wie der Schnee … die Kälte … NAVISSAR-KURIER: Der Schnee fordert ein neues Opfer! Kurz vor dem Weihnachtsfest erreicht uns aus Fir Valley, dem Winterlager der Mounties, eine schlimme Nachricht. Während einer kurzen Wetterbesserung begaben sich Konstabler McCauley und Konstabler Sterling auf die Suche nach ihrem Kollegen Jeffrey, der seit einem Routineauftrag im Oktober vermißt wird. Die Männer entdeckten keine Spur von Konstabler Jeffrey, aber sie stießen auf die Leiche von David Lawton, einem amerikanischen Meteorologen, der ebenfalls im Oktober in der Schneewüste nördlich von Navissa verschwand. Mister Lawton war seinerzeit in Begleitung einer gewissen Mrs. Lucille Bridgeman aufgebrochen, um nach dem Verbleib von Kirby Bridgeman, dem Sohn besagter Dame, zu forschen. Man hatte angenommen, daß der junge Mann sich mit einer Gruppe von Indianern und Eskimos in die Wildnis begab; allerdings gelang es bis heute nicht, diese Leute ausfindig zu machen. Mit der Bergung des Toten muß bis zum Einsetzen des Tauwetters gewartet werden; nach Angaben der beiden Mounties ist der Leichnam in einen großen Block Eis eingefroren, der auch ein Zelt und die Habseligkeiten des Verstorbenen enthält. Der Kälteeinbruch scheint Mister Lawton völlig überrascht zu haben, denn die Männer berichten, daß die Augen des Toten weit offenstanden … 331
NELSON-CHRONIK Heiliger Abend Ein Weihnachtsschreck! Eine Gruppe von Sternsingern im High-Hill-Viertel von Nelson erschraken fast zu Tode, als gegen elf Uhr nachts dicht neben ihnen der erstarrte Leichnam eines jungen Mannes aus einer Baumkrone des Anwesens Church Street 10 stürzte und einen Teil der Äste mit in die Tiefe riß. Wenigstens zwei Zeugen wollen gesehen haben, daß der unbekleidete, entsetzlich zugerichtete Tote nicht aus dem Baum, sondern aus dem Himmel fiel! Die Polizei bemüht sich, die Identität des Mannes festzustellen. Besondere Merkmale: ungewöhnlich große Füße mit mißgebildeten Zehen …
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Anancy und der Geisterkampf von Andrew Salkey Andrew Salkey wurde 1928 in Colon, Panama, als Sohn jamaikanischer Eltern geboren. In Jamaica besuchte er das College und studierte anschließend in England, wo er eine Zeitlang Englisch und Latein unterrichtete. Heute lebt er als freier Schriftsteller in London. Seine ›Wundergeschichte‹ erzählt von den Geistern seiner fernen Heimat. ——————
Ich will euch eine Geschichte erzählen über einen Spinnerich. Der Spinnerich heißt Anancy. Und die Geschichte ist eine solche Wundergeschichte, daß nicht mal Anancy selbst sie würde erzählen wollen. Und das, glaubt mir, ist das Geheimnisvolle daran. Anancy war also ein richtiger großer Spinnerich, so ein Berserker mit Muskelpaketen auf seinen Schultern, mit einem schwarzen wollhaarigen Brustkasten und mit einem nachtschwarzen Kinderschreckbart am Kinn. Tatsächlich war Anancy ein solches Abbild massiver Mächtigkeit, daß er jedermann in Schrecken und Furcht versetzte; ein Wunder an Schrecklichkeit. Dennoch hatte er eine gewisse Würde von oben herab und jene starke Ausstrahlung, welche die meisten Spinneriche mit sich herumtragen. Und diese Würde von oben herab, dieser Herrenhausstolz war wiederum eine Art Stärke, eine Stärke jener Art, wie die Adern und Muskeln in den Armen Zeichen von Schwung, Spannung und Kraft sind. Wenn Anancy im Ort herumging, sah er aus wie ein Kriegerdenkmal, das bei einem Erdbeben polternd einherpurzelt. Anancy gehörte zu jenen Spinnerichen, die vielerlei fertigbrin333
gen: Fluß durchschwimmen, Mordsmordsberge erklettern und Riesenlangstrecken rennen. Außerdem war Anancy ein Dauerpossenreißer und ein Gigantenringkämpfer. Jedwedermann nannte seinen Namen, nannte ihn aber mit Pst-pst-Stimme: »Wer, Anancy? Anancy ist ein Pfunds-Ringer, Kerl! Anancy ist eine Leistungsschau von Kräften und Muskeln! Anancy ist ein Berserker, ein Preisringer, ein Heißsporn, ein Schlagetot, ein Bottich voller Herrenhausstolz, ein Kraftmensch. Ein Meer voller Zauberkräfte mit Händen und Füßen.« Eines Tages nun bekam Anancy eine fette Nachricht, und die Nachricht besagte, daß die Geister aus den fern-fernen Provinzen gesonnen wären, ein höchst ernsthaftes Match von Ringkämpfen abzuhalten. Und da Anancy völlig der ist, der er ist, beschloß er auf der Stelle, in die fern-fernen Provinzen zu ziehen und an dem Geisterkampf teilzunehmen. Und als nun jedwedermann in Anancys Dorf erfuhr, was Anancy vorhatte, waren einige seiner Ringerfreunde völlig verstört und verängstigt. Einige seiner politischen Berserkerfreunde fingen an, Wetten auf ihn abzuschließen, andere nahmen sich vor, unaufhörlich für ihn zu beten, wieder andere schüttelten nur den Kopf und seufzten ganze Berge mitfühlender Seufzer. Doch hatte Anancy auch eine Mutter und einen Vater, und er liebte sie heiß und ehrfürchtig. Der Gedanke an das Ringkampfmatch behagte ihnen aber in keiner Weise. Anancys Mutter sagte Anancy, es sei verrückt von ihm, gegen die Geister kämpfen zu wollen, denn Geister könnten die Gedanken eines Spinnerichs lesen und wasserklar alles haargenau sehen, was der Spinnerich tun will, bevor er es tut. Doch Anancy antwortete darauf nur: »Ein Geist ist wie hundert Geister, und hundert Geister sind wie nur ein einziger Geist: Für mich ist ein Geist nur ein Geist.« Anancys Eltern aber widersprachen ihm mit aller Liebe, erinnerten ihn an die Zeit, als er noch nicht geradeausblicken 334
