Kompaß-Bücherei Band 249
Buch: Wenige Wochen, nachdem das gewaltige Teleskop mit dem Para bolspiegel aus erstarrtem Q...
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Kompaß-Bücherei Band 249
Buch: Wenige Wochen, nachdem das gewaltige Teleskop mit dem Para bolspiegel aus erstarrtem Quecksilber im Krater Zeta den Betrieb aufgenommen hat, geschieht das Unfaßbare: Ein vermeintliches Mondbeben zerstört die Anlage, und der junge Wissenschaftler Sol Mento kommt unter den Trümmern ums Leben. Seine Partnerin Ira Beaux beschuldigt den Chefselenologen nachlässiger Bau grunderschließung. Erst als tief unter der Mondoberfläche die rie sige Höhle mit den regelmäßig geformten Stalagmiten und den rätselhaften Spuren entdeckt wird, geht die Suche nach den Ursa chen der Katastrophe in eine ganz andere Richtung.
Autor: Paul Ehrhardt, 1922 in Caßdorf bei Kassel geboren, wohnt in Schmiedefeld am Rennsteig. Er hat sich vom Maschinenschlosser über den Ingenieur für Elektrotechnik zum Diplomingenieur für elektrische Maschinen und Antriebe qualifiziert und ist jetzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem Betrieb für Rationalisie rung in Suhl tätig. Sein Interesse für technische Neuerungen, aber auch für Astronomie und Astrophysik führte ihn zur Wissen schaftlichen Phantastik. 1975 erschien sein erfolgreicher Roman »Nachbarn im All«.
Paul Ehrhardt
Spuren im Mondstaub
Wissenschaftlich-phantastischer Roman
Verlag Neues Leben Berlin
Illustrationen von Frank Töppe
Verlag Neues Leben, Berlin 1979
2. Auflage, 1981
Lizenz Nr. 303 (35/195/81)
LSV 7503
Einband: Frank Töppe
Typografie: Ingrid Engmann
Schrift: 9p Times
Gesamtherstellung: GG Völkerfreundschaft Dresden
Bestell-Nr. 642 757 9
DDR 1,80 M
Im Mondobservatorium Wer die Mondsiedlung Lunapol mit ihren bizarr geformten Plast zelten, die sich über den Betonwürfeln wölbten, in nördlicher Richtung verließ, konnte glauben, eine Fata Morgana täusche seine vom grellen Sonnenlicht schmerzenden Augen. Am Horizont der Ebene gleißte die Senitkuppel des erst vor we nigen Wochen fertiggestellten Rotationsteleskops wie ein Mär chenschloß aus Tausendundeiner Nacht. Der Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß die Zacken im Ringwall des kleinen Kraters Zeta, in dem sich das neuartige Ob servatorium befand, an die Zinnen einer mittelalterlichen Burg erinnerten. Doch die Lunauten, die in dieser Umgebung ein entsagungsvol les Pionierleben führten, hatten sich längst an diesen Anblick ge wöhnt und sahen die wissenschaftlichen Zweckbauten weniger romantisch an. Das Observatorium unmittelbar in einem Krater zu errichten war zweifellos ein kühner Gedanke gewesen. Es hatte auch nicht an warnenden Stimmen gefehlt; da dieses Gebiet jedoch keine seismischen Aktivitäten aufwies, hatte man sich trotzdem für den Bau entschlossen. Ira Beaux, die verantwortliche Astronomin dieser modernsten kosmischen Beobachtungsstation, hatte den kugelförmigen Oku larraum seit Stunden nicht verlassen. Immer wieder gab sie dem computergesteuerten Objektsucher neue Aufgaben ein und über prüfte sorgfältig die Ergebnisse. In dem kleinen Raum war plötz lich ein dumpfer Klopfton zu hören. Erschrocken wandte sich Ira um. Wieder hatte ein Kleinstmeteorit die Kuppel des Observatori ums durchschlagen. Obwohl sie genau wußte, daß die eingesetzten Havarieroboter einwandfrei funktionierten und die schadhafte Stelle in wenigen Sekunden beseitigten, schrak sie dennoch jedes mal zusammen, wenn das akustische Anzeigegerät reagierte.
Wenig später stützte sie müde und erschöpft den Kopf auf ihre verschränkten Hände und schloß die Augen. Die letzten Monate waren zu ereignisreich, zu anstrengend gewesen. Aber wer gab schon kurz vor dem Ziel auf? Eigentlich konnte sie mit dem Er reichten zufrieden sein. Mit knapp sechsunddreißig Jahren war sie bereits eine international anerkannte Astronomin. Die hohe Ver antwortung, die ihr und dem von ihr geleiteten Kollektiv mit dem Bau des ersten Quecksilberrotationsteleskops im Krater Zeta über tragen worden war, legte davon ein beredtes Zeugnis ab. Nein, nur keine Rückschau halten! Ira mußte lächeln. Im rechten Augenblick, so wollte ihr scheinen, trat Sol Mento, der wesentli chen Anteil an den Erfolgen der Forschungsgruppe hatte, in den Okularraum. Seit vielen Jahren zählte er zu Iras engsten Mitarbeitern, und so war es nicht ausgeblieben, daß aus Vertrauen, Sympathie und ge genseitiger Achtung nach und nach eine engere Bindung entstan den war. »Schön, daß du gerade jetzt kommst«, sagte sie leise, ohne sich aufzurichten. Der schlanke, hochgewachsene Libanese schaute in ihr blasses Gesicht. »Ira, du kannst doch völlig beruhigt sein! Alles klappt wie am Schnürchen. Die Kollegen wissen, worum es geht, und geben ihr Bestes. Was hast du nur?« Sol kannte Ira jedoch viel zu gut, um nicht selbst zu fühlen, wel che Gedanken sie jetzt bewegten. Ein Bergsteiger, der nach be schwerlichem Aufstieg vor dem letzten entscheidenden Grat noch einmal Rast macht, würde ähnlich empfinden. Er mußte ihr helfen, gerade jetzt. Wie gut entsann er sich noch jener Zeit vor fast zehn Jahren, als er, ein »frischgebackener« Hochschulabsolvent der Fachrichtung Physikalische Chemie, der Forschungsgruppe um Ira Beaux zuge teilt worden war. Das Experimentiergelände und die Laboratorien befanden sich in der Nähe von Tripolis. Er war von dem wissenschaftlichen
Vorhaben, große Hohlspiegel aus rotierendem Quecksilber herzu stellen, sofort fasziniert gewesen. Ira Beaux hatte es dann verstanden, ihn rasch in das Kollektiv, das aus Wissenschaftlern verschiedener Nationen bestand, ein zugliedern. Er spürte, daß sie ihn mochte, und bald war er ihr Freund und Vertrauter. Ira, die sich inzwischen wieder tief über das Okular gebeugt hat te, um Einstellung und Schärfe noch einmal zu überprüfen, erhob sich plötzlich und blickte Sol Mento an. »Sol, du kennst mich lange genug, um zu wissen, daß ich bei aller Begeisterung für das Neue kein Phantast bin. Genau wie ich weißt du seit den letzten Wo chen, daß die bisher vorliegenden Beobachtungsergebnisse des Quecksilberrotationsteleskops unsere kühnsten Erwartungen über troffen haben. Doch sollen wir nun die Hände in den Schoß legen und mit dem Erreichten zufrieden sein? Zum Forschungsrisiko gehört eben auch der Mut zu weitreichenden Entscheidungen. Mit dem neuen Spiegel können wir den Planeten Pluto genauer beo bachten als bisher den Mars oder die Venus, um nur ein Beispiel zu nennen. Auch die bevollmächtigten Kollegen der Weltföderati on werden einsehen, daß eine Beobachtungseinrichtung nach un serem Prinzip, jedoch mit einem Zweihundertmeterspiegel, dessen Bau durchaus möglich ist, eine Grobbeobachtung aller Fixsterne einschließlich ihrer möglichen Begleiter bis zu einem Abstand von einigen hundert Lichtjahren ermöglichen würde. Sol«, sie schaute ihn beschwörend an, »für eine solche Aufgabe lohnt es sich doch, zu kämpfen, sich zu engagieren, spürst du das nicht? Die Raumfahrt hat sich leider nicht so stürmisch und erfolgreich weiterentwickelt, wie es anfänglich den Anschein hatte. Die Pho tonenraketen, die seit dem Jahr zweitausendfünfzehn erprobt wer den, sind noch immer nicht für interstellare Flüge geeignet. Auch die ausreichende Erzeugung von Antimaterie, dem idealen Treib stoff für solche kosmischen Flugkörper, ist bisher nicht geglückt. Sage du mir, auf welche Weise die Menschheit weitere Erkenntnis se über Wesen und Aufbau des Weltalls gewinnen will? Ich sehe
für absehbare Zeit nur den einen Weg, die Ergebnisse unserer langjährigen Forschungen auf dem Gebiet der Optik zu nutzen…« Sol Mento war froh über ihre Worte. Das war Ira Beaux, wie er sie kannte und liebte! Trotzdem blieb er sachlich, als er jetzt die Hand ein wenig hob und sagte: »Ira, entschuldige bitte, wenn ich dich unterbreche, aber schau auf die Uhr! Die Kurierrakete, die die Delegation der Weltföderation an Bord hat, wird jeden Augenblick in Lunapol landen.« »Du hast recht«, sie drückte auf einem langen Register eine Taste. Einer der Bildschirme an der Rückwand des Okularraumes leuch tete auf und zeigte Einzelheiten des nahe gelegenen Lunadroms. Die fast kreisrunde Anlage war hell erleuchtet; sechs unterschied lich große Startrampen hoben sich deutlich vom dunklen Hinter grund ab. Vom Zentralhangar her fuhren soeben vier Mondtrans porter auf eine der Landungsstellen zu. In wenigen Minuten würde die planmäßige Erde-Mond-Kurierrakete im Landebereich B auf setzen. Die TV-Kamera schwenkte langsam nach oben. Ira und Sol sa hen in großer Höhe die grellen Lichtfackeln der Bremsdüsen, die die KR 8 allmählich der Mondoberfläche näher brachten. »Hoffentlich hat sich Pawel Rinald nicht verspätet. Er war ja nicht davon abzubringen, als Mondkurator die vier Mitglieder der Weltföderation persönlich am Lunadrom zu empfangen«, sagte Ira. »Der Besuch der Kommission scheint ihm genauso wichtig zu sein wie uns«, erwiderte Sol, »das knappe Programm für die nur zwei Tage Aufenthalt ist auch entsprechend zusammengestellt. Demonstration der Ergebnisse des neuen Teleskops und schließ lich das Wichtigste, die Entscheidung der Kommission. Na, du weißt ja…« Eben setzte die Kurierrakete auf, ihre Spinnenbeine federten noch einige Male nach, dann war die Landung beendet. Der Per sonentransporter schob sich langsam heran, und die Schleusen gangway verband in wenigen Minuten Rakete und Fahrzeug.
»Wie ich Rinald kenne, wird er die Gäste im Hangarrestaurant erst bewirten und ihnen anschließend eine angemessene Erho lungs- und Akklimatisierungspause gönnen«, fuhr Sol fort. »Ich bin sicher, daß wir mindestens noch drei Stunden Zeit haben, bevor sie hier bei uns eintreffen.« Er ging auf Ira zu, und seine Hände fuhren liebkosend über ihre Schultern und Arme. Für Sekunden schloß sie die vom vielen Beobachten schmerzen den Augen, dann sagte sie: »Ich werde in der verbleibenden Zeit die Anlage noch einmal inspizieren. Kommst du mit? Ich freue mich, wenn du dabei bist.« Sie verließen den Okularraum, der, wenn man die Gestängeteile der Auslegerkonstruktion übersah, frei im Raum zu schweben schien. Ein pneumatischer Lift brachte sie in Sekundenschnelle in die unterste Sohlenetage. Ira und Sol brauchten nicht viele Worte zu machen. Ihre Mitar beiter hatten alles getan, um die internationale Kommission von der Perfektion der Anlage zu überzeugen. In der Rheothermikanlage entdeckte Ira eine provisorische Ver drahtung. »He, Karl und Mario! Ihr wolltet das doch gestern noch in Ordnung bringen«, rief sie zwei jungen Männern zu, die an einer Schalttafel arbeiteten. »Sol weiß Bescheid«, antwortete Karl. »Die vorgefertigten Supra strippen sind ungeeignet. Wir können das erst übermorgen neu verlegen.« Die Inspektion dauerte doch länger, als sie gedacht hatte. Wäh rend sich Sol noch mit dem leitenden Ingenieur der Normaletage unterhielt, rief Mario plötzlich: »Der Kurator und die Gäste sind eingetroffen!« Ira blickte noch einige Sekunden auf den Kontrollbildschirm, dann schritt sie, so schnell es der Schutzanzug erlaubte, um den Spiegeltrichter herum und auf das Eingangsgebäude zu, das auf derselben Etage lag. In der Temperaturschleuse nahm sie den Helm ab. Da kam auch schon Pawel Rinald mit den vier Föderati
onsmitgliedern. In wenigen Minuten stand sie der Gruppe in der kleinen Empfangshalle gegenüber. Dann stellte Ira Beaux ihren versammelten Mitarbeitern die Mit glieder der internationalen Kommission vor: Kura Borain vom Himalaja-Observatorium der Asiatischen Union, Juri Sannikow vom Achtmeterteleskop im Kaukasus, ferner den langjährigen Kollegen Micha Vludy, der die Arbeiten im nordafrikanischen Ver suchsgelände fortsetzte, und schließlich Col Reuton, den amerika nischen Teleskopexperten. »Sicher ist es Ihnen recht, wenn wir sofort beginnen! Bitte folgen Sie mir in unseren kleinen Vortragssaal, damit ich vor der Besichti gung und Objektbeobachtung noch ein paar allgemeine Erläute rungen geben kann!« Damit schritt die junge Wissenschaftlerin voraus. Nachdem alle vor einer Tafel mit einem großen Schnittbild der Anlage Platz genommen hatten, begann Ira, die ihre Aufregung doch nicht ganz unterdrücken konnte, mit den Ausführungen. »Die ersten Experimente mit rotierendem Quecksilber begannen, als ein internationales Forschungskollektiv in der Sowjetunion, zu dem auch Juri Sannikow gehörte, schon längere Zeit damit be schäftigt war, ein Achtmeterspiegelteleskop zu errichten. Alle Be teiligten kamen zu der Feststellung, daß die Grenzen der glasopti schen Möglichkeiten erreicht waren. Die Montagezeit von fast achtzehn Jahren, bedingt durch die vielen unerwarteten Schwierig keiten, war dafür ein beredtes Zeugnis. Damals setzte ich meine Versuche mit großen Parabolspiegeln aus rotierendem Quecksilber in den nordafrikanischen Laboratorien verstärkt fort. Daß die Flüssigkeitsoberfläche in einem rotierenden, zylindrischen Gefäß nicht eben bleibt, sondern am Rand emporsteigt, hatte mich seit meiner Studienzeit oft beschäftigt.« Sie skizzierte auf einer bereitgestellten Tafel zwischen den Koor dinaten z und r einen Kurvenverlauf und fuhr fort: »Die Oberflä che der rotierenden Flüssigkeit ist die eines Rotationsparaboloids. Die Realisierung meines ursprünglichen Gedankens, mit einem
solchen, ständig rotierenden Spiegel ein Teleskop zu bauen, schei terte an der mangelhaften Oberflächenbeschaffenheit des Queck silbers. Der nächste Schritt war daher, diese Oberfläche durch Unterkühlung zu verfestigen, und zwar in dem Augenblick, in dem sie durch entsprechend lange Rotation eine ideale Parabelform erreicht hat. Hier ergaben sich jedoch zunächst eine Vielzahl fast unlösbarer technischer Probleme. War es schon kompliziert, beim Einfrieren die vollkommene Form exakt zu erhalten, so erwies es sich als noch schwieriger, eine spiegelblanke Oberfläche zu erzie len. Gut, ich möchte bei diesen Dingen nicht zu weit ausholen. Die technischen Probleme wurden gelöst! Durch langfristige par tielle Unterkühlung erhielten wir metallisch feste und konturenge treue Quecksilberspiegel und durch rheothermische Behandlung schließlich eine ausreichend blanke Oberfläche. Eine für noch größere Parabolspiegel praktikable Lösung der rheothermischen Behandlung haben wir erst hier in Lunapol ge funden: Der in der Nähe des Brennpunktes befestigte Ablenkspie gel, der bei unserem Teleskop immerhin einen Durchmesser von zweieinhalb Metern hat, wurde gleichzeitig als Infrarotquelle aus gebildet und erwärmt ständig die äußerste Schicht der Spiegelober fläche. Kurz gesagt, die einwandfreie Funktion der Anlage ist nach unseren bisherigen Erfahrungen eine Frage der Temperatur, die hier im gesamten umbauten Raum von den Fundamenten bis zur Senitkuppel zweihundertdreiundzwanzig Kelvin beträgt. Proble matisch wird die Einhaltung dieser Temperaturkonstanz durch die unterschiedliche Sonneneinstrahlung. Ich komme nun zur Erläute rung des technischen Aufbaus der Gesamtanlage.« Ira Beaux wandte sich der großen bunten Schnittzeichnung zu. »Die Höhe einschließlich der Senitkuppel beträgt zweihundert zehn Meter, davon liegen hundertzehn Meter unterhalb der Mondoberfläche. Die restlichen einhundert Meter dienen als Un terbau für die freitragende Kuppel. Die Anlage gliedert sich in acht Etagen mit entsprechenden Ein richtungen: die Sohlenetage mit Fundamentkontrolle und Klima anlagen, die Armierungsetage mit der gesamten Teleskopsteuer-
und -regeleinrichtung, die Rotationsetage mit Schwenkeinrichtun gen und notwendigen Kraftanlagen, die Spiegeletage mit Quecksil berzufluß und Wirbelstrompumpen, die Basisetage mit Fahrbahn und Transporteinrichtungen, die Normaletage mit Funktionsge bäuden, die Hermetiketage mit Havarieroboterstation – und da zwischen schließlich die Beobachtungsetage mit dem Ablenkspie gel und dem Okularraum, mit dem Infrarotringstrahler und der Laserjustiereinrichtung.« Nachdenklich unterbrach Ira für einen Augenblick ihre Darle gungen, dann sprach sie weiter: »Doch ich glaube, das sind Dinge, die Ihnen allen durch Spezialberichte und Detailbeschreibungen hinlänglich bekannt sind. Sollten Ihrerseits keine Fragen mehr vor liegen, dann würde ich empfehlen, daß Sie jetzt die Schutzanzüge anlegen und wir die Anlage in ihren Dimensionen von der Nor maletage aus auf uns wirken lassen.« Als alle die Schutzanzüge angezogen hatten, rollte ein Kontroll automat herein und überprüfte jeden einzelnen auf Einhaltung der Sicherheitsparameter. Durch eine Druck- und Temperaturschleuse trat die kleine Ko lonne in das Innere des riesigen Kuppelbaus, der auf der Nor maletage einen Durchmesser von mindestens einhundertvierzig Metern hatte. Da Mondnacht herrschte, konnten sie das sternen übersäte Firmament ungehindert durch die hoch über ihnen be findliche Senitkuppel erkennen. Lediglich die etwa achtzig Meter hohe Stützmauer, auf der die Kuppel ruhte, schränkte den Sicht horizont ein. So hatte man das Gefühl, in einer Bodensenke zu stehen. Nachdem sich Ira Beaux ein klein wenig am Erstaunen der Gäste ergötzt hatte, ließ sie den Rundbau erleuchten. Für alle entstand jetzt der Eindruck, daß sie sich im Inneren eines Riesenplanetari ums befanden. Sie bat die Wissenschaftler nach vorn an das Geländer und erläu terte eingehend die funktionellen Besonderheiten der einzelnen Etagen.
»Die Größe der Anlage«, sagte sie abschließend, »wird durch die Brennweite des Spiegels bestimmt. Der Parabolspiegel, den Sie dort unten sehen, hat einen Durchmesser von zwanzig und eine Brennweite von zweihundert Metern. In Verbindung mit einem mittleren Okular von einem Zentimeter Brennweite ergibt sich ungefähr eine zwanzigtausendfache Vergrößerung. Doch dazu komme ich noch speziell, wenn wir uns anschließend im Okular raum von der Wirkungsweise des QRT überzeugen werden.« Ein pneumatischer Lift brachte die Gruppe dann zur Sohleneta ge und damit zum tiefsten Punkt der Anlage. Wie Ameisen kamen sie sich vor, wenn sie genau senkrecht zum Ablenkspiegel empor blickten. Die Fundamentkontrolle wurde sehr genau genommen. Überall in dem riesigen Bauwerk waren Seismosensoren angebracht, deren Meßergebnisse ständig ausgewertet wurden. Nach kurzen informativen Gesprächen mit den hier unten arbei tenden Technikern und Wissenschaftlern äußerten die Gäste den Wunsch, die Hermetiketage zu besichtigen. Ira nahm Sol Mento, der zu der Gruppe gestoßen war, unauffällig beiseite und flüsterte ihm zu: »Während du technische Einzelheiten erläutert hast, hat mir Girnt, du kennst ihn ja, inzwischen auch den Seismooszil logrammstreifen der letzten zwei Stunden in die Hand gedrückt. Du, da hat ja, ohne daß wir es bemerkt haben, ein kleines Beben stattgefunden. Für unsere Region doch wirklich ungewöhnlich. Der Ursprungsherd liegt unmittelbar unter dem Zeta. Ob wir die Besichtigung abbrechen, was meinst du?« Beunruhigt schaute sie Sol an. »Kein Grund zur Panik«, erwiderte er jedoch, »die Fundamente und Trägermauern sind einsturzsicher vernetzt. Es besteht also keine Veranlassung, etwa die Spiegelwanne auszupumpen. Komm, machen wir weiter!« Schnell hatten sie mit dem Versorgungspaternoster die einhun dertneunzig Meter Höhenunterschied überwunden und befanden sich auf einer schmalen Galerie, die innerhalb der hier aufliegenden
Spezialglaskuppel von der Stützmauer gebildet wurde. In regelmä ßigen Abständen waren in dem Rundgang Havarieroboter statio niert. »Welche Aufgaben sind eigentlich diesen sonderbaren Robotern zugedacht?« fragte Kura Borain. »Wie ich einem früheren Kosten voranschlag entnehmen konnte, sind es zweiundzwanzig an der Zahl mit einem Gesamtwert von etwa hundert Millionen internati onaler Verrechnungseinheiten.« »Ich muß zur Beantwortung dieser Frage etwas weiter ausholen«, sagte die junge Wissenschaftlerin. »Wir waren uns seinerzeit, als wir diese Anlage hier im Feinprojekt ausarbeiteten, noch nicht ganz klar darüber, wie die obere Abdeckung aussehen sollte. Im merhin mußten einhundertfünfzig Meter frei überspannt werden. Es war ein günstiges Zusammentreffen, als es dem Baustab von Lunapol gelang, eine mondeigene Glasart, das Senit, zu entwickeln. Dessen niedertemperaturige Gießbarkeit, die leichte Verbindung einzelner Teilstücke zu großen Flächen durch Ultraschallbehand lung und vor allem die hohen mechanischen Kennwerte dieses Materials kamen uns sehr entgegen. Die sich über uns wölbende Senitglaskuppel entspricht dem Abschnitt einer Kugel von vier hundertzwanzig Meter Durchmesser. Die Senitglocke hat drei Funktionen zu erfüllen: Sie schützt unsere Anlage vor Kleinst- und Minimeteoriten, sie dient der Temperatur- und Druckkonstanz, und sie gewährleistet eine einwandfreie Beobachtung. Nun zu den Robotern! Durch den Druck- und Temperaturunter schied zwischen dem Observatorium und der Mondaußenwelt genügt schon ein winziges Loch, um die gesamte Anlage zu stören. Die Roboter dienen dazu, die eingeschossenen Meteoritenlöcher sofort wieder zu schließen, wobei jeder der zweiundzwanzig für einen bestimmten Sektor zuständig ist. Sie sind mit Saugfüßen versehene Ultraschallgeneratoren und haben Druck- und Tempe ratursensoren. Ich halte sie auch bei weiteren Objekten dieser Art für unerläßlich. Vielleicht könnte man ihre Anzahl jedoch verrin gern und jedem einen größeren Sektor zuteilen. – Doch ich würde
vorschlagen, daß wir uns jetzt von den Beobachtungsmöglichkei ten des Gerätes überzeugen.« Gegen diesen wohl interessantesten Abschnitt des Tagespro gramms gab es keine Einwände. Auf ein Zeichen von Sol Mento schwenkte der Okularraum langsam nach unten und hielt nach wenigen Minuten unmittelbar vor der Expertengruppe. Nachdem alle eingestiegen waren, beweg te sich die fast kugelrunde Beobachtungsstation wieder nach oben. »Machen Sie es sich ein wenig bequem, nehmen Sie zumindest zur besseren Beobachtung die Schutzhelme ab«, sagte Ira zu den Insassen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Jetzt hatte sich der Okularraum in die richtige Lage eingependelt. Eben wollte sich Col Reuton nach dem Stabilisierungsmechanis mus erkundigen, als ein nicht zu überhörendes Klopfen ertönte. Im Bordlautsprecher meldete sich kurz darauf der Sicherheitsin genieur der Hermetiketage: »Kleinstmeteoritendurchschlag am Sektor achtzehn, Schadenstelle ausgemacht, Roboter läuft.« Vom Okularraum aus war deutlich zu sehen, wie sich ein mehr als meterhoher roter Zylinder, der Havarieroboter achtzehn, zur Mitte der Kuppel bewegte. Er glich in dieser Entfernung einer riesigen Spinne, die sich einem in ihrem Netz gefangenen Opfer näherte. Es dauerte weniger als eine Minute, da verstummte der Klopfton, und der Roboter kehrte in seine Ausgangsstellung zu rück. »Das war keine beabsichtigte Demonstration«, sagte Ira Beaux, »aber ich glaube, Sie sind jetzt mit mir einer Meinung, daß dieser technische Aufwand durchaus gerechtfertigt ist.« Col Reuton erkundigte sich nach den Justiermöglichkeiten für den optischen Teil der Anlage. »Die Justierung«, antwortete Sol Mento, »erfolgt mit Hilfe von Nullaserstrahlimpulsen, die von fünf verschiedenen Stellen des Parabolspiegels aus gegeben werden, den Ablenkspiegel in defi nierten Punkten und das Okular genau in der Mitte treffen müs
sen. Ein besonderer Computer errechnet die Korrektur- und Aus gleichsbewegungen. Bei der Wahl eines neuen Beobachtungsobjek tes dauert dieser Vorgang etwa drei Minuten.« Unterdessen hatte Ira die Einstellung überprüft und nickte Sol aufmunternd zu. Er bat die Teilnehmer, vor dem Okular Platz zu nehmen, dann fuhr er fort: »Wie Ira Beaux schon erwähnte, ermöglicht das In strument eine etwa zwanzigtausendfache Vergrößerung, das ist immerhin mehr als das Doppelte dessen, was das moderne Groß teleskop im Kaukasus mit einem Achtmeterspiegel leistet. Zwan zigtausendfache Vergrößerung bedeutet, daß man auf dreißigtau send Kilometer Entfernung noch einen einzelnen Menschen er kennen kann oder, was vielleicht vorstellbarer ist, daß Sie von hier aus auf der Erde einen fahrenden Lastkraftwagen oder Omnibus sehen können.« Er flüsterte kurz mit Ira und sagte dann laut: »Gedulden Sie sich bitte einen Augenblick, wir richten jetzt das Instrument auf die nordafrikanische Ost-West-Autostraße, die Dakar mit Kairo ver bindet!« Er warf einen Blick ins Okular. »Bitte, jetzt können Sie sich selbst davon überzeugen. Die verschwommenen Objekte sind kleinere Fahrzeuge, ab sieben Meter Länge sind sie deutlich wahr zunehmen!« Die Kommissionsmitglieder traten nacheinander an die Beo bachtungsoptik und waren ehrlich überrascht von den klaren Bil dern und der beinahe unglaublichen Vergrößerung. Nachdem sie wieder Platz genommen hatten, sprach Sol weiter: »Auf dem Mars können wir Einzelheiten bis zu vierzehnhundert Meter Größe erkennen, zum Beispiel auch die genauen Grenzen der Polkappen, die sich in den verschiedenen Jahreszeiten verän dern. Aber was ich geradezu phänomenal finde und was für Sie alle bestimmt ein Erlebnis sein wird, das ist die nunmehr mögliche Beobachtung des Pluto. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts war dieser fernste Planet unseres Sonnensystems in den optischen Geräten nichts weiter als ein leuchtender Punkt, nicht besser zu
erkennen als irgendein um viele Lichtjahre entfernter Fixstern. Mit unseren QRT jedoch beobachten wir den Planeten Pluto wie unse re Vorfahren vor einhundertfünfzig Jahren noch den Mars oder die Venus!« Col Reuton, dessen Fachmeinung in internationalen Gremien sehr geschätzt wurde, sagte, als er vom Okular zurücktrat, aner kennend: »Die Bilder sind nachweislich besser als die der letzten Plutosonden, die zwölf Jahre unterwegs waren.« Danach wurden noch zahlreiche andere Objekte beobachtet. Bei den anschließenden Detaildiskussionen bewies Rinald einmal mehr, daß er es meisterhaft verstand, ein gestecktes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Ira fühlte, die Kommission würde über den Bau eines noch größeren QRT positiv entscheiden. Allmählich forderte die Umstellung der Gäste auf die neuen Umweltbedingungen ihren Tribut. »Was meinen Sie? Wir unterbrechen das heutige Tagespro gramm«, schlug Pawel Rinald vor, »und ich bringe unsere vier Ex perten zurück nach Lunapol. Sie, Ira und Sol, kommen so schnell wie möglich nach! Wir essen dann gemeinsam, unterhalten uns noch ein wenig und sind morgen wieder ausgeruht und leistungs fähig. Einverstanden?« Es gab keine Gegenstimmen. Schnell schwenkte der Okularraum zur Hermetiketage. Ein Lift bracht die Delegation in die Normaletage, wo die Schutzanzüge abgelegt wurden. Auf Magnetkissen fuhr ein Lumobil durch die Schleuse ein und beförderte die inzwischen wieder lebhaft gewordene Ge sellschaft in Richtung Lunapol.
Folgenschwerer Zwischenfall Die etwa zwanzig Kilometer entfernte Mondmetropole entsprach keinesfalls einer Stadt im üblichen Sinn. Sie war vielmehr techni sches Zentrum und wissenschaftliche Basis der nach und nach an vielen Punkten der Mondoberfläche eingerichteten Forschungssta tionen. Um das ursprüngliche Lunadrom, das Start- und Landege biet für die unterschiedlichsten Raketentypen, hatten sich im Laufe der Jahre immer mehr Zweckgebäude gruppiert. Es gehörte zur lunaren Siedlungspraxis, daß die Gebäudekom plexe mit einer stabilen Plasthaut überwölbt wurden, um in diesen Bereichen erdähnliche atmosphärische Bedingungen zu schaffen. Nichts war für den Aufenthalt auf dem Erdtrabanten abschre ckender als ein ständiges Leben in Schutzanzügen. So glich Luna pol aus der Vogelperspektive, und dieses Bild hatte sich bisher allen Mondbesuchern eingeprägt, einer weiträumigen Anordnung von großen Zirkuszelten. Trotzdem, Kurator Rinald machte gegenüber den Gästen aus seiner Meinung, daß er diese Art der Mondbebauung noch als Pio nierstadium betrachte, kein Hehl. Er vertrat den Standpunkt, künf tige Siedlungsvorhaben unterhalb der Mondoberfläche zu realisie ren. Dadurch könnten die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lunauten wesentlich verbessert und sicherer gestaltet werden. Das Lumobil schwebte in geringer Höhe über das »Zeltlager« von Lunapol und setzte dann sicher auf der Landeplattform des Titow-Hotels auf. Dieser Bau, vorwiegend für Kurzzeitgäste einge richtet, war bereits ein solches sublunares Objekt mit Komfort, wie es den Vorstellungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts entsprach. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die Umgebung. Der Bau lag in der Mitte eines großen Hohlraumes, den typisch irdische Landschaften umsäumten. Die Fenster gaben den Blick auf Darstellungen von Seen und Wäldern frei. Im Hotel wurden sogar verschiedene Klimate der Erde simuliert; man konnte zwi
schen Berg-, See- und Normalklima wählen. Nur die Erdenschwe re konnte noch nicht nachgebildet werden. Aber Haftsohlenschu he gewährleisteten annehmbare Bewegungsmöglichkeiten. Ein Schachtförderer, der gleichzeitig als Schleuse ausgebildet war, transportierte das Lumobil in die Tiefe, wo die Gäste ohne besondere Schutzmaßnahmen aussteigen konnten. Lumobil war die allgemeine Bezeichnung für selbstfahrende Transportmittel auf dem Mond. Erst in letzter Zeit verstand man darunter ausschließlich die sehr wendigen und vielseitig einsetzba ren Raketokopter. Diese Flugapparate ähnelten Hubschraubern, nur daß man auf dem Mond wegen der fehlenden Atmosphäre auf aerodynamische Flügel- und Gleitsysteme verzichten mußte. Der libellenförmige Rumpf war oberhalb eines horizontal arbei tenden Rotorsystems angebracht, das wie ein vielarmiges Spei chenrad aussah. Die Enden der Speichen trugen kleine, senkrecht wirkende und beliebig verstellbare Schubdüsen, durch deren Rota tion ein angenehmes Flugverhalten erzielt wurde. Mit Rücksicht auf den überall vorhandenen Mondstaub, der durch die Raketentriebwerke aufgewirbelt würde, betrug die Min destflughöhe sechshundert Meter. Durch die Vollsichtkanzel und die Hubschrauberflugeigenschaf ten waren die Raketokopter sowohl für den Personen- und Güter transport als auch für Forschungs- und Aufklärungszwecke ideale Flugkörper. Allein im Flugbereich von Lunapol gab es bereits über hundert solcher Fahrzeuge verschiedener Größenklassen. Nachdem die Gäste das Titow-Hotel mit dem für Mondverhält nisse ungewöhnlichen Komfort ausgiebig besichtigt und sich an schließend erfrischt hatten, trafen auch Ira Beaux und Sol Mento ein. Beide trugen Abendkleidung. Sol hatte einen weißen Anzug mit enganliegender Hose und togaartigem Obergewand gewählt, Ira einen silberglänzenden Overall. Ihre dunklen Haare bildeten dazu einen wirkungsvollen Kontrast.
Ira, die sich im Observatorium noch einmal über den Stand der seismologischen Untersuchungen informiert hatte, gab Pawel Ri nald in einem passenden Augenblick einen kurzen Bericht. »Ja, angenehm ist das nicht«, sagte er nachdenklich, »wir alle hiel ten bisher Lunapol und seine Umgebung für ein bebenfreies Ge biet. Da müssen sofort die Selenologen ran!« Es wurde ein angenehmer Abend. Die Gäste berichteten von neuen Ergebnissen aus ihrem jeweiligen Forschungsbereich. Wie konnte es anders sein, daß man auch auf die harte, aber erlebnis reiche Zeit in Nordafrika zu sprechen kam. Das Lachen wollte nicht enden, als Micha Vludy zum besten gab, wie er dem damali gen Neuling Sol Mento ein quecksilbersaufendes Kamel vorge führt und die abgeschlossene Wette gewonnen hatte. Daß es sich um einen Trick handelte, war Sol erst viel später klargeworden. Am nächsten Tag fanden sich alle wieder pünktlich im Observato rium ein. Ira, die fand, daß sie tags zuvor viel zu förmlich gewesen war, bat die Anwesenden, zwanglos an einem Tisch Platz zu neh men. Dann sagte sie: »Ich glaube, Sie konnten sich davon überzeu gen, daß das seinerzeit von Ihnen genehmigte Projekt eines Quecksilberrotationsteleskops mit einem Zwanzigmeterspiegel auf dem Mond alle unsere Erwartungen übertroffen hat. Es wäre nur zu verständlich, wenn Sie, die Föderation und die Menschen, die mit ihrer Arbeit dazu beitragen, daß wir hier bauen und forschen können, sagen, daß wir nun erst einmal zufrieden sein und die neue Einrichtung maximal nutzen sollten. Das ist völlig richtig! Aber es würde auch Stillstand bedeuten. Sie kennen unser Anliegen. Das Grobprojekt und die schriftlichen Ausarbei tungen dazu liegen Ihnen seit mehreren Wochen vor. Lassen Sie mich daher nur noch einmal kurz zusammenfassen: Nach dem bewährten Konstruktionsprinzip möchten wir so bald wie möglich mit dem Bau eines wesentlich größeren Rotationsteleskops begin nen. Der Parabolspiegel aus künstlich erstarrtem Quecksilber soll einen Durchmesser von zweihundert Metern erhalten. Das ist
selbst für unser einundzwanzigstes Jahrhundert ein gewaltiges Vorhaben, aber nicht utopisch. Durch diese Abmessungen wird es möglich sein, eine dreihunderttausendfache Vergrößerung zu reali sieren. Das neue QRT soll das fünfzehn- bis zwanzigfache Auflö sungsvermögen des gestern von Ihnen inspizierten Gerätes haben. Beim Abstand Mond – Erde ist dann das Gesicht eines Men schen noch deutlich zu erkennen, auf dem Sirius könnten Einzel heiten von einigen tausend Kilometer Ausdehnung beobachtet werden, schließlich wäre die Beteigeuze im Orion so gut sichtbar, wie ein Fernglas dem Laien den Mond zeigt. Aber warum dieser Aufwand? Weil wir mit einer solchen opti schen Einrichtung zu astronomischen und astrophysikalischen Erkenntnissen kommen, wie sie die Raumfahrt erst in vielen Jahr zehnten gewinnen kann. Nun noch schnell ein paar materialtechnische Einzelheiten: Die Gesamthöhe der Anlage wird dreieinhalb Kilometer betragen, da von liegt etwa die Hälfte unterhalb der Mondoberfläche. Die obere Öffnung muß für einen Schwenkbereich von sechzig Grad einen Durchmesser von zwei Kilometern aufweisen. Dafür ist zweifellos eine neuartige Senitkuppel erforderlich. Der Bedarf an Quecksilber für einen Rotationsparabolspiegel dieser Größe mit einem Brenn punktabstand von dreitausend Metern beträgt nach irdischem Ge wicht etwa zweihunderttausend Tonnen. Doch diese beachtliche Menge brauchte nicht transportiert…« Eine dumpfe Erschütterung erfüllte plötzlich den kleinen Raum, eine laute Detonation folgte, dann rumorte es weiter. Stühle fielen um. »Was bedeutet das?« stieß Ira hervor. Ihr Blick streifte die ver störten Gäste und blieb an Pawel Rinalds Augen hängen. Da ertönte auch schon eine Stimme des Kontrollzentrums aus den Lautsprechern: »Achtung, Achtung, höchste Alarmstufe! Alle Lunauten auf Havarieposition! Explosion in der Spiegeletage. Ku rator Rinald bitte sofort zum Kontrollzentrum!« Die Meldung wie derholte sich.
Ira lauschte, für Augenblicke wie gelähmt, der Katastrophenmel dung, dann hatte sie sich gefaßt. Es mußte gehandelt werden! Sie wandte sich an ihre Mitarbeiter. »Wilma, Sie besorgen umgehend Schutzkleidung für unsere Gäste! Alle anderen begeben sich sofort in ihre Wohnkabinen und legen die Alarmanzüge an. Wir treffen uns in zehn Minuten am Ausgang C, los!« Was war geschehen? Der hörbare Knall mußte durch die Luft polster der Gebäude übertragen worden sein, was auf eine gewalti ge Detonation schließen ließ. Der kleine Vortragssaal befand sich im südlichen Teil der Ringmauer, die das QRT umgab. Mit Tränen in den Augen eilte Ira in die nahe gelegene Wohnka bine. Ihre Gedanken überschlugen sich. Aber eine Sorge wuchs ständig. Was war mit Sol Mento gesche hen? Warum war er noch nicht neben ihr, gerade jetzt? Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Sie selbst hatte ihn ja, noch bevor sie mit den Gästen zusammentraf, für eine spezielle Einstellung zur Asteroidenbeobachtung in den Okularraum geschickt. Sie mußte zu ihm, ihn finden! Mit bebenden Händen schloß sie die Ver schraubung am Schutzhelm, dann stürzte sie hinaus. Der Ausgang C war nicht mehr zu benutzen. Absperrkomman dos bildeten einen Ring um den Teleskopschacht. Ira, mit dem weißen Punkt am Alarmanzug, durfte passieren. Was sie durch einen der vielen Rundbögen sah, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Der Innenraum der Teleskopanlage glich einem Trümmerhaufen. Die Senitkuppel war geborsten und in die Tiefe gestürzt. Nur ein schmaler zackiger Rand war an der Rundmauer stehengeblieben. Alle Aufbauten, auch der Okular raum, waren zerstört und von der Explosion hinweggefegt wor den. Sie eilte zurück zu einem noch intakten Fahrstuhl, der sie zur Spiegeletage brachte. Die starke Umfassungsmauer, in der auch die Aufenthaltsräume für das Bedienungspersonal untergebracht wa ren, wies zwar im nördlichen Quadranten einen breiten Riß auf,
hatte jedoch standgehalten. Die Detonationswelle mußte mit voller Wucht die Senitkuppel getroffen haben. In der Spiegeletage traf Ira auf den Seismologen Uwe Girnt. Als er Ira sah, kam er zögernd auf sie zu. Erschüttert blickte er in das aschfahle Gesicht der Astronomin. Noch bevor er etwas sagen konnte, hatte sie seinen Arm um klammert, und ängstlich, stockend, als fürchte sie sich vor der Antwort, fragte sie: »Wo ist Sol? Du weißt es!« Leise erwiderte er: »Sol Mento ist mit dem Okularraum abge stürzt. Ich war dabei, als er gefunden wurde. Er ist tot.« Für Minuten schloß sie die Augen und biß die Zähne zusammen. Ihr schwindelte. Viel später erkundigte sie sich mit bebender Stimme: »Gibt es außer Sol noch Tote oder Verletzte?« »Soweit sich bisher ermitteln ließ, nur zwei Leichtverletzte in der Rheothermikanlage. Sie sind mit einer Gehirnerschütterung und leichten Prellungen davongekommen.« »Wo finde ich den Toten und die anderen beiden?« »Im MVP der Hermetiketage. Ich bringe dich hin.« Auf dem Weg zum medizinischen Versorgungspunkt wirkte Ira zumindest äußerlich völlig gefaßt. Doch ihre Gedanken verweilten immer wieder bei dem tödlich Verunglückten. Wie oft war sie mit Sol hier entlanggegangen. Das QRT war ihr gemeinsames Werk gewesen. Sie hatten es wachsen sehen und sich über jeden fertigen Bauabschnitt gefreut. Sie wollte sich dagegen wehren, aber es gelang ihr nicht. Sie mußte an die vielen Nächte denken, die sie mit Sol verbracht hatte. Stunden, in denen sie sich seiner Liebe und Zärtlichkeit hingeben konnte, in denen sie zusammen träumten und glücklich waren. »Wir sind da!« hörte sie Uwe Girnt neben sich sagen. Dann stand sie vor der Bahre mit dem leblosen Gefährten. Sie wagte nicht, das weiße Laken aufzuheben. Nein, sie wollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er immer gewesen war und wie er noch vor wenigen Stunden vor ihr gestanden hatte.
Girnt fiel es nicht leicht, seine Rührung zu verbergen, als er sah, wie Ira mit gesenktem Kopf und zuckenden Schultern von Sol Abschied nahm. »Komm jetzt!« sagte er schließlich, »du wirst dringend ge braucht!« Die beiden anderen Verletzten waren schon auf dem Weg in die Klinik von Lunapol. In der Normaletage trafen sie auf Pawel Rinald. Er wußte bereits, daß Sol Mento ums Leben gekommen war, und drückte Ira die Hand. »Ich kann nur annähernd ermessen, welch großer Verlust Sie ge troffen hat«, sagte er, »und ich möchte Ihnen versichern, daß Sie immer auf mich rechnen können.« Er machte eine längere Pause. »Sie sind mir nicht böse«, fuhr er dann fort, »daß ich unsere Gäs te zum Lunadrom gebracht und auch in Ihrem Namen verabschie det habe. Von der Entscheidung, die bis vor wenigen Minuten im Mittelpunkt unserer Interessen stand, werden sie uns wissen lassen. Wir werden sie laufend über die Suche nach den Ursachen der Katastrophe informieren. Ich habe auch die Bildung eines Hava riestabes veranlaßt. Mit einigen Forschungsgruppenleitern aus Lu napol und den Außenstationen ist die Lage bereits erörtert wor den. Der Mond ist ruhig, das Beben oder die Explosion beschränkte sich ausschließlich auf den Krater Zeta. Dank den soliden Funda menten ist nur der eigentliche Teleskopschacht von den Naturge walten getroffen worden. Dort ist alles zerstört einschließlich der Spiegeletage, auf die die Druckwelle mit unverminderter Wucht einwirken konnte. Der große Riß in der Nordmauer muß noch untersucht werden. Ihr Kollektiv hat nach Überwindung des ersten Schocks tadellos zusammengearbeitet.« Er legte Ira die Hand auf die Schulter. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Nein«, verbesserte er sich, »ich ord ne an, daß Sie sich jetzt ein wenig hinlegen. In etwa sechs Stunden
kommen Sie dann zu mir nach Lunapol ins Kuratorium, dann werden wir die nächsten Schritte besprechen. Keine Widerrede!« Ira nickte ihm dankbar zu und ging zu ihrem Zimmer. Pawel Rinald schaute ihr lange nach. Wenn er an das Unglück dachte, das sie betroffen hatte, wurde ihm erneut die Schwere der Verantwortung deutlich, die er für das Geschehen auf dem Erd trabanten trug. Er war in geheimer Abstimmung von einem inter nationalen Gremium zum Mondkurator gewählt worden. Das lag mehr als zehn Jahre zurück. Man hatte ihm die Ernennung zu sei nem fünfzigsten Geburtstag präsentiert. Er und seine Vorfahren stammten aus der Lettischen SSR. Sein Name galt etwas in der Raumfahrt. Die gelungene Neptunumrundung, ein interplanetarer Flug mit dem ersten Photonenraumschiff, war sein letztes größeres Unternehmen dieser Art gewesen. Nur er und der Amerikaner Patrick hatten die gefährliche Reise überlebt. Das harte Kosmo nautenleben hatte ihn geformt. Nachdem Pawel Rinald sich noch einmal vergewissert hatte, daß überall die Bergungs- und Aufräumungsarbeiten in Gang gekom men waren, verließ er das Observatorium. In seinem Büro nahm er die letzten Meldungen der Außenstatio nen entgegen. Gut, daß dort alles in Ordnung war! Dann sichtete er das umfangreiche Material über die Untersuchungen und Mes sungen, die vor dem Bau des Observatoriums im Krater Zeta durchgeführt worden waren. Sechs Stunden später meldete sich Ira Beaux pünktlich bei ihm. Sie fühlte sich elend. Statt ein paar Stunden zu schlafen oder we nigstens zu ruhen, hatte sie gegrübelt. Merkwürdigerweise hatte sie immer wieder an ihre Kindheit und die Studienjahre denken müs sen, obwohl sie Sol Mento erst damals in Nordafrika kennenge lernt hatte. Aber vielleicht suchte sie Zuflucht in den Erinnerungen an die Jugendzeit. Sie hatte an ihren Geburtsort gedacht, das Städt chen Sailly-Flibaucourt sur Somme. Es liegt im Pas de Calais, süd lich von Abbeville, auf einer Anhöhe inmitten grüner Wiesen und kleiner Eichenwäldchen. Man erkennt es schon von weitem an den
vielen roten Backsteinhäuschen, in denen früher Arbeiterfamilien einer nahe gelegenen Eisengießerei gewohnt hatten. Die Urgroßel tern waren dorthin zu Verwandten geflüchtet, als im letzten, dem zweiten Weltkrieg viele Städte in der Bretagne zerstört wurden. Später dann das Studium an der Pariser Sorbonne, das leiden schaftliche Interesse für die Astronomie. Schon damals hatte sie den festen Vorsatz gefaßt, bei der Weltföderation tätig zu sein. Deshalb nahm sie nach der Promotion das obligatorische Zweit studium an der internationalen Universität in Nancy auf und stu dierte Medizin… Bis auf die letzten Jahre hier in Lunapol, in de nen sie eine intime Partnerschaft mit Sol Mento verband, hatte sie sich ausschließlich ihrer Arbeit und ihren Studien gewidmet. Der Tod des Gefährten traf sie deshalb um so härter… Pawel Rinald versuchte behutsam, Ira aus ihren Grübeleien her auszulösen. »Es dürfte klar sein«, sagte er, »daß eine uns völlig un bekannte Ursache die Explosion ausgelöst hat. Ich habe mir alle Protokolle noch einmal angesehen, die über das Verhalten von unterkühltem Quecksilber auf unserem Erdtrabanten Auskunft geben. Sie haben jede nur mögliche Gefährdung bei Ihren Unter suchungen berücksichtigt. Nach menschlichem Ermessen oder, sagen wir besser, nach dem uns bis zur Stunde bekannten Stand der Dinge ist die Verwendung von Quecksilber auf dem Mond völlig gefahrlos. Ich habe mir die selenologischen Befunde und Meßergebnisse genauso gründlich angeschaut. Es liegt kein Versäumnis vor. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten, die offenbleiben: Entweder die Explosion wurde durch eine unbemerkte Havarie in der Anlage ausgelöst, denken Sie beispielsweise an Tachyonenbildung bei der Einwirkung kosmischer Strahlen auf Felder um Supraleiter, oder wir haben es generell mit einem völlig neuen Phänomen des Mon des zu tun. Was meinen Sie?« Natürlich hatte auch Ira bereits Überlegungen angestellt. Sie zö gerte. Konnte sie mit dem Kurator über ihre geheimsten Befürch tungen sprechen?
»Ich möchte ganz offen zu Ihnen sein«, antwortete sie endlich. »Die von Ihnen genannte Möglichkeit einer unbemerkten Havarie scheidet nach meinem Dafürhalten aus. Ich bin jedoch der Mei nung, daß die dem Bau vorausgegangenen Boden- und Strahlungs untersuchungen, die im Verantwortungsbereich unseres Chefsele nologen Ben Darkens liegen, vielleicht doch nicht mit der erfor derlichen Gründlichkeit durchgeführt worden sind. Doch ich möchte keinen Kollegen zu Unrecht beschuldigen.« Ihre Gedanken eilten um Jahre zurück, als sie Ben Darkens bei den Erschließungsarbeiten für den Teleskopbau zum erstenmal gesehen hatte. Er war ihr etwas überheblich vorgekommen, hatte wohl allzu routiniert seine Aufgaben gelöst. Kein Wunder, Ben Darkens zählte zu den ersten Mondpionieren. Er hatte Lunapol mit gegründet und kannte die gesamte Mond oberfläche »wie seine Westentasche«. Was Ira besonders störend empfunden hatte, war sein mitunter ungerechtfertigter Optimis mus gewesen, obwohl er nicht zuletzt dessentwegen von seinen Mitarbeitern sehr geschätzt, ja geradezu verehrt wurde. Sie kam einfach nicht davon los, daß dieser Mann irgendwie et was damit zu tun hatte, daß Sol ums Leben gekommen war. Je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker wurde die Abneigung gegen ihn, obwohl sie andererseits fühlte, daß sie in diesem Fall, ganz entgegen ihrer sonstigen Haltung, nicht objektiv war. »Gut«, sagte Rinald, der Ira unauffällig beobachtet hatte, »ich werde gleich morgen mit Ben Darkens darüber sprechen. Zu nächst handelt es sich um eine Routineermittlung. Ihren geäußer ten Verdacht, den ich, das muß ich Ihnen ehrlich sagen, absolut nicht teile, werde ich selbstverständlich nicht erwähnen. Morgen beginnen ebenfalls die genauen Untersuchungen des Schadenum fanges, insbesondere muß festgestellt werden, ob der große Riß im nördlichen Rundmauerabschnitt die Wiederaufbauarbeiten verzö gert. Ich werde Sie auf dem laufenden halten.« Nachdem sie noch einige Einzelheiten besprochen hatten, verab schiedete sich Ira. Sie wollte allein sein.
Überraschende Entdeckungen Das Geschehen der nächsten Tage und Wochen in und um Luna pol wurde von der Suche nach den Ursachen der verheerenden und dennoch örtlich so eng begrenzten Katastrophe im Krater Zeta bestimmt. Überrascht stellte man fest, daß es sich bei der Explosion um ei ne nukleare Reaktion gehandelt haben mußte. Die Ausmaße waren relativ gering, und der Ablauf war noch völ lig ungeklärt. Man stand vor einem Phänomen, auf das man rein zufällig gestoßen war. Während das eigentliche Explosionszentrum in der Spiegeletage keinerlei Spuren von Radioaktivität zeigte, hatten Strahlungsspezia listen am höherliegenden Mauerwerk verdampfte und vermutlich wieder kondensierte Quecksilbertropfen gefunden, die eine starke α-Strahlung emittierten. Das unerklärliche war jedoch, daß sich diese Strahlen wie β Strahlen verhielten, aber energiemäßig aus α-Teilchen bestanden. Die Strahlungsexperten waren ratlos und hatten schon Kollegen von der Erde um die Meinung gefragt. Man stand vor einem Rät sel. Eine zweite Entdeckung sollte nicht minder bedeutungsvoll wer den. Sie hing mit der unheimlichen Rißbildung im nördlichen Teil der an sich bebensicheren Rundmauer des Observatoriums zu sammen. Man wußte noch nicht, ob der Riß die Explosion hervor gerufen hatte oder umgekehrt. Ben Darkens und Uwe Girnt waren zur Untersuchung der Kluft aufgebrochen. Der Chefselenologe hatte das zwanglose Gespräch mit dem Kurator noch nicht vergessen. Die Wenn und Aber lagen ihm in den Ohren. Ja, fast hatte es so geklungen, als zweifelte je mand seine selenologischen Fundament- und Untergrunduntersu chungen im Krater Zeta an. Doch jetzt mußte er sich konzentrie ren, das hier war kein einfaches Kaminklettern.
