Eckart Reidegeld Staatliche Sozialpolitik in Deutschland · Band I
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Eckart Reidegeld
Staatliche Sozialpolitik ...
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Eckart Reidegeld Staatliche Sozialpolitik in Deutschland · Band I
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Eckart Reidegeld
Staatliche Sozialpolitik in Deutschland Band I: Von den Ursprüngen bis zum Untergang des Kaiserreiches 1918 2., überarbeitete und erweiterte Auflage
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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 1996 2., überarbeitete und erweiterte Auflage August 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Katrin Schmitt Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-32780-1 ISBN-13 978-3-531-32780-8
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Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Vorwort .................................................................................................................................7 1
Einleitung....................................................................................................................15 1.1 1.2
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Grundstrukturen und Entwicklungstendenzen einer „gestörten“ Gesellschaft ...27 2.1 2.2 2.3
3
Die „Revolutionen“ .......................................................................................27 Der Pauperismus und das Versagen der althergebrachten Sicherungssysteme.........................................................................................37 Die Sozialpolitik des Vormärz und der Revolutionszeit................................49
Die sozialpolitische Diskussion vom Beginn bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts ........................................................................................................61 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3
4
Rekonstruktion eines Forschungsgegenstandes .............................................15 Aufbau und Inhalte der Arbeit .......................................................................22
Erste „klassische“ Ansätze der sozialpolitischen Diskussion ........................61 Vom sozialpolitischen Gehalt der Pauperismusliteratur ................................76 Zu Stellenwert und Charakter dieser Literatur...............................................76 Die zur Sprache gebrachten Ursachen und Auswirkungen des Pauperismus...................................................................................................83 Umrisse einer konservativen Sozialreform..................................................102 Resümee mit Blick auf die Arbeiterbewegung ............................................124
Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik ..................................................................................133 4.1 4.2 4.3
4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4
Vom Wesen und Ursprung des Versicherungs- und Kassenwesens ............133 Preußische Kassenpolitik, Arbeiterbewegung und Kassenwesen ................139 Die Konstituierung der Sozialdemokratie und die Neubelebung der Gewerkschaftsbewegung als Rahmenbedingung sozialpolitischer Entwicklung.................................................................................................158 Die Arbeiter- und Kassenpolitik im Norddeutschen Bund ..........................164 Die Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik des Deutschen Reiches ......169 Politische und ökonomische Rahmenbedingungen......................................169 Die sozialreformerische Diskussion bis zur Mitte der 1870er Jahre............172 Die Hilfskassengesetzgebung des Jahres 1876 ............................................181 Repression und Sozialreform bis zur Arbeiterversicherungsgesetzgebung ............................................................186
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Inhaltsverzeichnis 4.5.5 4.6
5
Arbeiterpolitik in der Ära des Imperialismus .......................................................237 5.1 5.2
6
Die „Bismarcksche Sozialreform“...............................................................193 Resümee ......................................................................................................227
Zwischen Reform- und Repressionskurs .....................................................237 Arbeiterfrage, Sozialreform und „Weltpolitik“ ...........................................268
Der Erste Weltkrieg als Entwicklungsbedingung staatlicher Sozialpolitik.........281 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Der „Burgfrieden“ als sozialpolitische Grundsatzentscheidung und Methode der Stabilisierung der Kriegsgesellschaft .....................................281 Die sozialpolitischen Ergebnisse der „Burgfriedenspolitik“........................294 Die Sozialpolitik und die „Imperative des modernen Krieges“ ...................311 Die sozialpolitische Bedeutung des Hilfsdienstgesetzes..............................324 Das Ende der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ .....................................334
7
Rückblick und Ausdeutung .....................................................................................343
8
Abkürzungsverzeichnis............................................................................................361
9
Quellen- und Literaturverzeichnis..........................................................................363 9.1 9.2
10
Verzeichnis der archivalischen Quellen.......................................................363 Verzeichnis der Literatur .............................................................................364
Personenregister.......................................................................................................381
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Vorwort
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Vorwort Vorwort
Die folgende Darstellung handelt von einer der ganz großen Tendenzen der Geschichte, von der Herausbildung und der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland. Sie befaßt sich mit einer Daueraufgabe und einem Gegenstandsbereich staatlicher Politik, der in extremer Weise im Zentrum politischer Kontroversen stand und steht. Grundsätzliche Bewertungsunterschiede der staatlichen Sozialpolitik bei ihren Verächtern und Verfechtern, feststehende, geradezu eingefrorene und auseinanderstrebende Auffassungen zur Entwicklung staatlicher Sozialpolitik, grobe Vereinfachungen, naives Entwicklungs-, Entfaltungsund Fortschrittsdenken, handfeste „Parteiinteressen“ verschiedenster Art haben auch auf dem Gebiet der Forschung Spuren hinterlassen. Maßlose Kritik und regelrechte Verdammungsurteile sind und waren ebenso gängig, wie Schönschreibereien und Mythenbildungen, die verschiedenen Zwecken dienen sollen, etwa der nationalen Selbstvergewisserung, der Affirmation und Legitimation bestimmter Verhältnisse. Auf der Höhe der Zeit, von der diese Untersuchung der staatlichen Sozialpolitik unternommen wird, dokumentieren Begriffe wie z.B. „fürsorglicher Sozialstaat“, „entarteter“, „totaler“, „totalitärer Wohlfahrtsstaat“, schließlich: „soziale Marktwirtschaft“ in unterschiedlichem Ausmaß eine sehr wertgeladene, teilweise hochideologische, zudem undisziplinierte Rede- und Denkweise. Die Wortbestandteile „sozial-“ bzw. „Wohlfahrt“ tragen zur Verwirrung bei. Sie unterlegen den entsprechenden staatlichen Maßnahmen einen ganz bestimmten Sinn und ein vorrangiges Entstehungs- und Entwicklungsmotiv. Terrainbeherrschende und heftig geführte Debatten um die „Schädlichkeit“, den „Wert“ oder „Unwert“, die „Krisen“, den „Umbau“, den „Mißbrauch“, die „Grenzen“ staatlicher Sozialpolitik, um „Selbsthilfe“ und „Staatshilfe“, um Sozialpolitik und „neue Armut“, um „Flexibilisierung“, „Deregulierung“, die Rede vom „sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat“ als Ergebnis eines in den 1880er Jahren beginnenden „sozialistischen Jahrhunderts“ beherrschen die veröffentlichte Meinung. Erörterungen über die Folgen der demographischen Entwicklung, der „Globalisierung“ der Wirtschaft, des Wegfalls der politischen „Systemkonkurrenz“, der Krise des „Normalarbeitsverhältnisses“ und auch anderer Faktoren für die staatliche Sozialpolitik treten hinzu und verweisen auf den manchmal garnicht so neuen Kontext der Sozialstaatsentwicklung. Der Sozialstaat erscheint im Lichte dieser Diskussionen als schwere Hypothek für den Wirtschaftsstandort und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Maßnahmen zu Beginn des 21. Jahrhunderts weisen darauf hin, daß die Sozialstaatsgeschichte keine Garantie für eine „ewige“ Fortsetzung „bewährter“ Strukturen beinhaltet, daß sich ein möglicherweise tiefgreifender „Systembruch“ auf manchen Gebieten anbahnt. Die Geschichte der Sozialstaatsentwicklung „belehrt“, daß auch „Brüche“ sozialstaatlicher Entwicklung im Prinzip nicht neu sind. Vor diesem Hintergrund ist diese Untersuchung der historischen Sozialpolitik kein reiner Selbstzweck und das Ausweichen in die Geschichte bedeutet nicht, daß sich diese Arbeit als ein rein „anachronistisches Unternehmen“ versteht. Sie soll die Geschichte für die Gegenwart und Zukunft fruchtbar machen und für die Diskussionen und Deutungs-
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Vorwort
kämpfe der Gegenwart eine bessere Perspektive gewinnen helfen. Um aktuelle politische Auseinandersetzungen und Entwicklungen besser verstehen zu können, erweist es sich hier wie auch auf anderen Gebieten als nützlich, sich von der Gegenwart zu entfernen, um sie von einem solchen „entlegenen“ Standort um so besser betrachten zu können. Es wird allerdings darauf verzichtet, eine „Übertragung“ der am historischen Objekt gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart vorzunehmen. Über die Wege und Irrwege der heutigen Politik soll nicht im Lichte der Analyse und Aufklärung der Geschichte gerichtet werden, obwohl ein solcher „Sprung“ in die Gegenwart auf dem Gebiet staatlicher Sozialpolitik besonders erhellend sein kann. Trotzdem möchte diese Untersuchung zum Verständnis der Gegenwart aus der Geschichte beitragen. An gegebener Stelle, im Vorwort des zweiten Bandes, werden mit Blick auf die Sozialpolitik der Weimarer Republik die Bedingungen und Grenzen benannt, die ein derartiges Vorhaben des „Lernens aus der Geschichte“ beachten müßte. Dieser erste Band der Sozialstaatsgeschichte beginnt, nach theoretischen Vorüberlegungen, mit der Darstellung und Analyse der Entstehung der „modernen Welt.“ Am Anfang steht die Betrachtung und Analyse der Zeit der beschleunigten Transformation einer ständisch-absolutistischen Gesellschaft, die von der „extremen“ Dominanz des Agrarsektors und einer gebundenen kleinbetrieblichen Gewerbestruktur geprägt war, in eine kapitalistische Markt- und Industriegesellschaft. Er betont die Bedeutung politischer Faktoren für die Entstehung des deutschen Sozialstaats und bezieht namentlich die „großen Gefahren“, mit der revolutionäre Unruhen den Bestand der Gesellschaft bedrohen, in die Betrachtung mit ein. Ausgangspunkt ist in diesem Zusammenhang die Französische Revolution von 1789 mit ihren weitverzweigten Folgen. Diese zeitliche Begrenzung erfolgt wohlwissend, daß jede Geschichte eine weitere Vorgeschichte hat und daß eine zeitliche Begrenzung immer auch willkürlich ist. So werden bestimmte Formen des Schutzes und der sozialen Sicherung, so werden Eingriffe in problematische Gesellschaftsverhältnisse auch in vorkapitalistischen und vorindustriellen Lebens- und Wirtschaftsformen, unter anderen Bedingungen also, praktiziert. Diese können fortdauern, sich selbst „modernisieren“ und unterlaufen damit die üblichen Periodisierungen und Epocheneinteilungen, die in der Geschichtswissenschaft vorgenommen werden. Das ist zu beachten, wenn von einer „Wende“, einem „Neuanfang“ die Rede ist oder von der „neuen Zeit“, der „modernen Welt“. Das Streben nach theoretischem Ertrag, nach Erklärungen oder nach „Erkenntnis“ hat zur Folge, daß mitunter auch diese „alten“ Vorgeschichten, bevorzugt aber jene der „neueren Zeit“ recht intensiv ausgeleuchtet werden. Im Rahmen einer solchen historisch-genetisch strukturierten Untersuchung wird die zu erklärende Tatsache als „Endzustand“ einer längeren Entwicklungsreihe aufgefaßt. Auf die Frage nach dem „Warum“ wird mit der Darstellung und Analyse von „Entwicklungsstufen“ geantwortet. Diese Vorgehensweise ist der Natur des Geschichtsprozesses angemessen, der ja nicht zusammenhangslos ist. Der Ursprung sozialpolitischen Denkens und Handelns liegt in sozialen Krisen und Entwicklungserscheinungen, die als störend, inhuman, beängstigend oder bedrohlich empfunden werden. Sozialpolitisches Denken kristallisiert zunächst primär an der Wahrnehmung einer Tendenz zur Massenverarmung und den daraus erwachsenden Gefahren für die soziale und politische Ordnung. Später bürgert sich der Begriff der „sozialen Frage“ für ganz bestimmte, „beunruhigende“ Gesellschaftserscheinungen ein. Er steht für die Tendenz einer sich entwickelnden industriell-kapitalistischen Gesellschaft, aus sich heraus die beiden Grundklassen der „modernen Gesellschaft“, die „freien Lohnarbeiter“ und das „freie“
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Vorwort
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neuzeitliche Unternehmertum zu entbinden. Er steht vor allem auch für die prekäre Lebenslage der in diesen Prozeß eingebundenen abhängig Beschäftigten und für die davon ausgehenden sozialen Spannungen, Unruhen und Organisationsbestrebungen. Hierauf beziehen sich zunächst die als sozialpolitisch zu bezeichnenden Interventionen. In späteren Entwicklungsetappen wird dieser Bezugspunkt überschritten, ohne selbst „aufgegeben“ zu werden. Es mehren sich nicht nur die Ziele und Objekte, sondern auch die Methoden der „Einflußnahme“ auf einzelne als „störend“ empfundene Gesellschaftszonen im Laufe des Geschichtsprozesses. Um eine gewisse begriffliche Ordnung in einen hochkomplexen und vielgestaltigen Untersuchungsgegenstand zu bringen, unterscheidet die Untersuchung zwischen insgesamt fünf mit bestimmten Geschichtsepochen verknüpften Formen der deutschen staatlichen Sozialpolitik. Für die sozialpolitischen Projekte vor der eigentlichen Sozialstaatsgründung im Kaiserreich, die namentlich auf dem Gebiet der „Kassengesetzgebung“ ohne einen allgemeinen, umfassenden staatlichen (Versicherungs-)Zwang auskommen, die auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes unmenschliche Folgen der freien Wirtschaft abmildern und erste eingeschränkte Möglichkeiten der kollektiven „Selbsthilfe“ ermöglichen sollen, wird der Begriff der „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ verwendet. Der Komplex von Maßnahmen, der beginnend mit den 1880er Jahren im Kaiserreich verwirklicht wird und am Anfang der eigentlichen Sozialstaatsentwicklung steht, wird als die „obrigkeitsstaatliche Sozialpolitik“ bezeichnet. Auf diese folgt, beginnend bereits im Ersten Weltkrieg, eine spezifisch „demokratische Sozialpolitik“. Diese sieht die Mitarbeit der Verbände von Arbeit und Kapital am und im Sozialstaat vor. Sie entfaltet sich in der Weimarer Republik und wird an ihrem Ende bereits wieder eingeschränkt und abgeschafft. Eingepaßt in die revolutionären Machteroberungsstrategien der kommunistischen Bewegung erscheint vorübergehend das Konzept und Projekt einer „proletarischen Sozialpolitik“. Auf die „demokratische Sozialpolitik“ folgt schließlich die „völkische Sozialpolitik“ des „Dritten Reiches“. Dieses verwerfliche und doppelgesichtige Projekt umfaßt das ganze „Volk“ und nimmt Vorstellungen biologistischrassistischer Art in sich auf. Dementsprechend ist auch vom „demokratischen“ bzw. „völkischen Sozialstaat“ die Rede. Eine solche Typisierung bewegt sich an der Grenze des Zulässigen, vermag der komplexen Fülle der Darstellung aber eine gewisse Gestalt und Struktur zu vermitteln. Dieser erste Band zur Geschichte der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland handelt ganz überwiegend von der „liberal-staatlichen“ und der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“. Er bewegt sich, sieht man von Verweisungen auf eine fernere Vergangenheit und von der Zeit des Ersten Weltkriegs ab, im „langen 19. Jahrhundert“ (E. Hobsbawm), das mit seinen Strukturen und Erscheinungsformen im Ersten Weltkrieg endet, an und in ihm geradezu zerbricht. Der Komplex von Diskussionen und Maßnahmen, der sich aus älteren Diskussionen und von der „Politik der Armut“ allmählich abhebt, und die Lohnarbeiter zum Ziel hat, gewinnt im 19. Jahrhundert unter der Ägide des „Obrigkeitsstaates“ die Gestalt einer mehr oder weniger reinen „Staatsveranstaltung“. Dabei geht es im Kaiserreich ganz wesentlich darum, die Bedrohung der Lohnarbeiterexistenz durch Erwerbsunfähigkeit im Rahmen eines Systems von staatlicher Arbeiter- bzw. Sozialversicherungs- und Arbeiterschutzpolitik zu „bekämpfen“ oder ihre Folgen abzumildern. Damit hat sich eine staatsbezogene sozialkonservative Tendenz durchgesetzt. Durchaus diskutierte sozialliberale Konzeptionen und Kräfte mit ihrer Betonung der Selbsthilfe, der Entfaltung gesellschaftlicher Kräfte bei nur subsidiären Staatseingriffen, haben es entsprechend schwer. Dabei schreckt
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Vorwort
der Staat vor einer umfassenden Instrumentalisierung des Zwangs und vor relativ tiefgreifenden Schutzbestimmungen nicht zurück. Da im folgenden sozialstaatliches Denken und sozialpolitische Praxis weit im Vordergrund stehen und mit Blick auf die „Deutungskämpfe“ der Gegenwart sei an dieser Stelle daran erinnert, daß bereits Jahre vor der Reichsgründung und lange bevor die großen Projekte der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ überhaupt „reifen“ eine Abwehrideologie gegen staatliche Sozialpolitik in voller Blüte steht, die auch der heutigen Zeit nicht „fremd“ ist. Die auf frühliberale Anschauungen aufbauende deutsche „Manchesterschule“, „Manchestermänner“, „Freihändler“ bzw. Anhänger „neubritischer“ Wirtschaftsanschauungen bezweifeln die Sinnhaftigkeit und den möglichen Erfolg staatlicher Sozialpolitik. Im Extrem ist in der ersten Hälfte der 1860er Jahre von der „sogenannten Arbeiterfrage“ die Rede und den abhängig Beschäftigten wird zur Verbesserung ihrer Lage „Arbeitet und sparet!“ angeraten. Von „absolut gültigen Axiomen“ und „unumstößlichen Naturgesetzen“ der Wirtschaftsentwicklung ausgehend, meinen diese Volkswirte, daß persönliches Interesse und Konkurrenz in ihrem Zusammenwirken die „Harmonie“ der Gesellschaft begründen. Von diesem „Harmoniedogma“ und einer regelrechten „Freiheitsapologie“ ausgehend, werden Staatseingriffe zu Störungen des naturgesetzlichen Ablaufes der sozialökonomischen Entwicklung und zur eigentlichen Ursache sozialer „Übel“. Darüber hinaus erscheinen diesen Volkswirten „Übel“ und „Mängel“ als nur vorübergehend oder als Überbleibsel einer vorkapitalistischen Epoche. Sogar die Interessen der „Kapitalisten“ und Arbeiter erscheinen als harmonisch. Es gäbe keine Gegensätze, die auszugleichen wären, wenn man den Dingen doch nur ihren freien, ungehinderten Lauf lasse. Es genüge wenn jeder sein „wahres Interesse“ be- und ergreife. Auch für die Armen und Arbeiter sei ein Staat, der sich auf seine „Nachtwächterfunktion“ und auf die „Freiheitsgewähr“ beschränke und sich ansonsten zurücknehme erstrebenswert. Man könne sich ruhig der volkswirtschaftlichen und „sittlichen“ Wirkung des freien Tausches überlassen. Staatshilfe ertöte zudem „Selbsthilfe“, „Selbstverantwortlichkeit“ und „Selbstfürsorge“. Die „Naturgesetze der Volkswirtschaft“ verlangten, auch international, die Beseitigung aller wirtschaftlichen Hemmnisse, damit sich die Harmonie nach ihren inneren Gesetzen ausbreite. Allein die Tatsache, daß diese hier kurzgefaßten, zugespitzten und als unwandelbar dargestellten „klassisch-liberalen“ Auffassungen nicht vorherrschend werden und bleiben, daß diese antisozialpolitische „Agitationspartei“ wirksame Kritik erfährt, eröffnet den Weg zur Weiterentwicklung der staatlichen Sozialpolitik. Es sind mit besonderer Wirkung ethisch motivierte, „realistische Volkswirte“, es ist die „staatsinterventionistisch-historische Schule“ der Nationalökonomie, die sich gegen das „Harmoniedogma“ und die Lehre von den „wirtschaftlichen Naturgesetzen“ wenden. Der „Augenschein“, historische und räumlich-statistische Studien qualifizieren die Dogmata der „Freihändller“ bzw. „Manchesterleute“ als unhaltbar. Mit ihrer Absage an den naturgesetzlichen Ablauf des sozialen Geschehens, verbinden sie die Auffassung, daß Staatseingriffe nicht nur ein ethisches sondern auch ein Gebot der „politischen Klugheit“ seien, angesichts einer in eine „unheimliche“ Bewegung geratenen Gesellschaft. Vergleicht man das „lange“ 19. Jahrhundert mit den Zeitläufen, die den Hintergrund des zweiten Bandes dieser Sozialstaatsgeschichte bilden, so erscheint der hier untersuchte Zeitraum mit seiner Sozialpolitik als nun doch recht „ferne“ Zeit. Selbst nicht frei von kriegerischen Auseinandersetzungen und angsterzeugenden, fundamentalen Transformationsprozessen, scheint die Geschichte dennoch in vergleichsweise ruhigen Bahnen zu verlaufen.
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Vorwort
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Es fehlt noch an der ungeheuren Verdichtung geschichtlicher Ereignisse, die das „kurze“ 20. Jahrhundert (E. Hobsbawm) kennzeichnet. Dies trifft auch auf die sozialpolitischen Interventionen und Gesetzgebungsakte zu. Die Reichssozialpolitik mit ihrer „Basisinnovation“, der staatlichen Sozialversicherung, entsteht und entwickelt sich in einer langen Friedensepoche. Erst gegen Ende dieses ersten Bandes beginnt die Geschichte geradezu zu explodieren und es bahnt sich jene ungeheure Verdichtung geschichtlicher Ereignisse und Katastrophen an, die das „kurze“ 20. Jahrhundert charakterisiert. In diesem Zusammenhang ist es schon erstaunlich, daß sich in der staatlichen Sozialpolitik des beginnenden 21. Jahrhunderts noch so zahlreiche Strukturen und Funktionsmechanismen erhalten haben, die dem 19. Jahrhundert entstammen. Da sich diese Untersuchung mit der Geschichte der staatlichen Sozialpolitik befaßt, benutzt sie das Handwerkzeug des Historikers, um der Aufgabe der Tradierung, Systematisierung und Vermehrung von Erkenntnissen gerecht zu werden. Nun ist es völlig unmöglich, vergangene Zeiten so darzustellen, „wie sie wirklich waren.“ Dennoch bietet ein quellenorientiertes, kritisches Vorgehen wenigstens die Chance selbständige, nachvollziehbare Wissenschaft außerhalb unmittelbarer politischer und persönlicher Interessen zu konstituieren und zu behaupten. Den Quellen kommt in diesem Sinne ein Eigengewicht, ein „Vetorecht“ zu. Dieses Vorgehen hat insbesondere zur Relativierung allzu einfacher und eindimensionaler Erklärungsansätze geführt. Wenn dennoch im folgenden zur Erklärung der Sozialstaatsentwicklung eine spezifische „Antriebsquelle“ akzentuiert und als besonders wirksam diskutiert wird, so geschieht das in dem Bewußtsein, daß zur Erklärung der Genese eines so hochkomplexen Politikbereichs weitere Faktoren und Rahmenbedingungen nicht ausgeklammert werden dürfen. Zweifellos bewegen also zahlreiche Motive und Ziele die sozialpolitischen Debatten und Entwicklungen im Kräftespiel der jeweiligen Zeit. Christlich-humanitäre, verfassungspolitische, produktionspolitische, „menschenökonomisch“-utilitaristische, finanzpolitische, sowie auch „volksbiologisch-rassistische“, parteipolitische und andere Einflußfaktoren lassen sich finden. Von besonderer Bedeutung ist, wie bereits angedeutet, die herrschaftspolitische Intention, die der staatlichen Sozialpolitik zugrunde liegt. Dieses Grundmotiv wurde bereits im Rahmen eines überkommenen Ansatzes der Sozialpolitikwissenschaft betont. Es dient im Zusammenhang mit dieser Untersuchung besonders in bestimmten historischen Situationen der Anordnung, Auswahl und Interpretation des historischen Materials, ohne daß andere Zusammenhänge ausgeblendet werden. Dieser Ansatz wird in dem der eigentlichen Untersuchung vorangestellten Abschnitt „Rekonstruktion eines Forschungsgegenstandes“ entfaltet, mit einem weiteren „altehrwürdigen“ Ansatz abgeglichen und „wiederbelebt“. Zugegebenermaßen entspricht dieser Rückgriff auf einen überkommenen Theorieansatz und der damit zwangsläufig verbundene „Abschied“ von der derzeit ebenso „blühenden“ wie „verwirrenden“ Theoriekonjunktur und den intellektuellen Moden nicht gerade den Vorstellungen von einem beständigen oder doch zumindest relativ umweglosen Fortschritt der Sozialwissenschaften bzw. der Sozialpolitik als Wissenschaft. Während der langen Arbeit an dieser Geschichte der Sozialpolitik jedoch hatte ich Gelegenheit genug, zu erfahren, daß neuere sozialwissenschaftliche Theoriebildungen mitunter sehr „unpassend“ und wenig hilfreich und fruchtbar werden, wenn man sie auf die Geschichte der staatlichen Sozialpolitik bezieht. Jene ältere Sichtweise jedoch, die heute kaum noch benutzt wird und wenig in die theoretische und „politische Landschaft“ paßt, bekam dem umfangreichen
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Vorwort
Material, das sich bei mir über Jahre auftürmte, streckenweise viel besser, schließlich wurde sie ja nicht grundlos entwickelt. Dieser Ansatz hat sich im Laufe der Untersuchung als ausbaubar, konkretisierbar und natürlich auch als ergänzungsbedürftig erwiesen. So ist der Begriff „Herrschaft“ angelehnt an Max Weber bzw. an kritischpolitikwissenschaftliche Ansätze wohlüberlegt und mithin nicht im Sinne eines politischen Schlagwortes zu einer wichtigen „Zentralgröße“ der folgenden Untersuchung erhoben worden. Dieser Begriff wird vor allem auf den Staat und die innenpolitische Situation aber auch auf die Betriebsverhältnisse bezogen und sogar außenpolitisch akzentuiert. Von diesem Begriff und Konzept ergibt sich ein unprätentiöser Bezug zur Arbeiterbewegung, der eine besondere sozialstaatsbildende Kraft zugeschrieben wird. Sie gilt z.B. als herrschaftsgefährdende oder zeitweilig mitherrschende politisch-soziale Kraft. Diese Schlüsselkategorie zur Erhellung der Entstehung und Entwicklung staatlicher Sozialpolitik gibt der nachfolgenden Untersuchung ihren spezifisch historisch-politikwissenschaftlichen Charakter. Der Begriff und das Konzept der „Herrschaft“ wird dabei in den Kontext der Gesellschaftsentwicklung gestellt. Herrschaftsstrategische Überlegungen werden in den Sitzungen und Konferenzen auf politisch-administrativer Ebene angestellt und ausgetauscht. Solche Überlegungen bewegen auch die „freie“, die nichtstaatliche sozialpolitische Diskussion und finden sich in den entsprechenden Protokollen und Schriften. Sie motivieren sozialpolitisches Handeln, bestimmen die Ausgestaltungsformen von Maßnahmen und Experimenten und sie erweisen sich nicht selten - zumeist vordergründig und kurzfristig betrachtet - als „Fehlspekulationen“, weil allzu geradlinige und „monokausale“ Annahmen über die Wirkungen der Sozialpolitik zugrunde gelegt werden und weil diese Sozialpolitik selbst häufig völlig unzulänglich ist. Mitunter wird das Konzept der Herrschaft in einem weiteren, dann in einem engeren Sinne gebraucht, letzteres vor allem dann, wenn es buchstäblich darum geht, durch sozialpolitische Maßnahmen zu erreichen, für staatliche Befehle unmittelbar und überhaupt noch den „sprichwörtlichen“ Gehorsam zu finden. Manchmal sind herrschaftsstrategische Ziele und Überlegungen Bestandteil vielschichtiger und „doppelbödiger“ politischer Strategien. Streckenweise „zwingt“ die Materiallage und die Ausformung der staatlichen Sozialpolitik dazu, die Analyse in erheblichem Umfang anzureichern. Es ist also keineswegs beabsichtigt, mit dem Begriff und dem Konzept der „Herrschaft“ alle „Dinge“ auf den einen großen, „emotional aufwühlenden“ und „entlarvenden“ Nenner zu bringen. Vor allem der im ersten Band behandelte Zeitraum ist so gewaltig, daß auf eine umfassende Ausbreitung und Analyse der überlieferten „Stoffmassen“ in besonders hohem Maße verzichtet werden muß. Die Schwerpunkte der Darstellung der historischen Sozialpolitik werden so gesetzt, daß die für die Theoriebildung besonders bedeutsamen und die „spektakulären“ Phasen der sozialpolitischen Entwicklung in den Vordergrund gerückt werden. Dieser Weg läßt Raum zu angemessener Erörterung und zur Nutzung des (Original-)Zitats, das gelegentlich bewußt einen „authentischen Eindruck“ der Wahrnehmung und des Argumentierens der damaligen Zeit eröffnen, d.h. Annäherungen ermöglichen soll. Abstraktere, auf die Feststellung des theoretischen Ertrags abstellende Passagen finden sich vor allem in den (vor-) strukturierenden und resümierenden Teilen dieser Arbeit. Um dem Leser trotz der Schwerpunktsetzung ein annähernd „rundes“ Bild vom Ursprung und den Bewegungsgesetzen staatlicher Sozialpolitik geben zu können, wird über manche nicht im Vordergrund stehende Entwicklungsphase lediglich kurz referiert.
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Vorwort
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Meine Arbeit handelt von staatlicher Sozialpolitik in Deutschland. Streckenweise, für die Zeit vor der Reichsgründung, für die Analyse der „liberal-staatlichen Sozialpolitik“, ist der räumliche Bezugsbereich noch enger gewählt. Er beschränkt sich dann vornehmlich auf Preußen. Die „völkische Sozialpolitik“ des „Dritten Reiches“ schließlich reicht besonders weit über die Gebiete hinaus, die zuvor dem deutschen Staat zugerechnet wurden. Eine starre „räumliche Abgrenzung“ des Untersuchungsobjekts wäre auch noch aus ganz anderen Gründen fragwürdig. Während des Bearbeitungsprozesses wurde mir nämlich immer eindringlicher klar, daß deutsche Zustände und Zustandsveränderungen häufig nur im europäischen Kontext behandelt werden können. Deutsche Länder, das Deutsche Reich sind isoliert gedacht - auch was ihre „innere Entwicklung“ anbetrifft - Chimären. Kein Land steht für sich allein. Die deutsche Sozialpolitik entsteht im Rahmen der europäischen Entwicklung und wirkt auf diese zurück. Trotz nationalstaatlicher Abgrenzungen läßt sich am Beispiel der sozialpolitischen Entwicklung so etwas wie ein „europäisches Gemeinschaftsprojekt“ beobachten. Auch bestimmte soziale Bewegungen und ökonomische Umgestaltungen sowie die damit einhergehenden Ideen sind grenzüberschreitend. Schlaglichtartig mag die Tatsache europäischer Interdependenzen an der „Respektlosigkeit“ abgelesen werden, mit der ich das Jahr 1789 und mit ihm die Französische Revolution in den Rang des zeitlichen Ausgangspunktes dieser Untersuchung und eines Schlüsselereignisses auch für die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik erhebe. Zahlreiche internationale Aspekte lassen sich auch im Zusammenhang mit der „demokratischen“ und der „völkischen Sozialpolitik“ ausmachen. Die Ausarbeitung dieser Sozialstaatsgeschichte war für mich ein großes intellektuelles Abenteuer und eine gern übernommene Selbstverpflichtung. Sie war nur auf der Grundlage einer tragfähigen Forschungsinfrastruktur und zahlreicher eigener und fremder Vorarbeiten möglich. Eine wissenschaftliche Arbeit von diesem Umfang läßt eine ganz erhebliche „Dankesschuld“ entstehen, eine „abstrakte“ und „konkrete“. Meine Arbeit verdankt einiges der inzwischen in der Bundesrepublik hochentwickelten Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die insbesondere in der Form der Historiographie der Arbeiterbewegung und der Sozialpolitikgeschichtsschreibung zu meiner Untersuchung beigetragen hat. Selbstverständlich schuldet meine Arbeit viel den Bibliothekaren und Archivaren. Sie haben durch ihre bewahrende, erschließende und bereitstellende Tätigkeit die „Tür zur Vergangenheit“ geöffnet, sie haben die Quellen bereitgestellt, die mit Blick auf den Untersuchungsansatz zu befragen waren. Danken möchte ich auch meinen studentischen Hilfskräften, die mir über die Jahre so manche Routineaufgabe, so manchen Bibliotheks- und Archivgang abgenommen haben. Widmen möchte ich diese Bände meiner Familie. Hagen, im Frühjahr 2006
Eckart Reidegeld
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Rekonstruktion eines Forschungsgegenstandes
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1 Einleitung
1.1 Rekonstruktion eines Forschungsgegenstandes Begriffe sind „Werkzeuge wissenschaftlichen Denkens“ (Th. Geiger).1 Vor allem aus diesem Grund kann hier nicht bei der nach 1945 in der Bundesrepublik (und abgeschwächt auch schon im Deutschen Reich) herrschenden begrifflichen2 und theoretischen Konfusion und bei der daraus zwangsläufig folgenden Aussage Hans Alberts, eine geschlossene Theorie der Sozialpolitik sei nicht möglich,3 stehengeblieben werden. Das beinhaltet nicht, daß diese nun problemlos nachgeliefert wird, wohl aber, daß Anstrengungen in diese Richtung gemacht werden sollen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß er auf die Sozialpolitik in der Bundesrepublik nur noch selten angewendet wird4 und daß er in der sozialpolitischen (Fach-) Publizistik vor allem nur noch von Gerhard Weisser, Helmut Winterstein5 , Gerhard Albrecht,6 aber auch: Wilfrid Schreiber7 und in nicht unproblematischer Weise von Walter Weddigen und Horst Baier8 als „Merkposten“ bewahrt wird, soll nun der überkommene Ansatz der Sozialpolitiktheorie rekonstruiert werden, der in der staatlichen Sozialpolitik in erster Linie ein Herrschaftsinstrument sieht. Ohne dadurch einer Engführung der Gedanken und Analyse Vorschub leisten zu wollen, bedeutet dies, daß der Endzweck der auf die „soziale Frage“ bezogenen staatlichen Sozialpolitik nach dieser Auffassung nicht nur und nicht einmal primär im „Sozialen“ liegt, mögen zur Herrschaftssicherung „soziale“ Maßnahmen wie die „Verbesserung der Lebenslagen“ und mag eine „soziale“ politische Rhetorik eine noch so große Rolle spielen. Vor allem für die Erklärung der Entstehung der „obrigkeitsstaatlichen“ und der „demokratischen Sozialpolitik“ leistet dieser Ansatz gute Dienste, selbst auf die „völkische Sozialpolitik“ bezogen ist er von großer Erklärungskraft. Immer sind natürlich „Ein-
1 Vgl.: Geiger, Theodor: Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel. Köln und Hagen 1949, 23. 2 Vgl. dazu etwa: Leenen, W.R.: Tausendundeine Definition: Was ist Sozialpolitik? In: Sozialer Fortschritt, 27 (1978)1, 1 - 6. 3 Vgl. dazu: Engelhardt, W. W.: Möglichkeiten einer Wissenschaft von der Sozialpolitik. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 130(1974), 545 - 564, hier: 545. 4 Vgl. aber als Ausnahme und als Beispiel: Hockerts, Hans Günter: Integration der Gesellschaft: Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik. In: Zeitschrift für Sozialreform, 32(1986)1, 21 - 41. 5 Vgl. auf die Staatsraison als Entstehungsgrund hinweisend: Weisser, Gerhard: Beiträge zur Gesellschaftspolitik. Göttingen 1978, bes. 284; ausführlich vgl.: Winterstein, Helmut: Sozialpolitik mit anderem Vorzeichen. Berlin 1969, 9 - 93. 6 Vgl. dazu explizit: Albrecht, Gerhard: Gesellschaftspolitik, Sozialpolitik, Volkswohlfahrtspolitik. In: Schmollers Jahrbuch, 81(1961), 385 - 419. 7 Vgl.: Schreiber, Wilfrid: Sozialpolitik. In: Handbuch der Wirtschaftswissenschaften. Band II. Köln, Opladen 1966, 270 - 306. 8 Vgl.: Weddigen, Walter: Grundzüge der Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege. Stuttgart 1957; Baier, Horst: Herrschaft im Sozialstaat. In: Ferber, Christian von, Kaufmann, Franz-Xaver (Hg.): Soziologie und Sozialpolitik. Opladen 1977, 128 - 142.
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Einleitung
bindungen“ und andere Faktoren zu beachten und die Vieldeutigkeit des Begriffs „Herrschaft“ erweist sich mitunter überraschend als analytischer Vorteil. Dieser Herrschaftscharakter staatlicher Sozialpolitik, heute weitgehend aus dem sozialwissenschaftlichen Blick geraten, wird von der älteren Sozialpolitikwissenschaft in zahlreichen Wendungen und in eigenwilliger, teils auch: verschleiernder Begrifflichkeit ausgedrückt und differenziert dargestellt. Die Ansätze dieser Autoren sind sehr „staatszentriert“ aber nicht „staatsverhimmelnd“ und man kann ihnen nicht vorwerfen, daß sie die Sicht auf die Gesellschaft und die von dort ausgehenden Herrschaftsgefährdungen verstellen, gleichwohl wird diese Sicht „verschattet“. Weddigen erinnert an diese überkommene Lehre, wenn er zusammenfaßt, der Sozialpolitiker wahre „...den Bestand und die gesellschaftliche Einheit des Gemeinwesens gegenüber Lähmungs- und Zersetzungserscheinungen, mit denen das Verhältnis gewisser Gesellschaftsgruppen zueinander und zum Gesellschaftsganzen das Gemeinwesen bedroht.“9 In der Weimarer Republik kennzeichnet Ludwig Heyde den Begriff der Sozialpolitik, indem er darauf hinweist, daß sich aus dem ungeheuren Komplex der politischen Bestrebungen diejenigen herausheben, „...denen die Chance beigemessen wird, die Beziehungen zwischen verschiedenen Ständen oder Klassen und ihren Angehörigen oder die Beziehung zwischen ihnen und einer Staatsmacht oder ihr Verhältnis zur Staatsidee, Standesidee oder Klassenidee zu beeinflussen. Diese Bestrebungen und Maßnahmen bilden den Inbegriff einer ‘sozialen Politik’. Hierher können Bestrebungen und Maßnahmen auf den verschiedenen Gebieten der Politik gezählt werden, z.B. dem der Wirtschafts- und Finanzpolitik aber auch der Schul-, Kirchen- oder Kunstpolitik. Als Sozialpolitik aber möchte ich in Anlehnung an den bisherigen Sprachgebrauch den Komplex nur derjenigen planmäßigen Bestrebungen und Maßnahmen ansehen, deren primärer Zweck in ihrer Gesamtheit jene Beeinflussung ist.“10 Diese einflußreiche, wenngleich selbst nicht ganz stimmige Begriffsbildung,11 die nur ihren Sinn hat, wenn sich bei den „Ständen“ oder Klassen „bewußte Kampfstellungen“, Gegensätzlichkeiten, „Gefahren“ für Staat und Gesellschaftsordnung ausmachen lassen und das Ziel der entsprechenden Sozialpolitik der Intention nach die Gefahrenabwehr ist, steht in der weit zurückreichenden, sich am Manchestertum abarbeitenden Tradition prominenter „Staats-“ bzw. „Kathedersozialisten“. Vorläufer solcher Auffassungen reichen noch sehr viel weiter in die Geschichte zurück. Ladislaus von Bortkiewicz z.B. geht von durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung bedingten sozialen Klassen und sozialen Gegensätzen aus. Sozialpolitik ist für ihn nichts anderes als die in Gesetzgebung und Verwaltung sich äußernde Stellungnahme des Staates zu den sozialen Gegensätzen.12 Diese Stellungnahme könne nur darin bestehen, daß der Staat zu Gunsten einer bestimmten Klasse und zugleich zu Lasten einer anderen Klasse oder anderer Klassen, welche zur ersteren im Verhältnis von Interessengegensatz stehen, 9 Weddigen, Walter: Die Aufgaben der Sozialpolitik. In: Soziale Welt, 3(1951/52), 156 - 163, hier: 156. 10 Verhandlungen des Vierten Deutschen Soziologentages am 29. und 30. September 1924 in Heidelberg. Tübingen 1925, 73; Sperrung im Original. 11 Vgl. dazu die Kritik und den eigenen Definitionsvorschlag von: Pribram, Karl: Begriff und Aufgaben der Sozialpolitik und Soziologie. In: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt, 34(1925), Sp. 2 - 4; 36 - 37; 53 - 56; 80 - 81; 95 96; vgl. auch denselben: Die Sozialpolitik als theoretische Disziplin. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 55(1926), 577 - 629. 12 Vgl.: Bortkiewicz, L. von: Der Begriff „Sozialpolitik“. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Jena 1899, 332 - 349, hier: 334 f.
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eintritt.13 Sozialpolitik bedeute eine bestimmte Richtung des Eingreifens in das volkswirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Leben.14 Zustimmend verweist von Bortkiewicz auf den Definitionsansatz von Rudolf Sohm, nach dem Sozialpolitik der „Inbegriff“ der sozialen Maßnahmen sei, welche auf das gegenseitige Verhältnis der sozialen Klassen Bezug nähmen, „...insofern durch solche Maßnahmen das Machtinteresse des Staates eine Förderung erfährt.“15 Daß die „Stellungnahme zu den sozialen Gegensätzen“ nicht ziel- und zwecklos erfolge, betont vor allem Richard van der Borght. „Sozialpolitik im allgemeinen Sinne des Wortes ist die Gesamtheit der Maßnahmen, welche die im Gesamtinteresse erforderliche Einwirkung auf die sozialen Verhältnisse, d.h. auf die Verhältnisse der zum Gemeinwesen gehörenden Gesellschaftsklassen, bezwecken.“16 Der Zweck, nicht die Form des Eingriffs qualifiziere Staatshandeln mithin als „sozialpolitisch“. Er führt aus, daß es das „Gesamtinteresse“ des Gemeinwesens verlange, „...daß alles, was geeignet ist, den engen Zusammenhang der Volksgenossen zu lockern und die Einheit des organischen Gefüges des Gemeinwesens zu beeinträchtigen, entweder ganz beseitigt oder doch wenigstens soweit gemildert wird, wie es zur Verhütung gemeinschädlicher Wirkungen geboten ist. Daß schroffe Gegensätze zwischen den einzelnen Gesellschaftsklassen dem Gesamtwohl schädlich sind, ist durch die Geschichte und Erfahrung bewiesen.“ Dabei beschränkt van der Borght das Tätigkeitsfeld der Sozialpolitik nicht auf die Arbeiterklasse, sondern sieht die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, die Angestellten des Privatdienstes, die unteren Beamtenschichten, die Dienstboten usw. als soziale Klassen, die von Sozialpolitik (im weiteren Sinne) zu erfassen seien.17 Damit dehnt sich der Objektbereich der Sozialpolitik und umfaßt schließlich auch die Maßnahmen, die etwa von den Gemeinden „aus Gemeinsinn“ zur „Milderung sozialer Mißstände“ ergriffen werden, die kommunale Sozialpolitik.18 Die Staatsraison als wesentlicher Dreh- und Angelpunkt begrifflicher Abgrenzung staatlicher Sozialpolitik wird bei Leopold von Wiese zunächst nur sehr verschlüsselt angesprochen; auch er sieht den Bezug zu den „sozialen Klassen“ als konstitutiv an.19 Der Zweck der „politischen Selbsterhaltung des Staates“ widerstrebe einer „einseitigen, unsittlichen Klassenpolitik“, Forderungen des „politischen Egoismus“ und des „sittlichen Altruismus“ würden zusammenfallen.20 Für Otto von Zwiedineck-Südenhorst ist Sozialpolitik „...die auf die Sicherung fortdauernder Erreichung der Gesellschaftszwecke gerichtete Politik.“21 Im engeren Sinne sei Sozialpolitik die „Wahrnehmung des Klasseninteresses“ der Arbeiterklasse „...im Rahmen des Interesses an der gesellschaftlichen Einheit.“22 Hiervon ausgehend sieht Alfred Amonn die „Erhaltung des materiellen Zusammenhangs der Gesellschaft“, „...die Erhaltung und Stärkung des inneren gesellschaftlichen Zusammenhangs...“ als letztes Ziel und gemeinsa-
13 Vgl. denselben, ebenda, 335. 14 Vgl. ebenda, 336. 15 Wobei v. Bortkiewicz die Betonung des Machtinteresses eigentlich für überflüssig hält, da ein solches Machtinteresse eigentlich allen politischen Aktionen zugrunde liege; vgl. ebenda, 348. 16 Borght, R. van der: Grundlagen der Sozialpolitik. Leipzig 1904, 1. 17 Vgl. denselben, ebenda, 2. 18 Vgl. ebenda, 3; die reine Armenpflege schließt van der Borght allerdings aus seiner Betrachtung aus. 19 Vgl.: Wiese, Leopold von: Einführung in die Sozialpolitik. Leipzig 1910, bes. 26 ff. 20 Vgl. denselben, ebenda, 17. 21 Zwiedineck-Südenhorst, Otto von: Sozialpolitik. Leipzig und Berlin 1911, 38. 22 Derselbe, ebenda, 39.