konnte, als der Schatten einer Hacke auf der Böschung ihm Furcht einjagte, als das kleinste Geräusch ihn derart erschauern ließ, daß er all seine Extremitäten einzog. Sie gaben sich alle Mühe, ihn an seine Sicherheit denken zu lassen, doch er sagte nur: »Ich bin Anancy.« Und als Vater und Mutter ihn weiter anflehten, streckte er die Arme aus und gähnte ein breites müdes Gegähne. Dann ging er hinaus, als schrecke ihn nichts auf der Welt. Später am gleichen Tag ging er wieder nach Hause zu seiner Mutter, und weil sie so traurig war, flüsterte ihr Anancy ein paar zuckersüße Worte in die Ohren, und die zuckersüßen Worte ließen ihr trauriges Gesicht wieder aufleuchten mit Augengezwinker aus einem quietschfröhlichen Herzen. Dann gab er ihr etwas Kornmehl und etwas Kassavamehl und bat sie, ihm ein paar gute Kassavakuchen zu backen. Er rieb sich die Arme ein mit süßen Gräsern, spannte die Muskeln, ging hinaus und gab ein paar Nüsse und ein paar saftige Mangofrüchte den Spinnerichkindern, die stets um seine Hütte herumstreunten. Er schloß die Hüttentür und ruhte sich eine Weile aus. Schließlich ging er wieder zu seiner Mutter hinauf und bat sie um die Kassavakuchen. Sie aber sah wieder bleich aus und traurig, als stehe ein Leichenzug vor ihr und nicht ihr eigener Sohn. Sie räusperte sich und sagte, die Kassavakuchen seien noch nicht ganz fertig. Anancy runzelte seine Augenbrauen und fauchte und schnaubte in seinem Inneren wie ein Haufen von funkelnagelneuen Blasebälgen. Er war so verärgert, daß er nicht abwartete, was seine Mutter sich ihm zu erklären anschickte, sondern aufbrach und sie verließ und die Straße hinunterrannte zu seinem dicksten Freund, Bruder Takuma, der immer dabei war, wenn er davonging. Bruder Takuma war ein stilles Gewässer, so eine nachdenkliche Berserkernatur, die immer neben Anancy einherging und unaufhörlich aus seinen dunklen, nachdenklichen Augen hervorlä335
chelte. So sehr war dies Bruder Takumas Verhaltensweise, daß man ihn das ›Gewissen der Spinneriche‹ nannte. Anancy und Bruder Takuma machten sich also auf den Weg nach den fernfernen Provinzen, wo die Geister warteten, um das Ringkampfmatch zu beginnen. Die beiden marschierten durch alle Arten von Dunkelheiten im Walde, und viele böse Geräusche und allerlei Vogellärm brachte manch schlimme Verwirrung in ihre Köpfe. Bäume und Blätter und Zweige zeigten höchst üble Gesichter und lachten ein Totenkopflachen. Keinerlei Glanz war im Wald, überall lagen große Echsen herum und Skorpione und Kobraschlangen und sahen so abscheulich und hungrig aus wie vierzig Dschungeltage. Als sie herauskamen aus dem Wald, waren Anancy und Bruder Takuma derart erschöpft und so voller Muskelkrämpfe und Schlafaugen, daß ihnen alles ringsum wie ein wirres Gekleckse erschien, als habe ein Hurrikan alles ringsum durcheinandergewirbelt. Dennoch und trotzdem hatte Anancy, nachdem er nun tatsächlich in den fern-fernen Provinzen der Geister angelangt war, beträchtliches Glück. Er vernahm nämlich von einer neuen Kampfregel, welche die Geister aufgestellt hatten und welche lautete: »Wenn irgend jemand daherkommt, um mit einem Geist zu ringen, und der Geist schlägt diesen Irgendjemand zusammen, dann gilt für den obsiegenden Geist als Brauch, daß er den betreffenden Irgendwer fortträgt und den Kopf des betreffenden Irgendwer an einen scharfen Felsenstein schlägt. Der Felsenstein ist ein Spezialfelsen und zu diesem Zweck im Fluß aufgestellt.« Nun mochten sich Anancy und Bruder Takuma mit dieser neuen Kampfregel gar nicht befreunden, und als sie sahen, was die Geister den Leuten, die sie besiegten, antaten, drehte sich ihnen flippflapp der Magen um. Doch als sie den schrecklichen 336
Vorgängen eine Weile zugeschaut hatten, tauchte da ein klitzekleiner Geist auf, um mit Anancy und Bruder Takuma zu sprechen. Er sagte also mit seiner näselnden Geisterstimme: »Ihr beiden Miniaturspinneriche seid also zum Ringkampf gekommen. Ich kenne dich, Anancy. Noch immer unter den Lebenden, hä? Wir werden uns um dich kümmern müssen.« Als Antwort senkte Anancy nur seinen Kopf und ließ seine Muskeln spielen. Der klitzekleine Geist aber war mit der Antwort Anancys noch nicht zufrieden und sagte: »Anancy, du denkst, daß Stolz etwas Gutes sei, hä? Du denkst, der Stolz sei ein guter Spiegel, in dem du dich ordentlich spiegeln kannst? Im ganzen Lande zerbrechen wir solche Spiegel.