»Uwe, du sollst mich nicht festhalten, du sollst mir folgen!« rief er dem vorsichtig und langsam nachkommenden Girnt zu, wäh rend sie angeseilt dem gähnenden Spalt folgten, der immer weiter in die Tiefe führte. In der Spiegeletage hatten sie das Hauptseil befestigt und waren nun schon fast hundert Meter nach unten geklettert. Der Spalt wurde zwar breiter, aber ein Ende war noch nicht abzusehen. Die Lichtkegel der Helmleuchten verloren sich im Bodenlosen. Auf einem Felsvorsprung machte Ben Darkens halt, bis Uwe Girnt ebenfalls eingetroffen war. »Sieh dir nur die Bruchstellen an, sie passen genau ineinander. Dieser Oberflächenriß ist ganz neu, den gab es noch nicht, als wir unsere Untersuchungen machten. Los, weiter!« Als sie das dritte Seilstück einhakten, äußerte Uwe endlich seine Bedenken, die er schon lange hegte. »Ben, laß uns aufhören! Wir sind schon zweihundert Meter unter dem Zeta, und was sehen wir, wenn wir überhaupt etwas erkennen? Immer das gleiche. Irgendwo braucht sich nur ein Stein zu lösen, und wir werden erschlagen. – Hörst du mich?« Er hielt seinen Helm ganz dicht an den von Ben Darkens. Allerdings befürchtete er, daß sein langjähriger Chef und Freund durch solche Einwände nicht zu beeinflussen war. Doch Ben Darkens antwortete: »Schon gut! Wir steigen nicht mehr tiefer. Mach die Echolotfliege flott! Komm, gib mir den Empfänger! Mal sehen, ob sie mehr entdeckt.« »Alles klar, ich starte sie«, antwortete Uwe. Die Echolotfliege war eine Kleinstrakete mit Rundumdüsen, die in sehr engen Schächten zu verwenden war. Mit Radarimpulsen wurde die Umgebung abgetastet, und ein kleiner Sender gab die Ergebnisse weiter. Die Reichweite war jedoch begrenzt und betrug maximal fünfhundert Meter. Ben und Uwe schauten auf den handgroßen Bildschirm. Immer das gleiche Bild, lichte Weite des Spaltes ungefähr zehn Meter, nach unten keine Begrenzung. Jetzt waren dreihundert Meter er reicht. Ben Darkens’ Gedanken schweiften ab. Sicher würde ihm
der Kurator nachher die Leviten lesen: Unterschätzung der Ge fahr; Leiten heißt sein Kollektiv richtig einsetzen – und derglei chen mehr. Er kannte die Sprüche zur Genüge. Aber er war ande rer Meinung: Wenn es gefährlich wird, hat der Leiter ein Beispiel zu geben. So hatte er es immer gehalten. Seine Mitarbeiter wußten das, deshalb gab es bei ihm auch keine sogenannten Leitungsprob leme. Er verlangte vollen Einsatz, aber zuerst von sich selbst. Nicht umsonst hieß er bei allen, die ihn näher kannten, der »Käp ten«. Er freute sich darüber, nicht zuletzt deshalb, weil er sein Be rufsleben mit der harten Ausbildung als Schiffsjunge begonnen hatte. Doch das war lange her. Behutsam berührte er seinen Schutzanzug und tastete nach der Bootspfeife, seinem Talisman, den er an einer Schnur um den Hals trug. Freunde hatten sie von seiner Mutter in Albany besorgt und sie ihm vor wenigen Monaten zu seinem achtundvierzigsten Geburtstag überreicht. Die »Fliege« war jetzt weit über dreihundert Meter gesunken. Ben Darkens stieß Uwe Girnt an. »Was bedeutet denn das? Kein Echo mehr? Das gibt es doch nicht! Uwe, die Sonde schwebt in einem riesigen Raum. Laß sie noch hundertfünfzig Meter fallen!« Das war keine Routinearbeit mehr. Das war etwas Neues. Das Schirmbild veränderte sich nicht. Sie ließen die Minirakete noch eine Weile in der maximalen Reichweite hängen. »Hol sie zurück!« sagte Darkens schließlich. »Der Riß mündet zweifellos in eine sublunare Höhle. Endlich haben wir das gefun den, wovon seit Jahren geredet wird. – Los! Fertigmachen zum Rückmarsch!« Pawel Rinald und die übrigen Kuratoriumsmitglieder waren von den Untersuchungsergebnissen, die ihnen Ben Darkens Stunden später vortrug, genauso überrascht wie vorher die beiden Seleno logen. »Da die Reichweite des Echolotsenders etwa einen Kilometer be trägt, muß die Höhle mehr als zwölfhundert Meter tief sein, von der seitlichen Ausdehnung ganz zu schweigen. Da ist mit Sonden
und Seilschaft nichts mehr zu machen. Sie muß mit anderen tech nischen Mitteln untersucht werden. Vielleicht finden wir hier die Ursache des Mondbebens. Deshalb schlage ich vor, daß wir die großen Rohrstücke für den Transporttunnel, der Lunapol mit dem Krater Zeta verbinden soll, zum Austeufen des etwa fünfhundert Meter tiefen Mondspaltes benutzen und von dessen befestigtem Ende aus die sublunare Höhle mit einem gepanzerten Raketokop ter erkunden«, sagte Ben Darkens. Sein Vorschlag wurde angenommen. Einige andere Forschungs vorhaben mußten zurückgestellt werden, besonders jene, die Bauund Montagekapazität erforderten. – Das Vorhaben, unter Mondverhältnissen einen tektonischen Riß von fünfhundert Meter Tiefe in einen runden Schacht mit zehn Meter Durchmesser zu verwandeln, gestaltete sich viel schwieriger als angenommen. Obwohl die Arbeiten mit größter Intensität durchgeführt wur den, gingen sie Ben Darkens nicht schnell genug. So war es gut, daß er die Aufgabe hatte, die kleine Expeditionsgruppe für die Erforschung der Höhle zusammenzustellen. Pawel Rinald hatte empfohlen, frühere Mitarbeiter aus Lunapol, die unterdessen wie der zur Erde zurückgekehrt waren, in das gefährliche Vorhaben mit einzubeziehen, vor allem solche Wissenschaftler, die sich schon intensiv mit jener »Mondblasentheorie« beschäftigt hatten. Dazu gehörten Mara Bhali, die das südöstliche Satelliteninstitut in Sydney leitete; Ives Lorin, ein bekannter Selenologe des Europä ischen Staatenbundes; Nik Sullikow, ein sowjetischer Experte für Planetologie und Radiologie, und schließlich Svanta Arenson von der Skandinavischen Union. Bis auf Ives Lorin waren diese Spezia listen bereits in Lunapol eingetroffen. Pawel Rinald, der Ira Beaux ständig über die neuesten Untersu chungsergebnisse informierte und diese Gelegenheit gern wahr nahm, um mit der sympathischen Frau zusammenzutreffen, hatte ihr berichtet, daß Ben Darkens mit einer internationalen Expediti
onsgruppe die Mondhöhle unter dem Krater Zeta untersuchen wolle. Ira überlegte. Dieses Vorhaben konnte sich über Monate erstre cken. An einen Wiederaufbau ihres Rotationsteleskops war in ab sehbarer Zeit nicht zu denken, zumindest nicht an der Stelle, wo sich die Katastrophe ereignet hatte. Und der Mann, den sie noch immer für den Tod Sol Mentos und das Unglück, das sie und ihre Mitarbeiter getroffen hatte, verant wortlich machte, würde zweifellos für geraume Zeit wichtige For schungen betreiben. War es da nicht besser, sie würde ebenfalls an der Expedition teilnehmen? Dann brauchte sie nicht zu befürch ten, daß man ihr irgendwelche Tatsachen vorenthalten würde, und – so ehrlich war sie zu sich selbst – die abenteuerliche Erkundung der ersten größeren Mondhöhle würde ihr helfen, die schreckli chen Ereignisse der letzten Wochen schneller zu überwinden. Als sie Pawel Rinald ihre Absicht mitteilte, stieß sie zwar auf Verständnis, doch zugleich warnte er sie vor den Gefahren. Aber sein Hauptgegenargument war, er glaube nicht, daß Ben Darkens großen Wert auf ihre Mitarbeit legen werde. »Das lassen Sie meine Sorge sein«, war Iras kurze Antwort. Doch sie selbst schätzte ihr Vorhaben nicht allzu optimistisch ein. Sie würde mit Darkens reden müssen. Die Zeit drängte. Ives Lorin wurde Anfang der kommenden Woche erwartet. Die Abteufarbei ten in dem Mondspalt würden bis dahin beendet sein. Es blieben also nur noch wenige Tage, dann würde die Expedition starten. Also gut, sie hatte sich entschieden. Sie stieg in den kleinen Gra vigleiter. Die Arbeitsräume der selenologischen Abteilung ein schließlich der Wohnkabinen für die Mitarbeiter lagen im südli chen Teil der weiträumigen Zeltstadt. Es waren die ehemaligen Gebäude des Baustabes. Ira kannte sie recht gut. Wenig später stand sie vor Ben Darkens’ Appartement und mel dete sich an. Er bemühte sich, seine Überraschung zu unterdrü cken, und empfing die Astronomin, deren Meinung über seine
Rolle bei den Ereignissen im Krater Zeta ihm längst zu Ohren gekommen war, mit zurückhaltender Höflichkeit. Den angebotenen Sessel lehnte sie ab. Also blieb auch er stehen. Beide musterten sich unauffällig, und jeder fühlte die Spannung, die zwischen ihnen lag und noch zu wachsen schien. Trotzdem versäumte es Ira nicht, kurz den Raum, in dem dieser Ben Darkens lebte, zu betrachten. Konnte man von der Umge bung auf das Wesen, auf die Lebensart eines Menschen schließen? Von der spartanischen Einfachheit der Einrichtung war sie an genehm berührt. Sie hatte Darkens ohne Unterschätzung seines Fachwissens und seiner beachtlichen Mondpraxis von der mensch lichen Seite her für einen Bonvivant gehalten – immer strahlend, redegewandt und trotz seines Alters noch gutaussehend. Seine gesunde braune Gesichtsfarbe und die graumelierten Schläfen un terstrichen diesen Eindruck. Ira fragte sich in diesem Augenblick unwillkürlich, warum sie so beharrlich gerade diesem Menschen die Schuld an dem Unglück nachweisen wollte. War dieser Standpunkt wirklich auf die Dauer aufrechtzuerhalten? »Sie hatten um eine Unterredung gebeten. Ich stehe ganz zu Ih rer Verfügung«, brach Darkens schließlich das fast zu lange wäh rende Schweigen. Nun nahm sie doch in dem kleinen Schalensessel Platz. Sie muß te sich sammeln. »Kollege Darkens«, begann sie endlich und ver suchte seinem offenen Blick auszuweichen. »Ich hoffe, Sie be trachten es nicht als Verleumdung, wenn ich im Zusammenhang mit den Ereignissen im Krater Zeta die dem Bau vorausgegange nen selenologischen Untersuchungen angezweifelt habe. Sie sind der dafür verantwortliche Leiter. Bestätigt die inzwischen entdeck te Höhle nicht meinen Verdacht in gewissem Sinne? Fühlen Sie sich selbst völlig schuldlos? Ich weiß, mir fehlen Beweise, und soll ten die Untersuchungen zu Ihren Gunsten ausgehen, werde ich mich offiziell und in aller Form bei Ihnen entschuldigen.«
Ben Darkens hörte aufmerksam zu. Er mochte Menschen, die ihren Standpunkt auch dann vertreten, wenn es persönlich unan genehm wird. Schließlich erwiderte er gelassen: »Ich respektiere Ihre Meinung, wenn ich sie auch absolut nicht teile. Doch Sie sind bestimmt nicht nur nach Lunapol gekommen, um mir das zu sagen.« Ira spürte den Hauch von Sympathie, der von ihrem Gegenüber ausging. »Nein, Sie haben recht«, fuhr sie nun freundlicher fort. »Die von Ihnen entdeckte Höhle unter dem Krater Zeta und die Zerstörung des Teleskops hängen nach meiner Meinung ursächlich zusammen. Für mich gibt es für geraume Zeit keine astronomische Tätigkeit auf dem Mond; denn an einen Wiederaufbau des QRT ist vorläufig nicht zu denken. Würde es Sie große Überwindung kosten, mich bei Ihrer Expedi tion in die sublunare Region mitzunehmen?« Nun war es endlich heraus! Erleichtert lehnte sie sich zurück. Mit dieser letzten Frage hatte Ben Darkens wirklich nicht ge rechnet. Sie traf ihn völlig unvorbereitet. Den geäußerten Verdacht einer Mitschuld an der Katastrophe konnte man – so ehrlich war er zu sich selbst – zumindest prinzi piell noch gelten lassen. Es war schon jetzt klar, daß sie bei künfti gen Bodenuntersuchungen viel tiefer ausloten, ja ganz anders he rangehen mußten. Der Erdtrabant überraschte sie stets mit neuen Rätseln! Doch nun diese Frage! »Mademoiselle Beaux« – die förmliche Anrede war Ausdruck ei ner gewissen Unsicherheit –, »bei den Teilnehmern handelt es sich ausschließlich um ausgewählte Spezialisten. Wie soll ich Sie da einordnen? Wie kann ich Ihre Beteiligung vor meinen engsten Mit arbeitern rechtfertigen, von denen keiner einbezogen wird? Hinzu kommt die Gefährlichkeit des Unternehmens. Würden Sie mir nicht eine weitere Fahrlässigkeit anlasten, wenn Ihnen als Expedi tionsmitglied etwas zustieße? Und dann, welche Funktion könnten Sie in einem selenologischen Kollektiv übernehmen? Sie wollen
doch nicht nur Gast oder Zuschauer sein! Das sind nur einige Ge genargumente, es gibt sicher noch mehr.« Ira war überrascht. Darkens hätte sich jetzt für ihre Anschuldi gungen revanchieren können. Aber was er da vorbrachte, waren echte, objektive Gründe. Etwas wie Freude kam in ihr hoch, ihr selbst unbegreiflich. »Über das Risiko bin ich mir völlig klar«, er widerte sie ruhig. »Schon Pawel Rinald hat mich darauf hingewie sen, denn er weiß von der Unterredung mit Ihnen. Ich schrecke vor keiner Gefahr zurück. Sie könnten sich in jeder Situation auf mich verlassen. – Vielleicht ist es sogar notwendig, mich mitzu nehmen. Kollege Darkens, gehört zu Ihrer Forschungsgruppe be reits ein Arzt? Wenn nicht, könnte ich diese Funktion überneh men. Ich habe in Nancy als Zweitstudium die medizinische Fakul tät absolviert und bin Fachärztin für allgemeine Medizin. – Könn ten Sie damit nicht meine Teilnahme rechtfertigen?« Ben Darkens gestand sich ein, daß er daran gar nicht gedacht hatte. Warum auch? Jeder Lunaut war umfassend in Erster Hilfe für Raumfahrt ausgebildet. Doch ein Arzt könnte sich bei der a benteuerlichen Reise in die Tiefe als sehr nützlich erweisen. Doch wußte diese Frau, die sich schwerlich von einem gesteckten Ziel abbringen ließ, welche Verantwortung sie da auf sich lud? Daß sie Mut hatte, mußte man unumwunden zugeben. Sollte er nun Ira Beaux in die kleine Gruppe aufnehmen? Nachdenklich schaute er seine Besucherin an. – Gut, er würde sie mitnehmen! Ein Einblick in die Probleme selenologischer Art konnte der Astronomin nicht schaden. Vielleicht gelang es ihm, sie während der Expedition da von zu überzeugen, daß es eine Schuldfrage eigentlich gar nicht gab. Und schließlich, er wunderte sich selbst über diesen Gedan ken, war es ihm nicht unangenehm, diese eigenwillige, aber durch aus sympathische Frau in seiner Nähe zu wissen… »Kollegin Ira Beaux«, sagte er dann, »das Einverständnis von Kurator Rinald vorausgesetzt, begrüße ich Sie als Expeditionsmit glied.« Er ging auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Trotz Ihres Verdachts, auf gute Zusammenarbeit! Wegen der Ausrüstung und der sonstigen Vorbereitungen, die zu treffen sind,
wenden Sie sich bitte an Nik Sullikow, der die Organisation für unser Vorhaben übernommen hat.« So trennten sie sich. Die Tage bis zum ersten Abstieg vergingen wie im Fluge. Mit den übrigen Expeditionsmitgliedern hatte sich Ira bei den häufigen Vorbesprechungen schon ein wenig ange freundet. Sie war froh, daß sie eine neue Aufgabe gefunden hatte.
Fahrt in unbekannte Tiefe Wieder war der kleine Krater Zeta, dessen Name in den letzten Monaten die Spalten der Fachpresse ausgiebig gefüllt hatte, Aus gangspunkt für ein waghalsiges Unternehmen. Erst der Bau des neuartigen Quecksilberrotationsteleskops, dann dessen Zerstörung durch eine auf dem Mond erstmals aufgetretene Nuklearreaktion und nun der Abstieg in einen sublunaren Hohl raum von gewaltigen Abmessungen! Der Boden des Teleskopinnenraumes glich erneut einer moder nen Baustelle. Der gewissenhafte Girnt, dem die technische Lei tung des Projekts übertragen worden war, hatte an neuer Technik alles eingesetzt, was verfügbar und nach seiner Meinung für ein solch gefährliches Vorhaben erforderlich war. Drei große Portalkrane überragten die übrigen technischen Ein richtungen, die um den kreisrunden Schacht, zu dem man den tektonischen Riß inzwischen ausgebaut hatte, angeordnet waren. Von zwei der Kranrollen führten armdicke Seile zu dem grellrot leuchtenden Raketokopter, der wie eine überdimensionale Libelle über der finsteren Schachtöffnung schwebte. Girnt hatte seinen Befehlsstand im Ausleger eines hohen Turmkranes eingerichtet. Von dort aus konnte er den Kratergrund übersehen. Mehrmals hatte er das komplizierte Abseilmanöver mit seiner Mannschaft geprobt. Jetzt traten Ben Darkens und die fünf Expeditionsteilnehmer aus der Schleuse des unzerstörten Durchgangs der Bodenetage. Der Chefselenologe liebte kein Aufsehen. Wo er zu tun hatte, ging es immer um harte, gefährliche Arbeit. Ein wenig verärgert blickte er daher auf die geschickt getarnten TV-Kameras. Das hatte ihm der gute Girnt mal wieder verschwiegen! Uwe Girnt wußte, in solchen Augenblicken legte Ben Darkens keinen Wert auf lange Meldungen und Berichte. »Chef! Alles Not
wendige verladen, Technik in Ordnung, Raketokopter startbereit!« war daher alles, was er sagte. Trotz der ungewöhnlichen Situation mußte Ben Darkens lächeln. Noch kürzer ließ sich das Ergebnis einer wochenlangen hektischen Arbeit wohl kaum zusammenfassen. Dankbar und anerkennend klopfte er den vor ihm stehenden Hünen auf die Schultern. »Haltet die Ohren steif und viel Glück!« fügte dieser schnell noch hinzu. Dann stiegen die Teilnehmer nacheinander, Ben Darkens als letzter, in den bereitstehenden Flugkörper, der diesmal einem ganz anderen Zweck diente. Girnt gab das Startzeichen. Langsam, mit einer Geschwindigkeit von nur einem Meter je Sekunde, senkte sich der in einem stabilen Halterahmen befestigte, nach oben gegen Steinschlag gepanzerte Raketokopter in die gähnende Tiefe des Schachtes. Ben Darkens überprüfte mehrmals die Sprechverbindung zu Uwe Girnt, zur Abseilmannschaft und zu den übrigen Stützpunk ten. Neben den beiden Haltetrossen hing ein drittes Kabel für die Speisung der vielen Scheinwerfer, mit denen der Kopter ausgestat tet war. Es enthielt außerdem eine Telefonleitung, für den Fall, daß der Funkverkehr ausfallen sollte. Schließlich handelte es sich ja nicht um eine harmlose Höhlenbesichtigung, sondern um die Erst erforschung eines bisher unbekannten riesigen Hohlraumes unter halb der Mondoberfläche, der noch dazu in außergewöhnlicher Tiefe lag. Schon waren mehr als zweihundert Meter zurückgelegt, und der Schacht über den Wissenschaftlern war nur noch als kleine leuch tende Öffnung in der sonst finsteren Umgebung auszumachen. »Wie fühlt ihr euch?« unterbrach Ben das Schweigen der kleinen Gruppe. Doch das erhoffte Echo blieb aus. Keiner konnte sich einer gewissen Beklemmung entziehen, als sie Meter für Meter in die unheimliche Tiefe sanken. Dabei hatten alle Beteiligten in den
zurückliegenden Jahren viele gefährliche Forschungsaufgaben und selenologische Erkundungen durchgeführt. Sie kannten die Tü cken des kalten, toten Erdtrabanten. So war beispielsweise Svanta Arenson vor zwei Jahren schwer verletzt worden, als Teile eines kleinen Ringwalles das aufsetzende Lumobil unter sich begruben. Oder Ives Lorin, ihm hatte ein Kleinstmeteorit den Oberarm aufgerissen. Solche und ähnliche Abenteuer hatte fast jeder von ihnen schon erlebt. Nach etwa acht Minuten verlangsamte sich verabredungsgemäß die konstante Abwärtsbewegung, denn unmittelbar am unteren Schachtende sollte, wenn der Flugkörper bereits im Hohlraum schwebte, zunächst die Deckenschicht untersucht werden. Jetzt war es soweit! Die nach allen Seiten hin strahlenden Scheinwerfer wurden von der erstaunlich glatten Decke des unge heuren Gewölbes reflektiert, verloren sich aber ansonsten in einer unbegrenzten Weite. Die Gleichförmigkeit der leichtgewölbten Decke erschien geradezu unnatürlich, es sei denn, daß vor Jahrmil lionen ein unterlunarer Strom die Fläche glattgewaschen hatte. Beim Bau des Schachtes hatten Analysen von Bodenproben aus den Räumschnecken ergeben, daß es sich bei den tieferen Schich ten um Siliziumkarbid handelte, der etwa drei Milliarden Jahre alt war. Nach einigen Minuten gemeinsamer Beobachtung und recht leb haften Meinungsaustausches gab Ben das Zeichen, den Kopter mit normaler Geschwindigkeit weiter hinunterzulassen. Unauffällig warf er hin und wieder einen Blick auf Ira, die neben der Indone sierin Mara Bhali saß, mit der sie sich angefreundet hatte. Ob sie durchhalten würde? Bei der weiteren Abwärtsbewegung blieben alle Scheinwerfer eingeschaltet, auch die genau senkrecht nach unten strahlende Hauptleuchte wurde angeschlossen. Aber sosehr die Expeditions mitglieder auch die Augen anstrengten, die vielen nach allen Seiten hin tastenden Lichtbündel trafen nirgends auf ein Hindernis, das
eine Begrenzung des Hohlraumes angedeutet hätte. Die Höhle mußte in der Horizontale noch viel größer sein, als man bisher vermutet hatte. Es war gut, daß zumindest exakte Tiefenmessungen durchge führt worden waren. Nur dadurch konnte für alle Beteiligten der Eindruck, in der bodenlosen Tiefe des Mondes zu versinken, etwas gemildert werden. Immerhin, unter der Schachtöffnung betrug der Abstand bis zum Höhlenboden dreitausendachthundertfünfzig Meter. Nach weiteren fünfzehn Minuten ließ Ben Darkens die Sinkbe wegung erneut stoppen, um nun auch Messungen über die seitliche Ausdehnung des Hohlraumes vorzunehmen. Gespannt beugten sich alle über den Radarschirm. Nachdem sich das Oszillogramm beruhigt hatte, zeigten die Län gen- und Breitenimpulse eine ovale Fläche von phantastischen Ausmaßen. Das Radarbild hatte die Form einer Ellipse, in deren einem Brennpunkt sich der Raketokopter mit dem Sender befand. Die Auswertung ergab, daß das Areal eine Ausdehnung von etwa achtzigtausend Quadratkilometern haben mußte, was immerhin einem Prozent der Mondoberfläche entsprach. Das übertraf alle Erwartungen! »Könnt ihr euch das vorstellen«, sagte der sonst so wortkarge I ves Lorin enthusiastisch, »unser Raketokopter gleicht einer winzi gen Spinne, die sich von der Spitze einer riesigen Zirkuskuppel herabläßt!« Immer wieder versuchten die Beobachter, in seitlicher Richtung irgendwelche Objekte auszumachen, aber ohne Erfolg. Doch dann stieß Nik Sullikow, der alle Hände voll zu tun hatte, um den sie umgebenden Raum auf Strahlungen hin zu untersuchen, und der sich bisher schweigsam verhalten hatte, plötzlich einen Ruf des Erstaunens aus. »Seht, dort scheint ein großer Felsbrocken frei im Raum zu schweben, oder liegt er irgendwo auf?« »Maschinen stopp!« gab Darkens an Girnt durch und steuerte den Raketokopter so, daß jetzt alle das Phänomen erkennen konn
ten. Tatsächlich hing ein Felsstück, flach und langgestreckt wie ein riesiges Stück Baumrinde, von den Scheinwerfern hell beleuchtet, ungefähr zweihundert Meter seitlich von ihnen frei im Raum. Niemand fand eine Erklärung für das, was sie da in geringer Ent fernung sahen. »Vielleicht besteht das Gebilde gar nicht aus Stein, sondern ist ein Konglomerat aus uns unbekannten Schwebstoffen«, sagte Svanta Arenson. »Es wäre zu gefährlich, den Raketokopter so weit zur Seite zu di rigieren; Girnt warnt davor. Den Burschen da drüben werden wir uns also ein anderes Mal näher betrachten«, sagte Ben Darkens nach einer längeren Pause. Langsam setzte die Abwärtsbewegung wieder ein. »Was soll denn das bedeuten«, rief Nik Sullikow, und Sekunden später hatten alle ein Gefühl, als wäre der Raketokopter hart auf Grund gesetzt worden. »Was ist los bei euch?« fragte nun auch Uwe Girnt über Sprech funk, der ebenfalls bemerkt hatte, daß der Flugkörper festhing. »Seht euch das Gravitationsmeßgerät an!« sagte Nik. »Wir sind auf ein Gegenschwerkraftfeld gestoßen. Es hat den vierfachen Wert der normalen Mondanziehungskraft.« »Ob es bis zum Höhlenboden reicht, Nik?« fragte Ben. »Ich glaube nicht. Eine derartige Anomalie, sofern es sich wirk lich um eine solche handelt, kann sich nur im freien Raum, das heißt in genügend großem Abstand von Materie ausbilden«, ant wortete er. »Wir werden versuchen, das Kraftfeld mit der Energie unserer Raketokopterschubdüsen zu durchstoßen«, sagte Ben, nachdem er verschiedene Berechnungen angestellt hatte. Uwe Girnt war mit dem Experiment einverstanden und traf sei ne Vorbereitungen. Das Manöver begann. Langsam setzte sich der Rotor mit den Schubdüsen in Bewegung. Als die volle Drehzahl erreicht war, zündete Ben Darkens den Impulsmotor. Der Raketo
kopter schüttelte sich wie ein Pferd, das vor einem Hindernis scheut. »Haltet euch fest!« befahl Ben, »ich gehe auf maximale Leistung.« Tatsächlich, sie schienen nach unten zu gleiten. »Vorsicht! Der Felsbrocken neben uns bewegt sich. Er taumelt, nein, er rutscht seitlich weg«, rief Nik, der hinüber zu dem schwe benden Gebilde geschaut hatte. »Er neigt sich immer mehr, jetzt stürzt er ab.« Alle sahen, wie der mehrere Quadratmeter große Schwebekörper in der unbeleuchteten Tiefe verschwand. »Stopp, Ben! Das Querfeld muß zu Ende sein. Der Gravitations schirm ist leer«, sagte Nik wenig später. »Sicher haben wir durch unsere Kraftprobe die Feldkonstanz gestört und dadurch den Felsbrocken zum Absturz gebracht.« Was mochte sich in der unergründlichen Tiefe noch alles verber gen? Das Augenmerk der Forscher richtete sich nun ausschließlich nach unten, wo sich undeutlich der Grund der Höhle abzuzeich nen begann. Je näher sie kamen, um so deutlicher war zu erkennen, daß der Boden, so weit die Helligkeit der Scheinwerfer reichte, von zahlrei chen pyramidenförmigen Gebilden, vermutlich überdimensionalen Stalagmiten, bedeckt war. »Sollten es wirklich Stalagmiten sein, dann stehen wir vor einem neuen Rätsel«, sagte Svanta. »Entsinnt ihr euch, die Deckenschicht der Höhle war doch spiegelglatt, und hier unten, auf der Gegensei te, haben sich in Jahrmillionen haushohe Auftropfsteine gebildet. Ist das nicht sonderbar?« »Vielleicht hatte dieser tektonische Hohlraum eine Zwischende cke, die bereits heruntergestürzt ist«, erwiderte Ben. Alle verfügbaren Scheinwerfer wurden jetzt auf den Höhlenbo den konzentriert, während sich der angeseilte Flugkörper mit den erregten Insassen weiter nach unten bewegte.
Überall auf der aschfahlen Grundfläche, die glatt und eben er schien, waren senkrecht stehende prismatische Säulen auszuma chen, die regelmäßigen Kegelstümpfen ähnelten. Dazwischen, willkürlich verstreut, riesige rechteckige Quader von mehr als hun dert Meter Seitenlänge. Ben Darkens gab letzte Anweisungen an Uwe Girnt. »Senkge schwindigkeit um die Hälfte vermindern!« Und nach einigen Minu ten: »Jetzt, stopp!« Der gepanzerte Raketokopter schwebte mit seinen Auslegern etwa zehn Meter über dem Boden. Der Landeplatz war ein rundes Areal von einigen hundert Quadratmetern inmitten der merkwür digen geometrischen Körper. Mara Bhali fuhr die Bodensonde aus, um den Untergrund genau zu untersuchen. Wenn die Staubschicht, die den Erdtrabanten überall bedeckte, auch viel dünner war, als man früher angenom men hatte, so war es doch bei der Erforschung der Mondoberflä che zu vielen Unfällen gekommen, weil Fahrzeuge und Flugkörper in sogenannten Staublöchern versunken waren. Doch diese Ober fläche hier schien ungefährlich zu sein. Die Staubschicht hatte eine Stärke von nur wenigen Millimetern. Es war ja auch einleuchtend, daß hier unten die Staubbildung weniger intensiv sein würde als an der Mondoberfläche. Unter der dünnen Schicht stellte Mara harten Untergrund fest. Nachdem sie eine ausreichend große Fläche sondiert hatte, gab Ben das Zeichen zum endgültigen Absenken. Die gespreizten Landestützen federten noch einige Male nach, dann stand der Spezialraketokopter mit den sechs Forschern, die ihre Neugier kaum noch zähmen konnten, fest auf dem Boden der unvorstellbar großen Höhle. Nach der gegenseitigen Kontrolle der Schutzanzüge und deren Zubehör wurde noch einmal gründlich durchgesprochen, was von jedem einzelnen in den kommenden Stunden zu tun war. Mara Bhali hatte die Aufgabe, an Bord des Raks zu bleiben und die Scheinwerfer sowie das Raupenlaufwerk zu bedienen. Nik Sul
likow begleitete die übrigen vier Wissenschaftler als Meßspezialist und betätigte den Unigraphen, ein großes Tornistergerät zur Er mittlung der Strahlenintensität. Er stieg als erster aus. Der schwere Kasten auf dem Rücken erlaubte ihm trotz der geringen Mondan ziehung nur ein langsames, schwerfälliges Gehen. Er stellte mit seinem Gerät eine leichte Radioaktivität fest, die aber sonderba rerweise von einer Quelle, die sich etwa fünfzehn Kilometer ent fernt in der oberen Deckenschicht befand, konzentriert ausge strahlt wurde. Mara hatte alle verfügbaren Scheinwerfer so eingestellt, daß ein Lichtdom von etwa zweihundert Meter Durchmesser entstanden war, der die phantastische Umgebung ausleuchtete. Inzwischen waren Ben, Ira, Svanta und Ives ausgeschleust wor den und näherten sich Nik. Sie machten erst einige Gehversuche, um sich an die Bodenverhältnisse zu gewöhnen. Untereinander waren sie, wie es die Sicherheitsvorschriften verlangten, durch eine Leine verbunden. Erste Bodenuntersuchungen gaben den Wissenschaftlern neue Rätsel auf. Der Untergrund war hart und glatt wie bearbeitetes Gestein. »Wenn wir nicht auf dem Boden einer riesigen Mondhöhle ste hen würden«, sagte Ives mehr zu sich selbst, »dann könnte man meinen, man befände sich auf einer großen, künstlich behauenen Steinfläche.« Er entfernte in einem großen Umkreis die dünne Staubschicht, und überall zeigte sich darunter der glänzende stein harte Boden. Mit Hammer und Meißel versuchte er, einige Stücke loszuschlagen, aber es mißlang. »Donnerwetter! Bisher ist es mir auf diesem Himmelskörper noch immer gelungen, Gesteinsproben zu lösen! Was mag das hier nur für ein Material sein?« »Streng dich nicht unnötig an!« sagte Ben, »Mara soll mit Spezi alwerkzeugen aus dem Fahrzeug einige Proben dieser sonderbaren Bodensubstanz herausbrechen oder auch heraussprengen.« »Seht bitte hierher!« hörte man jetzt Niks Stimme, »der Hohl raum ist mit einer ganz dünnen Atmosphäre ausgefüllt! Ich messe
drei Prozent Sauerstoff und fünf Prozent Stickstoff. Sollten das nicht Überreste der schon lange hypothetisch angenommenen, einstmaligen Mondatmosphäre sein?« »Vergeßt nicht«, erinnerte Ben Darkens seine Mitarbeiter noch einmal, »jeder spricht seine Untersuchungsergebnisse und Vermu tungen sofort auf Band. Das erleichtert die spätere Auswertung. – Doch jetzt vorwärts zu den sonderbaren Gebilden!« Sie schritten nun in breiter Front mit dem typischen Schaukel gang auf die etwa fünfzig Meter entfernten Kegelstümpfe zu, de ren Oberfläche an manchen Stellen das grelle Scheinwerferlicht so reflektierte, als sei sie mit Kristallen übersät. Je näher die Gruppe kam, desto mehr entstand der Eindruck, es handele sich um geometrisch völlig regelmäßige Körper. »Ich nehme fast an«, sagte Svanta, »es sind Makrokristalle, die sich hier unten unter der Einwirkung ungeheurer Temperaturen gebildet haben, was doch theoretisch durchaus möglich wäre.« Sie hatten sich den umstrittenen Gebilden inzwischen bis auf ei nige Meter genähert. So weit der Blick reichte, waren im Schein werferlicht diese sonderbar geformten Steinsäulen zu erkennen. Sie ähnelten einander so sehr, daß man daran zweifeln konnte, ob eine solche Regelmäßigkeit mit einer natürlichen Entstehung zu verein baren sei. Nun standen sie vor dem ersten achteckigen sonderba ren Objekt. Was mochte es sein? Bisher war von Stalagmiten und Makrokristallen gesprochen worden. Vorsichtig entfernte Svanta an einer der glatten Flächen die hauchdünne Staubschicht. Sie legte einen spiegelnden, gelblich schimmernden Untergrund frei. »Es könnte Quarz sein!« stellte sie fest. Inzwischen hatten die Wissenschaftler den Makrokristall einige mal umschritten und seine Form und Größe ermittelt. Es handelte sich tatsächlich um einen achteckigen, regelmäßigen Kegelstumpf, der jedoch in einem Abstand von eineinhalb Metern über dem Boden in einen genauso regelmäßigen prismatischen Körper überging. Die Höhe betrug genau neuneinhalb Meter, und
den gleichen Durchmesser hatte auch der umschreibende Kreis des Achtecks am Boden. »Für einen Kristall, ganz abgesehen von einer solchen noch nie gesehenen Größe, ist die Kristallisationsart völlig unüblich«, mein te Ira. »Nun fehlt nur noch, daß der Kegel innen hohl ist«, warf Nik ein und führte mit dem Hammer mehrere wuchtige Schläge auf die glasartige Schicht, wobei er mit der anderen Hand ein an seinem Gürtel befestigtes Mikrofon auf die staubfreie Fläche hielt. Er klopfte nachdrücklich noch einmal. »Ihr werdet es kaum glauben«, rief er, »aber es klingt tatsächlich nicht so, als seien die Gebilde massive Körper!« »Wir werden im unteren Bereich dieser Objekte den Staub rest los entfernen«, wies Ben an. »Vielleicht ergibt sich an der Über gangskante vom Kegel zum Prisma eine Möglichkeit, Näheres über den Kristallaufbau zu ermitteln!« Unter dem Staub trat überall die milchglasartige spiegelnde Schicht zutage. Nirgends eine Öffnung oder ein Spalt, der einen Weg nach innen gezeigt hätte. Auch am Nachbargebilde ergab sich nichts dergleichen. Nik war mit diesem mageren Ergebnis unzufrieden. »Ihr mögt mich einen Phantasten nennen«, sagte er zu der versammelten Gruppe, »aber ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, daß diese sich vermutlich über Hunderte von Kilometern erstreckende Ansammlung von genau übereinstimmenden Kegelstümpfen künstliche Gebilde sind!« »Was willst du damit sagen?« fragte Svanta. »Entweder es handelt sich um eine Kristallkolonie höherer Ord nung – oder aber, es mag absurd klingen, hier waren vernunftbe gabte Wesen am Werk!« »Ich neige auch zu deiner Ansicht«, sagte Ben. »Wenn auch beide Annahmen im Augenblick rein hypothetisch sind, geben sie uns vielleicht neue Ansatzpunkte für unsere weiteren Untersuchungen.
Bleiben wir einmal bei der phantastischen Vermutung, es handele sich um Anlagen von vernunftbegabten Lebewesen, dann haben diese Quarzkegel irgendeinen Zweck erfüllt. Es muß ein Sinn da hinterstecken! Wenn ich meiner Phantasie die Zügel schießen las se, könnte die Anlage beispielsweise ein riesiges Kraftwerk zur Gewinnung von Piezoelektrizität sein.« »Vielleicht sind die Riesenkristalle auch Wissensspeicher eines gi gantischen, künstlichen Denkapparates«, meinte Ives Lorin scherzhaft. »Auch ich habe einen phantastischen Gedanken«, sagte Ira Beaux, »womöglich stehen wir einfach vor Wohnanlagen extrater restrischer Lebewesen.« Nik Sullikow, der sich an der Unterhaltung nicht mehr beteiligt hatte und weiterhin den Quarzblock gründlich untersuchte, rief jetzt die anderen herbei: »Schaut euch mal die Übergangskanten genauer an. Ich habe hier jedes Staubteilchen entfernt und einen kaum sichtbaren Spalt entdeckt. Er scheint ringsum zu verlaufen, so als wären beide Teile nicht aus einem Stück, sondern sehr genau aufeinandergepaßt!« Tatsächlich, Nik hatte eine beachtliche Entdeckung gemacht, die das vorangegangene Gespräch nicht mehr ganz so utopisch er scheinen ließ. Er legte verschiedene Meßsonden an, aber die In strumente schlugen nicht aus. »Soviel also steht fest«, sagte er schließlich, »irgendwelche Strahlungen gehen von dem quarzarti gen Material nicht aus, und es sind auch keine anderen Energie quellen festzustellen. Ich schlage vor, wir entfernen jetzt die Staub schicht unmittelbar am Boden, wo der prismatische Teil endet. Vielleicht ist er auch nur auf die harte Bodenschicht aufgesetzt.« Sofort machten sich alle an die Arbeit. »Kommt hierher!« rief plötzlich Ben Darkens, »hier sind in dem harten Steinboden ebenfalls ganz feine Spalten zu erkennen, und sonderbar, daneben ist die Schicht stark abgenutzt, ähnlich wie bei einer abgetretenen Treppenstufe.«
Zu fünft knieten sie am Boden und folgten Bens Finger, der den winzigen Spalt entlangfuhr. Der schmale Schlitz begrenzte eine Fläche von genau dreiund neunzig Zentimetern mal einhundertsechsundachtzig Zentimetern, die unmittelbar vor der Quarzpyramide endete. Und tatsächlich war vor dieser Fläche der glänzende Steinboden muldenartig abge schürft. Es sah so aus, als berührten sich hier zwei Teile, die unter schiedlich abgenutzt waren. In der anderen Richtung setzten sich die Vertiefungen fort, als handele es sich um einen Weg oder Pfad. Doch wer war hier gegangen, oder durch welche Bewegung war die Abnutzung entstanden? Rätsel über Rätsel! Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte Ben, daß es an der Zeit war, die Untersuchungen für diesmal abzubrechen. Fünf Stunden inten siver Bewegung in Raumanzügen mit künstlicher Atmung waren gerade noch zulässig. »Bitte, Ira, machen Sie noch einige Blitzlicht aufnahmen von den sonderbaren Objekten, dann kehren wir zum Raketokopter zurück und beenden für heute unsere Arbeiten. Alles Werkzeug und Zubehör außer der Spezialleuchte nehmen wir mit!« Mara hatte unterdessen noch schnell mit einem pneumatischen Spezialgerät einige Splitter der Bodenschicht losgebrochen. Dabei waren ihr mehrmals die Hartmetallmeißel zersprungen. In der hermetisch abgeschlossenen Raketokopterkabine entledig ten sich die erschöpften Expeditionsmitglieder zunächst ihrer Schutzanzüge und nahmen ein flüssiges, hochkonzentriertes Stär kungspräparat zu sich. Nach Ablauf einer halben Stunde gab Ben Darkens der Seilmannschaft das Zeichen zum Hochhieven. Die Überwindung des Kraftfeldes war bei der Aufwärtsbewe gung nicht schwierig. Der Raketokopter wurde nur horizontal et was abgelenkt und pendelte hin und her. Den wartenden Journalisten gab Ben Darkens einen kurzen Be richt über die sonderbaren Riesenkristalle, enthielt sich aber jeder hypothetischen Bemerkung und überreichte den unermüdlich Fra genden lediglich zwei der von Ira Beaux angefertigten Aufnahmen.
An Pawel Rinald sandte er einen schriftlichen Bericht über die wichtigsten Ereignisse. Damit ging der erste Tag zu Ende, der eine Folge phantastischer Entdeckungen einleitete.
Rätselhafte Obelisken Vierundzwanzig Stunden später waren die Strapazen der ersten Unternehmung vergessen. Alle Beteiligten erfüllte nur der eine Wunsch, so schnell wie möglich wieder hinunterzufahren in diese fremdartige, ja unheimliche Tiefe, die so viele Geheimnisse barg. Aufgrund der Erfahrungen vom Vortag nahmen sie verschiedene Spezialwerkzeuge mit. So zum Beispiel einen elektrischen Widder, um die durch einen feinen Spalt vom übrigen Boden getrennte Platte zu bewegen. Außerdem eine Laserstrahlbohrkanone, um eventuell Löcher für Ösen anzubringen. Auch war zur schnellen und großflächigen Beseitigung der überall vorhandenen Staub schicht ein fahrbarer Implorator eingeladen worden. Nik hatte aus den verfügbaren Institutsbeständen einen leistungsstarken Fre quenzgenerator mit verschiedenen Übertragungselementen bereit stellen lassen. Das heutige Unternehmen sollte zumindest einige Antworten auf die vielen Fragen geben. Als Ausrüstung und Zubehör wohlverstaut waren und die sechs Wissenschaftler bereits im Raketokopter saßen, erschien im letzten Augenblick Pawel Rinald. Er hatte Ben Darkens’ Bericht gelesen und wollte nähere Einzelheiten wissen. »Ich bitte Sie«, wandte er sich an den schon ungeduldig werdenden Ben Darkens, »mir nach Abschluß des heutigen Unterneh mens einen umfassenden mündlichen Bericht zu geben.« Dann begann der zweite Abstieg. Die Zeit während des Abseil manövers, das fast eine Stunde dauern würde, wollte Ben nutzen, um mehr Klarheit in das Verhältnis zu Ira Beaux zu bringen. Die Spannung zwischen ihnen und vor allem das Mißtrauen, das sie ihm gegenüber unverhohlen geäußert hatte, mußten beseitigt wer den. Ira selbst war unsicher geworden. Sie fühlte, nein, sie wußte, daß die Geheimnisse, die sich in der Tiefe des Mondes verbargen, auch Ursachen für die unerklärliche Explosion im Krater Zeta in sich
bergen konnten. Sie spürte auch, wie die Abneigung gegen den vitalen Ben Darkens schwächer wurde. Eigentlich war sie froh, zu dem kleinen Forscherkollektiv zu gehören. Dennoch dachte sie immer wieder an den Tod von Sol Mento. Ohne daß sie es bemerkt hatte, war Ben neben sie getreten. »Ira, ich hatte in den letzten sechsunddreißig Stunden kaum Gelegen heit, ein persönliches Wort mit Ihnen zu wechseln. Es ging alles ein wenig durcheinander. Was sagt ein Astronom zu solchen Über raschungen, die doch etwas ganz anderes sind als Beobachtungser gebnisse in einer Sternwarte?« »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich gerade über Ähnliches nach gedacht habe«, erwiderte Ira. »Hier ist es nicht immer möglich, Beobachtungen gleich mit dem Computer auszuwerten und be kannte Gesetzmäßigkeiten zu extrapolieren. Ich beginne, Sie und Ihre Arbeit schon jetzt mit ganz anderen Augen zu sehen.« »Na, ich glaube, Sie übertreiben ein wenig.« Er wollte noch etwas hinzufügen, besann sich aber und sagte nur: »Ich muß zurück auf meinen Posten.« Nach Überwindung des Kraftfeldes setzte der Raketokopter zum zweitenmal inmitten der Quarzpyramiden auf. Während Nik die üblichen Sicherheitsmessungen durchführte, waren die verschiedenen Gerätschaften schnell entladen und ver teilt. Der Frequenzgenerator wurde auf einem kleinen Transmobil zum Untersuchungsobjekt befördert, wo ihn Ives und Nik unmit telbar neben der fast zwei Quadratmeter großen Bodenplatte auf bauten. Ira hatte bereits den Implorator eingeschaltet und bemühte sich, von einer größeren Fläche die dünne Staubschicht abzusau gen. Ein Kabel lieferte vom Kopter aus die erforderliche Energie. Dann löste Ives den Impulsgeber aus und bohrte ein Loch für eine Stabsonde. Dem konzentrierten Photonenstrahl war die un bekannte Kristallsubstanz nicht gewachsen. Millimeter um Milli meter fraß sich eine etwa zentimetergroße Öffnung in die blaßgel be Fläche. Gebannt blickten alle auf die zerstörende Kraft der stark gebündelten Strahlen. Es fiel daher gar nicht sofort auf, daß
die gesamte Quarzpyramide im Rhythmus der Laserimpulse ihre Farbe veränderte. »Seht doch!« stieß Ben Darkens plötzlich hervor, »der Kristall wird dunkel, er verfärbt sich.« Jetzt sahen alle den Farbwechsel. Es wurde hell und dunkel, in immer schnellerer Folge, dann war es ganz dunkel. Die Scheinwer fer und die Mastleuchte waren zwar noch als Lichtquellen zu er kennen, aber nur wie weit entfernte Sterne im leeren Universum, sie erzeugten ringsum keine Helligkeit. Was bedeutete das? Eine fahle Finsternis umgab die kleine Ex peditionsgruppe. Unwillkürlich schaltete Ben die Helmbeleuchtung ein, sie glomm auf, verbreitete aber ebenfalls kein Licht, es blieb finster. Nik unterbrach die Energiezufuhr des Laserimpulsgebers, und sofort trat der umgekehrte Effekt ein. Mit einer bestimmten Periodizität wurde es hell und dunkel; der Wechsel erfolgte immer schneller, dann war es auf einmal wieder ganz hell, als hätte sich in der Zwischenzeit nichts ereignet. Nik war fasziniert. Als Strahlungsspezialist ahnte er, welches Ex periment ihm soeben ungewollt gelungen war. Er hatte das Dun kellichtphänomen hervorgerufen. Doch es galt jetzt nicht, persön lichen Neigungen zu folgen, sondern systematisch weiterzufor schen. Er kontrollierte zunächst die Laserbohrung; sie war bereits zwölf Zentimeter tief, hatte aber die Kristallschicht noch nicht völlig durchdrungen. »Achtung! Ich schalte wieder ein«, informierte er seine Freunde. Beim gleichen Dunkeleffekt drangen die Energieimpulse immer tiefer in die schräge Fläche ein. Die Eliminationsgeschwindigkeit betrug etwa drei Millimeter je Sekunde. Nach einer weiteren Minu te setzte plötzlich wieder der Helldunkelwechsel ein. Vermutlich war die Quarzschicht jetzt durchdrungen, und der Laserstrahl fand keinen Widerstand mehr. Er schaltete den Photonenkonzentrator ab. Die Tiefe des Loches betrug annähernd einundzwanzig Zenti meter. Damit war zunächst erwiesen, daß die sonderbaren Pyrami den innen einen beachtlichen Hohlraum besaßen.
Die entstandene Öffnung war zu tief, als daß man hätte hinein schauen können. Gemeinsam suchten Ben und Nik aus dem Vor rat eine geeignete Stabsonde heraus, die sie bis zu einer bestimm ten Markierung in das vorhandene Loch schoben. Nachdem Nik die Verbindung zum Frequenzgenerator herge stellt hatte, bat Ben Darkens die neben ihm stehenden Forscher, einige Schritte zurückzutreten, und bemerkte dazu: »Wenn wir die genaue Anregungsfrequenz ermittelt haben, können wir exakte Aussagen über die Kristallstruktur und den inneren Aufbau der Makrogebilde machen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß es bei Erreichen dieser Frequenz noch unbekannte und vielleicht auch gefährliche mechanische Erscheinungen geben kann. Denkt an das Dunkellichtphänomen, das wir eben erlebt haben!« Langsam regelte Nik die Frequenz hoch. Auf der Pyramidensei te, die der mit dem Loch für die Sonde genau gegenüberlag, hatte er einen Metallbelag angebracht, um eventuell auftretende Schwin gungsamplituden messen zu können. Lange war an keinem der vielen angeschlossenen Instrumente auch nur der geringste Aus schlag zu beobachten. Doch jetzt, bei etwa vierhundert Hertz, begann der Amplitudenzeiger auszuschlagen, erst wenig, dann mehr. Nik brachte zur besseren Demonstration ein Mikrofon an einer der Oktaederflächen an, das mit den Helmkopfhörern ver bunden war. Alle konnten jetzt einen hellen Brummton verneh men. Bei einer weiteren Erhöhung der Frequenz verschwand dieser Ton jedoch wieder. Erst nachdem fünfundzwanzig Kilohertz ü berschritten waren, zeigte das Instrument erneut an. Nik regelte vorsichtig weiter. Plötzlich reichte die Skale des An zeigegerätes nicht mehr aus. Die Pyramide und der Boden im Um kreis bebten merklich. Er wollte seinen Kollegen noch ein »Vor sicht!« zurufen, doch es erstarb ihm auf den Lippen. Wie unter einem mächtigen Schlag krümmte er sich und fiel dann leblos nach vorn, in die aufgebauten Aggregate.
Auch die vier übrigen Mitglieder der Expedition, die etwa zehn Meter von der Stelle entfernt standen, fühlten, wie ihre Körper von einer Riesenkraft zusammengedrückt wurden. Svanta sank als erste in die Knie. Doch Nik hatte geistesgegenwärtig noch im Sturz den Haupt schalter betätigt, und die übermächtige Druckempfindung setzte schlagartig aus. Mühsam erhob sich Svanta wieder, aber Nik lag regungslos zwischen den Apparaturen. Ben Darkens und die anderen liefen auf die Unfallstelle zu. In der Angst um den Freund und Mitarbeiter bemerkten sie gar nicht, daß die Bodenplatte nach unten weggekippt war und der Verletzte in der entstandenen Öffnung hing. Vorsichtig hoben sie den Leblosen auf und trugen ihn, so schnell sie konnten, zum Raketokopter. Auf halbem Wege kam ihnen Ma ra, die aus sicherer Entfernung alles genau beobachten konnte, mit einer Trage entgegen. Ben Darkens war außer sich. Er war auf das Schlimmste vorbe reitet. Hätte sich dieser Zwischenfall nicht vermeiden lassen? In der Kabine wurde der Verunglückte schnell vom Raumanzug und von den übrigen Kleidungsstücken befreit. »Er lebt noch«, flüsterte Ira, »ich stelle schwache Herztöne fest.« Behutsam befestigte sie die Elektroden des kleinen Diagnose computers an dem Patienten. Sekunden später hatte sie das Er gebnis. Ben Darkens versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Doch sie sagte nur: »Kommt, helft mir! Wir müssen ihn sofort an das Zwangsbeatmungsgerät und den Herzschrittmacher anschließen. Ich gebe ihm eine herzstärkende Injektion. Mehr kann ich hier unten nicht tun, wir müssen schnellstens nach oben.« Ben Darkens, der Uwe Girnt sofort informiert hatte, gab den Be fehl, den Raketokopter mit einer Geschwindigkeit von zwei Me tern je Sekunde hochzuhieven. »Wird der Verletzte es durchste hen?« wandte er sich dann fragend an Ira.
»Ich werde seinen Kreislauf während des Transportes ständig kontrollieren.« Nach einer Weile blickte sie Ben Darkens mit ei nem schwachen Lächeln an und sagte: »Sein Herz spricht auf den Schrittmacher an. Es arbeitet schon kräftiger. Ich denke, er wird durchkommen und die Ultraschalleinwirkung überwinden.« Ben Darkens drückte ihr voll Dankbarkeit die Hand. Endlich schwebte der Raketokopter über der Schachtöffnung, und Mediziner der Klinik von Lunapol transportierten den Ver letzten in einer Pneumowanne in ein bereitstehendes Lumobil. Ohne daß sie sich gegenseitig dazu aufgefordert hatten, fuhren Ira Beaux und Ben Darkens mit. In der Klinik warteten sie schwei gend vor dem Ordinationszimmer, jeder hing seinen Gedanken nach. Ira fühlte, wie die Verantwortung für Nik Sullikow, der in Lebensgefahr schwebte, Ben Darkens bedrückte. Dieser Mann war nicht leichtfertig, das wußte sie jetzt. Einige Zeit später kam der leitende Arzt und gab den Untersu chungsbefund bekannt: »Sie haben recht, Kollegin Beaux: Herz muskellähmung durch mechanische Schockwirkung, durch Ultra schalleinwirkung. Mehrere Organe sind geschädigt, er wird durch kommen, nur der Genesungsprozeß wird sehr lange dauern.« Erst nach Stunden meldete sich Ben Darkens zu der gewünsch ten Berichterstattung bei Kurator Rinald. Dieser wußte bereits von dem verhängnisvollen Unfall und erkundigte sich eingehend nach dem Verunglückten. Zu der Unterredung waren außer dem Kurator noch Urs Jassman, der indische, Kristallexperte, und Kamatu Orina, der bekann te japanische Quantenphysiker, der die Theorien des sowjetischen Wissenschaftlers Tamm weiterentwickelt hatte, anwesend. Beide arbeiteten in Lunapol und waren erst vor wenigen Minuten im Kuratoriumsgebäude eingetroffen. Ben Darkens schilderte die bisherigen Untersuchungsergebnisse der von ihm geleiteten Expedition und ging dann näher auf die zunächst unerklärlichen Phänomene der letzten Tage ein.