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mes Wesensmerkmal der Sozialpolitik an.23 Die Bedeutung der Arbeiterklasse qualifizierend, formuliert Amonn, ihre unbefriedigende Lage sei eine „...der wichtigsten und tiefsten Ursachen der Gefährdung der Gesellschaftsordnung... (sie) mache diese zu Gegnern der bestehenden Gesellschaft...“24 Arbeiterpolitik, d.h. die politische Regulierung des Lohnarbeit-Kapital-Verhältnisses, wird damit zum Kern und zum wichtigsten Bestandteil der staatlichen Sozialpolitik. Wenn allerdings Arbeiterpolitik nur um ihrer selbst willen erfolge, ausschließlich im Interesse der Arbeiterklasse geschähe, wäre sie, so Amonn, reine „Interessentenpolitik“, nicht jedoch Sozialpolitik.25 Die Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin ist in diesem Zusammenhang die Lehre von der „sozialen Frage“ bzw. der „Arbeiterfrage“ und namentlich auch die Lehre von den staatlichen Maßnahmen, die zur Verbesserung der Lage der lohnabhängig Beschäftigten ergriffen werden (können), um die sich in verschiedenen Formen zeigenden „destruktiven Gesinnungen“, „Gefahren“, die „Bitterkeit“, die „politischen Leidenschaften“ und das „Aufbegehren“ zu bekämpfen. Wenn hier ergänzend zur heute verbreiteten Auffassung, daß diejenigen politischen Handlungen als Sozialpolitik zu bezeichnen sind, „...die auf die Verbesserung der Lebenslage von gesellschaftlich schwachen Personenmehrheiten gerichtet sind,“26 an einer Betonung politischer Zwecke festgehalten, und die Verbesserung der „Lebenslage“ lediglich als ein Mittel zu diesem Zweck aufgefaßt wird, so ergibt sich ein gewisses Spannungsverhältnis zu den Definitionen, die nicht vom Staat und seinen Herrschaftsstrategien, sondern von den „sozialen Klassen“ und „Ständen“ her definieren und deren „Druck“ für sozialstaatsbildend halten. Die Auffassung, daß es sich bei der staatlichen Sozialpolitik um positiv zu wertende „Ergebnisse“ des „Drucks“ der Arbeiterbewegung, um „Errungenschaften“ und „Fortschritte“ handele, ist zwar nicht ursprünglich, aber schon bald in und im Umkreis der Arbeiterbewegung verbreitet. Für August Bebel und andere ist etwa anläßlich der Verabschiedung des „Gesetzes über die Invaliditäts- und Altersversicherung“ im Jahre 1889 schon lange gegenwärtig, daß die Arbeiterversicherungspolitik des damaligen Staates ein Aspekt des Kampfes gegen die Arbeiterbewegung ist, d.h. von ihnen wird erkannt, daß die Arbeiterbewegung zweifellos für diese Politik ursächlich ist. Sie übersehen jedoch nicht, daß diese als „Gefahr“ und Sitz „politischer Leidenschaften“ durch die staatliche Sozialpolitik um ihre Existenz, zumindest jedoch um ihre politische Orientierung gebracht werden soll, damit sich der „Obrigkeitsstaat“ wieder konsoldiere und die gesellschaftliche Ordnung stabilisiere.27 Die Auffassungen der Arbeiterbewegung von der staatlichen Sozialpolitik wandeln sich jedoch allmählich. Dazu trägt vor allem bei, daß es nicht bei der Arbeiterversicherung bleibt. Die Angestelltenversicherung tritt hinzu, der Arbeiterschutz macht einen wesentlichen Entwicklungssprung, unter bemerkenswerten (Kriegs-)Bedingungen entwickelt sich das Arbeitsrecht im weitesten Sinne und es macht die gewerkschaftliche und politische Arbeiterbewegung „Fortschritte“. Sie gewinnt im Zuge der revolutionären Unruhen und mit 23 Amonn, Alfred: Der Begriff der „Sozialpolitik“. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 48(1924), 159 - 199, hier: 186. 24 Derselbe, ebenda, 188; Sperrung im Original. 25 Vgl. ebenda, 188; zu weiteren begriffstheoretischen Bemühungen älterer und neuerer Art sei ausdrücklich verwiesen auf: Kleinhenz, Gerhard: Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik. Berlin 1970, 28 ff. 26 Kleinhenz, Gerhard: Probleme...a.a.O. (=Anm. 25), 92; eine ähnliche, etwas erweiterte Definition findet sich bei: Lampert, Heinz: Sozialpolitik. Berlin, Heidelberg, New York 1980, 7. 27 Vgl.: Bebel, A.(ugust): Das Gesetz über Invaliditäts- und Altersversicherung im Deutschen Reich. In: Die Neue Zeit, 7(1889), 385 - 400; vgl. auch: Schippel, Max: Sozialdemokratisches Reichtags-Handbuch. Berlin 1902.
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der Demokratisierung der Staatsverfassung in der Weimarer Republik zunächst an Einfluß. Mit dieser Entwicklung erlangt das oben angesprochene „Druck-Reaktions-Erklärungsmuster“ Evidenz. Zunehmend betrachtet die gemäßigte, reformorientierte Arbeiterbewegung Sozialpolitik als „ihr Werk“. Sie ist nunmehr auch mitgestaltend an der Entwicklung der „demokratischen Sozialpolitik“ beteiligt. Nicht selten erscheinen Sozialpolitik und das Ziel der Bewegung, ein meistens nicht genau definierter „Sozialismus“ als „hintereinandergeschaltete Entwicklungsstufen,“28 Sozialpolitik bzw. Sozialreform erscheinen als Weg auf dem es zu einem neuen Ziel fortzuschreiten gelte.29 Die Auffassung, daß die Arbeiterbewegung nicht nur „Auslöser“, sondern auch „Gestalter“ der staatlichen Sozialpolitik ist, kann sich dabei auf Karl Marx berufen, der die Einführung des Zehnstundentages in England als einen „Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Besitzes“ begriffen hatte.30 In der angesprochenen Denkrichtung steht in der Weimarer Republik auch Eduard Heimann. Für ihn ist in seiner 1929 erschienenen Arbeit Sozialpolitik der Einbau eines „Gegenprinzips in den Bau der Kapitalherrschaft und Sachgüterordnung“, sie sei immer „Bestandteil“ und „Fremdkörper“. Sie sei der „institutionelle Niederschlag der sozialen Idee im Kapitalismus“, Summe der Maßregeln zum Schutz und zur Förderung der arbeitenden Menschen. Die „soziale Idee“ entspringe aus dem „wirtschaftlich-sozialen Boden des Kapitalismus“, sie nehme in der sozialen Bewegung Gestalt an „...und setzt sich mit wirtschaftlich-sozialen Mitteln im Kapitalismus und gegen den Kapitalismus durch.“ Sozialpolitik sichere „...die kapitalistische Produktionsgrundlage vor den von der sozialen Bewegung drohenden Gefahren, indem sie der sozialen Forderung nachgibt; sie baut den Kapitalismus stückweise ab und rettet dadurch seinen jeweils verbleibenden Rest... Dies ist ihr konservativ-revolutionäres Doppelwesen.“31 Sozialpolitik wird aus dieser Sicht zu einem Instrument der sozialen Sicherung des Lohnarbeiters und zu einem Instrument der Sicherung der „zurückweichenden“ kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformation. Soweit Kapitalismus herrsche, sei die soziale Idee verbannt, soweit Sozialpolitik vordringe, weiche der Kapitalismus zurück. Sozialpolitik sei Abbau der Kapitalherrschaft zugunsten der Beherrschten. Ihr friedlicher Einbau in den Kapitalismus sei mithin ausgeschlossen, man brauche die von der „sozialen Idee“ Ergriffenen für den Bestand des Kapitalismus und müsse deshalb der „sozialen Idee“ nachgeben. Eine genauere Betrachtung und problemlos vorab zu leistende Konfrontation solcher Konzepte mit weithin geläufigen historischen Tatsachen zeigt, daß mit ihnen der herrschaftstheoretische Ansatz keineswegs ad acta gelegt werden muß. Zu deutlich haften solchen Vorstellungen zeit- und standortspezifische „Irrtümer“ an, zu begrenzt sind die Phasen der Geschichtsentwicklung, in denen sie zur Erklärung taugen. Deshalb gemahnen die mit dem „Druck von unten“ argumentierenden Konzepte vor allem, bei aller „Staatszentrierung“ den Blick in die Gesellschaft nicht zu verlieren.
28 So: Nölting, Ernst: Grundlegung und Geschichte der Sozialpolitik. Berlin 1932, 16. 29 Ausdrücklich konzeptionell unterlegt bei: Napthali, Fritz: Wirtschaftsdemokratie. 4., mit einer Einführung versehene Auflage. Köln, Frankfurt a.M. 1977. 30 Zit. nach: Korsch, Karl: Arbeitsrecht für Betriebsräte (1922). 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1973, 46. 31 Vgl.: Heimann, Eduard: Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a.M. 1980, 167ff.; vgl. auch und mit gewissen Modifikationen den Beitrag Heimanns in: Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Königsberg 1930. Grundlagen und Grenzen der Sozialpolitik. Deutsche Agrarnot. Städtische Wohn- und Siedlungswirtschaft. München und Leipzig 1931.
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Die zuletzt dargestellten, die „sozialistischen Sozialpolitikkonzeptionen“,32 die sich mit der Rede vom „Druck der Arbeiterbewegung“ als „Motor sozialpolitischen Fortschritts“ und in wichtigen Aspekten des Konzepts vom „demokratischen Sozialismus“ fortsetzen,33 sind selbst schon Produkte der mäßigenden und von bürgerlichen Kreisen herbeigewünschten Wirkung hoheitlich verfügter sozialpolitischer Traditionen.34 Sie drücken eine Wertschätzung des Prinzips der Reform (nicht des „Umsturzes“) der Gesellschaftsverhältnisse sowie des Inhalts der Sozialpolitik aus. Sie haben historisch insbesondere in wirtschaftlichen Prosperitätsperioden „Konjunktur“ und reflektieren, daß die sich mäßigende sozialdemokratische Arbeiterbewegung in bestimmten Phasen vom Objekt zum mitbestimmenden Faktor staatlicher Sozialpolitik avanciert ist. Am Beginn einer solchen Phase, nach dem Ersten Weltkrieg, wird gleichzeitig deutlich, wie die auf dem „Gipfel ihrer Macht“ stehende reformistische Arbeiterbewegung weitgehende „gesellschaftstransformierende“ sozialpolitische Reformen abwendet, kaum mehr formuliert und in einem System von Bündnissen und Kompromissen auch nicht plazieren kann.35 Immer wenn also in der sozialpolitischen Diskussion die Idee auftaucht, der Ausbau staatlicher Sozialpolitik führe zum „Sozialismus“, ist an diese Zusammenhänge zu erinnern und darüber hinaus nach dem Inhalt dieses Begriffes zu fragen. Desweiteren sei darauf hingewiesen, daß sich dieses Denkmuster der Auffassung von Eduard Bernstein und anderen nähert,36 denen gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon Rosa Luxemburg vorgehalten hat, man wähle mit der Sozialreform nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum Sozialismus, sondern auch ein anderes Ziel, „...nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß quantitative Veränderungen in der alten.“37 Ausgehend von der Forderung, daß Begriff und Theorie der Sozialpolitik dem geschichtlichen Material standhalten müssen, wie dies auch Christian von Ferber verlangt,38 ist zu beachten, daß die Geschichte die Auffassung Rosa Luxemburgs bestätigt hat. Über die Sozialpolitik führte kein Weg zum „Sozialismus“, wenn man darunter - wie üblich - eine grundlegend veränderte Herrschafts- und Eigentumsordnung versteht. Sozialpolitik läßt sich offensichtlich nicht in jeder Situation weiter „treiben“. Die Gleichung „mehr Druck, mehr Sozialpolitik“ vernachlässigt (neben grundlegenden Fragen der materiellen Produktion) - falls sie überzeitlich gemeint ist - die Umschlagpunkte, unüberwindbare Widerstände, wirtschaftliche Krisen mit erheblichen politischen Veränderungen; jene Krise am Ende der Weimarer Republik führt nicht nur zur „Aushöhlung“, zum „Versagen“ staatlicher Sozialpolitik, sondern auch zur Zerschlagung der Arbeiterbewe32 So die Ausdrucksweise bei: Ehling, Manfred: Theoretische Ansätze in der Sozialpolitik. Frankfurt a.M. 1982, 23. 33 Vgl. etwa den Abschnitt „Unser Weg“ im „Godesberger Programm“; vgl. auch den Abschnitt „Der Wohlfahrtsstaat, die historische Leistung der Sozialdemokratie“ bei: Strasser, Johano: Grenzen des Sozialstaats? Frankfurt a.M. 1979, 23 ff.; vgl. zur Bedeutung dieser These in der wissenschaftlichen Diskussion: Köhler, Peter A.: Entstehung von Sozialversicherung. Ein Zwischenbericht. In: Zacher, Hans F. (Hg.): Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung. Berlin 1979, 59 ff. 34 Richtig gesehen von: Müller, Wolfgang, Neusüß, Christel: Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital. In: Sozialistische Politik, 2(1970)6/7, 4 - 67, hier: 8. 35 Vgl. ebenda. 36 Vgl.: Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Hrsg. von Günther Hillmann. Reinbek bei Hamburg 1968. 37 Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution? Mit einem Anhang: Miliz und Militarismus (Leipzig 1899). Berlin 1974, 428 f. 38 Vgl.: Ferber, Christian von: Soziologie und Sozialpolitik. In: Ferber, Christian von, Kaufmann, Franz-Xaver (Hg.): Soziologie und Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 8), 13 ff.
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gung, ohne daß die staatliche Sozialpolitik anschließend aufhört zu existieren und sich zu entwickeln. Die Verknüpfung von organisierter Arbeiterbewegung und staatlicher Sozialpolitik ist also nicht zwingend. So zählt vor allem die Herausbildung und Entwicklung der „völkischen Sozialpolitik“ zu einer von den damaligen Sozialstaatstheoretikern nicht vorausgesehenen und analysierten Phase der Sozialstaatsentwicklung Die Verknüpfung beider Elemente ist auch nicht so eng, wie die „Gegenmachttheorien“ das suggerieren, die sich ursprünglich übrigens stark auf den Bereich der betriebsbezogenen Gewerkschaftsarbeit konzentriert haben.39 Es ist zu betonen, daß das Kapital durchaus ein wirksames Eigeninteresse an staatlicher Sozialpolitik hat, wenn sich diese als herrschaftstaktisch, produktions- und verwertungspolitisch zweckmäßig erweist oder falls sie als unerläßliche Investition in das „Human-Kapital“ angesehen werden kann.40 Allein schon die historische Tatsache, daß die Arbeiterbewegung bestenfalls mitbestimmender Faktor der sozialpolitischen Entwicklung gewesen ist, eingebunden in ein System von Bündnissen und Kompromissen, oder daß sie als Parlamentsopposition agiert hat, läßt es zu Recht als verwegenen Irrtum erscheinen, daß sie wesentlich ihren Willen, ihre „Sozialpolitikkonzeption“ ohne Abstriche in die zahlreichen Paragraphen des Sozial- und Arbeitsrechts eingeschrieben habe. Immer bleibt in geschichtlicher Perspektive eine teils ganz erhebliche Differenz zu dem, was sie ursprünglich wollte, aber nicht durchsetzen konnte, was den Kompromissen zum Opfer fiel.41 Es gibt eine große, beachtenswerte Tradition gescheiterter Forderungen und auch inzwischen „verschütteter Alternativen“ zur jeweils existierenden staatlichen Sozialpolitik.42 Schon diese Relativierungen gemahnen zur Vorsicht und zur Revision mancher ebenso gängiger wie leichtfertiger Vorstellungen von Sozialpolitik. Unter anderem legt die hier vorgenommene „Lockerung“ des Zusammenhangs von Arbeiterbewegung und Sozialpolitik auch nahe, falls man zeit- und raumübergreifend diskutieren will, mit den „kathedersozialistischen“ und anderen Autoren von „sozialen Gegensätzen“, von „Lähmungs- und Zersetzungserscheinungen“, von „Erschütterungen des inneren gesellschaftlichen Zusammenhangs“, von „inneren Gefahren“ und ähnlichen Zuständen und Sprachbildern auszugehen, falls man nicht auf Konzepte und Begriffe der „modernen“ Sozialwissenschaft zurückgreifen will. Selbstverständlich bleibt es über die wesentlichen Zeiträume die organisierte sozialdemokratische Arbeiterbewegung im Kapitalismus, die die staatliche Sozialpolitik in besonderem Maße „herausfordert“. Mit der erweiterten Sichtweise, die der klassischen Sozialpolitiklehre zugrundeliegt, lassen sich auch die sozialpolitischen Diskussionen und Maßnahmen der Vormärzzeit und anderer „untypischer“ Entwicklungsphasen besser erfassen. Es sind die Relativierungen des Einflusses der sozialistischen Arbeiterbewegung, die es angeraten erscheinen lassen, den Blick ganz intensiv eben auch „nach oben“, auf den Staat und die ihn bestimmenden Kräfte und ihre Absichten zu richten. Diese Zurücknahme der Rolle der Arbeiterbewegung auf den Status eines „herrschaftsgefährdenden Faktors“, 39 So zutreffend: Ebert, Thomas: Sozialpolitik. In: Meyer, Thomas u.a.(Hg.): Lexikon des Sozialismus. Köln 1986, 644 - 647, hier: 646. 40 Das thematisiert: Rimlinger, Gaston V.: Sozialpolitik und wirtschaftliche Entwicklung: Ein historischer Vergleich. In: Braun, Rudolf u.a. (Hg.): Gesellschaft in der industriellen Revolution. Köln 1973, 113 - 126. 41 Hierzu vgl.: Krätke, Michael: Dieser Sozialstaat ist der unsere nicht!? In: Sozialistische Politik und Wirtschaft, 17/1982, 407ff. und 18/1983, 59 - 83. 42 Vgl.: Hansen, Eckhard u.a.: Seit über einem Jahrhundert...: Verschüttete Alternativen in der Sozialpolitik. Köln 1981.
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eines „Auslösers“ und eines Objekts staatlicher Strategien, bestenfalls und zeitweise einer mitbestimmenden Kraft, führt - zur Rekonstruktion der Sozialpolitikgeschichte benutzt - zu überraschenden Erkenntnissen. Diese Form der Integration der klassischen und der „sozialistischen Sozialpolitikkonzeptionen“ (M. Ehling) gibt gleichzeitig dem Blick auf das gesellschaftliche „Unten“, auf den „Vierten Stand“ Konturen und befreit ihn von Unschärfen und Vagheiten, die mit der „staatszentrierten“ Sichtweise der „Kathedersozialisten“ einhergehen. Wenn es zweifellos wesentlich so ist, daß „Gefahren“, die von den „unteren Volksklassen“ ausgehen, mögen sie sich nun in der (sozialdemokratischen) Arbeiterbewegung und ihren Aktionen materialisieren oder auch nicht, der Intention nach herrschaftssichernde Aktionen sozialpolitischer (aber auch anderer) Art auslösen, so darf dieser Zusammenhang nicht zu „mechanisch“ und unvermittelt gesehen werden. Die Erkennung dieser „Gefahren“ und die Ergreifung bestimmter Maßnahmen staatlicher Sozialpolitik sind immer das Ergebnis verwickelter Wahrnehmungs- und Definitionsprozesse. Sozialpolitik kann nur als komplizierte Wechselwirkung von Politik und sozialen Zuständen bzw. sozialer Bewegung verstanden werden. Die klassischen und gegenmachtstheoretischen Definitionsansätze lassen schon erkennen, daß der Inhalt der sozialpolitischen Aktivitäten bis in die Weimarer Republik hinein vor allem in einer Abschwächung und Regulierung des Klassengegensatzes („Institutionalisierung des Klassenkonfliktes“43) und in einer Abschwächung bestimmter sich aus dem proletarischen Lebenszusammenhang ergebender Existenzgefährdungen („Entproletarisierung des Proletariats“44) durch Eingriffe in die „Eigengesetzlichkeit des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses“45 besteht. Dabei richtet sich das Interesse der herrschenden Kreise typischerweise auf die Folgen des Eingreifens in die sozialen und ökonomischen Verhältnisse und Abläufe des sich entfaltenden Kapitalismus. Von den Maßnahmen wird typischerweise ein politischer Ertrag (z.B. eine veränderte Einstellung zum Staat, zum Unternehmertum, zu politischen Parteien, sozialer Friede) erwartet. Zu diesem Zweck werden sie unternommen, diese Zwecksetzung qualifiziert sie als sozialpolitische Strategien. Im „Bannkreis“ dieser Zusammenhänge und Erwartungen entwickeln sich die „obrigkeitsstaatliche“ und die „demokratische Sozialpolitik“. Sie lassen sich auch schon vor der Gründung des Kaiserreiches beobachten. Die zur Erklärung der „völkischen Sozialpolitik“ notwendigen Anreicherungen und „Umakzentuierungen“ werden an gegebener Stelle im zweiten Band dieser Sozialstaatsgeschichte vorgenommen.
1.2 Aufbau und Inhalte der Arbeit 1.2 Aufbau und Inhalte der Arbeit Sozialpolitische Diskussionen und Maßnahmen setzen ihrer Definition nach eine in ihrer Integration „gestörte“, eine inhumane, eine sich „auflösende“, durch Gegensätze und „Feindstellungen“ geprägte und bedrohte Gesellschaft voraus. Zumindest muß eine derartige Sichtweise bei den Entscheidungsträgern und Diskussionsteilnehmern zugrunde liegen. Durch die 43 So: Geiger, Theodor: Die Klassengesellschaft...a.a.O. (=Anm. 1). 44 So die Leitidee der katholischen Soziallehre; vgl. z.B.: Pieper, Josef: Thesen zur sozialen Politik. Grundgedanken des Rundschreibens Quadragesimo anno. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1947. 45 Besonders betont wird dieser letzte Aspekt von: Croner, Fritz: Grundzüge freigewerkschaftlicher Sozialpolitik. Berlin 1930, 7.
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Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaftsform und eine dramatische Bevölkerungszunahme entsteht eine derartige Gesellschaft und Gesellschaftsauffassung. Mit diesen Vorgängen verknüpft entsteht die „moderne“ Sozialpolitik. Im Pauperismus und später in der „Arbeiterfrage“ wird das wesentliche desintegrative Moment gesehen. Ihre politische Brisanz erhalten diese Zusammenhänge dadurch, daß an der Wiege der staatlichen Sozialpolitik das „Zeitalter der europäischen Revolution“ steht. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit werden diese Ausgangspunkte kurz skizziert. „Denn alle Sozialpolitik, mag sie sich scheinbar noch so radikal gebärden, entspringt konservativen Instinkten; immer will sie das Bestehende erhalten, gewissermaßen durch einen Einbau die schwankend gewordenen Grundlagen der geltenden Wirtschaftsordnung pölzen und festigen,“46 folgert angesichts des unruhigen, politisch labilen Österreich der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Karl Pribram. Dieser auch von Heimann konzeptionell unterlegte konservative, dem „Umsturz“ vorbeugende, „gefahrenabwehrende“ Charakter staatlicher Sozialpolitik wird in allen Teilen dieser Arbeit deutlich. Besonders prägnant läßt sich dieses „Wesen“ der Sozialpolitik an den Gedankengängen einiger bekannter Philosophen, Gesellschafts- und Staatstheoretiker aus der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts nachweisen. Weitaus ergiebiger, was die teilweise erst Jahrzehnte später verwirklichten Instrumente staatlicher Sozialpolitik angeht, sind die Ausführungen der teilweise vergessenen, spezifisch „sozialkonservativen“ Autoren der Pauperismusliteratur. Daß wesentliche Grundzüge des „Wohlfahrtsstaats“ historisch zuerst von ihnen vorgedacht werden, belegt das dritte Kapitel dieses Bandes. Beide Kapitel stehen in enger Beziehung, die Denker der staatlichen Sozialpolitik reflektieren stets die „neue Zeit“, die entstehende bürgerliche Welt. Das vierte Kapitel dieses Bandes schließlich befaßt sich mit der Vor- und Frühgeschichte der heutigen Sozialversicherung, d.h. mit dem Kassenwesen und der Arbeiterversicherung, mit den Kernelementen des heutigen „Systems sozialer Sicherung“. Es schließt mit dem Jahre 1889 ab. Dieses Kapitel beschränkt sich nicht auf die Analyse der Entstehung der großen Arbeiterversicherungsgesetze unter Reichskanzler Otto von Bismarck, es bezieht vielmehr auch die Initiativen und Formen zur sozialen und materiellen Absicherung für den Fall der Krankheit, des Unfalls, der Invalidität, des Todes usw. in die Darstellung ein, die der „Bismarckschen Sozialreform“ um Jahre und Jahrzehnte vorausgehen und diese prägen.47 Das vierte Kapitel konzentriert sich räumlich zunächst auf Preußen, sodann auf den Norddeutschen Bund, schließlich auf das gesamte Deutsche (Kaiser-)Reich, ohne daß die internationalen Bezüge vernachlässigt werden. In Preußen nämlich werden die Strategien verfolgt, die juristisch-administrativen Prinzipien entwickelt und eingesetzt, die schließlich und mit Abänderungen und Ergänzungen auf den Norddeutschen Bund und das Reich verallgemeinert werden. Sie fließen in die Arbeiterversicherungsgesetzgebung der 80er Jahre, in jene von zahlreichen Staaten übernommene „weltgeschichtliche Wendung“ der Sozialpolitik ein48 und haben bis heute Bestand. Die Untersuchung zeigt einen säkularen Trend zu 46 Pribram, Karl: Die Sozialpolitik im neuen Oesterreich. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 48(1920/21), 615 - 680, hier: 615. 47 Die Bedeutung einer derartigen Vorgehensweise für das Verständnis der sozialpolitischen Entwicklung und Institutionen betont: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Göttingen 1981, 11. 48 Die mit diesen Worten von Gustav Schmoller angedeutete Vorbildfunktion der „Bismarckschen Sozialreform“ betont: Ritter, Gerhard A.: Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich. München 1983, 11 ff.; zur Bedeutung der preußischen Politik für die spätere Arbeiterversicherungsgesetzgebung vgl.: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 47), 169, sowie: Derselbe: Die Errichtung von Krankenkassen in
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Einleitung
einer „riesigen Ausgestaltung des Versicherungswesens“,49 der sich auch jenseits der staatlichen Sozialpolitik auf den Gebieten der Sach- und Personenversicherung abzeichnet und die Rede von einem „goldenen Zeitalter des Versicherungswesens“ als nicht übertrieben erscheinen läßt.50 Diese Analyse der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“51 illustriert, gerade auch am Beispiel der „Bismarckschen Sozialreform“, die Aussagen und Annahmen der klassischen Sozialpolitiktheorie in aller Deutlichkeit. Deutlich wird im vierten Kapitel jedoch auch, daß die Herrschaftsträger zwischen der Sozialpolitik und/oder der Anwendung staatlicher Gewalt als Mittel der Bekämpfung der „gefahrenbringenden“ Unterschichten bzw. von Arbeiterbewegung von Anfang an „schwanken“. Stets werden von den Akteuren umfangreiche Annahmen über die massenpsychologischen Wirkungen der sozialpolitischen Maßnahmen gemacht. Über die schon angesprochenen Relativierungen der „Gegenmachtstheorien“ hinaus, zeigt dieser Abschnitt meiner Arbeit erstmals empirisch, wie vermittelt, verwickelt und durch Gegenkräfte gebrochen die Beziehung zwischen Arbeiterbewegung und staatlicher Sozialpolitik ist. Hinzu treten auch hier weitere Motive und Interessen, die Einfluß auf die Sozialstaatsbildung und die schließlich gefundenen Interventionsformen haben. Die Analyse staatlicher Sozialpolitik folgt dem Prozeß der deutschen Geschichte bis tief in das Zeitalter des Imperialismus, eine letztlich Krieg und Verderben bringende Entwicklung und eine Zeit des „Weiterbaues“ am Gebäude der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“. Die damit angedeuteten Entwicklungen stehen, nachdem die inzwischen historisch intensiv erforschte Sozialpolitik des „Neuen Kurses“ kurz angesprochen wurde, im Zentrum des fünften Kapitels.52 Dieses Kapitel dokumentiert auch eine gespenstische, keineswegs auf das Deutsche Reich beschränkte Diskussion über die Frage, ob und wie und in welchem Umfang die staatliche Sozialpolitik - um mit dem sehr zurückhaltend und abstrakt formulierenden Ludwig Heyde zu sprechen - die Beziehungen zwischen verschiedenen „Ständen“ und „Klassen“ und die Beziehung zwischen ihnen und der Staatsmacht, der „Staats-, Standes- oder Klassenidee“ bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich beeinflußt hat.53 Die Debatten über die damals als äußerst dringlich empfundene „Nationalisierung“ der „Massen“ als „höchster Zweck“ der staatlichen Sozialpolitik, die Bedeutung dieses Politikbereichs für die Wehrkraft, die Förderung bzw. Beeinträchtigung des „Griffs nach der Weltmacht“ (F. Fischer) durch die staatliche Sozialpolitik, das militärische Interesse,54 die Beziehungen zwischen „Weltpolitik und Sozialreform“, 55 zwischen „Imperialismus und Sozialreform“, zwischen „nationaler und sozialer Frage“, das Problem der „nationalen deutschen Städten nach dem Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883...In: Zeitschrift für Sozialreform, 29(1983)5/6, 297 - 338, 218 f. 49 So die Ausdrucksweise bei: Kleeis, Friedrich: Die Entwicklung des Versicherungsgedankens. In: Sozialistische Monatshefte, 15(1909), 1607 -1611, hier: 1607. 50 Vgl.: Glaser, Hermann: Ihre Welt der Sicherheit war ein Traumschloß. Übergangsmenschen vor hundert Jahren und heute. In: DIE ZEIT Nr. 17 vom 17. April 1987, 66. 51 Vgl. auch: Pankoke, Eckart: Sociale Bewegung - Sociale Frage - Sociale Politik. Stuttgart 1970. 52 Vgl. die ausgezeichnete Arbeit von: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890 bis 1896. Bonn 1987. 53 So sinngemäß zusammengefaßt seine Definition auf dem Vierten Deutschen Soziologentag im Jahre 1924; siehe meine Fußnote 10. 54 Vgl.: Blume, W.(ilhelm) von: Die Grundlagen unserer Wehrkraft. Berlin 1899, 69 ff. 55 So der Titel eines Beitrages von: Francke, Ernst: Weltpolitik und Sozialreform. In: Schmoller, Gustav u.a. (Hg.): Handels- und Machtpolitik. Reden und Aufsätze im Auftrage der „Freien Vereinigung für Flottenvorträge“. Erster Band. Stuttgart 1900, 85 - 132.
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Aufbau und Inhalte der Arbeit
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Effizienz“ in einem zukünftigen „Völkerringen“ stehen im Mittelpunkt dieser Passage der Arbeit.56 Nicht zufällig bezieht diese Diskussion auch biologische Denk- und Argumentationsmuster mit ein. Die großen ideologischen Mächte des 19. und 20. Jahrhunderts und der Krieg als mögliches Mittel der Politik machen sich so in intensiver Weise auch auf dem Gebiet der sozialpolitischen Diskussion geltend. Dem Einbruch der großen Ideologien und der Kriegsdiskussion in die Sozialpolitik folgt die Instrumentalisierung für Kriegszwecke. Die vielfältigen Beziehungen, die Krieg und Sozialpolitik in den Jahren 1914 bis 1918 eingehen, stehen im Mittelpunkt des sechsten Kapitels. Eingebunden in eine Analyse des „modernen Krieges“ wird der unmittelbar instrumentelle Charakter der „Kriegssozialpolitik“ am Beispiel des Ersten Weltkriegs verdeutlicht. Ein Krieg, der auf der „unsicheren Basis“ einer Klassengesellschaft unternommen wird, erweist sich als funktional für die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik.57 Im Frieden chancenlose sozialpolitische Forderungen werden unter Kriegsbedingungen und auf „Kriegsaufgaben“ bezogen verwirklicht. Die Tatsache, daß die unter Reichskanzler Otto von Bismarck als das „große soziale Friedenswerk“ gefeierte staatliche Sozialpolitik, daß Maßnahmen zur „Tilgung der inneren Zwietracht“ einmal derart dem Krieg, der gewaltsamen Machtentfaltung nach außen dienen sollen, ist damals eine neuartige Erscheinung. Sie zeigt, wie sehr die staatliche Sozialpolitik in dieser Phase (und auch in jener des Zweiten Weltkrieges) nicht nur von innergesellschaftlichen Faktoren abhängt, sondern auch von der „Außenlage“. Sie zeigt, daß in bestimmten Entwicklungsphasen auch gewaltsame zwischengesellschaftliche Verhältnisse zu einer „sozialstaatsbildenden Kraft“ werden können. Am historischen Material läßt sich nachweisen, daß die Verknüpfung von Krieg und staatlicher Sozialpolitik keineswegs starr ist. Der Krieg kann vielmehr in historisch unterschiedlichen Situationen höchst unterschiedliche Sozialpolitiken nach sich ziehen. Auf einen „anderen Weg“ der Stabilisierung einer „Klassengesellschaft im Krieg“ (J. Kocka) durch staatliche Sozialpolitik wird im zweiten Band dieser Untersuchung hingewiesen. Im Rahmen eines siebenten Kapitels wird zurückblickend und den historischen Stoff sowie die (vor-)strukturierenden und resümierenden Teile dieser Arbeit verwendend versucht, auf relativ hoher Ebene der Abstraktion Erkenntnisse zu den Ursprüngen und Bewegungsgesetzen staatlicher Sozialpolitik in Deutschland zu formulieren. Ich hoffe, daß gerade an diesem Abschnitt deutlich wird, daß Fortschritte der Analyse staatlicher Sozialpolitik nur zu erreichen sind, wenn sich die Forschung methodisch kontrolliert und in möglichst umfassender Weise den Quellen zuwendet. Manche der dort verzeichneten Einsichten sind nämlich ausschließlich nur über ein empirisches Vorgehen zu erzielen. Das siebente Kapitel zeigt rückblickend und zusammenfassend noch einmal wie fruchtbar die klassischen Definitions- und Erklärungsansätze und auch die „gegenmachtstheoretischen“ Konzeptionen für die Analyse der „Ursprünge“ der „liberal-staatlichen“ und der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ gewesen sind, wie verwickelt der Prozeß der „Sozialstaatsgenese“ ist und daß natürlich zahlreiche Faktoren, Interessen und Rahmenbedingungen der verschiedensten Art die Entwicklung dieses Politikbereichs bis 1918 bestimmt haben.
56 Diese Begriffe sind entlehnt von: Semmel, Bernhard: Imperialism and Social Reform. Liverpool, London, Prescott, 1960; Searle, G.R.: The Quest for National Efficiency. Berkeley and Los Angeles 1971. 57 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Kronberg/Ts. 1978 (1949), 85.
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2 Grundstrukturen und Entwicklungstendenzen einer „gestörten“ Gesellschaft
„Man schrecke ja nicht zurück vor dem, was er (vom Altenstein, E.R.) als Hauptgrundsatz fordert, möglichste Freiheit und Gleichheit. Nicht die regellose, mit Recht verschrieene: die die blutigen Ungeheuer der Französischen Revolution zum Deckmantel ihrer Verbrechen brauchten oder mit fanatischer Wut statt der wahren, im gebildeten gesellschaftlichen Zustande möglichen, ergriffen, sondern nur diese nach weisen Gesetzen eines monarchischen Staats, die die natürliche Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger nicht mehr beschränken, als es die Stufe ihrer Kultur und ihr eigenes Wohl erfordern.“ „Dadurch, daß einem jeden der Zugang zu allen Stellen, Gewerben und Beschäftigungen eröffnet wird, gewinnt der Bürgerstand und muß dagegen auch seinerseits auf alles Verzicht leisten, was andere Stände bisher ausschloß.“ (von Hardenberg in seiner Rigaer Denkschrift vom 12.09. 1807) „Diese persönliche Sklaverei, welche den Menschen zur Sache macht, der erschwerte Besitz von Grundeigentum und die Hindernisse, in einen anderen Stand überzugehen, haben dem Staate unendlichen Schaden zugefügt und die Ausbildung der Nation verhindert.“ (vom Altenstein in seiner Denkschrift über die Leitung des Preußischen Staats vom 11.09.1807)1
2.1 Die „Revolutionen“ Am Anfang der uns interessierenden Zeit stehen tiefgreifende, für die Entwicklung der Sozialpolitik bedeutsame Umwälzungen, die den Zeitgenossen bzw. der nachzeichnenden Geschichtswissenschaft als so grundlegend und gewaltsam erscheinen, daß sie allesamt mit dem Begriff „Revolution“ belegt werden. Von schlechthin überragender, wenngleich mittelbarer Bedeutung für die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik und sozialpolitischer Diskussion ist die eigentliche, die Französische Revolution des Jahres 1789. Vielfach mit französischen Vorgängen und „Vorgehen“ verknüpft, gewinnt die preußische „Revolution von oben“ (und gewinnen Reformen in anderen deutschen Staaten) Gestalt. Schließlich spricht man, Vorgänge insbesondere ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnend, von der „industriellen Revolution“, und für die Entwicklung der Bevölkerungszahlen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ist der Begriff einer „demographischen Revolution“2 nicht ungebräuchlich. Die Französische Revolution des Jahres 1789 gewinnt sozialpolitische Relevanz vor allem auch dadurch, daß sie innerhalb und außerhalb Frankreichs eine ganze Reihe weiterer revolutionärer Erhebungen auslöst, eine langdauernde „Epoche“ revolutionärer, umwälzen-
1 Zit. aus: Conze, Werner: Die preußische Reform unter Stein und Hardenberg. Stuttgart o.J., 15, 17; ergänzt nach: Zurbonsen, Fr.: Quellenbuch zur brandenburgisch-preußischen Geschichte. Berlin 1889, 271 f. 2 Vgl.: Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band. München 1987, 284.
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Grundstrukturen und Entwicklungstendenzen einer „gestörten“ Gesellschaft
der Erhebungen einläutet.3 Unmittelbar wird sie durch die Auslösung einzelner Gesellen-, Zunftbürger-, Bauernaufstände und Unterschichtsunruhen in (Alt-) Deutschland, im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“, beunruhigend wirksam4 und schließlich sorgt vor allem die französische Julirevolution von 1830 und die Februarrevolution des Jahres 1848, die unmittelbar zum Signal der deutschen Revolution von 1848/49 wird, dafür, daß sich in den herrschenden Kreisen eine ausgesprochene „Revolutionsfurcht“ rasch verbreitet. Neben die deutschen Kräfte, die die Revolution des Jahres 1789 vorbehaltlos oder mit mehr oder weniger großen Vorbehalten begrüßen, für Marx sind Revolutionen „die Lokomotiven der Geschichte“, eine gewaltige Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung, ein „Fortschritt“,5 treten jene anderen „extremen“ Interpretationen, die dieses Epochenereignis vor allem nach dem Sturz der französischen Monarchie, dem Königsmord und der Schreckensherrschaft nur noch als „Anarchie“, „Aufruhr“ usw. qualifizieren mögen.6 Die herrschenden Kreise Preußen-Deutschlands „gewinnen“ aus diesen Ereignissen ihren äußeren und vor allem auch ihren inneren Feind, die „innere Gefahr“. Soziale Unruhen und eine allgemeine Angst vor Tumulten und Rebellion der Unterschichten reichen allerdings weit in die Geschichte zurück, sind vermutlich konstitutives Merkmal jeder in „Oben“ und „Unten“ aufgespaltenen Gesellschaft mit den darin enthaltenen Konfliktpotentialen und -äußerungen. Diese Erscheinungen sind jedoch mit dem Revolutionsgeschehen, das sich ab 1789 in Frankreich und in anderen europäischen Ländern ausbreitet, nicht ohne weiteres vergleichbar. „Revolutionsfreunde“, „Demokraten“, „Jakobiner“, Gefahren des „Communismus“ und „Socialismus“ werden zu Begriffsetiketten,7 mit denen Politik gemacht wird8 und mit deren Hilfe staatliche Sozialpolitik durchgesetzt werden soll, lange bevor die sozialistische deutsche Arbeiterbewegung als „innerer Feind“ identifiziert werden kann.9 In den Worten des Kommunistischen Manifests: „Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus.“ Das gerade im Zusammenhang mit der ursprünglichen sozialpolitischen Debatte vielzitierte und angerufene „Gespenst des Kommunismus“, aber auch das Gespenst des „Socialismus“ sind beide vormarxistischer Natur. Zu dieser Zeit der „inneren Gärung“ meint man mit den Begriffen „Socialismus“ und „Communismus“ weniger staats- und gesellschaftsumwandelnde, „gleichmachende“ gedankliche und praktische Bestrebungen im Altertum und Mittelalter. Es geht also nicht primär um die Entwürfe einer neuen Staats- und Gesell3 Karl Marx spricht von einer bis 1871 dauernden „Epoche der sozialen Revolution“; vgl. etwa: Engelberg, Ernst: Die historische Dimension der preußischen Reformen in der Epoche der sozialen Revolution. In: Preußische Reformen Wirkungen und Grenzen. Berlin 1982, 44 - 53. 4 Vgl. dazu die instruktiven Studien in: Berding, Helmut (Hg.): Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution. Göttingen 1988. 5 Wiedergegeben aus: Wörterbuch der Geschichte. L - Z. Berlin 1984, 910. 6 Vgl. dazu den immer noch sehr lesenswerten Beitrag von: Koselleck, Reinhart: Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg. In: Brunner, Otto u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band I. Stuttgart 1984, 653 - 788, bes. 725 ff. 7 Vgl. zum ursprünglichen Bedeutungsgehalt dieser Begriffe und zu den damit verbundenen Befürchtungen die entsprechenden Stichworte in den Lexika der damaligen Zeit, etwa: Supplemente zu Pierer`s Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestem encyklopädischen Wörterbuche der Wissenschaften, Künste und Gewerbe... Erster Band. Altenburg 1851, 345 - 353; besonders ausführlich: Huber, Johannes: Socialismus und Kommunismus. In: Bluntschli, J.(ohann) C.(aspar), Brater, K.(arl) (Hg.): Deutsches Staats-Wörterbuch. Neunter Band. Stuttgart und Leipzig 1865, 481 - 543. 8 Vgl. zur Bedeutung von „Feindbildern“ in der Politik etwa die Beiträge in: Psychosozial, 12(1989) 40. 9 Die Datierung des Beginns von Arbeiterbewegung überhaupt ist schwierig, da es Kontinuitäten zum „alten“ Handwerk gibt.
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schaftsordnung, die sich bei Platon, bei Phaleas von Chalcedon und bei Hippodamos von Milet finden. Im Vordergrund steht keineswegs die Lebensordnung bei bestimmten Mönchsorden und bei den Wiedertäufern. Gedacht wird in erster Linie auch nicht an Grundauffassungen aus den (utopischen) Staatsromanen der Renaissance und des Absolutismus. Sie werden zwar auch (nachträglich) mit den angesprochenen Begriffsetiketten bezeichnet, gemeint ist in erster Linie jener „neue“, „kritisch-utopische Sozialismus und Kommunismus“ (Marx/Engels), wie er vor allem in Frankreich, aber auch in England im wesentlichen um die Jahrhundertwende und zu Beginn des 19. Jahrhunderts entsteht, vielfach nach Deutschland ausstrahlt, mit utopischen Gesellschaftsentwürfen auch zahlreiche Einsichten in die „neue Welt“ und Reformansätze enthält und zu einer wichtigen Quelle des späteren Marxismus wird. Mit dem Begriff des „Socialismus“ werden meistens die Gedankengebäude und politischen Bestrebungen bezeichnet, die auf den französischen Grafen Claude-Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760 - 1825), auf den französischen Kaufmann Charles Fourier (1772 - 1837), auf den britischen Unternehmer und Sozialreformer Robert Owen (1771 - 1858) sowie auf weitere „nebengeordnete“ Schriftsteller wie Pierre Leroux, Pierre-Joseph Proudhon, Louis Blanc zurückweisen. Für den „Communismus“ steht ursprünglich vor allem Leben und Werk des François-Noël (genannt Gracchus) Babeuf (1760 - 1797). Ihre Schriften und Aktivitäten nähren sich aus der Enttäuschung über die Ergebnisse der Französischen Revolution. Sie beklagen vor allem die den Idealen und Lehren von Revolution und Aufklärung widersprechende Lage der „kleinen Leute“, wobei Babeuf als gesellschaftsumgestaltendes Prinzip den Kampf der armen plebejisch-vorproletarischen Massen gegen die Reichen in der sich entfaltenden kapitalistischen Gesellschaft favorisiert. Diese Konturierung der im deutschen Vormärz und in der Revolution von 1848/49 allgegenwärtigen Begriffe des „Socialismus und Communismus“ darf nicht vergessen machen, daß auch damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Neigung verbreitet ist, beide Begriffe durcheinander zu bringen, sie lediglich als Menetekel für einen befürchteten „Umsturz“ an die Wand zu malen (hier bewährt sich vor allem der „Communismus“), oder sie als politische Feindmarkierung gegen alle zu benutzen, die als „gemäßigte“ oder „Radical-Reformer“ Veränderungsideen vertreten und sich so oder auf andere Weise den Obrigkeiten verdächtig machen.10 Die Einwirkungen Frankreichs auf Deutschland beschränken sich nicht auf die Neujustierung des geistig-politischen Koordinatensystems und die Forcierung von revolutionären Parallelerscheinungen im „Zeitalter der europäischen Revolution“. Sie beschleunigen unmittelbar auch die politisch-gesellschaftlichen Veränderungen, die der „modernen“, durch (Erwerbs-) Klassen und Klassengegensätze gezeichneten Gesellschaft zugrunde liegen. Unter dem Einfluß der Politik Napoleons I. und in Konsequenz der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem europäischen Kontinent, findet das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ 1806 sein Ende. Ein bedeutsamer politischer Konzentrationsprozeß und eine machtvolle Zentralisierung der Staatsgewalten beseitigt die ärgsten Auswüchse der 10 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa: Ramm, Thilo (Hg.): Der Frühsozialismus. Quellentexte. 2., erweiterte Auflage. Stuttgart o.J.; Meyer, Ahlrich: Frühsozialismus. Theorien der sozialen Bewegung 1789 - 1848. Freiburg, München 1977; aus marxistischer Sicht: Höppner, Joachim, Seidel-Höppner, Waltraud: Theorie des vormarxistischen Sozialismus und Kommunismus. Köln 1987; vgl. auch die entsprechenden Passagen in: Marx, Karl, Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. 24., durchgesehene Auflage. Berlin 1965, 41, 77 ff.; vgl. auch: Stein, L.(orenz von): Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte. Leipzig 1842.