« Nach ein bißchen Fußgetrippel, Kehlengeräusper und Hinund Hergerempel sah es tatsächlich so aus, als komme man ins Geschäft. Anancy begann nun zu kämpfen. Obgleich es hellichter Tag war, glich die Stille, die alles und jeden umgab, der Stille am Sonntagmorgen. Der erste Geisterkämpfer war ein himmellanger Geist, der Hände und Füße hatte wie ein veralteter elektrischer Ventilator, und tatsächlich lief er wie ein alter elektrischer Ventilator immerzu wie verrückt im Kreise herum. Dieser erste Geist war zäh wie Krokodilleder und starr wie Eis, und da er so starr wie Eis war, war er zugleich so schlüpfrig, daß er aus dieser Welt herausglitschte. Anancy aber bewegte sich auf und ab, als sei er ein Jokus-aus-dem-Kasten in Trance. Er tauchte in den Geist hinein, zwirbelte ihn hoch und zwirbelte ihn herum, und bevor er auf drei zählen konnte, ließ er ihn fallen wie ein Stück zusammengerolltes Silberpapier. Dann packte er den Geist und warf ihn hinab auf den Felsenstein da im Fluß. Kaum hatte der Geist den Felsen berührt, zersplitterte er wie Zuckerguß und ebenso weiß. Bruder Takuma begann für Anancy ein stolzes Gefühl zu empfinden, blickte ihn an und lächelte ihm ein Braver-BruderGelächel zu. 337
Dann kam ein anderer Geist und forderte Anancy heraus mit viel Glutatem, Schmähspott und wildem Genäsel. Dieser Geist hatte vier Köpfe, einen dicken Zentralkopf mit drei darauf sitzenden Köpfen. Anancy sah ihn scharf an, sauste im Kampfring umher und begann herumzukreisen wie ein angeschnicktes Fünfmarkstück. Dem vierköpfigen Geist wurde dabei ganz schwindelig, und alle seine acht Augen drehten sich und gerieten durcheinander wie ein Haufen im Kreise wirbelnder Murmeln. Und Anancy tänzelte leicht und tänzelte schwer und tanzte herum und herum, bis plötzlich die vier Köpfe des Geistes herunterfielen wie abgeschraubte Glühbirnen. Als sie den Boden berührten, rollten sie in die vier Ecken des Rings, und der Körper des Geistes war zusammengedreht wie trockene Binsen. Und da, nach diesem prächtigen Sieg, trat gegen Anancy ein anderer Geist in den Ring. Dieser Geist war achtköpfig und vermochte achtmal schneller als Anancy zu denken. Anancy aber war auf der Hut, und flink und rasch warf er seine Hände dem Geist um den Nacken. Da fielen auch schon die acht Köpfer herunter und rollten wie Murmeln davon. Anancy packte sofort auch den nächsten Geist, der zehn Köpfe hatte, und überwältigte ihn im Handumdrehen. Er überwältigte den zwölfköpfigen, den vierzehnköpfigen, den sechzehnköpfigen, den achtzehnköpfigen und den zwanzigköpfigen. Ihr werdet es mir nicht glauben, wenn ich euch sage, daß die Köpfe herumrollten wie Rotkohl und die Augen wie Neonbirnen blinkten, die sich drehten und drehten und weiß und schwarz und rot aufleuchteten. Der ganze Kampfplatz bestand nur noch aus Köpfen und Augen. Anancy verursachte also den Geistern ein ganz gehöriges Kopfzerbrechen. Daher beschlossen die Geister, die das Ringkampfmatch organisiert hatten, einen Vereinigten Geisterrat abzuhalten. Diese Großversammlung der Nasenakzente vertagte sich in 338
eine Dauersitzung. Nachdem sie viele Gipfelgespräche zerredet hatten, fanden sie schließlich die Lösung des Anancy-Problems. Und dies war die Lösung: Anancy sollte noch einen letzten Kampf kämpfen. Und dabei müsse Anancy mit seinem eigenen Geist ringen. Man stelle sich das vor! Anancy gegen Anancy! Doch darin liegt das tiefe Geheimnis von allem, glaubt mir: der Körper als Widersacher des Geistes. Natürlich hatte dieser Geist jedoch nur einen einzigen Kopf. Die beiden traten also an und stellten einander sich gegenüber. Anancys Körper trotzte seinem eigenen Geist. Ihre vier Augen sahen sich, als sie einander anblickten. Sämtliche Geister schwiegen ein atemberaubendes Schweigen. Plötzlich blickte Anancys Geist auf Anancys Körper, durchschaute ihn kerzengerade, und Anancys Körper fühlte sich ganz zerknittert. Nach all den hin und her schießenden Hirn- und Seelenbotschaften zwischen Körper und Geist tat plötzlich Anancys Geist eine blitzartige Bewegung, hob Anancys Körper empor und schmetterte ihn gegen den Felsenstein. Und Anancys Körper zersplitterte in tausend Splitter wie ein Konfettiregen. Und man hörte die Geister rufen: »Ai-ya-ai! Jetzt hat es doch noch geklappt! Hat man denn je gehört, daß einer so blöde ist, daß er gegen sein eigenes Leben kämpft? Recht geschieht ihm! Verflucht recht geschieht ihm, diesem stolzen und blöden Spinnerich!« Hierauf ging der Häuptling der Geister in ein dickes Dickicht von Drachenblutstauden, pflückte einige Drachenblutbeeren und preßte den Saft in die Augen aller toten Geister. Und hast du nicht gesehen, sprangen alle die besiegten Geister wieder empor und lebten wieder und redeten wieder mit ihrer charakteristischen Näselstimme. Bruder Takuma, der den Geisterhäuptling beobachtet hatte, entschloß sich, haargenau das gleiche zu tun, was der Häuptling der Geister tat. Bruder Takuma ging also in das dicke Dickicht 339