Die Zuhörer waren nicht wenig überrascht, als er berichtete: »Es läßt sich bereits jetzt mit Sicherheit sagen, daß die sonderbaren Objekte, die wir in einer noch nicht zu übersehenden Anzahl auf dem Boden des riesigen unterlunaren Hohlraumes angetroffen haben und die wir zunächst für Stalagmiten, dann für Makrokris talle gehalten haben, künstliche Gebilde und damit Zeugen einer uns unbekannten, außerirdischen Zivilisation sind.« Kurator Rinald sprang wie elektrisiert von seinem Sitz auf. »Wis sen Sie denn, was Sie da sagen? Das ist die sensationellste Entde ckung der gesamten bisherigen Mondforschung! Aber nach allem, was Sie bisher dargelegt haben, gibt es kaum eine andere Erklä rung.« Anschließend schilderte Ben genau den Ablauf des Experimentes mit den Laserstrahlen und dem Helldunkeleffekt. Kamatu Orina hatte sich einige Notizen gemacht. Nach gerau mer Zeit äußerte er sich in seiner gewohnten ruhigen und sachli chen Art: »Es will mir zwar schwer über die Lippen, aber von Ur sache und Wirkung her gesehen, muß das quarzähnliche Material der sagenhaften Mondbewohner bei Einwirkung einer bestimmten Energiedosis Antiphotonen aussenden. Jedenfalls ist die Schilde rung einfach phantastisch und erinnert mich an Darstellungen u topischer Romanschriftsteller, deren Bücher ich in meiner Jugend zeit mit größtem Interesse gelesen habe. Doch fahren Sie fort!« Ben Darkens berichtete nun über die Versuche mit den unter schiedlichen Anregungsfrequenzen. Einmal über den Effekt der Schallverstärkung im Vierhunderthertzbereich und über die le bensgefährliche Ultraschalltransformation, die Nik Sullikow fast das Leben gekostet hätte. Urs Jassman sagte hierzu: »Eine derartige Schwingfreudigkeit, wie sie bei Ihrem Experiment auf eine relativ einfache Art und Weise erzielt wurde, ist bisher unbekannt. Schon die Größe und Wandstärke der vorgefundenen Kristallplatten einschließlich ihrer Pyramidenform lassen darauf schließen, daß es sich um künstliche Gebilde handelt.«
Pawel Rinald dankte Ben Darkens für den exakten Bericht und bemerkte abschließend: »Diese Phänomene – Schwerkraftgegen feld, Zivilisationsüberreste in der Tiefe des Mondes, künstliche Makrokristalle, die bei Laserbestrahlung Antiphotonen emittieren und bei einer bestimmten Anregungsfrequenz lebensgefährliche Ultraschallwellen abgeben – sind fast unglaublich und dennoch Realität. Ich schlage vor, daß wir uns morgen gemeinsam mit der Expeditionsgruppe an Ort und Stelle selbst von diesen sensationel len Entdeckungen überzeugen. Sie, Kamatu Orina, möchte ich bitten, der Expedition, bis Nik Sullikow wieder gesund ist, den Lunauten Wagner zur Verfügung zu stellen. Ich danke Ihnen für heute. Wir sehen uns morgen früh, sieben Uhr dreißig Erdzeit, am Einstiegsschacht des ehemaligen QRT wieder!« Ehe Ben Darkens seine kleine Institutswohnung aufsuchte, ver gewisserte er sich in der medizinischen Station noch einmal, wie es Nik Sullikow ging. Es bestand keine Lebensgefahr mehr. Ein Be such des Patienten war jedoch noch nicht möglich. Am nächsten Tag hatte sich außer Pawel Rinald und den beiden Wissenschaftlern auch Fred Wagner an der Schachtöffnung einge funden. Wagner freute sich, an den zwar gefährlichen, aber äußerst interessanten Aufgaben mitarbeiten zu können. Er hatte bereits an Landungen auf dem Mars und der Venus teilgenommen. Sein Spe zialgebiet war die Erforschung der Oberflächenstruktur von Plane ten und deren Trabanten. Einen Hohlraum dieser Abmessungen hatte er noch nie gesehen. Der Raketokopter war inzwischen wieder beladen worden, und die neun Mitglieder der Expedition stiegen ein. Dann begann der Abstieg, der für Ben Darkens und sein kleines Wissenschaftlerkol lektiv schon zur Routine geworden war. Die vier neuen Teilneh mer mußten sich dagegen erst mit den ungewöhnlichen Bedingun gen vertraut machen. Sie diskutierten lebhaft, als im Licht der senkrecht eingestellten Scheinwerfer die unübersehbare Anzahl der Kristallkegel sichtbar wurde, die durchaus Überreste einer präluna ren Zivilisation sein konnten, wenngleich diese Vorstellung noch hochgradig utopisch anmutete.
Als sie nach etwa einer Stunde aufgesetzt hatten und die unerläß lichen Sicherheitsprozeduren vollzogen waren, schritten sie rasch den rätselhaften Oktaederpyramiden entgegen. Nachdem Ben die Spezialleuchte eingeschaltet hatte, ließ sich die phantastische Szene besser überblicken. Neben dem Frequenzge nerator klaffte ein fast zwei Quadratmeter großes Loch. Die starke Ultraschalleinwirkung hatte vermutlich den Öffnungsmechanismus in Tätigkeit gesetzt. Bei dem Unfall von Nik und der damit ver bundenen Aufregung hatte keiner auf die geöffnete »Falltür« ge achtet. Es war jetzt deutlich zu erkennen, daß diese Öffnung kein Gebilde der Natur war, sondern daß hier Lebewesen mit men schenähnlichen Gewohnheiten und Vorstellungen gestaltend ge wirkt hatten. Von der Oberkante der Öffnung führten zwei Treppen mit sehr kleinen Stufen in die Tiefe und endeten unter dem prismatischen Teil des Kegels. Von dort ging es weiter ins Innere. »Was mag dort drin sein?« fragte Kurator Rinald nachdenklich. »Ives und ich werden angeseilt in das Innere des Kristallstumpfes vordringen. Fred Wagner postiert sich als Verbindungsmann am Ende der Treppe«, sagte Ben Darkens. Nun stiegen sie vorsichtig die siebzehn kleinen Treppenstufen hinab und traten durch den Rahmen einer türartigen Öffnung. Gedämpfte Helligkeit umgab sie. Die Wände und die Decke des Raumes, in dem sie sich befanden, waren aus demselben gelblichen milchglasartigen Material wie der gesamte Kegel. Von den Abmes sungen her war er ein Segment des achteckigen Körpers; keine der vier Ecken bildete einen rechten Winkel. Erstaunlich war die Höhe des kleinen Raumes, die etwa sechs bis sieben Meter betrug. Wäh rend die innere und die beiden Seitenwände senkrecht nach oben verliefen, hatte die vierte, äußere Wand die Schräge des achtecki gen Kegelstumpfes. Ben und Ives schauten sich um. Der Boden, auf dem sie standen, war elastisch, ja weich. Ihre breiten Mondschuhe waren fast einen
Zentimeter tief eingesunken. Der schiefwinklige Raum war leer und wirkte fremdartig, beinahe unheimlich. Links von der Eingangstür sahen sie eine Nische, die etwa einen halben Meter im Quadrat maß und eineinhalb Meter hoch war. Die hintere Wand war wabenförmig perforiert. An diese erste Ni sche schlossen sich weitere fünf an, die jedoch keine Perforation besaßen, dafür aber am oberen Rand einen hakenartigen Bügel. Die gegenüberliegende Wand zeigte ähnliche Ausbuchtungen. Bei einigen waren Boden und obere Begrenzung mit einer Vielzahl kleiner Löcher versehen. In der rechten Ecke war, etwa ein Meter vom Boden entfernt, eine quadratische Platte in die Wand einge lassen. Ben schritt darauf zu und wischte mit dem Raumhandschuh über die Staubschicht. Ein Ausruf des Erstaunens entfuhr ihm, denn darunter glänzte eine spiegelnde Fläche. In der Mitte des Raumes waren auf dem Boden pilzartige Erhe bungen in einem Kreis angeordnet. Ives trat vorsichtig darauf und schreckte im selben Augenblick zurück, denn der Boden öffnete sich unversehens, und eine muldenartige Liege klappte heraus. »Du, ich glaube«, stellte er lächelnd fest, »wir sind in eine. Kin dersiedlung sagenhafter Mondbewohner geraten. Alles hier ist für unsere Begriffe viel zu klein, oder sollten jene Seleniden nur halbe Menschengröße gehabt haben?« »Ives, du hast die richtige Bezeichnung gefunden«, fiel ihm Ben ins Wort, »wir werden die Lebewesen, die hier gewohnt haben, Seleniden nennen.« Nun gingen sie auf die der Treppe gegenüberliegende Wand zu, wo ein schmaler Spalt die Umrisse eines Durchgangs vermuten ließ. Als sie unmittelbar davorstanden, verschwand das markierte Stück ohne ihr Zutun im Boden und gab ihnen den Weg frei zu einem angrenzenden, wie es schien, zentralen Raum. Vorsichtig passierten sie die Wandöffnung und standen nach wenigen Schrit ten in der Mitte eines gleich hohen achteckigen Zimmers von etwa fünf Meter Durchmesser. Sicher handelte es sich um einen Auf
enthaltsraum, denn ringsum an den Wänden befanden sich trogar tige Liegen, die schon Bestandteil des vorigen Raumes gewesen waren. Eine Achteckseite war frei gelassen worden, dort zeigte sich in etwa fünfzig Zentimeter Höhe eine in die Wand einschiebbare Platte, die, wenn sie nicht so niedrig gewesen wäre, an einen Tisch erinnert hätte. Ben, der nachdenklich vor dem fremden und eigentlich doch so vertrauten Mobiliar stehengeblieben war, entdeckte – vielleicht gerade, weil er sich diesen Gegenstand als Tisch vorstellte – rechts und links in der Wand herausziehbare schmalere Platten. Sie waren mit einem elastischen Bezug versehen, der jetzt schlaff herunter hing und sicherlich einmal unter Druck gestanden hatte. Eine Vielzahl von Wandbehältnissen aus gelbem Glas standen leer. Es war anzunehmen, daß dort irgendwelche Bedarfsgegens tände ihren Platz gehabt hatten. »Ich glaube, wir können die anderen herbeirufen«, sagte Ben nach einer Weile, »das Betreten der Räume scheint ungefährlich zu sein.« Ives machte auf dem elastischen Boden schwerfällig kehrt, um die wartenden Expeditionsmitglieder zu benachrichtigen. Doch die Öffnung, durch die sie eingetreten waren, hatte sich unbemerkt wieder geschlossen. So nahe er auch an die Tür heranging und so sehr er daran rüttelte, sie bewegte sich nicht. Die Silamidschnur, die sie mit den anderen verbunden hatte, war wie mit einem Mes ser durchgeschnitten. »Das müßten sie doch draußen bemerkt haben!« rief Ben Dar kens, der neben dem ratlosen Ives stand, vorwurfsvoll, »aber auch die Funksprechverbindung scheint unterbrochen zu sein. Ein ver teufeltes Material, dieser quarzartige Werkstoff, und noch dazu eine verflixte Mechanik. Was machen wir jetzt?« Einer Eingebung folgend, hielt er das zum Mondanzug gehören de Berührungsmikrofon an die widerspenstige Tür. »Sie klopfen von der anderen Seite. Sicher haben sie Angst, uns sei etwas zuge stoßen«, sagte er, indem er seinerseits die Klopfzeichen wiederhol
te. »Der Türmechanismus scheint nicht mehr ganz in Ordnung zu sein, egal, ob er nun von Fotozellen, Infrarotsensoren, Bioströmen oder anderen Initiatoren ausgelöst wird, wir haben für umfangrei che Untersuchungen jetzt leider keine Zeit. Wir müssen hier raus.« Spontan löste er den an seinem Gürtel hängenden Hammer, der zur Ausrüstung der Selenologen gehörte. »Sei vorsichtig! Du weißt, das Material hat seine Tücken«, be merkte Ives, als Ben zu einem kräftigen Schlag ausholte. Durch die absolute Luftleere wurde nicht das geringste Geräusch übertragen, als das Metall mit voller Wucht die Platte traf. Die Wirkung war jedoch ganz anders, als es die beiden Forscher ver mutet hatten. Die dickwandige, glasartige Scheibe bog sich elas tisch durch und schleuderte den Hammer aus Bens Hand. Das Werkzeug flog in hohem Bogen an die gegenüberliegende Wand, von der es gleichfalls zurückgeworfen wurde. »Auf diese Weise kommen wir hier nicht wieder heraus. Da hilft vermutlich nur ein Laserstrahl. Hoffentlich haben das unsere Freunde ebenfalls festgestellt!« meinte Ben, der keinerlei Beunru higung zeigte. Wie zur Bestätigung seiner Vermutung vernahm er wenige Au genblicke später über sein angelegtes Berührungsmikrofon das Zischen und Brodeln eines angesetzten Laserstrahles. Schnell tra ten sie zur Seite, um nicht verletzt zu werden, wenn der konzent rierte Energiestrahl die Tür durchstieß. Aber es dauerte fast eine Stunde, bis eine entsprechend große Öffnung entstanden war und die übrigen Expeditionsmitglieder den Raum betreten konnten. »Ein relativ harmloser, aber dennoch symptomatischer Zwi schenfall«, stellte Kamatu Orina fest. »Es besteht jedoch kein Zweifel, dieses Kristallhaus, wenn ich es so nennen darf, und die zahlreichen ähnlichen Bauwerke sind Zeugen einer uns unbekann ten Kultur, die extraterrestrisch sein muß, da vor dem letzten Drit tel des zwanzigsten Jahrhunderts noch nie ein Erdenbewohner den Mond betreten hat. Und wie seinerzeit die Ergebnisse der bemann ten und unbemannten Mondforschung viele bis dahin gültige The
orien korrigiert haben, so wird das, was wir heute gesehen haben, wiederum völlig neue Betrachtungsweisen auslösen. Seit wenigen Tagen steht fest, daß der Mensch noch mindestens einen Bruder in unserem Sonnensystem hatte.« Dann gingen die Expeditionsmit glieder daran, die durch winzige Spalten angedeuteten Türen zu den angrenzenden Räumen mit dem Laserstrahl zu öffnen. Ein Antiphotoneneffekt trat dabei nicht wieder auf. Vielleicht war die Materialstärke zu gering. Nun war der Zugang zu allen Räumen frei. Die Forscher verteil ten sich in dem Rundbau und betrachteten mit einem sonderbaren, nie gekannten Gefühl die Zeugnisse einer fremden Zivilisation, die sicher nichts mit der Erde und der Entwicklung des Menschen zu tun hatte. Svanta Arenson, die dunkelhaarige Schwedin, die an kosmogoni schen Problemen arbeitete, und Ira Beaux befanden sich in einem schmalen Raum, der dem Eingang gegenüberlag. Svanta war etwas romantisch veranlagt. Sie hatte jetzt Ira umfaßt, ja, sie zitterte ein wenig vor Aufregung. Vielleicht empfand sie die Einmaligkeit die ser Situation ganz besonders. »Weißt du, Ira, ich kann mir einfach nicht denken, daß diese Fremden, deren Wohnbauten sich gar nicht so sehr von den unsri gen unterscheiden, nicht irgendwelche Gebrauchsgegenstände besessen haben sollten. Ganz davon zu schweigen, daß ich mir nicht erklären kann, wohin die Bewohner verschwunden sind. Was meinst du?« Ira war, während Svanta sprach, ganz nahe an eine der Wände herangetreten. »Sieh doch!« Erschrocken wandte sie sich nach Svanta um. An mehreren Stellen der glatten Wand glommen farbige Reflexe auf, die immer deutlicher wurden. Gebannt starrten beide auf die leuchtenden Kreise, die Form und Gestalt annahmen. Ja, es waren bunte Bilder, das stellten sie jetzt fest. Bilder von sonderbaren Tieren, die sie nie gesehen hatten. Sie riefen die anderen Wissenschaftler herein.
Auf elf Abbildungen zeigten sich geradezu furchteinflößende Ungeheuer: zottige bärenartige Vierbeiner mit großen runden Au genhöhlen, in denen aber die Augen zu fehlen schienen, und ecki ge, gepanzerte krebsähnliche Vielbeiner, die scheinbar keinen Kopf hatten. Als sie zurücktraten, wurden die Bilder undeutlicher, es handelte sich also um einen Annäherungseffekt. »Entweder sind es Aufnahmen einer frühen Mondfauna oder a ber Bilder von Tieren eines Leben tragenden anderen Planeten«, sagte der Japaner. Die übrigen Wände des Rundbaus zeigten diesen Bildereffekt nicht. »Ob in allen Wohnpyramiden auch solche Bilderzimmer existie ren?« fragte Svanta. »Wir haben noch etwas Zeit«, sagte Kurator Rinald nach einem Blick auf die Uhr. »Ich denke, wir untersuchen weiter selenidische Behausungen. Wer hätte geahnt, was sich hier in den Tiefen des für eine tote Welt gehaltenen Erdtrabanten seit Jahrtausenden ver birgt!« Nachdem sie sich vollzählig wieder vor dem Bauwerk versam melt hatten, gab Ben Darkens seine Anweisungen. »Wir nehmen uns die zehn nächsten Hauspyramiden vor und treffen uns etwa nach dreißig Minuten an dem darunterliegenden langgestreckten rechteckigen Quarzbau wieder!« Damit meinte er eines der bisher völlig außer acht gelassenen quaderförmigen Bauwerke, die inmitten der Obelisken standen. »Wir bilden drei Gruppen! Innerhalb der Gruppe anseilen!« fügte er hinzu.
Spuren im Mondstaub Die Forscher schritten vorsichtig in die angegebene Richtung. Messungen an weiteren Quarzgebäuden ergaben völlige Überein stimmung der Außenmaße, und auch die Eingänge befanden sich überall an der gleichen Stelle. Die Gruppe mit Ben Darkens, Pawel Rinald und Fred Wagner näherte sich soeben der neunten Pyramide. Das Licht der zentra len Xenonlampe war hier schon etwas schwach. Ben schaltete des halb die Helmbeleuchtung ein und neigte den Kopf, um die zu sätzliche Leuchtwirkung zu überprüfen. Da! Zuerst glaubte er ei ner Halluzination zum Opfer gefallen zu sein. Oder waren es Wunschgebilde seiner überreizten Nerven? Direkt vor ihm, quer zu seiner Bewegungsrichtung, waren in der dünnen Staubschicht, die überall den Höhlenboden bedeckte, die unscharfen Konturen irgendwelcher Abdrücke zu sehen. Es waren zwei Reihen von Markierungen, die nebeneinanderher liefen und von der einen Wohnpyramide bis zur gegenüberliegenden reichten, wo sie sich in der Dunkelheit verloren. Ben kniete nieder und berührte mit dem Raumhandschuh die Zeichen einer fremden Welt. Eine ungeheure Erregung hatte sich seiner bemächtigt. Was mochten das für Spuren sein, die da ver hältnismäßig deutlich und unwiderlegbar in der fahlen Staub schicht zu erkennen waren? Kurz darauf hatten ihn seine beiden Begleiter erreicht und blieben stehen. Jetzt erkannten auch sie, was er am Boden untersuchte. Ben hatte sich aufgerichtet und gab über Funk eine Mitteilung an die übrigen Expeditionsmitglieder: »Haben Abdrücke im Mondstaub entdeckt. Sie verlaufen rechtwinklig zu meiner Positi on. Beim Näherkommen Vorsicht, damit die Spuren nicht ver wischt werden!« Das war eine Nachricht! So schnell es die Raumanzüge erlaub ten, eilten die anderen Expeditionsmitglieder herbei. Nun standen
auch sie vor den rätselhaften Spuren und starrten wie gebannt auf die Zeichen außerirdischen Lebens. Die einzelnen Spurteile glichen einer liegenden Acht, die aus zwei unterschiedlich großen Kreisen bestand. Zum Vergleich setz te Ben seinen Fuß neben einen solchen Abdruck. Als er ihn wieder hob, konnte man deutlich den Größenunterschied erkennen. Er war fast um die Hälfte länger als solch ein unbekanntes Zeichen. Trotzdem waren alle davon überzeugt, daß es sich um Fußspuren handelte, daß es aber keine direkten Fußabdrücke, sondern Spuren von Schuhwerk sein mußten. »Wenn wir von unserer Fußbekleidung ausgehen, dann müßte der kleinere Kreis der Absatz sein. Das wiederum würde heißen, daß sich die Lebewesen oder Roboter – oder was es immer gewe sen sein mag – von links nach rechts fortbewegt haben«, stellte Ives Lorin fest. »Ich würde trotzdem empfehlen, daß wir zwei Gruppen bilden und die Spuren in beiden Richtungen verfolgen.« »Das ist völlig richtig«, meinte Ben. »Befolgen wir also Ives’ Vor schlag!« Jetzt erhob sich Fred Wagner, der die ganze Zeit über neben ei nem der Abdrücke gekniet hatte. »Ich habe versucht, das Alter der Spuren zu bestimmen«, sagte er. »Die Spuren sind so wenig von Mondstaub bedeckt, daß sie nur jüngeren Datums sein können. Die Staubschicht auf den Quarzflächen der Wohnpyramiden ist viel stärker. Wobei ich bemerken möchte, daß wir tief unter der Mondoberfläche für die Staubbildung andere Ursachen suchen müssen als oberhalb, wo es sich tatsächlich um den in Jahrmillio nen niedergegangenen kosmischen Staub handelt. Nach meinen bisherigen Erfahrungen in bezug auf allgemeine Staubschichtbil dung würde ich sagen, daß diese Spuren höchstens einige tausend Jahre alt sind.« Schnell hatte Ben die Expedition in zwei Gruppen geteilt, die ei ne, die den Spuren nach links folgen sollte, führte Fred Wagner, die andere Gruppe übernahm er selbst. Man wollte in ständiger
Funkverbindung bleiben und den Fährten in beiden Richtungen etwa eine Stunde lang folgen. Noch immer schritten sie neben der Doppelspur. »Seht!« rief Ben plötzlich, der etwas vorausgegangen war, »die Abdrücke des Individuums, das auf der rechten Seite gelaufen ist, verändern sich. Sein Schritt wird schleppend und unsicher. Die Spuren gehen in einander über!« Ja, es war deutlich zu erkennen, die Spuren verwischten sich auf einer etwa zwanzig Meter langen Strecke, dann führte nur noch eine Fährte weiter. Was konnte sich vor Tausenden von Jahren hier ereignet haben? Offensichtlich hatte jemand seinen Begleiter tragen müssen. Ben hatte zweifellos recht, als er sagte: »Die Spur wird sicher bald enden.« Der Abstand der Eindrücke wurde kleiner. Da! Ira, die dicht hinter dem Chefselenologen ging, hatte es be reits bemerkt. Vor der übernächsten Wohnpyramide hörte die Spur plötzlich auf. Die Tür war noch hochgeklappt. In diesem Quarzobelisk lag wahrscheinlich die Lösung des un gewöhnlichen Rätsels. Ben rief zunächst über Sprechfunk die andere Gruppe herbei, von der sie jetzt etwa zwei Kilometer trennten. Man wollte diese Wohnpyramide gemeinsam erforschen. Es verging einige Zeit, bis Fred Wagner mit seiner Gruppe die Strecke zurückgelegt hatte. Unterdessen war Mara Bhali mit dem Raketokopter näher an das Gebäude herangefahren. Die Schein werfer wurden auf den Obelisken gerichtet und alle Vorbereitun gen getroffen. Sobald alle beisammen waren, ordnete Ben Darkens an, daß sie sich für eine halbe Stunde im Raketokopter von den schon Stun den währenden Strapazen erholen sollten. Das entsprach so gar nicht der Situation, aber Darkens duldete keinen Widerspruch. Als man im Inneren des Fahrzeugs die Schutzhelme abgenom men hatte, kam jedoch kein entspannendes Gespräch zustande.
Das war auch verständlich, denn jeder hing seinen Gedanken nach und brannte darauf, zu erfahren, welche Geheimnisse die Quarz pyramide offenbaren würde. Ohne besondere Aufforderung waren daher nach Ablauf der halben Stunde alle wieder vor dem Bau versammelt. Ben Darkens hatte Anweisung gegeben, mehrere verschließbare Metallcontainer mitzunehmen, um eventuelle Funde bergen zu können. Ira Beaux hielt die Kamera schußbereit. Während die übrigen Expeditionsmitglieder den relativ kleinen Einstiegsschacht umstanden, kletterten Ben, Kurator Rinald und Ira vorsichtig in die Tiefe. Es war die gleiche Wohnpyramide, wie sie vor Stunden in einer anderen Region der unübersehbaren Se lenidensiedlung untersucht worden war. Die erste Zwischentür stand wie die horizontale Eingangsplatte offen. Um Zwischenfälle zu vermeiden, klemmte Ben ein passendes Metallstück in die Tür öffnung. Im Hintergrund des nun vor ihnen liegenden Raumes glänzte es im Schein der Helmleuchten metallisch. »Bitte erst einige Aufnahmen, Ira«, sagte Ben, »bevor wir durch unser Nähertreten irgend etwas verändern könnten!« Im grellen Blitzlicht waren am Boden deutlich zwei Gestalten zu erkennen. Die Forscher näherten sich ihnen vorsichtig. »Das sind doch Skaphander«, murmelte Pawel Rinald. Vor ihren Füßen lagen zwei kugelrunde, zur Hälfte durchsichtige Schutzhel me. Die sich daran anschließenden Metallanzüge waren durchlö chert und zerfallen. Darunter schimmerte es weiß, vermutlich von Skelettresten. Bei der einen Gestalt befand sich ein noch guterhal tener Kosmonautenschuh. Die Lauffläche war nach oben gekehrt und zeigte deutlich die Form einer großen Acht. Es bestand kein Zweifel, die beiden Toten hatten jene Spuren hinterlassen. Vor den erschütterten Lunauten lagen die sterblichen Überreste von zwei Kosmonauten außerirdischer Herkunft, die in diesem Quarzobelisk vor sehr langer Zeit ihr Ende gefunden hatten. Wie, warum und wodurch würde sicher ein Rätsel bleiben! Wahrschein lich befanden sie sich schon viele Jahrtausende hier.
»Wir sollten mit dieser Vermutung vorsichtig sein«, warf Ira ein, »die Reste einer Atmosphäre, die Nik Sullikow bei seinen Messun gen nachgewiesen hat, könnten eine mögliche Verwesung be schleunigt haben.« Es dauerte nicht lange, dann umstand die gesamte Expeditions gruppe die Zeugen einer anderen Welt. Keiner konnte sich der Größe des Augenblicks entziehen, niemand sagte ein Wort. Erst nach Minuten löste sich die Spannung und wandelte sich in Entdeckerstolz. Seit dem Augenblick, als die Forschergruppe jene Spuren gefunden hatte, war jeder auf eine Lösung der rätselhaften Erscheinung vorbereitet gewesen. Nun jedoch waren sie Augen zeugen eines einmaligen Fundes, dessen Auswirkungen auf die Mondforschung noch keiner von ihnen übersehen konnte. »Kommt«, unterbrach Kurator Rinald endlich das Stirnmenge wirr, »wir wollen die sterblichen Überreste der beiden fremden Wesen vorsichtig in die Container legen!« Ives Lorin öffnete die zwei großen Doppelschalen aus dünnem beschichtetem Edelstahl und rückte sie so nahe wie möglich an die toten Kosmonauten heran. Behutsam legte man die Skeletteile des ersten Toten, die nur noch durch den beschädigten Raumanzug zusammenhielten, in den Metallbehälter, der daraufhin hermetisch verschlossen wurde. Dann wurden die Überreste des zweiten extraterrestrischen Ster nenfahrers, der zusammengekauert in der Ecke hockte, vorsichtig nach vorn befördert. Ives und Fred Wagner wollten die Relikte gerade in den zweiten Behälter betten, da fiel etwas Glänzendes zu Boden. Urs Jassman bückte sich danach und hielt eine spiegelnde Me tallplatte von etwa zehn Zentimeter Breite und zwanzig Zentime ter Länge in der Hand. Die Stärke betrug höchstens einen Millime ter. Da man auf dem Mond kein rechtes Gefühl für Gewichte hat te, machte er außerdem noch einige Biegeproben und stellte dann fest: »Es wird Titan oder Platin sein!« Als er die Platte genauer ansah, entfuhr ihm ein Ausruf des Erstaunens. »Was ist mit der Platte?« fragte Ben Darkens gespannt.
»Sie ist mit winzigen Darstellungen übersät, die wie Oszil logramme von Sinusschwingungen aussehen. Hier, überzeugt euch selbst.« Das metallene Blatt ging von Hand zu Hand. Tatsächlich, es enthielt irgendwelche Aufzeichnungen! Waren es Meßwerte, ein Programmkode, oder sollten es vielleicht Schriftzeichen sein? Gerade wollte Ira Beaux, die als letzte in der Reihe stand, den Fund an Urs Jassman zurückgeben, als ihr Blick auf die Rückseite fiel. Da waren ja noch mehr, noch andere Zeichen eingraviert oder -geätzt. Neugierig drängten die anderen hinzu. »Das sind ja Hieroglyphen oder primitive Bilder«, sagte Ira jetzt, die die Platte noch immer in der Hand hielt. Die Rückseite war durch einen Querstrich in zwei gleich große Hälften geteilt. Was sollten die vielen unterschiedlichen Kreise oder Kugeln nur dar stellen? Die Phantasie der Betrachter schien überfordert zu sein. »Kommen Sie, Ira«, wandte sich Ben Darkens schließlich an die aufgeregte Astronomin, »legen wir die Platte zu den anderen Über resten. Es muß ja nicht alles an Ort und Stelle geklärt werden. Wir sind alle ein wenig nervös.« Trotz der ungewöhnlichen Situation wurde es Ira bewußt, wie angenehm sie die Stimme dieses Mannes berührte, ja beruhigte. Da war nichts von Überheblichkeit oder Gegnerschaft zu spüren. »Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was die Zeichen bedeuten!« er widerte sie zögernd. »Sie stellen unser Sonnensystem auf zwei Ar ten dar. Ja, bestimmt ist es so – schaut her! Der große Kreis in der Mitte mit dem Strahlenkranz bedeutet die Sonne. Dann folgen die einzelnen Planeten, die kleinen Punkte sind die Monde. Nur unser Mond, der Erdmond, ist größer dargestellt. Die zweite Skizze zeigt die gleiche Anordnung, nur hat hier der Erdmond auch einen Strahlenkranz. Aber unser Mond als zweite Sonne? Das ist unver ständlich!« Ira hatte sich richtig in ihre Hypothese hineingesteigert. Alle hörten ihr aufmerksam zu. Ben Darkens stellte das mit ei nem leichten Schmunzeln fest. In den wenigen Tagen, die das klei ne Kollektiv erst zusammenarbeitete und die eine erdrückende
Fülle von Entdeckungen und Wahrnehmungen brachten, hatte sich Ira Beaux als Persönlichkeit durchgesetzt. Niemand dachte mehr an die erklärenden Worte von ihm, mit denen er zu Beginn des Unternehmens um Verständnis gebeten hatte, daß die Astro nomin Beaux mit von der Partie sein würde. Ihr ruhiges Wesen, ihre offene und ehrliche Art und besonders ihre Bereitschaft, je derzeit mit zuzupacken und keine Arbeit zu scheuen, hatten dazu geführt, daß jeder sie gern mochte. Sie war eine Forscherin mit Phantasie und Logik. Ben Darkens betrachtete Ira mit Wohlwollen. Ihr Gesicht unter dem Schutzhelm hatte einen anderen Ausdruck bekommen. Trotz der Strapazen der letzten Tage sah sie gut aus. Die Blässe und die Apathie waren gewichen. Er mochte sie, ja, er konnte sie sich nicht mehr wegdenken aus der kleinen Gruppe, die in den letzten Stun den so viel erlebt hatte. Ira spürte nichts von seinen Gedanken; sie fuhr aufgeregt in ih ren Betrachtungen fort: »Auch die Bedeutung der Skizze auf der unteren Hälfte meine ich erkannt zu haben. Es ist meines Erach tens ein Lageplan, ein Ausschnitt von der Höhlenstadt. Die Quad rate mit den diagonalen Querstrichen sind die Obeliskenhäuser, die Rechtecke jene von uns noch nicht untersuchten Quadergebäude.« Ben Darkens, der unmittelbar hinter ihr stehengeblieben war und die Zeichen auf der Platte über ihre Schulter sah, nickte beifällig. »Sie haben völlig recht, darf ich mal fortfahren?« – Ira reichte ihm das ungewöhnliche Schriftstück. – »Die beiden Kreuze an dieser Stelle kennzeichnen zweifellos die Stelle, an der wir die beiden selenidischen Raumfahrer gefunden haben. Von hier ist auf der Skizze ein Bogen mit Richtungsmarkierung zu einem der Quader gebäude zu sehen.« Er wandte sich um und zeigte nach halbrechts. »Es wird dort sein. Sicher will der Tote auf etwas aufmerksam ma chen!« Plötzlich bückte sich Kamatu Orina. Wo der zweite fremde Körper in Hockstellung aufgefunden worden war, lag ein kleiner zylindrischer Gegenstand, der einer Metallröhre ähnelte.
Ben betrachtete ihn eingehend. »Ich würde sagen, es handelt sich um ein Schreibgerät«, sagte er. »Hier«, er hob das eine Ende der Röhre, »befindet sich ein dünner Metallstift wie bei einem Kugel schreiber.« »Könnte da nicht ein Zusammenhang bestehen?« schaltete sich Urs Jassman ein. »Sollten die Oszillogramme auf der Metallplatte nicht doch Schriftzeichen sein, die der Unbekannte mit diesem Erosionsstift geschrieben hatte?« Die Metallplatte war sicher ein Skriptum außerirdischer Her kunft. Wie viele Schriftzeichen unermüdliche Archäologen auch schon auf der Erde gefunden hatten, diese Titan- oder Platinplatte war einmalig. Man stellte fest, daß die »Schwingungsschrift« ganz plötzlich aufhörte, mitten in einem Bogen. Der Tod hatte den Schreiber anscheinend überrascht. Was hatte der Angehörige einer fremden Zivilisation hier einige tausend Meter unter der Mondoberfläche in seinen letzten Minuten niedergeschrieben? Für wen war die Nach richt oder Aufzeichnung bestimmt? Ben blickte auf die Uhr. Es war höchste Zeit, in den Raketokop ter zurückzukehren. »Freunde, wir müssen unser ereignisreiches Unternehmen für heute beenden! Ives und Fred übernehmen den Transport der Behälter; Urs Jassman kümmert sich um die Metall platte und den Erosionsstift. In fünfzehn Minuten beginnt der Aufstieg!« lautete seine Anweisung an die Expeditionsteilnehmer. Alle waren froh, daß der Raketokopter so nahe, keine dreihundert Meter entfernt, stand. Als sie eingestiegen waren und die Schutz helme der Raumanzüge abgenommen hatten, begannen sie neue Hypothesen aufzustellen. Ein Problem wurde immer wieder erör tert: die außerirdischen Lebewesen. »Ives hat die Bewohner dieser unterlunaren Siedlung Seleniden genannt«, faßte Pawel Rinald die Gespräche zusammen. »Ich den ke, wir behalten diese Bezeichnung bei. Alles, was wir in den Wohnpyramiden an noch vorhandenen Einrichtungsgegenständen gefunden haben, ist für unsere Begriffe klein. Auch die beiden
Körper, in den zerstörten Raumanzügen wirken klein, ebenso ihre Schuhe und die hinterlassenen Spuren. Man kommt zwangsläufig zu dem Schluß, daß es sich bei den von uns gefundenen Überres ten tatsächlich um solche von besonders kleinen, menschenähnli chen Wesen handelt. Ungeklärt bleibt jedoch, von woher und wa rum diese zwei Fremden in die längst entvölkerte Stadt oder Sied lung zurückgekehrt sind. Gut, wir besitzen vermutlich eine mit den Schriftzeichen dieser Wesen bedeckte Metallplatte. Wahrscheinlich wird erst die Entzifferung der unbekannten Schrift Licht in das Dunkel des Entdeckten bringen. Deshalb werde ich mich sofort mit der Weltföderation in Verbindung setzen. Die Tragweite dieser Entdeckung ist so gewaltig, daß wir gemeinsam handeln müssen.« Der Raketokopter hatte inzwischen die Hälfte der Strecke zu rückgelegt. »Wie sollen nun unsere Arbeiten hier unten weitergehen?« wollte Ben Darkens von Pawel Rinald wissen. »Ich bin der Meinung«, antwortete der Mondkurator, »daß in drei Richtungen weitergearbeitet werden muß. Ihre kleine Forschungs gruppe wird die Selenidenstadt weiter untersuchen, insbesondere den auf der Platte angegebenen langgestreckten Rechteckbau. Ich denke, es ist ebenfalls erforderlich, die Fußspuren bis zu ihrem Beginn zurückzuverfolgen, damit wir erfahren, wie und wo die fremden Raumfahrer in den sublunaren Hohlraum eingedrungen sind. Es ist auch unerläßlich, Bruchstücke des Oktaedermaterials mit nach oben zu bringen, um diese sonderbare Kristallanordnung gründlich im Labor zu analysieren. Die von Nik Sullikow ausge machte radioaktive Quelle in der Deckenschicht ist noch nicht untersucht. Auch für die Schwerkraftanomalie gibt es keine ein leuchtende Erklärung. Schließlich werden bald Expertenkollektive hier eintreffen, da mit unseren Kräften die weiträumige Seleniden stadt erst in Jahrzehnten durchforscht werden könnte. Jeder wird angespannt arbeiten müssen. Trotzdem empfehle ich, morgen für das gesamte Kollektiv einen Ruhetag einzulegen. Die Anstrengun gen der letzten Zeit waren außergewöhnlich!«
Endlich, die Minuten schienen sich endlos zu dehnen, hatte der Raketokopter auch das letzte Stück, den künstlichen Einstiegs schacht, hinter sich gebracht. Die Expeditionsmitglieder schlossen die Raumanzüge und setzten die Schutzhelme auf. Zwei Lumobile standen bereit und übernahmen die erschöpften Wissenschaftler. Die Container mit dem kostbaren Inhalt wurden in besondere Thermosbehälter umgeladen.
Neue Rätsel Der kurze Bericht über die phantastischen Entdeckungen in der sublunaren Höhlenstadt, den Mondkurator Rinald wenige Stunden später über eine Laserverbindung an die Weltföderation gab, rief heftige Erregung hervor. Präsident van Müren bat den Kurator, mit den sterblichen Über resten der beiden Seleniden und der beschrifteten Metallplatte zur Erde zu kommen. Alle für eine Mitarbeit zuständigen Institutionen der Föderation wurden von ihm informiert. Da aber weder Ben Darkens noch ein anderes Mitglied der kleinen Expeditionsgruppe die Forschungsarbeiten unterbrechen konnte, begleiteten Orina und Jassman den Kurator. Seit einigen Tagen befanden sich die drei Wissenschaftler in Syd ney, nachdem sie vorher das metallene Skriptum außerirdischer Herkunft im kybernetisch-linguistischen Institut der Weltföderati on in Stockholm übergeben hatten. Sie wollten, sobald die ersten Untersuchungen in Sydney beendet waren, wieder in Stockholm vorsprechen, um dann vielleicht schon Übersetzungsergebnisse oder Deutungsversuche zu erfahren. In Sydney befanden sich die internationalen Einrichtungen zur Erforschung planetarer Biosphären. Der Gebäudekomplex lag nur wenige Autominuten vom nördlichen Stadtrand entfernt, wo die Ausläufer der Blauen Berge in der malerischen Botany Bay ende ten. Die Übergabe der beiden Metallcontainer mit Überresten außer irdischen Lebens war für die Wissenschaftler in Sydney eine Sensa tion gewesen. Bisher hatten sich die Biosphären von Mars, Venus und Jupiter durch Spuren von Leben in Form von Mikroorganis men erschöpft. Niemand hatte mehr daran geglaubt, in unserem Sonnensystem vernunftbegabtes Leben zu finden. Und nun diese beiden Funde!
Die Experten aus vielen Ländern hatten sofort ihre Arbeit auf genommen. Die drei Lunauten waren bei den ersten Untersuchungen anwe send. Nur durch eine Glaswand vom Laboratorium getrennt, wa ren sie durch Kopfhörer mit dem leitenden Mediziner verbunden. Voller Spannung saßen sie in dem kleinen Nebenraum und beo bachteten, wie der erste Metallcontainer geöffnet wurde. Wenig später ertönte die ruhige Stimme von Dr. Absal: »Wir haben die Funde zunächst akklimatisiert, um die Analysen unter normalen Bedingungen durchführen zu können.« Vorsichtig wurden die Überreste auf eine große Tischplatte ge legt. Zwei Mitarbeiter lösten den unbeschädigten glockenförmigen Schutzhelm von dem Raumanzug. Das war schwierig, denn der Befestigungsmechanismus ließ sich nicht sogleich erkennen. End lich war es geglückt! Zum Vorschein kam ein Totenschädel, der nur noch stellenweise mit einer dünnen, pergamentartigen Haut überzogen war. Während die Kopfhaut dieses Seleniden wahr scheinlich haarlos gewesen war, befanden sich in der Nähe des Kinns spärliche Haarbüschel, anscheinend Reste eines Bartes. Dr. Absal sagte nachdenklich: »Wenn man die Größe des Schä dels außer acht läßt, dann würde ich sagen, es handelt sich um ei nen Menschenschädel, wie er vielleicht in dreißig- bis fünfzigtau send Jahren aussehen wird. Die Stirnpartie ist sehr ausgeprägt und macht etwa die Hälfte des Gesichtes aus. Eine ausgesprochen zephaloide Entwicklung! Das Nasenbein ist stark verkümmert und die Kieferpartie rudimentär. Charakteristische Merkmale, wie sie auch bei uns Menschen mit fortschreitender Zivilisation zu erwar ten sind.« Unterdessen hatten die Spezialisten die Skeletteile geordnet und zu einem vollständigen Knochengerüst zusammengesetzt. Dr. Ab sal fragte einen zur Untersuchungsgruppe gehörenden Arzt: »Wel che Vergleiche lassen sich anhand des Skelettaufbaus zum mensch lichen Körper ziehen, Doktor Tsu?«
Der Angesprochene ergriff einige Notizblätter, dann antwortete er: »Ich kann natürlich nur eine erste Einschätzung geben. Wir benötigen längere Zeit, um zum Beispiel die Gelenkausbildung oder die Proportionalitätsabweichungen zu bestimmen. Es läßt sich jetzt aber schon sagen: Bei diesem Homoiden hier handelt es sich aufgrund der Becken- und Oberschenkelknochenausbildung um ein männliches Individuum. Bestimmte Rückbildungen lassen auf ein unvorstellbar hohes Menschenalter schließen. Wenn ich menschliche Erfahrungswerte anwende, komme ich auf annähernd fünfhundert Jahre, doch dafür möchte ich mich nicht verbürgen. Augenfällig sind die relativ kurzen Armknochen und die kleinen Schulterblätter. Diese Lebewesen dürften über viele Generationen kaum noch körperliche Arbeit verrichtet haben. Bemerkenswert sind ferner die fast gleich großen Zehenknochen – eine auch bei uns Menschen zu erwartende zivilisatorische Rückentwicklung. Das wäre zunächst meine Grobeinschätzung dieser sehr men schenähnlichen Lebensform.« Eine weitere Gruppe hatte die Bekleidung, insbesondere den Raumanzug, des Fremden untersucht. Eine genaue Materialanalyse lag verständlicherweise noch nicht vor, aber so viel stand bereits fest, daß es sich um ein metallisiertes Silikongewebe handelte. Man konnte erkennen, daß an verschiedenen Stellen Heizfäden einge bettet waren. Viele der zur Ausrüstung gehörenden Metallteile waren durch die jahrtausendelange Korrosion in der dünnen At mosphäre der riesigen Gruft so zerstört, daß man ihren eigentli chen Verwendungszweck nur ahnen konnte. Bei der weiteren, sehr gründlichen Sichtung des Materials wurde eine Entdeckung gemacht, über deren Bedeutung sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand richtig im klaren war. In einer unzerstör ten kleinen Tasche aus Metallfolie, die an Resten des Raumanzuges befestigt war, fand man vier kleine farbige Kugeln von unter schiedlichem Durchmesser. Die Farben waren nicht ungewöhn lich: Rot, Grün, Blau und Gelb. So wie sie bei der Zerlegung des Sonnenlichtes durch ein Prisma entstehen.
Dr. Absal stellte sich zu dieser Gruppe, und so konnten die drei Forscher jedes Wort mithören. Gerade sagte Assistent Bojan, wobei er die Kugeln in der Hand wog: »Nach dem Gewicht zu urteilen, bestehen sie aus einem Plast- oder Sinterwerkstoff. Lassen Sie mich daher zuerst das spe zifische Gewicht genau bestimmen!« Als er die Objekte in eine Stahlschale legen wollte, gab es einen kleinen Zwischenfall. Die rote Kugel wurde ihm bei Annäherung der Schale von einer beachtlichen Kraft nach oben aus der Hand gerissen. Sie flog an die Decke des Raumes und fiel dann weit ent fernt zu Boden. Als sich bei der grünen Kugel derselbe Effekt zeigte, jedoch bei Annäherung an eine Messingschale ausblieb, kam Bojan zu der einfachen Erklärung, daß die Kugeln ein enor mes magnetischen Feld besaßen. »Allerdings müßte bei einem magnetischen Feld«, meinte er verwundert, »die Kugel normaler weise zur Stahlschüssel hingezogen werden. Das muß ich sofort untersuchen!« Damit verschwand er eilig in einem Nebenraum. Was war mit diesen Kugeln? Waren sie ein Spielzeug dieser men schenähnlichen Wesen, oder hatten sie irgendeine technische Be deutung? Wozu würde ein irdischer Kosmonaut Kugeln mit sich herumtragen? Bojan kehrte nach kurzer Zeit aus dem Speziallabor, in dem ein Magnetograph stand, zurück. »Selbst diese harmlosen Kugeln ver halten sich unirdisch!« rief er, »sie besitzen keinen Magnetismus. In Verbindung mit Eisen und seinen Legierungen zeigen sie einen erstaunlichen Antischwerkrafteffekt. Die erforderliche Haltekraft entspricht einem magnetischen Fluß von einigen hunderttausend Maxwell. Doch das sind nur geschätzte Werte!« Kurator Rinald wandte sich an seine Begleiter: »Die Angelegen heit mit diesen sonderbaren Kugeln müssen wir sofort an Ben Darkens und sein Kollektiv weiterleiten. Zwischen diesen Kugeln und dem letzten Besuch der beiden selenidischen Kosmonauten in der Höhlenstadt muß es einen Zusammenhang geben.«
Am Abend führte Pawel Rinald über Laserverbindung Erde – Mond ein längeres Gespräch mit dem Chefselenologen. Dabei erfuhr er gleichzeitig, welche Ergebnisse die weiteren Untersu chungen der Selenidenstadt gebracht hatten. Er versprach Ben Darkens, die Kugeln sofort durch eine ferngesteuerte Spezialrakete zu schicken. Das Gesicht von Dr. Falaise, der die gründliche Untersuchung der sechs Lunauten leitet, die nun schon mehr als vierzig Stunden in der großen Höhle verbracht hatten, war sehr ernst, als er Ben Dar kens das Ergebnis mitteilte. »Der körperliche Zustand von Ihnen allen ist ausgezeichnet. A ber in den Hirnpartien aller Beteiligten wurde eine geringfügige Einstrahlung von Neutronen festgestellt. Sie wissen, daß stärkere Dosen zu Kortexveränderungen und damit zu Bewußtseinsstörun gen führen können. Diese Strahlung kann nur in der sublunaren Region emittiert worden sein, denn eine solche Einstrahlung wur de bisher noch bei keinem anderen Lunauten registriert. Haben Sie dafür eine Erklärung?« »Eigentlich nicht«, erwiderte Ben Darkens nach längerem Über legen. »Es wurden bei jedem Abstieg gründliche Strahlungsmes sungen vorgenommen. Allerdings hatte Nik Sullikow eine schwa che Radioaktivität, die von der Deckenschicht ausgeht, festgestellt. Radioaktivität bedeutet unter anderem ja auch das Aussenden von α-Teilchen, und die enthalten jeweils Protonen und Neutronen. Protonen wurden jedoch nicht nachgewiesen. Nein, diese Radioak tivität kann es nicht sein. Nik bezeichnete sie als völlig unschäd lich, und er ist ein gewissenhafter Radiologe. Doch verstehen Sie mich bitte richtig, ich zweifle keinesfalls Ihre Untersuchungser gebnisse an.« »Nun gut«, der Arzt beendete die kurze Unterhaltung. »Aber ich muß Sie bitten, entsprechende Schutzmaßnahmen einzuleiten und den Aufenthalt in der Selenidenstadt auf ein Minimum zu be schränken, und ferner, laufend Kontrolluntersuchungen zu veran
lassen. Sie erkundigten sich vorhin nach dem Zustand von Nik Sullikow. Besuchen können Sie ihn leider noch nicht, aber ich denke, in zwei Wochen wird es soweit sein; wir sind zufrieden mit seinem Befinden.« Ben Darkens verließ nachdenklich das Untersuchungszimmer. Könnte bei dieser Strahlung nicht die Schwerkraftanomalie mit im Spiel sein? Vielleicht war es gar keine Anomalie, sondern eine Schutzmaßnahme der Seleniden. Sollte diese Kraftfeldglocke die Stadt vor herabstürzendem Gestein schützen? Es gab viele Mög lichkeiten. Zumindest hingen Neutronen und Gravitonen eng zu sammen. Ein weiteres wichtiges Forschungsvorhaben! Der nächste Abstieg mußte um weitere Tage verschoben wer den. Ben Darkens nahm das Untersuchungsergebnis von Dr. Fa laise sehr ernst. Er ließ die Schutzhelme der Expeditionsmitglieder bis auf einen schmalen Sichtspalt mit einer zentimeterdicken Kadmiumschicht überziehen und war erst beruhigt, als man ihm bestätigte, daß diese Maßnahme mehr als ausreichend sei. Dann senkte sich der Raketokopter wieder der rätselhaften Py ramidenstadt entgegen. Das Programm für die nächsten Stunden war von Ben Darkens im Einvernehmen mit seinem Kollektiv erweitert worden. Fred Wagner hatte die tagelange Unterbrechung genutzt und aus dem radiologischen Institut spezielle Neutronen meßeinrichtungen beschafft. Damit sollte zunächst beim Abstieg das Schwerkraftgegenfeld näher untersucht werden; man wollte klären, ob es sich um ein künstlich erzeugtes Feld handelte. Ein gleiches Gerät war in das Elektromobil eingebaut, mit dessen Hilfe Ives und Mara den Fußspuren zu deren Ausgangspunkt folgen würden. Sie sollten dabei Neutronenintensitätsmessungen durch führen. Es ging darum, zu ermitteln, ob die Strahlung im gesamten Hohlraum von konstanter Stärke war. Als Hauptprogrammpunkt wollten die übrigen Expeditionsmitglieder das Quadergebäude gründlich untersuchen, jenen Flachbau, den der fremde Kosmo naut auf der Metallplatte markiert hatte und der etwas mit der ast ronomischen Skizze zu tun haben mußte.