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politischen Zersplitterung. Von ursprünglich fast 1.800 Herrschaftseinheiten bleiben gut 30 erhalten.11 Das linke Rheinufer muß an Frankreich abgetreten werden, ein an Frankreich gebundenes System von mittelgroßen Staaten, der Rheinbund, entsteht.12 Im Rahmen des Vierten Koalitionskrieges erleidet Preußen im Oktober 1806 in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt gegenüber dem weit überlegenen Volksheer Napoleons eine vernichtende Niederlage. Preußen, das um die Jahrhundertwende noch Gebietserwerbungen gemacht hatte, verliert über die Hälfte seines Territoriums und beinahe die Hälfte seiner Einwohner, es wird besetzt, mit Kriegskontributionen belastet, in das ruinöse System der Kontinentalsperre gegen Großbritannien einbezogen. Durch die unter diesen Rahmenbedingungen in den Ländern Deutschlands durchgeführten Reformmaßnahmen werden überaus deutliche Breschen in die Strukturen der altdeutschen Welt geschlagen. Die alte Ordnung, das ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine politisch zersplitterte „Ordnung“ mit einer „...in ihrer Struktur noch intakten ständischen Gesellschaft, deren einzelne Schichten scharf voneinander abgehoben waren. Hof, Adel, Kirche, Gutsbesitzer, Offiziersstand und die führenden Familien des freien Stadtbürgertums waren die entscheidenden Kräfte...“13 Diesen Kräften dient eine Schicht abhängiger Beamter, eine Schicht vorindustrieller Arbeitskräfte, das Gesinde und eine (je nach Agrarverfassung) durch Gutsuntertänigkeit, Erbuntertänigkeit bzw. Leibeigenschaft in Unfreiheit gehaltene Landbevölkerung. Das Handwerk und der Handel sind zünftig gegliedert und geregelt. Auf der Erfahrungsgrundlage eines gleichbleibenden Erwerbsspielraumes, einer Wirtschaft weitgehend ohne Wachstum und stets drohender Not, schalten Zünfte nach Möglichkeit das Konkurrenzprinzip aus und „sorgen“ für eine angemessene „Nahrung“ der in ihnen organisierten Gewerbetreibenden. Es handelt sich zu dieser Zeit um eine überwiegend agrarische Welt, rund vier Fünftel der Bevölkerung leben in und direkt von der Landwirtschaft, sind grundsätzlich seßhaft.14 Die Verkehrswege sind schlecht und unterentwickelt und noch nichts deutet darauf hin, daß sich später einmal ein Großteil der Bevölkerung in Städten teilweise gewaltigen Ausmaßes konzentrieren wird, daß städtische Lebensweise und Wirtschaftskraft dominierend werden soll.15 Ein ganzes Netz von Gesetzen und Verordnungen soll die kommerzielle Tätigkeit regeln. Auf der Grundlage zeitgebundener Interessen und Anschauungen und gegen mitunter gewichtige Widerstände plant und organisiert der Staat auf bestimmten Gebieten „...die merkantile Wirtschaft wie eine künstliche Maschine, die weniger Privatreichtum als Staatsreichtum garantieren soll.“16 Insbesondere im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts häufen sich die Zeichen des Niedergangs dieser überkommenen Ordnung und schon seit langer Zeit existieren Strukturen, die sich mit der korporativ verfaßten Wirtschaftsordnung nicht mehr vereinbaren lassen und die teilweise mit dem Begriff des „Frühkapitalismus“ (Werner Sombart) bezeichnet wer11 Vgl.: Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band. München 1987, 363 ff. 12 Die der territorialen Konzentration und der Rheinbundbildung zugrundeliegenden Dokumente finden sich z.B. in: Huber, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte. Band 1. 3., neubearbeitete und vermehrte Auflage. Stuttgart 1978, 1 - 39. 13 Böhme, Helmut: Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. 7. Auflage. Frankfurt a.M. 1978, 9. 14 Vgl. denselben, ebenda, 9. 15 Einen guten Überblick über die Urbanisierung ab 1815 bietet: Matzerath, Horst: Urbanisierung in Preußen 1815 1914. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1985, insbes. 372 ff. 16 Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Göttingen 1981, 15.
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den. Nicht zuletzt fördern die absoluten Fürstenstaaten mit ihren Bedarfen und wirtschaftsfördernden Strategien die Entwicklung zu großbetrieblichen, kapitalistischen Wirtschaftsformen. Kommerziell betriebene Zucht- und Arbeitshäuser, Manufakturen, das Verlagswesen, die Hofhandwerker sprengen alle Dimensionen des zünftigen Handwerksbetriebes und beschäftigen in großem Umfang „freie Lohnarbeiter“. Erste Ansätze eines „freien“, relativ zunftunabhängigen Arbeitsmarktes entstehen.17 Frühe Formen der massenhaften Marktproduktion entwickeln sich. Ein Kapitalmarkt bildet sich als Folge des zunächst landwirtschaftlichen Kreditsystems und Kreditbedarfs heraus.18 Der (Fern-) Handel häuft Kapital an, das auch in gewerbliche Unternehmen geleitet wird. Unübersehbar werden die Schichten und Gruppen, die nicht mehr in die vergleichsweise statische, religiös durchwirkte und legitimierte Welt „passen“: z.B. Gesellen und Meister, denen die Zünfte keinen Schutz mehr bieten, die sich in außerzünftigen Existenzformen, etwa als „Pfuscher“ und „Stümpler“ durch das Leben schlagen, oder die in Armut enden, eine ländliche Bevölkerung, die die Frondienste zunehmend ablehnt; die Qualität der so erbrachten Leistungen gilt dementsprechend in Kreisen des Adels als schlecht. Auf diese und andere Weise geraten die sozialökonomischen Wandlungsprozesse in ein immer stärkeres Spannungsverhältnis zu den Ordnungen der „alten Gesellschaft“,19 die schon vor der Französischen Revolution in mancherlei Beziehung, insbesondere, was die „Wirtschaftsverfassung“ - die Zünfte - anbetrifft, als dringend reformbedürftig angesehen wird. Unter dem Eindruck der preußischen Kriegsniederlage bei Jena und Auerstedt, umgeben von Staaten, die ebenfalls mehr oder weniger tiefgreifende Reformen in Angriff nehmen, kommt es in Preußen, auf das wir die folgenden Betrachtungen beschränken, zu der beispielgebenden „Revolution von oben“, zu den „Preußischen Reformen“. In einer Situation, in der es für Preußen buchstäblich um Sein oder Nichtsein geht, um Staatsbehauptung, in der Kriegskosten zu zahlen, eine Okkupationsarmee zu unterhalten, französische Tributzahlungen zu leisten sind, gewinnt das in (Rest-)Preußen initiierte Projekt einer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Anpassung an die „neue Zeit“, die sich vor allem in Frankreich und auch England dokumentiert, an Durchsetzungskraft. Die unter dem Freiherrn vom und zum Stein und dem Freiherrn von Hardenberg und was den militärischen Teil betrifft, unter den Offizieren von Scharnhorst, von Gneisenau, von Boyen und von Grolmann20 zustandegekommenen Reformen sind dabei nicht in erster Linie als Maßnahmen der Abwehr einer „Revolution von unten“ zu verstehen. Das Schlüsselerlebnis dieser Zeit, die preußische Niederlage wird nicht nur auf die militärische Schwäche und die wirtschaftliche Rückständigkeit zurückgeführt, sondern der Grund der Niederlage wird ganz allgemein in einer „Lähmung der Volkskräfte“ und einer „Entfremdung von Staat und Volk“ erblickt. „Die Entwicklungskluft zu Frankreich, welche die verlorene Schlacht aufgedeckt hatte, schien (den Reformern) … nur dann überbrückbar, wenn die bislang verschütteten Kräfte des Volkes freigesetzt und dem Staat zugeführt würden... 17 Vgl. in diesem Zusammenhang: Gellbach, Horst Heinrich: Arbeitsvertragsrecht der Fabrikarbeiter im 18. Jahrhundert. München 1939; Landau, Johann: Die Arbeiterfrage in Deutschland im XVII. und XVIII. Jahrhundert und ihre Behandlung in der Deutschen Kameralwissenschaft. Zürich 1915 (Diss.oec.publ.); Hinze, Kurt: Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Brandenburg - Preußen 1685 - 1806. Berlin 1963. 18 Vgl.: Schissler, Hanna: Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Göttingen 1978, 195; Zusammenfassend: 102 104. 19 Vgl. bezogen auf die Landwirtschaft: Dieselbe, ebenda, 102. 20 Sie waren die Mitglieder der entsprechenden Militärorganisationskommission; vgl.: Nitschke, Heinz G.: Die preußischen Militärreformen 1807 - 1813. Berlin 1983, 7.
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Zum einen wurden Freiheit und Gleichheit zu Maximen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens... zu durchdringen hatten. Zum anderen mußte das zu Freiheit und Selbstbewußtsein erhobene Volk dem Staat verbunden und für sein Wohlergehen mitverantwortlich gemacht werden. Als 'Revolution von oben' blieb dieses Vorhaben auf den monarchischen Staat bezogen...“21 Dieses Programm der Regeneration Preußens, der Stärkung der Kraft der preußischen Nation auch durch Weckung des „sittlich religiösen, vaterländischen Geistes in der Nation“,22 beinhaltet auf wirtschaftlichem Gebiet die schrittweise sich realisierende Überwindung der „überkommenen Ordnung“ der Ökonomie durch liberale Reformen. In Übernahme der Smithianischen Lehre wie ausländischer Vorbilder soll der Militärstaat Preußen auf „modernisierter Grundlage“ gerettet werden. D.h., eine durch die liberalisierenden Reformen aufblühende Wirtschaft, in der die kapitalistischen Elemente sich rasch ausbreiten können, soll über Steuern das Machtpotential des Staates mehren. Mit anderen Worten: Die Entfaltung des Kapitalismus wird im „rückständigen Preußen“ als Methode zur Stärkung der Staatsmacht und seines Gewaltapparats begriffen. Der dem Anspruch nach auf wirtschaftlichem Gebiet vielregierende Staat, die alten korporativen Bindungen und Vorrechte der vergangenen Epoche gelten als nicht mehr zweckmäßig.23 Eine Sozialpolitik im modernen Sinne, die rund ein Jahrhundert später bei der Mobilisierung der Kräfte im Ersten Weltkrieg eine so bedeutende Rolle spielen soll, ist diesem Reformprogramm fremd. Hier liegt der große Unterschied zum späteren Kaiserreich, als auf der Basis eines entfalteten Kapitalismus und einer besonders während und nach dem Sozialistengesetz bestehenden krassen „Spaltung der Nation“ vor allem nach staatlicher Sozialpolitik gegriffen wird, um die „Einheit der Nation“ und den Nationalismus als Voraussetzung nationaler Stärke zu fördern. Im Sinne der Definition des Sozialpolitikers Ludwig Heyde (vgl. Kapitel 1.1) lassen sich allerdings bei den Diskussionen um und bei den Maßnahmen der „Preußischen Reformen“ zahlreiche Aspekte „sozialer Politik“ ausmachen. Angesichts der erwarteten wirtschaftlichen, fiskalischen, aber auch „massenpsychologischen“ Vorteilhaftigkeit einer „freigesetzten Wirtschaft“ wird, beginnend mit dem „Edikt den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend“ vom 9. Oktober 1807,24 die sich auf der Rechtsebene bis 1850 hinziehende Auflösung der spätabsolutistischen Agrarverfassung beschleunigt. Diese Gesetzgebung ist „...für die sonstigen deutschen Staaten vielfach anregend und oftmals vorbildlich gewesen.“25 Die Gesetzgebung zur Reform der Agrarverfassung hat ihre Vorgeschichte vor allem in der Befreiung der Domänenbauern im 18. Jahrhundert. Der Kern der Maßnahmen besteht in der Beseitigung der Erbuntertänigkeit der Hofhörigen und Hintersassen und in der Beseitigung der ständischen Vorrechte den Erwerb von Gütern und die Ausübung von Gewerben betreffend. Dieser Teilbereich einer „... Revolution im guten Sinne ... durch Weisheit der Regierung...“, nicht durch „... gewaltsame 21 Grimm, Dieter: Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866. Frankfurt a.M. 1988, 77 f. 22 So die Hauptidee und von Stein angezielte Wirkung der neuen Städteverfassung; vgl.: Die Preußische Städteordnung von 1808. Stuttgart und Köln 1957, 23. 23 Die Bedeutung dieser Intentionen und der Finanzfragen betont: Witzleben, Alexander von: Staatsfinanznot und sozialer Wandel. Eine finanzsoziologische Analyse der preußischen Reformzeit zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1985. 24 Vgl.: Huber, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente...a.a.O.(=Anm. 12), 41 ff. 25 Vgl.: Lütge, Friedrich: Bauernbefreiung in Preußen. In: Büsch, Otto, Neugebauer, Wolfgang (Hg.): Moderne Preußische Geschichte 1648 - 1947. Band 1. Berlin, New York 1981, 416 - 446, hier: 417.
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Impulsion von innen oder außen...“26 , führt in dem damals dominierenden Wirtschafts- und Sozialsektor „moderne“, kapitalistische Eigentumsformen ein und macht, wie es mißverständlich heißt, aus Adelsuntertanen „mit dem Martini-Tage Eintausend Achthundert und Zehn (1810.)“ „freie Leute“, gewissermaßen Staatsbürger.27 Diese Folge tritt jedoch erst allmählich und nicht umstandslos ein. Der Bauernschutz wird aufgehoben und durch die nachfolgenden Regelungen zur Ablösung der alten feudalen Rechte (Ansprüche der Gutsherren auf Hand- und Spanndienste, Gesindezwangsdienste, Naturalleistungen, Geldleistungen) und zur Erlangung des vollen Eigentums gezwungen, müssen die ehemals „Untertänigen“ einmalige oder über längere Zeit laufende Geldleistungen und Landabtretungen auf sich nehmen. Erst nach Beendigung dieser „Ablösung“ sind sie „frei“. Manche fallen auf den Status eines Landarbeiters zurück und sind damit nicht nur rechtlich frei, sondern auch frei von Produktiveigentum geworden. Diese verwickelten, in zahlreichen Rechtsquellen niedergelegten und in der Tendenz auch in anderen deutschen Staaten stattfindenden Vorgänge führen perspektivisch zu einer konflikt- und „... folgenreichen Transformation der agrarischen Besitz- und Sozialverhältnisse, der landwirtschaftlichen Produktivität und Kapitalbildung, der Landeskultur und des Binnenmarktes“28 Das sogenannte Oktoberedikt führt durch die Beseitigung geburtsrechtlicher Schranken und durch die Zulassung neuer Eigentumsformen letztlich dazu, daß sich auf dem Lande zwei ökonomisch definierbare Klassen herausbilden: einmal die sich aus den stark wachsenden Unterklassen rekrutierende und sich aus den Opfern der „Bauernbefreiung“ ergänzende, in sich differenzierte Landarbeiterschaft, zum anderen die nunmehr bürgerlich-adeligen Gutsbesitzer.29 Die Gutsbesitzer sind die eigentlichen Gewinner der Agrarreform. Sie behalten zudem zunächst noch ihre herausgehobene Stellung in der überkommenen Herrschaftsordnung „... die Patrimonialgerichtsbarkeit, die Polizeigewalt und das Kirchenpatronat, also judikative wie exekutive Gewalt und die Herrschaft über die Seelen.“30 Insgesamt ist die Agrarreform damit eine ökonomische Modernisierung bei gleichzeitig „...möglichst weitgehender Schonung der alten Eigentums- und Herrschaftsordnung...“31 Daneben bleibt trotz der Landverluste und Entschädigungszahlungen eine wirtschaftlich stabile Schicht von Groß- und Mittelbauern erhalten, die teilweise in die Funktion eines ländlichen Arbeitgebers hineinwächst.32 Durch neue Anbaumethoden, neue Früchte, Ausdehnung der tierischen Produktion und eine Zunahme der landwirtschaftlich genutzten Fläche (bis etwa 1850 noch nicht durch eine Mechanisierung der Produktion) kommt es zu bedeutenden Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft.33 26 So von Hardenberg in seiner Rigaer Denkschrift; zit. nach: Conze, Werner: Die preußische Reform... a.a.O.(=Anm. 1), 15. 27 § 12 des Oktoberedikts 28 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte...a.a.O. (=Anm. 11), 411. 29 Vgl. dazu grundlegend: Koselleck, Reinhart: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. München 1989, 486 ff.; vgl. zusammenfassend auch: Henning, Friedrich-Wilhelm: Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland. Band 2. 1750 bis 1976. Paderborn 1978, bes. 44 ff. 30 Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 16), 28. 31 Harnisch, Harmut: Die Agrarreform in Preußen und ihr Einfluß auf das Wachstum der Wirtschaft. In: Pierenkemper, Toni (Hg.): Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution. Stuttgart 1989, 27 - 40, hier: 35. 32 Vgl. denselben, ebenda, 35. 33 Vgl.: Henning, Friedrich-Wilhelm: Landwirtschaft...a.a.O. (=Anm. 29),72 ff.
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Zum Gesamtkomplex der „nachjenaischen Reformen“, der preußischen „Revolution von oben“ gehört mit bedeutenden „Fernwirkungen“ die ebenfalls aus (früh)liberalistischen Ideen, aus smithianischer Gesinnung heraus begründete Gewerbefreiheit. Sie wird mit dem „Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer“ vom 28. Oktober 1810 initiiert.34 In besonders enger Verknüpfung mit der vor allem „napoleonisch bedingten“ Staatsfinanznot, war das Programm der „völligen Gewerbefreiheit“ schon im „Edikt über die Finanzen des Staats und die neuen Einrichtungen wegen der Abgaben“ vom 27. Oktober 1810 angekündigt worden.35 Das Edikt vom 28. Oktober 1810 bestimmt: „Ein jeder, welcher in Unsern Staaten, es sei in den Städten, oder auf dem platten Lande, sein bisheriges Gewerbe, es bestehe in Handel, Fabriken, Handwerken, es gründe sich auf eine Wissenschaft oder Kunst, fortsetzen oder ein neues unternehmen will, ist verpflichtet, einen Gewerbeschein darüber zu lösen und die in dem beigefügten Tarif A. angesetzte Steuer zu zahlen... Der Gewerbeschein giebt demjenigen, auf dessen Namen er ausgestellt ist, die Befugniß, ein Gewerbe fortzusetzen oder ein neues anzufangen.“ Damit werden die Zunftverfassungen faktisch und der Zunftzwang juristisch hinfällig gemacht. In den Zunftordnungen enthaltene umfassende Regulierungen der handwerklichen Arbeits- und Sozialordnung werden, was ihre Beachtung betrifft, in das Belieben des „Publikums“ gestellt. Auf diese Weise werden in Preußen und nachfolgend auch in anderen deutschen Staaten die Schleusen zu einer - langfristig gesehen - dramatischen Umwälzung der Wirtschafts- und Sozialstruktur, zur Unterminierung und Abschaffung der herkömmlichen korporativen Ordnung im Gewerbe geöffnet. Nur die Ausübung weniger Berufe (Ärzte, Apotheker usw.) bleibt an Befähigungsnachweise gebunden, Rechtsunterschiede zwischen Stadt und Land werden planiert.36 Diese „vollkommene Gewerbefreiheit“37, die bald wieder durch gewisse Konzessionen an den Adel (die gutsherrlichen Brau-, Brenn- und Schankgerechtigkeiten betreffend) eingeschränkt wird, trifft auf erheblichen Widerstand der „zünftigen“ Handwerkerschaft.38 Vor allem Stadtverordnetenversammlungen, deren interessenmäßige Zusammensetzung durch ein an Gewerbeausübung oder Grundbesitz bzw. Mindesteinkommenshöhe orientiertes „plutokratisches“ Wahlrecht geprägt ist,39 werden in den folgenden Jahren zu eifrigen Fürsprechern der alten Zunftmeister und petitionieren unentwegt gegen die Gewerbefreiheit. Sie versuchen gleichzeitig in ihrem meist engen städtischen Bereich auf vielfältige Weise der Gewerbefreiheit entgegenzuwirken.40 Der Widerstand gegen die neue Gewerbeverfassung, die durch das Gewerbepolizeigesetz vom 7. September 1811 ausgestaltet wird, verliert in Preußen erst sehr allmählich, besonders nach der Gründung des Zollvereins an Macht, ohne allerdings zu verstummen. Ebenso beharrlich, wie sie vorgetragen werden, werden diese Vorstöße zurückgewiesen, bis es schließlich mit der „Allgemeinen Gewerbeordnung“ vom 17. Januar 1845 zu einem Kompromiß mit dem handwerklich-gewerblichen Bürgertum kommt.41 Die liberale Gewerbeverfassung wird nur sehr zögernd in den mit dem 34 Vgl.: Huber, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente...a.a.O.(=Anm. 12), 47. 35 Vgl. ebenda, 44 - 46. 36 Vgl.: Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte ...a.a.O.(=Anm. 11), 429. 37 So die Einführung des Gewerbesteuer-Edikts. 38 Vgl. dazu die umfassende Studie von: Rohrscheidt, Kurt von: Vom Zunftzwang zur Gewerbefreiheit. Eine Studie nach den Quellen. Berlin 1898, bes. 556 ff. 39 Vgl. zu den Einzelheiten den § 74 der Preußischen Städteordnung von 1808. 40 Vgl.: Koselleck, Reinhart: Preußen...a.a.O.(=Anm. 29), 592. 41 Vgl. denselben, ebenda, 597.
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Wiederaufstieg Preußens gewonnenen Gebieten durchgesetzt, sie gilt zunächst also nur im ostelbischen Preußen. Obwohl es noch viele Jahre dauert, bis sich das liberale Gewerberecht in allen Staaten des späteren Deutschen Kaiserreichs juristisch und faktisch durchsetzt, ist mit dem Jahr 1810 der allmähliche Niedergang des durch „Zunftmißbräuche“, durch „wunderliche und abgeschmackte Gewohnheiten“ schwer diskreditierten „alten Handwerks“ als Wirtschaftsweise und Lebensform beschleunigt worden.42 Ähnlich lange dauert es, bis sich ausgehend von den Reformen im Agrar- und Gewerbewesen als Bezugsgruppe staatlicher Sozialpolitik in bedeutsamem Umfang jenes „gewerbliche Proletariat“ als „Massenlebensform“ herausgebildet hat, das in den Typologien der „klassischen Sozialwissenschaft“ skizziert wird als: juristisch und persönlich frei, frei aber auch von Produktionsmitteln, als wirtschaftlich und damit sozial abhängig vom profitsuchenden Kapital als bewegender Kraft, als fremdbestimmt und herrschaftsunterworfen, was die Arbeitsprodukte, die Arbeitsart, die Arbeitsintensität, die Arbeitsmethode, die Arbeitszeitdauer, den Arbeitsort und die Arbeitsstelle anbetrifft, gebunden durch einen „freien Arbeitsvertrag“, entlohnt nach den Gesetzen eines (immer dringlichen) Arbeitskräfteangebots und einer bestimmten Arbeitskräftenachfrage, als angefüllt mit „proletarischem Klassenbewußtsein“. Eine „Massenlebensform“, die „...dem Kapitalismus als sein Schatten...“ folgt.43 Ein „soziales Substrat“, daß seine Reihen durch Menschen aus den „niedergehenden“, traditionellen Gewerben und aus der „befreiten“ Landwirtschaft auffüllt, in den gewaltig wachsenden Städten beheimatet ist oder aus dem Umland in teilweise riesige Fabriken zusammenströmt,44 in Wirtschaftsbetriebe, deren Produktionsverfahren zunehmend durch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt im Zuge der „industriellen Revolution“ geprägt werden. Von ähnlich gewaltiger „Fernbedeutung“ für die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik und sozialpolitischer Diskussion wie die das europäische Staatensystem erschütternden revolutionären Unruhen und die Agrar- und Gewerbereform, sind politische Umgestaltungen und die preußischen Militärreformen der Jahre 1807 bis 1813. Diese gegen erhebliche Widerstände im traditionellen Herrschaftsapparat durchgesetzten Reformen, ebenfalls nur möglich geworden unter dem Eindruck der verheerenden Kriegsniederlage gegen Napoleon I., sind eng mit der Gesamtheit der übrigen Maßnahmen der „Revolution von oben“ verknüpft. Als Folge aller Reformen sollen ja nicht nur vermehrt die Finanzmittel fließen, die dem preußischen Staats- und Gewaltapparat Bestand, Ausdehnung und Schlagkraft verschaffen sollen. Die Maßnahmen sind insbesondere auch in Gestalt einer verbesserten städtischen Selbstverwaltung durch die Preußische Städteordnung vom 19. November 1808, sonstiger politischer Reformen und Versprechungen, sowie einer Schulreform im Sinne einer „bürgerlichen Nationalerziehung“ dazu gedacht, ein an Staatszielen interessiertes Volk zu schaffen. Der Umbau der gesellschaftlichen und politischen Verfassung soll eine neue Mentalität erzeugen helfen. Auf diese Weise soll Anschluß an die „... andere Welt von kriegerischen 42 Vgl. dazu: Rohrscheidt, Kurt von: Vom Zunftzwang...a.a.O. (=Anm. 38), 87 ff.; vgl. als ausgezeichnete Darstellung auch: Meyer, Moritz: Geschichte der Preussischen Handwerkerpolitik. Nach amtlichen Quellen. 2 Bände. Minden i.W. 1884 und 1888. 43 Vgl.: Sombart, Werner: Die gewerbliche Arbeiterfrage. Leipzig 1904, 14. 44 Zu derartigen Zusammenstellungen der Merkmale der „Proletarität“ vgl. als hervorragende Schrift: Briefs, Götz: Das gewerbliche Proletariat. In: Grundriß der Sozialökonomik. IX. Abteilung. Das soziale System des Kapitalismus. I. Teil. Die gesellschaftliche Schichtung im Kapitalismus. Tübingen 1926, 142 - 240; vgl. auch die 1849 verfaßte Arbeit von: Marx, Karl: Lohnarbeit und Kapital. Berlin 1970.
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Erscheinungen...“ gewonnen werden, die sich mit der Französischen Revolution eröffnet.45 Frankreich mit manchmal gar nicht so insgeheim bewunderten französischen Mitteln zu besiegen, bedeutet neben anderen Faktoren, wie der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz formuliert, eine Berücksichtigung der „moralischen Größen“.46 Dieses Zusammenbringen und Zusammendenken von inneren Umgestaltungen als Voraussetzung äußerer Machtentfaltung führt dazu, daß man auch auf militärischem Gebiet auf der Grundlage der „staatsbürgerlichen Idee“ Reformen ergreift. Abgeschafft wird entsprechend der „Gleichheitsidee“ und um die im Volk und in der Nation „schlummernden Talente“ militärisch zu nutzen, das Adelsprivileg bei der Besetzung der Offiziersstellen. In den Worten von Gneisenaus: „Die Geburt gibt kein Monopol für Verdienste; räumt man dieser zu viele Rechte ein, so schlafen im Schoße einer Nation eine Menge Kräfte unentwickelt und unbenutzt... Währenddem ein Reich in seiner Schwäche und Schmach vergeht, folgt vielleicht in seinem elendsten Dorfe ein Cäsar dem Pfluge, und ein Epaminondas nährt sich karg von dem Ertrage seiner Hände. Man greife daher zu dem einfachen und sicheren Mittel, dem Genie... eine Laufbahn zu eröffnen und die Talente und Tugenden aufzumuntern, von welchem Range und Stande sie auch sein mögen. Man schließe ebenfalls dem Bürgerlichen die Triumphpforte auf...“47 . Abgeschafft werden die barbarischen Körperstrafen, analog dem französischen „levée en masse“ wird eine allgemeine Wehrpflicht vorbereitet und im Frühjahr 1813 eingeführt. Neue taktische Grundformen und Organisationsmuster werden eingeübt, eine Militärreserve wird gebildet. Die Freiheitskriege werden unter starker „volkstümlicher Beteiligung“ (Freiwillige, eingezogene Landwehr, Landsturm) und nunmehr auch unter „nationaler Begeisterung“48 siegreich mit Hilfe der Verbündeten bestanden. Noch ist es mithin keine „moderne“ staatliche Sozialpolitik, die die Identifikation des „Volkes“ mit dem Staat und seinen Zielen fördern soll, sondern die ansatzweise durchgeführte Aufhebung von Adelsprivilegien, ein Zurückfahren staatlicher Bevormundung im kommunalen Bereich, eine Beeinflussung der psychischen Verfaßtheit der Nation durch Erziehung. Hinzu tritt die Einsicht, daß ein gedungenes, mit Gewalt zusammengehaltenes, gedrilltes und gedemütigtes, aus unfreien und in Unmündigkeit gehaltenen „Unterthanen“ zusammengesetztes, von einer teilweise unfähigen Adelskaste geführtes Heer nicht geeignet ist, der „französischen Herausforderung“, der „neuen Kriegsart“ zu begegnen.49 Ein derartiges Heer muß letztlich für alle „niederen Volksklassen“ als unakzeptabel erscheinen. Aus diesen Einsichten heraus ist „...aus der rückständigen stehenden Berufs- und Söldnerarmee der absolutistischen Epoche ein nach modernen Gesichtspunkten und fortschrittlichen Prinzipien aufgebautes nationales Volksheer...“ geworden,50 angepaßt an das neue, das französische Kriegsbild mit spezifisch preußischen Zügen. Mit der Gesamtheit aller Maßnahmen im Zuge der „Revolution von oben“ hat ein politisches Prinzip gesiegt, das Prinzip der Reform. Dadurch, daß in Preußen und anderen deut45 Vgl. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals von Clausewitz. Vollständige Ausgabe im Urtext, drei Teile in einem Band. Bonn 1980, 855. 46 Vgl. denselben, ebenda, 356ff.; vgl. auch: Aron, Raymond: Clausewitz. Den Krieg denken. O.O., o.J., 182 ff. 47 Zit. nach: Nitschke, Heinz G.: Die preußischen Militärreformen...a.a.O.(=Anm. 20),118. 48 Vgl. dazu grundlegend: Prignitz, Christoph: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850. Wiesbaden 1981, bes. 101ff. 49 Vgl. denselben, ebenda, 105f. 50 Vgl. aus marxistisch-leninistischer Sicht auch: Moll, Georg: „Preußischer Weg“ und bürgerliche Umwälzung in Deutschland. Weimar 1988, 273ff.
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schen Staaten trotz aller Unruhen und Erhebungen keine revolutionäre antifeudale Umgestaltung durchgesetzt werden kann, und die Reformen von staatsbezogen denkenden, revolutionsfeindlichen Angehörigen der herrschenden Kräfte der Feudalgesellschaft in einem entsprechenden Umfeld in Reaktion auf französisches „Vorgehen“ durchgeführt werden, erhält die deutsche und im engeren Sinn die „preußische Alternative zur Revolution“, der preußisch-deutsche Schritt über die Schwelle von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft sein typisches Gepräge. Eigentum und Einfluß des Adels werden nicht nur geschont, sondern zunächst noch einmal erweitert und langfristig in erheblichem Maße konserviert. Nachdem die „Staatsnot“ mit der Befreiung Deutschlands vom „französischen Joch“ beseitigt ist, wird das „patriotische Opfer“51 im Krieg gegen Frankreich nicht honoriert, werden nationale Wünsche und Verfassungsversprechungen nicht oder nicht im Sinne der Schaffung einer „nationalen Einheit“ bzw. einer wirksamen „Repräsentation des Volkes“ umgesetzt. Deutschland tritt in eine Phase politischer Restauration ein.52 Wohl aber werden nun mit beträchtlichen Zeitverzögerungen und Unterschieden im einzelnen im deutschen Staatenbund die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die kapitalistische Umwälzung ihren Siegeszug antreten kann und daß eine Gesellschaftsordnung entsteht, „...die im Zuge ihrer Eigenentwicklung den sozialen Antagonismus und die Klassenspaltung aus sich entläßt.“53
2.2 Der Pauperismus und das Versagen der althergebrachten Sicherungssysteme Es ist zunächst nicht eine relativ isoliert von anderen „bedenklichen“ Sozialerscheinungen aufgefaßte „Arbeiterfrage“, es ist der Pauperismus, jene „...neue, höchst bedeutsame und unheilvolle Erscheinung...“54 , eine die „Arbeiterfrage“ umfassende und über sie hinausgehende Massenverarmung, die in der Zeit nach der Französischen Revolution breite publizistische Beachtung findet.55 Der Begriff für diese „Erscheinung“ ist aus dem lateinischen „pauper“ abgeleitet. Dieser Begriff spielt nicht nur in der römischen Antike eine bedeutende Rolle, sondern findet sich im späteren lateinischen Sprachgebrauch zur Bezeichnung einer stets vorhandenen und teilweise erheblich verbreiteten Armut. Er wird auch zur Kennzeichnung religiös motivierter „weltlicher Entsagung“ und „Askese“ in zumeist klösterlichen Lebensformen verwendet. So bezeichnet man z.B. die Clarisser-Nonnen als Pauperes Dominae, die Waldenser als Pauperes de Lugduno. Der ursprüngliche lateinische Begriff geht in die alten englischen und französischen Wortbildungen pauper, poverty bzw. pauvre, pauvreté ein. Die an den lateinisch-englischen Begriffsgebrauch anknüpfende neuartige Wortbildung „Pauperismus“, zu dessen zeitgenössischem Bedeutungsinhalt stets die außerordentliche Bedrohlichkeit dieser „Erscheinung“ gehört, stammt aus der Zeit des beginnenden 19. Jahrhunderts. Von England 51 Noch ganz den „Geist“ dieser Zeit „atmen“ die Stichworte „Patriot“ bzw. „Patriotismus“ in: Conversations-Lexikon oder encyklopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. In Zehn Bänden. Siebenter Band. 4. Auflage. Altenburg und Leipzig 1817, 306 - 308. 52 Vgl. z.B.: Kuczynski, Jürgen: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. Teil 1. Berlin 1961, 52. 53 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts. in: Derselbe unter Mitarbeit von Rainer Wahl (Hg.): Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 - 1914). 2., veränderte Auflage. Meisenheim, Königstein/Ts. 1981, 13 - 21, hier: 13. 54 So das Stichwort: Pauperismus. In: Allgemeine Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. ConversationsLexikon. Neunte Originalauflage. In fünfzehn Bänden. Elfter Band. Leipzig 1846, 15. 55 Vgl.: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1980, 53 ff.
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her findet der Ausdruck „pauperism“ als „paupérisme“ im französischen Wortschatz Platz und von dort gelangt er als „Pauperismus“ nach Deutschland. Er ist schließlich im übrigen europäischen, teilweise auch überseeischen Sprachgebrauch nachweisbar.56 Der Pauperismus, so ein zeitgenössischer Autor, sei „...da vorhanden, wo eine zahlreiche Volksklasse sich durch die angestrengteste Arbeit höchstens das nothdürftigste Auskommen verdienen kann, auch dessen nicht sicher ist, in der Regel schon von der Geburt an und auf Lebenszeit solcher Lage geopfert ist, keine Aussichten der Änderung hat, darüber immer tiefer in Stumpfsinn und Rohheit versinkt, den Seuchen, der Brandweinpest und viehischen Lastern aller Art, den Armen-, Arbeits- und Zuchthäusern fortwährend eine immer steigende Zahl von Rekruten liefert und dabei immer noch sich in reißender Schnelligkeit ergänzt und vermehrt.“57 Diese Erscheinung, der Pauperismus, die „Massenarmuth“ bzw. das „Armenthum“, wird in nicht unproblematischer Weise von der „natürlichen Armuth“, verursacht durch die Arbeitsunfähigkeit, „...in Folge physischer, geistiger oder sittlicher Gebrechen, oder zufälliger Unglücksfälle...“ und von allgemein dürftiger, aber sicherer Lebenshaltung geschieden,58 wenngleich die Grenzen fließend sind und häufig die gesamte Armut mit dem Begriff Pauperismus bezeichnet wird. Der Pauperismus, der in der Eingangsdefinition in zeitgemäßer Wahrnehmung und Wertung dargeboten wird,59 ist mit Entwicklungen verflochten, die über die antifeudalen, wirtschafsliberalen Reformen zurückreichen, sich dann mit diesen verbinden und so die Gestalt und das Gewicht dieser Erscheinung prägen. Die Gesamtheit der Umwälzungen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts tragen insofern zur Herausbildung des Pauperismus bei, als sie bestimmte in der „alten Gesellschaft“ bestehende, dem kommunalen Armenwesen und Verarmen vorgelagerte Hilfeformen in ihrer Tragfähigkeit fortschreitend unterminieren, ohne daß gleichzeitig in ausreichendem Maße neue, der „modernen Welt“ und der „neuen Erwerbsordnung“ entsprechende Hilfeformen und Hilfeinstanzen geschaffen werden. Hinzu tritt, daß der im Vergleich zur Bevölkerungszahl viel zu geringe Entwicklungsstand der Produktivkräfte insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedem der schon damals vorgeschlagenen „Umverteilungssysteme“, selbst unter Einbeziehung verteilbarer Vermögensmassen „gehobener Schichten“, engste Grenzen gesetzt hätte. Schon die gleich zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchgeführte Säkularisation schwächt den Reichtum der Kirche und damit auch deren Kraft zu karitativer Betätigung.60 Die unter dem Schlagwort „Freyheit“ schon im 18. Jahrhundert geforderte61 und bereits im „Reichs-Schluß wegen Abstellung der Unordnungen und Mißbräuche bey den Handwerkern“ vom 16. August 1731 angedrohte Maßnahme „...alle Zünffte insgesamt und über56 Zur Begriffsgeschichte: Stein, Hans: Pauperismus und Assoziation. Soziale Tatsachen und Ideen auf dem westeuropäischen Kontinent von Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, unter besonderer Berücksichtigung des Rheingebietes. Leiden 1936, 12; vgl. zum lateinischen Sprachgebrauch des Mittelalters: Du Cange: GLOSSARIUM MEDIAE ET INFIMAE LATINITATIS. VI. Band. Graz 1954, 225 ff. 57 Vgl.: Pauperismus. In: Allgemeine...a.a.O. (=Anm. 54), 15. 58 Vgl. ebenda. 59 Vgl. dazu auch: Preußer, Norbert: Not macht erfinderisch. Überlebensstrategien der Armenbevölkerung in Deutschland seit 1807. München 1989, 24 ff. 60 Vgl.: Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte...a.a.O.(=Anm. 11), 363 ff. 61 Vgl. in diesem Zusammenhang die frühe gegen die geforderte Gewerbefreiheit Stellung beziehende Schrift von: Weiß, Johann Adam: Ueber das Zunftwesen und die Frage: sind die Zünfte beyzubehalten oder abzuschaffen? Eine von der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe am 25. Oct. 1792 gekrönte Festschrift. Frankfurt a.M. 1798, etwa: IX ff.
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haupt völlig aufzuheben, und abzuschaffen“62 , die Gewerbereform also, und die Umwälzung der Agrarverfassung betreffen die damit verzahnten Hilfeformen. Die in die spätabsolutistische Agrarverfassung eingebauten Hilfeverpflichtungen und Möglichkeiten der Existenzsicherung, die teils schriftlich fixiert sind, teils Bestandteile unbestimmter wechselseitiger Erwartungen und langdauernder Übung darstellen, betreffen soziale Verpflichtungen des Gutsherren gegenüber den Bauern und sonstigem dienenden „Volk“ „...wie Fürsorge im Alter, in Krankheit, Hilfe bei Kriegsschäden, Unglücksfällen, namentlich Misswachs...“63 Manche dieser Hilfeleistungen, denen die Gutsherren schon vor der Agrarreform nur höchst unvollkommen folgten,64 werden nun zunehmend obsolet. Teilweise bleiben sie auch besonders gegenüber den Gutstagelöhnern erhalten. Dabei hängt viel von der „wohlwollenden und menschenfreundlichen Gesinnung“ und von der wirtschaftlichen Lage des jeweiligen Gutsherren ab: „Ein wohlwollender Dienstherr gewährt in Krankheitsfällen der Arbeiterfamilie auch freien Arzt und freie Medizin; die edle Frau oder Tochter desselben kümmert sich um die Pflege von Kranken, wie von Wöchnerinnen...“65 Diese gutsherrliche Hilfeleistung erfolgt dabei immer auch im Eigeninteresse der jeweiligen Herrschaften an einem leistungsfähigen „Arbeiterstand“. Diese aus der „Sachlogik“ und einem bestimmten Menschenbild abgeleitete Einsicht darf allerdings weder dazu verleiten, anzunehmen, daß im Rahmen der überkommenen Gesellschaftsverfassung stets Genügendes geleistet wurde, oder daß der neue, der kapitalistische Herr gegenüber dem stets kündbaren „freien Arbeiter“ ein derartiges Interesse weitestgehend nicht mehr habe.66 Weniger direkt berührt durch die „Bauernbefreiung“ werden die Hilfepflichten im Rahmen des bäuerlichen Haushalts für die mitwirtschaftende Verwandtschaft und die zum Haushalt gehörenden land- und hauswirtschaftlichen Hilfskräfte, sowie die Nothilfe im Rahmen der Nachbarschaft.67 Sehr wohl aber wird die Tragfähigkeit dieser „Gemeinschaften“ zusammen wohnender, arbeitender und lebender Menschen, dieser vorindustriellen „Risiko- und Bedarfsausgleichgemeinschaften“ durch Mißernten, Absatzstockungen und Ablösezahlungen an den Gutsherren unterminiert, teilweise werden sie zur Auflösung getrieben. Von doppelter sozialpolitischer Relevanz ist die Aufteilung der Gemeinheiten und ihre Überführung in ausschließliches, eine Mitbenutzung nicht mehr anerkennendes Eigentum. Es entzieht den ärmeren sozialen Schichten und Gruppen des Landes eine „althergebrachte Stütze für ihre Wirthschaft“, dadurch ist „...den Häuslern, was Kleidung, Feuerung und
62 Hier wiedergegeben aus: Ortloff, Johann Andreas (Hg.): Corpus Juris Opificiarii oder Sammlung von allgemeinen Innungsgesetzen und Verordnungen für die Handwerker. 2. Auflage. Erlangen 1820, 26. 63 Vgl.: Kahlen, E. von: Die ländlichen Arbeiter. In: Meitzen, August (Hg.): Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des Preussischen Staates. Achter (Schluß-)Band. Berlin 1908, 383 - 436, hier: 391. 64 Vgl.: Tennstedt, Florian: Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1800 bis 1914. Köln 1983, 22; vgl. auch als abweichende Auffassung: Kahlen, E. v.: Die ländlichen Arbeiter...a.a.O.(=Anm. 63), 391. 65 Lette, A.: Ueber den Zustand der Arbeiter- und Armen-Bevölkerung im Preussischen Staate und die Gesetzgebung zur Verbesserung dieses Zustandes. In: Congrès international de bienfaisance de Francfort - S./M. Session de 1857. Tome I. Bruxelles etc. 1858, 81 - 151, hier: 104. 66 So aber: Nölting, Ernst: Grundlegung und Geschichte der Sozialpolitik. Berlin 1932, 5f.; die Bedeutung des Eigeninteresses wird zutreffender gesehen bei: Rimlinger, Gaston V.: Sozialpolitik und wirtschaftliche Entwicklung: Ein historischer Vergleich. In: Braun, Rudolf u.a. (Hg.): Gesellschaft in der industriellen Revolution. Köln 1973, 113 - 126. 67 Vgl.: Partsch, Manfred: Prinzipien und Formen sozialer Sicherung in nicht-industriellen Gesellschaften. Berlin 1983, bes. 109 ff.