von Drachenblutstauden, pflückte einige Beeren und drückte den Saft in Anancys rechtes Auge und dann in sein linkes Auge. Und kaum, daß er das getan hatte, kehrte Anancy mir nichts dir nichts ins Leben zurück und war wieder sein normales Spinnerich-Ich. Doch obwohl Anancy seinem lebenden Leibe zurückgegeben war, begann er zu knurren und mit seinem Geist zu zetern, denn der habe sich als eine rechte Judasgestalt benommen. Er erklärte also seinem Geist, er hasse die üble Verräterei, die dieser an seinem Körper begangen habe. Dieser Zank dauerte eine ganze Weile. Als die Geister sich nun umblickten, um Anancy zu suchen, seine Teile aufzulesen und sie zum Abendessen zu verspeisen, sahen sie ihn nicht mehr. Aber sie hörten ihn in der Ferne herumbrüllen und mit seinem Geist herumzanken, während er, so schnell ihn seine Füße trugen, Hals über Kopf aus den fernfernen Provinzen davonraste. Da entschlossen sie sich, Anancy und Bruder Takuma nachzujagen. Die Geister rannten, so schnell sie konnten, und Anancy und Bruder Takuma rannten noch schneller, als sie konnten, doch die Geister holten nach und nach auf, denn bei ihnen ist Geschwindigkeit reine Kraftwerksenergie. Anancy und Bruder Takuma waren zwar ihrer Heimat näher, doch die Geister legten ein noch größeres Tempo vor, und der Wald zelebrierte ihnen viele feierliche Geräusche und toste wie ein Tornado. Anancy und Bruder Takuma sausten schließlich um die letzte Ecke und auf die Tür zu, die in die Hütte von Anancys Mutter führte. Die Geister kamen immer näher heran. Sie flogen nun tief wie der Irrsinn und verbreiteten heißes Fieber. Da, plötzlich fühlte Anancy ganz ohne Grund all seine Kräfte schwinden, als ob all sein Mut und all seine Kraft ihm entströmten. Und da er ein solches Schwächegefühl in sich spürte, gab er seine hohe Geschwindigkeit auf und verlangsamte sich. Und als er sich derart verlangsamte, zerbrach plötzlich etwas tief in seinem In340
nern. Anancys Geist, der sich mit Anancys Körper zutiefst entzweit hatte, wollte ihm nun beweisen, daß er keine Judasgestalt war. Anancys Geist also, einst der Sieger und der einzige Sieger über Anancy, schoß nun aus Anancys schwitzendem Körper heraus und nahm sich die Geister vor. Und mit seinen Ringtricks spielte Anancys Geist den Geistern fürchterlich mit. Kaum daß man bis zwölf hätte zählen können, schrien die Geister, die Anancy nachgesetzt hatten, Ach und Weh vor Qualen und Schmerzen und drehten sich um und rannten zurück in ihre fern-fernen Provinzen, doch viele von ihnen konnten sich nicht von der Stelle rühren, so arg waren sie zusammengeschlagen und auseinandergesplittert. Und sobald sie nicht mehr waren, die Geister, veranstaltete Anancys Geist ein wahrhaft rasentes Come-back in Anancys Körper. Und ein fröhliches Himmel-kommt-auf-die-ErdeLächeln breitete sich über sein ganzes Gesicht. Bruder Takuma erblickte dies fröhliche Himmel-kommt-auf-die-Erde-Lächeln in Anancys Gesicht und fühlte gleichfalls ein Glücksgefühl tief in sich selber aufquellen. Und Anancy ließ Bruder Takuma wissen, daß einer nur dann wirklich stark ist, wenn sein eigener Geist ihn auf die Probe gestellt hat.
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Das Spukhaus von Ron Goulart Die Frage mag sonderbar erscheinen, drängt sich aber geradezu auf, wenn man Ron Goularts Erzählung liest: Kann es auch in einem Neubau spuken? In seinem Spukhaus – einem Neubau, wohlgemerkt – wimmelt es von Geistern, die mit ihren irdischen Mitbewohnern nicht eben zimperlich umspringen. ——————
Gretchen Goodwin betrat die Küche, schrie im gleichen Augenblick laut auf und stolperte rückwärts über die Schwelle. Pete Goodwin kam aus seinem Arbeitszimmer herbeigerannt. »Was gibt es jetzt schon wieder?« erkundigte er sich. »Dort«, antwortete seine Frau und nickte zum Spültisch hinüber, »sitzt eine Seemöwe zwischen den Tellern.« Pete hatte noch sein Scheckbuch in der Hand. Er steckte es in die Tasche, bevor er sich dem Spülbecken näherte. »Hmmm, tatsächlich eine Seemöwe.« Gretchen konnte nicht erkennen, daß er dabei eine Bewegung mit dem Daumen machte, die ›Verschwinde gefälligst!‹ bedeuten sollte. Pete trat dicht an den schmutzigbraunen Vogel heran und blinzelte ihm zu. »Vielleicht läßt er sich hinausjagen, Liebling.« »Sei vorsichtig!« warnte Gretchen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können; ihr Gesicht unter den blonden Haaren war blaß geworden. »Warum rufst du nicht einfach den Ungeziefervernichtungsdienst?« »Seemöwen dürfen nicht als Ungeziefer vernichtet werden«, erklärte Pete ihr. »Laß den Unsinn!« flüsterte er dem Vogel zu. »Vielleicht kann uns Mister Hazzard von Dillman & Finlay 342
helfen?« schlug Gretchen vor. »Seitdem wir nach San Xavier Acres gezogen sind, haben wir dauernd Schwierigkeiten.« Pete streckte die Hand aus und versuchte das Fenster über dem Becken zu öffnen. »Danke, mit einer Möwe werde ich allein fertig.« Das Fenster ließ sich nicht öffnen. »Alle Fenster klemmen«, stellte Gretchen fest. »Ich habe es Mister Hazzard schon zweimal gesagt.« Pete hielt die Seemöwe an den Beinen fest und trug sie an die Haustür. Der Vogel sagte »Aaak«, erhob aber keine weiteren Einwände. »Glaubst du nicht, daß ihm schwindlig wird, wenn du ihn so mit dem Kopf nach unten trägst?« fragte Gretchen. Ihr Mann warf den Vogel auf den Rasen. »Auf wessen Seite stehst du eigentlich?« »Ich meine nur, es sind zwanzig Kilometer bis zur Küste, und er braucht einen klaren Kopf, wenn er nach Hause finden soll.