Nach etwa zwanzig Minuten schwebte der Raketokopter unmit telbar über dem Schwerkraftgegenfeld. Fred hatte seine Kollegen über die mitgeführten Instrumente und die Messung informiert. Konnte man im Bereich der Gravitationswellen auch Neutronen nachweisen, bestand durchaus die Möglichkeit, daß die Seleniden das Feld künstlich erzeugt hatten. Sie beherrschten anscheinend die Physik der Elementarteilchen so weit, daß sie Schutzfelder auf bauen konnten. »Achtung! Wir tauchen ein«, gab Ben bekannt und bediente den Regler für die Schubdüsen. Das Ergebnis war enttäuschend und beruhigend zugleich. Neut ronen ließen sich nicht nachweisen. Während der kurzen Zeit, in der sich der Flugkörper durch das Kraftfeld bewegte, schlug keins der Instrumente aus. »Nun wissen wir zwar, um was es sich nicht handelt, aber wie die Anomalie zustande kommt, bleibt ein Rätsel«, sagte Fred resigniert. Das kleine Raupenfahrzeug war unterhalb des Raketokopters aufgehängt, dadurch konnte die Landung wenig später nur in Etappen durchgeführt werden. Ives mußte mit einer Strickleiter aus steigen und das Elektromobil erst zur Seite fahren. Die Spurenver folgung quer durch die tote Riesenstadt war kein leichtes Unter fangen. Zu gern hätte Ben Darkens selbst am Steuer gesessen, aber er hatte andere Aufgaben. Mara und Ives waren unterdessen in die »Schildkröte«, wie das flachrunde Fahrzeug bei den Lunauten hieß, eingestiegen und machten eine Funktionskontrolle. Ben schärfte ihnen nochmals ein, daß sie ihn über Funk regelmäßig, mindestens im Abstand von fünfzehn Minuten, informieren sollten. Würde keine Verbindung zustande kommen, war die Fahrt sofort zu unterbrechen und der Rückweg anzutreten. Eine Reservebatterie gab den beiden die Möglichkeit, den Aktionsradius des Elektromobils auf mehr als hundertzwanzig Kilometer zu erweitern. Der Druck der Raupen glieder, die aus kleinen pneumatischen Kissen bestanden, ließ sich verändern, wodurch die Fahrweise auch dem ungünstigsten Ge
lände angepaßt werden konnte. Als Fahrplan diente eine Hand skizze, die Mara nach den Radargrammen der Höhlenauslotung gezeichnet hatte und in die lediglich der Raketokopterlandeplatz und einige Obelisken in dessen Umgebung genau eingetragen wa ren. Ein letztes Winken und Händeschütteln, dann verschwand das Fahrzeug, einen starken Suchscheinwerfer auf die Doppelspur gerichtet, langsam im Halbdunkel. Die übrigen vier Wissenschaftler wandten sich nun ihrer eigentli chen Aufgabe zu. Ira, die eine genaue Kopie der Lageskizze auf der Metallplatte angefertigt hatte, ging voraus, als sie sich jetzt dem Flachbau näherten. Trotz seiner relativ geringen Höhe überragte er die ihn umgebenden Obeliskenhäuser beträchtlich, weil er auf ei ner Erhöhung errichtet war. Bisher hatten die Lunauten ange nommen, der Boden der Riesenhöhle sei völlig eben. »Während Ira und Svanta das Objekt vermessen und fotografie ren, werden Fred und ich nachsehen, ob irgendein Eingang vor handen ist«, sagte Ben Darkens, als sie vor der langgestreckten Gebäudefront standen. Daß die selenidischen Wohnbauten keiner lei Fenster oder Lichtschächte besaßen, daran hatten sich die For scher inzwischen gewöhnt. Fred suchte in gebückter Stellung die dünne Staubschicht zu seinen Füßen nach Vertiefungen oder an deren markanten Stellen ab. Doch er konnte nichts feststellen. Die beiden Frauen hatten unterdessen die anstrengenden Ver messungen und fotografischen Arbeiten fast beendet. Erschöpft lehnten sie sich an die schmale Seitenwand, die dem Raketokopter zugekehrt war. Svanta mochte die wesentlich zierlichere Ira. Nur die Beweggründe ihrer Teilnahme an den gefährlichen Höhlen abenteuern konnte sie nicht begreifen. Vielleicht war die Ermitt lung von Ursachen für die Explosionskatastrophe doch nur ein Vorwand gewesen? Svanta glaubte bemerkt zu haben, daß Ira den Chefselenologen sympathisch fand. Deshalb klopfte sie ein wenig auf den Busch. »Wissen Sie, Ira, daß Ben Darkens große Stücke
auf Sie hält? Ich glaube, er mag Sie, und das will bei diesem Hage stolz etwas heißen.« »Ich habe ihn wirklich verkannt«, antwortete Ira vieldeutig. Sie könnten sich nicht weiter unterhalten, denn Ben Darkens, der sich mit Fred Wagner an der gegenüberliegenden Stirnseite des langen Quarzbaus befand, rief sie, nach dort zu kommen. An dieser Stirnseite schien der Eingang zu sein. Bei der genauen Untersuchung der Wände hatte Fred etwa in Augenhöhe vier ge nau untereinander angebrachte Löcher entdeckt. Daraufhin hatten sie die Wand an dieser Stelle Zentimeter um Zentimeter abge klopft und überprüft. Und tatsächlich zeichnete sich links von den Öffnungen mit einem feinen Spalt eine rechteckige Fläche von etwa einem Meter mal zweieinhalb Metern ab. Zweifellos eine Tür oder die Abdeckung eines Eingangs. Nun standen sie wie zu Be ginn der Expedition wieder vor der Frage, auf welche Weise sich die selenidischen Türen würden öffnen lassen. Mit mechanischen Kräften war da nichts zu machen. Verabredungsgemäß meldete sich erneut Ives Lorin und gab ei nen längeren Bericht. »Es ist eine gespenstische Fahrt«, sagte Mara, die das Steuer über nommen hatte, »überall die unzähligen, längst verlassenen Quarz pyramiden. Man wird den Gedanken nicht los, ob nicht im nächs ten Augenblick eine Schar von Seleniden plötzlich aus dem uner gründlichen Dunkel auftauchen könnte.« »Vorsicht!« rief Ives, als eines der langgestreckten quaderförmi gen Gebäude aus dem Boden wuchs und die Spur in einem spitzen Winkel nach links abbog. Sie hatten bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von zwanzig Kilometern je Stunde fast zwölf Kilometer zurückgelegt. Ein dünner Staubschleier, der durch die Raupenketten und die Fahrbewegung aufgewirbelt wurde, hüllte das Elektromobil ein.
Plötzlich bremste Mara scharf und hielt an. »Schauen Sie, Ives, hier endet die Spur an einer Pyramide«, stieß sie erregt hervor. »Hier muß sich etwas ereignet haben. Sehen Sie doch, Ives, dort neben der nächsten Pyramide liegt ein rechteckiger Gegenstand, der wie eine große Platte aussieht.« Vorsichtig fuhr sie an die Stelle heran. Ives ging auf das sonderbare Gebilde zu. Im weiten Um kreis waren Spuren und Abdrücke zu erkennen. Auch die recht eckige Platte hatte ihre Konturen mehrfach in der dünnen Staub schicht abgezeichnet. Die Doppelspur, die sie nun schon eine halbe Stunde verfolgten, führte tatsächlich nicht weiter. Die beiden fremden Kosmonauten hatten anscheinend von hier aus ihren beschwerlichen Fußmarsch angetreten. Ives betrachtete den Gegenstand von allen Seiten. Je länger er hinschaute, desto weniger konnte er sich des Eindruckes erwehren, daß da etwas auf der Seite lag, als wäre es umgekippt worden. »Mara, kommen Sie bitte her; ich brauche Ihren Rat. Aber bitte anseilen!« rief er. Kaum hatte ihn Mara erreicht und einen Blick auf den Boden geworfen, sagte sie auch schon impulsiv: »Ives, ich kann mir nicht helfen, aber was hier vor uns liegt, ist wahrscheinlich ein umge stürztes Fahrzeug. Die untereinanderhängenden Schalen mit den durchsichtigen Glocken sehen doch aus wie kleine Kabinen.« »Ja, das habe ich auch schon gedacht. Aber wie soll es sich be wegt haben? Keine Räder, keine Raupen, keine Düsen – einfach nichts!« Beide beugten sich über die etwa vierzig Zentimeter starke Plat te, die – das war deutlich zu erkennen, da sie mit der Schmalseite nach oben lag – aus mehreren wabenförmigen Schichten bestand. »Wenn sich jetzt noch irgendwo eine Turbine oder ein Gebläse findet, würde ich das Fahrzeug fast für ein Luftkissenboot halten«, bemerkte Mara, die über eine rege Phantasie verfügte. Etwas Derartiges war jedoch nirgends zu entdecken.
»Sehen Sie hier diesen Hebel«, sagte Ives plötzlich und umfaßte einen zylindrischen Stab, der zwischen den Kabinen aus der Bo denplatte ragte und durch den wulstigen Raumhandschuh fast völ lig verdeckt wurde. »Erinnert er nicht irgendwie an einen Steuer knüppel? Er läßt sich sogar bewegen!« »Ja, und eine der vielen Wabenschichten bewegt sich ebenfalls hin und her. Die offenen Rhomben werden mehr oder weniger überdeckt. Also mit einer Steuerung hat das bestimmt etwas zu tun!« Beide versuchten das rätselhafte Mobil aufzurichten, aber sosehr sie sich auch anstrengten, es gelang ihnen nicht. »Entweder geht es hier nicht mit rechten Dingen zu, oder es handelt sich um Schwermaterie.« Mara ächzte und gab auf. Beide atmeten schwer und schauten sich fragend an. »Und ich hatte schon geglaubt, wir könnten das Selenidengefährt einfach aufladen und mitnehmen«, sagte Ives schließlich. Mara lenkte das Gespräch wieder auf das eigentliche Ziel. »Nun wissen wir zwar, wo die Spur ihren Anfang nimmt, aber wo die beiden fremden Kosmonauten hergekommen sind, das wissen wir nun immer noch nicht.« »Sie sind zweifellos hierhergeflogen, wenn wir die Art der Fort bewegung einmal so nennen wollen«, erwiderte Ives. »Aber wo hat ihr Flug seinen Anfang genommen? Wer in dieser Höhle über ein Fortbewegungsmittel verfügt, der wird nicht freiwillig zwölf Kilo meter zu Fuß, noch dazu im Skaphander, zurücklegen. Ich nehme an, die beiden Kosmonauten haben hier ihre Fahrt unfreiwillig, vielleicht infolge einer Havarie, unterbrochen. Wenn man, vom Boden unabhängig, eine längere Strecke zu überwinden hat, wählt man allgemein die gerade Linie, also die kürzeste Verbindung. Ich möchte damit sagen, daß nach meiner Meinung Spurenrichtung und vorausgegangene Flugrichtung übereinstimmen. Was hielten Sie davon, wenn wir einfach nach dem Girokompaß unsere Fahrt fortsetzten? Treibstoff haben wir noch zur Genüge!«
»Ja, ich hätte nichts dagegen. Aber bitte sprechen Sie erst einmal mit Ben Darkens!« Ben Darkens hörte staunend zu. »Schade, den selenidischen Gleiter hätten wir uns gern angesehen«, sagte er dann, »laßt ihn liegen. Wir werden ihn später bergen. Ich bin einverstanden, daß ihr eure Fahrt fortsetzt. Vielleicht findet ihr die Spur wieder. Aber denkt bitte an die Reichweite der Schildkröte und gebt Zwischen berichte! Ende.« Sie fuhren weiter. Die Eintönigkeit der Umgebung, die Dunkel heit und ständige Spurenbeobachtung strengten ungemein an. Häufig wechselten sie das Steuer. »Sagen Sie, Mara, täusche ich mich, oder stehen die Kegelstümp fe jetzt weniger dicht zusammen?« fragte Ives in die lastende Stille. »Sie haben recht«, antwortete Mara, »aber sehen Sie doch die un gewöhnliche Zacke auf dem Radarschirm! Wir werden bestimmt in Kürze auf irgendeine Besonderheit stoßen!« Nach einigen Minuten erblickten sie den Grund für das sonder bare Radargramm. Eine gewaltige Säule versperrte den Weg. Ives bremste und richtete den Scheinwerfer nach oben. Das Bauwerk war höher, als der Lichtstrahl reichte. Vorsichtig verließ Ives das kleine Fahrzeug. Mara blieb am Steuer, falls sich etwas Unvorher gesehenes ereignen sollte, und fuhr langsam neben ihm her. Eigentlich handelte es sich um einen gigantischen Turm oder Rundbau, der sich oben in der undurchdringlichen Finsternis ver lor. Da waren auch wieder die Spuren, die um das Bauwerk herum führten, dessen Durchmesser Ives auf mindestens hundertfünfzig Meter schätzte. Plötzlich endeten die Fußabdrücke unmittelbar vor dem Gemäu er. Ives gab Mara ein Zeichen, das Fahrzeug zu verlassen. Gemein sam suchten sie nach einer Tür oder einer Öffnung und fanden endlich einen schmalen Spalt, der eine Fläche von etwa zwei Meter Seitenlänge begrenzte. Sie suchten weiter. Rings um den Rundbau waren viele solcher Quadrate auszumachen, auch solche von we sentlich größeren Abmessungen. Was bedeutete das? Die Stücke
zwischen den Spalten waren vermutlich Türen, die sich öffnen ließen, aber wie? Jedenfalls hatten die beiden Seleniden von hier aus ihren Fußmarsch angetreten. Oder sollten die Spuren doch noch weiterführen? »Kommen Sie, Mara! Wir wollen diesen riesigen Rundbau lang sam umfahren, damit wir ganz sicher sind, daß die Spuren tatsäch lich hier beginnen«, sagte Ives. Als sie im Elektromobil saßen, drückte er den Taster für den Fahrtschreiber, der die Richtung und die Entfernung, die das Fahrzeug zurücklegte, genau aufzeichnete. Als Kompaß diente ein Gravigirosystem, das ständig in Richtung Mond – Erde zeigte. Das Streckenbild der letzten Fahrt vom Rake tokopterlandeplatz hierher war äußerst wichtig, da mit dessen Hilfe eine genaue topographische Bestimmung des neuentdeckten Bau werkes möglich war. Die zurückgelegte Entfernung betrug acht undzwanzig Kilometer. Langsam setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. An keiner Stelle jedoch konnten die beiden aufmerksamen Beobachter die Spuren wiederentdecken. Nach etwa sechs Minuten hatten sie ihren Aus gangspunkt wieder erreicht. Die Länge des Kreisumfanges betrug mehr als fünfhundert Meter. Ein gigantisches Bauwerk, wenn man annahm, daß es bis zur Mondoberfläche reichte. Erneut standen sie an der Stelle, wo die Spur ihren Anfang nahm. Ives rüttelte vergeblich an dem Quaderstück. Mara, die sein Tun verfolgte, hatte plötzlich eine Idee. »Ives, ü berlegen Sie einmal mit! Die Anlage zeigt keinerlei Betätigungsme chanismen. Wäre es nicht möglich, daß die Öffnung über Bioinitia toren oder, was ich noch eher glaube, über Bioströme erfolgt?« »Das ist gar nicht so abwegig, Mara«, sagte er und legte ihr aner kennend seine unförmige Hand auf die Schulter. Mara war dicht an das Gebäude herangetreten. »Bioinitiatoren scheinen keine Bewegung auszulösen. Könnte ich mir auch nicht denken, die Schutzanzüge schirmen zu stark ab.« »Aber was meinten Sie mit Bioströmen, Mara? Sie sind doch Expertin für moderne Biotechnik. Was könnten wir tun?« fragte Ives.
»Ich möchte Ihnen jetzt keinen großen Vortrag halten. Der Rummel um Gedankenkräfte und um das, was damit zusammen hängt, ist natürlich Unsinn. Aber Bioströme, Hirnströme, sind ja real, und Ströme erzeugen Felder, und wechselnde Felder lassen sich empfangen und verstärken. Nur uns Menschen ist auf diesem Gebiet bis heute noch kein Durchbruch gelungen. Bioströme sind partielle Ionenströme, das kompliziert die Sache. Sollten die Selen iden diese Technik beherrscht haben? Ich kann es nicht glauben!« »Vorsicht!« rief Ives plötzlich und riß Mara zur Seite. Langsam hatte sich das große Quarzstück nach oben bewegt. »Es ist einfach unbegreiflich!« Ärgerlich stampfte Mara mit dem Fuß auf. »Vielleicht sind es Fotozellen, die auf unsere Helmleuch ten angesprochen haben? Nur gut, es wird noch genügend Zeit sein, die selenidische Technik zu untersuchen. Hauptsache, wir können in den Riesenturm hineinschauen!« Im Licht der Scheinwerfer des Elektromobils war hinter der gähnenden Öffnung ein leerer Raum auszumachen. »Ives, ich möchte Sie bitten, keinen Schritt weiterzugehen, vor allem, keinesfalls den Raum hinter der Eingangsöffnung zu betre ten. Wir haben schon genügend Tücken der selenidischen Technik kennengelernt.« Mit diesen Worten breitete Mara die Arme aus, um ihren Begleiter aufzuhalten. »Ja, Sie haben recht, lassen wir das. Doch schauen Sie einmal nach rechts und links, sehen Sie irgend etwas von Technik? Nichts, keine Gestänge, Gelenke oder sonstigen Mechanismen! Wer oder was betätigt diesen großen Quarzklotz? Anscheinend vereinigt diese fremde Technik, zumindest für unsere Begriffe, Uraltes und phantastisch Neues. Eine Ritterburg mit kybernetischen Türen… Doch was tun wir jetzt?« »Ich bin dafür, daß wir uns im Fahrzeug eine kurze Ruhepause gönnen«, antwortete Mara lakonisch. Im hermetisch abgeschlosse nen Elektromobil nahmen sie die Schutzhelme ab, schalteten die Atemluftregulierung ein und zündeten sich eine Zigarette an. Das war zwar grundsätzlich verboten, aber Ives murmelte etwas von
besonderen Umständen. »Den Neutronenschreiber haben wir ver geblich eingebaut«, stellte er fest und zeigte auf den leeren Streifen. Über Funk informierten sie Ben Darkens von ihrer erstaunlichen Entdeckung. Er legte ihnen nahe, vorsichtig zu sein und nach der Rast umgehend die Rückfahrt anzutreten. Mara und Ives setzten ihr Gespräch fort. »Wir haben gefunden, wo die Spur der beiden fremden Kosmonauten ihren Anfang ge nommen hat«, sagte Ives. »Es spricht sehr viel dafür, daß sie mit Hilfe dieses Quarzturmes von der Mondoberfläche nach hier un ten gekommen sind. Nehmen wir daher einmal an, das, was wir hier entdeckt haben, wäre ein riesiger Förderschacht. Vielleicht einer von vielen, die einstmals dazu dienten, die sublunare Zivilisa tionsstätte mit der Oberfläche zu verbinden. In dem riesigen Schacht sind vermutlich mehrere Personen- und Güteraufzüge untergebracht.« »Ja, das könnte zutreffen«, entgegnete Mara. »Was mich jedoch interessiert, ist die Frage, ob es wohl möglich ist, die Schachtöff nung, das Tor zur Unterwelt, auf der Mondoberfläche zu finden. Selbst wenn die letzten Seleniden den Eingang zerstört hätten, müßte er sich doch von der Umgebung unterscheiden, vorausge setzt, daß der Schacht tatsächlich bis zur Mondoberfläche reicht.« Wenig später drehten sie noch eine Abschiedsrunde um den »an tiken Lift«, dann fuhren sie, ihrer eigenen Spur folgend, den Weg zurück, zurück durch den gespenstischen Wald von Quarzpyrami den. Nach fünfzehn Minuten Fahrt übernahm Ives das Steuer. »Ich muß immer wieder daran denken, wie sich eine der Türen ohne unser Zutun plötzlich öffnete«, sagte Mara unvermittelt. »Dieses Tatsache hat mich erneut über das Problem der unmittel baren psychophysischen Energietransformation Überlegungen anstellen lassen. Sollte vielleicht jene fremde Zivilisation diesen möglichen, für uns Menschen noch völlig unvorstellbaren Um wandlungsprozeß beherrscht haben?«
»Mara, ich muß Ihnen ehrlich gestehen, ich habe zwar von dieser Energietransformation schon gehört, kann mir aber kein rechtes Bild davon machen. Also bitte, lassen Sie hören!« »Ja«, begann Mara, die sich freute, in Ives einen interessierten Zuhörer gefunden zu haben, »die psychophysische Energietrans formation ist tatsächlich noch umstritten. Aber Sie wissen ja, ich habe eine Vorliebe für solche Probleme. Das Nachdenken darüber bedeutet für mich einen Exkurs in ein Gebiet jenseits der Logik, Exaktheit und Ratio, zu denen ich schließlich reumütig und gern wieder zurückkehre. Ich bin fest davon überzeugt, daß in diesem umstrittenen Wandlungsprozeß beachtliche Reserven für die For cierung des technischen Fortschritts liegen. Genau wie Energie ist Bewußtsein eine andere, man könnte sagen, höhere Erscheinungs form der Materie. Das Problem liegt nur darin, daß uns die unmit telbaren Umwandlungsprozesse von Materie in Energie, das heißt Prozesse ohne Wandlungsträger, verhältnismäßig geläufig sind, während sich die uns bekannte Umwandlung von Materie oder Energie in Bewußtsein nur in den Gehirnen von Lebewesen voll zieht.« Ives hatte mehrmals schmunzelnd genickt. Er vergaß dabei aber nicht, die Umgebung genau zu beobachten und die Fahrtroute einzuhalten. Zuzuhören und der Spur zu folgen war gar nicht so einfach. Trotzdem, es machte ihm Spaß, Gesprächspartner von Mara zu sein, die nicht umsonst von ihren Fachkollegen scherzhaft »Ketzerin« genannt wurde. »Die psychophysische Energietransformation«, fuhr Mara unbe irrt fort, »befaßt sich mit der möglichen, aber direkten Einfluß nahme des Bewußtseins auf Energie und Materie. Wir haben uns daran gewöhnt, daß in unserer materiellen Welt alle Bewegungen, Kräfte und deren Wirkungen nach bestimmten physikalischen Gesetzen ablaufen. Dabei hat das Bewußtsein nur eine wahrneh mende, erkennende Funktion. Wir wissen andererseits, daß die Welt voller Energie ist, die aber nur zu einem verschwindend ge ringen Teil genutzt wird. Diese Nutzung erstreckt sich wiederum ausschließlich auf Materie-Energie-Relationen. Und damit sind wir
beim Wesen der psychophysischen Energietransformation, näm lich Bewußtsein unmittelbar energieumwandelnd wirken zu lassen. Jedes Individuum ist mit Hilfe der Materiefunktion Bewußtsein in der Lage, beliebige Kraft- und Bewegungsabläufe zu erzwingen oder Materie zu aktivieren. Jedoch mit der wesentlichen Ein schränkung, daß dieses Erzwingen nur mittelbar, mit Hilfe oder innerhalb von Materie, die organisches Leben darstellt, möglich ist. Wir kennen nur organisches Leben. Ich glaube aber, dieser Begriff muß universeller gesehen werden. Das Problem des Lebens wird so lange nicht gelöst werden können, wie es nicht gelingt, Quan tenprinzip und Relativitätsprinzip zu vereinigen. Denken Sie an Dirac und Schrödinger, Wissenschaftler des vorigen Jahrhunderts, die versucht haben, erste Brücken zu schlagen! Wir sind bis heute noch nicht viel weitergekommen. Es gilt noch immer, eine umfassende Theorie zu finden, die Quanten- und Re lativitätsprinzip umschließt und die es ermöglicht, die Verhältnisse exakt zu bestimmen, unter denen die Unterscheidung zwischen einem Teilchen, einem Korpuskel, einer Welle und einem Feld ihren Sinn verliert… He, Ives, haben Sie mir denn überhaupt zu gehört?« »Ich versuche Ihren Gedankengängen zu folgen. Sie halten es al so nicht für ausgeschlossen, daß die Seleniden aufgrund eines we sentlich höheren Erkenntnisstandes in der Lage waren, mit Hilfe des Bewußtseins Energie umzuwandeln und Kräfte gezielt wirken zu lassen. So weit, so gut, aber wenn schon kein organisches Leben – ein psychophysischer Adapter, Wandler oder Verstärker ist doch dazu erforderlich?« »Ganz richtig. Und damit sind wir genau an der Stelle, wo unser Wissen endet. Wie könnte ein solcher Wandler aussehen? Noch wissen wir es nicht. Doch denken Sie bitte einmal an die uner schöpfliche Welt der Mikroorganismen an der Grenze zwischen der sogenannten belebten und der unbelebten Natur. Die Masse solch einer Mikrobe liegt genau in der Mitte zwischen dem Proto nengewicht und der kritischen Masse. Viren haben eine Größe, die auffällig gleich der zur kritischen Masse gehörenden Ausdehnung
von dreihundert Millimikrometern ist. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?« »Ich bemühe mich jedenfalls«, erwiderte Ives ausweichend, dann wies er erleichtert nach vorn. In der unergründlichen Dunkelheit waren bereits die grellen Lichtbündel der Scheinwerfer des Rake tokopters zu sehen. Ives drosselte die Geschwindigkeit und fuhr in einem großen Bogen auf das Rechteckgebäude zu, vor dem die vier Wissenschaftler standen. Ben Darkens atmete auf, als er die beiden »Fernfahrer« gesund und wohlbehalten vor sich sah. »Im Gegensatz zu euch haben wir wenig, ja nichts erreicht«, sagte er, nachdem Ives berichtet hatte. »Mich beunruhigt die Skizze jenes Seleniden auf der Edelmetall platte von Tag zu Tag mehr. Dieses Gebäude hier muß ein wesent liches Geheimnis bergen. Wie sonst hätte der sterbende Extrater rist in seinen letzten Minuten an nichts anderes gedacht. Wir wer den keine langen Versuche mehr unternehmen. Wenn sich morgen nicht schnell eine Lösung ergibt, wird der ›Laserschlüssel‹ ange setzt. Wir müssen das Rätsel um dieses Quadergebäude lösen!«
Kühne Hypothesen Mondkurator Pawel Rinald, Kamatu Orina und Urs Jassman, die drei Wissenschaftler, die mit ihren Funden die Fachwelt in Atem hielten, hatten sich unterdessen von Sydney wieder nach Stock holm begeben. Die gründliche Untersuchung der Skelette, der Be kleidung und der Ausrüstungsgegenstände der Seleniden würde sicher noch Wochen und Monate in Anspruch nehmen. Sie waren nur so lange in Sydney geblieben, bis die Altersbestimmung der gefundenen Knochenreste erfolgt war. Man hatte anfangs Zweifel, ob die Radiokohlenstoffmethode, die von irdischen Voraussetzun gen ausging, bei den fremden Kosmonauten angewendet werden könne. Doch es blieb keine andere Wahl. Als Mittelwert aus zehn Messungen ergab sich für die außerirdischen Raumfahrer ein Alter von etwa eintausend Jahren. Damit stand fest, daß diese beiden Extraterristen die tief unter der Oberfläche des Mondes verborge ne Stadt betreten hatten, als man auf der Erde im zwölften Jahr hundert lebte. Was war das für eine Zeit? Beginnendes Mittelalter, historisch gesehen. Was wußte man noch aus dieser Zeit? Feudalismus, große Namen und blutige Kriege! Aber zwischen diesen Ereignissen und der möglichen Landung eines fremden Raumschiffes auf dem Mond gab es keine Zusammenhänge. Vielleicht hatte es jemand gesehen, aber niedergeschrieben oder festgehalten hatte es nie mand. Trotzdem, die Erde war groß, man würde nachforschen müssen. Für den Flug von Sydney nach Stockholm hatten sie einen Stra tosphärengleiter mit Ionentriebwerken benutzt. Diese Flugappara te waren im Zeitalter der Flüge mit bemannten Raketen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden. Es handelte sich weder um Flugzeuge im konventionellen Sinne noch um Raketen. Diese Flugkörper stiegen als Senkrechtstarter bis in den Raum außerhalb der Erdatmosphäre auf und ließen sich dann auf die Lufthülle fal len, prallten dort wieder ab und kamen zurück, so daß eine wellen
förmige Bewegung auf der Außenseite der Erdatmosphäre ent stand. Da sie sich vorwiegend im luftleeren Raum vollzog, konnte eine Geschwindigkeit von sechs Mach erreicht werden. So wurde für die Strecke Sydney – Stockholm nur eine Flugzeit von zweiein halb Stunden benötigt. Pawel Rinald kannte Stockholm aus seiner Studienzeit. Obwohl das alte Stockholm nur noch das Zentrum einer riesigen modernen Satellitenstadt war, konnte er gegenüber seinen beiden Begleitern noch recht gut den Fremdenführer spielen. Als sie am nächsten Morgen vom Institutsdirektor begrüßt wur den, merkten sie bald, daß bei der Entzifferung der Metallplatte keinerlei Fortschritte erzielt worden waren, obwohl man fast die gesamte Kapazität der großen Forschungseinrichtung für die Ent rätselung der seltsamen Kurvenschrift eingesetzt hatte. Warum gab es trotz eines Aufgebotes modernster Sprach- und Schriftcomputer keine Ergebnisse? Der Direktor Dr. Ekman ver suchte, dies den drei enttäuschten Besuchern zu erläutern. »Sehen Sie, die großen Schriftdeuter im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wie Champollion, Grotefend, Rawlinson und Hrozny nutzten bei allen spezifischen Schwierigkeiten den Vorteil, daß es sich um Schriften und Sprachen aus der Frühzeit irdischer Völker schaften handelte, daß durch Ausgrabungen historische Begeben heiten bekannt geworden waren, die Anhaltspunkte lieferten. Manchmal gab es auch noch idealere Hilfsmittel. So lag Champol lion, dem Übersetzer der ägyptischen Hieroglyphen, eine wörtliche Übertragung einer Inschrift in griechisch vor. Sie wissen, daß die gesamte neue Technik, die wir einsetzen, im Endeffekt vom Wissen und Erkenntnisvermögen der sie bedie nenden Menschen abhängt. Die Kurvenzeichen sind von unseren kybernetischen Anlagen nach allen Seiten hin untersucht worden, nach der Unterschiedlichkeit der Bogenzüge, nach dem Ähnlich keitsspektrum… Viele Schriftexperten versuchen überdies, die Aufgabe individuell zu lösen. Ihr Vorbild ist Hrozny, der Überset zer des Hethitischen. Er hat die unbekannten Texte oft dreihun
dert- bis vierhundertmal gelesen, um Zusammenhänge zu finden, was ihm auch gelungen ist. Aber ihm halfen dabei bestimmte his torische Vorstellungen. Wie dem auch sei, wir werden mit aller Intensität weiterarbeiten. Ich möchte Sie bitten, uns jede Kleinig keit, die Sie bei den weiteren Forschungsarbeiten auf dem Mond entdecken und die irgendwie etwas mit der Schriftentzifferung zu tun haben könnte, sofort mitzuteilen. Übrigens ist das Material der Schriftplatte tatsächlich Platin.« Man verabschiedete sich, und Pawel Rinald flog mit seinen bei den Begleitern am Abend weiter nach Paris, um möglichst noch die nächste Kurierrakete nach Lunapol zu erreichen. Doch starker Nebel verzögerte das Landemanöver, und so trafen sie mit zwei Stunden Verspätung in Orly ein. Der nächste Flug zum Mond würde erst in vier Tagen stattfinden. Da Orina und Jassman Paris gern kennenlernen wollten, hatte Rinald nichts dagegen, daß man die Zeit bis zum nächsten Start in der Seinemetropole verbrachte. Die Stadt war in vieler Hinsicht interessant. In den letzten vierzig Jahren hatte sie sich zur modernsten Großsiedlung des europäi schen Staatenbundes entwickelt. Von den Alpträumen futuristi scher Städteplaner war nichts übriggeblieben! Der Tourist suchte vergebens nach Wolkenkratzern und Hoch häusern, die noch vor einem knappen Jahrhundert die Menschen, die darin wohnen und leben mußten, wie Ameisen erscheinen lie ßen. Die These von dem viel zu kleinen Erdball, die zu der An sicht führte, den Menschen könne geholfen werden, wenn sie zu Zehntausenden in Stein gewordenen Termitenhügeln wohnen würden, war längst ad absurdum geführt worden. Das alte Paris mit seinen weltbekannten Sehenswürdigkeiten war umfassend und auf sehr kostspielige Art saniert worden. Durch sichtige Plastüberzüge, die Farben und architektonische Details voll zur Wirkung kommen ließen, schützten die kostbaren Fassa den der Bauwerke vor zerstörenden Umwelteinflüssen.
Die neuen Peripheriestädte, die sich nach Norden und Süden hin auf beiden Ufern der Seine erstreckten, waren nach dem Inselprin zip errichtet worden. Die Maximalhöhe aller Bauten betrug dreißig Meter. Die vieleckigen und sich nach oben terrassenförmig verjün genden Gebäudekomplexe, die ihren Bewohnern den Eindruck individueller Wohngegebenheiten vermittelten, lagen wie weiße Inseln in den sie weiträumig umgebenden, parkartigen Grünanla gen. Die Hauptverkehrsstraßen tangierten diese Wohnzentren nur. Aber was in der ganzen Welt als nachahmenswerter Fortschritt bezeichnet wurde, das war das strikte Benutzungsverbot jeglicher Fahrzeuge mit Benzin- oder Dieselmotoren auf den innerstädti schen und stadtnahen Autobahnen. Magnetische Unterflurfelder in Verbindung mit Linearmotoren, batteriegespeiste Elektromotoren und Elektrogirosysteme dienten nun als Antrieb. Und was zuerst niemand für möglich gehalten hatte: Der Verkehr rollte reibungslos. Die anfänglichen Schwierig keiten beim Verlassen der Wanderfeldrouten, beim Batterieaus tausch und beim Hochtouren der Omnibuskreisel waren schnell überwunden worden. Geräuschlos und umweltfreundlich huschten die großen und kleinen Fahrzeuge vorüber. Pawel Rinald dachte schon seit der Landung in Orly darüber nach, ob er die verfügbare Zeit nicht dazu nutzen sollte, seinen alten Freund und Studienkollegen Frederic Montez nach vielen Jahren wieder einmal aufzusuchen; vorausgesetzt, daß dieser über haupt noch in Paris wohnte und daß es ihm gelänge, den Gelehr ten ausfindig zu machen. Nach dem gemeinsamen Studium an der Moskauer Lomonos sow-Universität hatten sich ihre Wege getrennt. Während er eine langjährige Kosmonautenausbildung absolvierte, hatte sich Frede ric für eine Tätigkeit als Lehrer an der Sorbonne entschieden. Die Verbindung zwischen ihnen wurde immer spärlicher und brach schließlich ganz ab. Pawel Rinald wußte nur, daß sich der Freund vor sieben oder acht Jahren zu privaten Studien zurückgezogen hatte.
Nach mehreren Telefongesprächen war es ihm tatsächlich gelun gen, die Adresse von Montez herauszufinden. Am späten Nach mittag klingelte er an der Gartenpforte eines Hauses in der Rue du Matin. Nachdem die beiden Freunde bei einem Glas Wein und einer gu ten Zigarre des langen und breiten erörtert hatten, wie es ihnen ergangen war, kamen sie auf Rinalds Kuratortätigkeit zu sprechen und nicht zuletzt auch auf die sensationellen Entdeckungen der letzten Wochen. Pawel teilte Frederic auch die allerletzten Ergeb nisse mit und stellte dann die Fragen: »Wie ich weiß, hast du dich jahrelang mit dem Leben im Kosmos und seinen Erscheinungs formen beschäftigt. Welche Erklärung hast du für das Auftauchen der fremden Kosmonauten vor fast tausend Jahren, und wie denkst du über die Obeliskenstadt tief unter der Mondoberfläche?« »Ja, mein lieber Pawel«, Montez zündete sich erneut bedächtig eine fast pechschwarze Brasil an, »hierüber Vermutungen oder Meinungen zu äußern, bringt einem leicht den Ruf eines Phantas ten ein oder, schlimmer noch, den eines Besserwissers. Also behal te das, was ich dir jetzt sage, bitte für dich! Die Quarzstadt und die Kosmonauten gehören vermutlich zusammen. Das wiederum be deutet, daß die von euch gefundenen Sternenfahrer von irgendwo her zurückgekehrte Seleniden sein müssen. Offene Fragen: Bis wann haben sie auf dem Mond gewohnt, warum haben sie ihn schließlich verlassen und wo haben sie sich bis vor etwa tausend Jahren aufgehalten? Ich bin seit Jahren, entgegen den meisten wissenschaftlichen Hypothesen, der Ansicht, daß der Mond noch gar nicht so lange, wohlgemerkt nach kosmischen Zeitmaßen gerechnet, ein Begleiter der Erde ist. Er muß also früher ein selbständiger Planet gewesen sein. Daß dem so sein könnte, beweisen uralte Überlieferungen, die von einer mondlosen Zeit sprechen. Diese mondlose Zeit muß im Bereich der letzten hunderttausend Jahre liegen. Vor unserem derzeitigen Mond und der mondlosen Zeit gab es den sogenannten Tertiärmond, einen Kleintrabanten, der in prähistorischer Zeit nach maximaler Annäherung auf die Erde herabgestürzt ist.
Das kurz zu dieser Theorie; aber ich hatte dich ja gewarnt! Trotzdem will ich fortfahren. Es kann also angenommen werden, daß der Planet Mond bis zum Eintritt einer Katastrophe, die mit seinem Einfangen durch die Erde vermutlich ihr Ende fand, von hochintelligenten, menschenähnlichen Wesen bewohnt war. Wann werden sie ihren Heimatplaneten verlassen haben? Da ei nige von ihnen bis in die Neuzeit überlebt haben, müssen sie ihn logischerweise vor der Katastrophe verlassen haben, also bereits in jenem Zeitraum, der etwa hunderttausend Jahre vor unserer Zeit rechnung liegt. Du hast mir erzählt, daß die von euch gefundenen Seleniden eine Körpergröße von höchstens einem Meter hatten, also recht kleine Menschen gewesen sein müssen. Was hältst du davon, wenn wir einmal annehmen, daß sie damals zur Erde ge flüchtet sind? Wohin würdest du fliegen, vorausgesetzt, du wärst technisch dazu in der Lage, wenn du die Wahl hättest zwischen Venus, Erde oder Mars? Für eine hochentwickelte Eiweißlebens form bietet zweifellos die Erde die günstigsten Bedingungen. Setzen wir einmal voraus, die Seleniden hätten sich unsere Erde als Zufluchtsort auserwählt zu einer Zeit, da unsere Vorfahren noch als Neandertaler ein Hordenleben führten. Entsprechend den Bedingungen auf ihrem früheren Planeten werden sie für den Fortbestand ihrer Gattung eine entsprechende Region unserer Erde ausgewählt haben – wo, weiß ich nicht… Da die von euch entdeckte Stadt tief unter der Mondoberfläche liegt, müssen es Lebewesen der Dunkelheit und der Tiefe gewesen sein. Ob zwischen ihnen und den Menschen der Erde jemals Kon takte bestanden haben, ist fraglich. Sicher scheint aber, daß die irdischen Lebensbedingungen, der andere atmosphärische Druck und die größere Anziehungskraft auf den Fortbestand der Selen iden sehr negativ eingewirkt haben, so daß sie sich beispielsweise nicht vermehrt haben. Eins könnte man, ohne voreingenommen zu sein, noch dazu an führen: Zu den alten Überlieferungen gehört zweifellos auch die Kunde von kleinen Menschen, die tief unten in Bergen und Höh
len wohnen, die sich unsichtbar machen können, über große Schätze verfügen, gegenüber den Menschen sehr scheu sind und die Dunkelheit bevorzugen. Lieber Freund, ich könnte die Pseudoargumentation noch fort setzen. Die Hypothese wird dadurch jedoch nicht glaubhafter. Doch spinnen wir den phantastischen Faden schnell zu Ende! Die Anzahl der auf der Erde lebenden Seleniden wurde immer gerin ger. Vielleicht waren es zuletzt nur noch hundert oder gar nur noch ein Dutzend. Sicher war ihre Medizin so weit entwickelt, daß sie ihren Lebenszyklus maximal verlängert haben. Nehmen wir nun schließlich noch an, daß die von euch aufgefundenen Relikte die sterblichen Überreste der zwei letzten Seleniden sind. Nach ihnen ist niemand mehr gekommen. Ihren Flugkörper, der sie von der Erde zum Mond gebracht hat, habt ihr noch nicht gefunden. Was auf der Metallplatte geschrieben steht, ist für jene gedacht, die technisch einmal so fortgeschritten sind, daß sie die letzten Zeugen einer fremden Zivilisation auffinden können.« Während dieser unglaublichen Geschichte hatte sich das kleine Zimmer mit dem Rauch etlicher Zigarren gefüllt. Pawel Rinald sann den Worten seines Freundes nach; ihm war, als hätte jemand aus einer uralten Sage vorgelesen. Danach sprachen sie nicht mehr viel. Rinald war froh, daß er den Weg zu Montez gefunden hatte. Bei seiner Verabschiedung ver sprach er dem Gelehrten, ihn auf dem laufenden zu halten. Auf dem Heimweg bewunderte er die Kombinationsgabe dieses Wissenschaftlers, der ihm in wenigen Stunden eine phantastische, aber dennoch glaubhafte Hypothese entwickelt hatte. Es dauerte lange, bis der Mondkurator an diesem Abend ein schlafen konnte. Ben Darkens und seine Mitarbeiter waren mit dem Ergebnis des letzten Abstieges in die Höhlenstadt unzufrieden. Das Eindringen
in den Flachbau bereitete doch größere Schwierigkeiten, als sie ursprünglich angenommen hatten. Nachdem sich die sechs Lunauten erfrischt und umgezogen hat ten, trafen sie sich in einem der komfortabel ausgestatteten Re konditionierungsräume von Lunapol, um im zwanglosen Gespräch den bisherigen Ablauf ihres Unternehmens zu analysieren. Ben Darkens war eigentlich kein Freund von solcher Gesellig keit, und seine Stimmung besserte sich erst, als ihm ein Kurier vom Lunadrom die sorgfältig verpackten Kugeln aus dem Raum anzug des Seleniden übergab. Ira Beaux saß ihm gegenüber. Es ließ sich nicht vermeiden, daß sein Blick, mehr als notwendig, ihr Ge sicht streifte. »Wißt ihr«, begann er die Unterhaltung, »wir sollten uns überle gen, ob es nicht zweckmäßig wäre, in der Nähe des Landeplatzes eine feste Unterkunft für uns zu errichten. Ab- und Aufstieg kos ten uns viel Zeit. Ich denke, ihr habt nichts dagegen, wenn ich Uwe Girnt beauftrage, das Erforderliche einzuleiten. Das vorweg. Doch nun zu dem Flachbau. Welche Vorstellungen habt ihr von dem weiteren Vorgehen?« »Wenn ihr meine Meinung hören wollt«, sagte Ives, »dann gehö ren die vier farbigen Kugeln und die vier Löcher, die ihr in dem Flachbau entdeckt habt, zusammen. Der Bau muß wirklich etwas Wichtiges bewahren. Ich nehme daher an, die vier Kugeln, die nicht jedem Seleniden zugänglich waren, sind ganz einfach der Schlüssel dazu. Darum gehörten sie auch zu den wenigen Habse ligkeiten, die bei den Mumien gefunden wurden.« Ben Darkens nickte beifällig. »Ich glaube, Ives, du bist auf dem richtigen Wege! Oder was meint ihr?« »Laßt mich bitte auch einmal zu Wort kommen«, sagte Ira be dächtig. »Wie wir weiter vorgehen? Wir lassen die Kugeln in die Öffnungen fallen, und zwar in der Reihenfolge der Farben des Spektrums: Rot, Gelb, Grün und Blau. Es wird sich dann sehr schnell zeigen, ob sie irgend etwas auslösen. Dann, so würde ich empfehlen, machen wir einen weiteren Versuch mit Bioströmen.
Wenn auch das nicht hilft, dann würde ich, so wie es Ben Darkens schon zum Ausdruck brachte, dafür plädieren, daß wir mit Laser brennern eindringen.« Auch Svanta wollte noch etwas sagen. »Ich habe gründlich über die Skizze des einen Seleniden nachgedacht. Es gibt eigentlich nur zwei Auslegungen. Entweder er hat damit ein weit zurückliegendes Ereignis dargestellt, dann sind die Zeichnungen von rechts nach links zu betrachten, und das rechte Bild zeigt den Mond während der prähistorischen Katastrophe – oder aber, die Skizzen gelten von links nach rechts, dann wollte er für den Mond und damit für uns eine gefährliche Zukunft andeuten. Ich kann mir nicht helfen, mir ist etwas unheimlich bei dem Gedanken, daß uns jemand vor fast tausend Jahren auf eine naheliegende Katastrophe aufmerksam macht.« »Svanta hat völlig recht«, sagte Fred. »Wenn einer von uns bei ei nem Unternehmen lebensgefährlich verunglückt und noch Zeit hat, Notizen zu hinterlassen, wird er bestimmt auf vorhandene Gefahren hinweisen, die seinen Tod überdauern.« »Wenn ich eure Meinung also kurz zusammenfasse«, resümierte Ben, »dann hat jener Selenid in seinen letzten Minuten auf der Metallplatte eine künftige Mondkatastrophe dargestellt und ange deutet, daß wir in dem bezeichneten Flachbau Näheres darüber erfahren werden. Wenn es sich wirklich so verhält, ist dies ein Grund mehr, unser morgiges Expeditionsziel um jeden Preis zu erreichen. Ich denke, damit sollten wir den Tag beenden. Also – auf morgen!« Nach zwölf Stunden war es wieder soweit. Als die Gruppe end lich im Raketokopter saß und dieser Meter um Meter in die Tiefe sank, ließ Ben die oft erwähnten Kugeln von Hand zu Hand ge hen. Eigentlich waren sie nichts Besonderes. Farbige, große Ku geln, wie sie Kinder zum Spielen benutzen. Fred, der immer zu einem Scherz aufgelegt war, konnte es nicht unterlassen, eine der Kugeln in die Nähe des Rohrgestells seines
Sessels zu bringen, und war erstaunt über die enorme Kraft, die er aufbringen mußte, um die Kugel an der Stelle zu halten. Als man in die Nähe des Anomaliebereiches kam, kontrollierte Fred routinemäßig die Instrumente. Ben wollte eben die Schubdü sen einschalten, da rief Fred: »Halt! Ihr werdet es kaum glauben, aber das Gegenfeld ist verschwunden. Was soll nun das wieder bedeuten? Es schien mir beim letzten Abstieg schon schwächer als sonst. Werden wir das Rätsel dieser Anomalie jemals lösen?« Die anderen zuckten ratlos die Schultern. Nach reichlich einer Stunde, die allen wie eine Ewigkeit vorge kommen war, setzte der Flugkörper sicher auf, und der kurze Weg zu dem Rechteckbau, der bis jetzt jedem Öffnungsversuch getrotzt hatte, begann. Genau von der Mitte der. Stirnseite des Gebäudes ausgehend, entfernte Ives mit dem Implorator etwa zehn Meter nach jeder Seite die dünne Staubschicht, aber es zeigten sich nicht die Überraschungen wie an den Oktaederhäusern. »Kommt«, rief Ben, »wir wollen das Experiment mit den Kugeln beginnen!« Gespannt scharten sie sich um den Expeditionsleiter. Die rote Kugel rollte nach hinten und verschwand, auch bei der gelben gab es keine Schwierigkeiten. Und schließlich waren auch die restlichen zwei den Bahnen, die irgendwohin führten, gefolgt. Aber nichts geschah! Ben schlug unbeherrscht mit der Faust an die Quarzwand. Weder sprang die Tür, die als schmaler Spalt zu er kennen war, auf, noch bewegte sich ein anderes Stück. Nichts! Die Enttäuschung war verständlicherweise groß. Es vergingen Minuten. Da! Er wollte seinen Augen nicht trauen, aus den vier Öffnungen, in denen die Kugeln verschwunden waren, schoben sich Sensoren – kleine Antennen, winzig, wie feine Filigranarbeit, aber dennoch sichtbar. »Freunde«, rief er überlaut, obwohl ihn alle über den Helmsender deutlich verstehen konnten, »wir sind der Lösung des Rätsels end lich ein Stück näher!«
»Das schon«, sagte Ira, »aber es fehlt uns noch der Algorithmus für die Speisung dieser kybernetischen Anlage, die vermutlich durch die eingeworfenen Kugeln erst betriebsbereit geworden ist.« Ives ging ganz nahe an die Sensoren heran. Er hatte inzwischen seine eigenen Betrachtungen angestellt. Durch Zufall waren Mara und er beim Untersuchen der überdimensionalen Fahrstuhlanlage auf den Auslösemechanismus durch Bioströme gestoßen. Viel leicht funktionierte diese hier ähnlich. Schon einige Minuten stand er vor den spinnenartigen Antennen. Ganz fest und deutlich stellte er sich vor, wie die rechts daneben befindliche, durch einen kaum sichtbaren Spalt getrennte Wandpartie sich plötzlich hob und nach oben wegklappte. Und da geschah es! Das von dem Spalt eingerahmte Stück Quarzmaterial bewegte sich langsam nach oben und gab Zentime ter um Zentimeter den Blick ins Innere des Bauwerkes frei. Die Erstarrung der Wissenschaftler löste sich. »Halt!« rief Ben, »bevor wir in das Gebäude eindringen, müssen wir die Tür sicher abstützen, damit nichts Unvorhergesehenes pas sieren kann! Ives und Fred, holt bitte vom Raketokopter die Stahl stützen.« Im Licht der Helmleuchten und Scheinwerfer bot sich den Bli cken der erwartungsvollen Selenologen zunächst nichts Außerge wöhnliches dar. Der lange, schmale Gang, der vor ihnen lag, war leer. Nach beiden Seiten führten mehrere halbrunde, türartige Öffnungen. Ives und Fred hatten unterdessen das Stück Quarzwand, das ih nen den Eintritt in das Bauwerk ermöglichte, nach ihrer Meinung gut und sicher abgestützt. Mit größter Vorsicht, jeder mit dem anderen durch eine Sicherheitsschnur verbunden, traten sie in das offene Gebäude ein. Der Blick nach rechts und links durch die flachen Torbogen zeigte ihnen, daß der Quarzbau, über dessen eigentlichen Verwendungszweck niemand eine richtige Vorstellung hatte, auf beiden Seiten bis zur Decke mit großen zylindrischen Behältern angefüllt war. Also doch ein Magazin.
In gebückter Haltung durchschritt Ben als erster den viel zu niedrigen Torbogen. Beinahe wäre er gestolpert. Vielleicht hatte er auch nicht direkt unter sich gesehen, oder der tote Winkel der Helmleuchte war daran schuld. Genau in der halbrunden Öffnung befand sich eine halbmeterhohe Stufe oder Schwelle. Er mußte sich mit den Händen darauf abstützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Da bewegte sich die Schwelle geringfügig. Durch einen kräftigen Stoß mit dem schweren Raumhandschuh konnte er den Klotz um einige Zentimeter verschieben. Als er näher hinsah, glänzte es metallisch. Waren da nicht scharnierartige Erhöhungen? Er tastete die ihm abgewandte Seite ab und fühlte einen Riegel oder Verschluß. Sollte er über eine ganz simple Kiste gestolpert sein? Die anderen, die sich hinter ihm befanden, wun derten sich, daß es nicht weiterging. Hatte Ben sich vielleicht ver letzt? Doch schon war seine Stimme im Helmlautsprecher zu hören. »Ives und Fred, faßt bitte mal mit an. Genau vor mir in dem Durchgang scheint eine altmodische Truhe mit metallischen Be schlägen zu stehen! Weiß der Teufel, wie die hierherkommt! Mal sehen, ob wir sie öffnen können.« Jetzt kam Bewegung in die Gruppe. Ben entriegelte den Schub verschluß, Ives und Fred versuchten den überstehenden Deckel anzuheben. Aber vergebens. Erst als Svanta ihnen ein pickelartiges Werkzeug zum Unterklemmen gereicht hatte, ließ sich das Ober teil plötzlich hochklappen. Die Truhe entpuppte sich als ein mo derner Metallbehälter mit Dichtrahmen, der bis zum Rand mit grauschimmernden Kästchen angefüllt war. Als Ben eines davon herausnahm, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Die grauen Vierecke, die von oben wie Kästchen ausgesehen hatten, waren Bücher, Folianten mit dünnen Blättern aus Metall. Hastig hob er das Metallbuch in Augenhöhe und blätterte wahl los darin. Da rief er auch schon, und seine Stimme überschlug sich förmlich dabei: »Freunde, seht selbst, wir haben ein Wörterbuch gefunden! Das hier sind Bilinguen, die die Seleniden hinterlassen haben! Wörterbücher mit den fremden Kurvenzeichen und
daneben Erläuterungen in griechischer Schrift altertümlicher Schreibweise.« Damit hielt er seinen Freunden die offenen Seiten hin. Fred griff sofort zu, und Ben entnahm dem Metallbehälter weitere Bände. Das war ein Ereignis, über dessen Tragweite sich die Wissenschaftler erst klar zu werden versuchten. An der gegenüberliegenden Türöffnung stand ebenfalls so ein Metallbehälter. Mit einiger Anstrengung gelang es den Männern auch dort, die sonderbare Bibliothek zu öffnen, diese war mit den gleichen metallischen Folianten angefüllt. Ives hatte kaum ein paar Seiten überflogen, als er, ganz entgegen seiner Gewohnheit, laut und impulsiv rief: »Es ist kaum zu glauben! In diesem Behälter befindet sich eine weitere Bilingue! Diesmal sind die Erläuterungen in Latein.« Nachdem sich die verständliche Aufregung der letzten halben Stunde etwas gelegt hatte, sichteten sie das übrige gestapelte Mate rial. Das Bauwerk war tatsächlich eine Art Magazin, denn außer dem schmalen Gang, der sich von der einen Stirnseite schnurgera de durch das gesamte Gebäude erstreckte, waren in den abgeteilten Räumen bis zur Decke diese etwa einen Meter langen, zylindri schen Rollen fein säuberlich gestapelt. »So«, brach Ben das längere Schweigen, »nachdem wir in diesem Quarzbau zwar die beiden geradezu phantastisch anmutenden Bilinguen gefunden haben, ansonsten aber nur die einheitlichen Rollen hier zu Tausenden gestapelt sind, sollten wir nachsehen, was sie eigentlich enthalten. Vielleicht sind sie leer, oder es gibt womöglich zwischen ihnen und den Metallbüchern einen Zusam menhang!« Die Spannung des kleinen Kollektivs wuchs erneut. Fred ent nahm kurzerhand dem nächst liegenden Stapel eines der vielen Behältnisse. Er konstatierte: »Länge etwa einen Meter, Durchmes ser ungefähr zehn Zentimeter, äußerlich weiche Plasthülle ver schließt festeren Inhalt, vermutlich luftdicht, Gewicht nach Emp finden, ohne Umrechnung etwa fünf Kilogramm. Soll ich jetzt die Röhre öffnen?«
»Ja, aber mit größter Vorsicht!« sagte Ben und reichte ihm sein Kappmesser. Ives schnitt behutsam die obere Stirnfläche der Rolle ab. Gespannte Gesichter! In einer besonderen Schutzhülle steckten übereinandergeschichtet etwa fünf Millimeter breite Bandrollen. Fred hatte schon das Wort »Tonbänder« auf den Lippen, da sah er, daß diese Bänder zum Unterschied von dem, was er vermutete, aus dünnem, glasklarem Material bestanden. »Ich möchte anneh men, es handelt sich um Informationsträger; aber nach welchem Prinzip sie aufgebracht sind, kann ich hier nicht ermitteln.« Er hatte den Inhalt der Rolle herausgenommen und vor sich auf den Boden gestellt. »In einem solchen Zylinder sind genau zweihundert der glasklaren Bänder enthalten. Wenn die Informationsdichte etwa der eines Tonbandes entspricht, ist das hier ein ungeheurer Fund!« Mara Bhali, die schnell noch einmal die einzelnen Stapel men genmäßig überschlagen und die Breite der Einzelräume gemessen hatte, kam zurück und ergänzte: »In dem gesamten Flachbau be finden sich schätzungsweise dreihunderttausend dieser plastum hüllten Wissensrollen. Vorausgesetzt, Fred hat recht mit seiner Vermutung.« »Ich denke«, unterbrach Ben erneut das Schweigen, das durch diesen letzten, alle Vorstellungen übersteigenden Fund entstanden war, »wir beginnen damit, diese Rollen, die vermutlich für die Be reicherung des Wissens der Menschheit von unschätzbarem Wert sein werden, nach oben zu transportieren. Es wird notwendig sein, hierfür größere Aufzüge einzurichten, denn für unseren Kopterlift allein würde der Transport der schätzungsweise dreihunderttau send Rollen mindestens achthundert Fahrten bedeuten. Zuerst schaffen wir die beiden Metallkisten mit den Bilinguen in den Ra ketokopter, dann holt jeder noch vier Rollen!« Die Seilmannschaft war zunächst erstaunt, als der Befehl zum Hochholen schon so früh kam. Doch als ihnen Ben Darkens den Grund dafür nannte, wurden auch sie von Begeisterung ergriffen.