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tägliche Nahrung betrifft, manche Erschwerung widerfahren.“68 Die „besitzende Klasse“ der Eigentümer und eine rationelle Landwirtschaft auf kleineren und größeren von Mitbenutzung freien Flächen sind die Gewinner dieser Maßnahmen. Eine Hilfeverpflichtung dieser „Reformgewinner“ für die derart Enteigneten ist keineswegs mehr selbstverständlich. Weitere überkommene Formen naturaler Unterstützung der Armen, wie die nicht abgeernteten Winkel der Ackerflächen, die Eröffnung der Möglichkeit der Nachlese auf dem Felde und auf den Bäumen, die Überlassung des zu Boden gefallenen Obstes, des Raff- und Leseholzes in den Wäldern, werden unzureichend und widersprechen dem Grundsatz einer rationellen Ausnutzung des jeweiligen Eigentums. Insbesondere zum Frühjahr hin, wenn die Vorräte aufgebraucht sind, verbreitet sich regelmäßig Not und Hunger.69 Der Beitrag der Gewerbereform zum Pauperismus ergibt sich unmittelbar, wenn man bedenkt, daß es sich bei den Zunftordnungen und den einschlägigen Gesetzesvorschriften, wie sie sich im „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 1794 noch einmal finden,70 um eine wirksame „Handwerkerschutzgesetzgebung“ handelte.71 „Auskömmliche Nahrung“ und „selbständige Produzentenstellung“ sollen vor allem durch Ausschließung der Konkurrenz, durch Sicherung des Absatzes und Monopolisierung des Rohstoffbezuges, durch Schutz vor Übergriffen der Berufskollegen und Abwehr von „fremden“ Produzenten auf örtlicher Ebene gesichert werden.72 Auf diese zunehmend umstrittene und durchbrochene Weise wird, nicht zuletzt auf Kosten der Kunden, der auf eine Meisterstelle wartenden Gesellen und sonstiger potentieller Produzenten,73 eine Teilerwerbsordnung und damit ein Sozial- und Kulturverband stabilisiert, der vielfältige sozialpolitische Aktivitäten insbesondere auch in Form von beitragsfinanzierten Kassen für den Fall der Krankheit, des Todes, der Invalidität, für Witwen und Waisen umschließt bzw. von dem für die Spätzeit der Zünfte „sekundäre“, obrigkeitlich besonders argwöhnisch überwachte Gesellenverbände mit eigenen Kassen und sonstigen Sicherungsformen ökonomisch abhängen.74 Die bis gegen Ende der 1860er Jahre überall durchgesetzte Gewerbefreiheit legt die Lunte an das ökonomische Fundament dieser Ordnung. Sie sorgt für Konkurrenz untereinander und auch von seiten der sich ausbreitenden größeren und großen, zu industriellen Formen der Gütererzeugung übergehenden Fabriken. Für das Preußen der Jahre 1846 1849 ist festgehalten, daß es kennzeichnend für die dürftige Lage der meisten Handwerker dieser Zeit gewesen sei, „...daß rund 90% nicht zur Zahlung des niedrigsten Gewerbesteuersatzes in der Lage waren und damit überwiegend in das Lager der proletaroiden Kleinmeister gehörten.“75 Diese Gesamtentwicklung wirkt sich zwangsläufig erschütternd und leistungsmindernd auf das mit dem Handwerk verbundene, selbstorganisierte Kassenwesen 68 Knapp, Georg Friedrich: Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. Leipzig 1887, bes. 303 ff. 69 Vgl.: Lette, A.: Ueber den Zustand...a.a.O.(=Anm. 65), 111; Tennstedt, Florian: Vom Proleten...a.a.O. (=Anm. 64), 22 ff. 70 Vgl. §§ 179 ff. 71 Vgl.: Sombart, Werner: Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert. 3., durchgesehene und bis auf die Gegenwart weitergeführte Auflage. Berlin 1913, 57. 72 Vgl. denselben, ebenda, 57 ff. 73 Dieser Charakter der Zünfte ist Gegenstand zahlreicher staatlicher Interventionen, der staatlichen Regulierung schon in der „alten Zeit“; vgl. etwa den „berühmten“ „Reichsschluß wegen den Handwerksmißbräuchen. D.d. 16. Aug. 1731“. In: Ortloff, Johann Andreas (Hg.): Corpus Juris...a.a.O.(=Anm. 62), 3 ff. 74 Vgl. als grundlegende Publikation: Fröhlich, Sigrid: Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden. Berlin 1976, zusammenfassend: 261 ff. 75 Bergmann, Jürgen: Wirtschaftskrise und Revolution. Handwerker und Arbeiter 1848/49. Stuttgart 1986, 89.
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und die Hilfe- und Unterstützungsfunktionen des handwerklichen Haushalts aus. Andererseits unterliegen derartige Einrichtungen zur Überbrückung von Zeiten der Erwerbsunfähigkeit und zur Finanzierung ärztlicher Hilfe, falls sie mit relativ prosperierenden Fabriken und Handwerkszweigen verbunden sind, diesen Tendenzen nicht oder in nicht so ausgeprägter Form.76 In diese Situation der Umwälzungen und Erschütterungen traditioneller sozial absichernder Institutionen durch die „Revolution von oben“ und durch andere außerpreußische Maßnahmen hinein, wirkt ein überaus starkes Bevölkerungswachstum, das bei demgegenüber zurückbleibender Produktion die Tragfähigkeit der vor- bzw. frühindustriellen Hilfeinstanzen weiter unterminiert bzw. eine „sociale Classe“ vermehrt, der es an „Schutz“ überhaupt weitgehend mangelt. Diese „Bevölkerungsexplosion“ ist schon für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts kennzeichnend gewesen und hat sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt.77 Deutschlands Bevölkerung (in den Grenzen des späteren Deutschen Reiches) beträgt im Jahre 1816 etwa 23,5 Millionen Menschen, 1850 leben auf diesem Gebiet 34 Millionen, 1865 ist die Bevölkerung auf 38 Millionen angestiegen, d.h. sie ist seit 1816 um mehr als 60% gewachsen, „...die Bevölkerungszahlen der Königreiche Preußen und Sachsen hatten sich sogar fast verdoppelt.“78 Allein zwischen 1816 und 1825 steigt die Bevölkerungszahl um 15% an, „...ein Wert, der nahezu doppelt so groß ist wie die im 18. Jahrhundert festgestellten Wachstumsraten“.79 Dieses Bevölkerungswachstum ergreift nicht alle Schichten in gleichem Ausmaß, es sind gerade die besitzarmen und besitzlosen sozialen Schichten und Gruppen in Stadt und Land, die an diesem Wachstum in besonderem Maße teilhaben. Unter den geschilderten Bedingungen kommt es im Zusammenwirken mit anderen Faktoren zu gravierenden Übervölkerungserscheinungen, zu einer „malthusianischen Situation“, zu beinahe „irischen Zuständen“ in der „freien Bevölkerung“. Die stärker industrialisierten Landesteile können das „demographische Problem“ wegen mangelnden Arbeitsplätzeangebotes nicht abmildern.80 Diese sich rasch vermehrenden besitzarmen oder besitzlosen, deshalb immer auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesenen sozialen Schichten und Gruppen, werden in der zeitgenössischen Literatur als „Proletarier“, „arbeitende Klassen“, „Arbeiter“, „Ouvriers“ oder auch als „Pöbel“ bezeichnet.81 Insbesondere der Begriff des „Proletariers“ und des „Proletariats“ findet rasche Verbreitung. Seine wortgeschichtliche Herkunft hat er mit dem Begriff „Pauperismus“ gemeinsam. Proletarii, das sind die armen Leute des antiken 76 Die genaue Vermessung dieser Problematik kann letztlich nur durch schließlich flächendeckende Regional- bzw. Lokalstudien erreicht werden; einen Eindruck vermittelt: Reininghaus, Wilfried: Die Gesellenladen und Unterstützungskassen der Fabrikarbeiter bis 1870 in der Grafschaft Mark. In: Der Märker, 29(1980)2, 46 - 55; derselbe: die Statuten der Iserlohner „Kranken-Unterstützungs-Kasse“ von 1833 und 1841 als Quelle der Sozialgeschichte. In: Der Märker, 31(1982)1, 11 - 15. 77 Vgl.: Marschalck, Peter: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1984, 27; vgl. auch: Hinze, Kurt: Die Bevölkerung Preußens im 17. und 18. Jahrhundert nach Quantität und Qualität. In: Büsch, Otto, Neugebauer, Wolfgang (Hg.): Moderne...a.a.O.(=Anm. 25), 282 - 315. 78 Marschalck, Peter: Bevölkerungsgeschichte...a.a.O.(=Anm. 77), 145. 79 Derselbe, ebenda, 27; daselbst auch Hinweise auf die regionale Verteilung, die Quellen und deren Zuverlässigkeit. 80 Vgl.: Köllmann, Wolfgang: Demographische „Konsequenzen“ der Industrialisierung in Preußen. In: Büsch, Otto, Neugebauer, Wolfgang (Hg.): Moderne...a.a.O.(=Anm. 25), 447 - 465, hier: 452 ff.; vgl. zum Begriff Proletariat auch: Briefs, Goetz: Das gewerbliche Proletariat...a.a.O.(=Anm. 44), 162 ff. 81 Vgl.: Conze, Werner: Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 41(1954), 333 - 364; vgl auch: Jantke, Carl, Hilger, Dieter: Die Eigentumslosen. Freiburg 1965.
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römischen Staates, jene, die wegen ihres nicht vorhandenen oder geringen Vermögens keine Steuern zahlen, und die deshalb dem Staate nur durch ihre Kinder (prole sua) dienen. Vor allem in dieser Bedeutung ist der Begriff der gelehrten europäischen Welt geläufig. Er wird aber verschiedentlich auch schon im Sinne von „gewöhnlich, arm, gemein“, „besitzlos“ verwendet, ehe er im „Zeitalter der europäischen Revolution“ seinen spezifischen, zeitbezogenen Sinngehalt und seine verbreitete Anwendung findet. D.h. vor allem, auch mit diesem Begriff ist bald ein bedrohlicher Sinngehalt verbunden. Die „Proletarier“ gelten gleich dem Pauperismus, den sie durch ihre zunehmende Zahl und Verarmung ausmachen als „gefahrvolle“ Erscheinung. Die Bestimmung des Umfangs des in die alte, sich auflösende ständische Ordnung nicht integrierten oder nicht ausreichend erhaltenen „Vierten Standes“82 oder der Bevölkerungsteile, die diesem „Stand“ nahe stehen, ist mit besonders großen Unsicherheiten behaftet. Eine derartige Umfangsbestimmung ist dennoch wichtig, um das Ausmaß der „inneren Gefahren“ für Staat und Gesellschaftsordnung, das Ausmaß der Störung des „inneren Gesellschaftlichen Zusammenhangs“83 illustrieren zu können. Hans-Ulrich Wehler quantifiziert die städtischen „Unterschichten“ der Jahre um 1800 in ausgewählten Städten in Größenordnungen zwischen 36 und 69%, meist lägen die Zahlen um 50%.84 Für die Jahre von 1815 bis 1850 geht er von Größenordnungen zwischen rund 65 bis 80% aus, in einem Fall (Barmen) kommt er auf einen Wert von 90%.85 Zu den städtischen „Unterschichten“ zählt er z.B. Dienstboten, Gesindeleute, arme oder mittellose Handlanger, Heimarbeiter, Fuhrleute, Handwerksgesellen, verarmte Kleinbürger, Tagelöhner, Arbeitslose, Arbeitsunfähige, Arbeitsscheue, Bettler, Almosenbezieher, unterste Beamte und städtische Angestellte, entlassene Soldaten, diverse weitere häusliche Dienstleistungsberufe. Zu den „Unterschichten“ gehört in den frühindustrialisierten Gebieten auch der schlechtergestellte Teil der Fabrikarbeiter, die „freien Lohnarbeiter“, die in bestimmten Städten schon einen erheblichen Bevölkerungsanteil ausmachen und über deren elende Lage und rücksichtslose Ruinierung in dieser Phase der „extensiven Ausbeutung“ der Arbeitskraft (überlange Arbeitszeiten, geringe Löhne, Entlohnung mit Waren (sog. Trucksystem), Kinder- und Frauenarbeit, miserable Arbeits-, Wohn- und sonstige Lebensbedingungen) einiges bekannt ist.86 Diese Personengruppen, die „Unterschichten“, dürfen nicht mit den offiziell unterstützten und registrierten Armen gleich gesetzt werden. Diese werden vor allem in den am „höchsten entwickelten“ Landesteilen und dort vor allem in den nunmehr in ein starkes Wachstum eintretenden Städten ausgemacht, eine Erscheinung, die viele Zeitgenossen beunruhigt und daran zweifeln läßt, ob vom Fabrikwesen tatsächlich eine begrüßenswerte Entwicklung ausgeht. In der Rheinprovinz kommt 1849 in den Städten im Durchschnitt ein offiziell registrierter Armer auf 6,38 Einwohner, in Schlesien sind es 6,31, in Brandenburg 8,85.87 In den 60 größten Städten Preußens (das sind Städte mit über 10.000 Einwohnern) sind 1849 durchschnittlich 18,12% der Bevölkerung als Arme registriert.88 In den kleineren 82 So die Ausdrucksweise von: Jantke, Carl: Der Vierte Stand. Freiburg 1955. 83 Vgl. zu dieser Begriffsbildung der Sozialpolitiktheorie Kap. 1.1 84 Vgl.: Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte...a.a.O.(=Anm. 11), 193, ähnlich: 198. 85 Vgl. denselben: Deutsche Gesellschaftsgeschichte...a.a.O. (=Anm. 2), 279. 86 Vgl. dazu als klassische Studie: Kuczynski, Jürgen: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 52), 215 ff. 87 Vgl. dazu: Bruch, Ernst: Königreich Preußen (die sechs östlichen, alten, Provinzen und Rheinland und Westphalen). In: Emminghaus, A.(Hg.): Das Armenwesen und die Armengesetzgebung in europäischen Staaten. Berlin 1870, 25 67, hier: 35 f. 88 Vgl. denselben, ebenda, 37.
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Städten sind die Zahlen erheblich niedriger. In bestimmten Fällen werden die Durchschnittszahlen in großen Städten aber auch erheblich überschritten. Im Köln des Jahres 1848 ist z.B. ein Drittel der Bevölkerung in den Armenlisten erfaßt, in Mannheim sind es 45%.89 Die von Wehler mitgeteilten Zahlen umfassen die offiziell registrierten und unterstützten Armen und jene Menschen, die sich in ihrer Lebenshaltung um das Existenzminimum bewegen und längst nicht jede Hilfeleistung geht von kommunalen bzw. offiziellen Stellen aus und ist damit von den Statistiken erfaßt. Eine andere Studie kommt anhand einkommensstatistischer Untersuchungen zu dem Ergebnis, es könne davon ausgegangen werden, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „...etwa zwei Fünftel der städtischen Familien ein kümmerliches Dasein fristeten. Von ihrem Einkommen konnten sie den lebensnotwendigen Unterhalt für eine mittlere Familie von fünf Personen nicht bestreiten. Sie waren auf Almosen...angewiesen. Ihre Nahrung bestand vornehmlich aus den je Nährwerteinheit preiswertesten Getreideprodukten und Kartoffeln. Die Sterblichkeit - besonders der Kinder - war hier besonders groß, und viele Kinder wurden meist schon frühzeitig an andere Familien abgegeben (als Laufburschen, Lehrjungen, Kindermädchen, Mägde u.a.)...“90 Es ergibt sich das Bild einer sowohl für den einzelnen Menschen als auch gesamtgesellschaftlich äußerst krisenanfälligen Situation, in der Mißernten und sich daran anschließende Teuerungen und andere Störungen der Erwerbstätigkeit unmittelbar gravierende Auswirkungen auf die Lebenslage der großen Mehrheit der Bevölkerung haben müssen. Zudem ist die Gesellschaft des Pauperismus durch eine teilweise geradezu gigantische soziale Ungleichheit gekennzeichnet. Für die soziale Lage auf dem „platten Land“ sind die (überaus günstigen) Angaben der offiziellen Armutsstatistiken noch weniger aussagekräftig. Die Armut ist hier weitaus mehr „versteckt“ und verschiedene Formen kärglichen Überlebens, mühevoller Selbsthilfe und „fremder“, nicht offizieller Hilfe in der Not gehen in die Statistik nicht ein. Auch hier „drückt“ das Bevölkerungswachstum und es macht sich in dieser Übergangsphase der Arbeitsverhältnisse zur „freien“ landwirtschaftlichen Lohnarbeit die Ungesichertheit dieser Soziallage bemerkbar. Allerdings verläuft dieser Übergang sehr schleppend. Patriarchalische Beziehungen dauern fort, ein hoher Anteil an Naturalien und Deputaten als Formen der Entlohnung bleiben bestehen, Möglichkeiten der Eigenwirtschaft sind verbreitet, wenngleich sie sich allmählich verengen.91 In dieser agrarischen Welt der Knappheit und stets drohenden Not für die Schichten und Gruppen der landlosen und landarmen Bevölkerung kommt der Ausdehnung und Ergiebigkeit der „Protoindustrien“92 eine erhebliche Bedeutung zu. Diese ermöglichen eine karge Existenz oder ein „Zubrot“ für die Menschen, die, je nach Landschaft unterschiedlich 89 Weitere Beispiele: Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte...a.a.O. (=Anm. 2), 280. 90 Saalfeld, Diedrich: Lebensstandard in Deutschland 1750 - 1860. Einkommensverhältnisse und Lebenshaltungskosten städtischer Populationen in der Übergangsperiode zum Industriezeitalter. In: Bog, Ingomar et. al. (Hg.): Wirtschaftliche und soziale Strukturen in saekularem Wandel. Festschrift für Wilhelm Abel zum 70. Geburtstag. Hannover 1974, 417 - 443, hier: 431; vgl. zur Sozialstruktur dieser Jahre auch: Obermann, Karl: Zur Klassenstruktur und zur sozialen Lage der Bevölkerung in Preussen 1846 bis 1849. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1973, Teil II, 143 - 174; dazu kommt, daß teilweise gewaltige Zuwanderungsströme die Sozialstruktur vieler industrieller Gebiete beinahe „schlagartig“ verändern. Vgl. dazu etwa: Croon, Helmuth: Industrialisierung und gesellschaftliche Schichtung der Bevölkerung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. In: Büsch, Otto, Neugebauer, Wolfgang: Moderne...a.a.O.(=Anm. 25), 466 - 485. 91 Vgl.: Schissler, Hanna: Preußische Agrargesellschaft...a.a.O. (=Anm. 18), 177 ff. 92 Vgl.: Kriedte, Peter, Medick, Hans, Schlumbohm, Jürgen: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus. Göttingen 1977.
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bezeichnet, als Kätner, Kötter, Kossäten, Gärtner bzw. Büdner, Häusler, Insten, Einlieger, Heuerlinge und Gesinde ihr Leben fristen müssen. Diese „protoindustrielle“, gewerbliche Warenproduktion auf dem Lande, die Hausindustrie bzw. das Hausgewerbe, erweist sich als sehr unsichere Existenzgrundlage. Sie macht die soziale Lage der „kleinen Leute“ abhängig von der Aufnahme- und Zahlungsfähigkeit überregionaler und internationaler Märkte,93 sie konkurriert mit der übermächtigen, vordringenden Fabrikproduktion, die in ihr beschäftigten Menschen müssen sich mit niedrigstem Entgeld bescheiden, zu groß ist die Macht der Auftraggeber bei der hohen Zahl der Arbeit suchenden Hände. Die bedeutenden Krisen dieser Form der Warenproduktion im Vormärz, verursacht vor allem durch den technologisch-industriellen Rückstand gegenüber Großbritannien, führen in bestimmten Gegenden Deutschlands zu bitterster Not und Unruhen,94 dies insbesondere, wenn diese Erscheinungen auch noch mit aktuellen Erntekrisen zusammenfallen. Nicht zuletzt rührt die ebenso aufrüttelnde, wie brutal niedergeschlagene „Weber-Revolte“ von 1844 aus diesen Zusammenhängen.95 Einem Teil der ländlichen „Überschußbevölkerung“ gelingt es „...in die Unterschichten der Städte einzusickern.“96 Ein Teil sieht sich gezwungen ins Ausland abzuwandern, andere finden sich in der zahlreichen Vagantenpopulation wieder. Insgesamt aber wächst die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten während des gesamten 19. Jahrhunderts an.97 Diese Umriß- und Dimensionsbestimmungen des Pauperismus machen in Zusammenschau mit einer späteren allmählichen, ungleichmäßig sich vollziehenden, nie krisenfreien Festigung der Lebensituation der „Unterschichten“ deutlich, daß es für das Deutschland des Vormärz unzutreffend ist, den Pauperismus durchgängig im Anschluß an Marx Schrift „Das Kapital“98 oder Friedrich Engels Untersuchung über die Lage der arbeitenden Klasse in England99 als Erscheinung eines mehr oder weniger voll entfalteten Kapitalismus und der Bewegungs- und vor allem der Freisetzungstendenzen einer solchen Wirtschaftsverfassung zu verstehen.100 Pauperismus ist in seinen gravierenden Formen als „Krise einer Übergangsgesellschaft“ zu interpretieren, als Folge vor allem des Bevölkerungswachstums, des allmählich sich vollziehenden Umbaues der Agrar- und Gewerbeverfassung und der Krise der „Proto-Industrie“.101 Dabei darf man die Sozialverhältnisse in der Zeit nach dieser Übervölkerungskrise keinesfalls verharmlosen. Die Weiterentwicklung des Kapitalismus mit seinem Arbeitskräftebedarf, der in der Tendenz ununterbrochene Anstieg der bald durch Düngemittel und Maschineneinsatz effektivierten landwirtschaftlichen Produktion verhindert vielmehr eine „malthusianische Katastrophe“ großen Ausmaßes. 93 Vgl. dieselben, ebenda, 26. 94 Vgl. ebenda, 310. 95 Vgl. dazu: Kroneberg, Lutz, Schloesser, Rolf: Weber-Revolte 1844. Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik und Literatur. Köln 1979, bes. 17 - 30. 96 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche...a.a.O.(=Anm. 11), 173. 97 Vgl.: Henning, Friedrich-Wilhelm: Landwirtschaft...a.a.O. (=Anm. 29), 69; zur Armutsbevölkerung dieser Jahre insgesamt die ausgezeichnete Arbeit von: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1980, 179 ff. 98 Vgl.: Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin 1965 (1.Aufl.1867), bes. 670 ff. 99 Vgl.: Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen. München 1973 (1. Aufl. 1845). 100 Gegen diese Erklärungsansätze, die jahrzehntelang sehr populär waren, wendet sich pointiert und ausdrücklich: Abel, Wilhelm: Der Pauperismus in Deutschland am Vorabend der industriellen Revolution. Hannover 1970; Derselbe: Massenarmut und Hungerkrise im vorindustriellen Deutschland. Göttingen 1972. 101 Vgl. ähnlich: Kriedte, Peter, Medick, Hans, Schlumbohm, Jürgen: Industrialisierung...a.a.O.(=Anm. 92), 310.
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Der Versuch, den „gefahrbringenden“ Charakter des Pauperismus für die bestehende, sich in einem beschleunigten Wandlungsprozeß befindende wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung realistisch abzuschätzen, führt über die Umfangsbestimmung dieses sozialen Substrats und den Hinweis auf soziale Unruhen bzw. die revolutionäre Erschütterung der europäischen Gesellschaft als Dauerprozeß hinaus. Dieses Vorhaben führt notwendig zur Frage nach den Bewußtseinsinhalten und der Bewußtseinsentwicklung der gesellschaftlichen „Unterschichten“. Auf diesem Gebiet ergeben sich erhebliche Erkenntnisprobleme. Die Mitglieder der Armutsbevölkerung gehören zu den Unbekannten der Geschichte. „Von den Armen geht alles mit ihrem Tode unter: Das Dunkel des Lebens findet seine Entsprechung im Vergessen“, so formuliert ein italienischer Historiker über die Armen in den dortigen Städten des 13. bis 15. Jahrhunderts.102 Trotz dieser ganz allgemein geltenden Problematik können aus den Ergebnissen der Sozialgeschichtsschreibung hinlänglich gültige und repräsentative Aussagen über die sukjektive Verfaßtheit zumindest eines Teils der für die sozialpolitische Entwicklung wichtigen „Unterschichten“ getroffen werden: über den „aktenkundig“ gewordenen „revoltierenden Pauper“ und über die sozialen Schichten, Gruppen und Individuen, die sich auf andere Weise (etwa als Petenten, Briefeschreiber) hervorgetan oder in das Fadenkreuz bürgerlicher bzw. obrigkeitlicher Aufmerksamkeit geraten sind. Die „Seelenverfassung“103 dieser heterogenen, weit über die Lohnarbeiterschaft hinausgehenden „Gesellschaftskreise“ und Individuen kann nur mit großer Vorsicht aus den typischerweise in Schriftform vorliegenden Quellen ermittelt werden. Unter diesem Erkenntnisproblem „leiden“ die herangezogenen Untersuchungen und dementsprechend „unsicher“ sind die folgenden Ausführungen, die sich ausdrücklich nicht auf die Pauperismusliteratur stützen,104 die dem dritten Kapitel dieser Arbeit zugrunde liegt. Diese Literatur ist nicht immer mit dem Ziel der „Wahrheitsfindung“ verfaßt worden, sie dokumentiert eine erhebliche, die Wahrnehmung verzerrende Revolutionsfurcht und ihre Aussagen zu den Mentalitäten des Paupers tragen ein schillerndes Sprachgewand, das die Erkenntnisprobleme keineswegs verkleinert. Teilweise sollen diese Schriften in erster Linie auch das Sensationsbedürfnis des lesenden Publikums befriedigen.105 Die Aktionen des „revoltierenden Paupers“ dokumentieren ein erhebliches Maß an Unzufriedenheit mit lokalen und staatlichen Obrigkeiten, insbesondere immer dann, wenn in den häufigen Notzeiten eine nur mangelhafte Hilfeleistung zur Sicherung des Überlebens sichtbar oder wenn u.a. durch Zoll- und Steuermaßnahmen die Lebenshaltung verteuert wird. Diese Unzufriedenheit äußert sich auch bei anderen Eingriffen der Obrigkeit in die Lebens- und Arbeitswelt. Sie wird gegenüber tatsächlich oder vermeintlich wucherischen Praktiken von Händlern und Lebensmittelproduzenten in Aktionen faßbar, bei Anlässen also, die tatsächlich oder vermeintlich den (Über-)Lebensspielraum der armen Menschen einengen. Ehr-, Angemessenheits- und Gerechtigkeitsmaßstäbe werden bei Auseinandersetzungen mit Handwerksmeistern, Fabrikherren, Eisenbahndirektionen und anderen „Arbeit-
102 Zit. nach: Fischer, Wolfram: Armut in der Geschichte. Göttingen 1982, 7; ähnlich: Preußer, Norbert: Not...a.a.O. (=Anm. 59), 23 f. 103 So: Sombart, Werner: Die Arbeiterverhältnisse im Zeitalter des Frühkapitalismus. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 44(1917/18), 19 - 51, hier: 26. 104 Wohl aber auf Ergebnisse der Geschichtswissenschaft, die sich dieser Erkenntnisprobleme bewußt ist. 105 Vgl. in diesem Zusammenhang: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Bettler, Gauner und Proleten. Armut und Armenfürsorge in der deutschen Geschichte. Ein Bild-Lesebuch. Reinbek bei Hamburg 1983, 8.
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gebern“ der damaligen Zeit sichtbar.106 Mitunter sind die Aktionen auch „nur“ als Ausdruck wilder, hoffnungsloser Verzweiflung zu verstehen.107 Bei den für die „Unterschichten“ typischen sozialen Unruhen spielen mithin vor allem dringende Existenzfragen, Verletzungen „gewohnheitsrechtlicher Ansprüche“ auf Existenzerhaltung eine große Rolle.108 Sie sind insofern ein Spiegelbild der sozialen Lage. Hiermit verbindet sich bei den handwerklich-“selbständigen“ Gruppen und Schichten der Paupers das Verlangen nach zünftlerischer Absicherung des Erwerbs. Es sind also im wesentlichen soziale Forderungen, Brot- und Magenfragen, die sich in den Unruhen der verarmten und wirtschaftlich bedrängten Bevölkerungsgruppen artikulieren, weniger ein offensives Verlangen nach nationaler Einheit, nach politischer Partizipation und politischer Freiheit.109 Schon im Vormärz kündet sich so die spätere Aufspaltung der revolutionären Bewegung in Träger überwiegend politischer und überwiegend sozialer Forderungen an. Zu berücksichtigen ist, daß vor allem die Lebens- und Gedankenwelt der „Unterschichten“ mit religiösen, herrschaftlichen bzw. auch mit monarchisch-patriotischen „Anhänglichkeiten“ durchwirkt ist. Inwieweit sich diese Grundbefindlichkeiten verändern, wenn sich die Lebenslage in Richtung auf den „ehrlosen Stand der Armen“ hin verschlechtert, kann kaum mehr zuverlässig rekonstruiert werden. Vermutlich kommt den „gefestigten“, nicht sensationsheischenden Auffassungen der Pauperismusliteratur, die an gegebener Stelle dargestellt werden, doch zumindest ein gewisser, erfahrungsgesättigter Realitätsgehalt zu. Der „freie Lohnarbeiter“, der perspektivisch zum „beherrschenden“ Sozialtypus der „Moderne“ werden soll, stellt im Deutschland des Vormärz eine Minderheit dar. Nicht jeder beschäftigte „freie Lohnarbeiter“ kann als Pauper angesprochen werden und der Pauperismus, die „Massenarmuth“, zieht weite, über diese soziale Klasse hinausreichende Kreise. Untersuchungen zum „Lohnarbeiterbewußtsein“, zur „spezifischen Proletarierpsyche“, die schon für den „frühkapitalistischen Arbeiter“110 und auch für spätere Arbeitergenerationen vorgenommen worden sind,111 zeigen, daß dem Pauperismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dieser Seite keine bedeutende von der Literatur über den Unterschichtenprotest übersehene, desintegrative und herrschaftsgefährdende Qualität zuwächst. Der Sozialwissenschaftler und Sozialreformer Werner Sombart unterscheidet bei seiner Untersuchung der „Seelenverfassung“ des „frühkapitalistischen Arbeiters“ zwischen arbeitsbezogenen Attitüden und Aspekten des „Klassenbewußtseins“. Werner Sombart sieht den „frühkapitalistischen Arbeiter“ noch im Bann der überkommenen „Nahrungs-, Entbehrungs- und Genußideen.“ Der Arbeitslohn habe ihm dazu dienen sollen, den Unterhalt zu beschaffen, der Prozeß der „Erziehung zum homo oeconomicus“ habe noch kaum begonnen.112 Diese anfängliche Unangepaßtheit an den neuen, den „allgemeinen Geist“ des Kapi106 Vgl. auch: Husung, Hans-Gerhard: Protest und Repression im Vormärz. Göttingen 1983, 244 ff. 107 Vgl.: Kroneberg, Lutz, Schloesser, Rolf: Weber-Revolte...a.a.O.(=Anm. 95), 12. 108 Vgl. in diesem Zusammenhang auch mit Schwerpunkt auf süddeutsche Verhältnisse: Fenske, Hans: Politischer und sozialer Protest in Süddeutschland nach 1830. In: Reinalter, Helmut (Hg.): Demokratische und soziale Protestbewegung in Mitteleuropa 1815 - 1848/49. Frankfurt a.M. 1986, 143 - 201. 109 Diese Merkmale gelten Husung als kennzeichnend für den „Gemeinschaftsprotest des Bürgertums“; vgl. denselben: Protest...a.a.O.(=Anm. 106), 247. 110 So die Ausdrucksweise bei: Sombart, Werner: Die Arbeiterverhältnisse...a.a.O. (=Anm. 103), 26. 111 Diese reichen bis auf den „heutigen Tag“ und haben aus wesentlich politischen Motiven nicht nachgelassen; vgl. etwa: Kudera, Werner u.a.: Gesellschaftliches und politisches Bewußtsein von Arbeitern. Frankfurt a.M. 1979 und die dort angegebene Literatur. 112 Vgl.: Sombart, Werner: Die Arbeiterverhältnisse...a.a.O. (=Anm. 103), 26.
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talismus, der „...wie der Schwamm das ganze Gebäude der menschlichen Gesellschaft durchfrißt“113 , wird auch in neueren Untersuchungen angenommen, wenn vom Fortwirken handwerklich-zünftlerischer Traditionen oder von der fortdauernden Bindung an Lebensformen der Agrargesellschaft die Rede ist.114 Zu dieser weitgehenden Unangepaßtheit an die Arbeitsanforderungen und den „Geist“ einer kapitalistischen, d.h. einer auf Privateigentum, Gewinnstreben, Rentabilität und Rationalismus aufgebauten, dem Konkurrenzprinzip unterworfenen Wirtschaft, treten Bewußtseinsformen und -inhalte hinzu, die die frühkapitalistische Arbeiterschaft weit vom „proletarischen Klassenbewußtsein“ eines großen Teils der späteren Arbeiterschaft entfernen.115 Religion116 und auch Berufsehre117 spielen eine im Vergleich zur späteren Zeit noch bedeutendere Rolle, „...irgend welches 'proletarisches', zwischenberufliches K las sen bewußtsein…“ fehlt, behauptet Sombart.118 Das Herkommen, die Vielfalt der anfänglichen Erwerbs- und Daseinsformen, der Strategien des Durch- und Fortkommens, die sich unter den Lohnarbeitern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden, sprechen ebenso für ein zähes Fortleben dieser Subjektstrukturen, wie die gerade erst beginnende, obrigkeitlich behinderte, frühsozialistische und kommunistische Publikationstätigkeit und Bewegung, die, Anregungen vor allem aus dem französischen und britischen Raum verarbeitend, erst sehr allmählich Einfluß gewinnt.119 Auch bei den frühen Arbeiterbildungsvereinen, bei den sich um traditionelle und neuerrichtete Unterstützungskassen scharenden Gesellenverbänden kann zu dieser Zeit weitestgehend nicht von einem „Klassenbewußtsein“ ausgegangen werden.120 Die (früh-)sozialistischen und kommunistischen Ideen, unverzichtbar für die spätere Verbreitung von „proletarischem Klassenbewußtsein“,121 sind zunächst nur Angelegenheit einer zahlenmäßig kleinen Intellektuellengruppe und einer Gruppe wandernder Handwerksgesellen,122 einer durchaus begrenzten Trägergruppe also. Die ersten Streiks und Arbeiterunruhen werden weder langfristig und kalkulierend vorbereitet, noch sind sie „ideologisch untermauert“,123 das ändert sich erst im Kräftefeld der 1848/49er Revolution. Doch auch zu dieser Zeit bleibt es eine Minderheit, die an der Klassenbewegung und an Klassenaktionen teilnimmt. Die „Unterschichten“ des Vormärz sind mithin noch allzusehr ein lediglich durch ihre Lage in der sich herausbildenden kapitalistischen Wirtschaftsform bestimmtes soziales Substrat. Noch sind selbst die dafür besonders „prädestinierten“ Fabrikarbeiter nicht zu 113 Vgl. denselben: Arbeiter. In: Vierkandt, Alfred: Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1959 (Neudruck der Ausgabe von 1931), 1 - 14, hier: 9; vgl. auch: Briefs, Goetz: Sozialform und Sozialgeist der Gegenwart. In: ebenda, 160 - 173. 114 Vgl.: Engelhardt, Ulrich, Conze, Werner (Hg.): Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage, Verhalten. Stuttgart 1979. 115 Vgl.: Dilcher, Lieselotte: Der deutsche Pauperismus und seine Literatur. Frankfurt a.M. 1957, 14. 116 So schon: Sombart, Werner: Die Arbeiterverhältnisse...a.a.O. (=Anm. 103), 28. 117 Vgl. dazu zentral: Grießlinger, Andreas: Das symbolische Kapital der Ehre. Frankfurt a.M. 1981. 118 Vgl.: Sombart, Werner: Die Arbeiterverhältnisse...a.a.O. (=Anm. 103), 28. 119 Vgl. dazu: Dowe, Dieter: Aktion und Organisation, Arbeiterbewegung, sozialistische und kommunistische Bewegung in der preußischen Rheinprovinz 1820 - 1852. Hannover 1970; Bouvier, Beatrix W.: Französische Revolution und deutsche Arbeiterbewegung. Bonn 1982, 33 ff. 120 Vgl. dazu grundlegend die folgende Arbeit: Reininghaus, Wilfried: Die Unterstützungskassen der Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter in Westfalen und Lippe (1800 - 1850). In: Westfälische Forschungen, 35(1985), 131 - 163. 121 Vgl.: Dowe, Dieter: Aktion...a.a.O.(=Anm. 119), 289. 122 Vgl.: Bouvier, Beatrix W.: Französische Revolution...a.a.O. (=Anm. 119), 43. 123 Vgl.: Dowe, Dieter: Aktion...a.a.O.(=Anm. 119), 289; vgl. auch die umfassende Aufarbeitung von: Kocka, Jürgen: Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800 - 1875. Berlin, Bonn 1983.
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einem allgemeinen Bewußtsein ihrer Lage „erwacht“. Ein durchgängiges, ein überwiegend kämpferisches Verhältnis zur „Unternehmerklasse“ fehlt, man kämpft typischerweise noch gegen den „besonders ausbeuterischen“ Unternehmer, erfaßt sein Berufs- und Lebensschicksal durchgängig noch nicht als kapitalistisch determiniert. Von einer bewußten Negation der in „nichtproletarischen Kreisen“ vertretenen Lebenswerte kann ebensowenig die Rede sein, wie von „proletarischem Gruppenstolz“ oder gar „Gruppendünkel“. Auch die Frontstellung zum Staat ist weder durchgängig noch einheitlich ideologisch bzw. theoretisch fundiert. Von einem eigenen „Gesellschafts- und Kulturwillen“ ist wenig zu spüren, dazu fehlt vor allem der organisatorische Hintergrund.124 Es ist noch ein langer Weg bis zur Entstehung und nennenswerten Verbreitung eines durchgängigen Gemeinschaftsgefühls, einer in Grundzügen einheitlichen Weltanschauung, einer eigenen Symbolik, eines ausgeprägten Wertbewußtseins, das sich mit der subjektiven Überzeugung verbindet, nicht nur eine „erniedrigte und ausgebeutete“ Klasse zu sein, sondern auch eine, der die Zukunft gehört. Ganz abgesehen davon, daß derartige Bewußtseinsinhalte und entsprechende Verhaltensweisen auch im späteren Kaiserreich immer nur annähernd und bei einem Teil der statistischen Klasse der im Kapitalismus lohnarbeitenden „Eigentumslosen“ erfüllt sind, unabhängig davon nicht selten aus subjektiver Überzeugung oder politisch-taktischen Motiven heraus als gegeben behauptet werden, fehlen damit zu dieser Zeit wichtige Triebkräfte und Angriffspunkte der späteren reichsdeutschen Sozialpolitik, die als Einheit „praktischorganisierender“ und „politisch-ideologischer Einflußnahme“125 in den Grundzügen gerade erst erdacht und nur teilweise in Vorformen auch praktiziert wird. Der Aufrechterhaltung der politischen Herrschaft dient vielmehr in erster Linie die staatliche Repression, die politische Bekämpfung aller „gefährlichen“ Bestrebungen und dies insbesondere in Preußen. Trotz aller gesellschaftlichen Spannungen und Entfremdungserscheinungen, die aus dem Pauperismus erwachsen und der vom Bürgertum ausgehenden antifeudalen und antiobrigkeitlichen Ressentiments und Kämpfe, trotz der gewaltigen Strukturveränderungen und neuartiger, für die kapitalistische Wirtschaftsform typischer Krisenerscheinungen, ist damit nicht nur ein wesentlicher Unterschied zur späteren Zeit, sondern auch zu Erscheinungen skizziert, die uns der britische Staatsmann, Schriftsteller und erste „imperialistische Sozialpolitiker“126 von „Format“, Benjamin Disraeli, in seinem 1845 erschienenen (Sozial-) Roman „Sybil“ beschreibt. Überspitzt und vereinfacht charakterisiert er das Großbritannien dieser Zeit unter dem Beifall seiner Leser als ein in „Arm“ und „Reich“, in „zwei Nationen“ gespaltenes, als zerklüftetes Land. „Zwei Nationen“, zwischen denen „...keinerlei Verkehr und kein verwandtes Gefühl besteht, die einander so wenig kennen in ihren Gewohnheiten, Gedanken und Gefühlen, als ob sie die Söhne verschiedener Zonen oder die Bewohner verschiedener Planeten wären.“127 124 Vgl. dazu: Geiger Theodor: Zur Theorie des Klassenbegriffs und der proletarischen Klasse. In: Geiger, Theodor: Arbeiten zur Soziologie. Methode - Moderne Großgesellschaft - Rechtssoziologie - Ideologiekritik. Ausgewählt und eingeleitet von Paul Trappe. Neuwied am Rhein, Berlin-Spandau 1962 (ursprünglich:1930), 206 - 259; vgl.auch: Michels, Robert: Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen. In: Grundriß der Sozialökonomik...a.a.O. (=Anm. 44), 241 - 359. 125 Dieser Doppelcharakter der staatlichen Sozialpolitik wird interessanterweise betont bei: Manz, Günter, Winkler, Gunnar (Hg.): Theorie und Praxis der Sozialpolitik in der DDR. Berlin 1979, 13. 126 Vgl. dazu: Adler, Georg: Die imperialistische Sozialpolitik - D'Israeli, Napoleon III., Bismarck - Eine Skizze. Tübingen 1887, bes. 13 ff. 127 Vgl. bei demselben, ebenda, 18; vgl. auch: Stadelmann, Rudolf: Soziale Ursachen der Revolution von 1848. In: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Moderne deutsche Sozialgeschichte. Königstein/Ts., Meisenheim/Glan 1977, 137 - 155,
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2.3 Die Sozialpolitik des Vormärz und der Revolutionszeit Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nicht nur eine Phase der sozialen und politischen Spannungen und Unruhen, der „Dekorporierung“, der Untergrabung der überkommenen ständischen Ordnung mit ihren darin eingebundenen Hilfesystemen, der endgültigen Freisetzung einer liberalen Wirtschaftsordnung, des Auseinandertretens von Staat und Gesellschaft, der Herausbildung von Klassenstrukturen und verbreiteter Verelendung. Sie ist, wie sich für Preußen zeigen läßt, auch eine Zeitspanne, die einige sozialpolitische Aktivitäten beinhaltet. Auch für die staatliche Sozialpolitik des Vormärz und der Revolutionszeit gilt, daß sie eine lange Vorgeschichte hat, und um einer „verkürzten“ Sichtweise vorzubeugen, sollen auch hier weiter zurückliegende Entwicklungen angedeutet werden, sollen Verknüpfungspunkte und Brücken zur älteren Zeit, insbesondere zur Zeit „unmittelbar davor“, geschlagen werden. Lange bevor sich staatliche Sozialpolitik ausdrücklich auch aus Staats- bzw. Herrschaftsinteressen heraus der „sozialen Frage“ im Sinne der Lohnarbeiterfrage zuwendet, ist wohl jeder Aspekt abhängiger Arbeit in der gebundenen Wirtschafts- und Sozialform der „alten Zeit“ bereits Gegenstand staatlicher (d.h. insbesondere reichsrechtlicher oder landesherrlicher) aber auch zünftiger und kommunaler Regulierung gewesen. Weder die staatliche Normierung der Arbeitszeit, der Lohnhöhe, weder sonstige arbeitsrechtliche Vorschriften, noch die die Sozialversicherung bzw. das Kassenwesen kennzeichnende Versicherungspflicht, noch Vorschriften zum Arbeiterschutz oder zur Partizipation sind in diesem Sinne im 19. Jahrhundert völlig neuartig. Gänzlich „neu“ ist auch nicht die Art des Motivs dieser staatlichen Eingriffe, der Staatszweck als bewegende Kraft.128 Die meisten dieser Regelungen sind allerdings - was nicht immer unumstritten ist durch die preußischen Reformen und entsprechende Maßnahmen in den anderen Ländern des späteren Deutschen Reiches aufgehoben worden. Die veränderten Zeitumstände haben sie unabhängig von der Frage ihrer Fortgeltung teils „unpassend“, teils „gegenstandslos“ gemacht. Schon aus diesen Gründen kann die staatliche Sozialpolitik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mit jener der „alten Zeit“ völlig gleichgesetzt werden: Die Details der Vorschriften, ihre Interventionsbereiche und Bezugspunkte haben sich teilweise erheblich verändert. Als bedeutendes sozialpolitisches Relikt dieser „alten Zeit“ und gewichtiger Vorläufer der reichsgesetzlichen Sozialversicherung hat neben den überkommenen handwerklichen und nichthandwerklichen Unterstützungskassen die Knappschaftsversicherung der Bergleute zu gelten. Durch das „Knappschaftsgesetz“ von 1767 für bestimmte Gebiete Preußens als obligatorische, staatsbeaufsichtigte und die wichtigsten Existenzrisiken umfassende Versicherung ausgestaltet, dient sie vornehmlich dem staatswirtschaftlichen Ziel der Erhaltung
hier: 145; daß andere britische Autoren der damaligen Zeit die Lage durchaus abweichend einschätzen betont: Mommsen, Wolfgang J.: Die Lage der Unterschichten in der Durchbruchskrise der industriellen Revolution in England 1825 1847. In: Mommsen, Hans, Schulze, Winfried (Hg.): Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung. Stuttgart 1981, 274 - 292, hier: 275 f. 128 Darauf weist zu Recht hin: Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus. IV. Auflage. Erster Band/Zweiter Halbband. München und Leipzig 1921, 231 ff.; einen Überblick über einen Teil der Normierungen des Merkantilismus bietet z.B.: Ebel, Wilhelm: Quellen zur Geschichte des deutschen Arbeitsrechts (bis 1849). Göttingen, Berlin, Frankfurt 1964; einen Überblick über Vorläufer partizipatorischer Gestaltung der Arbeitswelt bietet: Teuteberg, Hans Jürgen: Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Tübingen 1961, bes. 115 ff.