« Pete schloß die Tür. »Ich schreibe jetzt noch ein paar Schecks aus. Okay?« »Pete«, sagte Gretchen, »mit diesem Haus ist irgend etwas nicht in Ordnung. Warum gibst du das nicht endlich zu?« »Alle neuen Häuser sind anfangs etwas schwierig.« »Wir wohnen seit vierzehn Tagen hier. In dieser kurzen Zeit haben wir Seemöwen im Ausguß, einen Kater in der Duschkabine, weiße Mäuse im Wohnzimmer und komische schwarze Dinger unter den Betten gehabt«, stellte Gretchen fest. »Ganz zu schweigen von Fenstern, die dauernd klemmen, und Türen, die sich nicht öffnen lassen, und Sofabeinen, die plötzlich abfallen, und Tassen, die auf dem Boden zerschellen, ohne daß jemand sie berührt hätte.« »Na, jedenfalls immer noch besser als das Apartment, das wir in San Francisco gehabt haben, was?« »Nein«, sagte seine Frau. »Ich glaube, hier spukt es, Pete.« 343
Er zuckte mit den Schultern. »San Xavier Acres ist kaum zwei Monate alt. Bevor die Häuser gebaut wurden, war hier überall Ackerland. Wo soll es da Gespenster geben?« »Schön, dann eben Poltergeister.« »Ich muß mir noch überlegen, wie wir diesen Monat unsere Rechnungen bezahlen und trotzdem essen können«, sagte Pete. »Dann störe ich dich lieber nicht. Ich wollte ohnehin ein neues Kapitel in meinem letzten Kinderbuch anfangen.« »Wie soll das Buch heißen?« »Kevin, das Förderband«, antwortete Gretchen. »Ausgezeichnet«, sagte Pete. Er nahm das Scheckbuch aus der Tasche und wollte in sein Zimmer gehen. »Pete«, sagte Gretchen. »Hm?« »Hör nur!« »Was?« »Hörst du es tropfen?« »Nein.« »Irgendwo hier drin.« Sie öffnete die Schlafzimmertür. »Im Kleiderschrank«, fügte sie hinzu. Pete öffnete ihn. Eine braune Flüssigkeit tropfte in seine Tennisschuhe. »Was … ?« »Es regnet nicht, und hier sind auch keine Leitungen verlegt.« Pete ließ sich auf die Knie nieder und steckte den Zeigefinger in die Flüssigkeit. Dann roch er daran und steckte schließlich den Finger in den Mund. »Ahornsirup.« Er sah nach oben. »Scheint unter meiner Baseballmütze herauszukommen.« Als er die Mütze umdrehte, hörte das Tropfen auf. Die Hutablage darunter war leer. »Ha?« sagte er. »Poltergeister«, meinte Gretchen. Pete gab keine Antwort.
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Max Kearny eilte durch den Nebel und die Vordertreppe des großen Apartmenthauses hinauf. Der Briefkasten war leer, was aber vermutlich nur bedeutete, daß seine Frau vor ihm nach Hause gekommen war. Er schloß die Tür eines Apartments im Erdgeschoß auf und sagte: »Jillian?« »In der Küche«, rief seine Frau. Jillian, eine schlanke Rothaarige, stand über den Küchentisch gebeugt, auf dem ein Dutzend Sandwiches lagen. »Ein neuer Auftrag?« fragte Max. Jillian arbeitete als Lebensmittelberaterin für verschiedene Werbeagenturen. »Ja«, antwortete sie. »Sieht eines davon appetitanregend aus?« Max betrachtete die Sandwiches. »Nein. Was ist das grüne Zeug?« »Brunnenkresse. Wir müssen ein appetitanregendes Sandwich mit Brunnenkresse fotografieren.« »Wer ist der Auftraggeber?« »Die Absatzgemeinschaft der Brunnenkressezüchter.« »Das mit der Olive sieht noch am besten aus«, sagte Max. Er gab Jillian einen Kuß und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Max?« »Ja?« »Hast du jemals das Bedürfnis, wieder dein altes Hobby auszuüben?« »Ob ich wieder als okkultistischer Detektiv arbeiten möchte?« Max zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nicht.« Er kniff ein Auge zusammen und betrachtete Jillian. »Warum?« »Ich habe einen Fall für dich, wenn du ihn übernehmen willst.« »Du bist doch selbst als Zauberin ganz begabt«, sagte er. »Hast du dabei irgendwie Schwierigkeiten bekommen?« »Nein«, antwortete Jillian und trat vom Küchentisch zurück. »Es handelt sich um die Goodwins.« 345
»Pete und Gretchen?« »Ja.« »Pete und Gretchen haben etwas mit okkulten Dingen zu schaffen?« fragte Max ungläubig. »Menschenskind, ich kann mir gut vorstellen, wie Pete seine Schreibmaschine bei Jarndyce & Jarndyce bearbeitet, und Gretchen schreibt Gordon, der Müllwagen, und so weiter. Aber ich bezweifle, daß die beiden potentielle Klienten für einen Geisterdetektiv sind.« »Sie haben Poltergeister«, sagte Jillian. Max runzelte die Stirn. »In ihrem neuen Haus?« fragte er. »Ja«, antwortete Jillian und berichtete, was die Goodwins bisher erlebt hatten. »Das klingt eigentlich nicht sehr nach Poltergeistern.« »Könntest du den Fall untersuchen?« »Hmmm, wahrscheinlich schon«, sagte Max. »Sind Pete und Gretchen damit einverstanden?« »Gretchen hat mich darum gebeten«, erklärte Julian ihm. »Pete will anscheinend verhindern, daß sich jemand mit der Sache befaßt. Das kommt mir irgendwie komisch vor. Jedenfalls sind wir am Donnerstag zum Abendessen eingeladen. Hast du Lust dazu?« Max zögerte. »Okay«, sagte er dann. Pete Goodwin kratzte sich hinter dem linken Ohr und sagte: »Gretchen übertreibt, Max. Wir wohnen kaum drei Wochen hier – da muß man eben noch mit allen möglichen Kleinigkeiten rechnen.« Max spielte mit seinem Glas. »Julian und ich sind bisher nur Apartments gewöhnt. Aber Kater in der Duschkabine, Ahornsirup im Kleiderschrank und Seemöwen in der Küche – das klingt etwas ungewöhnlich, Pete.« »Das Leben in den Vororten ist eben anders, Max.« Ein tropfnasser Mann trat aus dem Badezimmer. Er war 346