Die Stunden wollten gar nicht vergehen, bis sie mit ihrer wertvol len Ladung endlich die Mondoberfläche erreichten. An diesem Tag mochte niemand die Quartiere aufsuchen. Die Freude über die wichtigen Funde und die Gewißheit, nun endlich die Kurvenschrift der Seleniden übersetzen zu können, ließen kei nen der sechs Wissenschaftler an Ruhe und Schlaf denken. »Ich kann euch ja nur zu gut verstehen«, sagte Ben Darkens zu dem kleinen Kollektiv, »aber für heute ist Schluß. Ich will ganz schnell versuchen, ob ich noch Verbindung mit dem Kurator auf der Erde bekomme. Wenn ich mich nicht irre, hatte er vier Tage Aufenthalt. Er soll mit den Wörterbüchern, die wir ihm umgehend überbringen müssen, nach Stockholm reisen und unbedingt die Übersetzung des Textes auf der Metallplatte abwarten.« »Ira«, wandte er sich an die Astronomin, und es war mehr eine Bitte als eine Frage, »würden Sie den wichtigen Transport der Funde zur Erde übernehmen? Ich werde versuchen, für morgen eine Kurierrakete zu bekommen. Doch jetzt muß ich schnell zur Laserstation!« Ohne die Antwort von Ira Beaux abzuwarten, sprang er in das bereitstehende Lumobil und jagte davon. Unterwegs bereute er schon, daß er gerade Ira für den Flug zur Erde ausgewählt hatte. Sie würde ihm fehlen. Doch er wollte ihr eine Freude machen, er wollte ihr den Triumph gönnen, der Menschheit diesen wichtigen Fund zu überbringen. Oder? Wollte er Ira in Sicherheit wissen, wenn sie in den nächsten Tagen die Höhlendecke untersuchten, um die von Nik Sullikow angedeutete Quelle der radioaktiven Strahlung ausfindig zu machen? Er würde sie auf alle Fälle bitten, so lange auf der Erde zu bleiben, bis die Informationsrollen unter sucht oder gar übersetzt waren.
Bedrohliche Botschaft Pawel Rinald saß im Flughafenrestaurant von Orlanda. Er war bester Laune, nachdem man ihm den Laserfunkspruch von Ben Darkens übermittelt hatte. Endlich würde es wieder vorwärtsge hen! Zulange schon wartete er auf die Übersetzung der Zeichen auf der Platinplatte. Dieses tatenlose Zusehen war überhaupt nicht nach seinem Geschmack. Der Mondkurator sah auf seine Uhr. In knapp zehn Minuten würde Ira Beaux mit dem Spezialjet, der die ständige Verbindung mit dem Lunadrom in der Nähe von Lenin grad und dem Flugplatz von Stockholm herstellte, hier eintreffen. Er freute sich auf das Wiedersehen mit der eigenwilligen Frau, die er erst vor wenigen Wochen näher kennengelernt hatte. Soeben wurde die einfliegende Maschine in den Lautsprechern angesagt. Ira Beaux erkannte aus knapp achthundert Meter Höhe deutlich das Stadtbild des alten Stockholm. Sie liebte alte Städte, die nicht ausschließlich nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit und der Kosteneinsparung gebaut waren und noch einen Hauch von Ro mantik besaßen. In den letzten Stunden war sie kaum zur Besin nung gekommen. War sie überhaupt noch dieselbe wie vor einigen Wochen? Was war aus ihrem geordneten Mondarbeitstag gewor den, den sie so gut mit wissenschaftlicher Arbeit auszufüllen wuß te? Seit sie sich der Expeditionsgruppe angeschlossen hatte, war einiges in ihrem Leben anders geworden. Möglicherweise spielte dabei eine Rolle, daß sie jetzt nicht mehr selbst ein Kollektiv leite te, sondern einfach dazugehörte. Aber es war noch mehr, was sie bewegte, worüber sie sich jetzt noch keine Rechenschaft ablegen wollte. Vielleicht hatte sie während des Aufenthaltes auf der Erde mehr Zeit, über sich selbst und die Zukunft ein wenig nachzudenken. In den letzten zehn Jahren, sie empfand das jetzt erst richtig, war sie trotz der rastlosen Forschungstätigkeit und der beglückenden Nä he von Sol Mento einsam geblieben. Dennoch, sie war fest davon überzeugt gewesen, daß sie Sol Mentos Tod nie verwinden würde.
Sie dachte immer wieder an den Toten, sie dachte aber auch an Ben Darkens. Sol Mento und Ben Darkens – zwei grundverschie dene Menschen. Den einen hatte sie geliebt. In ihrer Hilflosigkeit und Trauer war der andere zur Zielscheibe ihrer Abneigung ge worden. Geradezu verbissen hatte sie sich von ihren Gefühlen leiten lassen und in ihm den Schuldigen für den Unfall gesucht. Und gerade dieser Mann, der nicht wenig Grund gehabt hätte, sie zurechtzuweisen, brachte ihr Verständnis entgegen. Ja, wenn sie ganz ehrlich war, dann freute sie sich zwar auf die kommenden Tage, die ihr alle Annehmlichkeiten der Zivilisation boten. Wie schön war es, mal wieder mit offenem Haar, mit Rock und Bluse und nackten Beinen in der Sonne laufen zu können! Aber sie hatte auch große Sehnsucht, wieder zurückzukehren, um Ben Darkens nahe zu sein. Das ein wenig zu harte Aufsetzen der Maschine rief Ira Beaux in die Wirklichkeit zurück. Als sie die Gangway hinunterschritt, sah sie am Eingang zur Empfangshalle Pawel Rinald stehen. Sie fand es sehr aufmerksam, daß er sie direkt am Rollfeld erwartete. Die Begrüßung war herzlich und die Freude auf beiden Seiten echt. Während Ira noch neben dem geräuschlosen Transportband stand, um ihr Handgepäck in Empfang zu nehmen, brachten vier Flugplatzangestellte die beiden Kisten mit den Bilinguen und den Rollen. Ira war froh, daß der erste Teil ihrer Mission damit beendet war. Sie hatte das wichtige Material dem Mondkurator ordnungsgemäß übergeben. Am nächsten Morgen trafen sich Ira Beaux und Pawel Rinald pünktlich vor dem kybernetisch-linguistischen Institut in der Kungsgatan. Direktor Ekman, den der Kurator am Vorabend noch kurz über den Fund der Bilinguen informiert hatte, erschien mit seinen Mitarbeitern zur Begrüßung und Übernahme der Me tallfolianten. Immer wieder mußte Ira Beaux von ihren Abenteu ern in der Obeliskenstadt berichten.
Während Ekmans Mitarbeiter die Behälter mit der außerirdi schen »Bibliothek« sorgsam ins Innere des Institutes transportier ten, um sofort mit der Auswertung zu beginnen, erläuterte der Direktor den beiden Selenologen den Stand der bisherigen Arbei ten. »Leider sind wir mit der Entzifferung der Platinplatte noch nicht viel weitergekommen. Die selenidische Kurvenschrift läßt sich einfach nicht in menschliche Zeichenalgorithmen einordnen. Wir besitzen vom gesamten Schriftmaterial der Menschheit einschließ lich ältester Überlieferungen genaue Analysen. Die Schriftdeu tungs- und -translationscomputer sind so programmiert, daß es normalerweise nur eine Frage der Zeit ist, wann eine Übersetzung gelingt. Nicht so bei der von Ihnen gefundenen Nachricht. Diese Kurvenschrift muß Kriterien aufweisen, die in unseren Program men nicht enthalten sind. Nun, ich hoffe, daß wir uns nach Auf findung der neuen Materialien nicht mehr über diese Schwierigkei ten zu unterhalten brauchen.« »Wann, glauben Sie, können wir frühestens mit dem Ergebnis rechnen?« fragte Pawel Rinald. »Ich schätze, daß selbst im günstigsten Fall mit etwa einer Wo che zu rechnen ist. Meine Mitarbeiter sind zwar von ihrer Aufgabe begeistert und werden rund um die Uhr arbeiten, aber ein wenig werden Sie sich gedulden müssen. Doch für heute haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich mir erlaube, Ihnen einige Computerräu me und Labors unseres Institutes zu zeigen.« Als sie am frühen Nachmittag mit Dr. Ekman bei einer Tasse Kaffee zusammensaßen, wies Ira Beaux noch einmal darauf hin, daß sie hinter dem Text und den Skizzen auf der Platinplatte eine für die Erde und die, menschliche Zivilisation äußerst wichtige Nachricht, wenn nicht sogar eine Warnung vor einer Gefahr, ver mute. »Ich bin weder abergläubisch noch ein Pessimist, aber ich komme von dem Gedanken nicht los, daß wir alle recht bald ein beunruhigendes Vermächtnis erfahren werden. Sicher, wir weni gen, die wir die prähistorische Riesensiedlung der uns unbekannten
Wesen gesehen haben, stehen vielleicht zu sehr unter dem Ein druck des Außergewöhnlichen. Was meinen Sie dazu, Herr Doktor Ekman?« Der vorsichtige und sehr sachliche Gelehrte konnte Ira nicht beipflichten. »Mademoiselle Beaux, warum sollte die letzte Nach richt eines Außerirdischen unbedingt einen gefährlichen Inhalt haben? Das klingt ja nach utopischen Romanen. Zweifellos enthält sie einen wichtigen Hinweis, davon bin auch ich überzeugt. Doch ich denke, daß wir in wenigen Tagen mehr wissen.« Obwohl Bilinguen mit zwei bekannten Sprachen vorlagen, berei tete die Übersetzung der Kurvenschrift viel mehr Schwierigkeiten, als die Spezialisten in Stockholm vermutet hatten. Als Ira Beaux und Pawel Rinald, die schon zweimal von Ben Darkens angerufen worden waren, am vierten Tag nach der Über gabe der Metallfolianten wieder im Institut vorsprachen, erfuhren sie zu ihrer Enttäuschung, daß die Übersetzung noch immer keine Fortschritte gemacht habe, weil die selenidischen Zeichen oder »Oszillogramme«, wie sie von den Sprachexperten genannt wur den, Merkmale einer dreidimensionalen Schrift zeigten, was die Übertragung beträchtlich erschwerte. Der sterbende Selenid hatte anscheinend nicht mehr die Kraft besessen, die dritte Dimension, die Schreibtiefe, ordentlich auszuführen. Inzwischen war schon mehr als eine Woche vergangen. Die Ge duld der beiden Wissenschaftler und der vielen anderen Lunauten, die auf dem Mond das Ergebnis genauso gespannt erwarteten, wurde auf eine harte Probe gestellt. Die untätige Wartezeit nutzten der Kurator und seine Begleite rin, indem sie die Rollenbehälter, die Ira außer den Bilinguen mit gebracht hatte, persönlich nach Moskau brachten. Das dort be findliche Institut für extraterrestrische Kommunikation wurde von Akademiemitglied Gennadi Prokow, einem guten Bekannten Pa wel Rinalds, geleitet. Dort war die Freude groß, denn die soge nannten Wissensrollen waren die ersten Untersuchungsobjekte
einer außerirdischen Zivilisation. Endlich konnte einmal praktisch gearbeitet werden. Das war eine historische Stunde! Ira Beaux und Pawel Rinald waren schon wieder drei Tage aus Moskau zurück, da erreichte sie in der Nacht, es mochte gegen vier Uhr früh sein, ein Anruf von Dr. Ekman. Die Übersetzung der Platinplatte sei geglückt, teilte er im Zustand höchster Erregung mit. Sie möchten sofort kommen. Als sie im Institut eintrafen, zeigte Dr. Ekman, der gar nichts mehr von dem ruhigen, sachli chen Gelehrten an sich hatte, wortlos auf ein großes Blatt Papier, das auf seinem Schreibtisch lag. Pawel Rinald las den Text vor, und seine Stimme zitterte ein we nig: Ich bin Eliu, der letzte Selenid. Da ich spüre, daß mein Leben nur noch von ganz kurzer Dauer sein wird und meine Gefährtin Peria schon gestorben ist, kann ich meinen Auftrag, eine große Gefahr von der Menschheit abzuwenden, nicht mehr ausführen. Unser kleines Raumschiff, mit dem wir im Jahre 1124 irdischer Zeitrechnung in der Kratersenke des großen Tores gelandet sind, fliegt allein weiter, bis es in der Sonne verglüht, damit der unbehütete Korpuskula rantrieb hier keinen Schaden anrichtet. Ich muß mich beeilen, mein Leben, das ich schon viermal verlängert habe, ist gleich abgelaufen. Alles Wissenswerte über unser kleines Volk ist in dem nahe gelegenen Zweckbau, den meine Skizze zeigt, festgehalten. Aber über das, was die Erde bedroht, ist dort nichts zu finden. Also vernehmt: Energiebasis der selenidischen Technik waren die Kräfte, die entstehen, wenn Materie und Antimaterie miteinander reagieren. Die Bewohner des blauen Planeten wissen mit diesen Energien noch nichts anzufangen. Bei unserem Auszug zur Erde sind die Vorräte an Antimaterie auf dem Sopri, wie der Erdmond in unserer Sprache heißt, zurückgeblieben. Die Lagerstätten befinden sich tief unter der Mondoberfläche und sind mit allen nur erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen ausgestattet. Seit grauer Vor zeit sind diese Anlagen im Abstand von jeweils hundert Erdenjahren von selenidischen Technikern kontrolliert worden, und dabei wurde die neutralisie rende Schutzgashülle regeneriert. Peria und ich haben dies schon zweimal ganz allein tun müssen, weil wir die letzten unseres Volkes sind. Nun sterben auch wir! Die absolute Sicherheitsspanne für die Anlage beträgt neun- bis zehnmal hundert Erdenjahre, dann ist die Amphotronenschicht unwirksam, und die
Antimaterie reagiert mit den Elementen der Umgebung. Die Menge, die wir dort eingelagert haben, reicht aus, um den Mond in eine neue Sonne zu ver wandeln. Die Antimaterielagerstätten befinden sich genau dort, wo… Hier hatte den Schreiber der Tod ereilt. Der Selenid hatte der Menschheit nicht mehr mitteilen können, wie und wo diese über mächtige Gefahr zu beseitigen war. Der Mondkurator schaute auf Dr. Ekman und dann zu Ira. Es herrschte minutenlanges Schweigen. Was da auf dem Papier stand, übertraf die pessimistischsten Erwartungen. »Eins ist sicher«, sagte Pawel Rinald schließlich, »jetzt gibt es für das gesamte Lunautenkollektiv in und um Lunapol nur eine Auf gabe, die Antimaterielagerstätten zu finden. Die gesamte irdische Wissenschaft und Technik müssen dabei mithelfen. Die von Eliu genannte absolute Sicherheitsspanne ist praktisch um. Eine Voll versammlung der Weltföderation muß einberufen werden. Ich werde so bald wie möglich nach Lunapol starten. Ben Darkens und seine Mitarbeiter werde ich noch heute informieren. Ira, Sie möchte ich bitten, noch so lange in Moskau zu bleiben, bis es dort gelungen ist, den Wissensrollen Informationen zu entnehmen. Es ist eine vage Hoffnung, aber vielleicht erfahren wir doch etwas über den Ort der Lagerstätten. Benachrichtigen Sie mich bitte täg lich über den Stand der Dinge!« Damit verabschiedete er sich. Er wußte, welche Verantwortung seit wenigen Minuten auf ihm laste te. Die Bevollmächtigten der Weltföderation hatten sich nach einer kurzen, aber äußerst heftigen Debatte dafür entschieden, die Über setzung des Textes auf der Platinplatte der letzten Seleniden allen Menschen bekanntzumachen. Allerdings konnte sich kaum je mand, der nicht mit eigenen Augen jene »andere Welt« der unzäh ligen Quarzbauten und die Zeugen einer weit vorauseilenden Technik gesehen hatte, vorstellen, daß die Menschheit des einund zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrer fortschrittlichen Gesellschafts ordnung durch außerirdische Relikte aus der Zeit des Mittelalters bedroht wurde.
Um hohen Einsatz Während bereits in den letzten Jahren der Mond und insbesondere Lunapol als ideale Basis für astronomische Beobachtungen von einem großen Teil der Menschheit für wichtig und notwendig er achtet wurden, hatte der Bau des Quecksilberrotationsteleskops weltweites Interesse erweckt. In dem Maße, wie sich auf der Erde die gesellschaftlichen Verhältnisse verbesserten, weitete sich der Blick und vertiefte sich das Verständnis der Menschen für Wissen schaft und Fortschritt. Viele Jahrzehnte hindurch bestand nicht zu Unrecht die Mei nung, daß es noch genug Probleme auf der Erde zu lösen gäbe, ehe man sich so intensiv fremden Welten und der kosmischen Ferne zuwenden sollte. Ein Beweis mehr, wie das individuelle Be wußtsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt und beeinflußt wird. Doch durch die Ereignisse der letzten Wochen war eine ganz andere Situation entstanden. Die außerirdische Botschaft, das dro hende Vermächtnis der Platinplatte, hatte nichts mit grauer Theo rie von Experten zu tun. Jetzt ging es um die Beseitigung einer Gefahr, deren verderbenbringende Auswirkungen der Menschheit nun bekannt waren. So wuchs Lunapol ständig. Es war der Sammelplatz, das Zent rum des wissenschaftlichen Potentials, das bereitstand, die Menschheit und ihre Errungenschaften zu schützen. Hauptperson bei all diesen Vorbereitungen war der Mondkurator Pawel Rinald. Dieser Wettlauf mit der Zeit zu einem Ziel, das er nicht kannte, belastete ihn. Trotzdem, noch hatte er die Situation fest im Griff. Die sich überschlagenden Ereignisse erforderten seine ganze Per sönlichkeit. Aber trotz aller Hektik tat es gut, überall gebraucht zu werden, unentbehrlich zu sein. Seinen unmittelbaren Mitarbeiter stab hatte er wesentlich vergrößert. Alle Forschungsvorhaben, die
nichts mit der Suche nach den Antimaterielagerstätten zu tun hat ten, wurden unterbrochen. Wie konnten größere Mengen von Antimaterie überhaupt aus gemacht werden? Erfahrungen darüber lagen nicht vor. Um wel ches Antielement handelte es sich? Fragen über Fragen, die nicht zu beantworten waren; dennoch mußte schnell und zielstrebig gehandelt werden. Größere Mengen von Antimaterie würden zweifellos eine meßbare Antischwerkraft erzeugen, Antigravitonen ausstrahlen. Das war zumindest ein Ansatzpunkt! Pawel Rinald hatte der Sonderkommission der Weltföderation zwei Vorschläge gemacht. Der eine betraf die genaue Sondierung der sublunaren Riesenhöhle, der andere den verstärkten Einsatz der als Rastersonden bezeichneten Nahsatelliten zur radiologi schen Vervollständigung der bereits vorliegenden genauen Mond meßtischblätter. Die Anzahl dieser vollautomatischen Kleinstsput niks war sofort verdreifacht worden. Trotzdem konnte nichts Be sonderes festgestellt werden. Doch! Da lag ja noch die etwas undurchsichtige Meldung von Juri Zolak auf Rinalds Schreibtisch. »Mit Rastersonde acht, im Gebiet Tycho zwölf/zweiundvierzig gravitationsloses Gebiet fest gestellt, das sich als mondstaubfreie Zone identifizieren läßt«, lau tete die Nachricht. Er mußte sofort hin. Ein Kopfschütteln, das man selbst noch durch das reflektierende Oval der Schutzhelmsichtscheibe erkennen konnte, war die erste Reaktion des Mondkurators, nachdem er die vom Mondstaub ge radezu blankgefegte Fläche des Mondbodens längere Zeit in Au genschein genommen hatte. Wie war das Phänomen entstanden? Trotz der nun schon seit mehr als zehn Tagen währenden Antima teriesuchkampagne mußte man kühl und sachlich bleiben. Er ging noch einmal einige Schritte bis zu der Stelle zurück, die schon vorhin seine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte. Es handelte sich um jene Randzone, wo nur noch ganz wenig Ge röllstücke auf dem felsigen Untergrund lagen. Pawel Rinald winkte seinen langjährigen Assistenten Klaus Lorm zu sich, der an einer
anderen Stelle den Mondboden untersuchte. »Sehen Sie«, sagte er zu dem Herankommenden und zeigte dabei mit seinem unförmi gen Raumhandschuh auf die charakteristischen Markierungen in der Staubschicht, »hier, würde ich sagen, kann man mit Sicherheit erkennen, daß die freie Fläche durch irgendeine Einwirkung, wohlgemerkt, von oben kommend, entstanden ist. Ich habe hierfür zwar noch keine Erklärung. Aber zu welchen Überlegungen sind Sie inzwischen gekommen?« »Ich muß ehrlich zugeben, daß ich noch immer vor einem Rätsel stehe. Doch Sie haben recht! Hier sieht man deutlich strahlenför mig verlaufende Furchen, die sich, schwächer werdend, schließlich im Staub verlieren. Mein erster, mehr logischer Eindruck war, es handele sich ganz einfach um die Folgeerscheinungen eines größe ren und außergewöhnlichen Meteoritenaufpralls.« Lorm machte eine Pause, schaute sich um und fuhr dann fort: »Ich bin bestimmt nicht abergläubisch, aber es schien mir symptomatisch, daß gerade in dem Augenblick, als ich diese Betrachtung anstellte, in meiner unmittelbaren Nähe ein zentimetergroßes Himmelsgeschoß im Mondstaub aufschlug. Ich konnte mich also sofort gründlich von den tatsächlichen Verhältnissen beim Aufprall überzeugen. Es besteht nicht die geringste Ähnlichkeit. Jene Erscheinung ist völlig neu und zunächst ohne Beispiel. Ich neige nicht dazu, nun sämtli che auftretenden Mondanomalien gleich mit den Antimaterielager stätten in Verbindung zu bringen, bitte aber zu bedenken, daß bei allen Erscheinungen und Phänomenen nunmehr nachweislich ver nunftbegabtes, fremdes Leben mitgewirkt haben kann. Die Situati on wird dadurch noch komplizierter.« Während des Gespräches befanden sich die beiden Wissen schaftler auf einer kleinen Ebene unweit des Ringwalles jenes klei nen Kraters, der im Verzeichnis der inzwischen angefertigten sele nologischen Erschließungskarten unter der Nummer Tycho zwölf/zweiundvierzig registriert war. »Ja, die Situation ist mehr als kompliziert«, bestätigte Pawel Ri nald. »Es können natürliche Einflüsse einschließlich unbekannter Anomalien sein, es können aber auch künstliche Einflüsse sein,
dazu gehören die Ausstrahlung der Antimaterie, die Landung und der Start von Selenidenraumschiffen. Aber bevor wir etwas einlei ten, müssen wir völlig klarsehen. Die Menschheit würde uns mit Recht verurteilen, würden wir kostbare Zeit mit einer falschen Hypothese vergeuden. Sie verstehen mich?« Unterdessen hatte sich den beiden ein dritter Lunaut genähert, der mit bedächtigen Schritten einen großen Kreis um die fragliche Fläche beschrieben hatte. Es war Juri Zolak, der Leiter jenes radio logischen Meßtrupps, der die mondstaubfreie Zone entdeckt und dem Mondkurator die kurze Information gegeben hatte. Pawel Rinald wandte sich an den ihm gut bekannten tschechi schen Radiologen und fragte: »Ist der Kreis geometrisch exakt, und haben Sie seine Größe ermittelt?« Nachdem Juri Zolak den Mondkurator und dessen Begleiter be grüßt hatte, antwortete er: »Ja, soweit ich festgestellt habe, ist die Fläche genau kreisförmig. Leider erstreckt sich ein größerer Ab schnitt in das kleine, stark zerklüftete Ringgebirge der Zwölf/zweiundvierzig hinein, so daß ich den Umfang nicht ganz ablaufen konnte und ein Stück schätzen mußte. Aus den fast sech zehnhundert Metern ergibt sich ein Durchmesser von fünfhundert Metern. Sobald der Meßtrupp eingetroffen ist, werden wir den Mittelpunktbereich, genau untersuchen.« »Gut, Juri!« unterbrach Pawel Rinald den kurzen Bericht. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir das Auffinden dieser wirklich sonderbaren Kreisfläche genau schildern würden. Sie wissen, was Ihre Entdeckung für uns und die Welt bedeuten kann. Doch keh ren wir für die weitere Unterhaltung in unser Fahrzeug zurück und machen eine kurze Pause. Man muß sich immer wieder neu an das Tragen des Raumanzuges gewöhnen.« Mit den letzten Worten schlug er bereits die Richtung zu dem etwa hundert Meter entfernt abgestellten Mobus ein. Diese großen Elektromobile wurden seit Jahren bei der Über windung kürzerer Strecken der Mondoberfläche mit Erfolg einge setzt. Es waren geräumige Bodenfahrzeuge mit großflächigen Pan
zerglassichtscheiben nach allen Seiten und sehr breiten Luftkissen rädern. Die Klimaanlage im Inneren des Gefährtes erlaubte den Insassen, die Schutzhelme abzunehmen und den hermetisch ab dichtenden Raumanzug zu öffnen. Klaus Lorm und Juri Zolak wußten, daß der Mondkurator jetzt als erstes eine der unvermeidlichen Zigarren anzünden würde. Ei ne der Gesundheit absolut nicht dienliche Angewohnheit, die der zwar schon bejahrte, aber noch erstaunlich vitale Wissenschaftler auch in den vielen Jahren seiner Tätigkeit auf dem Erdtrabanten nicht abgelegt hatte. Er wußte, daß er damit gegen geltende Vor schriften verstieß, aber seine Mitarbeiter bewahrten darüber strengstes Stillschweigen. »Ja, viel ist eigentlich nicht zu berichten«, begann Juri Zolak mit seinen Ausführungen. »Die Rastersondenmessungen sind ja schon einige Wochen vor der Katastrophe im Krater Zeta aufgenommen worden. Ich glaube, daß die bisherige sinnvolle Beschränkung des Untersuchungsumfanges auf Infrarotstrahlen, Gravitonenstrahlen, Gammastrahlen und Fremdstrahlen völlig ausreicht. Mit Hilfe des überlagerten Oberflächenbildes ist die Auffindung eines bestimm ten Strahlungsquellenbereiches topographisch relativ einfach. Nun zur Feststellung – Entdeckung wäre übertrieben – der kreisrunden Anomalie im Tycho zwölf/zweiundvierzig. Es war ganz einfach so, daß wir beim Ablaufenlassen der Registrierbänder eine Lücke in der normalen fortlaufenden Gravitationsaufzeichnung bemerk ten. Ich muß hier einflechten, daß eine Aufzeichnung von Anti gravitation nicht möglich ist. Und das seltsame war, daß diese Lü cke in der Strahlungsmessung mit dem sichtbaren Fleck auf den parallel dazu aufgenommenen Reihenbildern der Mondoberfläche übereinstimmte. Deshalb haben wir den Vorfall sofort gemeldet.« »In Ordnung, Juri«, sagte Pawel Rinald. Dann wandte er sich an Lorm. »Bitte, Klaus, geben Sie doch schnell durch, daß Ben Dar kens mit dem Meßtrupp hierherkommen soll.« Juri Zolak räusperte sich einigemal, aber mehr aus Verlegenheit als wegen des dichten Zigarrenrauches. »Gestatten Sie mir bitte
noch einige Bemerkungen«, kam es ihm dann fast stockend über die Lippen. »Ich werde immer unsicherer, ob wir die hypotheti schen Antimaterielagerstätten tatsächlich über nachzuweisende Antigravitationsstrahlen ermitteln können. Wie gesagt, das ist nur meine ganz persönliche Meinung. Aber schon der Größenordnung nach dürfte die Rechnung nicht aufgehen. Welche ungeheure Mas se an Minusmaterie müßten jene Seleniden in der Tiefe des Mon des gehortet haben, daß deren Gravitonenausstrahlung die Stärke des Erdtrabantenfeldes erreicht? Verstehen Sie, was ich meine? Wir wissen ja viel zuwenig über das tatsächliche Verhalten dieser Materieart! Es gibt zwar viele Theorien darüber, aber kaum disku table Meßergebnisse. Ich kann mir einfach nicht denken, daß eine Antischwerkraftwirkung, selbst wenn einige zehntausend Tonnen dieser Substanz existieren sollten, überhaupt wahrnehmbar ist.« »Aber Juri«, erwiderte der Kurator betroffen, »haben Sie einen besseren Vorschlag? Menschenskind, was sollen wir denn tun? Es gibt noch keine praktisch bestätigte Gravitationstheorie für den Mond. Vielleicht hängen die meisten der bisher festgestellten A nomalien doch irgendwie mit dem früheren Wirken der Seleniden zusammen. Ich will ja nicht bestreiten, daß Sie mit Ihren Bedenken an eine wunde Stelle unseres Vorhabens gerührt haben. Doch, wie dem auch sei, das von Ihnen entdeckte Novum muß auf alle Fälle gründlich untersucht werden, und zwar ohne den geringsten Zeit verlust.« Er machte eine Pause und ließ den Blick über die bizarre und dennoch tote Landschaft schweifen. Da bewegte sich doch etwas in der Ferne? »Ich glaube, die Staubfahne am Horizont stammt von den Fahrzeugen Ihrer Meßkolonne, Juri!« stellte er erleichtert fest. »Wir wollen die Kollegen gleich draußen empfangen.« Damit stülpte er sich nach einem letzten genießerischen Zug an der Zi garre den Schutzhelm auf und begab sich, gefolgt von seinen bei den Begleitern, ins Freie. Trotz der vielen natürlichen Hindernisse, mit denen die große Kraterebene bis zum Horizont übersät war, rollten die Mobusse wie sagenhafte Geschöpfe einer anderen Welt mit unverminderter
Geschwindigkeit heran. Der Mondstaub sprühte wie schwache Wasserfontänen rechts und links zur Seite. Durch Handzeichen stoppte Pawel Rinald die Kolonne weit vor der kritischen Gravito nenzone. Schnell sprangen die in leuchtende Skaphander gehüllten Mitar beiter der Spezialistengruppe heraus und machten sich sofort an den mitgebrachten Geräten zu schaffen. Pawel Rinald konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrü cken, als er jetzt den Chefselenologen Ben Darkens mit ungelen ken, aber geübten großen Schritten auf sich zukommen sah. »Die Sondenbilder haben uns ein unlösbares Rätsel aufgegeben. Hier, der große Kreis vor uns, der wie mit einem Besen vom Mondstaub blankgefegt scheint, ist eine schwerefreie Zone oder sogar eine Antigravitationszone. Wir wollen abwarten, was die Untersuchungen ergeben. Ich rechne auf Ihr sachkundiges Urteil!« begrüßte er den vor ihm Stehenden. Ben Darkens überblickte prüfend die sonderbare Umgebung. Dann beobachtete er das weitere Vorgehen des Meßtrupps. Dieser hatte das Gebiet übersichtlich abgesteckt und genau vermessen. Dabei gab es gleich erste Differenzen zu den Rasteraufnahmen. Die Sonden hatten als schwereloses Gebiet nur einen Kreis von etwa dreihundert Meter Durchmesser registriert, während inzwi schen eine staubfreie Fläche von fünfhundert Meter Durchmesser abgesteckt worden war. Pawel Rinald teilte die verfügbare Mannschaft in zwei einander gegenüberstehende Gruppen ein, die sich vorsichtig dem »magi schen Kreis« näherten. Wie immer bei solch gefährlichen Exkursi onen waren alle Teilnehmer durch eine Sicherheitsleine verbunden. In diesem speziellen Fall waren die Enden der Seile jeder Gruppe mit den außerhalb der kritischen Gravitationszone abgestellten schweren Fahrzeugen verknüpft. Bei den vielen physikalischen Besonderheiten, ja Tücken des Erdtrabanten war bei jedem neuen Unternehmen größte Vorsicht geboten. Nach den ersten zurückge legten Metern zeigten die mitgeführten, äußerst empfindlichen
Gravitationsmeßgeräte nun doch eine ganz schwache, aber den noch wahrnehmbare Antischwerkraftstrahlung unter einem Winkel von etwa einem Grad an, die sich bei fortschreitender Annäherung zusehends verstärkte und deren Abstrahlwinkel allmählich größer wurde. Nach ungefähr fünfzig Metern stoppten beide Kolonnen. Es mußte nach den bisher vorliegenden Ermittlungen damit gerechnet werden, daß im Zentrum der Fläche ganz beachtliche Antigravita tionskräfte vorhanden waren. Über Sprechfunk gab Pawel Rinald die nächste Annäherungs etappe frei. Dann wandte er sich wieder an den Chefselenologen. »Mich interessieren im Augenblick die entscheidenden Fragen, ob wir tatsächlich die Antimaterielagerstätten gefunden haben und ob wir umgehend mit den Erschließungsarbeiten beginnen sollen. Der gute Juri Zolak hat mich da etwas unsicher gemacht. Doch zuvor, was gibt es Neues in der Höhlenstadt?« Ben Darkens fühlte, daß der Mondkurator seine ganze Hilfe brauchte. Die Verantwortung, die jener jetzt zu tragen hatte, war schwer. Konnten ihm da die Entdeckungen in der Höhlenstadt nützen? Wohl kaum. Dennoch antwortete er: »Von den Raster sonden, die die Höhlenfläche systematisch abfliegen, gibt es keine nennenswerten Ergebnisse. Aufschlußreich dagegen war der ges tern von unserer Gruppe durchgeführte Raketokopterflug zu dem schon länger ausgemachten Strahlungszentrum in der Höhlende cke. Wir fanden dort Trümmer und Reste einer gigantischen Anla ge, die früher sicher einmal Standort einer künstlichen Nuklear sonne gewesen sein muß. – Doch gestatten Sie, daß ich mich hier noch weiter umsehe?« fügte er dann hinzu. »Gut. Wir wollen inzwischen mit der Untersuchung und Aus messung der Anomalie fortfahren.« Rinald erkundigte sich bei den wartenden Spezialisten, ob maximale Sicherheitsvorkehrungen eingeleitet waren, dann gab er den Befehl zu weiterem Vorgehen. Vorsichtig setzten sich die zwei Gruppen, die sich im Abstand des Kreisdurchmessers genau gegenüberstanden, in Bewegung.
Pawel Rinald und Klaus Lorm hatten die Spitze der rechten Ko lonne übernommen, die aus vier Mitarbeitern mit verschiedenarti gen Tornistermeßgeräten bestand. Monoton gaben die Helmlaut sprecher die regelmäßigen Parameterangaben wieder. Außer der ständigen Vergrößerung des Antigravitoneneinfallwinkels gab es während der nächsten Minuten keine Veränderungen. Inzwischen waren erneut etwa vierzig bis fünfzig Schritte von beiden Gruppen zurückgelegt worden, und man hatte sich dem Zentrum schon beachtlich genähert. Plötzlich faßte Klaus Lorm den Kurator am Arm. »Schauen Sie hinüber! Die andere Gruppe hat sicherlich die schwerefreie Zone erreicht.« Was sich dort ereignete, sah mehr spaßig als gefährlich aus. Juri Zolak und sein Hintermann hatten sich wohl im Eifer des Vor wärtsschreitens zu weit vorgewagt. Die Kräfte ihrer Beinbewegun gen beim Überschreiten der schon schwerelosen Randzone waren so stark gewesen, daß sie nun hoch über dem Boden schwebten. Nur die dünne, von Mann zu Mann gespannte Kunststoffschnur hatte verhindert, daß die zwei nicht schon höher ins dunkle All enteilt waren. Aber Juri Zolak war völlig Herr der ungewöhnlichen Situation! Er rief den unten verdutzt stehenden Mitarbeitern über Sprech funk zu, etwa zehn Meter zurückzugehen. Es sah grotesk aus, als diese die Anweisung befolgten und Zolak und seinen Begleiter wie schräg im Wind stehende Kinderdrachen hinter sich herzogen. Nach wenigen Minuten fielen sie langsam, als hätten sie kein Gewicht, auf den Mondboden zurück. Man konnte dem Radiologen Zolak eine leichte Verärgerung anmerken, als er sich vorsichtig aufrichtete und in die Runde schaute. Er setzte sich sofort mit Pawel Rinald in Verbindung. »So können wir nicht bis zum Zentrum vordringen; die geringste Be wegung genügt, um weit nach oben zu fliegen. Ich bin der Mei nung, daß wir die Haltetrossen auf ungefähr sechshundert Meter verlängern, indem wir die beiden Stücke verbinden und dann an
den Fahrzeugen befestigen. Diese fahren jeweils in entgegengesetz ter Richtung um die Kreisfläche herum und spannen dabei das Seil quer über die Mitte. Wir könnten uns dann Mann für Mann ge fahrlos zur Mitte hinüberhangeln. Was meinen Sie zu diesem Vor schlag?« »Das ist ausgezeichnet«, antwortete der Kurator. »Wir werden ihn sofort in die Tat umsetzen!« Da alle Beteiligten das Gespräch mit angehört hatten, dauerte es nur kurze Zeit, bis die zwei Gruppen mit den Fahrzeugen wieder am Ausgangspunkt angelangt waren. Schnell wurde eine Sicher heitsschnur von der erforderlichen Länge zusammengeknüpft, und die wuchtigen Mobusse fuhren, jeder einen großen Viertelkreisbo gen beschreibend, zu den vorgesehenen Startpositionen. Die bei den Gruppen folgten in geringem Abstand. Das Seil sah wie ein quer über die Kreisfläche gezogener Strich aus. Wie von einer unsichtbaren Kraft geformt, beschrieb es über dem Zentrum der Kreisfläche einen Bogen nach oben. Die beiden Fahrzeuge bewegten sich noch einige Meter in radia ler Richtung, dann war die Sicherheitsschnur straff gespannt. Mit Rücksicht auf die zulässige Seilbelastung konnten nur einige Lunologen mit ihren Meßgeräten bis zur Mitte der Kreisfläche vordringen. Nach kurzer Absprache einigte man sich auf Juri Zo lak und fünf seiner Mitarbeiter. Auf Vorschlag von Ben Darkens wollten sich die übrigen Wissenschaftler das staubfreie Gelände segment, das durch den Wall des kleinen Ringgebirges von der übrigen Fläche getrennt war, genauer ansehen. Während sich die Radiologen anschickten, in kleinen Wegetap pen entlang des gespannten Seiles zum Kreismittelpunkt vorzuge hen, schritten Pawel Rinald, Klaus Lorm, Ben Darkens und der Strahlungsspezialist Dr. Raskop mit weitausholenden Beinbewe gungen, die an Känguruhsprünge erinnerten, auf den südwestlich von ihrem jetzigen Standpunkt aufragenden Ringwall zu, dessen bizarre Felsspitzen im Sonnenlicht gleißten. Je näher sie kamen, um so mehr fiel ihnen auf, daß dort riesige Gesteinsbrocken und
Felstrümmer, wie von einem heftigen Mondbeben losgesprengt, herumlagen. Am Fuß des steil emporragenden Walles angekom men, bahnten sie sich mühsam einen Pfad durch das Geröllfeld. Nachdem sie zwanzig bis dreißig Meter vorgedrungen waren, stell ten sie erstaunt fest, daß der Wall einen Durchbruch besaß und sie sich unter einem großen tunnelartigen Torbogen befanden, der ins Innere des Kraters führte. »Man könnte diesen Tunnel für einen künstlich hergestellten Eingang halten, der lediglich durch das Trümmerfeld unpassierbar geworden ist«, sagte der Kurator. »Sicherlich jedoch hängen diese wirr durcheinanderliegenden Felsbrocken ursächlich mit der Bil dung der mondstaubfreien Fläche zusammen.« Er blickte nach oben und fuhr, mehr wie im Selbstgespräch, fort: »Ich sehe in der Deckenwölbung nirgends eine Stelle, wo sich diese Brocken gelöst haben könnten. Von wo…«, wollte er soeben weitersprechen, da geschah es! Vor Rodrigo, dem Südamerikaner, zerriß das straff gespannte Seil, und dieser hob sich, wie vorhin Juri Zolak, ganz langsam in die Höhe. Doch was waren das für Schreie, die er ausstieß und die in den Helmlautsprechern deutlich zu hören waren? Sie klangen so ängst lich, ja so unmenschlich, daß die Ursache dafür nicht nur das harmlose Abheben vom Mondboden sein konnte. Und anstatt daß jetzt geschah, was jeder erwartete und was Juri, der am Ende der Gruppe ging, gerade anweisen wollte, daß nämlich der sich hinter Rodrigo befindende Syphos den zappelnden und inzwischen wild um sich schlagenden Gefährten durch Einholen der Sicherheitslei ne wieder auf festen Boden zurückholte, ergriff er sein Kappmes ser und schnitt kurzerhand die Sicherheitsschnur vor und hinter sich durch. Er stieß sich mit beiden Füßen kräftig vom Untergrund ab und schwebte seinerseits in die Höhe, wobei er Rodrigo noch überholte. Das gräßliche Gelächter, das er dabei ausstieß, war fast noch erschütternder als die Schreie seines Kameraden. Die beiden waren Spielball unbekannter Naturkräfte geworden. Während Juri Zolak die zwei vor ihm Stehenden zurückriß und sie auf ihren Zustand untersuchte, eilte Ben Darkens mit großen
Sprüngen auf das nächste Luftkissenfahrzeug zu. Bei der Herfahrt hatte er gesehen, daß zur Ausrüstung der Radiologengruppe auch Genraks, tornisterartige Einmannraketen, gehörten. Pawel Rinald hatte die gleiche Absicht. »Alle ziehen sich sofort zu den beiden Fahrzeugen zurück und steigen ein. Klaus Lorm untersucht jeden einzelnen auf eventuelle Gravitationsschäden. Ben Darkens und ich werden Rodrigo und Syphos zurückholen!« Er versuchte über Sprechfunk das Schreien und Gelächter der beiden zu übertönen. Ben Darkens hatte sich mit schnellen Griffen eine Genrak um gehängt und die Armgurte befestigt. Eine Staubwolke hüllte ihn ein, als er auf einem Feuerstrahl langsam in die Höhe stieg. Rodrigo und Syphos waren inzwischen schon mehr als zweihun dert Meter von der Mondoberfläche entfernt. Durch sinnlose, krampfartige Bewegungen, von denen ihre Körper periodisch ge schüttelt wurden, hatten sie den gefährlichen Flug ins All noch beschleunigt. Ben Darkens konnte ohne Bedenken auf sie zusteuern. Mochten ihn die Antigravitationskräfte auch beeinflussen, durch die Schub düse blieb er manövrierfähig. Er verspürte keine Angst und über legte, wie er vorzugehen hatte, um die Gefährten zu retten. Wo blieb eigentlich Pawel Rinald? Wenn der ihm zu Hilfe kam, war die Aufgabe wesentlich einfacher. Aber ein Blick nach unten zeigte ihm, daß der Mondkurator den Boden noch nicht verlassen hatte. Wahrscheinlich klappte es mit dem Start nicht. Nun gut, dann mußte er eben allein die beiden »Ausreißer« einfangen. Eine Drehung am Speedgriff brachte ihn in größere Höhe. Syphos, der durch die schnellere Anfangsgeschwindigkeit Rodrigo überholt hatte, befand sich etwa zwanzig Meter unter ihm. Sein Rücken war dem Mond zugekehrt. Das grelle Sonnenlicht wurde von der Helmsichtscheibe reflektiert, so daß sein Gesichtsausdruck nicht zu erkennen war. »Hallo, Syphos! Hier spricht Ben Darkens. Sehen Sie mich? Ich schwebe ungefähr zwanzig Meter über Ihnen,
ich werde Sie jetzt ins Schlepp nehmen und nach unten bringen. Dabei müssen Sie mir helfen. Antworten Sie!« Statt einer Antwort schien sich das Gelächter noch zu verstär ken. Und wie um zu entfliehen, drehte sich der Grieche herum und machte unbeholfene Schwimmbewegungen. Ben Darkens sackte auf dessen Höhe hinunter, schob sich ganz dicht an ihn heran und befestigte an seinem Gürtel eine längere Sicherheitsschnur. Dann faßte er die Füße von Syphos, entnahm mit geschickter Bewegung dessen Kappmesser aus einer seiner Beintaschen und stieß den im Augenblick völlig apathischen Syphos sanft von sich. Den zu Rettenden mußte man sich vom Leib halten, diese Regel galt in jeder Situation. Als er sich jetzt nach Rodrigo umschaute, der auf das Zentrum zugetrieben worden war und schnell an Höhe gewonnen hatte, entdeckte er auch Pawel Rinald, dem endlich der Start geglückt war. »Überlassen Sie Rodrigo mir, und versuchen Sie mit Syphos zu landen!« rief ihm der Kurator im Vorbeifliegen zu. Unterdessen untersuchte Klaus Lorm, der Raumfahrtmedizin studiert hatte, die übrigen Mitglieder der Forschungsgruppe auf eventuelle Schäden durch die starke Gravitoneneinwirkung. Für eine eindeutige Diagnose fehlten ihm jedoch die entsprechenden Apparaturen. Das Untersuchungsergebnis war dennoch nicht be unruhigend. Die Männer im Luftkissenfahrzeug waren wohlauf bis auf Dancon, der als nächster hinter Syphos gegangen war. Er klag te über starke Kopfschmerzen und hatte Konzentrationsschwie rigkeiten. Klaus Lorm gab ihm eine Beruhigungsinjektion. Doch was war mit den beiden anderen Lunauten geschehen? Ihr Zustand hatte wie lähmend auf die Kameraden gewirkt, obwohl sie Gefahren gewohnt waren. Da öffnete sich die innere Schleusentür, und Ben Darkens schleppte den wild um sich schlagenden Syphos herein. »Juri, ge hen Sie bitte mit ein paar Leuten in das Fahrzeug nebenan, und helfen Sie dem Kurator, Rodrigo dort unterzubringen!« sagte
Klaus Lorm zu dem noch immer völlig verstörten Zolak. Dann wandte er sich dem sonderbaren Patienten zu. »Ben, schrauben Sie ihm den Schutzhelm ab, und ziehen Sie ihm den Schutzanzug aus. Ich möchte ihm jetzt noch keine Beruhigungsspritze geben.« Es blieb nichts anderes übrig, als den Tobenden auf einem der Seitentische festzuschnallen. Erst als der Schutzhelm abgenommen war, konnte man sein Gesicht richtig erkennen. Es sah entsetzlich aus und ähnelte einer Fratze. Die Lippen bewegten sich fortwäh rend, sonderten einen schaumigen Speichel ab, und die Augäpfel quollen aus den Höhlen. Jetzt begann er auch wieder mit dem ent setzlichen Gelächter. Es war ein gräßlicher Anblick, der allen, die das Opfer einer unbekannten, lebensfeindlichen Naturkraft um standen, Furcht einflößte. »Ich kann ihn nicht behandeln, ich kann noch nicht einmal eine Diagnose stellen. Was wir hier vor uns sehen, ist kein Fall für ei nen einfachen Raummediziner«, stellte Dr. Lorm hilflos fest, nachdem er eine Weile ergebnislos versucht hatte, den Geschock ten zu befragen und beruhigend auf ihn einzuwirken. »Was wissen wir schon von der Einwirkung magnetischer oder gravitativer Fel der jenseits der Gefahrenschwelle? Von stärkeren Magnetfeldern ist bekannt, daß sie in lebenden Organismen die Zusammenset zung des Blutes verändern, und zwar nimmt die Anzahl der weißen und roten Blutkörperchen zu. Also eine Schutzreaktion. Wir wis sen auch, daß sich magnetische Einflüsse auf das Nervensystem auswirken, bis zu morphologischen Veränderungen. Magnetische und gravitative Felder unterscheiden sich jedoch bereits in ihrer Wahrnehmbarkeit. Beide sind Reizerreger, die sich allgemein durch Kopf- und Herzschmerzen sowie durch eine Beeinträchtigung des Nervensystems bemerkbar machen. Soweit die Bücherweisheit. – Der Einfluß von Antigravitonen, also zentrifugal wirkender Kräfte, konnte bisher nur äquivalent bei Kreisbewegungen untersucht werden. Doch was soll das Gerede, ich werde beiden Patienten eine starke Beruhigungsinjektion geben, und dann müssen sich die Spezialisten mit ihnen beschäftigen.«
Als er Syphos behandelt hatte und Ben und die übrigen Radiolo gen den sich nur langsam beruhigenden Griechen schweigend um standen, eilte er in das zweite Fahrzeug, wo der Kurator und Zolak alle Mühe hatten, den tobenden Rodrigo festzuhalten. »Es ist unheimlich! Der Kranke scheint nur noch ein Ziel zu ver folgen, nämlich sich selbst zu vernichten. Sagen Sie, Klaus, kann es sein, daß der Einfluß von Antigravitonen bestimmter Intensität eine Umkehrung der Gefühle bewirkt? Gibt es das, psychiatrisch gesehen? Wenn ja, dann wäre Antimaterie auch rein biologisch eine Substanz von größter Gefährlichkeit«, wandte sich Pawel Ri nald an seinen Assistenten. »Ich bin außerstande zu helfen, geschweige denn wissenschaft lich-medizinische Ausführungen zu machen. Ich kann die Patien ten nur in Tiefschlaf versetzen. Verstehen Sie?« Nervös setzte er dabei seine Brille mehrmals auf und ab, dann fuhr er fort: »Ich empfehle, daß wir sofort die Rückfahrt nach Lunapol antreten. Nicht nur wegen der Geschädigten, sondern wegen uns allen. Wir waren alle der anscheinend sehr gefährlichen Antigravitonenstrah lung mehr oder weniger lange ausgesetzt. Bevor nicht entspre chende Schutz- oder Gegenmittel zur Verfügung stehen, halte ich ein Weiterführen der Arbeiten hier für sehr bedenklich, ja für un verantwortlich.« »Klaus, Junge, so beruhigen Sie sich doch! Auch ohne Ihre In tervention hätte ich hier sofort aufhören lassen. Sie sollten mich eigentlich kennen.« Pawel Rinald war ärgerlich. Die Aktion war umsonst gewesen. Er wußte nicht mehr als vorher. Nur eines stand fest: Die Antimaterie war unberechenbar. Trotzdem, es mußte weitergehen, es mußte etwas geschehen! Die verfügbare Zeit zog den Knebel immer en ger. »Wir brechen in dreißig Minuten auf. Ben, Klaus und Juri, wir gehen schnell noch einmal zu dem kleinen Ringwall hinüber. Heu te abend sprechen wir die Sache dann in Ruhe durch.« Sie eilten in Richtung Geröllfeld davon.