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eines qualifizierten, leistungsbereiten Bergmannstandes.129 Diese sozialpolitische Privilegierung führt zusammen mit anderen Privilegierungen und der besonderen Arbeits- und Lebenssituation sowie bestimmten Disziplinarmaßnahmen zu einer Verfestigung ständischer, religiöser und loyaler Orientierungen, die ihre „Epoche“ um Jahrzehnte überleben, quer zum „proletarischen Klassenbewußtsein“ stehen und auch noch fortwirken, als gegen Mitte des 19. Jahrhunderts die Sozial- und Arbeitsverhältnisse auf eine neuere „liberale“ rechtliche Grundlage umgestellt werden.130 Von besonderer und paradigmatischer Bedeutung ist in der Zeit des Vormärz die Entstehung, Verabschiedung und Wirksamkeit des „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ vom 9. März 1839.131 Dieses Kinder- bzw. Arbeiterschutzgesetz und die vorbereitenden Erlasse und Aktivitäten gelten in der heutigen Literatur geradezu als Beginn der deutschen staatlichen Sozialpolitik,132 als „erstes Dokument der preußischen Sozialstaatsidee“133 , als „erste Betätigung des Staates auf sozialem Gebiet.“134 Das Gesetz schränkt die Kinderfabrikarbeit, d.h. nur einen geringen Teil der insbesondere auch in der Landwirtschaft und dem Haus- bzw. Heimgewerbe verbreiteten und damals schon traditionsreichen Kinderarbeit ein. Obwohl unzutreffend ist, was mit den Formeln vom „Beginn“ der staatlichen Sozialpolitik suggeriert wird, daß nämlich der preußische Staat erstmals Beschäftigungsbeschränkungen ausspreche bzw. erstmals Sozialpolitik betreibe,135 ist die Bedeutung dieses Gesetzes vor allem aufgrund zweier Faktoren überragend: Zum einen wird in pointierter Weise mit diesem Gesetz der „Bannkreis (der) individualistischen Freiheitsformel“ durchbrochen,136 den preußischen, wirtschaftsliberalisierenden Reformen folgt mit großem zeitlichen Abstand ein kleines Teilstück einer gegen die unmittelbaren Erwerbsinteressen der Fabrikanten gerichteten „modernen“ staatlichen Sozialpolitik. Zum anderen sollen durch eine sozialpolitische Staatsintervention Gefahren und destruktive Auswirkungen des „freigesetzten“ Fabrikwesens (einschließlich der Berg-, Hütten- und Pochwerke) ausdrücklich wiederum (nun aber unter den Bedingungen des sich rasch entfaltenden Kapitalismus) vor allem aus Gründen der Staatsraison bekämpft werden. Die aus dem Verfahren der Gesetzesvorbereitung erhaltenen Quellen zeigen deutlich, wie der liberale Anspruch auf freie Nutzung aller Kräfte der Arbeiter in Gegensatz gerät zum Erziehung- und Wehranspruch des Staates „...wie er im Allgemeinen Landrecht mit der Schulpflicht und in der Landwehrordnung vom Februar 1813 und dem Gesetz über die allgemeine Militärpflicht vom September 1814 niedergelegt war.“137 129 Vgl.: Born, Karl Erich: Die Bedeutung Preußens für die Wirtschafts- und Sozialpolitik des deutschen Kaiserreichs. In: Hauser, Oswald (Hg.): Preußen, Europa und das Reich. Köln, Wien 1987, 313 - 329, hier: 314; vgl. auch: Thielmann, Hans: Die Geschichte der Knappschaftsversicherung. Bad Godesberg 1960, 30 ff. 130 Vgl. dazu grundlegend: Tenfelde, Klaus: Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert. Bonn-Bad Godesberg 1977, bes. 90 ff., 163 ff., 334 ff. 131 Vgl.: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1839, 156. 132 Vgl. etwa: Lampert, Heinz: Sozialpolitik. Berlin, Heidelberg, New York 1980, 125. 133 So mit Bezug auf E.R. Huber und einen ersten Erlaß: Landwehr, Götz: Staatszweck und Staatstätigkeit in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Köbler, Gerhard (Hg.): Wege europäischer Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag...Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1987, 249 - 164, hier: 260. 134 Scheuble, Julius (Hg.): Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939. Stuttgart 1957, 58. 135 Solche enthält in sehr schwammiger Form und ebenfalls verknüpft mit der Schulpflicht schon das Preußische Allgemeine Landrecht. 136 Vgl.: Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band II. Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850. Stuttgart 1960, 29 f. 137 Köllmann, Wolfgang: Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik in Preußen bis 1869. In: Böckenförde, ErnstWolfgang (Hg.): Moderne deutsche Verfassungsgeschichte...a.a.O. (=Anm. 53), 444 - 463, hier: 446.
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Die gesetzliche Normierung der Beschäftigung und Arbeitszeit der Kinder in Fabriken, die durch den ökonomisch-technischen Entwicklungsstand vorübergehend sehr profitabel wird und für die Familien der Unterschicht zu einer zusätzlichen, meist dringend benötigten Einnahmequelle geworden ist, wird häufig in einen sehr direkten und engen Zusammenhang mit der Meldung des Münsteraner Generalleutnants Heinrich Wilhelm von Horn aus dem Jahre 1828 gebracht. Dieser berichtet, daß die Fabrikgegenden wegen des vornehmlich durch die Kinderarbeit hervorgerufenen schlechten Gesundheitszustandes die vorgesehenen Rekrutenkontingente nicht mehr stellen könnten.138 Diese für die Erhaltung des Gewaltpotentials des preußischen Staates negative Auswirkung der Kinderarbeit faßt Staatskanzler Fürst von Hardenberg schon am 5. September 1817 in Worte, als er schreibt: „Wie wenig endlich Menschen, welche in der Werkstätte bei der unaufhörlichen Wiederholung eines Handgriffs erzogen wurden, geschickt sind, das Vaterland in der Stunde der Gefahr zu verteidigen, wo nicht guter Wille allein sondern Körperkraft, Geistesgegenwart, Abhärtung gegen die Einflüsse der Witterung und Leichtigkeit, sich in den ungewohntesten Lagen zu finden, über den Erfolg entscheidet, kann auch keinem Zweifel unterliegen.“ Der Staat könne Fabrikherren und Unternehmer nicht bei „Vorteilen schützen“, die „...in solchem Maße seinen höheren Zwecken entgegengesetzt sind.“139 Dieses „überraschende“ und weite Strecken der Geschichte der Sozialpolitik prägende militärische Interesse an den entsprechenden Maßnahmen, steht dabei durchaus in der Tradition des „alten Preußen“, das durch sozialinterventionistische Maßnahmen schon im 18. Jahrhundert bestrebt war, ein für Militärzwecke verschiedenster Art einsetzbares Bauerntum zu erhalten.140 Das an verschiedenen Stellen deutlich werdende und von König Friedrich Wilhelm III. aufgegriffene und nochmals artikulierte, auf die psycho-physische Verfassung der Kinder abstellende militärische Interesse,141 ist allerdings als primäres Motiv dieser preußischen Sozialgesetzgebung von der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft mit guten Argumenten zurückgewiesen worden.142 Typischerweise wird der sich aufdrängenden Einsicht, an der Wiege des „preußischen Sozialstaats“ habe vor allem ein Generalleutnant gestanden, entgegengehalten, daß andere Interessen, vor allem solche der „Kultusbürokratie“, wirksam gewesen seien, daß die Rekrutierung von Soldaten im agrarischen Osten noch schlechtere Ergebnisse gezeitigt habe und insgesamt genügend Rekruten zur Verfügung gestanden hätten.143 Es werden allgemeiner Aversionen der hohen preußischen Bürokratie gegen die „...bedenklichen Aspekte des Fabrikwesens, seine gesellschaftlichen und politischen Gefahren“ als wesentliches Handlungsmotiv angeführt.144 138 Dies insbesondere von marxistischen Autoren; vgl. z.B.: Kuczynski, Jürgen: Die Geschichte...a.a.O. (=Anm. 52), 313 ff. 139 Vgl. den Erlaß von Hardenbergs an verschiedene Oberpräsidenten sowie weitere Hinweise bei: Schulze, Wally: Kinderarbeit und Erziehungsfragen in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Soziale Welt, 9(1958), 299 - 309, hier: 307 ff. 140 Vgl. dazu ausführlich: Büsch, Otto: Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713 - 1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1981, bes. 56 ff. 141 Vgl. dazu: Anton, Günther K.: Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung bis zu ihrer Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung. Berlin 1953 (erstmals: Leipzig 1891), 51. 142 Vgl.: Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte ...a.a.O.(=Anm. 2), 258, hier auch eine erschöpfende Literaturangabe. 143 Vgl. denselben, ebenda, 257 f.; vgl. insbesondere: Feldenkirchen, Wilfried: Kinderarbeit im 19. Jahrhundert. Ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 26(1981), 1 - 41. 144 Vgl.: Kaufhold, Karl Heinrich: 150 Jahre Arbeitsschutz in Deutschland: Das preußische Regulativ von 1839 und die weitere Entwicklung bis 1914. In: Arbeit und Recht, 37(1989)8, 225 - 232, hier: 227.
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Insgesamt erfährt damit zu dieser Zeit die Kindheit und die Kinderarbeit, verstanden als „...zumindest periodisch regelmäßige un- oder angelernte Erwerbstätigkeit Untervierzehnjähriger bzw. Volksschulpflichtiger...die außerhalb eines ordnungsgemäßen Lehrverhältnisses stattfindet“145 , eine Umwertung, allerdings nur, was die Vernutzung der Arbeitskräfte in den Fabriken betrifft. Das spricht für die These der Aversion der damaligen Herrschaftsträger gegen „Auswüchse“ des Fabrikwesens. Die viel bedeutsamere Kinderarbeit jenseits dieses Bereichs wird als in jeder Beziehung weniger oder nicht gefährlich angesehen.146 Vorstöße entsprechende Schutzvorschriften auch dort einzuführen, sind im weitgehend adelig-gutsherrlich beherrschten politisch-administrativen System der damaligen Zeit chancenlos. Wenn man berücksichtigt, daß die Ausweitung des Schulbesuchs auch auf Staatszwecke und nicht völlig auf eine zweckfreie „Anlagenentfaltung“ ausgerichtet ist, bleibt trotz der Relativierung des militärischen Interesses ein erhebliches, genuines Interesse des Staates und der ihn beherrschenden Kräfte sichtbar. Das Regulativ, gegen den Widerstand (keinesfalls also auf politischen „Druck“ von unten) der auf den Zuverdienst „spekulierenden“ oder angewiesenen Eltern, zahlreicher Fabrikanten und anderer Kräfte zustandegekommen, übrigens vom ebenfalls völlig unzureichenden britischen Vorbild beeinflußt,147 leidet zunächst unter erheblichen Vollzugsdefiziten. Nicht nur, weil der Klassenbildungsprozeß kaum begonnen hat, sondern auch von dieser Seite her, ist das Kinderschutzgesetz weit von den einigermaßen systematischen Versuchen des späteren Kaiserreichs entfernt, durch Sozialpolitik bewußtseinsbildend und verhaltensändernd auf die Arbeiter einzuwirken. Das Gesetz des Jahres 1839 wird in späterer Zeit sowohl inhaltlich, als auch, was den Vollzug angeht, verbessert. Es hat für die Kinder- bzw. Arbeiterschutzgesetzgebung anderer deutscher Staaten Vorbildfunktion. Ein weiteres Anzeichen dafür, daß der Staat sich nach der anfänglichen Abkehr von der aufklärerisch-absolutistischen „Vielregiererei“ zu einer erneuten Intervention in die „gestörte Gesellschaft“ anschickt, ist darüberhinaus der Vorstoß Friedrich Wilhelm IV. von Ende 1843, durch Reaktivierung des „Schwanenordens“ einen Kreuzzug gegen „Armut und Elend“ zu unternehmen, ein Vorhaben, das damals zwar große Beachtung aber wenig praktische Wirksamkeit erlangt. Es ist nicht den Revolutionsjahren 1848/49 vorbehalten, zu sozialpolitischen Neuerungen zu führen, die mit dem „Druck von unten“ in Beziehung gebracht werden können. Praktisch ebenfalls bedeutungslos, gehört die „Cabinetsodre“ zu dieser Kategorie von Sozialpolitik, die der König von Preußen in Folge der „schlesischen Aufstände“ von 1844 am 25. Oktober desselben Jahres erläßt und durch die er die private Armenpflege fördern möchte. Sozialpolitische Ziele verfolgt schließlich auch die „Allgemeine Gewerbeordnung“ vom 17. Januar 1845. Auf mitunter beinahe unerträgliche Arbeitsumstände, auf krasse Formen der Ausbeutung und Übervorteilung gehen die Unruhen der Eisenbahnarbeiter zurück. Nicht nur um „gröblichste Störungen der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit“ präventiv zu vermeiden und aus Angst vor ausgreifenden Unruhen, sondern auch um die Funktion und den reibungslosen Weiterbau einer Einrichtung zu sichern, deren politischer und strategischer Wert in der Zeit des Vormärz bereits bekannt ist, bleibt dieser Zustand nicht ohne (sozial-) 145 So die Definition bei: Quandt, Siegfried (Hg.): Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland 1783 - 1976. Quellen und Anmerkungen. Paderborn 1987, 9. 146 Vgl.: Feldenkirchen, Wilfried: Kinderarbeit...a.a.O.(=Anm. 143),3. 147 Vgl.: Schulze, Wally: Kinderarbeit...a.a.O.(=Anm. 139), 302 f.
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politische Antwort. Diese beinhaltet die weitgehende Regelung und Unterstellung der Arbeitsverhältnisse der Eisenbahnarbeiter unter ein polizeilich-bürokratisches Regime mit einer Verordnung vom 21. Dezember 1846. Ein wahrer Mikrokosmos aus Arbeiterschutz (Kinder- bzw. Jugendlichenarbeitsverbot), Arbeiterüberwachung und „materieller Absicherung“ durch eine Krankenkasse wird festgeschrieben. Zusätzlich handelt es sich um vermutlich die erste auf den neueren „freien Lohnarbeiter“ bezogene Rechtsquelle, die eine gewählte Arbeitervertretung vorsieht.148 Mit der Revolution der Jahre 1848/49 schlägt auch nicht die große Stunde der Sozialpolitik. Sie ist in erster Linie eine bürgerliche Bewegung mit nationalen, konstitutionellen und wirtschaftspolitischen Zielen. Mit der Niederlage der Revolution erfolgt die Rekonstruktion der alten Ordnung. Diese Rekonstruktion bezieht sich auf den politischstaatsrechtlichen Bereich. Sie basiert auf Kontrolle, Überwachung, Verboten, offener Gewaltanwendung und Sanktionsdrohungen und schlägt sich in einer Fülle entsprechender Repressionsgesetze nieder. Der wirtschaftlich-soziale „Wandel“, der Bruch mit der „alten Gesellschaft“ erfährt keine Revision. Dennoch ist eine Zunahme staatlicher Regulierung, das „Weitertreiben“ einer „Sozialverfassung“ nicht zu übersehen. D.h., wenngleich die Repression der vorherrschende Zug der obrigkeitlichen Antwort auf die Revolution ist und die folgende Reaktionszeit prägt, lassen sich doch auch einige sozialpolitische „Fortschritte“ beobachten. Ein Truckverbot, ein Verbot des in vielfältigen Formen stattfindenden Verkürzens des Arbeitslohnes durch „Honorierung“ der geleisteten Arbeit mit Waren statt mit barem Geld, das in der Zeit des Vormärz auf unüberwindliche Widerstände stößt,149 kommt unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse voran. Auch auf diesem Gebiet des „Lohnschutzes“ bestehen zahlreiche Verbote der Warenlöhnung aus der Merkantilzeit,150 die angesichts des Wachstums der Gewerbe und der Auflösung der Zunftverfassung nach verbreiteter Auffassung hinfällig geworden sind. Das von zahlreichen Fabrikanten aus Angst vor Unruhen bzw. aus Konkurrenzgründen (Ausschaltung „unlauteren Wettbewerbs“) mitgetragene Projekt, mit Hilfe der Machtmittel des preußischen Staates der „mißbräuchlichen Warenlöhnung“ entgegenzutreten, das zunächst im Herrschaftssystem auf erhebliche, (wirtschafts-) liberal begründete Widerstände stößt, wird im Rahmen der „Verordnung, betreffend die Errichtung von Gewerberäthen und verschiedene Abänderungen der Allgemeinen Gewerbeordnung“ vom 9. Februar 1849 verwirklicht.151 Den Entstehungsumständen entsprechend, wird der erhoffte gesellschaftspazifizierende politische Ertrag deutlich artikuliert.152 Die Verordnung vom 9. Februar 1849 enthält mit ihren Vorschriften über „Gewerberäthe“ sogar einige „moderne“ Ansätze einer Partizipation (auch) der abhängig Beschäftigten an den sie betreffenden Fragen des Wirtschaftslebens. „In der Handwerks- und in der 148 Vgl. zum Schwanenorden die Hinweise bei: Reulecke, Jürgen: Die Anfänge der organisierten Sozialreform in Deutschland. In: Bruch, Rüdiger vom (Hg.): „Weder Kommunismus noch Kapitalismus.“ München 1985, 21 - 59, hier: 25; zur „Cabinetsodre“ vgl. auch die Auseinandersetzung zwischen „einem Preußen“ und Karl Marx in: Vorwärts. Pariser Deutsche Zeitschrift Nr. 60, 63, 64; zur Gewerbeordnung vgl.: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten, 1845, Nr. 5, 41; zu den Verhältnissen der Eisenbahnarbeiter vgl.: „Verordnung, betreffend die bei dem Bau von Eisenbahnen beschäftigten Handarbeiter“ vom 21. Dezember 1846. In: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten, 1847, Nr. 3, 21. 149 Vgl. dazu: Anton, Günther K.: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 141), 157 ff. 150 Vgl. denselben, ebenda, 162 ff. 151 Vgl.: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1849, 93. 152 Vgl.: Tilmann, Margret: Der Einfluß des Revolutionsjahres 1848 auf die preußische Gewerbe- und Sozialgesetzgebung (Die Notverordnung vom 9. Februar 1849). Diss. Berlin 1935.
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Fabrik-Abtheilung des Gewerbe-Rathes sollen die Arbeitgeber...und die Arbeitnehmer...gleiche Vertretung, jedoch mit der Maßgabe erhalten, daß das zur Erlangung der ungeraden Mitgliederzahl in jeder Abtheilung erforderliche Mitglied aus den Arbeitgebern zu wählen ist“(§ 5). Diese und andere in der Verordnung versteckte „Mitbestimmungsregelungen“, diese Einbeziehung auch von „Arbeitnehmern“ in die Sphäre staatlich regulierter Institutionen und Verfahren, findet sich ähnlich formuliert und ausgestaltet auch in der „Verordnung über die Errichtung von Gewerbegerichten“ vom 9. Februar 1849, die die Einrichtung solcher Behörden als Orte der „geregelten Konfliktaustragung“ vorsieht und die zur Vorgeschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit zählt. Gerade diese „Neuansätze“ der staatlichen Sozialpolitik stehen in einer besonders langen, in die „alte Zeit“ zurückreichenden Tradition. Die Traditionslinie verweist auf die Verwaltung der Bruderbüchsen, Laden und Innungskassen der Handwerksgesellen und die Verwaltung der Bruderbüchsen und Knappschaftskassen bei den Berg- und Hüttenleuten, an denen die entsprechenden Arbeiterkategorien Mitspracherecht besaßen. Die damaligen kassenbezogenen Organe haben dabei teilweise auch Befugnisse gehabt, die über Kassenangelegenheiten hinauswiesen und sich auf sonstige Fragen des Arbeitslebens erstreckten.153 Die „Gewerberäthe“ sind als über- und außerbetriebliche Organe allerdings anders konstruiert als die eine gewisse Mitsprache verbürgenden Kassenorgane. Deutlich wird die „Spekulation“ auf einen politischen Ertrag an folgenden Äußerungen: Zweck der Maßnahme sei es, durch die „Räthe“ dem „...regellosen Treiben der Kongresse und zahlreichen Vereine ein Ziel zu setzen“, die Bestrebungen der Gewerbetreibenden insgesamt, also nicht nur jene der Arbeiter, auf „gesetzliche Bahnen“ zu leiten.154 Der preußische Gesetzgeber rechnet mithin mit der stabilisierenden, integrierenden und neutralisierenden Funktion des Rechts und rechtlich normierter Institutionen und er rechnet gleichzeitig mit dem baldigen Versagen der in ein „inniges“ (Aufsichts-)Verhältnis zu den Kommunen und zu der Regierung gebrachten Gewerberäte, mit dem Scheitern eines Teils einer Verordnung, die dem Handwerk keinesfalls die vielfach geforderte und ersehnte Rückkehr zur Zunftverfassung bringt. Tatsächlich erleiden die Gewerberäte Schiffbruch und werden später teilweise „von oben“ aufgelöst.155 In einer Gesellschaft, die in Bewegung geraten ist, in der sich eine erhebliche Mobilität der Bevölkerung (der „kleinen Leute“ vor allem) herausgebildet hat, erweisen sich bestehende sozialpolitische Vorschriften, die auf eine weitgehend statische Welt zugeschnitten sind, als „unzeitgemäß“. Das gilt insbesondere für einige Armenrechtsvorschriften. Die Gesetze vom 31. Dezember 1842 über die Aufnahme neu anziehender Personen und über die Verpflichtung zur Armenpflege, regeln die zentralen Fragen der Unterstützungspflicht und bringen die traditionellen Hindernisse der Niederlassung an fremden Orten weitgehend in Wegfall. Die Verpflichtung der neuen Gemeinde zur Armenfürsorge tritt nun zunächst meist unmittelbar, durch Gesetz vom 21. Mai 1855 dann generell ein Jahr nach Wohnsitznahme ein.156
153 Vgl. dazu grundlegend: Teuteberg, Hans Jürgen: Geschichte der industriellen Mitbestimmung...a.a.O. (=Anm. 128), 115 ff. 154 Vgl. zu diesen Absichten: Tilmann, Margret: Der Einfluß... a.a.O.(=Anm. 152), 46. 155 Vgl.: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus 1848 - 1869. Berlin 1968, 39 ff. 156 Vgl. dazu: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter...a.a.O.(=Anm. 97), 195 ff.; Bruch, Ernst: Königreich Preußen...a.a.O.(=Anm. 87), 46 ff.
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Diese Gesetzgebung ist ganz besonders eng mit den „Befreiungstaten“ verknüpft, die in Preußen (und darüber hinaus) am „Anfang der modernen Welt“ stehen. Sie löst endgültig die an den Strukturen der weitgehend immobilen, ständischen Gesellschaft orientierte Armen- und Niederlassungsgesetzgebung der „alten Zeit“ auf. Nach diesen Gesetzen war der Unterstützungsanspruch an die Heimatgemeinde (d.h. an die Stadt- oder Dorfgemeinde bzw. den Gutsbezirk) gebunden, der man ursprünglich zugehörte, oder in die man aufgenommen war bzw. zu deren „gemeine Lasten“ man beigetragen hatte. Diese Gemeinden konnten sich mit vielerlei Mitteln gegen „fremden Zuzug“ schützen. Die allmähliche Einebnung dieser vielgestaltigen, schon vor der preußischen „Revolution von oben“ in Frage gestellten und teilweise durchbrochenen Gesetzgebung157 , begleitet und erleichtert die gewaltige Binnenwanderung und das stürmische Städtewachstum, Entwicklungen also, die schließlich dazu führen, daß die Überschußbevölkerung des Landes in die städtischen und das heißt im allgemeinen auch: gewerblichen Zentren abfließen kann. Eine Entwicklung, die das ökonomische Wachstum schließlich ermöglicht und verhindert, daß die Opfer der Massenarmut noch größer werden bzw. es in noch größerem Umfang zu sozialen Protesten kommt.158 Das preußische Staatsministerium erläutert dementsprechend den Zweck dieser Gesetzgebung159 auf Einwendungen und Gegenargumente eingehend, wie sie damals insbesondere vom rheinischen und westfälischen Landtag formuliert werden, folgendermaßen: Der frühere Zustand sei „…durch den ganzen Geist der neueren Gesetzgebung und durch den ausdrücklich erklärten Willen Sr. Majestät des Königs gänzlich abolirt.“ Jemand verlasse nur seine Heimat, wenn er woanders ein besseres Fortkommen zu finden hoffe. Die freie Wahl des Aufenthalts sei das direkteste und wirksamste Gegenmittel gegen das Verarmen. In den Händen der Ortsbehörden würde dem Zuzug aus egoistischen Gründen entgegengewirkt. Das Resultat einer solchen Regelung müsse sein: „temporaire Übervölkerung einzelner Orte; Mangel an thätigen Händen in den anderen, unverhältnismäßige Verschiedenheit in den Arbeitslöhnen, Lähmung des industriellen Fortschreitens des Einzelnen und der Nation, und Demoralisation des Volkes.“160 Eine Abänderung der „...vollkommenen Freiheit, da zu arbeiten, wo man Lohn und Gewinn von der Arbeit erwarten zu können glaubt, bedroht offenbar die Existenz eines großen Theiles der Nation.“161 Diese Gesetzgebung, die offensichtlich zunächst im Interesse der agrarischen Landesteile liegt, wo sich hohe, kaum erfüllbare und schlecht erfüllte „Hilfeansprüche“ kumulieren und wo sich „sozialer Gärungsstoff“ anhäuft, wird - wie am Beispiel der Stadt Barmen nachgewiesen worden ist - von den Vertretern der Gewerbegebiete erst vor dem Hintergrund einer Situation begrüßt, in der die Zuwanderer als „willkommene Arbeitskräfte“ benötigt werden.162 Da dieser Fall jedoch nicht überall und nicht immer vorliegt, geht die 157 Vgl. dazu: Schinkel, Harald: Armenpflege und Freizügigkeit in der preußischen Gesetzgebung vom Jahre 1842. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 50 (1963) 4, 459 - 479, hier: 462 ff. 158 Die Einsicht, daß eben auch das Armenwesen der „Wohlfahrt des sozialen Ganzen“ wegen erfolgt und vor allem verhindern soll, daß der Arme sich zu einem „...aktiven, schädigenden Feinde der Gesellschaft...“ entwickelt, betont: Simmel, Georg: Zur Soziologie der Armut. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 22 (1906) 1, 1 - 30, hier: 5. 159 Die Gesetzestexte sind wiedergegeben bei: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte...a.a.O. (=Anm. 97), 276 ff. 160 Zusammengefaßt nach: Schinkel, Harald: Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 157), 476 ff. 161 Zit. nach demselben, ebenda, 469. 162 Vgl.: Köllmann, Wolfgang: Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage“. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 46 (1959), 45 - 70.
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Diskussion um diese Fragen weiter. Die Praxis zeigt manche Abweichungen vom Inhalt und vom Geist dieser Freizügigkeits- und Armengesetzgebung. Die Konsequenz, mit der Preußen über das traditionelle Recht der Gemeinden, sich - wie es zeitgebunden und abwertend heißt - gegen „Ueberbürdung mit nahrungs- und zuchtlosen Personen“163 zu schützen, hinwegsetzt, wird nicht in allen Staaten des Deutschen Bundes geteilt. Dieser in Preußen in der konkreten Situation der Übervölkerungskrise dem agrarischen Interesse dienstbare „Geheimratsliberalismus“164 , das weitgehend herrschende Prinzip der Nichtintervention in das Wanderungs- aber auch in das Bevölkerungsgeschehen, wird vor allem in süd- und norddeutschen Ländern nicht begrüßt. Wenn und insofern sie nicht noch aus „alter Zeit“ bestehen, führt man, anknüpfend an die ältere, überwiegend unter napoleonischem Einfluß entfallene Gesetzgebung, eine restriktive Gemeinde- und Bürgerrechtsgesetzgebung durch und verknüpft sie mit Verehelichungsbeschränkungen, die teilweise erst im Zeitalter der Reichsgründung endgültig überwunden werden.165 Dieses traditionelle Palliativmittel gegen die Verarmung (eingesetzt auch in Kombination mit der den Lebensunterhalt „sichernden“ Einziehung zum Militärdienst)166 , erzwingt auf kommunaler Ebene eine einzelfallüberprüfende Tätigkeit gegenüber den heiratswilligen, handarbeitenden Unterschichtsangehörigen, die mitunter seltsame Blüten treibt, wie etwa, wenn die Heirat an eine Bürgschaft für den Verarmungsfall geknüpft wird.167 Abgesehen von diesen Extremfällen wird die Heirat in unterschiedlicher Weise meistens von den folgenden Bedingungen abhängig gemacht, von denen angenommen wird, daß sie ein Verarmen unter den Bedingungen der Heirat und einer gewissen Kinderzahl unwahrscheinlich machen: Arbeitsfähigkeit, persönliche Befähigung zu einem Beruf, der nicht schon überfüllt ist, sparsame Lebensführung, Vorhandensein einer Wohnung, der häuslichen Einrichtung und von Arbeitsgerät, Freiheit von Schulden bzw. Besitz eines Vermögens usw. Hinzu kommen allerdings auch Kriterien der „Unbescholtenheit“, „sittliche Garantien“. Zu diesen zählt die „Unbescholtenheit“ im strafrechtlichen Sinne, die freilich auch in der preußischen Armen- und Freizügigkeitsgesetzgebung eine Rolle spielt. Im Zusammenhang mit der Verehelichungs- und Übersiedlungsgesetzgebung fehlt es nicht an scharfen moralischen Verurteilungen der „Asoten“ bzw. des „Vagirens“ und der „Asotie“, auch ist von einem „tief eingewurzelten Hang zu diesen Uebertretungen“ bei bestimmten Gruppen der gesellschaftlichen Unterschichten die Rede. Dennoch ist der zeitgenössischen Publizistik und Praxis jener Sozialdarwinismus, Rassismus und Biologismus völlig fremd, der später in der Sozialpolitik des NS-Regimes eine so bedeutende Rolle spielt und hinter dem sozial abweichenden Verhalten der Unterschichten typischerweise biologische Ursachen sieht und dementsprechend in der „Rassenhygiene“ und der „Erb-
163 So die Wortwahl bei: Schüz: Ueber das Verehelichungs- und Uebersiedlungsrecht mit besonderer Rücksicht auf Württemberg. In: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, 5 (1848), 25 - 89, hier: 25. 164 So die abwertend gemeinte Begriffsbildung des jungen Bismarck; vgl.: Tilmann, Margret: Der Einfluß...a.a.O. (=Anm. 152), 44. 165 Vgl. grundlegend: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 55), 177, 268 f. 166 Vgl. zu historischen Vorläufern denselben, ebenda, 29ff. sowie: Schüz: Ueber das Verehelichungs- und Uebersiedlungsrecht...a.a.O.(=Anm. 163), 26 ff.; über die Verknüpfung mit dem Militärdienst, ebenda, 27 f. 167 Vgl. das Ausschreiben der k. Landdrostei zu Lüneburg, die Ertheilung der Trauscheine betreffend. Lüneburg, den 5. Oktober 1840. In: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, 9 (1853), 370.
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pflege“ seinen Ausdruck findet.168 Das Zeitalter Darwins hat damals noch nicht begonnen, erst am 24. November 1859 wird sein Werk über die Entstehung der Arten veröffentlicht.169 Es ist ein anderer Brite und eine andere Lehre, die im „Zeitalter des Pauperismus“ in spezifischer Rezeption eine gewisse Rolle spielt: Die Bevölkerungslehre des Thomas Robert Malthus (1766 - 1834).170 Insgesamt verfehlt diese nichtpreußische, vielkritisierte aber auch häufig angepriesene Verehelichungs- und Übersiedelungs- bzw. Niederlassungsgesetzgebung ihre Zwecke: Eine höchst bescheidene bevölkerungspolitische Wirkung wird mehr als aufgewogen durch die erheblichen Nachteile. Am Beispiel der süddeutschen Staaten wird resümiert, die gesetzlichen Beschränkungen hätten einen riesigen Verwaltungsaufwand bedingt, Streit und Erbitterung hervorgerufen, das Lebensglück vieler Menschen zerstört sowie den Anteil der unehelich Geborenen erhöht.171 Auch diese Bestimmungen gehen allmählich ihrer Anpassung an die Erfordernisse der „neuen Zeit“ entgegen. Unter den Bedingungen dieses Entwicklungsstandes staatlicher Sozialpolitik, die der Massenarmut und der stürmischen Vermehrung der unteren „Volksclassen“ kaum etwas entgegen zu setzen hat, brandet der allergrößte Teil der Mittellosigkeit mit ihren physischen und psycho-sozialen Folgeerscheinungen an die Gestade der kommunalen Sozialpolitik, des Armenwesens. Flankiert durch ein allgemein bestehendes Bettelverbot und häufig auch durch ein Verbot des „ungeregelten“ Almosengebens, konzentrieren sich in kommunaler Zuständigkeit insbesondere die materielle Unterstützung und die vielfältigen, disziplinierenden armenpolizeilichen Aufgaben.172 Für diese Zwecke werden bedeutende Teile der kommunalen Finanzen verausgabt, existieren eigene Kommissionen und bürokratische Ausformungen und bildet sich gegenüber den Armen ein spezifisches Expertentum. Das kommunale oder auf der Ebene der Landarmen-Verbände organisierte Armenwesen ist dabei mit Initiativen und Einrichtungen angereichert, die von den Kirchen, spezifischen Vereinen und Privatleuten ausgehen. Es ist zudem höchst unterschiedlich ausgestaltet, namentlich auf dem „platten Lande“ in einem völlig unzureichenden Zustand.173 Es folgt, was die Unterstützungsleistungen angeht, dem im „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 1794 festgelegten „Subsidiaritätsprinzip“.174 Die kommunale Sozialpolitik operiert während der Zeit des Pauperismus an den Grenzen der Aufnahmebzw. Finanzkapazität. Zum Armenwesen der damaligen Zeit werden auch zahlreiche Einrichtungen und Maßnahmen gezählt, die der Verarmung vorbeugen sollen und die mitunter bis weit in die Zeit des Merkantilismus zurückreichen.175 Wie bei der Verehelichungsgesetzgebung ist es deren Ziel, das Arbeitskräfteangebot und die Arbeits- bzw. Existenzmöglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen. Die „Vorbeugemittel“ werden in der Pauperismusliteratur disku-
168 Vgl. dazu: Mann, Uwe, Reidegeld, Eckart: Die nationalsozialistische „Volkswohlfahrtspflege“ - Organisatorische Entwicklung, Dimensionen ihrer Ideologie, Einblicke in ihre Praxis. In: Zeitschrift für Sozialreform, 33 (1987) 4, 229 252, Heft 5: 261 - 275. 169 Vgl. das Nachwort in: Darwin, Charles: Die Entstehung der Arten. Stuttgart 1967, 679. 170 Vgl.: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 55), 96 ff. 171 Vgl. denselben, ebenda, 95 ff. 172 Vgl. dazu: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 97), 222. 173 Vgl.: Lette, A.: Ueber den Zustand...a.a.O.(=Anm. 65), 132 ff. 174 Vgl. Titel 19. Teil IV, §§ 1 - 15. 175 Vgl. dazu mit Bezug auf das Kassenwesen: Puppke, Ludwig: Sozialpolitik und soziale Anschauungen frühindustrieller Unternehmer in Rheinland-Westfalen. Köln 1966, 82 ff., 166 ff., 182 ff., 213 ff.
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Grundstrukturen und Entwicklungstendenzen einer „gestörten“ Gesellschaft
tiert und im Zusammenhang mit der Auswertung dieser Literatur im Dritten Kapitel intensiver angesprochen. Leitlinie sowohl des vorbeugenden als auch des „nachsorgenden“, äußerst vielgestaltigen Armenwesens176 ist, wenn es sich nicht um pflegende, medizinische und hygienische Maßnahmen handelt, die der von den Armen ausgehenden Gesundheitsgefahr begegnen sollen,177 der Verweis der (arbeitsfähigen) Armen auf den Einsatz und die lohnende Verwertung der eigenen Arbeitskraft zur Existenzsicherung. Dieses Prinzip, der Verweis auf die eigene Arbeitskraft und ihre Verwertung, kennzeichnete schon das Armenwesen des Absolutismus bzw. des Merkantilismus178, das mit Hilfe der Zucht- und Arbeitshäuser im 17. und 18. Jahrhundert disziplinierend, zu Fleiß und Arbeitssamkeit „erziehend“ auf die arme Bevölkerung einwirkte und im Zusammenhang mit der staatlichen Arbeitskräftebeschaffungspolitik zu sehen ist. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich zwar einiges im Detail, nichts jedoch im Grundsätzlichen geändert. Die Armenpflege ist im allgemeinen „abschreckend“ ausgestaltet. Sie ist unter den Rahmenbedingungen des Pauperismus allerdings in besonderer Weise mit dem Problem der Aufrechterhaltung der „Arbeitswilligkeit“ befaßt. Eine unabsehbare, sich rasch vermehrende Zahl „besitzloser Menschen (Lohnarbeiter in potentia)“ existiert179 und läßt sich nicht oder nur unter Schwierigkeiten in das „naturwüchsig“ wuchernde, zunehmend kapitalistisch geprägte Arbeitsleben integrieren. Trotz dieses teilweisen Versagens der Betonung der Arbeitspflicht in einer Zeit, in der „...die ‘guten Seiten’ des Feudalismus...nicht mehr, und die des kapitalistischen Systems noch nicht wirksam...“ sind,180 wird an ihr prinzipiell unter dem „Tarnnamen“ der Aufforderung zur Selbsthilfe der Armen festgehalten. Zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin und Arbeitsbereitschaft der Unterschichten sehen sich die Träger des Armenwesens zu unkonventionellen Aktivitäten herausgefordert.181 Es kann deshalb nicht erstaunen, daß in den Not- und Hungerjahren z.B. des Berlins der Vormärzzeit das „Princip der Selbsthülfe des Armen bei der Armenpflege“ auch durch so „künstliche Mittel“ wie den „Kartoffelbau durch Arme“, die Betätigung in einer „Armen-Beschäftigungs-Anstalt“ bzw. die „Friedrich-Wilhelms-Anstalt für Arbeitssame“ angestrebt wird.182 Auf alle erdenkliche Weise soll verhindert werden, „...daß öffentliche
176 Einen Überblick über die großstädtische „soziale Infrastruktur“ der damaligen Zeit zu gewinnen, ist durch zeitgenössische Literatur erleichtert; vgl. z.B.: Lisco, Friedrich Gustav: Das wohlthätige Berlin. Geschichtlich-statistische Nachrichten über die Wohlthätigkeits-Uebung Berlin's. Berlin 1846 mit Hinweisen auf entsprechende Publikationen anderer Städte; vgl. XXIV f. 177 Vgl. dazu: Labisch, Alfons: „Hygiene ist Moral - Moral ist Hygiene“ - Soziale Disziplinierung durch Ärzte und Medizin. In: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a.M. 1986, 265 - 285. 178 Vgl. dazu exemplarisch: Marzahn, Christian, Ritz, Hans-Günther (Hg.): Zähmen und Bewahren, die Anfänge bürgerlicher Sozialpolitik. Bielefeld 1984; sowie die Beiträge in: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian (Hg.): Soziale Sicherheit...a.a.O.(=Anm. 177). 179 So: Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus...a.a.O.(=Anm. 128), 785; später wird dieser Ansatz ohne Bezug auf den historischen Vorläufer neu entdeckt und weiterentwickelt von: Lenhardt, Gero, Offe, Claus: Staatstheorie und Sozialpolitik. Politisch-soziologische Erklärungsansätze für Funktionen und Innovationsprozesse der Sozialpolitik. In: Ferber, Christian von, Kaufmann, Franz-Xaver (Hg.): Soziologie und Sozialpolitik. Opladen 1977, 98 - 127; danach ist er vielfach in der historischen Sozialpolitikforschung angewendet worden; so auch von: Sachße/Tennstedt. 180 In Anlehnung an Marx: Dilcher, Lieselotte: Der deutsche Pauperismus...a.a.O. (=Anm. 115), 5. 181 Lisco, Friedrich Gustav: Das wohlthätige Berlin...a.a.O. (=Anm. 176), XIV. 182 Vgl. denselben, ebenda, XIV, sowie: 91, 94, 146.
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Unterstützung zur attraktiven Alternative gegenüber der im Zuge der Industrialisierung sich immer mehr verallgemeinernden Lohnarbeit wird.“183 „Arme Leute“ unterliegen während der Zeit des Vormärz (und teilweise erheblich darüber hinaus) einer vielfältigen Diskriminierung, die bedeutend weitergeht als die Diskriminierung des Bürgertums im politischen Aufbau der damaligen Zeit. Im Gegensatz zu den bessergestellten Bürgern, die sich in „alten“ oder „kranken Tagen“ aus dem Vermögen erhalten können, gehören die gesellschaftlichen Unterschichten nicht nur einfach zur „untersten Versorgungsklasse“, sind nicht nur „lediglich“ von Hunger (und Verhungern), schlechter Behausung, Obdachlosigkeit und einem Mangel an Gütern des alltäglichen Lebensbedarfs betroffen. Die Inanspruchnahme der Armenunterstützung setzt vielmehr eine peinliche Überprüfung des körperlichen und psychischen Zustandes voraus, die Privatsphäre wird in einigen Ländern umstandslos aufgehoben, abhängige Arbeit muß - soweit vorhanden - um jeden Preis und zu allen Bedingungen angenommen werden, der Verdacht der „Arbeitsscheu“ wird der ständige Begleiter des Paupers. Die Unterstützung ist nach Höhe und Art nicht festgelegt, variiert dementsprechend von Ort zu Ort. Es besteht kein Rechtsanspruch auf Hilfe. Daraus ergibt sich, daß ein Rechtsschutz des Hilfeempfängers gegenüber dem Orts- bzw. Landarmenverband nicht gegeben ist. Wegen der Unterstützungspflicht-, Verehelichungs-, Niederlassungsgesetzgebung, wegen der Bettelverbote ist der Kontakt der Armen zu den Ortsmelde- und Polizeibehörden in örtlich und zeitlich unterschiedlichem Maße mehr oder weniger eng und von Eingriffen gekennzeichnet.184 Hinzu tritt eine allerdings auch das Bürgertum, das ganze intellektuelle und politische Leben erfassende Überwachung, eine Zensur und ein Streikverbot.185 Die Unterschichten des Vormärz, erst recht die Empfänger öffentlicher Armenunterstützung, haben in den unterschiedlichen Wahlrechtsordnungen der Staaten des Deutschen Bundes eine inferiore Stellung. Im allgemeinen ist das aktive und passive Wahlrecht der damaligen Zeit an Grundbesitz gebunden: „Nur dem großen Grundeigenthum hatte man theils erhebliche eigene Stimmen in der Ständeversammlung, theils unmittelbare einfache Wahlen gegeben, bei dem kleinen Grundeigenthum und dem städtischen Gewerbe aber mittelbare und doppelte Wahlen eingeführt, wodurch nun ein dreifacher Wahlcensus: a) der Wahlberechtigten bei der Wahl der Wahlmänner, b) der Wahlmänner und c) der Deputierten entstand... Außerdem band man in den meisten Staaten das Wahlrecht, in vielen auch die Wählbarkeit an den Stand, letztere bisweilen auch noch an den Bezirk.“186 Die „Preußische Städteordnung“ von 1808 kennt Bürgerschafts-, Einkommens- und Vermögensregelungen. Einkommensschwache Personen, Empfänger von Armenunterstützung (und auch: Frauen) sind von politischer Mitwirkung an Angelegenheiten der „örtlichen Gemeinschaft“, die für ihre Lebensumstände entscheidend sind, weitgehend bzw. völlig ausgeschlossen.187 Der völlige Ausschluß der offiziell unterstützten Armen von jeder 183 Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte...a.a.O. (=Anm. 97), 15. 184 Vgl. dieselben, ebenda, 207 ff.; 212f.; vgl. umfassend: Kraus, Antje: Die rechtliche Lage der Unterschicht im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. In: Mommsen, Hans, Schulze, Winfried (Hg.): Vom Elend der Handarbeit...a.a.O.(=Anm. 127), 243 - 258. 185 Vgl. etwa: Tenfelde, Klaus u.a.: Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Köln 1987, 26 ff. 186 Wahl, Wahlrecht, Wahlverfahren. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon. In funfzehn Bänden. 15. Band, zweite Abtheilung. 10., verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig 1855, 25 - 27, hier: 26. 187 Vgl. die §§ 74, 84, 85 der Städteordnung.