klein, und sein dichtes schwarzes Haar ging ihm über die Stirn und in die Ohren. Gretchen stieß einen spitzen Schrei aus. »Mister Hazzard!« »Ich bin«, sagte Hazzard und schüttelte sich, »eben noch vor Ihrer Haustür gewesen. Ich wollte klingeln und fand mich plötzlich in der Duschkabine wieder.« »Diese neuen Häuser«, meinte Julian und warf Max einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich wollte Ihre Cocktailstunde keineswegs stören«, fuhr Hazzard fort. Sein Anzug roch intensiv nach Pfeifenrauch. Pete war ins Bad gegangen und kam jetzt wieder zurück. Er warf Hazzard ein orangerotes Handtuch zu. »Mister Hazzard«, erklärte er, »hat uns dieses Haus verkauft. Er arbeitet für Dillman & Finlay, die San Xavier Acres erschlossen haben.« »Die Dusche war übrigens angestellt«, sagte Hazzard, während er sich die Haare frottierte. »Meistens ist kaum genug heißes Wasser da«, warf Gretchen ein. »Das ist mir nicht aufgefallen.« Hazzard rieb sich das Gesicht trocken und tupfte seine Hemdbrust mit dem Handtuch ab. »Ich bin aus einem bestimmten Grund gekommen. Die Nummer sechsundzwanzig macht mir wirklich Sorgen.« »Das sind wir«, sagte Gretchen zu Max und Jillian. »Keines unserer anderen Häuser«, fuhr Hazzard fort, »macht seinen Besitzern solche Schwierigkeiten wie dieses hier.« »Schon gut«, meinte Pete abwehrend. »Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen, Mister Hazzard. Neue Häuser sind eben nicht gleich perfekt.« »Unsere Firma hat seit neunzehnhundertdreiundsechzig siebzehn Siedlungen dieser Art gebaut. Alle unsere Häuser sind dafür bekannt, daß sie kaum jemals Schwierigkeiten machen.« Hazzard kämmte sich die Haare und zuckte in seinem nassen Anzug mehrmals mit den Schultern. 347
»Wir sind ganz glücklich hier«, versicherte Pete ihm. »Einige andere Leute«, sagte Hazzard, »besonders die Nummern zweiundzwanzig und dreiundzwanzig, haben den Verdacht, und ich möchte rechtzeitig etwas dagegen unternehmen, daß es in diesem Haus spukt.« »In den Vororten wird immer viel getratscht«, sagte Pete. Er nahm Hazzards Arm und steuerte ihn auf die Haustür zu. »Aber wenn das Gerücht sich ausbreitet …« »Am besten ziehen Sie gleich etwas anderes an, damit Sie sich nicht erkälten. Ich komme morgen gegen Abend bei Ihnen vorbei – dann können wir alles besprechen.« Pete dirigierte Hazzard in die Nacht hinaus. »Pete«, sagte Gretchen. »Diese Verkäufertypen sind leicht nervös zu machen.« »Aber, Pete«, wandte Gretchen ein, »er ist von der Haustür ins Bad teleportiert worden.« »Wir können unsere persönlichen Probleme später diskutieren, wenn wir keine Gäste mehr haben«, sagte Pete. Er ließ sich in einen Sessel fallen und griff nach seinem Glas. »Max, was hältst du davon?« fragte Gretchen. Max sah zu Pete hinüber. »Teleportation gehört eigentlich nicht zur Ausstattung des Durchschnittshauses.« »Sprechen wir nicht mehr davon, Max«, wehrte Pete ab. »Ist es ein Geist?« erkundigte Gretchen sich. Max trank einen Schluck Sherry. »Jedenfalls wäre es dann Petes Geist. Und er scheint nicht davon sprechen zu wollen.« Max stellte sein Glas ab und sah zu der Stelle hinüber, wo Hazzard gestanden hatte. Dann erhob er sich und ging darauf zu. Neben den beiden nassen Fußabdrücken lag etwas Erde. Die Krümel waren trocken, und als Max sie berührte, glitzerte etwas wie Gold. Nachdem Max wieder auf seinen Platz zurückgekehrt war, fragte er: »Wann erscheint dein nächstes Kinderbuch, Gretchen?« 348
»Randell, die Rotationspresse? Im September.« Gretchen stand auf. »Ich muß mich jetzt ums Essen kümmern.« Julian legte Max eine Hand aufs Knie und warf ihm einen warnenden Blick zu. Julian saß mit gekreuzten Beinen am Fußende des Bettes. Sie bürstete langsam ihr Haar. »Aber warum ausgerechnet ein Gnom?« wollte sie wissen. Max zog die Schuhe aus. »Weil ich das Gefühl habe, daß es sich um eine Art Elementargeist handeln muß. Du brauchst nur an den Erdklumpen zu denken. Ich glaube, der Gnom hat ihn ins Wohnzimmer geschleppt. Die kleinen Kerle hausen unter der Erde, weißt du. Und sie können meistens ihre Gestalt verwandeln.« »Der Gnom war also die Seemöwe und der Kater?« »Höchstwahrscheinlich«, antwortete Max und ging barfuß im Schlafzimmer auf und ab. »Sie spielen gern Streiche. Sie können sich außerdem nach Wunsch unsichtbar machen. Das ist eine Erklärung für die anderen Tricks. Zumindest für einige.« »Aber warum gibt Pete nicht zu, daß die Sache irgendwie faul ist?« »Vielleicht kennt er den Gnomen bereits«, meinte Max. »Ihr Haus steht vermutlich über einer Höhle oder so ähnlich.« »Meinst du, daß der Gnom dort einen Schatz versteckt hat?« fragte Julian. »Das tun doch Gnomen meistens, was?« Max nickte. »Vielleicht ist Pete an dem Schatz interessiert.« »Ist das gefährlich?« »Klar«, sagte Max. »Gnomen ist nicht zu trauen.« »Willst du den Fall untersuchen?« »Nein«, antwortete Max. »Ich habe keine Lust, deswegen einen Streit mit Pete anzufangen. Er hat sich jede Einmischung deutlich genug verbeten.« 349