»Seht doch mal hier, diese Vertiefung«, rief plötzlich Klaus Lorm, der am weitesten vorgedrungen war, »man könnte anneh men, Giganten hätten ein riesiges Loch mit Gesteinstrümmern gefüllt!« Tatsächlich, auch die anderen Wissenschaftler konnten sich die ses Eindruckes nicht erwehren. Welch sonderbare Formation! In einer geometrisch exakten tunnelartigen Höhle unter dem Wall eines relativ kleinen Ringgebirges befand sich ein kreisrundes Loch von über hundert Meter Durchmesser in der sonst ebenen Mond oberfläche, das bis zum Rand mit großen Felsbrocken angefüllt war, die offensichtlich nicht von der Decke heruntergestürzt sein konnten. Ratlos umstanden die Mondwissenschaftler Pawel Rinald, obwohl man sich im Lauf der vielen Jahre abenteuerlicher Tätig keit auf dem Mond eigentlich an solche und ähnliche Überra schungen gewöhnt hatte. Oft fanden sich erst nach längerer Zeit Lösungen für zunächst unerklärliche Erscheinungen. Nachdem der Mondkurator in Lunapol veranlaßt hatte, daß Rodri go und Syphos in Begleitung eines Psychiaters mit der nächsten Versorgungsrakete zur Erde transportiert wurden, nahm er schon wenige Stunden später die Auswertung der Ereignisse vor. Klaus Lorm hatte die Abzüge fotografischer Aufnahmen auf einem klei nen Tisch ausgebreitet. »Wissen Sie«, sagte Pawel Rinald, »bei der Suche nach einer ein leuchtenden Erklärung für das Entstehen der staubfreien Zone werde ich seit einigen Stunden den Gedanken an die Erscheinun gen beim Auftreffen des Tunguska-Meteoriten vom dreißigsten Juni neunzehnhundertacht auf der Erde nicht los, wenngleich in Sibirien keine Antigravitation nachgewiesen werden konnte. Auch dort, genau wie hier, Spuren einer weit über die Oberfläche hinweg wirkenden Druckwelle ohne das Vorhandensein einer eindeutigen Einschlagstelle. Sollte sich nicht auch hier auf dem Mond eine gleiche, wenn auch wesentlich kleinere Katastrophe ereignet ha ben? Bitte, meine Herren, äußern Sie sich dazu.«
»Ich finde Ihre Vermutung und Ihre Argumentation sehr ge schickt«, sagte Klaus Lorm, »weil sie – bitte nehmen Sie mir das nicht übel – zwar die gleiche Erscheinung zugrunde legt, aber trotzdem keine Erklärung beinhaltet. Denn außer einer Vielzahl von Hypothesen weiß man bis heute noch immer nichts Genaues über den sogenannten Tunguska-Meteoriten. Ohne zunächst hier auf weiter einzugehen, möchte ich hervorheben, daß auch der Tunnel im Ringwall, der sich ebenfalls im Bereich der mondstaub freien Fläche befindet, mit in die Erklärung einbezogen werden müßte.« Jetzt ergriff Ben Darkens, der bei den Ausführungen von Pawel Rinald und Klaus Lorm mehrfach den Kopf geschüttelt hatte, das Wort: »Hoffentlich enttäuscht Sie nun meine Meinung nicht. Auch ich habe gründlich über das Phänomen nachgedacht. Wir müssen um jeden Preis und noch dazu kurzfristig die Antimaterielagerstät ten ausfindig machen. Es steht für die Menschheit zuviel auf dem Spiel! Deshalb haben wir uns sehr gut zu überlegen, wie und wo wir unser verfügbares Potential ansetzen. Ich bin zu folgender Überlegung gekommen: Die mondstaubfreie Fläche muß die Lan destelle des selenidischen Raumschiffes sein, mit dem Eliu und Peria vor tausend Jahren hier auf dem Mond gelandet sind und das dann automatisch wieder gestartet und zur Sonne geflogen ist. Die von uns festgestellte Antigravitation ist wahrscheinlich Rest- oder Sekundärstrahlung des hochenergetischen Prozesses bei Landung und Start. Aber ich gehe in meiner Annahme noch weiter. Sie ent sinnen sich, daß Ives Lorin und Mara Bhali vor einigen Wochen bei der Verfolgung der Selenidenspuren in der Höhlenstadt ein gigantisches Aufzugssystem entdeckt haben. Ich habe vorhin noch einmal die Koordinaten jenes Schachtes und die des Tunnels im Ringwall verglichen; sie stimmen genau überein. Das heißt, der Tunnel und die von Klaus Lorm entdeckte kreisrunde Öffnung, die mit großen Felsbrocken zugeschüttet ist, sind der oder ein Ein gang zur Höhlenstadt. Diese Vermutung wird auch durch Elius Botschaft bestätigt, denn, wie Sie sich entsinnen, steht auf der Pla tinplatte, daß sie in der Kratersenke des großen Tores gelandet
sind. Dieses Gebiet liegt im Planquadrat Tycho zwölf/zweiundvierzig. Eine solche Erklärung der Anomalien wür de also bedeuten, daß sich die Antimaterielagerstätten keinesfalls unter diesem mondstaubfreien Areal befinden.« Einige Minuten herrschte betretenes Schweigen. Die Argumente, die Ben Darkens vorgebracht hatte, waren nicht von der Hand zu weisen. Schließlich blickten alle auf den Mondkurator. Es dauerte noch eine Weile, dann antwortete er: »Ben Darkens, ich danke Ihnen, daß Sie uns diese Informationen gegeben haben. Auch ich kann mich diesen Tatsachen nicht verschließen. Trotzdem möchte ich vorschlagen, daß wir im Bereich der Anomalienzone vorsichtige Bohrungen vornehmen sollten, denn wenn es auch richtig und logisch scheint, was Sie soeben gesagt haben, könnte es sich den noch um die Lagerstätten handeln. Leider verfügen wir nicht über ausreichende Erfahrungen, die uns in die Lage versetzen, exakt zu beweisen, daß die nach vielen Jahrhunderten noch wirksame Gra vitonenstrahlung ein Überbleibsel der Wirkung der Raumschiff triebwerke ist. Es erscheint zwar unglaubhaft, daß die Seleniden eine so gefährliche nukleare Ladung in der relativ dünnen Schicht zwischen Höhlendecke und Mondoberfläche untergebracht haben, aber es kann dies ja erst zu einem Zeitpunkt geschehen sein, als sie den Mond bereits verlassen hatten. Begründete Aussagen darüber können wir erst machen, wenn wir gebohrt haben. Ist es nicht so?« Der Standpunkt des Kurators war berechtigt. »Ja, Sie haben recht«, sagte Ben Darkens und betrachtete sich in diesem Augen blick auch als Sprecher für die beiden anderen Kollegen. »Und wir sollten uns gleich über Details der Bohrungen unterhalten. Wenn wir uns horizontal in etwa dreißig Meter Tiefe an das Zentrum heranarbeiten, wird die Gefahr beachtlich reduziert, und wir kön nen bald schlüssige Auskünfte geben.«
Unfall im Informationsschacht Hinter Ira Beaux lagen tatenlose und dennoch aufreibende Tage und Wochen. Auf der Erde wurde sie Augen- und Ohrenzeuge einer Entwicklung, die immer mehr die Forscher und Wissen schaftler um Pawel Rinald zur Zielscheibe der Kritik werden ließ. Die einmal geweckte Furcht hatte die Menschheit ergriffen. Diese forderte nun immer lauter und rücksichtsloser Ergebnisse, die ein Ende der Gefährdung bedeuteten. Aber scheinbar geschah nichts; die täglichen lapidaren Kurzbe richte aus Lunapol, die in allen großen Zeitungen auf der ersten Seite abgedruckt waren, vermochten die Bedenken der meisten Menschen, ob denn auch alles mögliche getan würde, nicht zu zerstreuen. Ira dachte an Ben Darkens. Wie würde es ihn, gerade ihn, ent mutigen, auf der Stelle zu treten. Sie mußte sich eingestehen, daß sie eigentlich ihm zuliebe hier aushielt. Woher nur nahm sie den Optimismus? Sie hatte die Hoffnung, daß sich in den Wissensrol len doch noch ein Hinweis auf die Antimaterie und deren Aufbe wahrung finden ließe. Die Bergung dieser glasklaren Film- oder Tonbänder machte gute Fortschritte. Fast jeden zweiten Tag traf eine neue Sendung auf der Erde ein. Aber das Entschlüsseln der vermuteten Informationen bereitete größte Schwierigkeiten. Zu wenig wußte die Menschheit von der Technik der Seleniden. Endlich, Ira hatte bereits den Kurator um die Rückflugerlaubnis ersucht, ging von der Moskauer Forschungsstelle für extraterrestri sche Kommunikation die lang ersehnte positive Nachricht ein. Direktor Ekman, der Ira sofort informiert und um Ihre Begleitung gebeten hatte, flog noch in der Nacht in die Sowjetunion. Die dort vorliegenden Untersuchungsergebnisse, die man praktisch erst in den letzten Stunden erzielt hatte, waren frappierend. Die Analysen des Bandmaterials hatten ergeben, daß es sich um eine der irdischen Chemie bisher noch unbekannte Siliziumdioxid
verbindung handelte, die durch Hydrothermalzüchtung unter Hin zunahme eines Weichmachers hergestellt worden war. Nach vielen anderen Entschlüsselungsversuchen wurden bei den Bändern pie zoelektrische Effekte nachgewiesen. Als man eines der Bänder unter einem bestimmten Druck zwischen Rollensystemen mit ent sprechenden Kollektoren ablaufen ließ, zeigten sich auf dem ange schlossenen Oszillographen verstümmelte Zeichen der selenidi schen Kurvenschrift. Trotz der nur geringen Anfangserfolge atmeten alle Beteiligten auf, denn wenn als Informationsträger beispielsweise die Phonetik der selenidischen Sprache, die niemand kannte und noch kein Mensch je gehört hatte, verwendet worden wäre, dann hätte man trotz der gefundenen Wörterbücher erneut vor einem unlösbaren Rätsel gestanden. Nach mehrmaliger Verbesserung der Abnahmeköpfe, die das Material trotz des hohen Druckes nicht deformieren durften, ge lang es schließlich, die Bandinformationen in Schrift zu transfor mieren und diese mit Hilfe der Metallfolianten zu übersetzen. Die ersten Rollen, die Ausgangspunkt für die langwierigen Experimen te gewesen waren, hatten zufällig die Entstehungsgeschichte des Mondes, den die Seleniden den Planeten Sopri nannten, zum In halt. Durch weitere Untersuchungen hatte sich ergeben, daß die In formationsdichte ein Zeichen je zehn Nanometer Bandlänge be trug und daß der eigentliche Trägerstreifen nur einen Millimeter breit war. Das übrige Material diente als Schutzumhüllung. Mit Hilfe des sowjetischen Prinzipmustergerätes, das einem Pie zoschriftcomputer entsprach, wurde kurzfristig eine größere An zahl verbesserter Übersetzungsautomaten in Auftrag gegeben. Diese Aufgabe war im Rahmen internationaler Kooperation schnell gelöst. Wegen der geleisteten Pionierarbeit und der bereits vorliegenden Erfahrungen wurden diese Translationseinrichtungen in der Moskauer Forschungsstelle installiert und alle vorhandenen selenidischen Wissensrollen nach dort gebracht.
Ira Beaux war im Besitz einer Sondergenehmigung und durfte al le übersetzten Texte sofort einsehen. Die insgesamt sieben Anla gen waren Tag und Nacht in Betrieb, und Ira hatte sich an diesen Arbeitsrhythmus gewöhnt. Sie dachte kaum an Schlaf. Alle drei bis vier Stunden eilte sie durch die verschiedenen Etagen, überflog die ausgedruckten Übersetzungen und las gründlicher, wenn Passagen kamen, die mit der Antimaterielagerstätte zu tun haben konnten. Was sie täglich zu lesen bekam, war so phantastisch und so kühn, daß sie sich hinterher immer erst wieder in die Wirklichkeit zu rückfinden mußte. Doch was Ira eigentlich suchte und was sie um jeden Preis zu finden hoffte, davon hatte sie noch keine Silbe gele sen. Sollte sie aufgeben? Am nächsten Tag überfiel Boris Sagitow, der Leiter der Transla tionszentrale, sie schon beim Betreten des Lifts mit aufregenden Neuigkeiten. »Mademoiselle Beaux! In der Höhlenstadt, in einer topographisch genau beschriebenen Pyramide, befindet sich ein selenidischer Teleimaginator. Ich weiß nicht, wie ich die Anlage anders bezeichnen soll. Wenn ich es richtig verstanden habe, ver mittelt sie auf biophysische Weise Eindrücke über die Lebensge wohnheiten der Seleniden in den letzten Jahrzehnten, bevor sie den Mond endgültig verlassen haben. Kommen Sie schnell, und sehen Sie sich das an.« Ira folgte dem voranschreitenden Sagitow, so schnell sie konnte. Sie riß die ausgedruckten Textstreifen den Wissenschaftlern förm lich aus den Händen. Während sie die ersten Zeilen überflog, wa ren ihre Gedanken bei Ben Darkens. Sie freute sich darauf, wieder in seine Nähe zu kommen, seine Sorgen zu teilen und mit ihm zu arbeiten. Doch dann nahm sie der übersetzte Text völlig gefangen. Sie notierte sich genau die angegebenen Ortskoordinaten. Nach den Entfernungsangaben mußte der Eingang zu der psychotechni schen Anlage etwa in der Mitte zwischen dem Raketokopterlan deplatz und dem Förderschacht in der Kratersenke des großen Tores liegen. Wenn sie die Beschreibung richtig verstand, handelte es sich, wohl um eine in der Tiefe gestaffelte Anlage, in der be stimmte Zeitabläufe in »Informationsschichten« gespeichert waren,
die abgefahren und mnemotechnisch abgefragt werden konnten. Das Gehirn fungierte dabei als Adapter. Doch ist die Anlage auch für menschliche Denk- und Vorstellungsvorgänge geeignet? dachte sie erschrocken. Boris Sagitow stand neben ihr und wartete auf Fragen und Äuße rungen. Endlich brach Ira das lange Schweigen. »Lieber Boris, würden Sie mir von dem gesamten Text über den Teleimaginator schnell Fotokopien anfertigen lassen, ich möchte die morgige Kurierrakete zum Mond nicht versäumen.« Sagitow nickte und bewunderte, genau wie seine Kollegen, die Energie dieser außergewöhnlichen Frau. Niemand im Translationsinstitut konnte zu diesem Zeitpunkt wissen, daß es zu dem Problem »Teleimaginator« eine Fortset zungswissensrolle gab, die noch nicht geborgen war. Hätte Ira Kenntnis von deren Inhalt gehabt, wäre sie nicht so optimistisch zu Ben Darkens geeilt. Dann hätte sie nämlich erfah ren, daß das Medium im Teleimaginator während der Befragung frei von jeglichen Emotionen sein mußte bei ungenügender Adap tion und starken emotionalen Regungen konnte die gesamte Anla ge zu einem gewaltigen Verstärker im Sinne psychophysischer E nergietransformationen werden und unvorhergesehene Wirkungen auslösen. Ira Beaux und Ben Darkens tasteten sich schrittweise vorwärts. Der Chefselenologe hatte nur ungern die Bohrarbeiten im Plan quadrat zwölf/zweiundvierzig unterbrochen und Iras Bitte, den Teleimaginator zu untersuchen, entsprochen. Zu der kleinen Ex pedition gehörten noch Ives Lorin und Mara Bhali. Die große Rechteckpyramide, die sie schnell gefunden hatten, schien nur den Eingang der unbekannten Anlage abzudecken. Die Lichtkegel der Helmscheinwerfer verloren sich im dunklen Hintergrund, und der glasartige Boden führte schräg in die Tiefe. War es eine Täuschung
der angespannten Sinne, oder erfüllte tatsächlich ein feiner Summ ton, der von einer fühlbaren Vibration begleitet war, den Raum? Immer wieder blieben die beiden stehen und schauten sich nach allen Seiten um. Schade, daß die Scheinwerfer nur einen kleinen Teil der Umgebung beleuchteten. Hoch oben wölbte sich eine fluoreszierende Quarzdecke, die mit armdicken Rohren und Lei tungen übersät war. »Meldet euch!« ertönte jetzt Lorins Stimme in den Helmlautspre chern. »Oder hat es euch die Sprache verschlagen? Soll ich nicht doch noch Verstärkung holen?« Es war verständlich, daß Ives Lorin, der vor der Pyramide stand, das Abrollen der Sicherheitsleine überwachte und Funksprechver bindung zu Ira und Ben und über Mara im Raketokopter zur Au ßenstation hatte, den Alleingang der beiden mit wachsender Be sorgnis verfolgte. »Noch gibt es nichts mitzuteilen, beruhige dich also! Doch jetzt sehe ich, daß unser abschüssiger Pfad in einer breiten Treppe en det! Wir melden uns wieder. Ende«, sagte Ben Darkens. Sie hatten die Treppe mit den ungewöhnlich kleinen Stufen er reicht. Ben ging voraus. Die Decke neigte sich im gleichen Winkel, so daß sie jetzt einen breiten, aber nur flachen Treppenaufgang hinunterschritten. »Ich habe schon sechzig Stufen gezählt«, flüsterte Ira, als wolle sie die sie umgebende vibrierende Stille nicht stören, »und noch immer ist kein Ende abzusehen.« Aber schließlich fiel der Licht schein wieder auf ebenen Boden. Sie hatten einen großen Hallen bau betreten, in dessen Mitte ein turmartiger viereckiger Quader in der Decke endete. Das darauffallende Licht wurde teils gebrochen, teils reflektiert. Wo der Turm den Boden berührte, war ein offener Rundbogen. Sicherlich ein Eingang. Ben wandte sich nach links und näherte sich vorsichtig der Wand, die eine Vielzahl durchsich tiger Erhöhungen zeigte. Etwas tiefer waren kleine Hebel und Rä der zu erkennen.
Langsam war ihm Ira gefolgt, plötzlich stieß sie einen Schrei der Überraschung aus. In einigen der durchsichtigen Erhöhungen glommen ringförmige Lichteffekte auf, die pulsierten und nach und nach tiefrot leuchteten. Je dichter Ben Darkens an die Licht quelle herantrat, um so mehr Erhöhungen waren an dem sonder baren Spiel des Lichtes beteiligt, bis schließlich die Pulsation auf hörte und die Anzahl der rotglühenden Ringlampen dieselbe blieb. Ira, die die Beschreibung der Anlage genau studiert hatte, sagte: »Ich weiß, was die Lichteffekte bedeuten! Es handelt sich um bio elektrische Adaption. Jeder, der den Informationsschacht benutzen will, muß der Anlage Gelegenheit geben, sich auf die Hirnströme des befragenden Wesens einzustellen. Falls die Pulsation nicht aufhört, müssen die darunter befindlichen Hebel und Handräder betätigt werden. Welch ein Glück, daß die Einrichtung überhaupt reagiert! Die Seleniden, die irgendwann einmal hier gestanden ha ben, besaßen anscheinend eine uns Menschen sehr ähnliche Ge hirnstruktur. Wir wollen sehen, ob die Anlage auch auf meine Ge danken reagiert!« Sie bat Ben Darkens, einige Schritte zurückzutreten. Tatsächlich setzte das Spiel des Lichtes von neuem ein. Einige der dunkelrot leuchtenden Erhöhungen erloschen, und andere leuchteten dafür auf. Bei einigen wurden die strahlenden Ringe kleiner. »Das ist phantastisch«, sagte Ira. »Wenn ich von dem Aufbau auch nur ein wenig verstanden habe, sind die Lichtringe gleichsam Linsen, die die eintreffenden Gedanken einfangen, verstärken und sich automatisch auf die entsprechende Wellenlänge einstellen.« Noch während sie sprach, beobachtete Ben Darkens erschrocken, wie sich der Schutzhelm seiner Begleiterin immer mehr nach vorn neigte und diese einige unbeholfene Bewegungen machte, um nicht umzusinken. »Drehen Sie dort den mittleren Regelknopf schnell entgegen dem Uhrzeigersinn«, kam es stoßweise über ihre Lippen. »Die In tensität der Rückkopplung ist für mich zu stark.« Ben Darkens handelte in Sekundenschnelle.
»Jetzt ist es gut.« Die Stimme von Ira Beaux hatte sich wieder ge festigt. »Daß ich daran nicht gleich gedacht habe!« Wieder ertönte die besorgte Stimme von Ives Lorin in den Helmlautsprechern. Ben Darkens antwortete: »Alles in Ordnung. Die Anlage scheint noch intakt zu sein. Im Augenblick testen wir die Adaptereinrich tung. Ira hatte Schwierigkeiten; sie sind aber bereits beseitigt. Wir melden uns wieder. Ende.« »Von der Zentrale kommt die Anweisung, eine längere Pause einzulegen«, ergänzte Ives Lorin, der den hartnäckigen Ben Dar kens nur zu gut kannte. Darkens ging auf Ira zu. Unter dem Helmoval erschien ihr Ge sicht blasser als sonst. Ihre Augen waren auf den Boden gerichtet. Sie blickte auf, als Ben vor ihr stand. Sonderbar, ihre Angst vor der Tiefe, der Dunkelheit und der fremden unheimlichen Technik schwand in der Nähe dieses Mannes, zu dem sie sich hingezogen fühlte, dessen offenes Wesen sie immer mehr gefangennahm. Viel leicht war es gerade ihre anfängliche und, was sie eigentlich schon recht bald gewußt hatte, unberechtigte Abneigung, die sie jetzt zwang, ihm zu helfen, ihm zu beweisen, daß sie ihm unrecht getan hatte. Gern hätte sie das in Worte gefaßt, aber die wollten ihr ein fach nicht über die Lippen. »Ira, wie fühlen Sie sich; ist alles wieder in Ordnung?« fragte Ben Darkens. »Ja, es war nur ein kleiner Schwächeanfall, man soll sich nicht überschätzen.« Sie spürte, wie er sie mitfühlend ansah, und die Fürsorge gerade dieses Mannes tat ihr wohl. »Ben, ich würde gern ein paar Aufnahmen von dieser Adapter wand machen«, sagte sie ablenkend. »Aber ich traue mich weder Blitzlicht noch einen Infrarotimpuls zu benutzen. Wer weiß, wie die Lichtringe darauf reagieren? Was meinen Sie, sollte ich es doch wagen?«
»Nein, besser nicht«, erwiderte er. »Ich bin ganz Ihrer Meinung; wir sollten jegliche Konfrontation dieser Anlage mit unserer irdi schen Technik vermeiden. Ich glaube, daß wir hier unten mehr erfahren werden als bei monatelanger Rastersondenarbeit. Machen wir also weiter!« Ira überflog im Licht des Helmscheinwerfers wieder ihre Noti zen, dann sagte sie: »Nachdem die Repetationszentren auf das fra gende Gehirn abgestimmt sind, müßten wir jetzt als nächsten Schritt die Zeitkabine suchen. Ich vermute, daß der Turm in der Mitte dieses riesigen Rundbaus, in dem wir uns befinden, die Ver längerung des Imaginatorschachtes ist.« Vorsichtig gingen die beiden auf den kleinen Rundbogen zu, der zweifellos einen Eingang zu den noch tiefer liegenden Teilen der Anlage bildete. Als sie sich bis auf ungefähr sechs Meter der Öff nung genähert hatten, glomm auch hier ein dunkelrotes Lichtband auf. Ben gab Ira ein Handzeichen, stehenzubleiben. Was war das nur für ein sonderbarer Druck, den er verspürte? Schließlich blieb er schnaufend stehen; eine unbekannte Kraft hin derte ihn am Weitergehen. Sicher war es eine weitere Schutzmaß nahme, Unbefugten den Eintritt in die Zeitkabine zu verwehren. Was war dagegen zu tun? »Ira«, rief er seiner Begleiterin zu, die bereits wieder ihren Notiz zettel studierte, »wir kommen hier nicht weiter. Eine unsichtbare Barriere schützt den Schachteingang. Gibt es dafür eine Erklärung oder eine Anweisung in Ihren Texten?« »Die eigentliche Informationsanlage kann nur ohne Schutzhelm betreten werden«, antwortete sie, »sonst bleiben die Psychowellen unwirksam.« »Das stimmt; aber was sollen wir tun? Wir tragen doch schon be sondere Schutzhelme ohne Metall. Wir können uns hier doch nicht frei bewegen.« »Einen Augenblick, Ben, befragen wir den Taschenanalysator!« Noch während sie sprach, nestelte sie aus ihrer Umhängetasche ein
rechenstabgroßes Instrument hervor und hielt es hoch. »Es sieht nicht gut aus«, sagte sie nach wenigen Minuten. »Kommen Sie doch bitte hierher, wo der Sperrbezirk beginnt, vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Es könnte doch sein, daß die Seleniden nur die Kabine mit erdähnlicher Atemluft um geben haben. – Allmählich halte ich nichts mehr für unmöglich«, erwiderte Ben. Und tatsächlich, die Vermutung bestätigte sich. Kurz entschlos sen klappte er den Schutzhelm zurück und machte einige Schritte nach vorn. Der Widerstand war verschwunden. Er atmete einige Male tief ein und aus. Irgendwie roch die Luft nach Chloroform, oder bildete er sich das nur ein? Es war jetzt keine Zeit, festzustellen, wie es die Seleniden tech nisch gelöst hatten, die Atmosphäre genau auf diese Stelle zu be grenzen. Ben Darkens machte eine kurze Durchsage an Ives Lorin, dann näherten sich beide vorsichtig der Rundbogentür des viereckigen Quarzturmes. Unwillkürlich hatte Ira den Arm des Mannes um klammert. Auch in dem offenen Viereck des Turmes glomm ein mattrotes pulsierendes Licht auf. Das Vibrieren hatte sich verstärkt, und der leise Summton, der die Halle ausfüllte, war im luftgefüllten Innen raum als lautes Brummen zu hören. Mit eiserner Energie rief sich Ira immer wieder die Anweisungen für die Inbetriebnahme der Informationskabine des Teleimaginators ins Gedächtnis: Nach vollzogener biophysischer Adaption in die Kabine treten, eine kniende Stellung einnehmen und den Kopf nach vorn beugen. Und nun kam der schwierigste Teil, das Abfragen der Einrichtung mittels konzentrierten Vorstellungsvermögens. Hier hörte der menschliche Erkenntnisstand auf. Es handelte sich um eine Anlage, die nach dem Prinzip der Wi derspiegelung oder der Abbildgewinnung denkender Materie auf gebaut war. Eine technische Nutzbarmachung dieser Möglichkeit war auf der Erde einfach noch unvorstellbar. Man konnte Bilder
speichern, man konnte Worte speichern, aber mit welchen Mitteln Vorstellungen gespeichert werden konnten, das entzog sich jegli cher Erfahrung. Und doch schien dies auch für die künftige Menschheit eine Methode zu sein, die Informationstechnik weiter zuentwickeln. Es war auf die Dauer nicht möglich, die Fülle neuer Erkenntnisse aufzuschreiben oder zu filmen, also mußten bei der Speicherung des Wissens neue Prinzipien gefunden werden. Doch noch war der Begriff »Psyche« zu sehr mit der Medizin und zu wenig mit der Technik verknüpft. Also weiter: Den Kopf nach vorn beugen und sich konzentriert das gewünschte Objekt oder die betreffende Frage in geeigneter Form vorstellen. Vorwiegend eine Angelegenheit des Konzentrati onsvermögens. War es auch die richtige, für die Anlage erfaßbare Vorstellung? Nun den einzigen Hebel nach oben herumlegen, und dann wür de der Teleimaginator, die Kabine mit dem suchenden Hirn, an einer bestimmten Stelle des mehr als zweihundert Meter tiefen Abbildcomputers stehenbleiben und Details über das vorgestellte Objekt in Form von starken Mnemostrahlen bekanntgeben. Ja, so würde die Anlage funktionieren. Ben Darkens und Ira Beaux waren am Eingang angekommen. Das Innere war leer, bis auf den Hebel an der Stirnwand. Eigent lich enttäuschend, daß modernste Technik so schlicht und einfach aussah! »Ira, bitte verlassen Sie noch einmal den Umkreis der Kabine, und geben Sie an Ives durch, daß ich jetzt einsteigen und testen werde, ob die Anlage noch funktioniert. Aber achten Sie dann auf unsere Verbindungsleine; wir wissen nicht, wie schnell sich die Abbildzelle bewegt.« Mit diesen Worten hatte Ben Darkens die leuchtenden Konturen der Schachtöffnung durchschritten. Ira stand wie gelähmt, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Was war, wenn Ben etwas zustieß oder die Anlage in großer Tiefe ste ckenblieb? Die Angst um ihn verlieh Ira plötzlich ungewöhnliche
Tatkraft und Mut. »Ben, bitte kommen Sie zurück! Lassen Sie uns die Situation noch einmal besprechen, bitte!« rief sie. Kopfschüttelnd trat Ben Darkens wieder auf sie zu. »Was gibt es da noch viel zu bereden? Probieren müssen wir! Wir sind schon über eine Stunde hier unten. Wer weiß, wie lange das Suchen noch dauern kann!« »Hören Sie mir jetzt gut zu«, sprach sie, und nur der zitternde Unterton in ihrer Stimme verriet die Unruhe. »Wer von uns beiden hat sich gründlicher mit der Anlage befaßt? Wer hat sie als letzter adaptiert, Sie oder ich?« Ben war verwundert. Was wollte Ira eigentlich? Er bemühte sich, sie zu schonen und Anstrengungen von ihr fernzuhalten. Verstand sie denn nicht, die Zeit drängte. Sie würden bald zurückkehren müssen. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Ben, ich besteige die Kabine, und Sie überwachen mein Vorgehen. Das hat den großen Vorteil, daß Sie, wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen oder die Anla ge Funktionsstörungen aufweisen sollte, sofort handeln können. Im umgekehrten Fall würde ich recht unbeholfen dastehen«, sagte sie schnell und hatte sich mit den letzten Worten schon an ihm vorbeigedrängt. Hoffentlich merkte er nicht, warum sie um jeden Preis das Experiment durchführen wollte. Darkens erwiderte aufgebracht: »Ira, ich verbiete Ihnen…« Doch es war schon zu spät. Sie hatte bereits den Transporthebel betätigt, und die nach beiden Seiten offene Kabine versank Zentimeter um Zentimeter in der unheimlichen Tiefe. Ben eilte zu der Rundbogenöffnung und beugte sich hinunter. Er sah Ira, die sich hingekniet hatte und mit Kopf und Armen den Boden berührte. Langsam, ganz langsam glitt die Sicherheitsschnur – jetzt die einzige Verbindung zwischen ihnen – durch seine Fin ger. Manchmal hörte die Bewegung ganz auf. Wie mußte es Ira dort unten nur zumute sein? Ira Beaux war Medium eines Experimentes, dessen Ablauf noch niemand übersehen konnte. Seit sie den Hebel in der Kabinen
wand betätigt hatte, dachte sie mit der ganzen Kraft ihres Willens an die Antimaterielagerstätte. Sie wählte dafür die unterschiedlichs ten Vorstellungen, aber im Endeffekt waren es immer große Be hälter, Autoklaven, die irgendwo unter der Mondoberfläche ihren Standort hatten. Während sie sich angestrengt zu konzentrieren suchte, huschten andere Bilder an ihr vorüber, doch diese kamen von außen, hatten nichts mit ihrer Vorstellung zu tun. Eine große grelle Sonnenscheibe über einer versengten Landschaft kehrte da bei immer wieder. Diese Eindrücke zwangen sich ihr auf. Sche menhaft erkannte sie große Spiegel- oder Prismensysteme. Sie sah sogar in unförmige Schutzanzüge gekleidete Wesen. An der unterschiedlichen Beschleunigung spürte Ira, daß die I maginatorkabine häufig auf und ab pendelte und sich dann wieder konstant abwärts bewegte. Sie wartete, dachte und stellte sich vor, sie hoffte und glaubte. Da – ein klares Bild, wie von einem Sputnik aufgenommen! Die Mondlandschaft aus ungefähr zehn Kilometer Höhe. Die Gegend kannte Ira doch! Das war eindeutig die Rückseite des Mondes. Eine charakteristische Ringgebirgsformation. Natürlich, das war doch das Gebiet des Kraters Gebrüder Wawilow. Das Bild blieb deutlich und zeigte den Kratergrund. Wie in ei nem Trickfilm wurde an mehreren Stellen, sie zählte einundzwan zig, die Staubschicht entfernt, und es kamen große metallische Deckel von mehr als fünfzig Meter Durchmesser zum Vorschein. Nachdem die Deckel verschwunden waren, wurde der Blick in tiefe Schächte frei, auf deren Grund metallische Behälter unheim lich glitzerten. Das Bild rückte näher und blieb unverändert stehen. Erst jetzt fiel Ira mit wachsender Angst ein, daß sie nichts dar über gelesen hatte, wie die Imaginatorkabine in die Ausgangslage zurückzubringen war. Funksprechverbindung zu Ben bestand nicht, denn sie hatte den Schutzhelm abgelegt. Sie wußte nicht, in welcher Tiefe sie sich befand, wieviel Meter Sicherheitsleine durch Bens Hände gelaufen waren.
Trotzdem, sie hatte jetzt eine klare Vorstellung, wo die gefährli che Antimaterie der Seleniden zu finden war. Als sie sich noch einmal die Schächte im Krater Gebrüder Wawilow vergegenwärtig te, spürte sie plötzlich, wie sich die Kabine nach oben bewegte. Erleichtert atmete sie auf. Sie wagte den Kopf zu heben und nach oben zu blicken. Im fahlen dunkelroten Licht erkannte sie Ben, der in der rechten Hand die um die Schulter geschlungene Sicherheits leine hielt und ihr freudig zuwinkte. Seinen Oberkörper hatte er dabei weit durch die rundbogenförmige Öffnung gebeugt. Der Abstand zwischen ihnen betrug höchstens noch zwanzig Meter. Wieder hob Ira den Kopf. »Ben, ich habe Sie nicht vergeblich hierhergeschleppt. Das Unternehmen hat sich gelohnt! Ich weiß jetzt, wo die Antimaterie gelagert ist.« Eine panische Angst erfüllte sie, als sie sich noch einmal das unheimliche Teleimaginatorbild mit den vielen Schächten verdeutlichte. »Auf der Rückseite des Mondes…« Ben Darkens warf sich instinktiv zurück und stemmte beide Beine gegen die Maueröffnung. Gewaltige Schläge, wie von einer Rie senfaust geführt, ließen den Rundbau und den Imaginatorturm hin und her schwanken. Es knisterte und knirschte wie von berstendem Gestein. Teile der gleißenden Quarzdecke zersplitterten ne ben ihm am Boden. Er spürte einen heftigen Schmerz in der Schulter und krümmte sich. Halbbenommen registrierte er, daß die Kabine abgestürzt war und Ira nur noch an der Sicherheitsleine hing. Würde sich ein größerer Stein aus dem Gemäuer lösen und in den Schacht fallen, mußte er sie unweigerlich zerschmettern. Du bist der einzige, der Ira retten kann, du mußt bei Bewußtsein bleiben! hämmerte es in Bens Gehirn. Er riß die staub- und schmutzbedeckten Augenlider auf, doch vergebens versuchte er etwas zu erkennen. Es war stockfinster; der rötliche Schimmer an der Adapterwand und am Schachteingang war erloschen. Wo hatte er nur die Schutzhelme hingelegt. Ohne die Atemgeräte waren sie verloren. Ohne die Helmbeleuchtung ebenfalls. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Leine, die seinen Körper fest umschlang, erinnerte ihn mit einem Schlag wieder an Ira. Stück für Stück holte
er das Seil ein. Ihn schmerzte jede Bewegung. Luft anhalten und ziehen – ausatmen und nachfassen; wie eine Maschine arbeitete er. Hoffentlich verflüchtigte sich die vorhandene Atmosphäre nicht! Der Widerstand wurde größer. Sollte er Ira schon bis zur Mauer kante gehievt haben? Mit der linken Hand tastete er seine Umge bung ab. War denn nichts zu finden, womit er das Seil absichern konnte? Da, was war das? Es fühlte sich wie ein Rohrstück an. Er zog es zu sich heran, die Länge würde ausreichen. Er rollte das Rohr über seinen Körper, bis die beiden Enden auf der massiven Wandung der Schachtöffnung auflagen. Dann verknotete er das Seil. Schweißgebadet richtete er sich auf und entspannte die Schnur, die seinen Körper umgab. Er drehte sich auf den Bauch und kroch nach vorn, bis sein O berkörper frei in die Schachtöffnung ragte. Dann faßte er nach unten. Mit festem Griff packte er Ira am Gürtel und hob sie mit letzter Kraft über die fußhohe Brüstung. Die Luft wurde dünner, das spürte er immer deutlicher. Sie mußten von hier weg! Aber wo waren die Helme? Er überlegte. Als Ira und er die Sperre bemerkt hatten, waren sie etwa sechs Meter von ihrem jetzigen Standpunkt entfernt gewesen. Auf allen vieren kroch er einen Halbkreis ab. Die Handschuhe hatte er abgestreift, um besser tasten zu können. Doch nichts als Steine, Trümmer und Splitter. Plötzlich aber hatte er etwas Rundes, Glattes in der Hand – und ein Stückchen weiter noch einmal. Erschöpft sank er neben dem Fund zusammen. Was dann geschehen war, wußte er später nicht mehr genau. Er hatte Ira und sich die Schutzhelme übergestülpt, vorher jedoch seinen Kopf an ihre Brust gepreßt, ob das Herz noch schlug. Dann hatte er sie vorsichtig aufgehoben und war im matten Schein der nur noch schwachen Helmbeleuchtung durch das Trümmerfeld getaumelt. Die letzten Stufen der langen Treppe, die hinaufführte, war er mehr gekrochen als gegangen. Erst als er den gelben Skaphander von Ives Lorin zwischen Fels brocken und Quarzstücken leuchten sah, kam er wieder zu sich. Behutsam legte er Ira nieder und befreite Ives aus den Trümmern. Das grüne Kontrollämpchen an der Helmunterseite zeigte an, daß
der Franzose noch atmete. Was sollte Ben Darkens tun? Beide Bewußtlose konnte er nicht transportieren, höchstens nacheinan der, aber reichten dafür seine Kräfte noch aus? Da fiel ihm das kleine Lumobil ein, mit dem sie vom Raketokopter hierhergefah ren waren. Mehrere Stunden später hatte er endlich den Lande platz erreicht. Mara Bhali, die im gepanzerten Raketokopter vor dem Mondbeben Schutz gefunden hatte, war glücklich, daß ihre Gefährten noch lebten. »Ben, es war schrecklich«, sagte sie. »Ich glaubte zuerst, das gan ze Gewölbe sei eingestürzt. Die Telefonverbindung nach oben ist zerstört, aber Funksprechverkehr besteht noch. Es muß draußen genauso aussehen.« Sie gab ihm einen Schluck aus der Bordapo theke. »Bitte melde dich erst einmal. Man wird in Lunapol mit dem Schlimmsten rechnen. Es ist wirklich ein Wunder, daß ihr noch am Leben seid!« Ben Darkens war kaum seiner Stimme mächtig. Mit schmerzver zerrtem Gesicht griff er zum Mikrofon. »Hier spricht Ben Dar kens. Versteht ihr mich? Holt, so schnell ihr könnt, den Raketo kopter ein, wenn die Anlage noch funktioniert. Ira und Ives sind verletzt und bewußtlos. Ende.« Sein Kopf fiel vornüber. Er hörte noch: »Fertigmachen zum Einholen!« – dann schwanden ihm die Sinne.
Prähistorische Extraterristen Ohne das Wissen über die Seleniden und deren hochentwickelte Technik hätte man in dem vernichtenden Mondbeben wahrschein lich einen weiteren Beweis für den noch immer umstrittenen Mondvulkanismus gesehen. Doch so war bekannt, daß dieses Be ben aus einer Kernreaktion resultierte, deren typisch pilzförmige Explosionswolke wie ein drohendes Fanal der Vernichtung für viele Stunden im leeren All gestanden hatte, genau an der Grenze zur Mondrückseite. Die angerichteten Verheerungen waren noch nicht zu übersehen. Aufgrund der seismographischen Messungen entsprach die wirk sam gewordene Energie einer Sprengstoffmenge von einer Million Tonnen TNT. Da man den Mond für einen relativ »morschen« Himmelskörper hielt, hätte er nach ersten Berechnungen bei dieser Sprengwirkung auseinanderfallen müssen. Glücklicherweise war das nicht geschehen, aber die Oberfläche war in unmittelbarer Nähe des Explosionsortes tief geborsten. Riesige Canons verliefen strahlenförmig nach allen Seiten. Von der Erde aus gesehen, schien es, als sei der gesamte Nordwestteil des Trabanten mit ei nem Netz großer Kanäle überzogen. Der Mond hatte ein neues, aber nicht freundlicheres Gesicht erhalten. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die radioaktive Wolke, die von der Explosion übriggeblieben war, nicht zur Erde fliegen würde, sondern den Erdtrabanten in geringer Höhe umkreiste und für die irdische Zivilisation ungefährlich sei, atmete die Menschheit auf und ließ »die Bedrohung aus dem Kosmos« der Vergangenheit angehören. Die Antimaterievorräte waren offensichtlich explo diert, ohne die Erde zu gefährden. Lunapol glich einem Trümmerhaufen. Zum Glück waren keine Menschenleben zu beklagen. Das sublunare Titow-Hotel war als einziges Gebäude von den Stößen nicht beschädigt worden. Ein
weiterer Beweis dafür, wie wichtig für die Monderschließung Schutzbauten unterhalb der Oberfläche waren. Am nächsten Tag sollte mit zwei größeren Raketokoptern das ei gentliche Herdgebiet der Kernreaktion angeflogen und näher un tersucht werden. Pawel Rinald hatte die Teilnehmer benannt und persönlich informiert. Im zweiten Flugapparat würde Ben Darkens die Kommandofunktion übernehmen. Die beiden Raketokopter, die einen Strahlenschutzüberzug erhal ten hatten, flogen dicht übereinander. Vor wenigen Minuten hatten sie das Gebiet der riesigen neuentstandenen Mondspalten erreicht, die einen unfehlbaren Wegweiser darstellten. »Wir gehen auf sechshundert Meter hinunter, um besser auf den Grund der Risse sehen zu können!« gab der Kurator an Ben Dar kens durch. »Das wollte ich ebenfalls gerade vorschlagen«, erwiderte dieser, »denn mir scheint, sie führen stellenweise ins Bodenlose. Sollte der Mond doch ein Hohlkörper sein? Na, warten wir ab.« Wie zwei große Raubvögel stießen die Raketenhubschrauber nach unten. Aus der geringen Höhe war der Eindruck von der Breite und Tiefe der Spalten noch beängstigender. Klaus Lorm, der im ersten Raketokopter als Pilot und Navigator fungierte, beobachtete die Echolotanlage, während er sich bemüh te, über der Mitte der Spalten zu fliegen. Tatsächlich, die Tiefe betrug an manchen Stellen mehr als sechstausend Meter. »Das ist etwa die gleiche Tiefe wie im Gebiet der Höhlenstadt! Vielleicht gibt es bald eine völlig neue Mondentstehungstheorie!« sagte Klaus Lorm mehr zu sich selbst. »Wir werden jetzt in westlicher Richtung fliegen«, meldete Pawel Rinald an Ben Darkens, »um dort die Spalten zu überprüfen.« Der Abstand zwischen den Maschinen wurde größer. Ben Dar kens behielt die alte Flugrichtung bei. »Achtung!« rief Ives Lorin, der die Maschine steuerte, »da drüben stimmt doch etwas nicht…«
»Wir verlieren beachtlich an Höhe, obwohl der Antrieb in Ord nung ist. Ja, eine unbekannte Kraft zieht uns übermächtig nach unten«, stellte der Mondkurator lakonisch fest. »Neben Antigravi tation scheint es auch noch Zonen von Hypergravitation zu geben. Ob das Folgen der Materie-Antimaterie-Annihilation sind? Klaus, weichen Sie mit Maximalenergie nach Osten aus!« Beunruhigt verfolgten Ben Darkens und Ives Lorin die Flugma növer der Nachbarmaschine. Nur widerwillig gaben die Anzie hungskräfte den Raketenhubschrauber frei. »Gehen wir auf dreitausend Meter und dann vollen Schub nach Nordwesten! Die Besonderheiten der Spalten können später unter sucht werden!« wies Pawel Rinald an, als die Maschinen wieder übereinander flogen. Das Ticken der Geigerzähler wurde lauter und schneller, als sie etwa zwanzig Minuten später die Randzonen der radioaktiven Wolke passierten. Nach einer weiteren halben Stunde hatten sie das Zentrum der Kernreaktion erreicht. Ein Krater von fast drei hundert Meter Durchmesser war entstanden, in dessen Mitte ein rundes Loch in die Tiefe führte. Der Mondstaub war im weiten Umkreis geschmolzen und bildete eine spiegelnde Fläche. Die Insassen der langsam sinkenden Raketokopter konnten sich eines Gefühls der Machtlosigkeit gegenüber solchen entfesselten Naturgewalten nicht erwehren. Die Mondlandschaft war umge pflügt worden und in einem thermischen Inferno geschmolzen und erstarrt. Und wieder würden Jahrmilliarden vergehen… »Wer werden in absehbarer Zeit hier nicht landen können. Die radioaktive Strahlung ist viel zu stark. Was sollten wir auch im Moment feststellen? Etwas aber gibt mir zu denken. Eliu hat auf seiner Platinplatte den Mond nach der Katastrophe als neue Sonne dargestellt. Hat er da übertrieben oder die mögliche Annihilation überschätzt? Sollte nur ein Teil der gelagerten Antimaterie fusio niert haben? Aber das ist kaum anzunehmen. Wir können sicher davon ausgehen, daß der Antimaterievorrat nicht mehr existiert und daß die Menschheit glimpflich davongekommen ist. Trotzdem
ist es schade, ein solcher Vorrat von Antimaterie hätte unserem technischen Fortschritt sehr genützt. Wer weiß, wie lange es noch dauern wird, bis wir sie in größeren Mengen selbst herstellen kön nen.« »Ben Darkens, ich glaube zwar nicht an Intuitionen und halte nicht viel von Vorahnungen, aber trotzdem warnt mich ein Ge fühl, die Sache mit der Antimaterie als erledigt zu betrachten«, erwiderte Pawel Rinald. Wenig später traten beide Raketokopter den Rückflug an. Gespannte Stille war in dem großen Saal des Titow-Hotels, des einzigen noch intakten Großbaus von Lunapol, als der Präsident der Weltföderation für Raumfahrt van Müren auf das improvisierte Rednerpult zuschritt. In den ersten Reihen saßen viele bekannte Mondpioniere, die mit der Entdeckung der Selenidenstadt und der Hebung ihrer »Schät ze« in enger Verbindung standen. »Liebe Freunde!« begann van Müren seine mit großer Spannung erwarteten Ausführungen. »Ich möchte Sie darüber informieren, was in den letzten Wochen und Monaten aus den selenidischen Wissensrollen übersetzt werden konnte. Doch erwarten Sie bitte keinen mehrstündigen Vortrag. Ich fasse mich kurz, es soll nur ein Überblick sein. Der Planet Mond, von seinen ehemaligen Bewohnern Sopri ge nannt, war noch vor dreißigtausend Jahren ein Himmelskörper in unmittelbarer Sonnennähe. Zusammen mit dem Merkur, der bei den Seleniden Vakuri hieß, bildete er einen Doppelplaneten. Die Kosmologie der Seleniden bringt mehrfach zum Ausdruck, daß in den Frühstadien der Entstehung von Planetensystemen durch das in dieser Phase wesentlich größere Protozentralgestirn die Bildung von inneren Doppelplaneten begünstigt wird und dies auch in an deren Sonnensystemen der Fall ist. Der Abstand der beiden Plane ten voneinander betrug rund eine halbe Million Kilometer. Bei der Bewegung umeinander war jedoch die seltene Besonderheit zu
verzeichnen, daß beide Himmelskörper der Sonne immer dieselbe Seite zukehrten. Es gab also auf jedem der beiden Planeten eine Zone ständiger, intensiver Sonneneinstrahlung und eine entspre chend kalte Zone ewiger Nacht. Zwischen diesen extremen Tem peraturgebieten befanden sich aber auch größere Bereiche mit gemäßigtem Klima. In enger kosmischer Nachbarschaft zog der Doppelplanet Jahrmilliarden seine sonnennahe Bahn. Ungefähr dreißigtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung näherte sich ein bis dahin unbekannter Komet, vermutlich durch die Masse des Jupiters abgelenkt, der Sonne beträchtlich. Seine Bahn verlief zwischen der Venus und der Sonne und kam dem Planetenpaar gefährlich nahe. Genaue Berechnungen der selenidischen Astro nomen ergaben, daß nach Ablauf von etwa siebzig Jahren eine erneute Begegnung des Kometen mit dem Jupiter stattfinden wür de, die die Bahn des Schweif Sternes so beeinflussen könnte, daß eine Kollision mit dem Sopri nicht auszuschließen sei. Der Komet mit einer überdurchschnittlichen Masse von fünf mal zehn hoch vierzehn Tonnen hatte zwar bei seinem ersten nahen Sonnen durchgang einen beachtlichen Masseverlust erfahren, trotzdem würde aber die noch vorhandene Materiemenge beim Zusammen treffen mit dem Planeten zu einer Katastrophe führen. Die seleni dische Bevölkerung wurde rechtzeitig evakuiert. Der vorausbe rechnete Zusammenstoß fand tatsächlich statt. Der Kern des Ko meten traf den Planeten frontal, löste sich auf und stürzte in Form von vielen tausend Riesenmeteoriten auf dessen Oberfläche. Die nicht direkt an der Kollision beteiligten Massen wurden zum Teil von der Schwerkraft eingefangen und gingen an anderen Stellen nieder, so daß der Planet von allen Seiten getroffen wurde, jedoch mit unterschiedlicher Heftigkeit. Durch das Einschlagen unzähliger großer und kleiner Meteoriten in die Oberfläche und durch das Eindringen der Koma in die Lufthülle des Planeten entstand eine ungeheure Hitze. Die Atmo sphäre verbrannte, und der Boden wurde bis zu einigen hundert Meter Tiefe so erhitzt, daß die Oberflächenschicht teigig-flüssig wurde. Die Gewalt der kollidierenden Massen drängte den Sopri
aus seiner Bahn, und es bestand die Gefahr, daß er in die Sonne stürzen würde. Doch dann bewegte sich der zerstörte Planet in entgegengesetzter Richtung. Dabei befand er sich noch lange im Schweif des Kometenrestes. Auf seiner sichelförmigen Bahn durcheilte der Sopri zuerst den leeren Raum – denn der nächste Planet, die Venus, befand sich in Opposition auf der anderen Son nenseite –, gelangte schließlich in das Schwerefeld der Erde und wurde von dieser eingefangen. Der dichte Vorbeigang einer solch großen Masse und ihr allmäh liches Einpendeln verursachten auf der Erde der jüngeren Steinzeit gewaltige Naturkatastrophen. Das in ganz knapper Form zur kos mischen Vergangenheit unseres Erdtrabanten. Wie ich schon andeutete, waren die Bedingungen für die Entste hung vernunftbegabten Lebens auf dem sonnennahen Planeten ohne Eigenrotation denkbar ungünstig. Es blieb lediglich jene schmale Zone zwischen den Bereichen der ständigen Gluthitze und der ewigen Nacht, die dem Eiweißleben Entwicklungsmög lichkeiten bot. Noch ungünstiger als die gleichbleibenden, örtlich schroffen Temperaturunterschiede wirkte sich die harte Strahlung der nahen Sonne aus. Zu einem Zeitpunkt, als der Sopri seine nächste Position zur Protosonne hatte, muß eine riesige Protuberanz die noch teigige Planetenkruste so verändert haben, daß sich in weiten Gebieten die Schollen überlappten und Hohlräume entstanden. Viele solcher Blasen sind im Verlauf der Jahrmilliarden wieder eingestürzt oder wurden in den planetarischen Vulkanismus einbezogen. Eine An zahl ist aber bis heute erhalten geblieben. Diese anfangs wasserge füllten Hohlräume gaben ersten Lebenskeimen Möglichkeiten zur Fort- und Höherentwicklung. Die umfangreichen Fossilienausgrabungen der Seleniden und ih re Auswertung lassen erkennen, daß die Entwicklung der einzelnen Lebewesen in den riesigen Hohlräumen und Spalten sehr unter schiedlich verlaufen ist. Trotz aller Schwierigkeiten und ungünsti ger Bedingungen hat dabei die Evolution vernunftbegabten Le
bens auf dem Sopri zwar etwas länger gedauert als auf der Erde, dafür aber viel früher eingesetzt. Verweilen wir nun noch kurz bei den menschenähnlichen Sopri bewohnern der Neuzeit. Die Horde oder der Stamm bewohnte und beherrschte in der Frühzeit nur den engbegrenzten, lebensge schützten Raum unter der Mondoberfläche. Diese konnte von den Seleniden erst betreten werden, als sich die Metallurgie entwickelt hatte. Es wurden Bleihelme und Bleischutzschilde hergestellt und für den nur den Züchtern bestimmter Pflanzen erlaubten längeren Aufenthalt an der Planetenoberfläche den ganzen Körper schüt zende Bleirüstungen. Verglichen mit der Erdbevölkerung war die Zahl der Seleniden nie sehr hoch. Deshalb ist es ein großer Zufall, daß wir durch die Explosion des Quecksilberrotationsteleskops auf die einzige und letzte Wohnstatt der Seleniden gestoßen sind. Die se Wohnpyramiden, die eine beängstigende Gleichförmigkeit auf weisen, entsprechen nicht den üblichen Baugewohnheiten der Se leniden. Es handelt sich hierbei bereits um eine zentrale sublunare Schutzsiedlung, die in sehr kurzer Zeit, während der Annäherung des Kometen, erbaut wurde. Es gibt mehrere ähnlich große Hohlräume auf dem Mond, die genauen Koordinaten sind in dem gefundenen Material angegeben. Doch jene dienten anderen Zwecken, entweder der Sicherung der Ernährung, der Produktion von Gebrauchsgegenständen, der Wei terentwicklung von Wissenschaft und Technik, der Erholung und Zerstreuung. Alle genutzten Hohlräume waren durch künstliche Sonnen auf der Basis von Materie- und Antimateriezerstrahlung in Stätten günstiger Lebensbedingungen verwandelt worden. Die Medizin der Seleniden war weit fortgeschritten. Durch ständigen Organaustausch konnte ihre Lebenserwartung in den letzten Jahr tausenden verfünffacht werden. Von Eliu wissen wir, daß er und Peria diese Zeitspanne noch einmal verdoppelt hatten, wobei ein selenidischer Lebenszyklus ungefähr vierzig Jahre betrug. Die Seleniden lebten zuletzt in einer klassenlosen Gesellschaft. Ihre hochentwickelte Technik gewährleistete einen hohen Lebens standard. Allerdings war die Fortpflanzungsfähigkeit der Seleniden
beiderlei Geschlechts zumindest in den letzten zehntausend Jahren stark zurückgegangen. Häufig ist zu lesen, daß für Geburtenfreu digkeit gesellschaftliche Anerkennungen und besondere Privilegien vergeben wurden. Doch ich muß meine Ausführungen straffen! Aufgrund der, vor ausgesagten Kometengefahr haben die Sopribewohner ihren Pla neten verlassen. Sie verwendeten dafür große, relativ einfache Raumschiffe. In den Überlieferungen ist sehr viel darüber zu lesen, welcher Planet als Zufluchtsort und künftige Heimat gewählt wer den sollte. Die Frage wurde schließlich durch ein Volksvotum ent schieden. Sechzig Prozent der Seleniden stimmten für die Erde, von der man wußte, daß dort verhältnismäßig hochentwickeltes Leben existierte. Es wird auch bestätigt, daß etwa achttausend Seleniden an der späteren Evakuierung nicht teilgenommen haben. Die irdische Insel, von der in den Wissensrollen ständig die Rede ist, muß Island oder eine früher wesentlich größere Insel an der selben Stelle gewesen sein. Doch das Unternehmen der Sopribe wohner stand unter einem unglücklichen Stern. Viele der übersie delten Seleniden kamen durch die riesigen Springfluten und Über schwemmungen bei der Annäherung ihres alten Heimatplaneten an die Erde ums Leben. Die Wissensrollen über unmittelbare Kontakte mit den Men schen, die aber erst um zweitausend vor der Zeitwende begonnen haben, befinden sich noch in der Übersetzung. Es gilt jedoch als sicher, daß die Seleniden mit allen Frühzentren der menschlichen Zivilisationsentwicklung in Mittelamerika, im Zweistromland, in Indien und in Afrika zumindest mittelbar in Verbindung gestanden haben.« Der betagte Präsident der Weltföderation bat um eine Pause. Dies war auch im Sinne der Zuhörer, die etwas Zeit brauchten, um das soeben Gehörte zu verarbeiten. »Bei den technischen Problemen«, fuhr van Müren dann nach kurzer Unterbrechung fort, »möchte ich mich ganz kurz fassen, denn es gibt zweifellos Berufenere, die darüber sprechen könnten.