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politischen Willensbildung wird zu einer Tradition, die auf Gemeinde-, Landes-, Bundesbzw. Reichsebene fortdauert. Ständische Ordnungen und sozialökonomische Ungleichheiten spiegeln sich so noch lange in einer politischen Ordnung, in der der „ehrlose Stand der Armen“ keinen Platz hat.188 In erheblichem Maße, so läßt sich mit Blick auf Preußen resümierend zusammenfassen, hat der Staat der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die von ihm selbst beschleunigten Fundamentalvorgänge der „neuen Zeit“, auf die Herausbildung pauperisierter Unterschichten und auf die wachsende, ebenfalls teilweise pauperisierte „freie Lohnarbeiterschaft“ bzw. auf die soziale Lage der „Lohnarbeiter in potentia“ kaum sozialpolitisch „angemessen“, d.h. Spannungs- und Desorganisationsprozesse ausgleichend, reagiert. Für die anderen Staaten des Deutschen Bundes gilt dies ebenfalls. Das Grundproblem der Gesellschaft der damaligen Zeit, die Übervölkerung, wird weder von der einen, noch von der anderen Seite her gelöst. Das generative Verhalten wird durch Regierungsmaßregeln höchst unvollkommen oder gar nicht beeinflußt, andere Maßnahmen zur Ausgleichung von Bevölkerung und ökonomischen Möglichkeiten (etwa: Erweiterung der Fläche des kultivierten Bodens) sind ebenfalls wenig erfolgreich. Eine die „explodierende“ Bevölkerung tragende, integrierende und genügend Reichtum hervorbringende Ökonomie läßt sich durch staatliche Maßnahmen zwar ermöglichen und fördern, aber nicht unmittelbar und in angemessener Dimension „herbeizwingen“. Jede auch noch so konzeptionell „ausgebaute“ Sozialpolitik hätte hier ihre Grenzen gefunden und wäre unter diesen Bedingungen in Gefahr geraten, ihre Zwecke zu verfehlen. Die „Umbrüche“, „Übergänge“ und „Störungen“ im Gesellschaftsaufbau und in der Entwicklungsdynamik der damaligen Zeit und die ergriffenen armenpflegerisch-sozialpolitischen Maßnahmen bilden die Entstehungsursache und den Gegenstand einer ursprünglichen sozialpolitischen Debatte. Diese beginnt mit der Bildung von Begriffen und relativ „einfachen“ Ansichten und stößt in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einer zeitgebundenen mehr oder weniger tragfähigen Interpretation und Analyse des „Pauperismusproblems“ vor. Sie macht auch weitreichende und differenzierte Vorschläge zur „Bewältigung“ dieser Entwicklungsstörung. Diese Debatte über Grundstrukturen und Entwicklungstendenzen einer Gesellschaft, die aus sich heraus gravierende Desorganisationserscheinungen hervorbringt, gelangt mitunter zu durchaus plausiblen Aussagen, die mit der im vorigen vorgenommenen Gesellschaftsbeschreibung nur schwer oder nicht vereinbar sind bzw. die dort nicht angesprochen werden. Inwieweit diese Kluft durch intensivere Forschung im Sinne der Aussagen der ursprünglichen sozialpolitischen Debatte zu schließen ist, muß dahingestellt bleiben.
188 Vgl.: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte... a.a.O.(=Anm. 97), 212 f.; einen kurzen Überblick über die Wahlrechtssysteme und den politischen Aufbau deutscher Staaten bietet: Conze, Werner: Sozialgeschichte 1800 1850. In: Aubin, Hermann, Zorn, Wolfgang (Hg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Stuttgart 1976, 426 - 494, hier: 459 ff.
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3 Die sozialpolitische Diskussion vom Beginn bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts
„Nichts ist conservativer als das Prinzip der Reform, und Nichts leistet revolutionären Bestrebungen mehr Vorschub, als das blinde Festhalten am Alten. Zwar werden Arbeiter-Aufstände, wenn solche (was Gott verhüten wolle!) auch unser jetzt so friedliches Vaterland heimsuchen sollten, wohl ohne viel Mühe erdrückt werden können; aber Siege, wie die von Lyon, Manchester, Birmingham, Bristol u.s.w. haben ihre Gefahren und bringen einer Regierung nur wenig Ehre.“ 1 „In sofern hat man freilich Recht, das auf einmal erwachte Streben nach Reformen als eine Folge der französischen Revolution anzusehen, indem durch sie dergleichen Ideen geweckt wurden. Aber irrig verwechselt man diesen Reformationsgeist, der blos ein aufgeklärteres Zeitalter charakterisirt, mit dem Revolutionsgeiste, was denn verleitet, selbst solche, welche weiter nichts begehren als vernunftmäßige, dem jetzigen Stand der Cultur und Civilisation angemessene Verbesserungen, für Revolutionäre zu halten. Jene sind gleichwohl gerade das Gegentheil von diesen, nämlich die ächten und wahrhaften C o n s e r v a t i v e n .“ 2 „Eines der größten Uebel für die menschliche Gesellschaft sind unversorgte Arme, sie sind dem Staat eben so gefährlich, als der Moralität nachtheilig. Den v e r m ö g l i c h e n B ü r g e r n l e b t i n i h n e n ... e i n e w i g e r F e i n d ... und vermehrt sich diese Menschenkaste mit ihren Unterabteilungen, den Bettlern und Vagabunden ... so muß öffentliche Sicherheit im Staat ein leerer Name werden, der ruhige Bürger in seiner Hütte vor diesem Feind zittern, der unbekannt um ihn haust und dem Strafgesetze und Sicherheits-Maasregeln vergebens entgegengesetzt werden, da die Noth keine Gesetze kennt ...“ 3
3.1 Erste „klassische“ Ansätze der sozialpolitischen Diskussion Revolutions- und Konflikterfahrungen sowie Revolutions- und Konfliktfurcht verbunden mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Veränderungsverlangen lassen schon bald nach dem Jahre 1789 in Deutschland eine erste sozialpolitische Diskussion aufkeimen. Ähnlich jenem Gedanken von einer „Revolution im guten Sinne“ (von Hardenberg), entstehen auf das beunruhigende Phänomen des Pauperismus bezogen aber auch darüber hinaus greifend Konzeptionen, die „diesseits des Rheines“ den Weg einer allmählichen, gewaltlosen, berechenbaren Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse begrifflich umreißen. Mit der preußischen „Revolution von oben“ und entsprechenden Maßnahmen in anderen Staaten sieht das angesprochene Veränderungsverlangen sein Ziel keinesfalls erreicht.
1 C.F.G.: Der Pauperismus und dessen Bekämpfung durch eine bessere Regelung der Arbeitsverhältnisse. In: Deutsche Viertel-Jahrschrift, 1844, 315 - 340, hier: 323. 2 Murhard: Reform (politische). In: von Rotteck, Carl, Welcker, Carl (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften... 13. Band. Altona 1842, 594 - 620, hier: 601. 3 Gaum, Friedrich Wilhelm: Praktische Anleitung zu vollständigen Armenpolizei-Einrichtungen. Heidelberg 1807, 1 f.
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Die sozialpolitische Diskussion vom Beginn bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts
Diese Konzeptionen sind untrennbar mit der Wiederbelebung und positiven Wertung eines althergebrachten, im kirchlichen und außerkirchlichen Sprachgebrauch mit verschiedenen Sinngehalten gefüllten Wortes verbunden, das in seiner heutigen Bedeutung sehr geläufig ist und in dieser Form verschiedentlich im Text auch schon benutzt wurde. Lange vor der Popularisierung des Begriffs der „socialen Politik“ bzw. der „Social-Politik“ (aber auch der unter dem NS-Regime gebräuchlichen Begriffe „nationale Arbeit“, „Arbeitsehre“) durch den konservativen Volkskundler Wilhelm Heinrich von Riehl (1823 - 1897)4, ist es der historische Begriff (und das historische Konzept) der Reformation bzw. Reform, später auch: der „Socialreform“5, dem ausschlaggebende Bedeutung zukommt. In seinem Werk „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, ist es der Augenzeuge der Revolution von 1789, Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835), der bekennt: „Wenn es nun schon ein schöner, seelenerhebender Anblik ist, ein Volk zu sehen, das im vollen Gefühl seiner Menschen- und Bürgerrechte seine Fesseln zerbricht; so muss - weil, was Neigung oder Achtung für das Gesez wirkt, schöner und erhebender ist, als was Noth und Bedürfniss erpresst - der Anblik eines Fürsten ungleich schöner und erhebender sein, welcher selbst die Fesseln löst und Freiheit gewährt, und diess Geschäft nicht als Frucht seiner wohlthätigen Güte, sondern als Erfüllung seiner ersten, unerlasslichen Pflicht betrachtet.“6 Diese Gedanken, im Jahre 1792 niedergeschrieben, mit ästhetischen Kategorien ausgestaltet und mit der für Humboldt typischen aufgeklärten Freiheitsidee verbunden, lassen die Ablehnung der Revolution als „Umgestaltungsweg der Geschichte“ deutlich erkennen, eine Ablehnung wegen der „mannigfaltig nachtheiligen Folgen“, wie es im Text heißt. Im Umfeld dieser Überlegungen benutzt er den Begriff und ein Konzept der „Reform“ im Sinne einer allmählichen, „von oben“ inszenierten Umgestaltung. Maßnahmen zur Förderung des „positiven Wohlstandes der Bürger“ lehnt er ab, der herrschaftsstabilisierende und „gefahrenabwehrende“ politische Ertrag derartiger Staatsinterventionen kommt nicht gebührend in den Blick. Ähnlich argumentiert ebenfalls schon im Jahre 1792 der Theologe und Schriftsteller Johann Gottfried von Herder (1744 - 1803). Er sieht bereits in der „vernünftigen Evolution der Dinge“ ein Mittel, der Revolution „am sichersten“ zuvor zu kommen.7 In der Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts formuliert der Philosoph Immanuel Kant im Zusammenhang mit bildungstheoretischen Überlegungen auch die Frage, in welcher Ordnung allein ein Fortschritt zum Besseren erwartet werden kann: „...nicht durch den Gang der Dinge von un ten h in auf , sondern von ob en h er ab “, nach einem überlegten Plane der obersten Staatsmacht „...wozu wohl gehören möchte, daß der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst refomiere und, statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite.“8 4 Vgl.: Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. 4 Bände. Stuttgart 1854 - 1869; der Gebrauch des Wortes geht noch weiter zurück; seit 1848 existiert ein Verein für sozial-politische Reform; vgl.: Programm des Vereins für sozial-politische Reform. Berlin 1848; von (nicht nur) terminologischem Interesse ist auch: Fröbel, Julius: System der socialen Politik. Mannheim 1847; vgl. zu den Begriffen „nationale Arbeit“ und „Arbeitsehre“: Riehl, Wilhelm Heinrich: Die deutsche Arbeit. Stuttgart 1861, 23 ff.; 55 ff. 5 Zur Begriffsgeschichte vgl. das Stichwort „Reformation“ in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Achter Band. Leipzig 1893, Sp. 492. 6 Zit. aus: Leitzmann, Albert (Hg.): Wilhelm von Humboldts Werke. Erster Band 1785 - 1795. Berlin 1903, 101 f. 7 Vgl.: Koselleck, Reinhart: Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg. In: Brunner, Otto, Conze, Werner, Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1984, 653 - 788, hier: 749 f. 8 Kant, Immanuel: Der Streit der Fakultäten. Hamburg 1959, 92 f.
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Auf der Lexika- und Wörterbuchebene läßt sich für die 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts und erst recht für die spätere Zeit greifen, daß die Reformdebatte an Differenziertheit und an Inhalten deutlich gewonnen hat. Mit drohendem Unterton gegen die Mächte der Beharrung und des „Rückschritts“ werden Zustände politischer und gesellschaftlicher Art benannt, die nach der Auffassung der jeweiligen Autoren zur Revolution führen, falls man sich nicht rechtzeitig im Wege der Reform zu einer Abänderung entschließen sollte. In der „Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände“ aus dem Jahre 1830 ist in geradezu klassischer Formulierung zu lesen, politische Revolutionen bzw. Staatsumwälzungen seien „...unvermeidlich, wenn ein bedeutendes Mißverhältnis zwischen den Kräften, von deren harmonischem Zusammenwirken das politische Leben eines Volkes abhängt, eingetreten ist... Will man also den Revolutionen vorbeugen, so kann dies nur durch allmähliche und zeitgemäße Änderungen geschehen, durch welche die Verfassung und Verwaltung eines Staates der jedesmaligen Bildungsstufe und den daraus hervorgehenden Bedürfnissen des Volkes entsprechender gemacht wird.“9 Der antirevolutionäre Charakter und in diesem Sinne der „konservative Instinkt“ (K. Pribram) der frühen Reformdebatte wird auch dadurch deutlich, daß die Revolution in diskreditierender Weise mit „Gewalt“, „Verfassungsund Rechtsbruch“ usw. assoziiert wird. Eingriffe in das „Gebiet des Gewissens und der Überzeugung“, die Verweigerung eines freieren „politischen Lebens“,10 das „...drückende Gefühl des Uebergewichts einzelner Aemter, Classen oder Stände...“, die Vernichtung von „geltenden höchsten Regeln des Volkslebens“ unter Anwendung einer „nicht gesetzmäßigen Gewalt“,11 einem „...früheren, rohen Zeitalter entstammte Einrichtungen, Gesetze und Institute, welche den Stempel der Verkehrtheit und Unnatur an sich tragen...“,12 der ausgeprägte Widerspruch „...zwischen den politischen Trieben und Verlangen einer Nation und der Staatsform, der sich zur Unerträglichkeit steigert; also ein unorg an ischer Zustand, der eine Verstimmung des Staatskörpers verursacht...“, ein anders nicht abwendbarer „No th zus tand des Volkes...“13 gelten als weitere Ursachen der Revolution und werden als reformbedürftige Zustände hingestellt. Häufig ist auch von Willkür, Vermehrung „lästiger Auflagen“ gegenüber einem zur „Mündigkeit herangereiften Volk“ als Voraussetzung einer Revolution die Rede. Ganz im Sinne der zitierten Autoren aus der Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert werden Reformen begriffen als von Staats wegen durchgeführte, gewaltlose „...Maßregeln zur Fortbildung des öffentlichen Lebens, zur weiteren Entwicklung und Erhöhung der sinnlichen und geistigen Cultur des Volkes.“ Die Reform sei, ihrem Wesen nach, „...nichts Anderes, als Verbesserung u. Vervollkommnung in der Verfassung, Regierung und Verwaltung, so wie sie von den Fortschritten des Volkes nach allen Richtungen seiner Bildung u. Gesittung gefordert wird.“14 Die rechtmäßige Reform sei dadurch ausgezeichnet, daß sie durch die „zuständigen Autoritäten“, in „verfassungsmäßiger Form“ ein9 Stichwort: Revolution. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (ConversationsLexikon). In zwölf Bänden. Neunter Band. Siebente Originalauflage. Leipzig 1830, 234 - 236, hier: 235. 10 Vgl. ebenda, 235. 11 Vgl.: S.: Revolution. In: Rotteck, Carl von, Welcker, Carl (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften... 13. Band. Altona 1842, 722 - 740, hier: 722. 12 Vgl.: Stichwort: Reform. In: Allgemeine Realencyklopädie oder Conservationslexicon für das katholische Deutschland. Achter Band. Regensburg 1848, 688 - 690, hier: 689. 13 Vgl. Bluntschli, (Johann Caspar): Revolution und Reform. In: Bluntschli, J.(ohann) C.(aspar), Brater, K.(arl) (Hg.): Deutsches Staats-Wörterbuch. Achter Band. Stuttgart und Leipzig 1864, 605 - 610, hier: 607. 14 Stichwort „Reform“ ...a.a.O.(=Anm. 12), 688.
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geführt werde, „...daß sie auch in ihrem I nhalt Ma ßha lte , und sich begnüge, das wirklich Veraltete zu beseitigen, aber das noch Lebensfähige in den hergebrachten Zuständen schone und bewahre indem sie für die neuen Zeitbedürfnisse sorge, doch das möglichst im Anschluß an das alte Recht thue.“15 Die Durchführung der Reform, das Überflüssigmachen einer Revolution, wird als „Beruf“ der Regierung,16 als „erste Pflicht eines Staatsmannes“ angesehen.17 Diese Aussagen zum Verhältnis von Revolution und Reform im Deutschland der Jahre nach dem Epochenereignis der Französischen Revolution von 1789 machen deutlich, daß sich der Blick dieser Autoren überwiegend auf Zustände und Aktivitäten des von den Kräften der Feudalgesellschaft beherrschenden Staates richtet und daß hier Änderungen, politische Reformen also, eingefordert werden. Es ist das Vorherrschen der typischen Sichtweise bestimmter Vertreter des um seine Emanzipation und um Partizipation kämpfenden Bürgertums, das die eigene Wünsche als mögliche Revolutionsursache hinstellend, gegen die „Schlacken“ der „alten Gesellschaft“ kämpfend, die „von unten“ drohende „Gefahr“ meist nur illustrativ aber nicht systematisch in die Analyse einbezieht. Die entsprechenden politischen Reformvorschläge werden „verständlicherweise“ von den Vertretern des „Reaktionssystems“, der „Stillstands-Partei“, den Nutznießern und Anhängern der „alten politischen Ordnung“ als revolutionär denunziert.18 Es ist dies eine Art der Denunziation, die später über Jahrzehnte ständiger Begleiter staatlich-sozialpolitischer Initiativen sein wird. Einer der zitierten Texte macht allerdings eine bemerkenswerte Ausnahme. Die Gesellschaft ausdrücklich nicht in ständischen Kategorien, sondern als beginnende Klassengesellschaft einschließlich der „Klassenkämpfe“ beschreibend, die Entstehung des Kommunismus aus der politischen und sozialen Ordnung ableitend, in Andeutungen die bekannte marxistische „Geschichtsgesetzlichkeit“ vorwegnehmend, die die Geschichte als „Geschichte von Klassenkämpfen“ interpretiert, formuliert ein anonymer Verfasser zu Beginn der 40er Jahre: „Allein das gerade ist der Inhalt der Geschichte, daß ein großer socialer Gegensatz stets nur verschwindet oder sich mildert, indem ein neuer erzeugt wird. So ist in jüngster Zeit der allgemeine Gegensatz von Reichen und Armen, so wie besonders derjenige von Capitalisten und Arbeitsherren auf der einen und von industriellen Arbeitern aller Classen auf der anderen Seite, viel schroffer und fühlbarer geworden und daraus eine Opposition entstanden, die bei der verhältnismäßig stärkeren Zunahme der industriellen Bevölkerung ein stets drohenderes Ansehen gewinnt. Damit im nahen Zusammenhange stehen die neuen Privilegien, welche die Ausübung des activen Staatsbürgerrechts an den Besitz eines gewissen Vermögens oder an einen Census knüpfen, der fast überall so hoch gegriffen ist, daß dadurch nicht blos die besitzlosen Proletarier, sondern auch ein großer Theil der Gebildeten und ökonomisch Selbständigen in eine willkürlich neugeschaffene Classe politischer Heloten geworfen werden. Diese Bevorzugung des materiellen Vermögens, dieser moderne Götzendienst des goldenen Kalbs im Staate und du rch den Staat, mußte nothwendig auf der anderen Seite jene communistische Lehre erzeugen, die a lle s Privateigenthum als widernatürliches Vorrecht verwirft. Auch gegen dieses neu drohende Uebel hat 15 Bluntschli: Revolution...a.a.O.(=Anm. 13), 605. 16 Vgl.: Murhard: Reform...a.a.O.(=Anm. 2), 603. 17 Vgl.: Bluntschli: Revolution...a.a.O.(=Anm. 13), 609. 18 Illustrative Ausführungen zum geistig-politischen Klima und zu den Unterdrückungsmaßnahmen dieser Zeit finden sich unter dem Stichwort „Reaction“ z.B. im Staats-Lexikon...a.a.O.(=Anm. 2), 423 - 466.
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man sich schon in mancherlei Reformen versucht ... Allein wird dies alles genügen, um wiederholten Ausbrüchen der Unzufriedenheit vorzubeugen? Die Reformen, die der französischen Revolution vorangegangen waren, hatten diese nicht verhindern können.“19 Damit fällt Licht auf eine in den 1840er Jahren schon hochentwickelte Sozialreformdiskussion. Legt man die Werke bekannter Gesellschafts- und Staatstheoretiker zugrunde, so finden sich nun schon als sozialpolitisch zu bezeichnende Auffassungen und Denkansätze bei Johann Gottlieb Fichte (1770 - 1831). Dieser erkennt in seinem erstmals im Jahre 1800 publizierten und noch im Bannkreis typisch merkantilistischer Ideen stehenden „geschlossenen Handelsstaat“ bereits die schädigende Wirkung der rücksichtslosen Konkurrenz. Er fordert ein „Recht auf Arbeit“ und ein vom Staat garantiertes Existenzminimum. „Staatssozialistisch“ argumentierend, betrachtet er diese „sozialen Rechte“ als Voraussetzung und als Garantie gesellschaftlicher und staatlicher Stabilität. Auch der Vertreter der romantischen Schule der Philosophie, Adam Müller (1779 - 1829), kritisiert die von ihm erkannten krisenhaften Gesellschaftszustände. Er sieht in seinen „Elementen der Staatskunst“ aus dem Jahre 1809 die Befestigung einer ständischen Gesellschaft als „ewiges Schema“ aller „wahren Staatsverfassung“ und als Garantie der Dauer und Macht an. In seinen „Schriften zur Staatsphilosophie“ von 1820 befürchtet er bereits den Zerfall der Gesellschaft in ein „taxenzahlendes Arbeitervolk“ und ein „müßiges Kapitalistenvolk“. Von besonderer Bedeutung ist die Sichtweise und Aufmerksamkeitsorientierung, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831) in die Diskussion einbringt. Sein Denken bezieht sich in der zuerst 1821 erschienen Rechtsphilosophie ausdrücklich auch auf die Krisen und Turbulenzen der freigesetzten „neuen Gesellschaft“. Hegel beschreibt die „bürgerliche Gesellschaft“ als ein von „Gegensätzen“ geprägtes „System der Bedürfnisse“. Diese Gesellschaft, bemerkt er, „...bietet in diesen Gegensätzen und ihrer Verwicklung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar.“ 20 Auch Hegel beschreibt die neuentstehende Gesellschaft aufgrund ihrer Funktionsprinzipien als in Klassen gespalten. „Er sieht in dieser Gesellschaft einen Kampf der gesellschaftlichen Klassen um die innere Berechtigung der bestehenden politischen und sozialen Ordnung angelegt.“ 21 Hegel qualifiziert die politischen Gefahren, die vom „Pöbel“ ausgehen, folgendermaßen: „Die Armuth an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armuth sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“22 Der „verworrene Zustand“ der bürgerlichen Gesellschaft könne nur durch Staatshilfe „zu seiner Harmonie kommen.“23 Damit ist auch bei Hegel eine typisch sozialpolitische Denkfigur ausgeprägt, die politische Bedeutung des „subjektiven Faktors“ (in der „Armenliteratur“ übrigens schon lange geläufig) nunmehr auch in die „große Theorie“ aufgenommen. Nicht zuletzt mit Blick auf die Entwicklungen in Frankreich und die französische Literatur gehört in Deutschland schon zu Beginn des 19. 19 S.: Revolution...a.a.O.(=Anm. 11), 736 f. 20 Vgl.: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsgg. von Johannes Hoffmeister. 4. Aufl. Hamburg 1955, 166. 21 Blasius, Dirk: Konservative Sozialpolitik und Sozialreform im 19. Jahrhundert. In: Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (Hg.): Rekonstruktion des Konservatismus. Freiburg 1972, 469 - 488, hier: 471. 22 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrechts und Staatswissenschaft im Grundrisse. In: Derselbe: Sämtliche Werke. Band 7. Stuttgart 1952, 318 f.; zit. nach: Blasius, Dirk: Konservative Sozialpolitik...a.a.O. (=Anm. 21), 471. 23 Vgl.: Blasius, Dirk: Konservative Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 21), 472.
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Jahrhunderts die von Herder bereits 1792 erkannte Dialektik von Reform und Revolution „...zu den sehr wichtigen (Themen, E.R.) in der Wissenschaft der Politik...“ 24 Von schlechthin überragender Bedeutung für die Entwicklung sozialpolitischer Konzeptionen ist das Werk des Hegelianers Lorenz von Stein (1815 -1890)25 und zwar sowohl in theoretischer als auch in begrifflicher Hinsicht. Am Paradigma der „...Entwicklung Frankreichs zeigt er das innere Baugesetz und die daraus hervorgehenden Bewegungslinien, welche für eine politisch-soziale Wirklichkeit, die sich auf den Prinzipien von 1789 erbaut, bestimmend sind.“26 Er erkennt mit der ihm eigenen Vorliebe zu Abstraktionen und Kategorienbildungen, daß jede Gesellschaft, die auf Rechtsgleichheit und individueller Freiheit beruht, ihre Ordnung und das heiße immer: ihre „Ober- und Unterordnung“, aus dem „Besitz“ gewinnt: „Sowie die Rechtsgleichheit eintritt, wird der Besitz als das einzige Gebiet, auf welchem sich die Ungleichheit und mit ihr die Ordnung der Gesellschaft entwickeln kann, das eigentlich positive, bildende Element in der Gesellschaft.“27 Die Rechtsgleichheit werde zum Schutz gegen jeden anderen Unterschied als den des „erwerbenden Besitzes“. Hieraus leitet von Stein die Entstehung des „Unternehmens“ mit seinen beiden „Hauptelementen“, dem „Unternehmer“ und dem „Arbeiter“ einschließlich der wechselseitigen Abhängigkeiten und Unfreiheiten, schließlich die „volkswirtschaftliche Gesellschaft“ sowie auch die „industrielle Gesellschaft“ ab.28 Aus diesem Grundverhältnis resultieren für von Stein die soziale Bewegung des Proletariats und die Lehren des „Communismus“ und „Socialismus“. Diese Lehren würden eine Radikalisierung des Freiheits- und Gleichheitsprinzips beinhalten, etwa in Form des kollektiven Eigentums in Produktionsgemeinschaften, in Gütergemeinschaften usw. Solche Perspektiven lehnt von Stein ebenso ab, wie eine Umgestaltung „von unten“.29 Die „Wissenschaft der Gesellschaft“ führe notwendig dahin „...die Erhebung und Veredelung der G e s e llsch af t zu einer selbständigen Aufgabe des Staates zu machen, und für diese Aufgabe selbst wieder eigene Regeln und Gesetze zu entwickeln.“30 Schon in seiner 1842 erschienen Jugendschrift sieht von Stein das aufkeimen, was das den französischen Ideen anhängende „neuzeitliche“ Proletariat vom traditionellen Pöbel bewußtseinsmäßig unterscheide: „Die Frage, ob es eine Versöhnung zwischen der Idee der absoluten (d.h. der vollkommen entwickelten, E.R.) Persönlichkeit und dem persönlichen Eigenthum geben könne, beginnt der nicht besitzenden Masse des Volkes klar zu werden, und allmählich tritt in ihm der immer wachsende Theil derselben hervor, der sie mit einem fanatischen Ne in beantwortet. Die Ueberzeugung von der rechtlichen Unmöglichkeit ist geweckt, die Menge schaart sich um die Grundsätze, die willig ihren Ansprüchen dienen, und aus der armen, arbeitenden, lei-
24 Murhard: Reform (politische)...a.a.O.(=Anm. 2), 595. 25 Vgl. zu dieser Auffassung auch: Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat. In: Alteuropa und die Moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner. Göttingen 1963, 248 - 277. 26 Vgl. denselben, ebenda, 253. 27 Stein, Lorenz von: Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830. Mit einem Vorwort herausgegeben von G. Salomon. München 1921 ( ursprünglich: Leipzig 1850), 449. 28 Vgl. denselben, ebenda, 449 ff. 29 Vgl. etwa: Stein, Lorenz von: Blicke auf den Socialismus und Communismus in Deutschland, und ihre Zukunft. In: Deutsche Vierteljahrs-Schrift, 1844, 2. Heft, 1 - 61. 30 Stein, (Lorenz von): Der Begriff der Arbeit und die Principien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnisse zum Socialismus und Communismus. In: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, 3(1846)2, 233 - 290, hier: 246 f.
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denden Classe wird eine starke, alles verneinende und bedrohliche Einheit, das Pro le ta ria t “.31 Ausgehend von der Gegensätzlichkeit der Interessen der beiden großen Gesellschaftsklassen „Kapital und Arbeit“ und ihrem Kampf um die Verwirklichung ihrer sozialen Ziele, kommt von Stein zu dem Schluß, daß beide Klassen aus ihrem sozialen Gegensatz heraus, um ihren Anschauungen Geltung zu verschaffen, danach trachten müssen, sich die Staatsgewalt dienstbar zu machen. Ebenso genialisch, wie von den sozialen Zuständen im Deutschen Bund entfernt, folgert von Stein, es herrsche eine Tendenz zum Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der „Republik des industriellen Besitzes“ und den Anhängern der „Republik des industriellen Nichtbesitzes“. Der gesellschaftliche Kampf der Klassen werde damit zugleich ein politischer mit verheerenden Folgen. Erstrebe die „nichtbesitzende Klasse“ die Herrschaft über die Staatsgewalt, werde die besitzende Klasse ihr „natürlicher und unversöhnlicher Feind“ sein und umgekehrt.32 Der Ausweg aus dieser Situation liegt für von Stein darin, daß nunmehr die „besitzende Klasse“ die „Staatsverwaltung“ im Sinne der „...nichtbesitzenden Klasse zur Hebung des Loses des Arbeiter, für ihre Bildung und die Möglichkeit eines, wenn auch nur allmählichen, Kapitalerwerbs ...“ aufbietet. So werde die „nichtbesitzende Klasse“ mehr gleichgültig in Bezug auf die Form der Verfassung sein. Bei einer solchen Ausübung der Verwaltung seien Königtum, Diktatur, Aristokratie und Demokratie gleichmäßig möglich. Der Übergang der ursprünglichen Regierungsform zu jener „neuen Gestalt“ sei bereits angedeutet in dem „Losungsworte der sozialen Demokratie.“33 Eine solche Umgestaltung der Staatsverhältnisse, eine „Verwaltung der sozialen Reform“, sei möglich aus dem größeren, das unmittelbare Erwerbsinteresse übersteigenden Interesse für die Abwendung der Gefahr, „...welche in der Feindschaft der Arbeit gegen das Kapital liegt...“ 34 Dieses Prinzip, die Legitimation einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung nicht so sehr aus der Verfassung, sondern aus der „tätigen, sozialgewährenden Verwaltung“ zu erreichen,35 verknüpft von Stein mit dem historischen Königtum, das er in die „moderne Gesellschaft“ gestellt sieht. Dieses könne dem Schicksal des Sturzes nur entgehen, wenn es zum „Königthum der socialen Reform“ werde: „Das wahre, mächtigste, dauerndste und geliebteste Königthum ist das Königthum der gesellschaftlichen Reform... Alles Königthum wird fortan entweder ein leerer Schatten, oder eine Despotie werden, oder untergehen in Republik, wenn es nicht den hohen sittlichen Muth hat, ein Königthum der socialen Reform zu werden.“36 Mit seinen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts formulierten Gedanken der Befriedung, Stabilisierung und Legitimierung einer „klassengespaltenen“, ungleichen gesellschaftlichen Ordnung und staatlicher Verfassungen durch „sociale Reformen“ überragt von Stein, was die logische Abfolge und den „zwingenden“ Charakter der Gedankenfüh-
31 Stein, Lorenz von: Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte. Leipzig 1842, 28; vgl. auch: Pankoke, Eckart: Sociale Bewegung - Sociale Frage - Sociale Politik. Grundfragen der deutschen 'Socialwissenschaften' im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1970, 132. 32 Vgl. denselben: Das Königtum, die Republik und die Souveränität der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution 1848. Herausgegeben von G. Salomon. München 1921 (ursprünglich: Leipzig 1850), 206 f. 33 Vgl. denselben, ebenda, 206 f. 34 Derselbe, ebenda, 201. 35 Vgl.: Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Lorenz von Stein...a.a.O.(=Anm. 25), 249. 36 Stein, Lorenz von: Das Königthum, die Republik, und die Souveränität der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution 1848. Leipzig 1850, 48, 49; im Originaltext gesperrt gedruckt.
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rung und Argumentation angeht und was die prognostische historische Tragfähigkeit anbelangt, die Zeitgenossen beträchtlich. Für Robert von Mohl (1799 - 1875), den altliberalen Rechtswissenschaftler und Politiker gilt, daß er mit seinem erstmals 1832/33 publizierten und 1844/45 umgearbeiteten Werk „Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“ zwischen zwei Zeitaltern steht.37 Diese Umbruchsituation vom alten, vielreglementierenden „Polizei-Staat“ zum wirtschaftlich liberalen Regiment der „neuen Zeit“, in der schon bald die sozialen Bewegungen der Unterschichten, den Begriff des „Vierten Standes“ lehnt er aus guten Gründen ab,38 neue „riesenhafte Aufgaben“ stellen,39 spiegelt sich in seiner sozialpolitischen Konzeption wieder. Auch er bezieht sich - wie von Stein - in den sozialpolitisch aussagekräftigsten Teilen seiner Schrift auf die „freien Arbeiter“, auf einen Teilbereich des viel umfassenderen „Pauperismusproblems“ also. Als ein Verfechter der „individuellen Freiheit des Gewerbebetriebes“, des Rechts des Bürgers „...es (das Gewerbe, E.R.) in der von ihm für passend erachteten Art und Ausdehnung zu betreiben, endlich die Erzeugnisse auf die am angemessensten erscheinende Weise zu veräußern“40, sieht er in der zweiten, umgearbeiteten Auflage seiner „PolizeiWissenschaft“ gleichwohl neben gewissen wirtschaftlichen auch die Nachteile „gesellschaftlicher Art“. Unter anderem droht auch nach seiner Auffassung die Gefahr der Herausbildung einer Klassengesellschaft: „Durch den Besitz großer Kapitale kann ein drückendes Uebergewicht über zahlreiche Arbeiter und eine Aufhäufung immer größerer Reichthümer in den Händen Einzelner erlangt werden, damit aber Massenarmuth und Proletariat im Staate sich ausbreiten.“41 Den schon spürbaren vermehrten Ansätzen der Arbeiter, sich in Vereinen zu organisieren und Arbeitskampfmaßnahmen gegen unternehmerische Vormacht und geringe Löhne durchzuführen, steht von Mohl, dem Geist und der Praxis seiner Zeit entsprechend, eher negativ gegenüber. Er möchte allerdings Arbeitervereine unter bestimmten restriktiven Voraussetzungen zulassen und lehnt damit ein „gänzliches Verbot“ ab. Den Arbeitern könnten „...Verabredungen über eine gemeinschaftliche Haltung gegenüber von den Lohnherren, über die Wahl von Stellvertretern aus ihrer Mitte zum Behufe der Unterhandlungen, endlich selbst über gleichzeitige Aufkündigung des Arbeitsvertrages nicht verboten werden.“42 Den „Lohnherren“ gesteht er ebenfalls Verbindungen zu. Gleichzeitig statuiert er jedoch als Aufgabe der „Präventiv-Justiz“ eine enge Überwachung der Arbeitervereine. Bei Verletzung bestimmter Normen hält er Einschreiten und Bestrafung für erforderlich. Die „Leiter“ und die „Ausschußmitglieder“ der Arbeitervereine trifft der generalisierte Verdacht, daß es sich bei ihnen häufig um „höchst verdorbene Menschen“ handele. Militär und „Gensdarmerie“ werden als unverzichtbare Eingriffsinstrumente besonders in gewerbereichen Gebieten, namentlich wenn sich „Neigung“ zu Vereinen unter den Arbeitern zeige, 37 Vgl. die Einleitung in: Beyme, Klaus von (Hg.): Robert von Mohl. Politische Schriften. Eine Auswahl. Köln und Opladen 1966, VII - XLIII, hier: XIX. 38 Vgl.: Mohl, Robert von: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographien. Dritter Band. Politik II. Graz 1962 (unveränderter Abdruck der Ausgabe von 1869), 510. 39 Vgl.: Beyme, Klaus von (Hg.): Robert von Mohl...a.a.O.(=Anm. 37), XIX. 40 Vgl.: Mohl, Robert von: Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates. Zweite umgearbeitete Auflage. Zweiter Band. Tübingen 1844, 285 f. 41 Derselbe, ebenda, 288. 42 Derselbe: Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates. Zweite umgearbeitete Auflage. Dritter Band. System der Präventiv-Justiz oder Rechts-Polizei. Tübingen 1845, 297.
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angesprochen. Es seien „...in besonders aufgeregten Zeiten diejenigen Vorkehrungen mit fester Hand zu treffen, welche Aufläufen vorzubeugen geeignet sind...“43 Unter der Kapitelüberschrift „Hilfe des Staates bei schwieriger Befriedigung der nothwendigen Lebensbedürfnisse“ werden unter den Ausführungen zur „Hilfe bei der Nahrungslosigkeit Einzelner“ - der traditionellen Armenpflege also - auch Überlegungen zur Hilfe bei „Massen-Armuth (Proletariat)“ angestellt.44 Diese Armut wird wiederum mit der Struktur des gewerblichen Gesellschaftsbereichs in Verbindung gebracht, von subjektiven Faktoren als typischer Verarmungsursache wird also weitgehend abgesehen. Bei der Begründung der Hilfe gegen diese Form der Armut hebt von Mohl auf das staatliche Motiv einer Verhinderung des inneren „Kampfes“ ab und fährt fort: „Jeden Falles trägt eine solche besitzlose und sowohl geistig als körperlich manchfach verkommene Menge zur Kraft des Staates nach Innen und Außen nur Geringes bei.“45 Viel Mühe verwendet er darauf zu begründen, daß eine Abkehr vom einmal eingeschlagenen Weg staatlicher und wirtschaftlicher Entwicklung, etwa die Aufhebung der „Fabrication im Großen“ und die Rückkehr zu bloß handwerklicher Produktion, nicht in Frage komme. Dennoch ist ihm geläufig, daß der Aufstieg des „fabrikmäßigen Gewerbebetriebes“ und die „unbedingte Teilbarkeit des Bodens“ auf dem Land, wesentlich zur „Massen-Dürftigkeit“ beitragen. Dementsprechend unterscheidet er zwischen dem (typischerweise selbständigen) „Landbau-Proletarier“ und dem „Gewerbe-Proletarier“. Für die Behebung der Not der „Landbau-Proletarier“ schlägt er Maßnahmen vor, die die „Übersetzung“ des Bodens verhindern sollen.46 Die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen gegen die „Massen-Armuth der Gewerbenden“ weisen von Mohl als einen typischen Vertreter des später von Karl Marx und Friedrich Engels gegeißelten „konservativen oder Bourgeoissozialismus“ aus.47 Noch einmal die Vorteilhaftigkeit der entstehenden kapitalistischen Wirtschaftsverfassung resümierend, lediglich das Heimgewerbe verfällt seiner Ablehnung, will er in der Tat „...die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft ohne die notwendig daraus hervorgehenden Kämpfe und Gefahren ... die bestehende Gesellschaft mit Abzug der sie revolutionierenden und sie auflösenden Elemente.“48 Darüber hinaus stellt er fest: Ein Staat, der nunmehr freiwillig und umfassend auf die Vorteile des „fabrikmäßigen Gewerbebetriebes“ verzichte, „...begienge in wirthschaftlicher, geistiger und politischer Beziehung muthwillig einen Selbstmord.“49 Entsprechend dieser Grundorientierung entfaltet er seine Strategie, in den Verhältnissen der „Gewerbe-Proletarier“ „...diejenigen Verbesserungen vorzunehmen, welche sie vor Elend, die Gesellschaft vor Gefahr behüten.“50 Die von ihm vorgeschlagenen sozialpolitischen Maßnahmen konzentrieren sich auf insgesamt vier Bereiche. Erstens: Sicherstellung eines „gerechten“ Lohnes bei Arbeitern „großer Gewerbe-Unternehmungen“, d.h. bei von Mohl, eine Entlohnung im richtigen Verhältnis zum „Antheile“ des Arbeiters „...an der 43 Derselbe, ebenda, 299. 44 Vgl. denselben: Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates. Zweite umgearbeitete Auflage. Erster Band. Tübingen 1844, 416 ff.; in der ersten Auflage von 1832 fehlt ein derartiges Kapitel. 45 Derselbe, ebenda, 417. 46 Vgl. ebenda, 427 ff. 47 Vgl.: Marx, Karl, Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. Berlin 1969 (ursprünglich: London 1848), 76 f. 48 Dieselben, ebenda, 76. 49 Mohl, Robert von: Die Polizei-Wissenschaft...a.a.O.(=Anm. 44), 431. 50 Derselbe, ebenda, 432.
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fertigen und verkäuflichen Waare...“; zweitens: Schutz des Arbeiters gegen die Folgen „vorübergehender Stockungen des Gewerbes“;51 drittens: Umwandlung „feindseliger Gesinnungen“ gegen „Brotherren“, Reiche und Staat in eine „geneigtere und sociale Stimmung“; viertens: „Steuerung“ des „...sittlichen Verderben(s), welches die frühe Beschäftigung, die gemischte Gesellschaft, die ermüdende Dauer der Arbeit und der Mangel an häuslicher Behaglichkeit zu erzeugen sehr geeignet sind…“52 Während von Mohl den „gerechten Lohn“ u.a. durch eine im Dunkeln bleibende „...Einrichtung, welche den fehlenden guten Willen des Gewerbeherrn von Staats wegen ersetzt...“ erreichen will53 und die Not bei Gewerbestockungen vor allem durch die Begünstigung des Arbeitersparens durch Errichtung von Sparkassen, staatliche Sparanreize und auch staatliche Geldopfer vermindern will, also zu „weltlichen Mitteln“ rät, möchte er zur Umwandlung der „Gesinnung“ der „Gewerbe-Proletarier“ u.a. die Religion instrumentalisieren. Dabei ist er sich der Grenzen dieser Strategie, durch Verbreitung „frommen christlichen Sinns“ unter Arbeitern eine „Ergebung in Uebel und Leiden“ zu befördern, bewußt. Letztlich hofft von Mohl auf eine ausreichende, soziale Spannungen abbauende, subjektive Gesamtwirkung aller zu ergreifenden Maßnahmen, zu denen er u.a. auch eine unter Mitwirkung der Arbeiter erfolgende Beteiligung am Unternehmensgewinn zählt.54 Die sozialpolitischen Konzeptionen im Frühwerk des Juristen, Nationalökonomen, Politikers und Gutsbesitzers Johann Karl Rodbertus (1805 - 1875), der in seinen späteren Jahren Kontakte zur sozialistischen Arbeiterbewegung pflegt55 und ernsthaft mit dem Plan spielt, eine sozialdemokratische Reichstagswahl anzunehmen,56 bewegen sich ebenfalls ganz in den Bahnen des Sozialkonservatismus, umfassen aber auch einige weitgehende Verstaatlichungs- und Staatsleitungsansätze. In seiner 1837 verfaßten, aber viel später veröffentlichten Studie über „Die Forderungen der arbeitenden Klassen,“57 schildert Rodbertus das Verlangen dieser Menschen nach nicht bloß formaler Freiheit und Gleichheit sondern 51 Vgl. ebenda, 433. 52 Ebenda, 434. 53 Vgl. ebenda, 437. 54 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Mohl, Robert von: Ueber die Nachtheile, welche sowohl den Arbeitern selbst, als dem Wohlstande und der Sicherheit der gesammten bürgerlichen Gesellschaft von dem fabrikmäßigen Betriebe der Industrie zugehen, und über die Nothwendigkeit gründlicher Vorbeugungsmittel. In: Archiv der politischen Ökonomie und Polizeiwissenschaft, 2(1835), 141 - 202; abgedruckt in: Preußer, Norbert (Hg.): Armut und Sozialstaat. Band 2. Herkunft und Entwicklung des Systems der sozialen Sicherung bis 1870. München 1982, 99 - 127. Vgl. mit teilweise weiterentwickelten und teilweise modifizierten Anschauungen denselben: Gewerbe- und Fabrikwesen. In: Rotteck, Carl von, Welcker, Carl (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften... Sechster Band. Altona 1838, 775 - 830. Entsprechend der Zielsetzung dieser Arbeit wird das in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre verfaßte umfangreiche Kapitel zur „Social-Politik“ nicht in die Betrachtung einbezogen. Es findet sich in: Mohl, Robert von: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographien. Dritter Band. Politik II. Graz 1962 (ursprünglich: Tübingen 1869), 475 ff. 55 Gemeint ist vor allem der Kontakt zu Lassalle, der sich in einem umfangreichen Schriftwechsel niedergeschlagen hat. Dieser findet sich bei: Ramm, Thilo (Hg.): Johann Karl Rodbertus. Gesammelte Werke und Briefe. Abteilung IV. Briefe und Briefwechsel. Osnabrück 1972, 23 - 109; vgl. auch 113 - 117; beachtenswert auch sein Sendschreiben an den Arbeiterkongreß während der Londoner Industrieausstellung (1862), sein Offener Brief an das Komitee des Deutschen Arbeitervereins zu Leipzig (1863), sowie seine späteren, hier nicht mehr berücksichtigten Schriften zur Sozialpolitik in: Ramm, Thilo (Hg.): Johann Karl Rodbertus. Gesammelte Werke und Briefe. Abteilung I. Zur sozialen Frage und Politik. 2 Bde. Band 2. Osnabrück 1971, bes.: 361 ff. 56 Vgl. zu seiner Biographie den Beitrag von Moritz Wirth in: Allgemeine Deutsche Biographie. Achtundzwanzigster Band. Neudruck der 1. Auflage von 1889. Berlin 1970, 740 - 763. 57 Vgl.: Rodbertus, Johann Karl: Die Forderungen der arbeitenden Klassen. Zit nach: Ramm, Thilo (Hg.): Johann Karl Rodbertus. Gesammelte Werke und Briefe. Abteilung I. Zur sozialen Frage und Politik. 2 Bde. Band 1. Osnabrück 1972, 3 - 31; zur Veröffentlichungsgeschichte vgl.: Wirth, Moritz: Rodbertus...a.a.O.(=Anm. 56), 741.