»Aber Gretchen leidet darunter.« Max setzte sich auf die Bettkante. »Sie ist keine besonders gute Köchin, wie?« »Mit einem Spuk im Haus kann niemand gut kochen. Aber du hilfst ihnen doch, Max?« »Wenn Pete mich selbst darum bittet«, antwortete Max. »Sonst nicht.« Jillian biß sich auf die Unterlippe. Pete Goodwin stand leise auf und horchte dabei zu Gretchen hinüber, die ruhig und gleichmäßig atmete. Dann schlich er mit bloßen Füßen über den dünnen Spannteppich, blieb nochmals kurz stehen und verschwand dann im Flur. Er bewegte sich fast unhörbar durch das dunkle Haus und öffnete behutsam die Verbindungstür zur Garage. Dort ließ er sich vor dem Volkswagen auf die Knie nieder und räumte einige große Pappkartons beiseite. Hinter einem Karton mit alten Illustrierten erschien ein etwa einen Meter breites und ebenso hohes Loch. Es schimmerte bläulich. »Blum«, sagte Pete. »He, Blum!« Das Loch schien ziemlich tief zu sein, denn Petes Stimme hallte dumpf wider. »Willst du einen Kompromiß schließen?« fragte eine heisere Stimme. »Wir ziehen nicht aus, darauf kannst du dich verlassen«, antwortete Pete. »Hör zu, Blum, ich kenne ein paar Leute, die sich auf okkulte Dinge verstehen. Wenn du nicht bald etwas von deinem Schatz herausrückst, zwingst du mich zu drastischen Maßnahmen.« Ein rundlicher Mann, der Pete kaum bis an die Knie reichte, kam aus dem Loch geklettert. Er trug einen konservativ geschnittenen Anzug und einen karierten Hut. »Pete, ich habe dir alles schon hundertmal erklärt. Ich arbeite hier nur. Der Schatz 350
gehört den Bonzen, den wirklich einflußreichen Gnomen. Ich soll ihn nur bewachen.« »Aber es fällt doch bestimmt nicht auf, wenn ein bißchen Gold fehlt«, sagte Pete. »Ich habe schon Schwierigkeiten genug«, antwortete der Gnom. »Zuerst wollte ich die Bauarbeiter abschrecken, aber das hat nicht geklappt. Jetzt belästige ich dich und deine Frau, aber das scheint auch nicht zu klappen.« »Früher oder später überliste ich dich doch – und dann mußt du den Schatz herausrücken.« Blum zuckte zusammen. »Hättest du meinen Schlupfwinkel bloß nie entdeckt!« »Für solche Sachen habe ich eine gute Nase«, erklärte Pete ihm. »Und wenn ich dir ein Nugget schenke? Zieht ihr dann aus?« »Ein Nugget? Damit können wir nicht einmal unsere Schulden bei Macy’s bezahlen.« »Mehr als zwei darf ich dir nicht bieten«, sagte Blum. »Einmal habe ich einem Schäfer drei Nuggets dafür gegeben, daß er mir einen Dorn aus dem Fuß zieht – aber das hat mir einen fürchterlichen Anpfiff von oben eingebracht.« »Laß mich wenigstens einmal durch die Sperre«, bat Pete. »Ich möchte das Gold nur sehen.« Der Gnom hielt seinen Hut an der Krempe fest und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, kommt nicht in Frage. Eigentlich dürfte ich gar nicht mit dir sprechen. Sei doch endlich vernünftig, Pete. Ich arbeite seit Jahrhunderten als Gnom. Für etwas anderes bin ich gar nicht ausgebildet. Und du willst mir alles verderben.« »Aber das ganze Gold«, murmelte Pete vor sich hin. »Hier unter meinen Füßen.« »Ich warne dich, Pete. Wenn du nicht bald aufhörst, muß ich energisch werden«, sagte Blum eindringlich. »Hoppla!« rief er dann und sprang ins Loch zurück. 351
Pete griff nach ihm, um ihn aufzuhalten, aber seine Hand stieß gegen einen unsichtbaren Schutzwall. Erst dann fiel ihm ein, er könne sich umdrehen und feststellen, weshalb der Gnom so blitzartig verschwunden war. Er sah gerade noch ein rosa Nachthemd um die Ecke verschwinden. Dann schob er leise fluchend die Kartons über die Öffnung. Max Kearny brachte seinen Wagen mit quietschenden Reifen vor dem Haus der Goodwins zum Stehen. Er stieg aus, schlug die Tür zu und rannte über den feuchten Rasen zum Eingang hinauf. Als er klingelte, kam Pete aus der Garage. »Ist Julian hier?« fragte Max. »Ich dachte, Gretchen sei bei ihr auf Besuch? »Nein, verdammt noch mal«, antwortete Max. »Was habt ihr beide angestellt – du und dein Gnom?« Pete riß die Augen auf. »Gnom?« Max trat auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. »Gretchen hat dich gestern nacht beobachtet, du Trottel«, knurrte er. »Sie hat Julian angerufen und sie um Hilfe gebeten.« »Tatsächlich?« »Hier«, sagte Max. Er holte einen Zettel aus der Tasche. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Julian so komische Druckbuchstaben macht«, murmelte Pete überrascht. »Lies gefälligst!« »›Da du Gretchen nicht helfen willst, muß ich mich selbst um den Gnomen kümmern‹«, las Pete halbllaut vor. »›Pete ist ganz in seine fixe Idee vernarrt.‹ Gar nicht wahr! ›Gretchen hat gestern nacht gehört, wie er sich in der Garage mit dem Gnomen unterhalten hat. Vielleicht kann ich ihn mit ein paar Zaubersprüchen vertreiben.«« »Wo steckt also Julian?« »Ich hoffe nur, daß sie den Gnomen nicht verärgert, Max. 352