Ich möchte nur die beiden Hauptsäulen der selenidischen Technik erwähnen, nämlich die Antimaterie und die Gravitation. Als Treib stoff für ihre Kosmobile und Raumschiffe verwendeten die Selen iden Antimaterie, aber mit einer ganz anderen Zielstellung, als uns dies heute zweckmäßig erscheint. Wenn wir von Antimaterie spre chen, dann denken wir meist nur an den maximalen Annihilisati onseffekt beim Zusammentreffen mit normalen Teilchen. Doch die Wissenschaftler auf dem Sopri waren schon in der Lage, aus Antiteilchen Antimaterie in größeren Mengen herzustellen. Wie bekannt ist, treten Teilchen und Antiteilchen nur paarweise auf. Ein solches Teilchenpaar, zum Beispiel aus Elektron und Positron bestehend, wandelt sich unter bestimmten Bedingungen in Photo nen um, also in Licht. Umgekehrt ist es aber auch möglich, aus Licht beliebige Teilchenpaare zu gewinnen. Die unmittelbare Son nennähe und enorme Strahlungsdichte auf der dem Zentralgestirn ständig zugewandten Planetenseite war für die selenidischen For scher ein ideales Experimentierfeld. Zur Umwandlung von Energie in Materie wurde die Sonnen strahlung von ihnen unmittelbar in großen Gravitationslinsen kon zentriert und mit Hilfe überdimensionaler Massenspektrographen in Teilchenpaare zerlegt. Der komplizierte Prozeß war, hieraus bestimmte Teilchen zu selektieren. Auf diese Weise gewannen sie große Mengen von Antiwasser, das sie generell als Gravitonentreibstoff benutzten. Diese Antiflüs sigkeit befand sich im unteren Teil ihrer Kosmobile und erzeugte dort eine Kraftkomponente in zentrifugaler Richtung, die der normalen Schwerkraft entgegenwirkte. Von großem Interesse und wieder neu für uns ist, daß beispiels weise Kohlenstoff auf die Antigravitation neutralisierend wirkt, so daß diese außerirdischen Flugkörper mit Hilfe von verstellbaren Kohlenstoffblenden gesteuert werden konnten. Bei der Darstellung der Gewinnung von Antimaterie und ihrer Anwendung als Antigravitonentriebkraft ist bereits das wichtige
Zusammenspiel zwischen Antimaterie und Gravitation in der sele nidischen Technik zu erkennen. Die ungefährliche Verbindung von Materie und Antimaterie, wie sie von den Sopribewohnern bei dem Pseudoquarzmaterial der Wohnpyramiden praktiziert wurde, führt bei der Einwirkung von starken Energieimpulsen zu dem durch unseren Mitarbeiter Nik Sullikow von der Wirkung her richtig gedeuteten Antiphotonenef fekt. Obwohl, das sagen auch die Wissensrollen, es real kein Anti photon gibt. Da die Seleniden die Technik der Elementarteilchen perfekt be herrschten, waren sie in der Lage, durch gravitative Lichtbeugung Sichtbares in Unsichtbares zu verwandeln. In einem bestimmten sublunaren Hohlraum besaßen sie große Anlagen, um elektrische Energie unmittelbar aus Plasma zu gewinnen. Die Wissensrollen, deren Inhalt etwas über den Stand ihrer kybernetischen Forschung aussagen, sind noch in der Übersetzung; aber nach einer groben Durchsicht enthalten sie ebenfalls äußerst interessante Ergebnisse. Ich möchte nicht noch auf die von unserer Wissenschaft als Grenzgebiete bezeichneten Problemkreise eingehen, von denen viele zum Wissensstand der Seleniden gehörten. Es soll nur ein Beispiel sein, wenn ich Ihnen sage, daß die vor fast hundert Jahren von dem sowjetischen Astrophysiker Kozirew aufgestellte Hypo these, daß die Zeit eine besondere, von uns zunächst nicht defi nierbare Energieform ist, die manipuliert werden kann, bewiesen ist. Damit will ich schließen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerk samkeit und möchte Ihnen noch den Leiter der Moskauer Transla tionszentrale für selenidische Wissensrollen, Professor Boris Sagi tow, vorstellen, der Ihre Fragen beantworten wird.« Professor Sagitow war ein junger, sympathischer Mann, den ein schwarzer Vollbart älter erscheinen ließ. Er hatte das Rednerpult noch nicht erreicht, als sich schon Dr. Jarzew, stellvertretender Leiter des biomedizinischen Institutes von Lunapol, zu Wort mel dete. »Warum sind die Seleniden, die sicher eine sehr lange Ent wicklungszeit hatten, innerhalb der relativ kurzen Frist von rund dreißigtausend Jahren ausgestorben?«
»Vorausschicken möchte ich, daß die selenidische humanoide Entwicklung etwa fünfhunderttausend bis eine Million Jahre früher als die Entwicklung des Erdenmenschen begonnen hat«, antworte te Professor Sagitow. »Hier liegt eine der Ursachen für das Aus sterben. Die selenidische Lebensform hatte biologisch bereits eine hohe Entwicklungsstufe erreicht. Das ständige, wohlgemerkt bio logisch bedingte Geburtendefizit führte zu einer permanenten und gefährlichen Reduzierung der Bevölkerungszahl. Trotzdem hätten die Sopribewohner unter normalen, ihnen entsprechenden Um weltbedingungen noch weitere Jahrzehntausende existieren kön nen. Daher muß als zweiter, ausschlaggebender Grund die inter planetare Umsiedlung genannt werden. Die völlig anderen Ver hältnisse auf der Erde haben das biologische Ende der Seleniden beschleunigt. Aus den nur zum Teil übersetzten Jahresberichten des Aufent haltes der Seleniden auf der Erde geht eindeutig hervor, daß diese dort immer nur bemüht waren, ihre Art zu erhalten. Sie waren zu diesem Zeitpunkt als Lebensform entwicklungsgeschichtlich viel zu alt, um sich noch den anderen Lebensbedingungen anpassen zu können.« Eine weitere Wortmeldung kam von Dr. Falaise, der das moder ne Ambulatorium von Lunapol betreute und ein bekannter Ast romediziner war. »Es wurde von mehrfacher Verlängerung der Lebensrhythmen der Seleniden durch Organverpflanzung gespro chen. Gibt es hierzu schon übersetzte Details?« »Auf diesem Gebiet sind unsere Informationen noch nicht voll ständig. Die Wissensrollen sprechen von einem permanenten Or ganaustauschzyklus. Im Prinzip war bei ihnen der Austausch aller inneren Organe möglich. Jedoch, und das scheint mir sehr wesent lich, verstand man unter Organaustausch weniger die operative Einbringung gesunder Fremdorgane als vielmehr die periodische Regenerierung der eigenen Organe. Für diese Zeitspanne der Re generation wurde dem Patienten nur kurzfristig ein synthetisches Äquivalenzorgan eingesetzt.«
Die nächste Frage stellte ein älterer Polyzoologe, der ein Labora torium für Radiozoologie in der Nähe von Lunapol leitete. »Ist aufgrund der Auswertung der Wissensrollen schon etwas Näheres über die frühere Fauna des Sopri zu erfahren?« »Zwar gab es auf dem Mond vor der Katastrophe keine Vögel, jedoch sehr viele andere Tierarten, die nur in ständiger Dunkelheit und im Schnee und Eis der von der Sonne immer abgewandten Planetenseite lebten. Man könnte diese Tierarten, die mausgroß bis bärengroß waren, als eine Familie von Nachtsäugetieren mit be sonders großen Augen und unterschiedlichen anabiotischen Le bensunterbrechungen bezeichnen. Für unsere bisherigen zoologi schen Kenntnisse völlig neu ist das Vorhandensein vielfältiger in sektenartiger Lebensformen, die noch bei sehr tiefen Temperatu ren existieren konnten. Ich möchte hier als vielleicht charakteristi sches Beispiel nur ein von uns Gletscherspinne genanntes Lebewe sen erwähnen, das mit einer Rumpflänge von etwa zwei Metern fluoreszierender Körperhülle und sechs Beinen mit großen Saug näpfen ein schauerlicher Tyrann der ewig dunklen Sopriarktis ge wesen sein muß. Diese Darstellungen lassen sich beliebig ergänzen. Doch ich muß betonen, daß für alle Tierarten und auch für die humanoiden Formen die eigentliche Entwicklung immer in dem schmalen Streifen gemäßigten Klimas begonnen hat.« Es wurden noch viele Fragen beantwortet, ehe Präsident van Müren die interessante Diskussion beendete.
Mexikanische Ruinen Fast schien es so, als wären die letzten Tage und Wochen, die die Menschen in aller Welt zunächst in Spannung und dann in Angst und Schrecken versetzt hatten, nur ein finsterer Alptraum gewe sen. Der Besuch des Präsidenten der Weltföderation für Raum fahrt in Lunapol hatte symbolisch einen Schlußstrich unter die aufregenden Ereignisse gesetzt, denn der Menschheit harrten noch andere Probleme, die zu lösen waren. Auch für die Techniker und Wissenschaftler auf dem Mond gab es viel Arbeit. Die Zerstörungen durch das gewaltige Beben waren umfangreicher, als man zunächst angenommen hatte. Pawel Rinald sah beim Wiederaufbau sofort neue Möglichkeiten für eine stärke re Industrialisierung der Mondsiedlungen. Vor zwanzig Jahren mußte das gesamte benötigte Material Ton ne um Tonne kostspielig mittels Transportraketen von der Erde zum Mond gebracht werden. Das sollte kein zweites Mal gesche hen! Der Kurator hatte bereits eine Aufstellung der wichtigsten Ma schinen anfertigen lassen. Wenn er diese Anlagen kurzfristig er hielt, würden die Zerstörungen rasch beseitigt und die For schungsarbeiten wieder aufgenommen werden können. Seit dem Unfall im Teleimaginator hatte Ben Darkens täglich Ira Beaux in der provisorischen Krankenstation im Untergeschoß des Titow-Hotels besucht. Am vierten Tag lag sie noch immer in tiefer Bewußtlosigkeit, und Dr. Falaise, der darum gebeten hatte, ihre Behandlung zu übernehmen, konnte Ben Darkens nur dahin ge hend beruhigen, daß bei seiner Patientin keine inneren Verletzun gen festzustellen waren. Ihre Bewußtlosigkeit führte er auf Über anstrengung und auf Schockwirkung zurück. Er bat Ben Darkens, den Hergang des Unfalls noch einmal ganz genau zu schildern.
Der Chefselenologe dachte an den Schwindelanfall von Ira, als sie sich beide mit der Adapterwand beschäftigt hatten. War das vielleicht schon eine erste Ursache der schweren Erkrankung ge wesen? Dann saß er Ramon Falaise lange gegenüber. Die ruhigen, prüfenden Augen des Arztes verweilten manchmal zweifelnd auf Darkens’ wettergebräunten Gesichtszügen, wenn dessen Ge schichte gar zu abenteuerlich klang. Aber es gab keinen Grund zu zweifeln. Als der Wissenschaftler auf die Lichtringe vor dem Kabinenein stieg zu sprechen kam, wurde der Mediziner plötzlich lebhaft. »Darkens, das ergibt ja völlig neue Anhaltspunkte. Warum haben Sie mir das nicht gleich erzählt? Dadurch entsteht doch bei Ira Beaux ein ganz anderes Krankheitsbild!« sagte er betroffen. Doch als er das erschrockene Gesicht des sonst so gefaßten Chefseleno logen sah, lenkte er sofort ein. »Ich bin trotzdem fest davon über zeugt, daß Sie schon in wenigen Tagen wieder mit ihr sprechen können.« Ben warf noch einen Blick durch die Scheibe der Krankenzim mertür. Es war immer das gleiche Bild, dennoch schien es ihm, als seien diesmal Iras Wangen ein wenig gerötet. Als Dr. Falaise wieder allein in seinem Ordinationszimmer war, ging er nervös auf und ab. Er holte sich Bücher von nebenan. Er las, überlegte und nahm seinen Rundgang wieder auf. Unbedingt mußte er sich mit einem Fachkollegen aussprechen. Über Video phon verständigte er seinen Freund Dr. Jarzew und bat ihn, für kurze Zeit zu ihm zu kommen. »Lieber Michail«, begann Falaise das Gespräch, als Jarzew bei ihm eintrat, »wie würden Sie einen Patienten behandeln, der durch unbekannte hypnoseartige Einflüsse bewußtlos geworden ist? Könnte so etwas überhaupt möglich sein?« »Das ist eine sonderbare Fragestellung an einen Biomediziner«, erwiderte Jarzew bedächtig, um Zeit zu gewinnen. »Sie wissen ja, es handelt sich um Ira Beaux, die Astronomin, die während des großen Bebens in einer psychotechnischen Einrich
tung der Seleniden verunglückt ist. Nachdem mir Ben Darkens vorhin nochmals den genauen Hergang geschildert hat, glaube ich, daß ihr Zustand mehr die Folge fremder hypermnemonischer oder hyperneurotischer Einflüsse ist.« »Soviel ich weiß, soll dieser Teleimaginator Eindrücke und Vor stellungen vermitteln. Wenn ich davon ausgehe, dann muß ich Ihnen recht geben. Hierzu ist ein Zustand unterbewußter Auf nahmebereitschaft bei Ausschaltung des Bewußtseins notwendig«, sagte Dr. Jarzew. »Das würde theoretisch bedeuten, daß ich versuchen müßte, eine uns unbekannte Suggestion bei der Patientin aufzuheben.« »Kollege Falaise, ich glaube, wir betreten da Neuland. Wir wis sen, daß der Mensch durchaus in der Lage ist, sich an außerirdi sche Bedingungen und Verhältnisse zu gewöhnen. Denken Sie zum Beispiel an längere Flüge in Raumschiffen, an bemannte Or bitalstationen oder an uns Lunauten. Wir leben seit Jahren mehrere hunderttausend Kilometer von unserer Erde entfernt. Haben wir uns deshalb verändert? Doch wohl nicht. Der Mensch meistert also außerirdische Verhältnisse oder, sagen wir besser, außerirdi sche Lebensbedingungen durchaus. Aber wie wird er sich verhal ten, wie wird er reagieren oder beeinflußt werden, wenn er mit hochentwickelten nichtirdischen Lebensträgern und deren Technik und Denkweise in Berührung kommt? Ich glaube, unsere Kommunikationstheorie über das mögliche Verhalten bei Kontakt mit Außerirdischen ist viel zu abstrakt. So, wie wir Angst und Freude empfinden können, wie wir Sympathie und Abneigung verspüren, wäre es doch auch möglich, daß eine andere Welt mit all ihren unterbewußten Einflüssen in uns auch ganz neue, bisher völlig unbekannte Emotionen wecken könnte. Kennen wir die Tiefe der menschlichen Empfindungswelt?« »Ich verstehe Sie recht gut! Doch ich hoffe, daß wir bei Ira Beaux nicht gleich vor einem Präzedenzfall stehen. Aber die von Ihnen angedeutete Richtung, die Betrachtungsweise, wirkt über zeugend. Ich werde Sie auf dem laufenden halten«, sagte Falaise.
In den folgenden Tagen veränderte sich Iras Zustand zusehends positiv. Falaise behandelte sie mit Reizströmen und Teslaschocks. Zusätzliche Sauerstoffatmung und unterschiedliche Geräuschein wirkungen trugen dazu bei, daß sie schließlich die Augen öffnete. Auf ihre erste Frage, wo sie sich befinde, gab ihr Dr. Falaise nur eine kurze Erklärung, dann wurde ihr sofort ein Tiefschlafmittel verabreicht. Unterdessen traf der Mediziner umfangreiche Vorbe reitungen für eine psychiatrische Behandlung. Nach etwa dreißig Stunden Schlaf erwachte Ira und fühlte sich ungewöhnlich frisch. Eine anschließende gründliche Untersuchung bestätigte, daß die Patientin organisch völlig gesund war. Aber schon die wenigen während der Untersuchung mit ihr gewechsel ten Worte machten den Mediziner stutzig. In einem längeren Ge spräch, das sich ausschließlich mit den Umständen des Unfalls und den Besonderheiten der Expedition beschäftigte, erhielt er die Bes tätigung, daß die Astronomin für einen bestimmten Zeitabschnitt ihr Gedächtnis verloren hatte. Ob es nur ein vorübergehender Zustand war, darauf wußte Dr. Falaise noch keine Antwort. Selbstverständlich konnte sie aufstehen, Bewegung und Kontakt mit anderen Menschen würden ihrer weiteren Genesung dienlich sein. Als Ben Darkens mit einem kleinen Blumenstrauß aus der Ter rafloraanlage von Lunapol die Krankenstation betrat, erfüllte ihn große Unruhe. Falaise nahm ihn beiseite und brachte ihm scho nend bei, was er über Iras Zustand wußte. Ben war zutiefst er schrocken. Dann standen sie sich gegenüber. Ira begrüßte ihn freundlich, aber er spürte sofort, daß sie ihn nicht erkannte, zumindest nicht so erkannte, wie er sich das gewünscht hatte. »Ira, wir haben gemeinsam den Teleimaginator der Seleniden be fragt, als uns das Mondbeben überraschte. Glücklicherweise waren Sie sicher angeseilt. Was haben Sie getan, als Sie die Erschütterun gen spürten?« Sie schaute ihn mit großen Augen an.
»Und vor allem«, fuhr Darkens geduldig fort, »was wollten Sie mir kurz vorher zurufen? Ich konnte Sie nicht verstehen.« »Ja, ich entsinne mich«, kam es stockend über ihre Lippen. »Ich erinnere mich, daß wir beide eine tiefe Treppe hinunterschritten in ein unheimliches rundes Gewölbe. Dort haben wir die Schutzhel me abgenommen, und dann wurde es mir schwarz vor Augen.« Ben atmete auf. Der Arzt hatte sich zwar nicht getäuscht, aber der Gedächtnisschwund betraf erstaunlicherweise nur jene Stun den, die sie beide im Bereich der selenidischen Psychotechnik ver bracht hatten, im Bereich der Adapterwand. Vielleicht würde sich Ira auch nach und nach wieder an Einzelheiten entsinnen, wenn sie länger und detaillierter darüber sprachen. Ira Beaux stand am Fenster und blickte auf das künstliche Pano rama. Ben betrachtete sie zärtlich und spürte, wie lange unter drückte Gedanken und Regungen in ihm aufstiegen. Nach dem kurzen Besuch, der von Dr. Falaise nachdrücklich beendet wurde, sprachen die beiden Männer noch längere Zeit miteinander. Der Arzt machte Ben Darkens mehrfach darauf aufmerksam, daß er Iras Zustand noch immer mit gewisser Besorgnis betrachte und daß er sich in den nächsten Tagen gründlich mit der Proble matik beschäftigen werde. »Lieber Ben Darkens«, schloß er die Unterredung, »es kann sein, daß ich Sie als Mittelsperson oder Ka talysator für neue Experimente benötige.« Schon am übernächsten Abend erhielt Ben Darkens einen Anruf von Dr. Falaise. Der Arzt bat ihn um einen Besuch in der Kran kenstation. Nach reiflichem Überlegen wollte er versuchen, Iras Gedächtnisschwund telepathisch zu behandeln. Ben Darkens sollte dabei als beeinflussender Faktor mitwirken. Dr. Falaise war es als feinfühlendem Menschen längst aufgefallen, daß die beiden Lunau ten, die er sehr schätzte, mehr als Kollegialität verband. Mit Hilfe eines Elektroenzephalographen und der REMMethode wollte Falaise feststellen, ob die Patientin auf Vorstellun gen und Gedanken, die die Welt der Seleniden betrafen, besonders
empfindlich reagierte. Ein künstlich erzeugter Traumzustand wür de dies vielleicht offenbaren. Ben Darkens wollte Dr. Falaises Vorschlag zunächst nicht zu stimmen, da er diese Methode für eine unnötige Quälerei der Pati entin hielt; dann ließ er sich aber doch überzeugen. »Denken Sie intensiv an die Ereignisse im Teleimaginator, mög lichst in der genauen chronologischen Reihenfolge. Denken Sie dabei immer an Ira, und gehen Sie bei allen Gedanken immer da von aus, Sie wollten ihr etwas mitteilen. Verstehen Sie, ich möchte alles versuchen, um die Gedächtnislücke zu schließen, zunächst auf dem Umweg über das Unterbewußtsein«, sagte er. Ira schlief schon seit einigen Stunden tief und fest. Ben befand sich im Nebenzimmer und konnte durch ein Glasfenster sehen, wie sie sich unruhig auf ihrem Lager hin und her warf. Dr. Falaise bediente Apparate, beobachtete Oszillographen schirme und hob sehr häufig Iras Augenlider. Dabei schien sein Kopfnicken seine Theorie zu bestätigen. »Jetzt denken Sie einmal an etwas ganz anderes«, sagte er dann zu Darkens, nachdem er ins Nebenzimmer getreten war. »Viel leicht wählen Sie Ereignisse, die Ihnen noch von der Zerstörung des Quecksilberrotationsteleskops her in Erinnerung geblieben sind.« Ira lag jetzt wesentlich ruhiger, und wieder eilte Dr. Falaise ge schäftig hin und her. »Es ist so, wie ich vermutet habe. Ira Beaux befindet sich, auch wenn sie sich äußerlich völlig normal verhält, im gewissen Sinne noch in einem Trancezustand«, erklärte er dem gespannt warten den Darkens, als das Experiment zu Ende war. »Wenn sie erwacht, werde ich sie fragen, was sie geträumt hat. Ich werde sie auf Ton band sprechen lassen, denn ich denke, daß es Sie interessieren wird. Einverstanden?« Das Ergebnis war nicht ermutigend. Ira hatte zwar geträumt, dessen entsann sie sich. Aber sie vermochte keine Details an
zugeben. Das war zwar nicht ungewöhnlich und ist bei vielen Menschen der Fall. Aber für Iras speziellen Zustand schien es symptomatisch zu sein. Dr. Falaise ließ sich aber nicht entmutigen und wollte noch ein weiteres Experiment durchführen. Diesmal sollte nicht das Unterbewußtsein, sondern das Bewußtsein ange sprochen werden. Nachdem der Arzt Ben Darkens über Art und Umfang des Ver suches informiert hatte, war dieser zur Mitarbeit bereit. Mittels eines Plethysmographen, eines Meßgerätes, das die Blut zirkulation in den Fingerspitzen bei Gefühlsregungen registriert, sollte der Einfluß von Ben Darkens’ konzentrierten Gedanken auf das Gedächtnis von Ira Beaux untersucht werden. Die Patientin reagierte zwar, wenn Darkens an Ereignisse im Te leimaginatorschacht dachte, hatte aber selbst keine Vorstellung von dem Geschehenen. Weitere Versuche schienen zunächst aus sichtslos zu sein. Vielleicht sollte man doch einige Zeit verstrei chen lassen? Als Dr. Falaise wenig später Ira Beaux und Ben Darkens um eine kurze Unterredung bat, hatte er vorher ein längeres Gespräch mit dem Mondkurator geführt und dessen Einverständnis erwirkt. »Ich hoffe, daß Sie über das, was ich Ihnen jetzt eröffne, nicht ungehalten sind. Ich verordne der Astronomin Ira Beaux einen längeren Erholungsaufenthalt auf der Erde, aus klimatischen Gründen an der mittelamerikanischen Küste. Reisebegleiter und Betreuer wird Ben Darkens sein, und zur Gesellschaft erhalten Mara Bhali und Ives Lorin zur selben Zeit Erdurlaub. Der Mond kurator bittet, die wohlverdiente Reise unbedingt anzutreten, und zwar sogleich«, sagte er schmunzelnd. Die beiden befreundeten Paare aus Lunapol befanden sich schon seit einigen Tagen in Acapulco und genossen die Freizeit in vollen Zügen. Ira Beaux lebte von Tag zu Tag mehr auf. Die ständige Nähe von Ben Darkens ließ sie alles vergessen, was an Tragischem und Unheimlichem in der letzten Zeit auf sie eingestürmt war. Sie
fühlte, wie der selbstsichere und sachliche Ben Darkens ihr immer näherkam. Das tat ihr wohl und stärkte ihr Selbstvertrauen, das ein wenig ins Wanken geraten war. Ira liebte es, im Schatten der Palmen im warmen Sand zu liegen und daran zu denken, wie es sein würde, wenn sie immer mit Ben Darkens zusammen wäre. Daß er wesentlich älter als sie war, hatte sie nie empfunden. Ben Darkens schritt in einer Sporttaucherausrüstung zum Meer. Tauchen war von jeher sein Hobby. Ira winkte ihm zu. Mara und Ives waren längst in den glasklaren blauschimmernden Fluten ver schwunden. Unweit des südlichen Strandendes hatten sie in etwa fünfzehn Meter Tiefe ein Segelschiffwrack ausgemacht. Das woll ten sie unbedingt freilegen und möglichst identifizieren. Für die nächsten Tage war Sturm angesagt, da war an Tauchen nicht zu denken. Abends saßen sie wie schon oft beim gedämpften Licht bunter Lampions auf der Terrasse des Kuba-Watels und genossen den Blick auf das dunkle, mit weißen Schaumkronen bedeckte Meer. Da an ihrem Tisch noch Stühle unbesetzt waren, dauerte es nicht lange, und ein älterer Mexikaner bat, bei ihnen Platz nehmen zu dürfen. »Paolo Madeiro«, stellte er sich vor. Ira, die am Strand schon einige Bücher über Land und Leute und die Geschichte Mexikos gelesen hatte, dachte angestrengt nach. In welchem Zusammenhang hatte dieser Name ihre Aufmerksamkeit erregt? Da fiel ihr ein, ja, Madeiro, so hieß einer der beiden mexi kanischen Archäologen, die im Jahre neunzehnhundertunddreißig im Urwald von Yucatán die Mayaruinen entdeckt hatten. Ob sie den bärtigen Gast einmal danach fragen sollte? Vielleicht machte sie sich auch lächerlich, weil der Name Madeiro hier sehr oft vor kam. Doch ihre einmal entfachte Neugierde ließ sich auf die Dauer nicht unterdrücken. Auch die Höflichkeit verlangte eigentlich, den Tischgast, der sich vorgestellt hatte, ins Gespräch zu ziehen. So wandte sie sich an den freundlichen, aber bisher schweigsamen Mexikaner, der die vier Fremden schon mehrfach interessiert ge
mustert hatte. »Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber könnte es sein, daß Sie mit dem vor mehr als hundert Jahren durch seine Ausgrabungen berühmt gewordenen Archäologen gleichen Namens verwandt sind?« Der Angeredete lächelte und war erstaunt über die speziellen his torischen Kenntnisse der Ausländerin. »Sie haben recht, Senora, jener Madeiro war mein Urgroßvater. Ich bin dem Familienmetier treu geblieben und betätige mich ebenfalls als Archäologe«, ant wortete er. »Aber gestatten Sie mir bitte auch eine Frage. Wenn ich mich nicht gewaltig täusche, dann sitze ich hier mit vier ganz be rühmten Mondforschern aus Lunapol an einem Tisch. Ich kenne Sie von Bildern aus der Presse und aus Fachzeitschriften. Na, habe ich recht?« Im Laufe des Abends entspann sich nun ein sehr interessantes Gespräch, in dessen Mittelpunkt sowohl die Entdeckung der Reste einer selenidischen Zivilisation als auch das sagenhafte Volk der Mayas und seine Geschichte standen. Paolo Madeiro war ein aus gezeichneter Erzähler, und die vier, die sich geschworen hatten, im Urlaub keine Silbe über ihre Arbeit zu sprechen, gingen, ohne daß sie es richtig bemerkten, willig auf seine vielen Fragen ein. Madeiro berichtete von den vielen Ruinenstädten mitten im Urwald, und er sprach davon, daß die Kultur der Mayas einst über ein fast hun derttausend Quadratkilometer großes Gebiet verbreitet war und daß beispielsweise die Ursache der großen Völkerwanderung der Yucatáneinwohner in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrech nung noch immer nicht ganz klar ist. »Und das erstaunliche ist«, fuhr er, durch das unverhohlene Interesse seiner Zuhörer angeregt, fort, »daß gerade dann, wenn sich ein Bild aus der Entwicklung der Mayas abzurunden scheint, immer wieder Entdeckungen gemacht werden, die alle bisherigen Erkenntnisse in Frage stellen. Die Ar chäologie ist also keinesfalls nur eine trockene, staubige Angele genheit.« Er lachte, daß seine weißen Zähne blitzten. Als man sich gegen Mitternacht herzlich voneinander verab schiedete, sagte er: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie haben die sterblichen Überreste der letzten Seleniden und ihre große
Höhlenstadt mit eigenen Augen gesehen. Es mag seltsam klingen, aber unter den alten Bauwerken der Mayastadt Uxmal befindet sich auch ein Haus der Zwerge. Sie sollten sich das einmal anse hen. Wer weiß, eventuell gibt es irgendwelche Verbindungen zu den körperlich verhältnismäßig kleinen Seleniden, die viele Jahr tausende auf der Erde gelebt haben. Wenn es Sie interessiert, wür de ich Sie übermorgen zu jener Ruinenstadt begleiten. Allein schon der Flug über den Urwald ist ein Erlebnis! Sind Sie einverstanden?« Sie hatten gegen diese Unterbrechung des faulen Strandlebens nichts einzuwenden. Pünktlich stellte sich Paolo Madeiro am übernächsten Tag ein. Ein Taxi brachte sie zu dem nahe gelegenen Flugplatz von Aca pulco, wo der Mexikaner sein Flugzeug abgestellt hatte. Es war ein Coleopter, ein Ringflügler, der in allerletzter Zeit anstelle der Hub schrauber für spezielle Zwecke im Luftverkehr eingesetzt wurde. Die kugelförmige Kabine, die bis zum unteren Drittel mit einem glasklaren Material abgedeckt war, gestattete einen idealen Rund blick. Während sie mit geringer Geschwindigkeit den üppigen Urwald überflogen, war der freundliche Mexikaner ein unermüdlicher Erklärer. Als sie über den Ruinen der größten Mayastadt Chichén Itzá kreisten, einem Gebiet von fast dreieinhalb Quadratkilometer Ausdehnung, versäumte er nicht, darauf hinzuweisen, daß das Bild, das sich dem Beschauer von oben darbiete, nichts mehr mit dem Zustand der Ruinen zur Zeit ihrer Entdeckung zu tun habe. Die rekonstruierten Gebäude standen in einem Gelände, wo der Tropenwald entfernt worden war. Eine breite Straße, auf der ein reger Autoverkehr herrschte, führte von Mérida, der Hauptstadt Yucatáns, zu den Ausgrabungsstätten. Nach einer weiteren Flugstunde in nordwestlicher Richtung hat ten sie ihr Ziel, die Ruinen von Uxmal, erreicht. »Sie haben uns nicht zuviel versprochen«, sagte Ira Beaux schon beim Aussteigen, »allein schon der Flug über den mittelamerikani schen Urwald ist ein einmaliges Erlebnis!«
Das Ruinenfeld war nur ein wenig kleiner als das von Chichén Itzá. Beeindruckt standen die Wissenschaftler vor den mit unzähli gen Ornamenten verzierten Bauwerken. Madeiro machte sie darauf aufmerksam, daß den einzelnen Gebäuden nachträglich von den Archäologen entsprechend bestimmten vorherrschenden Schmuckmotiven Namen gegeben worden waren. So zeigte er ihnen das »Haus des Propheten«, das »Haus der Nonnen«, das »Haus des Statthalters«, das »Haus der Schildkröte«, das »Haus der alten Frau«, das »Haus der Tauben« und schließlich auch das »Haus der Zwerge«. Bevor sie eintraten, sagte Madeiro, viele der Mayaruinen besäßen kleine Zimmer und Türen, genau wie diese hier. Es sei also gar nicht so abwegig, anzunehmen, daß in diesen Gebäuden tatsäch lich einmal ein Liliputanervolk gewohnt habe. Ira fühlte sich sonderbar berührt. Unwillkürlich, wie Schutz su chend, griff sie nach Bens Arm. Er schaute sie verwundert an. Während Madeiro, Mara und Ives schon in dem Gebäude ver schwunden waren, blieb Ira vor der kleinen Eingangsöffnung zö gernd stehen. »Ben, ich weiß, es ist töricht von mir, aber ich habe einfach Angst, da hineinzugehen. Eine ungewisse Ahnung sagt mir, daß sich mir in Kürze etwas Unheimliches offenbaren wird.« Ben Darkens glaubte genau zu wissen, was Ira bewegte. Wie soll te er sich verhalten. Jetzt hätte er den Rat von Dr. Falaise dringend gebraucht. Sekunden schwankte er und wog ab, was zu tun sei. Er entschied sich, mit Ira in das »Haus der Zwerge« zu gehen. Der Bann, der sich auf ihr Gedächtnis und – so schien ihm jetzt – auch auf ihr Gemüt gelegt hatte, konnte nicht allmächtig sein. Sich normal zu verhalten war in psychisch kritischen Situationen meist richtig. »Ira, bitte komm! Wir wollen Madeiro nicht enttäuschen. Er möchte uns eine Freude machen.« Liebkosend fuhr seine Hand über ihr Haar, dann zog er sie mit sich fort. Halbdunkel nahm sie gefangen. Die geneigten Wände und der fahlgelbe Ton, in dem das Innere des Gebäudes schimmerte, erin
nerten die beiden stark an jene Augenblicke, als sie zum erstenmal die selenidischen Wohnpyramiden betreten hatten. Die Decke des schmalen Korridors, in dem sie standen, war so niedrig, daß sie sich bücken mußten. Ira schauderte. War es die Kälte, die von den feuchten Wänden ausging, oder ihre innere Erregung, deren sie nicht Herr werden konnte? Aus dem Nebenraum hörten sie Paolos laute Stimme. Durch die Türöffnung fiel flackernder Lichtschein, wie von einer Fackel. »Komm, Ben, laß uns zu den anderen gehen. Wo Licht und Menschen sind, fühle ich mich wohler.« Tatsächlich hatte der Mexikaner eine Fackel angezündet, die den wesentlich größeren Raum nebenan wie einen Dom erscheinen ließ. Die schrägen Wände liefen in etwa acht Meter Höhe zu einem vielflächigen Dach zusammen. Ives Lorin, der Ben und Ira eintreten sah, stand in der Mitte des Raumes und zeigte bedeutsam in eine der düsteren Ecken. Tatsächlich, dort befand sich, unansehnlich und vor Staub und Schmutz kaum zu erkennen, eine aus Kugeln errichtete Pyramide, gestapelt wie Kanonenkugeln in längst vergangenen Zeiten. Ben Darkens ließ Iras Arm los und eilte mit Ives dorthin. »Senor Ma deiro, bitte kommen Sie mit der Fackel hierher. Man sieht ja nichts!« rief er. Der Mexikaner, den eigentlich nichts so schnell aus der Ruhe bringen konnte, wunderte sich über das plötzliche Interesse der Lunauten an den unscheinbaren Kugeln, denn er kannte ja nicht alle Einzelheiten, die bei der Entdeckung der Höhlenstadt und beim Eindringen in die Wohnbauten der Seleniden eine Rolle ge spielt hatten. Ben Darkens, dem es zu lange dauerte, bis Madeiro näher kam, ließ sein Feuerzeug aufflammen und entfernte mit dem Taschen tuch den Staub von den Kugeln. Deutlich waren jetzt verschiedene Farben zu erkennen, Rot, Gelb, Grün und Blau. Es waren diesel
ben Farbtöne, wie sie die wesentlich kleineren Kugeln aus Elius Raumanzug aufwiesen. Mit wenigen Worten erläuterte nun Ben Darkens dem Mexikaner die Funktion dieser Kugeln. Dann faßte er ihn, impulsiv wie im mer, wenn ihn innerlich etwas erregte, an beiden Schultern und rief: »Sie haben ganz richtig vermutet! Es gibt bestimmte Zusam menhänge und Beziehungen zwischen den Mayas und den Selen iden. Die eben entdeckten Kugeln sind ein Beweis dafür. Bitte, Senor Madeiro, besorgen Sie mir ein größeres Stück Eisen oder Stahl!« Ben Darkens hatte die Fackel ergriffen. Der Mexikaner entfernte sich schnell. Es war ein gespenstisches Bild, als sein Schatten, an den Wänden grotesk verzerrt, immer kleiner wurde. Besonders Ira, die früher nie unter Angstzuständen gelitten hatte, spürte deutlich, ja fast körperlich, wie die Umgebung, die Vergan genheit, die ganze Atmosphäre in dem Saal von ihr Besitz ergrif fen. Abwehrend hob sie die Hände und wollte Ben Darkens rufen, der keine fünfzehn Meter von ihr entfernt stand. Doch ihre Stim me versagte den Dienst. Eine unerklärliche Angst hatte sich ihrer bemächtigt. Wenig später war Madeiro zurück, triumphierend gestikulierte er mit einem großen Schraubenschlüssel. Ben erläuterte nun allen das Phänomen der Abstoßungskräfte, das Bojan bei den Kugeln entdeckt hatte. Als er sich mit dem gro ßen Schlüssel vorsichtig dem Kugelstapel näherte, zeigte sich die gleiche Wirkung. In etwa dreißig Zentimeter Abstand wurde sein Arm wie von einer übermächtigen Kraft festgehalten. Der Mexikaner, der staunend zugesehen hatte, kniete sich neben Ben Darkens hin, faßte das freie Ende des großen Schlüssels und stemmte sich ebenfalls mit aller Gewalt dagegen. Plötzlich brach der Stapel zusammen, die Kugeln flogen nach al len Richtungen auseinander, und die beiden Männer fielen nach vorn auf den gestampften Fußboden.
Sicher wären jetzt alle in ein befreiendes Gelächter ausgebro chen, wenn nicht Mara, die neben Ira stand, im selben Augenblick einen lauten Schrei ausgestoßen hätte. »Ira ist ohnmächtig gewor den!« rief sie. Sie hielt die wie leblos wirkende Astronomin, deren Kopf hintenübergesunken war, nur mühsam aufrecht. Ben Darkens war sofort aufgesprungen und zu der Bewußtlosen geeilt. »Ira, hörst du mich? Was ist mit dir?« Dabei strich er ihr zärtlich über das Gesicht. Kurz entschlossen nahm er sie auf beide Arme und trug sie hinaus. Die anderen folgten ihnen bedrückt. Vorsichtig bettete er Ira in den Schatten einer dickstämmigen Kaktee. Er benetzte mit dem Wasser, das Madeiro schnell aus dem nahe gelegenen Brunnen geholt hatte, das Gesicht der Ohnmächti gen. »Ich hätte es wissen sollen; es war Leichtsinn von mir, sie hat es gefühlt«, murmelte er verzweifelt vor sich hin. »Der Puls ist normal. Die Ohnmacht kann nicht sehr tief sein, sie wird gleich wieder zu sich kommen«, sagte Mara, die Ira sofort untersucht hatte. Ben netzte und fächelte noch immer und blickte dem davonei lenden Mexikaner nach, der sich um einen Arzt bemühen wollte. Er war zutiefst erschüttert. Was nützte die Entdeckung der Maya kugeln, wenn sich Iras Krankheit dadurch verschlimmert hatte. »Ben«, flüsterte Ira plötzlich und bewegte kaum die Lippen, »bist du da?« Ihre Hände griffen ins Leere, dann umklammerten sie seinen Arm. »Ich weiß jetzt wieder, was ich im Teleimaginator gesehen habe. Ganz deutlich sehe ich den Krater Gebrüder Wawilow mit den vielen Lagerschächten vor mir.« Darkens, voller Freude, daß Ira wieder zu sich gekommen war, hatte gar nicht so genau auf ihre Worte geachtet. Ira sprach wieder, das war die Hauptsache! Doch was hatte sie eben gesagt, Krater Gebrüder Wawilow? Dieses Gebiet lag doch fast im Zentrum der der Erde abgewandten Mondseite? Von dort war das Mondbeben bestimmt nicht ausgegangen. Wenn dort nun noch immer die An timaterie lagerte? Nein, das konnte doch nicht sein! Dann stand die
Katastrophe ja noch immer bevor. Seine Gedanken überschlugen sich. Ira, deren Stimme kaum zu verstehen war, sprach unbeirrt wei ter. Ben hörte jedes Wort. Als sie jetzt genau beschrieb, wie sich die Metalldeckel großer, senkrecht in die Tiefe des Mondes rei chender Schächte geöffnet und den Blick auf riesige Autoklaven freigegeben hatten, schwanden seine Zweifel mehr und mehr. Das konnten keine Halluzinationen sein, das waren genaue Beschrei bungen technischer Details, wie sie Ira im Teleimaginator übermit telt worden waren! Als Paolo Madeiro nach mehr als einer Stunde endlich mit einem Arzt eintraf, war Ira schon wieder wohlauf. Doch nachdem Ben Darkens dem Mediziner die näheren Zusammenhänge der Ohn macht erläutert hatte, wurde der sehr ernst und empfahl, nach ei nigen Tagen der Ruhe Dr. Falaise zu konsultieren. Der wunderschöne Urlaub hatte damit sein Ende gefunden, und neue, gefährliche Unternehmungen würden beginnen. Bei Ben Darkens jedoch überwog die Freude, daß Ira die Auswirkungen jenes bedenklichen Schocks endgültig überwunden hatte. Von der Bestätigung, ob Iras gewonnene Eindrücke unumstößli che Realität waren oder nicht, hing nun erneut das Wohl der Menschheit ab. Mit der nächsten Kurierrakete flogen die Freunde zurück nach Lunapol.
Januskopf Technik Geräuschlos jagte der große Transportraketokopter in westlicher Richtung dahin. Mit einer Geschwindigkeit von fast zwei Mach hatte er die Schattenzone bereits hinter sich gelassen und überflog nun die Mondrückseite, die fahl und tückisch im gleißenden Son nenlicht lag. Die Flughöhe betrug nur einige hundert Meter, so daß ihm sein eigener Schatten wie eine Riesenspinne durch Krater und Trichterfelder folgte. Die anfänglich rege Unterhaltung der sieben Insassen war einer gespannten Aufmerksamkeit gewichen. Von dem Ergebnis dieser Expedition hing ungeheuer viel ab. Die Aktion lief unter Ausschluß der Weltöffentlichkeit, um keine unnötige Unruhe zu stiften. Niemand wußte, was die Untersuchungen der nächsten Tage bringen würden. Ira Beaux, eigentliche Hauptperson und Initiator des Unterneh mens, war ruhig und gefaßt. Nach dem Start, der das Ende der nur allzu hektischen Vorbereitungen bedeutete, war alle Nervosität von ihr gewichen. »Ben, worüber denkst du nach?« fragte sie den schon eine ge raume Weile schweigsam neben ihr Stehenden. Wie immer fühlte sie sich in seiner Nähe sicher und geborgen. »Lach mich nicht aus«, antwortete er ohne Zögern, »aber ich be obachte und bewundere dich. – Ansonsten überlege ich, wie wir am schnellsten und sichersten zu den Autoklaven gelangen.« Ira sah Ben dankbar an; er hatte kein Wort über die Zweifel und die Ungewißheit verloren. »Hoffentlich sind die neuen Schutzanzüge in Ordnung«, gab Ben Darkens seinen Bedenken Ausdruck. »Antimaterie als Substanz bedeutet für uns Menschen eine Summe von Einflüssen aus einer anderen Welt. Die pauschale Umkehrung aller Gesetzmäßigkeiten ist sichtbarer Ausdruck dafür. Und der Mensch ist nun einmal nur für ein Leben in unserer Welt geeignet! Sicher ist er sehr anpas
sungsfähig und auch immer noch entwicklungsfähig. Aber ich bin erst beruhigt, wenn der eingebaute Faradaysche Käfig zur Gehirn abschirmung seinen Zweck erfüllt. Du hast das ja damals in der Kratersenke des großen Tores nicht miterlebt. Es war gräßlich.« »Ich glaube, daß wir auch mit dem einstellbaren Überdruck in den Anzügen sehr vorsichtig sein sollten«, ergänzte sie seine Ge dankengänge. »Ira«, seine Stimme wurde zärtlich, »wenn dieses Unternehmen hier erfolgreich verlaufen ist, dann wollen wir endlich auch einmal an uns denken, nur an uns beide. Sonst, ich muß es bald befürch ten, lassen uns die Ereignisse niemals Zeit dazu.« »Du hast recht, Ben, aber ich bin schon zufrieden, wenn wir zu sammen sein können«, erwiderte sie leise. »Krater Gebrüder Wawilow in südwestlicher Richtung voraus!« verkündete der Pilot. Die Mondoberfläche zu ihren Füßen wurde immer bizarrer, un heimlicher und unbekannter. Verständlich, denn die Mondrücksei te hatte sich ihnen mit ihren charakteristischen Kraterformationen noch nicht so stark eingeprägt. Pawel Rinald räusperte sich eini gemal vernehmlich. »Freunde, ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir uns über unser weiteres Vorgehen klarwerden. Ich bin der An sicht, wir kreuzen in geringer Höhe so lange über dem Krater Gebrüder Wawilow, bis wir die von Ira erwähnten abgedeckten Schächte erkennen. Andernfalls landen wir im Zentrum und be ginnen mit der Suchaktion. Weitere Alternativen möchte ich nicht erwägen, denn ich bin sicher, daß die Schachtöffnungen zu erken nen sind. – Einverstanden?« »Bitte, erwähnen Sie noch einmal die Überdruckregulierung«, warf Ben Darkens ergänzend ein. »Ja, richtig! Nehmen Sie den als Antischwerkraftäquivalent die nenden Überdruck in den Schutzanzügen nur auf meine persönli che Anweisung hin in Anspruch! Die hierzu noch notwendigen Tests werde ich gemeinsam mit Kollegen Darkens durchführen.«
Das kleine Kollektiv hatte sich um ihn versammelt, und ihm schien, er müsse noch etwas sagen, er müsse sie persönlicher an sprechen. Daher fuhr er fort: »Um was es hier geht, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Wir sind gewohnt, gefährliche Situationen zu meistern. Doch dieses Vorhaben übertrifft alles bisher Dagewese ne. Die Antimaterie, die wir suchen, birgt Gefahren, die wir noch nicht kennen. Ich denke dabei besonders an körperliche Schäden, die sich jeder von uns zuziehen kann. Wir beginnen ein Experi ment, dessen Ausgang ungewiß ist. Sie haben sich freiwillig zur Verfügung gestellt, dafür danke ich Ihnen. Trotz aller Gefahren weiß ich, daß ich mich wie immer auf Sie verlassen kann. Doch nun wollen wir sehen, was uns die nächsten Stunden bringen!« Pawel Rinald, der sich wieder neben den Piloten gestellt hatte, gab die Anweisung: »Alle Mann auf Beobachtungsstation! Ringge birge des Kraters Gebrüder Wawilow voraus! Nach Überfliegen der Gebirgskämme vermindern wir unsere Flughöhe auf vierhun dert Meter.« Ira und Ben standen nebeneinander vor einem der durchsichti gen Kuppelsegmente. Die Astronomin bediente die Bordkamera. Wie riesige Filigranmuster rasten die nadelförmigen Spitzen des Ringgebirges auf die Raketokopterinsassen zu. Sie glichen Staketen eines überdimensionalen Zaunes, hinter dem sich für den Men schen Unzugängliches versteckte. Wenn sich die Vermutungen bestätigten, dann hatten die Seleniden hier in der Kraterebene ge waltige Bauanlagen verborgen. Alle starrten gebannt auf den aschfahlen Boden, der unter ihnen dahinflog. Kurz vor der Mitte des Kraters zeigte die Oberfläche plötzlich kreisrunde Erhebungen. »Stopp!« befahl Pawel Rinald dem Piloten. Der Flugkörper stand jetzt völlig still, genau über den ungewöhnlichen Objekten. Es war zu erkennen, daß die Anord nung der Bodenerhebungen geometrischen Gesichtspunkten ent sprach. »Der Durchmesser eines solchen Ringes beträgt etwa fünfzig Meter«, sagte Ives Lorin. »Sie sind kreisförmig in einem Abstand
von ungefähr achthundert Metern angeordnet. Ich zähle einund zwanzig Ringe.« »Jaro, fliegen Sie langsam über die Gebilde hinweg, und gehen Sie noch tiefer«, sagte der Kurator zu dem Piloten, dann wandte er sich an Dr. Lorm, »Sie beobachten dabei genau den Gravito nenschreiber. Vorsicht, es kann gefährlich werden!« Doch nichts geschah! Die Schwerkraft veränderte sich nicht. Fast zeigten die Gesichter der Forscher Enttäuschung. Dort unten sollte Antimaterie lagern? Bisher hatten sich daran ganz andere Vorstellungen geknüpft. »Entweder die Depots liegen unvorstellbar tief, oder die Abde ckungen neutralisieren die Wirkung der Antimaterie. Von hier o ben können wir jedenfalls nichts Näheres feststellen. Fertigmachen zur Landung!« Wenige Minuten später setzte der Raketokopter, in eine dichte Staubwolke gehüllt, außerhalb der Ringanordnung auf. Das nächste Objekt war kaum dreißig Schritt von der Landestelle entfernt. Sein Schachtende ragte etwa acht Meter über den glatten Mondboden; eine Dach- oder Deckelwölbung war nicht zu erken nen. »Ben Darkens, Ives Lorin und ich werden eine kurze Ortsbesich tigung vornehmen. Doktor Lorm übernimmt das Kommando über die übrigen Expeditionsmitglieder«, wies Pawel Rinald an. »Ira, können Sie sich entsinnen, auf welche Weise die Deckel von den Öffnungen entfernt wurden?« fragte er dann. »Leider nein«, war ihre Antwort, »die Informationen, die ich er hielt, zeigten nur Endphasen, keine fortlaufenden Bilder.« »Schade, also werden wir wieder aufsteigen und uns mit der Strickleiter auf die Deckfläche abseilen. Vielleicht finden wir dort entsprechende Mechanismen vor.« Der Flugkörper schwebte kaum zehn Meter über der konkaven Schachtabdeckung, die Strickleiter wurde ausgeworfen, und nach
den obligatorischen Schleusenmanövern gingen die drei Lunauten von Bord. Trotz knisternder Spannung herrschte gute Laune. Die Staubschicht, die überall den Boden bedeckte, war wesent lich dünner als normalerweise sonst auf der Mondoberfläche. Es handelte sich also wirklich um künstliche und damit wesentlich jüngere Gebilde. Das Material schimmerte gelb und glasig wie bei den Wohnpyramiden. Doch nirgends war ein Hebel oder etwas Ähnliches zu entdecken. Nachdem sie zuerst den äußeren Rand untersucht hatten, trafen sie sich wie verabredet in der Mitte. Hier lagen seltsamerweise Ge steinsbrocken. Ives Lorin stieß sie mit dem Raumschuh achtlos beiseite. Da, was war das? Sein Fuß traf auf einen Widerstand. Es glänzte metallisch und sah aus wie ein Rad mit einem Wulst. Der Größe nach zu urteilen, konnte es ein Personeneinstieg sein. Viel leicht war es überhaupt nicht erforderlich, den Riesendeckel abzu heben. »Wir werden einfach einmal daran drehen. Frisch gewagt ist halb gewonnen«, sagte Pawel Rinald, der es gewohnt war, die Dinge unbekümmert voranzutreiben. Zu dritt faßten sie zu. Doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Die Scheibe drehte sich spielend leicht, und plötzlich hob sich ein Deckel von ungefähr eineinhalb Meter Durchmesser und klappte zurück. Die eine Seite traf Ben Darkens am Oberschenkel, und die Wucht warf ihn zu Boden. Doch er hatte sich schnell wieder auf gerichtet. Eine Leiter führte hinab, und in wenigen Meter Tiefe konnten sie eine Plattform erkennen. »Ben und ich steigen hinab. Ives, Sie halten unsere Sicherheits leine«, sagte Pawel Rinald und schwang sich in den Schacht. Schon waren sie die wenigen Sprossen hinabgeklettert. Am Rand der kleinen Plattform befand sich ein senkrechtes Rohr mit einer halbmannshohen Öffnung. Was war das nun wieder? Eine Trans portanlage, ein Sauglift, ein Entlüftungsschacht, wer konnte es wissen?