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auch nach Teilhabe an Besitz, Kultur und Bildung. Eine politische Emanzipation, das Verlangen nach „politischer Anerkennung und Bedeutung“ lehnt er ab. Ebenso verfällt die Rückkehr zu ständischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen, eine allzu durchsichtige ideologische Legitimation der bestehenden Wirtschaftsordnung und der Einsatz der bewaffneten Macht seiner Ablehnung: „Das Einschreiten der Staatsg ew a lt ist Ausnahme, ist Nothstand. Kein exceptioneller Zustand lässt sich aber zur Grundlage nehmen.“58 Ausgehend von der Einschätzung, daß es „inmitten der heutigen Gesellschaft ... ein zahlreiches Volk der Barbaren, Barbaren an Geist und Sitte; mit der Armuth, dem Trotz und der Wildheit der Barbaren, lüstern nach den Schätzen, den Genüssen und der Cultur der Anderen; von dem Rechte an einem Antheil daran überzeugt und der Kriegführung dieser Andern kundig..“ gibt,59 vermutet er, es könne „...einen wirthschaftlichen Zustand geben, in dem die Productivität so weit fortgeschritten ist, dass ...nicht blos die einen Klassen mit demjenigen Reichthum versorgt werden können, welcher der Boden der Künste und Wissenschaft ist, sondern auch den arbeitenden Klassen me hr gewährt werden kann, als der nothwendige Unterhalt beträgt.“60 Rodbertus setzt dabei auf ein „System der Staatsleitung“, um den Zustand des Schwankens des Arbeitslohnes um das „Maass des nothwendigen Unterhalts“ zu beenden und um weitere Widersprüchlichkeiten der Ökonomie zu beheben. Offensichtlich hat er den Plan, „weder auf Kosten des Grundeigenthums noch des Kapitalbesitzes“, mittels „Maassregeln der Regierung“ den Anteil des Arbeitslohnes am Produkt „wissenschaftlich“ zu bestimmen und die „arbeitenden Klassen“ so gewissermaßen „gerecht“ am Fortschritt der Produktivität partizipieren zu lassen.61 Diese Gedanken werden in seiner Schrift „Zur Erkenntnis unserer staatswirthschaftlichen Zustände“ in Auseinandersetzung mit den Klassikern der Nationalökonomie weiter entfaltet, ohne daß das „System der Staatsleitung“ abschließend dargestellt und ausgearbeitet wird. Eine weitere Vertiefung auf die Probleme der „arbeitenden Klassen“ hin unterbleibt zunächst.62 Ganz im Vordergrund steht die Lohnfrage für Rodbertus auch bei dem Gutachten, das er im Juli 1849 an den Berliner „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ richtet. Dieser politisch nicht sehr wirksame Verein bürgerlicher Sozialreformer, entstanden in Reaktion auf die „schlesische Emeute“ von 1844,64 hatte auf seiner Sitzung am 16. Mai 1849 dem Gutachten zugrundeliegende Fragen formuliert, die vor allem auf das Projekt einer Invaliden- und Altersversorgungsanstalt für Arbeiter abheben. Das Gutachten Rodbertus unterscheidet sich mit seiner Schwerpunktsetzung auf die Lohnfrage deutlich von den anderen eingegangenen Stellungnahmen.65 Rodbertus bejaht das Ziel „...die Armenpflege für die arbeitenden Klassen ganz entbehrlich zu machen und alle Arbeiter einer Gemeinde durch Selbsthülfe zu versorgen.“66 58 Rodbertus, Johann Karl: Die Forderungen...a.a.O.(=Anm. 57), 8. 59 Ebenda, 13. 60 Ebenda, 15. 61 Zu Details vgl.: Ebenda, 25 ff. 62 Vgl.: Wirth, Moritz: Rodbertus...a.a.O.(=Anm. 56), 743. 64 Vgl. zum Centralverein: Reulecke, Jürgen: Sozialer Frieden durch soziale Reform. Wuppertal 1983; als Kurzfassung: Derselbe: Die Anfänge der organisierten Sozialreform in Deutschland. In: Bruch, Rüdiger vom (Hg.): „Weder Kommunismus noch Kapitalismus.“ Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer. München 1985, 21 - 59, hier: 27 ff. 65 Vgl. dazu: Adickes, F.: Die Bestrebungen zur Förderung der Arbeiterversicherung in den Jahren 1848 und 1849 und K. Rodbertus-Jagetzow. in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 39(1883), 561 - 592. 66 Rodbertus, Johann Karl: Bemerkungen zu dem Bericht über die Gründung einer Invaliden- und Altersversorgungsanstalt für Arbeiter und den Zweck der Vereine für Arbeiterwohl...a.a.O.(=Anm. 57), 221 - 229, hier: 223.
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Der Weg dahin könne aber nur über eine Erhöhung des Verdienstes und eine Förderung des Arbeitersparens erreicht werden. Unter anderem wegen der Geringfügigkeit der Löhne steht er der Errichtung einer Sozialversicherung mit Beitrittszwang und Zwangsbeiträgen ablehnend gegenüber. Durch die Lohnhöhe, nicht durch subjektive Faktoren, sieht er auch das Problem des Pauperismus bedingt. Die Vereine für das Wohl der arbeitenden Klassen müßten sich dieser Zusammenhänge klar werden, sie hätten vor allem für die Erhöhung der Löhne der Arbeiter zu sorgen. Rodbertus betont: „Während sich die materielle Lage der arbeitenden Klassen gleichgeblieben ist, ist ihr rechtlicher und politischer Zustand der allgemeinen Entwicklung gefolgt, und jene und dieser stehen jetzt im schreiendsten Widerspruch mit einander... Die Arbeiter sind in allen formalen Rechten den übrigen Klassen gleichgestellt, - aber sie können in einem entsprechenden Grade weder an den Genüssen, noch an der Bildung, noch an der Sitte der Zeit Theil nehmen ... Ein solcher Widerspruch kann auf die Dauer unmöglich in der Gesellschaft bestehen. Er m u ß seine Ausgleichung finden... und muß sie freiwillig finden, wenn er sie nicht mit Gewalt finden soll.“67 Wenn die Vereine zum Wohl der arbeitenden Klassen die Aufgabe der Lohnerhöhung nicht ergriffen, ständen sie in Gefahr „...Armenpfleger oder Moralisten zu werden. Sie unterstützen den invaliden Arbeiter und predigen dem gesunden Tugend und Mäßigkeit... Wer glaubt, daß der Pauperismus in der Unsittlichkeit der arbeitenden Klassen seinen Grund hat, verwechselt Ursache und Wirkung.“68 In seinen 1850, 1851 und 1854 verfaßten umfangreichen nationalökonomischen Ausarbeitungen, den insgesamt vier „sozialen Briefen an von Kirchmann“,69 entwickelt Rodbertus seine lohntheoretischen und lohnpolitischen Anschauungen weiter und setzt sich mit den damals verbreiteten Existenzminimumtheorien des Lohnes auseinander. Er bekennt sich zu seinen bereits 1837 entwickelten Grundgedanken und bezieht nunmehr auch kreislauftheoretische Überlegungen in die Behandlung des Pauperismusproblems mit ein. Die Handelskrisen, denen er bereits 1837 Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und den Pauperismus sieht er ursächlich verknüpft. Beide hätten ihre Ursache darin, daß bei steigender Produktivität der Arbeit der Lohn der „arbeitenden Klassen“ zu einer immer kleineren Quote des Nationalproduktes werde. Handelskrise und Pauperismus arbeiteten sich gegenseitig in die Hände. Die Armut der „arbeitenden Klassen“ lasse nicht zu, daß ihr Einkommen zu einem Bett für die anschwellende Produktion werde, die Nichtverkäuflichkeit der Waren stürze die Produzenten ins Verderben, dies wiederum und die ausfallende Produktion vermehrten den Pauperismus. Diese notwendigen Folgeerscheinungen einer sich selbst überlassenen Wirtschaft zu beheben, wird ebenfalls der „Staatswirthschaft“ zugewiesen.70 „Naturgemäß“ in besonderer Weise fühlen sich christliche Sozialreformer von den französischen Ereignissen, den Unruhen und revolutionären Erscheinungen in Deutschland und dem „antichristlichen Geist“ des „Communismus“ und „Socialismus“ herausgefordert. Der Mediziner, Bergbaufachmann und romantische religiös orientierte Philosoph Franz Xaver von Baader (1765 - 1841) erkennt in seinem schon 1834 erschienen Beitrag mit Blick auf Frankreich, daß die Übel „an welchen die Societät litt“ nicht nur politischer, son-
67 Derselbe, ebenda, 227. 68 Derselbe, ebenda, 228 f. 69 Abgedruckt in: Ramm, Thilo (Hg.): Johann Karl Rodbertus...a.a.O.(=Anm. 57), 234 ff., 335 ff. sowie ebenda, Abteilung I. Band 2, 1 ff. 70 Vgl. als Kurzfassung dieser sehr umfangreichen Studien: Wirth, Moritz: Rodbertus...a.a.O.(=Anm. 56), 753 f.
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dern vor allem auch sozialer Natur gewesen seien. Antirevolutionäre Reformen hätten bei der „Societät“ selber anzusetzen. Von Baader kritisiert den durch das „Erlöschen aller christlichen Gesinnung“ wieder neu erstarkten und durch eine „heidnische Jurisprudenz“ neuerdings wieder sanktionierten „...Egoismus und Separatismus der Vermögenden und Machthabenden gegen die Armen und Machtlosen...“ unter den Bedingungen der „neuen Gesellschaft“ als eine Ursache gesellschaftlicher Destabilisierung.71 Nur wenig später (1835) entwirft er aus antiliberaler Intention heraus sein „doppelgleisiges“ sozialpolitisches Reformprogramm. Zum einen beanstandet er die „Vogelfreiheit“, die „Schutz- und Hilflosigkeit“ der Armen und Arbeiter. Die Ursachen der „bereits geschehenen Revolutionirung“, der „leichten Revolutionirbarkeit“, der „Entzündbarkeit der Societät in unserer Zeit“ sieht er nun allgemeiner in einem „...bei der dermaligen Evolutionsstufe der Societät, ihrer Gesittung und Lebensweise eingetretenen Missverhältnisse der Vermögenslosen oder der Armen Volksclasse hinsichtlich ihres Auskommens zu den Vermögenden...“72 Er weist u.a. darauf hin, daß größtenteils die „...Civilisation der Wenigen nur durch die Uncivilisation, ja Brutalität der Vielen besteht...“, spricht von „Sklaven- und Helotenthum“ und verteidigt das „Recht der Proletairs auf Erleichterung ihres Lebens.“73 Zum anderen sieht von Baader nicht nur die materiellen Aspekte der Existenz der „Vermögenslosen oder Proletairs“ und dementsprechend bleibt er nicht bei Vorschlägen stehen, die das materielle Lebensniveau heben sollen. Es sei bekannt, „...dass der Jacobinismus oder Revolutionismus sich eben nur der vermögenslosen Volksclasse, als gleichsam ihrer stehenden Armee, in ihren Angriffen auf die Ruhe und den Bestand der Societät bedienen, und dass besonders in den neuen Zeiten dieser Revolutionismus sich gewissermassen von seinem früheren politischen Boden auf den socialen im engeren Sinne, eben in diese Volksclasse, gezogen hat...“74 Zudem seien die „Proletairs“ durch die Auflösung ihres Hörigkeitsverbandes nicht nur hilf- und schutzbedürftiger geworden, sondern sie seien in den „constitutionellen Staaten“ durch Einführung des auf Gut- und Geldbesitz begründeten Repräsentativsystems „...auch noch zum n ic h t me hr ge hör t w erdend en Theile des Volkes herunter gekommen.“75 Vor diesem von ihm skizzierten Hintergrund der Schutzlosigkeit, der materiellen „Dürftigkeit“, der Beeinflussung der Vermögenslosen durch „Demagogen“, der Ausschaltung aus dem politischen Leben, fordert von Baader ein Recht für sie, „Bitten und Beschwerden in öffentlicher Rede“ in den Ständeversammlungen und darüber hinaus vortragen zu können. Die „Proletairs“ hätten ein Recht auf „Repräsentation als Advocatie“, weil sie dieses zu Zeiten der Hörigkeit schon mittelbar gehabt hätten. Diese Vertretung müsse durch „selbstgewählte Spruchmänner“ eingeräumt werden, denen als Anwälte Priester
71 Vgl.: Baader, Franz Xaver von: Ueber den Evolutionismus und Revolutionismus oder die posit. und negat. Evolution des Lebens überhaupt und des socialen Lebens insbesondere. In: Bayer. Annalen 1834, 219 - 224 und 483 - 490; hier zit. nach: Hoffmann, Franz (Hg): Franz Xaver von Baader. Gesammelte Schriften zur Societätsphilosophie. Band 1. Aalen 1963, 73 - 108, hier: 96. 72 Baader, Franz Xaver von: Ueber das dermalige Missverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Classen der Societät in Betreff ihres Auskommens sowohl in materieller als intellectueller Hinsicht vom Standpunkt des Rechts betrachtet. München 1835; hier zit. nach: Hoffmann, Franz (Hg.): Franz Xaver von Baader...a.a.O.(=Anm. 71), 129; im Original gesperrt gedruckt. 73 Vgl. denselben, ebenda, 132. 74 Ebenda, 130. 75 Ebenda, 135.
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beigeordnet werden sollten.76 Auf diese Weise seien die „Proletairs“ den „verderblichen Einflüssen der Demagogen“ oder auch „streitsüchtiger Rechtsanwälte“ entzogen. Ein weiterer Vorteil bestehe darin, daß der „...bis schier zur socialen Nullität herabgekommene Clerus dem primitiven Amte des D iakonats wiedergegeben würde...“77 Von der Konstitutierung eines „stabilen Arbeiter- und Landarmenrats“ in den Provinzen, zusammengesetzt aus Arbeitern und Klerus als Basis der „Repräsentation als Advocatie“ ist die Rede. Diese Räte würden zudem den Vermögenslosen wenigstens die „Standschaftsehre“ geben. Durch diese „Einbürgerung der Proletairs“ unter kirchlicher und staatlicher Anleitung und Aufsicht, durch diese „Einverleibung“ in den „Gesammt-Organismus“, durch die Bildung einer eigenen „Standschaft“, hofft er der Revolution vorzubeugen.78 Es ist mithin gerade auch der universalistische Gesellschaftsbegriff und die damit verbundene Vorstellung, daß das Ganze nur in einer „gesunden Relationsweise“ aller Glieder gedeihen könne, die von Baader befähigen, so früh ein so „komplettes“ sozialpolitisches Konzept, ein „Juwel romantischer Sozialpolitik“ aus religiöser, ständisch orientierter, anti(früh-) sozialistischer und antiliberaler Intention heraus zu entwerfen. Zwei weitere bemerkenswerte Vertreter explizit christlich-religiöser Motivierung sollen abschließend kurz vorgestellt werden, um die „Gestalt“ der sozialpolitischen Diskussion zu dieser Seite hin abzurunden. Es handelt sich um den Literaturhistoriker und „Frühsozialpolitiker“79 Viktor Aimé Huber (1800 -1869)80 und um Johann Hinrich Wichern (1808 1881), den evangelischen Theologen und Förderer christlicher Sozialarbeit.81 Um die Arbeiter vor dem „ökonomischen und sozialen Tod im Pauperismus“ zu bewahren, um sie in das Gefüge des Volkes einzubauen bzw. um die ebenso chaotischen, wie gefährlichen Kräfte der Arbeiterschaft zu einem „geordneten, organischen Bestandteil der bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung“ zu machen, projektiert Huber ihren Zusammenschluß in Assoziationen der verschiedensten Art. Dabei geht er gegen Mitte der 1850er Jahre davon aus, daß die „arbeitenden Klassen“ der großen europäischen Kulturvölker, oder auch nur irgend eines derselben, mitnichten eine homogene, nivellierte und von einem Geist der Feindseligkeit gegen alle anderen Klassen, gegen Besitz und Kapital, gegen Obrigkeit und Kirche, gegen alle göttlichen und menschlichen Ordnungen durchdrungene, vergiftete und gärende Masse sei.82 Die Assoziation erscheint so aus Gründen sozialer und politischer Stabilität als dringend erforderliche, nichtständische und der „neuen Zeit“ angepaßte Form der Vergesellschaftung. Huber sieht in der Assoziation die Organisationsform des „Vierten Standes“ und die Möglichkeit für Arbeiter, den negativen ökonomischen und psychosozialen Folgen einer „atomistischen Auflösung“ der Sozialstruktur zu entgehen. Die Assoziation gilt als „aktiv stärkendes“, „sittlich-ökonomisches“ und soziales Bindemittel für die „Atome“. Sie gilt als eines der Mittel, die sich „…mit den allgemeinen Bedin76 Vgl. ebenda, 138. 77 Ebenda, 138. 78 Vgl. dazu denselben, ebenda, 135ff. sowie des Lebensbild von Baaders in: Franz von Baaders Schriften zur Gesellschaftphilosophie. Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Johannes Sauter. Jena 1925, 563 - 899, bes. 838 ff. 79 So eine Bezeichnung, vorgeschlagen von: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik im deutschen Schrifttum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Köln 1970 (Diss. rer. pol. MS), 259. 80 Vgl. zu diesem: Paulsen, Ingwer: Viktor Aimé Huber als Sozialpolitiker. Berlin 1956. 81 Vgl. zu dessen Schriften: Meinhold, Peter (Hg.): Johann Hinrich Wichern. Sämtliche Werke. Berlin und Hamburg 1962 ff. 82 Vgl. Paulsen, Ingwer: Viktor Aimé Huber...a.a.O.(=Anm. 80), 75; zur „Einschätzung“ der „arbeitenden Klassen“ vgl.: Huber, V.(ictor) A.(imé): Arbeitende Klassen. In: Bluntschli, J.(ohann) C.(aspar) (Hg.): Deutsches StaatsWörterbuch. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Erster Band. Stuttgart und Leipzig 1857, 279-310, hier: 295.
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gungen und Strömungen der modernen Industrie, namentlich also dem Prinzip fr e ie r Konkurr en z vertragen, oder wo möglich von ihnen getragen, begünstigt werden.“8 3 Der Wert der Assoziation ist also nach Huber gleichzeitig ein ökonomischer, „sittlicher“ und sozialer. Assoziationen als preiswert ein- und günstig verkaufende Konsumvereine, als arbeiterfreundlich ausgestaltete Produktionsgenossenschaften, als „günstig“ bauende Wohnungsbaugenossenschaften, als zinsgünstige Darlehns- oder Vorschußvereine, als Vereine zur Förderung „sittlicher, intellektueller und geselliger Zwecke“, als Unterstützungskassen usw. usf. sollen die Erhaltung der Gesellschafts- und Herrschaftsordnung durch Fortbildung bzw. Neubildung von arbeiterbezogenen Organisationsstrukturen bewirken. In seiner im Revolutionsjahr 1848 anonym erscheinenden Schrift „Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen durch Wirthschaftsvereine und innere Ansiedlung“ gerät der Assoziationsgedanke, nicht ohne daß Huber die „Assoziations“- Pläne „...oder Träumereien eines Fourier, Owen, Cabet“ zurückweist und sich von ihnen abgrenzt,84 in die Nähe zur Utopie. Genossenschaftlich gegründete Siedlungen bestimmter Art und Größe und selbstverwaltete Siedlungsgemeinschaften, Organisationen zur Umwälzung der gesamten außerbetrieblichen Daseinsstruktur der Arbeiterschaft sollen sogar „Arbeitsnachweisungsbureaus“ unterhalten. Diese „Behörde als Vertreter des Vereins“ könne auch die „Einkassierung“ des Lohnes besorgen und mit den Arbeitgebern über die Höhe des Lohnes verhandeln. Es leuchte ein „...wie viel vortheilhafter diese Stellung gegen die des einzelnen Arbeiters oder tumultuarischer Massen ist.“85 Den oberen Klassen und ihren Organisationen, insbesondere auch der Aristokratie, wird bei dieser Umgestaltung eine assoziations- bzw. vereinsbegründende, führende und (vor-)finanzierende Rolle zugedacht, ohne die Selbstverwaltung oder eigene Initiativen der Arbeiter völlig zu erdrücken. Der Staat rückt eher in den Hintergrund, er soll die Assoziationen fördern und nur eventuell selbst gründen. An die Spitze des Assoziationswesens soll, da ein „allgemeiner, höherer, organischer Mittelpunkt“ der ganzen Sache nicht fehlen dürfe, dann doch der Staat in Form eines „Arbeitsministeriums“ zur Kontrolle und Leitung treten.86 Mit dieser Konzeption und mit der prägenden christlich-konservativen Grundtendenz steht Huber mehr oder weniger allein. Die führenden Gesellschaftsschichten sind keineswegs bereit, in gehörigem Umfang in die ihnen angesonnen Pflichten einzutreten. Nachdem Adel und Bürgertum seine anfänglichen sozialpolitischen Hoffnungen enttäuscht haben, tritt er ab 1860 für die Existenz von Gewerkschaften, Koalitionsrecht und Ertragsbeteiligung der Arbeiter ein.87 Heftig „bewegt“ von den revolutionären Vorgängen seiner Epoche, insbesondere von der deutschen Revolution des Jahres 1848 formuliert Johann Hinrich Wichern seine sozialpolitischen und kirchlichen Vorstellungen. In seinen pathetischen, emotionalisierten und pauschalisierenden Schriften und Reden entwickelt er den Plan, durch die Zusammenfassung bereits bestehender Ansätze zu einer mächtigen „inneren Mission“ zu gelangen. Diese
83 Vgl.: Huber, V.(ictor) A.(imé): Assoziation. In: Bluntschli, J.(ohann) C.(aspar) (Hg.): Deutsches StaatsWörterbuch…a.a.O.(=Anm. 82), 456 - 500, hier: 458. 84 Vgl.: Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen durch Wirthschaftsvereine und innere Ansiedlung. Berlin 1848, 12f. 85 Ebenda, 19. 86 Vgl. ebenda, 35. 87 Vgl.: Paulsen, Ingwer: Huber, Viktor Aimé. In: Karrenberg, Friedrich (Hg.): Evangelisches Soziallexikon. 6. Auflage. Stuttgart 1969, Sp. 570-571.
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solle dem „Kommunismus“, d.h. den Unruhen, revolutionären Vorgängen und dem damit verbundenen „Geist“, wie er sich bei „wandernden Handwerksgesellen“, in den „Wühlereien der schandbarsten Presse“ und an anderen Stellen äußere, auf spezifische Weise entgegenwirken. Die Ursache dieser Erscheinungen wird nämlich vor allem im „Abfall des Volkes von Gott“, in der „bodenlosen sittlichen Entartung“, im „Gift des Antichristentums“ gesehen. Verbunden sind diese Gedanken mit der Konzeption eines „christlichen Staates.“ Dementsprechend soll durch die Verbreitung des Evangeliums als „Waffe“ versucht werden, den „Unglauben“ zu brechen. Die „innere Mission“, die schon bald und unter maßgeblicher Einwirkung Wicherns ihre organisatorische Verfestigung und Ausdehnung erfährt, wird als „volksrettende“ Gesamttat aufgefaßt, als Mittel der Bekämpfung der „leiblichen und geistigen Not“ im Volksleben. Die Bevölkerung soll durch das „in ihr mächtige Evangelium“, durch „christlich rettende Liebesarbeit“, durch „christlichen Sozialismus“, durch Behebung der „inneren Verwahrlosung“ gegen den „Kommunismus“ immun gemacht werden. Zu diesem Zweck werden Wege gesucht, entdeckt und geschaffen, die „mitten in das Proletariat“ hineinführen, um hier auch die „elendsten Brüder“ aus den Händen des „Antichristentums“ zu erretten.88
3.2 Vom sozialpolitischen Gehalt der Pauperismusliteratur 3.2.1 Zu Stellenwert und Charakter dieser Literatur Als wichtigstes Ergebnis der bisherigen Untersuchung läßt sich bei den „Klassikern“ der sozialpolitischen Diskussion ein durch Unruhen und revolutionäre Vorgänge geschärftes soziales Krisenbewußtsein feststellen,89 eine Furcht vor einem plötzlichen Umsturz der Dinge „von unten“ bzw. mit Hilfe derer, die „unten“ stehen. Dieses Bewußtsein resultiert typischerweise aus der Angst, in die mit der Gesellschaftsentwicklung ansteigende Not bei gleichzeitigem Wachsen des Reichtums der Wenigen könne ein „Gesinnung“ einschlagen bzw. sei eine „Gesinnung“ eingeschlagen, die die Masse der „Eigentumslosen“ zu einem gewalttätigen Kollektiv werden lassen könnte. So betrachtet werden (Massen-) „Not und Elend“ zur (potentiellen) Bedrohung und Abhilfe (d.h. vor allem: Sozialpolitik) erscheint als dringend erforderlich. Einer solchen Betrachtung entspringt der bedrohliche zeitgenössische Bedeutungsinhalt des Begriffs „Pauperismus“ und „Proletariat“. Diese Sichtweise unterliegt auch den Schriften der Pauperismusliteratur. Die Schriften der „Klassiker“ dokumentieren darüber hinaus eine tiefgreifende Infragestellung zumindest des „reinen“, des „extremen“ Wirtschaftsliberalismus als Theorie,
88 So im Überblick Wicherns Programm. Zur Verstärkung der Authentizität sind für seine Rede- und Schreibweise typische Begriffe und Begriffsbilder eingeflochten; vgl. vor allem die folgenden Schriften: Die Revolution und die innere Mission (1848); Kommunismus und die Hilfe gegen ihn (1848); Erklärung, Rede und Vortrag Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag (1848); Die innere Mission und die Revolution (1849); Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche...(1849); abgedruckt in: Meinhold, Peter (Hg.): Johann Hinrich Wichern. Sämtliche Werke. Band 1. Berlin und Hamburg 1962, 129 ff., 133 ff., 155 ff., 175ff.; Band 2. Berlin und Hamburg 1965, 43 f., 45 ff. 89 Vgl.: Jantke, Carl: Zur Deutung des Pauperismus. In: Jantke, Carl, Hilger, Dietrich (Hg.): Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur. München 1965, 7 - 47, hier: 10.
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Ideologie, Sozial- und Wirtschaftsordnung.90 Auch diese Grundorientierung findet sich, wie zu zeigen sein wird, in der Pauperismusliteratur. Beide Literaturen haben zudem den gleichen Gegenstand, die vermögenslosen, arbeitsfähigen und auf Arbeit zur Lebenserhaltung angewiesenen Schichten und Gruppen der damaligen Gesellschaft. Gemeinsam ist ihnen zudem die Auffassung, daß zur Stabilisierung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung Modifikationen dieser Ordnungen mit dem Ziel der Veränderung der Soziallage der „arbeitenden Klassen“ vorgenommen werden müssen und daß dem Staat dabei wichtige Funktionen zukommen,91 daß bei „freigesetzter“ Wirtschaft die politische Herrschaft nur aufrecht erhalten werden kann, wenn man unmittelbar auch den „bedrohlichen“ Mentalitätsformen als Massenerscheinung in den „Unterschichten“ entgegenarbeitet. Die alten ideologischen Mächte, die „ständisch gebundenen Ordnungen von ‘Rat und Hilfe’“, die freie kirchliche Hilfeleistung, die typischerweise kommunalen Formen der Armenpolizei und des sonstigen Armenwesens gelten als nicht mehr hinreichend.92 Von hier ergibt sich ein gewaltiger Unterschied zur mittelalterlichen Sichtweise der Armut, eine Sichtweise, die keinen Anlaß zur grundlegenden Veränderung der Lebenslage der Armen in einer vergleichsweise statischen Welt bot. Der Arme und die Armut waren damals in erster Linie keine „bedrohliche“ Erscheinung, sondern Anlaß für die Reichen, durch gottgefälliges Almosengeben das eigene Seelenheil zu fördern. Armut stellte ganz überwiegend einen akzeptierten Bestandteil der Gesellschaft und keine politische und soziale Gefahr dar. Auch die überkommene Auffassung, es handele sich bei der Armut um ein „göttliches Strafgericht“ als Folge „nicht gottgefälligen Lebenswandels“ ist für die Pauperismusautoren untypisch. Die „klassischen Ansätze“ erlauben eine Terminierung des Beginns der „modernen“ sozialpolitischen Diskussion in Deutschland. Hält man den Kapitalismus-, Lohn- bzw. Fabrikarbeiterbezug und Herrschaftszweck für konstitutiv, dann kann man festhalten, daß die wissenschaftliche Sozialpolitik in ihren ausgebauten Formen in Deutschland mit den 1830er Jahren beginnt. Dieser Eindruck erhärtet sich durch die Einbeziehung der Pauperismusliteratur; auch hier gibt es Ansätze zu einer „Arbeitersozialpolitikliteratur“ aus den 1830er Jahren. Legt man den mehr oder weniger ausschließlichen Bezug auf die freie Lohnarbeit bzw. Fabrikarbeit nicht zugrunde, sondern wählt als Objektbereich die „arbeitenden Klassen“ oder die „Gewerbenden“, also alle, die in der sich wirtschaftlich liberalisierenden Gesellschaft (hand)arbeiten (selbständige Handwerker, handwerkliche Gesellen, Tagelöhner, Landarbeiter, Bauern, unterbäuerliche Schichten und auch Fabrikarbeiter) so läßt sich der Beginn der wissenschaftlichen Sozialpolitik weiter bis auf den Beginn des 19. Jahrhunderts vorverlegen. Die Anfänge und Vorläufer der sozialpolitischen Diskussion verlieren sich in der zunehmend von „fremden“ Sichtweisen ausgehenden Armenliteratur und in der ökonomischen Literatur des Merkantilismus.93 90 Vgl.: Stein, Hans: Pauperismus und Assoziation. Soziale Tatsachen und Ideen auf dem westeuropäischen Kontinent von Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, unter besonderer Berücksichtigung des Rheingebiets. Leiden 1936, 18. 91 Vgl. dazu auch: Pankoke, Eckart: Geschichtliche Grundlagen und gesellschaftliche Entwicklungen moderner Sozialpolitik. In: Gegenwartskunde, Sonderheft 4, 32 (1983), 23 - 40. 92 Vgl. denselben, ebenda, 27. 93 Hinweise auf erste Überlegungen zu den „modernen“ Fabrikarbeitern finden sich bei: Mohl, Robert von: Gewerbeund Fabrikwesen...a.a.O.(=Anm. 54); vgl. auch: Landau, Johann: Die Arbeiterfrage in Deutschland im XVII. und XVIII. Jahrhundert und ihre Behandlung in der Deutschen Kameralwissenschaft. Studien zur Frage der Entstehung und des Ursprungs arbeiterpolitischer Probleme und Ideen der Neuzeit. Zürich 1915 (Diss. oec. pub.).
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Mit ihrer sozialpolitischen Orientierung hebt sich die Pauperismusliteratur von der im 18. und in den früheren Jahrhunderten verankerten theologischen, naturrechtlich-philosophischen, merkantilpolitischen Literatur zu „Noth“ und „Armuth“ ab. Sie unterscheidet sich auch von der „reinen“ Armenwesen-Literatur, die mit dem Aufkommen der Pauperismusliteratur nicht versiegt, wohl aber umfangmäßig ab und Aspekte der sozialpolitischen Diskussionen aufnimmt. Nicht die „zweckmäßige“ Einrichtung von Armenanstalten, von Armenbehörden und Armenpolizei, nicht die Behandlung von Gaunern, Bettlern, Vaganten, die Erziehung zur „Industriosität“, kurz: die „Sozialdisziplinierung“94 macht den mehr oder weniger ausschließlichen Inhalt der Pauperismusliteratur aus. Hinzu tritt und damit verknüpft wird das gleichsam mit der Bewegungsmechanik der „bürgerlichen Gesellschaft“ und der zunehmenden und „massenhaft“ verarmenden Bevölkerung platzgreifende tatsächlich vorhandene oder vermutete „...Potential an innerer Auflehnung, an Negation, an zersetzender Kraft gegenüber den herkömmlichen Autoritäten von Staat und Kirche, von Lehrer und Meister...“ Dieses Thema macht sich zunehmend „breit“ und diese Bedrohung auch des „kulturstaatlichen und bürgerlichen Fortschritts“95 erheischt neue - auch - sozialpolitische Herrschaftsmittel, deren Darstellung ein besonderes Anliegen dieser Literatur ist. Es ist durchaus von analytischem Vorteil, daß diese Literatur nicht selten mit Blick auf eine idealisierte Vergangenheit geschrieben worden ist. Die „neue Zeit“ gewinnt aus der Konfrontation schärfere Umrisse. Verfaßt sind die Schriften der Pauperismusliteratur, der Literatur, die nicht mehr „reine Armenliteratur“ ist und schon Grundzüge der späteren „Soziale-Frage-“ bzw. „Arbeiterfrage-Literatur“ enthält,96 vor allem und soweit die Autorenschaft feststellbar ist, von: Professoren, Lehrern, Offizieren, Staatsbeamten, Richtern, Ärzten, Publizisten im weiteren Sinne, Kaufleuten, Fabrikherren, Gutsbesitzern, Landwirten, Pfarrern, Diakonen und Verwaltungspraktikern.97 Die Autoren entstammen also dem gebildeten „Mittelstand“, teilweise gehören sie zu den ökonomisch und politisch führenden Kreisen. Von daher erklärt sich die typische Parteinahme für das Bestehende, mitunter für das Vergangenene.98 Die Beteiligung einzelner Arbeiter an dieser Literatur ist äußerst zweifelhaft, hinter einer solchen „Berufsbezeichnung“, so sie überhaupt auftaucht, wird sich häufig ein „Arbeiter des Geistes“ verbergen. Teilweise erscheint die Pauperismusliteratur, die auch Zeugnisse eines kämpferischen, fortschrittlichen Humanismus kennt, anonymisiert. Das hat seine Gründe unter anderem in den Zensurbestimmungen der damaligen Staaten. Nicht selten lassen sich aus diesem Grunde auch Hinweise finden, die signalisieren, daß die jeweilige Publikation der Zensur mißfiel, daß bestimmte Passagen entfernt werden mußten bzw. die Arbeit erst lange nach der Fertigstellung des Manuskripts erscheinen konnte,99 nachdem die 94 Vgl. dazu ursprünglich: Oestreich, Gerhard: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 55 (1968), 329 - 347; konzeptionell wieder aufgenommen bei: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a.M. 1986. 95 Vgl.: Jantke, Carl: Zur Deutung...a.a.O.(=Anm. 89), 26. 96 So eine Charakterisierung bei: Dilcher, Liselotte: Der deutsche Pauperismus und seine Literatur. Frankfurt a.M. 1957 (Phil. Diss. MS), 21; ähnlich: Mombert, P.: Aus der Literatur über die soziale Frage und über die Arbeiterbewegung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 9(1921), 169 - 236, hier: 176 f. 97 Vgl. dieselbe, ebenda, 160; vgl. auch: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus und Bevölkerung. Stuttgart 1980, 62. 98 Vgl.: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97),63. 99 Vgl.: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 79), 11.
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Vom sozialpolitischen Gehalt der Pauperismusliteratur
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Märztage des Jahres 1848 „...wenigstens für einige Zeit die reaktionäre Stickluft über Deutschland verscheuchten.“100 In diesem Zusammenhang kann kaum mehr überraschen, daß Autoren der Pauperismusliteratur in Form von Verhören, Gefängnisaufenthalt, Amtsenthebung, Auswanderung einen hohen Preis für ihre Ansichten bezahlten.101 Daß die Nobilitierung zur „Krönung“ der Lebensleistung wird, wie dies bei von Mohl (seit 1871), von Riehl (seit 1883), von Stein (seit 1868) der Fall ist, ist keineswegs selbstverständlich. Ebenso wie die Vertreter der politischen Reformbewegung trifft auch die Sozialreformer häufig der langhaftende Vorwurf eigentlich (Sozial-) Revolutionäre zu sein. Nicht zuletzt ist es das grauenhafte Elend der damaligen Zeit, das die „Frühsozialpolitiker“ dazu „verführt“, nicht nur „staatstragend“, sondern auch anklagend und kritisierend zu verfahren, weitreichende Forderungen zu stellen und sich mitunter einer katastrophischen oder sozialrevolutionären Interpretation der „Übergangskrise“ zu nähern. Zur Radikalität der Kritik an den damaligen Gesellschaftsverhältnissen trägt bei, daß die Pauperismusliteratur auch durch die Auseinandersetzung zwischen (noch) beinahe alleinherrschender „Adelsklasse“ und Bürgertum geprägt ist. Weniger starr (und mühevoll) auf ein marxistisches Klassenschema bezogen, als dies bei dem Historiker Jürgen Kuczynski in seiner „Chrestomathie“ (d.h. Sammlung von Musterstellen, E.R.) der „bürgerlichen und halbfeudalen“ Literatur zur Lage der Arbeiter aus den Jahren 1840 bis 1847 der Fall ist,102 läßt sich durchaus beobachten, daß „Halbfeudale“ die sozialen Zustände insbesondere deshalb äußerst schonungslos kritisieren, um den aufsteigenden Kapitalismus, die ganze „neue“, die „bürgerliche“ Epoche zu diskreditieren. Andererseits ist es mitunter sicher so, daß „Bürgerliche“ die Analyse des Pauperismus zu einer Anklage gegen die noch feudal geprägten Gesellschafts- und Politikverhältnisse verdichten. Als „totales“ Erklärungsmuster müssen diese Hinweise angesichts der häufig nur auf „Ruhe und Ordnung“ abstellenden strategischen Orientierung, der sonstigen Inhalte der Literatur und der „buntscheckigen“ Autorenschaft versagen. Eine große Anzahl der sich nach 1830 stark politisierenden und in den Jahren zwischen 1843 bis 1850 kumulierenden, danach stark zurückgehenden Schriften der Pauperismusliteratur, die heute keineswegs mehr vollständig erhalten sind, wird durch Preisfragen und Preisgeldaussetzungen hervorgerufen. Auf eine entsprechende Initiative des bayerischen Königs Maximilian II. gehen allein 656 entsprechende Arbeiten ein.103 So wie die große Französische Revolution des Jahres 1789 für die Ausbildung eines spezifischen Konzeptes der Reform bzw. der Sozialreform von großer Bedeutung ist, muß man auch zur Erklärung der „sozialpolitischen Fruchtbarkeit“ der 1830er Jahre nach Frankreich blicken. Die Julirevolution des Jahres 1830 zeigt wiederum in unübersehbar klarer Form, daß Unterschichten wesentliche Mitträger eines spontanen bewaffneten Aufstandes werden können. Die Revolution strahlt auf ganz Europa aus. Hier zeigt sich erneut, daß nicht nur die soziale Lage und die „Gesinnung“, sondern auch das Moment der „Ansteckung“ und „Nachahmung“ zur Erklärung sozialer Unruhen herangezogen werden muß. In den folgenden Jahren kommt es zu einer Reihe weithin beachteter, spektakulärer und blutig 100 So die Ausdrucksweise von: Nestriepke, Siegfried: Die Gewerkschaftsbewegung. Erster Band. Zweite, umgearbeitete Auflage. Stuttgart 1922, 156. 101 Vgl.: Scholz, Joachim: Vorläufer...a.a.O.(=Anm. 79), 12 ff. 102 Vgl.: Kuczynski, Jürgen: Bürgerliche und halbfeudale Literatur aus den Jahren 1840 bis 1847 zur Lage der Arbeiter. Eine Chrestomathie. Mit einem bibliographischen Anhang von Ruth Hoppe. Berlin 1960, 1 - 30. 103 Vgl.: Kuczynski, Jürgen: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. Teil I. Band 1. Berlin 1961, 342.
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niedergeschlagener Unterschichtsaufstände. Besonders erwähnenswert ist die Erhebung der Lyoner Seidenweber in den Jahren 1831 und 1834. Im Jahre 1831 bringen diese vorübergehend die Stadt in ihre Gewalt. Die Unruhen des Jahres 1834 strahlen bis nach Paris aus.104 Im Gefolge der französischen Julirevolution erhöht sich das Unruhe- und Protestniveau in Deutschland ganz beträchtlich.105 Bei einer Analyse der Protesträger und Protestformen in den Jahren 1830 bis 1832 wird deutlich, daß auch in Deutschland die Protestbeteiligung der „unterbürgerlichen Schichten“ sehr hoch ist, daß sie insgesamt ein leicht mobilisierbares Potential bilden.106 Berücksichtigt man diesen mit den 1830er Jahren einsetzenden Protest- und „Politisierungsschub“ und seine Rückwirkung auf die Literatur, so ist es sicher auch möglich, die Pauperismusdiskussion und die Pauperismusliteratur im engeren Sinne in den 30er Jahren beginnen zu lassen. Immerhin dringt der für diese Diskussion typische Begriff des „Proletariers“ bzw. des „Proletariats“ auch erst jetzt verstärkt in den deutschen Sprachraum ein.107 Selbst der Begriff des Pauperismus läßt sich im deutschen Sprachgebrauch erst ab Mitte der 30er Jahre nachweisen.108 Ich folge dieser Terminierung nicht und gehe auch auf Literatur zurück, die bald nach der 1789er Revolution erschienen ist. „Armuth und Noth, Hunger und Elend rütteln überall an ihren Ketten, sie reissen sich los und wüthen unter dem Menschengeschlechte.“109 Diese dramatische Sichtweise wird von einer Vielzahl der Pauperismusautoren geteilt. Die Auffassung, daß die Armut in der Tendenz zunehme, daß eine immer zahlreichere „Bettlerrace procreiert“ werde,110 findet sich nicht nur in den katastrophalen Jahren der Teuerung und Mißernten, sondern ist von Anfang an weit verbreitete und feststehende Überzeugung.111 Diese Sichtweise einer Armut, die nicht als immer schon vorhandene Not aufgefaßt wird, als „nothwendige Folge“ der „Welteinrichtungen und der Natur der Dinge“, als Folge der Unterschiedlichkeit der 104 Angaben nach: Lyoner Weberaufstände. In: Wörterbuch der Geschichte L -Z. Berlin 1984, 678 f. 105 Vgl.: Husung, Hans-Gerhard: Zu einigen Problemen der historischen Protestforschung am Beispiel gemeinschaftlichen Protests in Norddeutschland 1815 - 1847. In: Volkmann, Heinrich, Bergmann, Jürgen (Hg.): Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung. Opladen 1984, 21 - 35, bes. 24 f.; Wirtz, Rainer: Bemerkungen zum „Sozialen Protest“ in Baden 1815 - 1848. In: Ebenda, 36 - 55, bes. 39; vgl. auch: Fischer, Wolfram, Krengel, Jochen, Wietog, Jutta: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Band I. Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes 1815 - 1870. München 1982, 184 ff.; vgl. insgesamt: Volkmann, Heinrich: Die Krise von 1830. Form, Ursache und Funktion des sozialen Protests im deutschen Vormärz. Berlin 1975 (Habil. Schrift,vv. Man.) 106 Vgl.: Volkmann, Heinrich: Protestträger und Protestformen in den Unruhen von 1830 bis 1832. In: Derselbe, Bergmann, Jürgen (Hg.): Sozialer Protest...a.a.O.(=Anm. 105), 56 - 75; vgl. auch denselben: Kategorien des sozialen Protests im Vormärz. In: Geschichte und Gesellschaft, 3 (1977) 164 - 189; sowie: Lüdtke, Alf: Praxis und Funktion staatlicher Repression: Preußen 1815 - 50. In: Geschichte und Gesellschaft, 3 (1977), 190 - 211. 107 Vgl.: Conze, Werner: Proletariat, Pöbel, Pauperismus. In: Brunner, Otto, Conze, Werner, Koselleck, Reinhard (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Band 5. Stuttgart 1984, 27 - 68, hier: 39; vgl. auch: Briefs, Goetz: Das gewerbliche Proletariat. In: Grundriß der Sozialökonomik. IX. Abteilung. Das soziale System des Kapitalismus. I. Teil. Tübingen 1926, 142 - 240, hier: 162 ff. 108 Vgl.: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97), 51 f.; früher, auf den Beginn der 20er Jahre datiert ohne zu belegen - allerdings: Buddeus: Pauperismus. In: Ersch, J., Gruber, J.G..: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge ... Dritte Section. O-Z. Vierzehnter Theil. Leipzig 1840, 239 - 268. 109 Steinmann, Friedrich: Pauperismus und Communismus, ihre Ursachen und die Mittel zur Abhülfe. Historisch, staatswirthschaftlich, social. Solingen und Mühlheim a. Rhein 1846, 1. 110 So die Ausdrucksweise bei: Untersuchungen über die gegenwärtigen und vornehmsten Ursachen der Verarmung, des Bettelns und die anwendbarsten Mittel dagegen. Memmingen 1792, VIII. 111 Vgl. etwa: Lawätz, Johann Daniel: Ueber die Sorge des Staates für seine Armen und Hülfsbedürftigen. Altona 1815, 2; mit Bezug auf die ländliche Armut: Patriotische Phantasien oder einige Gedanken, Wünsche und Vorschläge betreffend die zunehmende Armuth der geringeren Volksklasse auf dem Lande... Schleswig 1819, bes. 1 ff.