Wir sind natürlich immer gute Freunde gewesen, aber ich brauche das Gold.« »Ich wollte mich ursprünglich nicht in die Angelegenheit einmischen. Aber jetzt ist meine Frau darin verwickelt.« Max zog Pete hinter sich her auf die Garage zu. »Glaubst du, daß Blum sich irgendwie beeinflussen läßt?« fragte Pete gespannt. »Das ist der Gnom, Blum. Wir könnten uns den Schatz fifty-fifty teilen.« »Ich habe den Verdacht, daß er Julian und Gretchen als Geiseln zurückhält.« »Die beiden waren aber nicht im Haus, als ich von der Arbeit zurückgekommen bin.« Pete blieb neben den Kartons stehen, die das Loch verdeckt hatten; sie waren beiseite geschoben, so daß der bläuliche Schimmer die düstere Garage erhellte. »Ich wollte eben hier nachsehen, als du gekommen bist. Wahrscheinlich haben die beiden überall herumgeschnüffelt.« Max ließ sich neben dem Loch auf die Knie nieder. Vor ihm lag eines der okkulten Bücher aus seiner Bibliothek. Über den Umgang mit Naturgeistern. »Julian!« rief Max. »Bist du dort unten, Gretchen?« fragte Pete über seine Schulter hinweg. Eine heisere Stimme antwortete ihnen. »Menschenskinder, Menschenskinder, wißt ihr denn überhaupt, was ihr mir antut?« Blum steckte den Kopf aus dem Loch. »Ich will meine Frau zurück«, sagte Max und schlug in seinem Buch unter dem Stichwort Gnomen nach. »Sie ist mit Mistreß Goodwin hier unten«, erklärte Blum ihm. »Und da bleibt sie auch, bis ich schriftlich habe, daß Pete demnächst auszieht.« Max nickte geistesabwesend, las in seinem Buch und klappte es wieder zu. »Ich gehe jetzt hinunter«, sagte er zu Pete. »Du bleibst hier, verstanden?« »Nein. Ich will das Gold sehen.« 353
Max holte mit der Faust aus. »Aua!« sagte Pete. »He, Max!« Max schlug wieder zu. »Tut mir leid.« Nach dem vierten Kinnhaken ging sein Freund zu Boden. Er drehte sich um und murmelte einen kurzen Zauberspruch. Blum erblaßte. »Heute interessiert sich wirklich jeder für mein Privatleben.« Er wich zurück. Max folgte ihm ungehindert. Eine steinerne Wendeltreppe führte drei oder vier Meter tiefer. Unter der Garage erstreckte sich eine lange Höhle. In einer Ecke hockten Julian und Gretchen. Um sie herum brannte ein kreisförmiges magisches Feuer. Beide waren staubig und mit Spinnweben bedeckt. An einer Wand stand ein niedriges Regal, auf dessen Brettern über hundert große Nuggets lagen. Sie glitzerten im Licht einer Grubenlampe, als seien sie eben erst poliert worden. »Sie sind gar nicht dumm«, meinte Blum anerkennend. »Sie haben gemerkt, daß Sie sich nicht für das Gold interessieren dürfen, wenn ich mich Ihren Wünschen fügen soll.« »Richtig. Deshalb wollte ich Pete nicht mitnehmen.« »Und es lockt Sie wirklich nicht?« »Nicht im Augenblick. Alles in Ordnung, Julian?« Er ging auf sie zu. »Ja«, antwortete Julian etwas bedrückt. »Tut mir leid, daß ich alles so verdorben habe.« »Wo ist Pete?« fragte Gretchen. »Er schläft neben dem Volkswagen«, erklärte Max ihr. Dann wandte er sich an Blum. »Ich möchte die beiden gleich mitnehmen.« »Sie müssen mir versprechen, daß die Goodwins ausziehen«, sagte der Gnom. »Max«, warf Jillian ein. »Auf dem kleinen Tisch dort drüben.« Max näherte sich dem Tischchen und fand einen Zettel, der 354
wie eine Aktennotiz aussah. Der Text lautete: »Alles Gold muß bis Mitternacht abtransportiert werden. Die Grube wird aufgegeben und geräumt; Gnom Blum meldet sich zurück und erhält eine andere Aufgabe. Ihm ist kein direkter Vorwurf zu machen, aber seine bisherigen Leistungen in dieser Angelegenheit entsprechen nicht den Erwartungen. Weitere Schritte gegen Gnom Blum bleiben deshalb vorbehalten.« »Das habe ich gesehen, während er uns herumgejagt hat«, erläuterte Jillian. »Ich mache eine letzte Anstrengung, um wenigstens noch etwas zu retten«, sagte Blum. »Wenn ihr alle verschwindet, lassen die Bonzen mich vielleicht bleiben.« »Willst du einen dienstlichen Befehl verweigern?« fragte Max ihn. Blum schnitt eine Grimasse und zerknautschte seinen Hut zwischen den Händen. »In letzter Zeit war alles so anstrengend. Und jetzt soll ich plötzlich nicht mehr hier arbeiten dürfen. Dabei habe ich mir wirklich Mühe gegeben …« »Ich helfe dir sogar beim Packen«, bot Max ihm an. Der Gnom seufzte. »Okay, du bekommst deine Frau und ihre Freundin zurück.« »Dein magisches Feuer sieht ohnehin nicht sehr wirkungsvoll aus«, stellte Max fest. »Ich bin eben nur ein zweitklassiger Gnom«, erwiderte Blum trübselig. Er machte eine Handbewegung. Das Feuer erlosch augenblicklich. Julian und Gretchen standen auf. »Gehen wir gleich?« fragte Jillian. »Selbstverständlich«, antwortete Max. Die beiden gingen voraus, aber Blum hielt Max am Ärmel zurück. »Willst du nicht wenigstens ein Nugget?« Max schüttelte den Kopf. »Seitdem ich verheiratet bin, interessiert mich das Zeug nicht mehr. Tut mir leid, Blum.« 355
Der Gnom zog die Schultern hoch. »Ich habe schon einmal fünfzig Jahre lang unter Pittsburgh arbeiten müssen. Hoffentlich schicken sie mich nicht dorthin zurück.« Max nickte ihm mitfühlend zu, wandte sich ab und stieg die Wendeltreppe hinauf. In der Garage legte er einen Arm um Julians Schultern, während Gretchen Pete zu erklären versuchte, weshalb sie den Schatz nie bekommen würden.
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