»In kritischen Fällen obliegt es dem Chef, den ersten Schritt zu wagen, ohne die weitere Durchführung eines Unternehmens in Frage zu stellen – oder wie heißt der schöne Satz?« sagte der Kura tor lächelnd zu Ben Darkens. »Also, drücken Sie mir die Daumen!« Pawel Rinald, der ohne Zögern die Sicherheitsschnur ausklinkte, hatte sich kaum durch die schmale Öffnung gezwängt, als er auch schon nach unten verschwand. Ben Darkens hatte die Anlage ebenfalls für einen Fahrstuhl gehalten. Die selenidische Technik war zwar sehr fortgeschritten, aber nicht unirdisch, nicht unverständlich. Er hätte diesen ersten Schritt zweifellos ebenfalls gewagt. Wichtig war, daß der Helmfunk funktionierte. Es knackte in den Kopfhörern. Ben horchte ange strengt. »Hallo, Ben, können Sie mich verstehen? Ich bin in einem gro ßen Gewölbe gelandet. Kommen Sie nach! Achten Sie bitte unter wegs auf die Haltestationen. Alles klar?« »Verstanden«, antwortete Ben Darkens sichtlich erleichtert. Der Fahrstuhl, eigentlich war es nur eine Transporthülse, hatte die o berste Plattform wieder erreicht. Ben stieg ein. Ives Lorin nickte ihm zu, er wußte Bescheid. Nach fast fünfzig Sekunden hielt das Behältnis ruckartig an. In einer durchsichtigen Kuppel, ähnlich jener in dem Adapterraum des Teleimaginators, glomm ein weißes, in den Augen schmerzendes Licht. Dann ging die Fahrt in die Tiefe weiter. Nach weiteren fünfzig Sekunden erfolgte wieder ein Stopp. Hier brannte die glei che Leuchte tiefrot. Ben registrierte das Signal als unangenehm. Der Vorgang wiederholte sich noch einmal, wobei ihn erneut ein unheimliches rotes Auge anglotzte. Wieder verlangsamte sich die Fahrt, und wieder sah Ben Darkens ein Licht. Doch das war die Helmleuchte von Pawel Rinald, der ihn schon erwartete. »Ben, wir sind schon ein schönes Stück vorangekommen«, sagte der Kurator, als er dem Chefselenologen aus dem Zylinder half, »und bis jetzt sogar ohne Komplikationen. Dort, schauen Sie nach
oben, das sind vermutlich die gefährlichen Autoklaven mit der Antimaterie!« Der Schacht endete hier unten in einer weitläufigen Halle, die an die Zentrale eines Atomkraftwerkes erinnerte. Wie stets, wenn er der fremden, außerirdischen Technik gegenüberstand, wurde Ben Darkens von einer seltsamen Erregung ergriffen. Er blickte sich aufmerksam um. Etwa dreißig Meter über ihren Köpfen befand sich eine ringförmige Bühne aus sonderbar klobigen Metallteilen, die auf zwölf wuchtigen Säulen ruhte. Die Übermannsstarken Rohre aus keramischem oder gesintertem Material verliefen schräg nach unten und endeten in dem spiegelglatten gelbschimmernden Boden. Dieser gigantische Sockel war Träger dreier übereinander ange ordneter riesiger Kugeln, deren oberste bis in den Schacht hinein ragte. Ben schätzte, daß das halbrunde Gewölbe eine Höhe von mindestens einhundertfünfzig Metern hatte. Die vielen kleinstufigen Rolltreppen, die den Boden mit der un gefähr dreißig Meter höher gelegenen Trägerplattform verbanden, waren außer Betrieb. Langsam umrundeten Pawel Rinald und Ben Darkens den Säulenring, der kein Ende nehmen wollte. In be stimmten Abständen waren in die weitentfernte umgebende Wand Nischen eingelassen, die aber anscheinend nicht technischen Zwe cken gedient hatten. »Wissen Sie, Ben, das sieht hier alles so untechnisch aus. Ich vermisse Schalttafeln, Instrumente, Oszillographen und was man so gewohnt ist. Sie nicht auch?« »Ich stimme da nicht mit Ihnen überein; denn ich glaube, wir messen zu sehr mit unseren Maßstäben. Die Überwachung und die Steuerung der hier ablaufenden Prozesse erfolgten wahrscheinlich von einer Zentrale aus. Vielleicht befand sich die sogar auf der Erde. Aber Sie haben recht, ein ungewohnter Anblick ist es schon.«
Sie waren fast wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt, als Pawel Rinald, der ein wenig vorausging, plötzlich mit hartem Griff nach dem Arm von Ben Darkens faßte und in das Helmmik rofon flüsterte: »Wenn mich nicht alles täuscht, dann sitzt dort hinten an dem kleinen Steuerpult ein Mensch in einem silberglän zenden Skaphander.« Ben Darkens, der sich gerade über das unterste Ende einer der vielen Rohrsäulen gebeugt und eine gewisse Elastizität des fast schwarzen, porigen Materials festgestellt hatte, fuhr erschrocken hoch und blickte in die angedeutete Richtung. »Tatsächlich, das könnte ein Mensch sein! Für einen Seleniden ist er zu groß. Aber was trägt er für einen sonderbaren Schutzanzug? Gehen wir näher heran!« Langsam bewegten sie sich auf die Nische zu. Da blieb Pawel Rinald unvermittelt stehen und hinderte Ben Darkens erneut am Weitergehen. »Das Wesen dort trägt keinen Schutzanzug, das ist eine Ritterrüstung. Schauen Sie doch! Das Visier an der Sturmhau be ist hochgeklappt. Aber ich erkenne darunter kein Gesicht. Sollte dieser Harnisch ein Andenken oder ein Beutestück sein? Das ent spräche aber nicht der uns bisher bekannten Lebensweise, der Se leniden. Kommen Sie, wir werden das Rätsel lösen!« Es war schon eine ungewöhnliche Situation! Zwei Wissenschaft ler, zwei Lunauten, die so leicht nichts aus der Fassung bringen konnte, schritten unter dem Eindruck einer fremden, der irdischen Vorstellung weit vorauseilenden Technik auf einen mittelalterli chen Harnisch zu. Ben Darkens versuchte die Lage zu analysieren. Pawel Rinald hatte richtig gesehen. Das offene Visier der zusammengesunkenen Gestalt zeigte kein Gesicht, auch keinen Totenschädel. Mehrere unterschiedlich große Löcher gaben dem Kopf ein gespenstisch maskenhaftes Aussehen. Es blieb keine Zeit zum Überlegen. Als sie fast unmittelbar vor dem Schaltpult standen, hob die Gestalt mit einer unnatürlich ruckartigen Bewegung die Sturmhaube, stütz
te sich auf die metallenen Armschienen und richtete sich ungelenk auf. Die beiden Lunauten, die mit einer solchen Reaktion ihres Un tersuchungsobjektes nicht gerechnet hatten, wichen erschrocken zurück. Doch nun war alles klar. Es handelte sich um einen Robo ter, dem die Seleniden aus irgendeiner Laune heraus das Aussehen eines Ritters aus dem frühen Mittelalter gegeben hatten. »Größte Vorsicht«, flüsterte Pawel Rinald, als könnte es die Ges talt hören, »hoffentlich ist er nicht für eine Schutzfunktion pro grammiert und betrachtet uns beide nicht als Eindringlinge, die zu beseitigen sind.« Dabei zog er Ben Darkens in den Schutz einer der starken Stützsäulen. Doch die Gestalt machte eine einladende Handbewegung, wandte sich um und schritt tiefer in das Dunkel der Nische hinein. »Zweifellos sollen wir ihm folgen«, murmelte Ben Darkens und fuhr lauter fort: »Mir scheint, er will uns etwas zeigen. Gehen wir!« Bald hatten sie den vorausschreitenden »Ritter« eingeholt. Man glaubte förmlich, seine schlurfenden Schritte zu hören. »Seine Bewegungen werden immer langsamer. Der Energiespei cher ist sicher fast leer. Hoffentlich erfahren wir noch, welche Aufgabe er hier zu erfüllen hat«, sagte Pawel Rinald. Im Schein ihrer Helmleuchten erkannten die zwei Lunauten, daß die schmale Nische vor einem metallischen Querschott endete. Der Roboter stoppte, hob wie in einer Zeitlupenaufnahme den rechten Manipulator und betätigte einen roten Hebel. Das Schott verschwand nach einer Seite, und vor den erstaunten Wissen schaftlern lag ein hellerleuchteter Saal. Der Roboter taumelte durch die Öffnung und trat zur Seite. Nur zögernd folgten ihm Pawel Rinald und Ben Darkens. Woher die fast schmerzende Helligkeit kam, war nicht auszumachen, viel leicht von den spiegelnden Wänden. Der Saal glich einem Laboratorium. Aber was die beiden For scher sofort faszinierte und wie magisch anzog, das waren eine
Vielzahl technischer Schnittzeichnungen und Darstellungen auf einer fluoreszierenden Tafel, die sich langsam aus dem Boden vor der rechten Wand schob. Es waren farbig ausgelegte Pläne von Rohrleitungen und von Einzelheiten der gesamten Anlage. An vielen Stellen waren Erläuterungen in selenidischer Kurvenschrift eingefügt. »Ben, das sind genaue technische Beschreibungen der Antimate rieautoklaven. Sehen Sie hier am linken Rand die Rohrliftanlage, mit der wir hier heruntergekommen sind, und dazwischen die ver schiedenen Plattformen! Dort, das Kreuz kennzeichnet die Stelle, wo wir uns im Augenblick befinden.« »Wirklich, das ist einmalig. Wie hätten wir jemals diese techni schen Details ermitteln sollen. Ich wage gar nicht, daran zu den ken…« Beide blickten erschrocken zu der Schottöffnung, neben der der selenidische Android zusammengesunken war. »Schade«, fuhr Ben Darkens fort, »daß wir ihm nicht danken können. Er hat der gesamten Menschheit einen unschätzbaren Dienst erwiesen.« Pawel Rinald machte eine abschließende Handbewegung. »Ich denke, wir machen von der Tafel so viele Aufnahmen wie nur möglich; denn von deren Auswertung und Übersetzung hängt jetzt alles Weitere ab. Damit beenden wir unsere Exkursion. Ives und unsere Freunde im Raketokopter werden schon auf uns warten.« Auf der Plattform am Schachtende empfing sie Ives Lorin mit ihnen zunächst unverständlichen Vorwürfen. »Warum regen Sie sich denn so auf?« unterbrach ihn der Kura tor. »Wir beide haben die reichliche Stunde, die wir unten ver bracht haben, gut genutzt.« Dabei schwenkte er die kleine Kamera. Jetzt war es Ives Lorin, der verdutzt von einem zum anderen blickte. »Was heißt hier ›reichliche Stunde‹. Ich hatte Sie schon beinahe aufgegeben. Wissen Sie, wie lange ich hier auf Sie warte?« Er blickte auf die Uhr. »Es sind jetzt über drei Stunden.«
»Das kann doch nicht sein«, sagte Ben Darkens. »Unsere beiden Uhren zeigen genau eine Stunde und zehn Minuten an.« Ira Beaux, die das Unternehmen in banger Sorge vom Raketo kopter aus verfolgt hatte und die froh war, Ben Darkens’ und Pa wel Rinalds Stimmen wieder zu hören, schaltete sich in das Ge spräch ein. »Streitet nicht! Denkt lieber einmal darüber nach, ob die Antimaterie nicht eine Zeitdilatation zur Folge haben könnte.« »Ira könnte recht haben. Doch ich denke, unsere Mission hier ist zunächst erfüllt. Wir haben das gefunden, was Ira vorausgesehen hat. Nun muß entschieden und schnellstens gehandelt werden. Ich bin dafür, daß wir sofort den Rückflug antreten«, sagte Ben Dar kens. Während der Raketokopter das gefährliche Gebiet des Kraters Gebrüder Wawilow mit Maximalgeschwindigkeit in Richtung Lu napol verließ, berichteten Pawel Rinald und Ben Darkens ihren Mitarbeitern, was sie in dem Antimaterieschacht gesehen hatten. Doch bald waren die sieben Lunauten bei einem heiklen Thema angelangt. Iras Bemerkung von vorhin über eine mögliche Zeit dehnung gab genügend Anregungen für die heiße Debatte. Pawel Rinald, der aufmerksam zuhörte, freute sich über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte. Es war sicher für alle gut, anstelle der unerbittlichen Realität einmal Vermutungen und Hypothesen zu erörtern. Ira führte jetzt in ihrer ruhigen, aber bestimmten Art aus: »Sie kennen sicher alle noch die bahnbre chenden Bemühungen des sowjetischen Astrophysikers Kozirew aus dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts über die Zeit und ihre Einordnung in die materielle Welt. Wichtigste Behauptung aus seinen damaligen Betrachtungen war: Die Zeit ist eine Energie form. Seine Theorie der Zeitkorpuskeln, die als Kontinuum gleich förmig im Kosmos verteilt sind und die bei Bewegung von Materie wirksam und nachweisbar werden, konnte leider nicht umfassend experimentell bestätigt werden. Mit der Annahme, daß die Zeit korpuskelbewegung gleich der Lichtgeschwindigkeit sei, ließ sich
zwar die Zeitdilatation erklären, die sogenannte substantielle Zeit ist aber bis zum heutigen Zeitpunkt eine Hypothese geblieben.« »Aber eine vertretbare Hypothese«, nahm Ben Darkens nun das Wort. »Ganz im Gegensatz zu früheren Meinungen von Metaphy sikern und idealistischen Philosophen, die davon ausgingen, daß es eine unterschiedliche physikalische Kennzeichnung der Zeitrich tung gäbe. Sie glaubten, daß diese auch eine Umkehrung erfahren könne, daß es also möglich sein müsse, Vergangenheit und Zu kunft zu vertauschen. Als Beweis bedienten sie sich einer Fehldeu tung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, des Entropie satzes. Diese fast hundert Jahre zurückliegenden Ansichten waren ausgesprochene Spekulationen. Die Ablaufrichtung des Naturgeschehens ist vom Bewußtsein unabhängig. Die Zeit wie auch der Raum sind objektive Existenz formen der sich bewegenden Materie.« »Für eine Erklärung der aufgetretenen Zeitdilatation im Zusam menhang mit dem Vorhandensein von Antimaterie müssen wir vermutlich auf das Gedankenmodell von Anatol Wolsow zurück greifen«, spann Ives Lorin den Faden weiter. »Ausgehend von dem materialistischen Grundsatz, daß die Zeit von der Struktur der Materie abhängt, ist es also durchaus möglich, daß die nachweislich andere Struktur der Antimaterie auch einen von der geläufigen Vorstellung abweichenden Ablauf der Zeit be dingen könnte. Wolsow erklärte das ungefähr so: Denken wir uns ein Koordinatensystem, dessen Mittelpunkt mit dem Scheitelpunkt einer in positiver Richtung verlaufenden Zeitparabel identisch ist. Es stellen dann die beiden Parabeläste die Zeit für Materie und für Antimaterie dar. Beide Zeiten sind positiv, denn es gibt keine ne gative Zeit; wohl aber sind es gespiegelte Zeiten. Unser Vorstel lungsvermögen kann damit noch nichts Rechtes anfangen. Die Wolsowsche Zeitparabel soll ja nur einem Gedankenexperiment dienen, sie ist keine prinzipielle Zeitdarstellung. Ziel seines verein fachten Modells ist, durch Ordinatensubtraktion die auftretende Zeitdilatation in Abhängigkeit vom Verhältnis der zusammentref
fenden, unterschiedlichen Materiearten nachzuweisen, die auf der Abszisse mengenmäßig markiert sind. Sind beispielsweise die bei den Materieanteile gleich groß, dann wird die Zeit zu Null, das heißt, es ist kein Bewegungs- beziehungsweise Ereignisablauf mehr nachweisbar. Es wäre der gleiche Zustand, als würde sich ein Be obachter mit absoluter Lichtgeschwindigkeit bewegen. In Materie und Antimaterie verläuft die Zeit gleich schnell; eine Dilatation tritt nur auf, wenn beide Materiearten miteinander in Berührung kommen. Ein echtes Gedankenexperiment, denn im Kosmos würde das Zusammentreffen zweier solcher Welten stets eine Supernova aus lösen. In dem uns vorliegenden Fall ist es vernunftbegabtem Le ben gelungen, beide Materiearten nebeneinander bestehen zu las sen. Entsprechend dem Massenverhältnis ist also eine nachweisli che Zeitdilatation in Erscheinung getreten. Schade, daß Wolsow schon vor mehr als dreißig Jahren gestorben ist.« »Das haben Sie gut erklärt«, Pawel Rinald zollte dem Franzosen uneingeschränkten Beifall. »Doch wir müssen das interessante Thema abbrechen, denn wir erreichen in Kürze das Lunadrom. Bitte, fertigmachen!«
Maximales Risiko Mondkurator Pawel Rinald wollte die Weltföderation persönlich über das Ergebnis der Expedition im Krater Gebrüder Wawilow informieren. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Wichtige Ent scheidungen mußten getroffen werden. Ira Beaux und Ben Dar kens hatten sich erboten, ihn zur Erde zu begleiten. Die Mission der beiden war nicht minder wichtig. Im Moskauer Translationsinstitut sollten die Texte und Beschreibungen auf den Fotos von den technischen Details der Autoklaven übersetzt wer den. »Dabei wird es sicher neue Probleme geben«, sagte Ira, »denn rein technische Informationen in der Kurvenschrift sind bisher noch nicht übersetzt worden. Es wird Begriffe geben, die unserem menschlichen Vorstellungsvermögen ungeläufig sind. Doch ich möchte nicht so schwarz sehen.« Boris Sagitow freute sich trotz der zu erwartenden Schwierigkei ten auf den Besuch der weltbekannten Lunauten, deren Wirken mit der Entstehung und Bedeutung seines Institutes auf das engste verknüpft war. Nach der Ankunft in Moskau trennte sich Pawel Rinald von sei nen beiden Mitarbeitern, denn in diesem Jahr tagten die verschie denen Exekutivausschüsse der Weltföderation ausschließlich in Warschau. Der Kurator hatte um eine Sondersitzung der Vorsit zenden und der Beauftragten für Katastrophenschutz gebeten. Es war daher keine große Zusammenkunft, die da im neunzehn ten Stockwerk des Freundschaftshochhauses stattfand. Die meis ten der Anwesenden kannte Pawel Rinald persönlich. Nach der Begrüßung kam er sofort auf den Kern seiner Darlegungen zu sprechen: »Die gewaltige Nuklearreaktion, die vor einigen Monaten auf dem Mond ein Beben von bisher unbekannten Ausmaßen aus gelöst hat, war nicht, wie wir alle angenommen hatten, der Ver nichtungsprozeß der gesamten selenidischen Antimaterievorräte.
Einige meiner Mitarbeiter und ich haben im Krater Gebrüder Wa wilow, der auf der erdabgewandten Seite des Mondes liegt, die der Kollegin Beaux im Teleimaginator gezeigten Lagerschächte ent deckt. Es sind einundzwanzig an der Zahl. Nach grober Schätzung la gern dort eins Komma drei Megatonnen Antimaterie in Form von Antiwasser. In der Anlage fanden wir auch genaue Schnittzeich nungen der Einrichtung, deren Bezugstexte zur Zeit in Moskau übersetzt werden. Welche Möglichkeit hat nun die Menschheit, die drohende Gefahr zu beseitigen? Und diese Gefahr droht tatsäch lich. Bei gemeinsamer Reaktion aller einundzwanzig Lagerschächte würde für Sekundenbruchteile eine Energie von rund vierzehn mal zehn hoch zweiundzwanzig Joule freigesetzt. Was ist also zu tun? Es erweist sich als günstig, daß die Antimaterie auf der Mondrück seite deponiert wurde. Ich bin sicher, die Seleniden haben diesen Ort nicht ohne Grund gewählt. Nach überschlägiger Einschätzung ergeben sich für die Beseiti gung der Antimaterie folgende Möglichkeiten: Erstens: Wenn die Dreifachautoklaven getrennt werden könnten, wäre es möglich, die Einzelbehälter mit einem Gewicht von je zwanzigtausend Tonnen mit großen Transportraketokoptern oder Winden aus den Schächten zu hieven und sie anschließend mit Hilfe von Schleppraumschiffen in den freien Raum zwischen Mars und Jupiter zu bringen und dort fernzuzünden. Zweitens: Die von den Seleniden meines Erachtens vorgesehene Selbstentfernung wirksam werden zu lassen. Diese Variante ist jedoch nur möglich, wenn uns genügend Zeit bleibt, die Autokla ven einzeln zu zünden. Der Ablauf wäre dann so, daß sich der Dreifachautoklav bei Beginn der Nuklearreaktion mit Hilfe der entstehenden Schubkräfte selbst aus dem Schacht hinauskatapul tiert, also wie ein großes reaktives Projektil wirken würde. Drittens: Eine Variante, die von unserem technischen Niveau abhängt, wäre, mit Hilfe einer Neutronenschlauchleitung die Au toklaven anzuzapfen und mit derselben Leitung die Antimaterie
ins Weltall zu blasen; dort könnte sie dann mit dem vorhandenen interplanetaren Staub reagieren. Viertens: Auch diese zunächst letzte Möglichkeit wird vom der zeitigen Stand unserer Technik bestimmt. Sie sieht vor, daß an einer definierten Brennstelle der Autoklaven ein gesteuerter und genau dosierter Annihilationsprozeß eingeleitet wird, indem mole kulare Mengen normaler Materie zugeführt werden, bis der Au toklav langsam ausgebrannt ist. Wie schon erwähnt, sind das erste Überlegungen, die durch die anwesenden Experten, die die Problematik sicher besser überse hen, erweitert und präzisiert werden sollten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.« Pawel Rinalds kurze, aber sachliche Darlegung hatte ihre Wir kung nicht verfehlt. Es fielen gleich zwei wichtige Entscheidungen. Die eine war der Beschluß, die Angelegenheit bis auf weiteres ge heimzuhalten, um eine weltweite Panik zu vermeiden. Die andere betraf die sofortige Einladung des vietnamesischen Kernphysikers Tschi Wan, dem es erst vor einigen Wochen gelungen war, Neut ronengas in technisch interessanten Mengen herzustellen. Man beschloß, die Beratung nach seiner Ankunft fortzusetzen. Ben Darkens und Ira Beaux waren von Boris Sagitow wie alte Freunde empfangen worden. Der Wissenschaftler war zunächst sehr erschrocken, als er die näheren Umstände des Besuches er fuhr, doch dann machte er sich an die Arbeit. Seit dem Start in Lunapol spürte Ira, daß mit Ben Darkens etwas nicht stimmte. Er war wortkarg und mit seinen Gedanken oft ab wesend. Es war am ersten Abend, den sie gemeinsam in Moskau verbrachten, als er sich ihr anvertraute. »Weißt du, Ira, worüber ich mir den Kopf zerbreche? Ich kann mich Rinalds Gedankengängen, daß wir alles tun müssen, um die Antimaterie für die Erde gefahr los zu vernichten, einfach nicht anschließen. Diese Substanz ist derart wertvoll, daß wir alles versuchen sollten, sie der irdischen Technik zu erhalten. Ich schätze, daß unsere Wissenschaftler noch
viele Jahrzehnte brauchen, um diskutable Mengen von Antimaterie herzustellen. Ja, und nun frage ich mich immer wieder, wie haben das Eliu und Peria gemacht, die während der letzten Jahrhunderte die Neutronenschutzhülle in den vielen Schächten im Krater Gebrüder Wawilow immer wieder regeneriert haben? Was zwei Seleniden vermochten, warum sollte das nicht auch die Menschheit mit der Summe ihres Wissens können! Begreifst du das? Ich möch te ebenfalls die akute Gefahr beseitigen, aber dabei gewinnen und nicht verlieren.« Ira verstand ihn nur zu gut. Aber ob Ben diesen Kampf gewin nen konnte? Sehr viel hing von Boris Sagitow und den Überset zungen ab! Jede, auch die kleinste Bemerkung war wichtig. Ben hatte Boris schon auf die vier Haltepunkte des Fahrstuhls und deren rote und weiße Leuchtzeichen aufmerksam gemacht. Waren dort vielleicht Kontrollapparate des Sicherheitssystems installiert? Nach sechsunddreißig langen Stunden, die Ben Darkens auch zu mehreren Aussprachen mit Pawel Rinald und dem inzwischen eingetroffenen Tschi Wan genutzt hatte, war es Boris Sagitow und seinem Kollektiv gelungen, fast alle Bezugstexte auf der Zeichnung zu übersetzen. Allerdings konnten mehrere technische Fachaus drücke weder mit den Bilinguen noch sinngemäß übertragen wer den, da die Begriffe in der irdischen Technik vermutlich nicht ge läufig waren. Eine ganze Nacht lang brüteten Ben Darkens und Tschi Wan über den Unterlagen, dann stand ihr Entschluß fest. Es mußte möglich sein, die Antimaterie, eines der vielen Geschenke, das die technisch weit fortgeschrittenen Seleniden zurückgelassen hatten, zum Segen der Menschheit zu erhalten. Nun galt es, den Mondkurator umzustimmen, der zuerst über haupt nicht verstand, was Ben Darkens und Tschi Wan eigentlich wollten, und weiterhin auf die gefahrlose Vernichtung der Antima terie drängte. Ben Darkens erläuterte ihm ihre Pläne. »Das umgebende Schutz gas kann regeneriert werden. Die Zeichnung enthält die erforderli
chen Vermerke. Es muß doch auch uns Menschen gelingen, was die beiden letzten Seleniden einige Generationen lang getan haben. Ich bitte Sie darum, verständigen Sie noch heute Ives Lorin in Lu napol, damit er sofort mit einer Lunautengruppe zum Krater Gebrüder Wawilow fliegt und die übrigen zwanzig Antimaterie schächte auf ihren Gefährdungszustand hin überprüft. Die Leuch ten in den vier Etagenplattformen sind eindeutig Kontrollautoma ten. Wenn auch die oberste Etage rotes Licht zeigt, besteht durch das Hüllgas keine Neutralisationswirkung mehr. Dann ist es zu spät! Sie können sich auf die Ausführungen von Tschi Wan beru fen und den Vertretern der Weltföderation versichern, daß wir – Sie und ich, die Lunauten und Tschi Wan – bereit sind, die Rege neration des Neutronengases, welches verhindert, daß die Antima terie mit der umgebenden Materie reagiert, unter Einsatz unseres Lebens durchzuführen und der irdischen Technik eine Substanz zu erhalten, die ihr in solchen Mengen vielleicht erst nach Ablauf vie ler Jahrzehnte zur Verfügung stehen wird.« Der Mondkurator verbrachte eine schlaflose Nacht. Der A schenbecher mit den vielen Zigarrenstummeln war ein sichtbares Zeichen dafür. Eigentlich hatte er sich schon längst entschieden. Es entsprach seiner Mentalität, nicht zu kapitulieren, sondern den Kampf aufzunehmen. Was ihn bedrückte, war der Gedanke, daß kostbare Zeit vergeudet würde, wenn das Unternehmen mißlang. Dann würde sich die Gefahr für die Menschheit erhöhen. Mit Ives Lorin hatte er schon einen Laserfunkspruch gewechselt. Lorin würde in wenigen Stunden starten. Erst wenn das Ergebnis seiner Untersuchungen vorlag, konnte man den Grad der unmit telbaren Bedrohung einschätzen. Als Pawel Rinald am nächsten Tag diese Überlegungen vortrug, argumentierte er aus innerster Überzeugung. Es war einfacher, als er gedacht hatte, die Mitglieder der Weltföderation für den neuen Schritt zu gewinnen. Schließlich gaben die Gedankengänge Tschi Wans den Ausschlag, und die Anwesenden nickten zustimmend, als der Mondkurator andeutete, daß die Aktion in Lunapol bereits
angelaufen sei und er sich mit Tschi Wan und seinen Mitarbeitern Ira Beaux und Ben Darkens umgehend nach dort begeben werde. Das Kontrollergebnis der übrigen zwanzig Antimaterieschächte, das Ives Lorin zusammengestellt hatte, war in einem Fall äußerst bedenklich. Während in elf Fällen noch jeweils zwei Lampen weiß leuchteten und bei neun nur noch die Kontrollautomaten der letz ten Etage das beruhigende Weiß ausstrahlten, wechselte in einem Schacht auch dort das Weiß schon periodisch in schwaches Rot über. Hier mußte sofort gehandelt werden! Ben Darkens, der mit Tschi Wan einen genauen Regenerierungs plan ausgearbeitet hatte, bat den Kurator um eine kurze Unterre dung. »Wir müssen früher als vorgesehen beginnen«, sagte er. »Zu langwierigen Versuchen haben wir keine Zeit mehr. Das erste Ex periment muß bereits zum Erfolg führen. Es bleibt uns keine an dere Wahl. Zusammen mit den letzten Transporten aus Hanoi verfügt Tschi Wan über sechstausend Kubikmeter Neutronengas. Das entspricht etwa zehn Prozent des Schützgasvolumens in ei nem Dreifachautoklaven. Wir sind der Meinung, daß die vorhan dene Menge ausreicht, um wenigstens eine Gefahrenstufe zu neut ralisieren.« »Gut, Ben. Was soll ich viel Worte machen. Sie wissen, daß es um Leben und Tod geht. Wer wird das erste Experiment durch führen?« »Tschi Wan, sein Mitarbeiter Roué und ich. Sonst niemand.« »Und was sagt Ira Beaux dazu?« »Sie begleitet uns, um den Piloten zu unterstützen.« »Dann komme auch ich mit, drei Mann im Schacht und drei im Raketokopter. Sollte etwas passieren, trifft es uns alle. Wann soll es losgehen?« »Noch heute. In etwa drei Stunden.« Sie flogen dieselbe Route wie vor zwei Wochen. Doch damals ging es um die Bestätigung, ob Iras Eindrücke, die sie psychotech
nisch im Teleimaginator gewonnen hatte, der Realität entsprachen. Heute ging es um mehr. Nur wenn dieses Experiment gelang, dann war die Gefahr zu bannen. Entschlossenheit lag auf den Gesichtern der sechs Lunauten, die um das Risiko wußten. Ira Beaux sah gedankenverloren vor sich hin. Sie glaubte einfach fest daran, daß alles gut gehen würde. Ein zärtlicher Blick streifte Ben, der wie schon so oft mit Tschi Wan die Zeichnungen und Erläuterungen der Antimaterieanlage studierte. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, stellte der Vietnamese eben fest, »die Skizze sagt eindeutig aus, daß für die Reneutralisierung am vierten Kontrollautomaten ein bestimmtes Ventil zu öffnen ist, während die Gasneuzufuhr an der ersten Überwachungseinrich tung erfolgen muß. Hoffentlich sind die Ventile leicht zu finden und ähneln unseren irdischen Konstruktionen.« Der Raketokopter hatte das Zielgelände, den Krater Gebrüder Wawilow, erreicht. Die im Zentrum liegenden und deutlich sicht baren einundzwanzig Schachtkuppeln waren inzwischen numeriert worden. Die größte Gefährdung bestand bei Anlage sieben. In unmittelbarer Nähe der großen Rundmauer setzte der Flugkörper hier auf. Das komprimierte Neutronengas befand sich in einem großen prismatischen Tank, der oberhalb der rotierenden Düsen angebracht war. Jetzt kam es auf Exaktheit und Schnelligkeit an. Die Aufgaben für jeden einzelnen waren genau festgelegt und die erforderlichen Handgriffe durchgesprochen. Man spürte, wie Pawel Rinald, obwohl er sich selbst in Gefahr begab, unter der Sorge um seine Mitarbeiter litt. »Ira, ich bin sehr froh, daß Sie dabei sind. Sie strahlen so viel Optimismus aus, und da fällt mir das Warten nur halb so schwer«, versuchte er zu scher zen. Während sich Ben Darkens und Tschi Wan über eine Strickleiter abseilten, war Roué schon dabei, eine dünne Schlauchleitung am Ausblasstutzen des Neutronengasbehälters zu befestigen.
Minuten später standen Ben und Tschi auf der ersten Plattform. In kurzen Intervallen leuchtete das Kontrollauge gespenstisch weiß und rot auf. »Die Abstände sind seit den Ermittlungen von Ives Lorin we sentlich kürzer geworden«, sagte der Chefselenologe nach einem Blick auf seine Uhr. »Werden wir es noch schaffen?« Tschi Wan überhörte die Frage. Was hätte er auch antworten sollen? Beide untersuchten die Apparaturen, die um das Gerät herum angebracht waren. »Ich gehe immer wieder davon aus, daß die Reneutralisierung ein einfacher und schnell durchzuführender Prozeß gewesen sein muß«, sagte Ben Darkens zu seinem Begleiter. »Hier könnte es sein«, stieß Tschi Wan plötzlich hervor und zeig te auf eine ovale Öffnung aus nichtmetallischem Material in etwa einem dreiviertel Meter Höhe, die sich nach hinten konisch ver jüngte. Ben verglich die Stelle mit den Angaben auf der Skizze. »Ja, Sie haben recht! Aber wo ist das Ventil, der Absperrmechanismus?« »Ich glaube, wir suchen vergebens nach konventionellen Arma turen«, antwortete Tschi Wan. »Vermutlich entsteht beim Ausbla sen des verbrauchten Gases auf der untersten Plattform ein Über druck, durch den hier oben ein entsprechend ausgebildetes Mund stück angesaugt wird, das bei Erreichen der Endstellung eine Klappe oder Membrane betätigt.« Er informierte Roué sogleich über die Besonderheit des Schlauchanschlusses und fügte dann hinzu: »Kommen Sie, Ben, lassen Sie uns in der vierten Etage nach einer Austrittsstelle für das Gas suchen. Roué wird unterdessen die Öffnung abmessen und gemeinsam mit den anderen Lunauten im Raketokopter aus Titankohlenstoff ein Anschlußstück formen.« Der Rohrlift, dessen Wirkungsprinzip noch immer ein Rätsel war, beförderte sie auf die unterste Plattform. Gefahr signalisie rendes Rot, wo sie hinschauten! Trotzdem, Ben Darkens hatte seine sprichwörtliche Ruhe wiedergefunden. Es war immer nur der erste Schritt, der ihn unsicher machte.
Nun suchten sie erneut. Es ging darum, eine Armatur oder eine Anordnung zu finden, die zum Ausblasen eines Gases geeignet war, geeignet nach geläufigen menschlichen Vorstellungen. Ein fragwürdiges Unterfangen! Tschi Wan, der Physiker, bewies dabei das größere Einfühlungs vermögen. Das Arbeiten mit Teilchenbeschleunigern unterschied lichster Ausführungsformen hatte sein Auge geschult. Nachdenklich blickte er auf ein kugelförmiges Gebilde mit star ken Sensoren und stutzenartigen Blenden, das ihn entfernt an Bil der von den ersten Sputniks erinnerte. Unten mündete eine starke, mit Wülsten versehene Leitung in das System. Die Beleuchtung war schlecht. Trotzdem konnte man erkennen, daß zwischen der Konverterkugel und dem Kontrollautomaten eine unmittelbare Verbindung bestand. Es fiel Tschi Wan schwer, in jenem Gebilde eine Rohrleitung zu erkennen. Ihm war klar, daß die neutrale Aufbewahrung von Antimaterie besondere, der irdi schen Technik ungeläufige Anordnungen erforderte. Dennoch mußten sie es versuchen! »Ben, sehen Sie doch bitte einmal in den Unterlagen nach, ob dieser Konverter die Ausblasstelle enthalten könnte. Schauen Sie, dieses Gerät endet dort in drei Meter Höhe vor einer kaminartigen Öffnung, die wahrscheinlich mit der Mondoberfläche in Verbin dung steht. Doch wie könnte der Ausblasvorgang eingeleitet wer den?« Ben Darkens, der sich über die Skizzen gebeugt hatte, rief plötz lich: »Tschi, Sie haben wirklich eine Spürnase für solche Anlagen. Von der Konverterkugel zeigt ein roter Pfeil nach oben. Aber vor dem Konverter, der große Zylinder… Augenblick, da steht noch eine Formel! Es handelt sich zweifellos um Zentrifugalkräfte. Könnte der Zylinder nicht eine Gaszentrifuge sein, die einen ent sprechenden Überdruck erzeugt und den Ausblaseffekt erzwingt? Was meinen Sie?« »Ben, das ist das Ei des Kolumbus! Hut ab vor Ihrem Kombina tionsvermögen! Ich gehe noch einen Schritt weiter, weil ich an
nehme, daß der Reneutralisierungsprozeß vollautomatisch abgelau fen ist, und behaupte, daß die Zentrifuge einen biokinetischen Einund Ausschaltmechanismus besitzt. Passen Sie auf!« Tschi lief zu dem etwa fünfzehn Meter entfernten mannshohen Zentrifugenge häuse. Plötzlich setzte eine Erschütterung ein. Der Boden der Plattform vibrierte so stark, daß beide Forscher Schmerzen in den Beinen verspürten. Tschi Wan kam triumphierend zu Ben Darkens zurück, und die Vibration ließ nach. »Na, ich denke, es ist alles klar, und wir können bald beginnen, nicht wahr?« Sogleich verständigte er sich mit Leon Roué, der bereits die o berste Plattform erreicht hatte und dabei war, das inzwischen ge gossene konische Mundstück genau anzupassen und eine Schlauchleitung anzuschließen. Ben Darkens führte unterdessen ein Funkgespräch mit dem Ku rator und Ira Beaux, die beide sehr froh waren, daß die Aktion bis jetzt so gut verlaufen war. Nun warteten sie schon länger als eine Viertelstunde auf das Be reitschaftssignal von Roué. »Ich glaube, ich muß Leon doch ein wenig zur Hand gehen«, sag te Tschi nach einiger Zeit. »Ben, ich bin sicher, daß Sie die Zentri fuge durch Annäherung betätigen können, wenn wir oben fertig sind und Ihnen ein Zeichen geben.« »Tschi, gibt es noch irgend etwas, was Sie mir sagen müssen, was für den Ablauf des Experimentes Bedeutung hat?« Ben Darkens wandte sich noch einmal an den vietnamesischen Wissenschaftler, dessen stoische Ruhe ihn langsam außer Fassung brachte. »Ja, Ben, doch jetzt ist es zu spät, noch Betrachtungen darüber anzustellen. Wir werden in Kürze Neutronengas einblasen und kein Antineutronengas, wie es eigentlich nötig wäre. Das Neutron und das Antineutron unterscheiden sich zwar nicht durch La
dungsunterschiede – sie haben beide ein neutrales Verhalten –, aber durch das magnetische Moment. Trotzdem denke ich, daß alles gut gehen wird. Entscheidend ist ja der Neutralisationseffekt, und der tritt auf alle Fälle ein.« Nach diesen bedeutungsvollen Worten bestieg Tschi Wan die zylindrische Einmannkabine. Ben Darkens glaubte nicht recht gehört zu haben. Aber sonder bar, so sehr beunruhigte ihn die »Unstimmigkeit« gar nicht – ein Beweis dafür, daß es einfach darauf ankam, wie man etwas sagte. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er im Helmlaut sprecher Tschis gleichmütige Stimme vernahm. »Ben, wir sind soweit. Bitte gehen Sie auf die Gaszentrifuge zu!« Für Ben Darkens war dies eine Angelegenheit von wenigen Se kunden. Die fühlbare Vibration zeigte ihm, daß das Aggregat zu rotieren begann. Sonst geschah nichts. Er konnte sich eines unbe haglichen Gefühls nicht erwehren; denn er übersah das Experi ment nicht im Detail. Nur was sich im ungünstigsten Fall ereignen konnte, dessen war er sich völlig bewußt. Plötzlich hörte er im Lautsprecher einen Knall wie von einer ent fernten Detonation. Das Geräusch kam von der ersten Plattform, denn die Funksprechverbindung zum Raketokopter war abgeschal tet. »Hallo, Tschi! Hallo, Leon! Meldet euch! Was ist los?« rief Dar kens besorgt. Ja, es war etwas passiert. Entweder paßte das Mundstück nicht genau, oder der Unterdruck war noch zu gering. Tschi Wan, der einige Meter hinter Leon Roué stand und die Schlauchleitung nachzog, hatte plötzlich den Eindruck, inmitten eines Miniaturfeu erwerkes zu stehen. Winzige, aber schmerzend grelle Blitze erfüll ten den gesamten Raum. Er hörte, wie Leon sagte: »So etwas Ähn liches habe ich erwartet! So dicht kann gar kein Mundstück sein, daß nicht molekulare Gasmengen dennoch austreten!« »Größte Vorsicht, Leon! Sollten wir uns nicht besser zurückzie hen und die gefährliche Arbeit von einem Roboter verrichten las sen?«
»Nein, Tschi, du weißt, es gibt immer Phasen während eines Ex perimentes, bei denen der Mensch und sein Reaktionsvermögen durch keinen Automaten zu ersetzen ist. Habe ich recht?« Eine Antwort auf diese letzte Frage konnte ihm niemand mehr geben. – Plötzlich zuckte ein wesentlich stärkerer Blitz unmittelbar neben dem Kopf des weit nach vorn gebeugten Roué auf. Leon fiel zu Boden, und der taumelnde Tschi erkannte entsetzt, daß der Schutzhelm seines Kollegen auseinanderklaffte. Hier kam jede Hilfe zu spät. Die fehlende Atmosphäre hatte Leon sofort getötet. Nach dieser größeren Reaktion war wieder Ruhe eingetreten. Tschi Wan wußte genau, was geschehen war. Das in winzigen Mengen ausströmende, mit Antiteilchen angereicherte Neutronen gas hatte mit der Umgebung reagiert. Im Helmlautsprecher war die Stimme des Mondkurators zu hö ren. »Was ist los? Unser Raketokopter ist von Explosionen, die fortlaufend in größerer Höhe stattfinden, umgestürzt worden. Wir sind aber wohlauf. Bitte meldet euch!« Tschi Wan beugte sich erschüttert über Leon Roué. Der Freund und Kollege war tödlich verunglückt. Dann richtete sich der viet namesische Wissenschaftler langsam wieder auf. Er durfte sich nicht der Trauer überlassen. Jetzt mußte das Experiment zur Ret tung der irdischen Zivilisation zu Ende geführt werden. Es kostete ihn große Überwindung, sachlich zu bleiben und den Durchfluß mengenmesser zu beobachten. Gleich war es soweit! Der Unter druck ging zurück. »Hallo, Ben! Können Sie mich hören?« sagte Tschi Wan sto ckend. »Es ist etwas Furchtbares geschehen. Leon Roué ist durch eine Reaktion ausströmender Antiteilchen getötet worden. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Ich bitte aber um Ihr Verständnis, daß wir unser Experiment fortführen. Halten Sie die Zentrifuge wieder an, die Neutronengasmenge ist inzwischen angesaugt wor den. Anschließend fahren Sie bitte zur zweiten Plattform und kon trollieren dort die Rot-Weiß-Automatik. Noch wissen wir nicht, ob unser Versuch Erfolg gehabt hat. Ende.«
Tod, welch ein gräßliches Wort! Trotz der ständigen Gefahr, die sie umgab und in der sie arbeiteten, war Ben Darkens tief erschüt tert. Rein mechanisch trat er von der Zentrifuge zurück. Die ab klingenden Bodenerschütterungen zeigten ihm, daß er den ersten Teil seines Auftrages erfüllt hatte. Mit wenigen Worten war Tschi Wan über Leons Tod hinwegge gangen, Ben Darkens konnte das nicht begreifen. Fast empfand er ein wenig Antipathie gegen den allzu beherrschten vietnamesi schen Kollegen. Doch dann bezwang er sich. Hastig stieg er in den Rohrlift und fuhr zur zweiten Plattform, wo ihm das Rot unheim lich entgegenleuchtete. »Tschi, ich bin am zweiten Kontrollautomaten. Er zeigt noch Rot«, meldete er sich. »Wir müssen jetzt zwanzig Minuten warten, bis sich das neue Gasgemisch gebildet hat«, erwiderte Tschi Wan. »Ein Verlassen des Schachtes ist zur Zeit nicht möglich. Das ausströmende, nicht mehr neutrale Gas reagiert noch immer mit dem lunaren Staub.« Dann fragten Ira Beaux und Pawel Rinald durcheinander, was sich im Schacht ereignet habe. Ben Darkens senkte den Kopf. So leise, daß man ihn kaum verstehen konnte, sagte er: »Leon ist töd lich verunglückt. Das Gaseinblasen war doch gefährlicher, als wir angenommen haben. Vielleicht hätten wir vorsichtiger zu Werke gehen sollen.« Er schwieg und fügte dann hinzu: »Noch ist das Experiment nicht abgeschlossen. Von einer wirksamen Regenerie rung ist noch nichts zu bemerken. Aber bald werden wir mehr wissen. Ich muß unterbrechen. Die Kontrollampe auf der zweiten Plattform beginnt zu flackern.« Ben Darkens starrte wie gebannt auf die Gefahrenanzeige, er fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Die Lampe flackerte, und ganz langsam wechselten dabei die Farben Weiß und Rot einander ab. Die aufgespeicherte Spannung von vielen Stunden, ja Tagen, begann nachzulassen. Jetzt konnte er das weiße Aufleuchten schon sekundenlang beobachten. War das Experiment geglückt? Er muß te sachlich bleiben, abwarten!
Rot flammte jetzt nur noch ganz kurz auf. Da, die Kontrolleuch te zeigte ein beruhigendes Weiß! Ein Teil des schützenden Neut ronengemisches war wieder völlig neutral. Die diffundierten Anti teilchen hatten dem Druck des zugeleiteten Frischgases nachgege ben und waren entwichen. »Hallo, Tschi!« rief Ben Darkens nach oben – die Verbindung zum Raketokopter hatte er abgeschaltet, die erfreuliche Nachricht sollte der Vietnamese selbst durchgeben. »Der Kontrollautomat auf der zweiten Plattform zeigt nur noch weißes Licht.« »Danke, Ben. Bei mir hier oben hat der Übergang zu Weiß sofort stattgefunden. Ja, ich glaube jetzt auch, daß wir zufrieden sein können.« Es entstand eine längere Pause, dann sagte er – und von Stolz über das geglückte Unternehmen war nichts in seiner Stimme –: »Ben, hören Sie mich noch? Der Sieg über die selenidische Tech nik wurde hart erkämpft und teuer bezahlt. Vielleicht haben Sie mich vorhin nicht verstanden. Ich mußte einfach weitermachen. Niemand von Ihnen allen weiß, wieviel mir Leon Roué bedeutet hat. Und das von mir geleitete Unternehmen forderte sein Leben. Ich weiß nicht mehr weiter. Doch durch Selbstbezichtigungen oder Vorwürfe ist an dem Geschehenen nichts zu ändern. Sie wis sen, wie ich das meine.« Dann schwieg Tschi Wan. Er nahm Abschied von seinem Ge fährten, der ihm mehr Freund als Mitarbeiter gewesen war. Der Vietnamese begann weiterzusprechen: »Die Schlauchleitung für die Zuführung des Schutzgases habe ich gekappt. Den koni schen Einfüllstutzen nehme ich mit. Dieses Teil muß wesentlich präziser hergestellt werden. Es darf bei der Regenerierung keinen Unfall mehr geben. Ben, Sie können nach oben kommen; unsere Aktion hier ist beendet. Wir wissen nun, wie der Vorgang ablaufen muß. Es wird noch viel gefährliche Arbeit geben, bis alle Anlagen regeneriert sind. Aber eins steht fest, die Antimaterievorräte der Seleniden können der Menschheit erhalten werden, und das ist nicht zuletzt ein Verdienst Ihrer Beharrlichkeit.«
»Und Ihrer Tatkraft und Ihres Könnens, Tschi Wan«, vollendete Ben Darkens den Satz und fügte nachdenklich hinzu, »warten Sie, ich komme sofort, dann bringen wir Leons Leichnam in den Rake tokopter.« Als der in großer Höhe dahineilende Flugkörper den Krater Gebrüder Wawilow hinter sich gelassen hatte, machte sich bei den Besatzungsmitgliedern trotz des Todes von Leon Roué ein wenig Stolz über das geglückte Experiment bemerkbar. Eigentlich ging es ja um viel mehr als um einen erfolgreichen Versuch. Es ging um den Sieg des Menschen über eine fremde Technik. Der Wille zum Handeln und der Glaube an den Erfolg lassen den Menschen über sich selbst hinauswachsen und machen ihn als Gattung unsterb lich, denn das chaotische All ist durch die Tat vernunftbegabten Lebens veränderbar.
Jahre später Resolut schob Ira die Brille auf die Stirn und wandte sich um. »Ben, bitte komm ganz schnell mal her und sieh dir das an! Die Annihilation hat gerade eingesetzt. Ich freue mich, daß unseren Kosmonauten der Testflug mit dem Materie-AntimaterieTriebwerk geglückt ist.« Ben Darkens, der in den letzten Jahren ein paar graue Haarsträh nen mehr bekommen hatte, lächelte seiner Frau zu, trat näher und blickte, den Kopf über ihre Schulter geneigt, durch das Okular. »Ira, du weißt, daß ich Superlative nur ungern gebrauche, aber bei deinem Großteleskop muß ich eine Ausnahme machen. Wenn ich nicht irre, kreuzt die ›Pilot‹ im Augenblick die Jupiterbahn, aber wenn ich hier durchschaue, meine ich, keine hundert Meter daneben zu stehen. Das ist wirklich großartig.« Er blieb bei Ira stehen und schwieg eine Weile. »Ja, es waren auch besonders harte Jahre, die hinter uns liegen«, sagte er dann, »doch möchtest du sie missen?« Wie so häufig ergab sich aus der Erinnerung an die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die es diesen beiden Menschen nicht leicht gemacht hatte, zueinander zu finden, unerschöpflicher Ge sprächsstoff. Die Explosion des ersten Quecksilberrotationsteleskops, die Entdeckung der selenidischen Höhlenstadt und die Beseitigung der Antimateriegefahr lagen fast ein Jahrzehnt zurück. Für Tschi Wan bedeutete das Antiwasser auf dem Mond das kostbarste Vermächtnis der Seleniden. Nachdem die unmittelbare Reaktionsgefahr gebannt war, hatte er sofort nach technischen Möglichkeiten gesucht, die Antisubstanz den Autoklaven entneh men und auch transportieren zu können. Mit der ihm eigenen Intensität war er an die Arbeit gegangen. Die Weltföderation hatte ihm jegliche Unterstützung gewährt. Mit Hilfe der selenidischen Forschungsergebnisse aus den Wissensrol
len war es ihm schließlich gelungen, Quasiwasserstoffatome zu erzeugen, sogenannte Quate. Ein Antikern, durch einen Neutrino ring abgeschirmt, band ein normales Elektron. Das neue Element war stabil, ließ sich komprimieren und verflüssigen, und – darum ging es eigentlich – es ließ sich normal transportieren. Die Neutri nos konnten nur durch starke Gravitationsfelder beeinflußt wer den. Nach dieser Methode war auch eine genaue Steuerung belie biger Annihilationsprozesse möglich. Tschi Wans Forschungsergebnisse hatten in der modernen Phy sik revolutionierend gewirkt, wenngleich nur wenige davon wuß ten, weil der Vietnamese bescheiden im Hintergrund geblieben war. Vor drei Jahren riß ihn ein plötzlicher Tod mitten aus seiner Arbeit. Durch eine relativ harmlose Teilchenreaktion war er fast auf die gleiche Weise wie Leon Roué bei der Neutralisierung von Antiwasser im Krater Gebrüder Wawilow ums Leben gekommen. Nur Ben Darkens ahnte, daß Tschi wahrscheinlich den Tod ge sucht hatte, weil er Roués Unfall, an dem er sich die Schuld gab, nie hatte verwinden können. Die Auswertung der Wissensrollen brachte auf allen Gebieten des menschlichen Fortschritts neue Resultate. Dennoch würden noch viele Jahrzehnte vergehen, bis die irdische Zivilisation den Erkenntnisstand jener kleinen menschenähnlichen Mondbewohner erreicht hatte. Je mehr über die Seleniden bekannt wurde, um so mehr bedauerte die Menschheit die Tatsache, daß ein unmittelba rer Kontakt der beiden Lebensformen nicht zustande gekommen war. Die Antimaterievorräte waren für die irdische Technik von un schätzbarem Wert. Es gab drei Anwendungsgebiete, die sich ohne dieses Geschenk der Seleniden kaum so schnell hätten entwickeln können: die Raumfahrt, die Energieversorgung und die Medizin. Aber auch auf dem Mond selbst hatte sich viel verändert. Luna pol war nach Pawel Rinalds lang gehegten Plänen als sublunare Siedlung wiedererstanden. Seiner Initiative war es ebenfalls zu ver
danken, daß in den letzten Jahren das neue große Quecksilberrota tionsteleskop, wie es Ira Beaux projektiert hatte, gebaut wurde. Die eigentliche Explosionsursache des ersten QRT, die viele Jah re hindurch unerklärlich blieb, war schließlich doch noch gefunden worden. Tschi Wan, den bis zu seinem Tod eine enge Freundschaft mit Ira und Ben verband, hatte diese offene Frage keine Ruhe gelassen. Seine Untersuchungen bekamen neuen Auftrieb, als sich heraus stellte, daß ein weiterer tektonischer Riß unmittelbar vom Platz der ehemaligen Nuklearsonne an der Decke der Höhlenstadt zum da maligen Standort des Teleskops im Krater Zeta führte. Tschi Wan hatte nun danach gesucht, welche Reststrahlung nach einer lang anhaltenden Materie-Antimaterie-Fusion besonders leicht mit Quecksilber reagierte. Seine in vielen Monaten durchgeführten Experimente mit Kleinstannihilationen waren nicht nur der Ausgangspunkt für die Entwicklung moderner Nuklearbrenner geworden, sie erbrachten schließlich auch den eindeutigen Beweis, daß einer solchen Reakti on eine lang andauernde Emission von Antineutrinos folgte. Diese wirken spaltend auf Metalle und leiten bei Erreichung der kriti schen Masse neue Kernreaktionen ein. Eine solche Reaktion hatte das Teleskop zerstört und den Tod Sol Mentos verursacht. Ira und Ben beobachteten noch immer das enteilende Korpusku larraumschiff, dessen Besatzung den ersten Versuch der Mensch heit unternahm, den interplanetaren Raum zu verlassen und licht nahe Geschwindigkeiten zu erreichen. »Die Entdeckung der Seleniden und die Übernahme ihrer Tech nik und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse haben nun doch uns Menschen zum Nutzen gereicht. Wissenschaft und Technik als konkrete Funktion vernunftbegabten hochentwickelten Lebens können niemals zum Fluch werden, es sei denn, sie werden mißbraucht. Wir alle haben eine wichtige und bisher einmalige Bewährungsprobe bestanden – die Konfrontation mit einem dem menschlichen Wissen überlegenen Erkenntnisstand«, sagte Ben.
»Du magst recht haben«, erwiderte Ira, »aber haben wir sie nicht nur deshalb bestanden, weil wir sie bestehen mußten, weil es eine Existenzfrage war? Ist unsere Zivilisation reif genug, um Unerklär liches einfach zu übernehmen?« »Die Menschheit in ihrer Gesamtheit ist durchaus dazu in der Lage, der Mensch als Individuum vielleicht nicht. Du mußt die Gesellschaft als solche sehen. Durch die Ereignisse der letzten Jahre haben wir auch in der gesellschaftlichen Entwicklung einen großen Schritt nach vorn gemacht.« »Planetenumspannende Probleme haben stets progressive Aus wirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse!« ergänzte Ira. »Ja, aber bleiben wir bei der Technik. Sie ist unpersönlich und objektiv. Wie sie von einer Lebensform genutzt wird und was diese aus ihr macht, das hängt allein von deren gesellschaftlichem Ni veau ab. Und diese These gilt wahrscheinlich für den gesamten Kosmos.« »Fremde Erkenntnisse nutzen und weiterentwickeln«, sagte Ira nachdenklich. »Bei meinem letzten Erdaufenthalt habe ich Rodrigo getroffen, jenen Mann, den du damals wieder auf den Mond geholt hast, als ihr die staubfreie Zone im Tycho zwölf/zweiundvierzig untersucht habt. Erinnerst du dich noch? Du hast mir die sonder baren Krankheitssymptome von Rodrigo und Syphos, dieser war das zweite Opfer, seinerzeit sehr genau geschildert.« »Ja, ich entsinne mich noch recht gut! Der eine schrie, und der andere lachte unaufhörlich, und beide wollten sich selbst unbe dingt umbringen.« »… also, Rodrigo hat sich damals nur ganz langsam von den Folgen der Antigravitonenbestrahlung erholt. Die Behandlungen, die an und mit ihm erstmalig durchgeführt wurden, haben ihn so interessiert, daß er nach seiner Genesung noch ein medizinisches Studium absolviert hat. Zur Zeit ist er wissenschaftlicher Mitarbei ter an der Klinik für gravitonische Psychiatrie in Alma-Ata. Die schon von euch seinerzeit vermutete Umkehr bestimmter biologischer Prozesse im Wirkungsbereich von Antimaterie ist
inzwischen zu einer Heilmethode bei Geisteskrankheiten entwi ckelt worden. Zur Zeit arbeitet Rodrigo daran, welche Rolle das Gehirn bei Krebserkrankungen spielt und wie auch dabei mit Antigravitonen heilend eingegriffen werden kann. Allein schon, wenn es gelänge, diese beiden Geißeln der Menschheit endgültig zu besiegen, hätten sich alle Sorgen und Mühen des letzten Jahrzehnts gelohnt.« »Ja, du hast recht, medizinische Erfolge können nicht hoch ge nug bewertet werden. Aber es gibt auch noch andere Gebiete, auf denen wir gegenüber den Seleniden aufgeholt haben. Ich denke da an dein neues Teleskop. Was die Seleniden in gefährlichen und langwierigen interplanetaren Raumflügen erforscht und uns über mittelt haben, können wir mit Hilfe der enormen Vergrößerungs faktoren der Quecksilberrotationsteleskope wesentlich einfacher feststellen.« »Der Uranusring wurde schon gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt. Daß der Marsmond Phobos ein künstliches Gebilde ist, können wir einwandfrei beobachten. Nur, daß er eine Schöpfung der Seleniden ist, hätten wir nicht so schnell erfahren. Den fast zwanzigtausend Kilometer breiten Neptunring hatte ich schon mit dem ersten QRT ausmachen können. Und den Transpluto kennen wir seit einem halben Jahr.« »Trotzdem existiert noch viel Neues in den Übersetzungen der selenidischen Texte über kosmologische Probleme. Zum Beispiel die Doppelplanetentheorie; fast jeder zweite Planet unseres Son nensystems hat Ringe oder Monde, die Überreste eines planetenar tigen Begleiters sind. Oder ihre Hypothese, daß auch die Sonnen fernen Planeten zu Zeiten der wesentlich größeren Protosonne Leben getragen haben.« Ein melodisches Geräusch erfüllte den Okularraum und deutete ein Videophongespräch an. Pawel Rinald meldete sich. »Ira und Ben, ich kann euch eine erfreuliche Mitteilung machen. Ich spre che von der Erde aus und komme eben von einer Unterredung mit
Präsident van Müren. In Kürze übernehme ich die erste Pionier station auf dem Mars. Der neue Mondkurator heißt Ben Darkens!«