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Menschen in Bezug auf ihre Kräfte und Fähigkeiten, als Folge von Krankheit, Alter und Tod112, sondern als „Massennoth“, „Massenverarmung“, als „Heruntersinken im Wohlstande“ nicht nur einzelner Individuen, sondern „ganzer Stände, Gesellschaften, Städte,“113 bzw. als Sozialschicksal der „Klasse der Besitzlosen“, findet sich auch bei insgesamt zukunftsoptimistischen Autoren. Diese Auffassung beinhaltet die Einsicht einer massenhaften Verarmung trotz und bei Lohnarbeit. Einige Autoren allerdings relativieren die naheliegende und häufig angesprochene These von der zunehmenden „Massenarmuth“. Sie stellen den seit dem 18. Jahrhundert unverkennbaren Zuwachs an Fabriken, Infrastrukturen, den gestiegenen „Nationalwohlstand“ in den Vordergrund.114 Diese paradoxe Situation wird u.a. mit dem Hinweis umschrieben, daß „Wohlstand“ und Armut gleichzeitig gewachsen seien.115 Zu diesen relativierenden Schriften gehört die von der Königlichen Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt preisgekrönte, höchst umstrittene Schrift des Gymnasiallehrers und Akademiemitglieds Franz Baur.116 Die meisten Schriften der Pauperismusliteratur zeichnen sich weiter dadurch aus, daß sie, am Anfang nicht nur der wissenschaftlichen Sozialpolitik, sondern ebenfalls und allgemeiner: am Beginn der „modernen Sozialwissenschaft in Deutschland“ stehend,117 davon ausgehen, daß sich die Gründe der Verarmung systematisch in ihrer Gestalt und Wechselwirkung auffinden lassen, und daß es darüber hinaus machbar ist, Gesellschaftsverhältnisse systematisch mit dem Ziel umzugestalten, die „Quellen der Noth“ zu verstopfen, um so „Wohlfahrt“ und damit verbunden: politische Stabilität zu befördern. Diese ausgesprochen „frühmodern-technokratische“ Herangehensweise wird insbesondere dann faßbar, wenn Analogien aus den prestigeträchtigen „szientifischen Systemen der Physik, der Physiologie, der Biologie und der Technologie“ übernommen werden.118 So bezeichnet der Gelehrte und badische Landtagsabgeordnete, der am 25. April 1837 die vermutlich erste sozialpolitische (das soll hier heißen: fabrikarbeiterbezogene) Rede in einem deutschen Parlament gehalten hat, Franz Josef Ritter von Buß (1803-1878), die Armut als Krankheit. Er betont in einer Schrift vom Beginn der 40er Jahre, er behandele dementsprechend „...das Aetiologische, die Ur sa ch en der öffentlichen Armuth, ...das Pharmakologische, die H e ilmittel gegen die öffentliche Armuth ..., das Therapeutische, das He ilve rf ahren gegen die öffentliche Armuth.“119 Diese Sichtweise und Behandlung des Problems der „Massenarmut“ drückt sich exemplarisch auch in zahlreichen Buchtiteln und im Aufbau der entsprechenden Arbeiten aus.120 112 Vgl.: Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), 8. 113 Ebenda, 9. 114 Vgl. dazu: Benedict, Friedrich August: Ist die Klage über zunehmende Verarmung und Nahrungslosigkeit in Deutschland gegründet, welche Ursachen hat das Uebel und welche Mittel bieten sich zur Abhilfe dar? Leipzig 1838; Bülau, (Friedrich): Der Pauperismus. In: Deutsche Viertel-Jahrschrift, Heft 1/1838, 79 - 117. 115 Vgl.: Bülau, (Friedrich): Der Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 114), 89. 116 „Ist die Klage über zunehmende Verarmung und Nahrungslosigkeit in Deutschland gegründet, welche Ursachen hat das Uebel, und welche Mittel bieten sich zur Abhülfe dar?“ Preisfrage der Königl. Akademie gemeinnütziger Wissenschaft zu Erfurt. Gekrönte Preisschrift von Franz Baur. Erfurt 1838, 136 f. 117 Vgl. dazu: Pankoke, Eckart: Fortschritt und Komplexität. Die Anfänge moderner Sozialwissenschaft in Deutschland. In: Koselleck, Reinhart (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977, 352 - 374. 118 Vgl. denselben, ebenda, 353. 119 Die öffentliche Armenpflege. Von dem Herrn von Gérando, Pair von Frankreich...Im Auszug übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Dr.F.J. Buß. Erster Theil. Stuttgart 1843, VIII. 120 Vgl. etwa: Härlin, J.G.B.: Darstellung der zu unserer Zeit hauptsächlich wirkenden Ursachen der Verarmung und der zweckmäßigsten Vorbeugungs-Mittel derselben...Stuttgart 1822; Brodersen, Carl Wilhelm: Die Armuth; ihr
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Aus der sozialkonservativen und zugleich anwendungspraktischen Orientierung heraus, gelangt die Pauperismusliteratur insgesamt zu außerordentlich vielgestaltigen Einsichten bzw. Annahmen zu den Ursachen des und den Hilfsmitteln gegen den Pauperismus. Das schließt nicht aus, daß einige Schriften sehr einseitig nur eine Hilfsidee, ein universelles „Heilmittel“ propagieren. Die fortgeschrittensten Ansätze allerdings sind umfassend orientiert, sehen differenziert zahlreiche Ursachen wirken und gelangen etwa zu dem Ergebnis, daß „gewerbliche, gesundheitliche, rechtlich-staatliche, unterrichtliche, sittlich religiöse Hilfe und Maßnahmen“ aufzubieten seien, um „alle Seiten des Uebels zu bekämpfen.“121 Typisch ist darüber hinaus der mitunter sehr stark ökonomische bzw. wirtschaftswissenschaftliche Einschlag der Argumentation, d.h. die Einbeziehung nicht nur im engeren Sinne sozialpolitischer Faktoren in die Diskussion. Immer handelt es sich bei der damaligen Diskussion um die Massenarmut angesichts eines Entwicklungsstandes der Wirtschaft, der dem überwiegenden Teil der Bevölkerung lediglich „erlaubt“, gerade das zum (Über-)Leben Notwendige oder nur das Notwendigste und häufig noch weniger zu erlangen, um die Auseinandersetzung mit einem höchst bedeutsamen Problem. Manche der im folgenden unter sozialpolitischem Aspekt ausgewerteten Schriften hätte verdient, gleich den Ansätzen der „Klassiker“, ausführlicher und als Gesamtsystem zur Darstellung gebracht und ebenfalls „vor die Klammer“ gezogen zu werden. Allein die Zahl der Schriften und die unbestreitbare Tatsache, daß sich vieles wiederholt, drängt zu einer systematischen Darstellung. Die im folgenden wiedergegebenen und systematisierten Ansichten der Pauperismusliteratur sollen das Bild, das wir den „Klassikern“ der sozialpolitischen Diskussion verdanken, ausmalen, differenzieren und ergänzen. Es werden nicht nur die Gedankengänge wiedergegeben, die sich als „tragfähig“ mit Blick auf die spätere Entwicklung der Sozialpolitik, der Gesellschaft oder der Gesellschaftstheorie erwiesen haben. Von den zeitgebundenen Aussagen zu den Ursachen und (subjektiven) Auswirkungen des Pauperismus her, gelangen die Autoren der Pauperismusliteratur zu Lösungsentwürfen dieses Gesellschaftsproblems. Die Frage nach der „Wahrheit“ und der „Realitätsangemessenheit“ der Aussagen und Annahmen ist in diesem Zusammenhang der Rekonstruktion der ersten sozialpolitischen Diskussion von „untergeordneter“ Bedeutung, sie tritt hier (wie schon bei der Darstellung der Auffassungen der „Klassiker“) in großem Ausmaß in den Hintergrund. Die Pauperismusliteratur „als solche“ und insgesamt kann auch von mir nicht ausgewertet werden, handeln doch viele Tausend zeitgenössische Quellen von der damaligen „Krankheit der Gesellschaft“ von ihrem „Krebsleiden“. Es soll aber ein komprimiertes Bild der wesentlichen Argumentation versucht werden.
Grund und ihre Heilung, ein Beitrag zur Verminderung überhandnehmender Verarmung unter der niederen Volksclasse. Altona 1833; Schmidt, Friedrich: Ueber die Zustände der Verarmung in Deutschland, ihre Ursachen und die Mittel ihnen abzuhelfen. Zittau und Leipzig 1837; R.(iecke), E.(mil): Die Quellen der Armuth und des Verbrechens und die Mittel, welche dem Staate im Vereine mit den einzelnen Staatsbürgern gegen dieselbe zu Gebote stehen. Stuttgart 1841; Wohlfahrt, Johann Friedrich Theodor: Der Pauperismus nach seinem Wesen, Ursprunge, Folgen und Heilmitteln...Weimar 1845; Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel, Massen-Verarmung, Massen-Verderbniß, deren Ursachen und Heilmittel. Berlin 1847; Hasemann, J.: Die Armuthsfrage. Ursachen und Heilmittel des Pauperismus unserer Zeit. Den Preußischen Ständen gewidmet. Halle 1847; Haller, Carl Ludwig von: Die wahren Ursachen und die einzig wirksamen Abhülfsmittel der allgemeinen Verarmung und Verdienstlosigkeit. Schaffhausen 1850. 121 So bezogen auf von Gérando: F.J. Ritter von Buß; vgl.: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), 315.
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3.2.2 Die zur Sprache gebrachten Ursachen und Auswirkungen des Pauperismus Nach von Buß fallen die Ursachen der Armut in „...alle fünf Gebiete der Cultur: ...in das wirthschaftliche, ...das gesundheitliche, ...das rechtlich-staatliche, ...das unterrichtliche, ...das sittlich-religiöse.“122 Wenngleich von Buß die Zustände „in unserem Welttheil“ noch nicht mit dem Begriff des Pauperismus bezeichnen will, eignen sich seine Kategorien ohne größere Probleme zur Ordnung der damals in der Pauperismusliteratur erkannten „Quellen der Armuth“ und auch der Hilfsmittel dagegen. Wirtschaftliche Gründe der Massenarmut werden schon lange vor der Zeit diskutiert, in der der sich entfaltende Kapitalismus und in der die spürbare Wirkung der preußischen und außerpreußischen wirtschaftsliberalen Reformen zu einer Debatte um die „richtige“ Wirtschaftsordnung führen. Die keineswegs selbstverständliche und allgemein akzeptierte aber mit der ökonomischen Argumentation zwangsläufig verbundene Einsicht, daß die zahlreichen Armen der „neuen Zeit“ ein „...Opfer der Verhältnisse, nicht ihrer Schuld“ sind,123 ist früh verbreitet. So wird aus ökonomisch-politischer Sicht in einer Schrift des Jahres 1792 ein „Mangel an zweckmäßigen und dem Geist der Zeiten anpassenden Gesetzen, zu Belebung der Industrie und der Gewerbe, Gleichgültigkeit und Schläfrigkeit der Regierungen...“ als ein Hauptgrund des „allgemeinen Verfalls“ attackiert,124 und es wird ein teilweise wirtschaftsliberales, insgesamt aber noch in der Polizei- und Kameralwissenschaft verankertes Programm der Behebung der „Massennoth“ entfaltet.125 Jede Infragestellung der sozialen Wirkungen eines vollständig realisierten Wirtschaftsliberalismus fehlt „naturgemäß“. Sehr intensiv werden zunächst noch die „massenwirksamen“ Existenzrisiken „alten Typs“ diskutiert, Krisen, die mit dem Fortschritt der Zivilisation zwar nicht verschwinden, deren bedrohender Charakter sich aber teilweise abschwächt: Überschwemmungen, Seuchen, Stürme, Brände. Hinzu treten Darlegungen zur armutsauslösenden Natur allgemeiner oder „lokaler“ Störungen der landwirtschaftlichen Produktion, Ereignisse, die sich in die Geldsphäre hinein verlängern können (Preisverfall, Preissteigerungen).126 Erörtert werden mitunter auch sehr außergewöhnliche Ursachen des „Armenthums“, wie z.B. die Verlegung der Residenz mit der Folge, daß ein Teil der Bevölkerung, der aus den Hofhaltungs-, Regierungs- und Verwaltungsfunktionen seinen ökonomischen Nutzen zog, ganz oder teilweise brotlos gemacht wird.127 Vor allem wird immer wieder auf die wirtschaftlichen (und sozialen) Folgen der vornapoleonischen und napoleonischen Kriege hingewiesen. Letztere hätten nicht nur die „...niederen Klassen der Gesellschaft mehr oder weniger demoralisiert“, hätten sie mit den „Ideen über Freiheit und Gleichheit“, die besonders dem „Ehrgeize der unteren Klassen schmeichelten“, infiziert,128 sondern es sei auch zu Plünderungen, Brandschatzungen, Einquartierungen, Rekrutierungen, erzwungener Requirierung für den Heeresbedarf und zu Seuchen gekommen sowie zu allgemeinen „Gewerbestockungen“ aufgrund der „Verzehrung der Kapitale“ und der „Erschütterungen des Welt122 Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), VIII. 123 Vgl.: Ueber den vierten Stand und die sozialen Reformen. Magdeburg 1844, 6. 124 Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), 28 f. 125 Vgl. ebenda, 91 ff. 126 Vgl.: Lawätz, Johann Daniel: Ueber die Sorge...a.a.O.(=Anm. 111), 9 f. 127 Am Beispiel der Verlegung der Residenz von Mannheim nach München dargestellt bei: Gaum, Friedrich Wilhelm: Praktische Anleitung...a.a.O.(=Anm. 3), 35. 128 Diesen Aspekt betont: Schmidt, Friedrich: Ueber die Zustände...a.a.O.(=Anm. 120),28 f.
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handels.“129 Auf vielfältige Weise werden die Kriege und das napoleonische Herrschaftssystem noch nach Jahrzehnten zu einer wichtigen Quelle des Pauperismus erhoben.130 Doch auch die nachnapoleonische Zeit wird als nicht frei von ausländischer „Bedrückung“ beschrieben. „Kaum war das Joch des Corsischen Usurpators abgeschüttelt, so warf sich England zur Bedrückung und Störung des Handelsverkehrs auf.“131 Englands Gewerbeanstalten würden allein hinreichen, „...die ganze Welt in Seide, Flachs, Wolle und Baumwolle zu kleiden und alle Künste und Gewerbe mit den zweckmäßigsten die Arbeit erleichternden Werkzeugen und Maschinen zu beschenken“,132 vermerkt der Trierer Regierungssekretär Ludwig Gall. Als Folge des Bestehens dieser vergleichsweise fortgeschrittenen Ökonomie wird in Deutschland eine Störung der Erwerbstätigkeit, eine Verarmung und ein Mangel registriert, beide von verbreiteter Erwerbslosigkeit erzeugt. In dieser internationalen Konkurrenzsituation, in der „...dem bürgerlichen Wohle höchst wichtige(n) Gewerbe(n), aus Mangel des Schritthaltens mit anderen Ländern...“ der Niedergang droht,133 in der auch außenhandelspolitische, schutzzöllnerische Maßnahmen gefordert werden,134 ist es außergewöhnlich, voller Optimismus in die ökonomische und soziale Zukunft zu blicken. Eine gerade auch außenhandelspolitisch zuversichtliche, eine „freihändlerische“ Position jedoch nimmt der Publizist Friedrich Schmidt ein. Obwohl er Tendenzen zur „Ueberproduktion“ einräumt und andere Entwicklungsstörungen nicht unterschlägt, sieht er dies doch als Erscheinungen „einer Art von Uebergangsperiode“ an, skizziert verschiedene Ursachen (Nachwirkungen der Kriege, Übervölkerung, steigende öffentliche Abgaben und Lasten usw.), ohne am Prinzip und der Notwendigkeit der „behutsamen“ Fortentwicklung der kapitalistischen Ökonomie zu zweifeln und sagt voraus: „Bald kommt die Zeit, wo das mit starken Schritten vorschreitende südliche Amerika, und das ... geöffnete Afrika, den Producten unseres Landbaues und unserer Industrie neue Märkte eröffenen wird... Bis dahin Einigung und festes Zusammenhalten, Ausdauer, Geduld, Entsagung und sittliche Kräftigung, so wird Deutschland nur um so freudiger wieder aufblühen und die Massendürftigkeit wird nicht einkehren auf unseren Gauen.“135 Die mit den Erkenntnissen der heutigen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte übereinstimmende Auffassung, daß der Pauperismus bei rasch wachsender Bevölkerung „...in der noch zu unvollständigen Ausführung des Industriesystemes begründet sey“, eine Auffassung, die man aus den Schriften der „neueren Bearbeiter der Nationalökonomie“ ableiten könne,136 wird zu der Zeit, zu der die wirtschaftsliberalen Reformen „gegriffen“ haben, von der erdrückenden Mehrheit der Autoren verneint. Sie greifen die „modernen Systeme der Nationalökonomie“ als eine Quelle des Pauperismus und der Gefahr einer sozialen Revolu-
129 Vgl. denselben, ebenda, 64 ff. 130 Ganz ausdrücklich und vielfach begründet von: Poseck, Fr. von: Denkschrift über die zunehmende Nahrungslosigkeit und Mittel zu deren Abhülfe. Ein Wort zu seiner Zeit. Essen 1841, bes. 18 ff. 131 Zernecke, W. J.: Bemerkungen über das Sinken des Wohlstandes in mehreren nordeuropäischen Ländern und über die Mittel zu deren Abhülfe. Danzig 1824, 8. 132 Gall, Ludwig: Was könnte helfen? Immerwährende Getraidelagerung, um jeder Noth des Mangels und des Ueberflusses auf immer zu begegnen... Trier 1825, 1 f. 133 Vgl.: Zeise, H.(einrich): Vorschläge zur Errichtung von Arbeitsanstalten als zweckdienlichste Mittel zur Versorgung jetziger Armen und Vorbeugung zunehmender Verarmung. Altona 1833, 1 f. 134 Vgl.: Zernecke, W.J.: Bemerkungen...a.a.O.(=Anm. 131), 20 f. 135 Schmidt, Friedrich: Ueber die Zustände...a.a.O.(=Anm. 120), 61, 304. 136 Vgl.: Bülau, (Friedrich): Der Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 114), 98.
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tion an.137 Sie gehen damit weit über die Kritik hinaus, die sich etwa auch bei von Mohl oder Rodbertus findet. Obwohl sie recht unterschiedlich von reaktionären oder zukunftsgewandt-sozialreformerischen Standpunkten aus analysieren, unterscheiden sie sich zum überwiegenden Teil nicht in den Schwerpunkten der Diagnose der Gesellschaftszustände, die nach ihrer Auffassung die Massenarmut bedingen. Schon sehr früh, um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, wird von der Pauperismusliteratur erkannt, daß die Gesetze von Angebot und Nachfrage die Lohnbildung bestimmen,138 Gesetze, die unter den Bedingungen der „demographischen Revolution“ in Stadt und Land, der Vereinzelung auf der „Arbeitsangebotsseite“, der Dringlichkeit des Arbeiskräfteangebots und der noch wenig entfalteten Ökonomie geradezu fürchterliche, konkurrenzsteigernde, lohndrückende, ausbeutungsfördernde Wirkungen hätten.139 Die Arbeit, erkennt zu Beginn der 1840er Jahre von Buß, „...erscheint jetzt nur noch als eine Waare, meßbar nach dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage, während sie doch Leben, Gesundheit, Sittlichkeit von Millionen umschließt, das Seyn, die Schule, die Expiation (Buße, E.R.) des Menschen ist...“140 Das mit den wirtschaftsliberalen Reformen freigesetzte Konkurrenzprinzip trage darüber hinaus dadurch zum Pauperismus bei, daß es einen Kampf der Fabriken untereinander auslöse. Dieses Wirtschaftsgesetz führe auch dazu, daß sich die Fabriken zu Lasten des ebenfalls in ruinösen Konkurrenzkämpfen verstrickten Handwerks und der überwiegend ländlichen Heimindustrie mit entsprechenden sozialen Folgen ausdehnen. Die Fabriken betrieben zudem übermäßigen Maschineneinsatz und eine ständige Umwälzung der Produktionsmethoden. Durch Vernichtung des Mittelstandes werde sich die Gesellschaft bald in nur noch zwei Klassen aufspalten. Als Ergebnis seiner Analysen der „Kapitallogik“ und des Geldwesens meint dementsprechend der Breslauer Königliche Fabriken-Commissarius J.G. Hofmann festhalten zu müssen: „Unsere Kinder oder Enkel müssen, einzeln genommen, entweder arme Arbeiter, oder Capitalisten sein ...“141 Von Tag zu Tag vemehre sich die Macht des „Feudalismus des Geldes und der Industrie“ und führe einen Zustand herbei „...in welchem Pauperismus und Proletariat in direktem Verhältnisse mit den Fortschritten der Industrie und Geldspekulation, sowie mit der Anhäufung des Vermögens in stets wenigere Hände und mit der Bevölkerung wachsen.“142 In dieser ursprünglichen Form gehören die Thesen von der Herausbildung einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ und von der „Verelendung“ der „arbeitenden Klassen“ nicht nur bei den „Klassikern“ der sozialpolitischen Diskussion, sondern auch in der Pauperismusliteratur zu den geläufigsten Aussagen und Annahmen aus der Zeit vor und während 137 Vgl. denselben, ebenda, 91. 138 So schon 1792 in: Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), XI; vgl. auch: Krug, Leopold: Die Armenassekuranz, das einzige Mittel zur Verbannung der Armuth aus unserer Kommune. Berlin 1810, 42. 139 Vgl. etwa: Schnell, Karl Ferdinand: Vorschläge zur Verbesserung der Arbeiterverhältnisse auf dem Lande. Gekrönte Preisschrift. Berlin 1849, 30 ff.; Das Armenwesen nach allen seinen Richtungen als Staatsanstalt und als Privatwerk und seine dermalige Gestaltung in civilisirten Staaten in und außer Europa... Weimar 1837, 2 ff.; Lüttwitz, Freiherr von: Ueber Verarmung, Armen-Gesetze, Armen-Anstalten und ins Besondere über Armen-Colonien, mit vorzüglicher Rücksicht auf Preußen. Breslau 1834, 2 f. 140 Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XXXIII. 141 Hofmann, J.G.: Die Macht des Geldes. Eine Aufsuchung der Ursachen der Verarmung und des sittlichen Verfalls so vieler unserer Mitmenschen nebst Mitteln zur Abhülfe. Leibzig 1845, 46; den aussichtslosen Kampf der Hausindustrie gegen Maschinen und Fabriken als Ursache des Pauperismus betont: Bodemer, Heinrich: Ueber die Zustände der arbeitenden Klassen. Vortrag in der Versammlung deutscher Gewerbetreibender am 16. April 1845, 26. 142 Steinmann, Friedrich: Pauperismus und Communismus...a.a.O.(=Anm. 109) 4.
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der Entstehung der ebenfalls auf diese Zuammenhänge abhebenden Marxschen Lehre. Ohne Zweifel liegt die Stärke der Pauperismusliteratur in der Darstellung, nicht so sehr in der tragfähigen Analyse dieser Erscheinungen des „Verderbens“ der „gesunden socialen Gliederung“, des Verlustes des „harmonischen Ebenmaßes“ im Gesellschaftsaufbau. In drastischen Worten werden insbesondere die fragwürdigen Methoden des wirtschaftlichen Kampfes in dieser Periode des „Konkurrenzkapitalismus“ beschrieben. Zu diesen werden gezählt: „unsolide Spekulation“, „Marktschreierei“ und „Pfuscharbeit“ auf Kosten des „soliden Geschäftsbetriebes“, betrügerische Ausverkäufe, „Bestechung“, „unerlaubte Rabatte“, wucherische bzw. übertriebene Kreditvergabe, massenhafter Drang in die Selbständigkeit bei gesättigter Nachfrage usw. usf. Für die Landwirtschaft, auf der die „demographische Revolution“ ebenfalls schwer lastet, werden vor allem die folgenden Ursachen des Verderbens der „socialen Gesundheit“ zur Sprache gebracht: Die schon bei von Mohl erwähnte zu große Teilung des Bodens ebenso wie die zu große Konzentration des Landes in den Händen weniger Großgrundbesitzer, eine überhöhte Verschuldung als Folge der Ablösung der feudalen Rechte, eine zu große Belastung der Höfe durch „Altentheiler“ und abzufindende Kinder, eine fehlende Ergänzung des landwirtschaftlichen Ertrages durch die daniederliegende hausindustrielle Tätigkeit, eine Steigerung der Bodenpreise durch „gewerbsmäßigen Güterhandel“, ein Festhalten an alten Methoden des Landbaues, eine Einschränkung der Viehhaltung auf den kleinen Stellen, ein Mangel des Verkehrs mit der Folge des Fehlens einer „lohnenden Verwerthung“ der landwirtschaftlichen Erzeugung und übergreifend: eine mangelnde „Ergiebigkeit des Bodens“ im Vergleich zur „Volkszahl“.143 Zu den wirtschaftlichen Ursachen des Pauperismus wird immer wieder eine Erscheinung gezählt, die sowohl die kleinen selbständigen Produzenten, als auch die Lohnempfänger empfindlich getroffen haben muß: der „Wucher“ bzw. die „sekundäre Ausbeutung“ (K.Marx) auf dem teilweise ebenfalls von Unterschichtsangehörigen betriebenen Konsumwaren- und Immobilienmarkt.144 Freiherr von Reden und andere Autoren kritisieren die „...No thw end igk e it in welcher die Arbeiter, durch ihre geringe und zweifelhafte Einnahme, sich befinden, alle Leb ensb edürfn isse aus dritter od er v ierte r Hand in g an z k le in en Por t ion en , h äufig au f Borg, zu kaufen.“145 Eine Folge sei, daß sie ihren Bedarf, namentlich an Nahrungsstoffen, in schlechter Beschaffenheit erhielten und außerdem doppelt so teuer bezahlen müßten, als ihre wohlhabenderen Mitbürger.146 Zu dieser Form der Ausbeutung und Erzeugung des Pauperismus wären insgesamt auch noch die entsprechenden Auswüchse des Trucksystems zu zählen. Verschiedentlich wird betont, daß das Bevölkerungswachstum verbunden mit der liberalen Wirtschaftsordnung besondere Gefahren für die physische Verfassung der pauperisierten „handarbeitenden Klassen“ enthalte. Zum einen wird auf die „...Erzeugung einer schwächern Generation in Folge der zu dichten Anschichtung der Bevölkerung, der Gestattung zu früher Ehen, die schlechte Pflege der vielen armen, namentlich der unehelichen Kinder, zumal durch schlechte Wohnungen...“147 hingewiesen. Aspekte der Lebensituation 143 Vgl.: Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 5 ff. 144 Vgl. etwa: Wichura, Victor (Hg.): Die vereinigte Arbeit (Association) und die Theilnahme des Staates an der Aufhülfe der Arbeiter. Ein Versuch zur Beantwortung der socialen Frage. Ratibor 1849, 20; mit Bezug auf die Landwirtschaft: Steinmann, Friedrich: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 109), 64 ff. 145 Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 12. 146 Vgl. denselben, ebenda, 12. 147 Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), X.
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und Lebensweise werden mit Blick auf die Gesundheit diskutiert. Zum anderen fehlt es nicht an Hinweisen auf die Gesundheitsgefahren in der neuen sich maschinisierenden und chemisierenden Arbeitswelt, auf unzweckmäßige Vorrichtungen und Baulichkeiten, auf „Ausdünstungen der Materialien“, insbesondere auf Dünste des Chlors, der Schwefelsäure und des Phosphors vor allem bei der Streichholzfabrikation der damaligen Zeit.148 Die völlige oder vorzeitige Erschöpfung der physischen Kräfte des Körpers, des „einzigen Kapitals des Arbeiters“,149 aufgrund der elenden Lebensituation ohnehin ständig drohend, trete dadurch noch wahrscheinlicher ein, daß die „Arbeitsherren“ den Arbeiter nur noch als Träger von Arbeitskraft sähen und jede weitere erzieherische und unterstützende Verantwortung für ihn ablehnten. Unter dem Druck der Konkurrenz der Arbeiter untereinander (insbesondere auch mit den schlechter bezahlten Frauen und Kindern) und der Konkurrenz der Fabrikanten und bei dem Verlangen der Kundschaft nach wohlfeilen Waren, komme es nicht nur zur Lohnherabsetzung. Der von „Handelskrisen“ bedrohte Fabrikant sei gezwungen vor allem die „besseren Zeiten wahrzunehmen“ und wenn sich für sein Fabrikat etwas mehr Nachfrage finde, dann biete er alles auf, so viel wie nur möglich zu liefern, mit der Folge der Verlängerung der Arbeitszeit. Gewöhnlich entziehe er den Arbeitern „...zuerst den Sonntag, und wenn dies auch noch nicht zulangt, einen Theil der Nachtruhe... Der Arme muß sich dies gefallen lassen, wenn er nicht außer Arbeit kommen will...“150 Schillernd und „standortbestimmt“ sind die Ausführungen der Pauperismusliteratur zu den „rechtlich-staatlichen“ Ursachen der Massenarmut. Wenn und soweit die Autoren der Auffassung sind, man habe mit der Gewerbefreiheit auch „alle bösen Geister“ entfesselt, die mit der „ungebundenen Freiheit“ einherschreiten, man habe nur „emanzipirt“ ohne zu organisieren, wenn man meint, die „neue Zeit“ sei eine „...Zeit der Negation, der Auflösung, Zerstörung und Vernichtung, auch in socialem und realem Sinne des Wortes, gewesen,“151 dann geraten die entsprechenden „rechtlich-staatlichen“ Ursachen dieser Erscheinung zu Ursachen der „Massen-Verarmung“ und „Massen-Verderbniß“. Teilen die Autoren diese Auffassung nicht und sehen sie in dem raschen Fortschreiten zu noch „freierem Güterleben“, im Fortschritt der Industrie, der Indienstnahme der „stummen Geister der Natur“, die solange ungenutzt in der Erde ruhten, einen Weg zur Überwindung des Pauperismus, zur „Aufsaugung“ der Armut, kommen sie zu einer anderen Wertung der jeweiligen „rechtlich-staatlichen“ Maßnahmen. Urteilen sie, daß in Ländern, wo alles Grundeigentum in Besitz genommen ist, eine „...unbeschränkte Vermehrung der Menschen nothwendig eine Unzulänglichkeit der Erwerbsquellen und damit die Verarmung und das Elend hervorrufen“ muß,152 so beklagen sie, daß in der Verfassung und Verwaltung des „gefährdeten Staates“ das Bevölkerungsprinzip nicht oder unzureichend berücksichtigt ist und sie werden dementsprechend kaum eine Heiratsgesetzgebung befürworten, die auf den „Nachweis von Garantien für den künftigen Nahrungsstand“ verzichtet und damit geeignet ist, eine weitere „Verdichtung der
148 Vgl. ebenda, X; vgl. auch: Dohna, Hermann Graf zu: Die freien Arbeiter im Preußischen Staate. Leipzig 1847, 37 f. Hasemann, J.: Die Armuthsfrage. Ursachen und Heilmittel des Pauperismus ... a.a.O. (=Anm. 120), 79 f. 149 Vgl.: Dohna, Hermann Graf zu: Die freien Arbeiter...a.a.O.(=Anm. 148), 37 f. 150 Hofmann, J.G.: Die Macht...a.a.O.(=Anm. 141), 20. 151 So der Pädagoge: Diesterweg, F.(riedrich) A.(dolf) W.(ilhelm): Die Lebensfrage der Civilisation. (Fortsetzung.) Oder: Werden wir vom dritten August dieses Jahres nichts lernen? Zweiter Beitrag zur Lösung der Aufgabe dieser Zeit. Essen 1836, 12; vgl. auch: Dohna, Hermann Graf zu: Die freien Arbeiter...a.a.O. (=Anm. 148), 7. 152 Zur Lösung der socialen Frage. Berlin 1849, 6.
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Bevölkerung“ heraufzubeschwören.153 So läßt sich eine eindrucksvolle Liste „rechtlichstaatlicher“ Ursachen des „Armenthums“ aus der Literatur und der grundsätzlichen Einstellung der Pauperismusautoren zur „neuen Zeit“ ermitteln. Bestimmte in der Pauperismusliteratur diskutierte Ursachen der „Massen-Verarmung“ lassen sich jedoch auf diese Weise nicht erschließen. Dazu zählt zum Beispiel die vielbeklagte „Langsamkeit und Kostbarkeit der Rechtserlangung“,154 überhaupt die Vielzahl von Rechtsstreitereien insbesondere die sehr zahlreichen „Unterthanenprozesse“ gegen die ehemaligen Herrschaften. In diese Rubrik gehört auch die Klage über die unzweckmäßige und unkoordinierte Einrichtung der öffentlichen, der privaten und der körperschaftlichen Armenpflege. Von besonderer Brisanz sind die in diesem Zusammenhang geäußerten Vorwürfe „...die mangelhafte, psychologisch gar nicht berechnete Einrichtung vieler Armenanstalten mehren das Uebel, das sie beschränken sollen.“155 Dieser an Malthus Argumentation von der Schädlichkeit bestimmter Arten der Armenpflege156 erinnernde Vorwurf, hat in Deutschland eine weit in das 18. und frühere Jahrhunderte reichende Tradition. Ein Schwerpunkt dieser Tradition ist die Debatte über die „schädliche“ (d.h. die Bettelei vermehrende) Wirkung „unkontrollierten“ Almosengebens. Schon die „Vorstellung gesellschaftlicher Rechte und gesellschaftlicher Hilfe“ gehört nach dieser Auffassung zu den die Armut bzw. die Bettelei vermehrenden Faktoren, aber auch einzelne Maßnahmen werden kritisiert. So beklagt der Statistiker und „Kriegsrath“ Leopold Krug: „Wenn wir den Fonds zu Erhaltung und Versorgung der Armen verdoppeln, so verdoppeln wir auch die Zahl der stehenden oder etatsmäßigen Armen...“157 Der hohe Geburtenüberschuß, ein Hauptgrund der Armut, werde durch eine „Anstalt“ in der Berliner Charité zur „Entbindung unverheirateter Frauenspersonen“ außerordentlich gefördert. Das „Elend“, welches einem derartigen „Fehltritt“ gewöhnlich folge, verliere seine abschreckende Funktion. Das sogenannte Mitleid habe oft den weisesten Einrichtungen des Schöpfers entgegengearbeitet, „...der mit unmoralischen Handlungen üble Folgen verknüpfte...“158 Von hier läßt sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Argumentation zu einem „Generalgriff“ gegen alles Armenwesen verdichten. Ein anonymer Autor kritisiert, nicht ohne die Zustände des späten Feudalismus auf dem Lande zu idealisieren, die neue, die „gezwungene Armenversorgung“, die „lästig und immer drückender“ für alle Vermögenden werde. Indem diese Armenpflege „...der Noth der vorhandenen Armen geringe Linderung verschafft, stürzt sie ganze Scharen von Menschen, die, wenn sie nichts als auf Fleiß und rechtschaffenes Betragen hätten rechnen dürfen, schwerlich in dem Maße physisch und moralisch verarmt wären, in Leichtsinn, Faulheit, frühe Verarmung und Lasterhaftigkeit.“159 Nunmehr, da die Armenpflege eine Einrichtung des Zwangs und „gänzlich mechanisirt“ sei, lasse selbst der „wohlhabende Bauer“ seine nächsten Verwandten verarmen und übergebe sie der Armenpflege.160 Die Armen würden durch das „Trugbild sicherer Versorgung“ zur „Vermehrung“ angereizt. Die Armenpflege zeuge Leichtsinn, Not und Elend und 153 Vgl.: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XI. 154 Vgl.: Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 7. 155 So zusammenfassend von Buß in: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XII. 156 Vgl. dazu: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97), 95 ff. 157 Krug, Leopold: Die Armenassekuranz...a.a.O.(=Anm. 138), 64. 158 Derselbe, ebenda, 46. 159 Patriotische Phantasien...a.a.O.(=Anm. 111), 5. 160 Ebenda, 6.
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damit und weil die Unterstützungen gering seien, auch die „feindlichen Spannungen“ zwischen Arm und Reich.161 Freiherr von Lüttwitz, Königlich Preußischer Regierungspräsident a.D., betont: „Das Schreckbild der Armuth schützt allein als Amulet gegen Verarmung und moralisches Verderben, immer im Kampf mit der Trägheits-Kraft des Menschen und den Hindernissen der ihn umgebenen Natur.“162 Von Lüttwitz kommt aus dieser Grundeinstellung heraus ebenfalls zu sehr restriktiven und abschreckenden sozialpolitischen Empfehlungen: „In der Regel sollte der Mensch Armenverpflegung nicht hoffen, sondern nur fürchten.“163 Wohl spielt diese Argumentation, die unter anderem mit Blick auf das vor 1834 bestehende englische Armenwesen „vertieft“ wird,164 in abgewandelter Form auch weiterhin bei der Ausgestaltung und dem Umfang der Sozialleistungen eine bis auf den heutigen Tag reichende Rolle, zentral und überragend wird die Bedeutung dieser Denkmuster in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch nicht. Sie werden auch nicht auf alle theoretischen und praktischen Bemühungen um eine Hebung der Lebenslage der „arbeitenden Klassen“ verallgemeinert. Die daraus resultierenden Schlußfolgerungen wären zu reaktionär geraten. Sie hätten keine „politisch-planvolle Gestaltung“ der Lebensverhältnisse der „geringern Volksklassen“ mit dem Ziel der Herrschaftsstabilisierung bzw. Revolutionsverhinderung gestattet. Die radikalisierte These von der „schädlichen“ Wirkung staatlicher (bzw. nichtstaatlicher) Sozialpolitik steht konträr zur „frühmodern-technokratischen“ Orientierung der sozialkonservativen „Frühsozialpolitiker“. Als weitere „rechtlich-staatliche“ Faktoren werden Steuer- und Abgabefragen in ihrer armutsverursachenden und sozialpolitischen Bedeutung erkannt. Die Ausgestaltung des Finanzwesens wird als mitverantwortlich für das „Versinken der untern Volksklassen“ kritisiert. Die Unterschichten hätten „...als die stärksten Konsumenten, die absolut größte Abgabenlast zu tragen...“165 Der Konsument müsse den Steuerbetrag, im Unterschied zum Händler und Hersteller, „...aus eigenen Mitteln aufbringen, ohne auf irgend einem Wege Ersatz dafür zu erlangen; denn es ist eine ganz irrige Meinung, daß z.B. der Tagelöhner die von ihm erhobene indirekte Steuer auf seinen Arbeitslohn schlagen könne.“166 Zusätzlich zu den indirekten Steuern werden die Abgaben zur Sprache gebracht, die an den zunächst noch zahlreichen Zollgrenzen und an den Stadttoren erhoben werden. Die Abgaben hätten neben der preistreibenden Wirkung zur Folge, daß die Beschaffenheit der Lebensmittel verschlechtert werde.167 Drückend wirkten sich hohe „Stempel-Abgaben“ und sonstige Gebühren aus. Während einerseits die Armen, insbesondere die, die ihren Lohn vollständig in Geld und nicht teilweise in Nahrungsmittel ausbezahlt bekämen und keine Möglichkeit der Eigenwirtschaft hätten, unter diesem Steuersystem, „...welches Europa den französischen Financiers des vorigen Jahrhunderts verdankt“168, herabgedrückt würden und gleichzeitig 161 Vgl. ebenda, 15. 162 Lüttwitz, Freiherr von: Ueber Verarmung, Armen-Gesetze,... a.a.O.(=Anm. 139),1. 163 Derselbe, ebenda, 7. 164 So vermerkt Heinrich Zeise, in keinem Land der Welt gäbe es soviel Anstalten für die Armut wie in England und in keinem Land der Welt seien die Armen „träger, liederlicher, ungeschliffener und größere Trunkenbolde“; vgl. denselben: Vorschläge...a.a.O.(=Anm. 133), 54; vgl. auch: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97), 71 ff. 165 Benedict, Friedrich August: Ist die Klage...a.a.O.(=Anm. 114), 14. 166 Derselbe, ebenda, 13 f. 167 Vgl.: Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 8; siehe auch: 16. 168 Steinmann, Friedrich: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 109), 72.
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einer durch hohe Mietzahlungen und Wegfall des „Raff- und Leseholzes“ verteuerten Haushaltung obliegen müßten, seien Luxusbedürfnisse und -genüsse abgabenfrei befriedigt worden.169 Das von Buß angesprochene „unterrichtliche“ Gebiet als Ursache der um sich greifenden Verarmung spielt in der hier zugrundgelegten Pauperismusliteratur vor allem in dreierlei Beziehung eine Rolle: Einmal werden die Inhalte der Erziehung, zum anderen die dort vermittelten „(Geistes-) Haltungen“ kritisiert. Darüber hinaus wird es insgesamt, insbesondere aber auf der Ebene des Elementarschulwesens, als unzureichend, im Extrem als „Heck-, Klipp- und Winckelschulwesen“ (Diesterweg) qualifiziert. Sieht man von einer Kritik der häuslichen Erziehung an dieser Stelle ab, so wird am Schulunterricht in der Pauperismusliteratur schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts kritisiert, daß es sich „falschen“, fürs praktische Leben nicht verwendbaren Inhalten zuwende, Tugenden des Fleißes, der Arbeitsamkeit, Genügsamkeit und des Gehorsams gegen die Obrigkeiten nicht vermittle. Der Religionsunterricht werde nicht im Sinne der Bildung des „rechtschaffenen“, seine Pflichten „froh und weise ausübenden Mannes“ erteilt.170 Dieser Aspekt der „falschen Ausrichtung“ des Schulwesens wird erweitert, wenn behauptet wird, die Volksschule liefere nur eine „formelle Bildung“, die „...gleichgültig dem Bösen wie dem Guten diene...“ oder sie liefere eine „leere Aufklärerei“.171 Insgesamt ist die Kritik am „Unterrichtlichen“ nicht widerspruchsfrei. So findet sich auch die Auffassung, die Schule wecke Bedürfnisse, die dann nicht befriedigt werden könnten. Sie trage so zur Unzufriedenheit im Proletariat bei. Eine über die Vermittlung grundlegender Fertigkeiten hinausgehende Bildung für die gesellschaftlichen Unterschichten sei schädlich. Andere wiederum sehen geradezu in der Armut an „geistigem Gute“ eine Ursache der Entwicklung der „Proletarier“ und des Pauperismus zu einer „unheildrohenden Masse“. In einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen Schrift wird vermerkt, daß die Industrie eines Volkes sehr von seiner „ersten Erziehung“ abhänge, sie sei „...das erste und wichtigste Beförderungsmittel eines blühenden Nahrungsstandes und ohne dieselbe, kann man sich auf den Flor von Gewerbe und Handlung, keine Rechnung machen.“172 Fehlende Erziehung der „Landleute“ zu einem Gewerbe gilt späterhin als eine Ursache der winterlichen Not, der Not in einer Zeit, in der der Aufwand zur Lebens(er)haltung hoch ist und es der ländlichen Bevölkerung an lohnender Beschäftigung mangelt.173 Obwohl das damalige Schul- und Ausbildungswesen allmählich ausgebaut wird und sich den Herausforderungen der „neuen Zeit“ stellt und insbesondere zur Jahrhundertmitte hin ein „ganz neues System von Belehrungsanstalten“ (Bürger- oder Realschulen, höhere Gewerbeschulen, polytechnische Institute, Versuchs- und Lehranstalten usw.) hervorbringt, reißt die Kritik an der fehlenden und „falschen“ Erziehung als Ursache des gefahrbringenden Pauperismus nicht ab.174 169 Vgl. sinngemäß denselben, ebenda, 73 f. 170 Vgl.: Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), 20 ff. 171 Vgl.: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XII. 172 Franz, Friedrich Christian: Vorschläge zu Erhöhung des Nationalwohlstandes und Völkerglücks. Ein Versuch zur allgemeinen Beherzigung und zur Veredelung der unteren Volksklassen, in besonderer Hinsicht auf Landeskultur und Nationalindustrie anwendbar. Dresden 1806, VIII. 173 Vgl. denselben, ebenda, XIX; die Bedeutung der Jahreszeiten für Ausdehnung und „Tiefe“ der Massenarmut betont auch: Die Zustände der arbeitenden Klasse. Beleuchtet und gezeichnet von einem Proletarier. Ein Beitrag zur sozialen Reformation des neunzehnten Jahrhunderts. Düsseldorf 1847, 1. 174 Vgl. dazu: Schnell, Karl Ferdinand: Vorschläge...a.a.O. (Anm.139), 17 f.; Dittrich, J.J.: Unsere Uebergangszeit, betreffend die Erlösung des Proletariats durch die Organisation der Arbeit und des Armenwesen und durch Concentra-
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Kirchliche und religiöse Fragen, traditionell von überragender Bedeutung für den Bereich des Armenwesens, werden nicht nur in den „klassischen Ansätzen“ diskutiert, sondern spielen auch darüber hinaus eine wichtige Rolle. Dabei weichen die Auffassungen teilweise erheblich von den Gedankengängen der „Klassiker“ ab. Einige Autoren des Vormärz rechnen Kirche und Religion in kontroverser Weise ausdrücklich zu den „äußeren Umständen“,175 die der Massenarmut Vorschub leisten und meinen damit keineswegs nur die Zersetzung „bürgerlicher Tugenden“, die von unzweckmäßiger „Charität“ ausgehe.176 Auch die Formung des „inneren Menschen“ durch die Religion, von zahlreichen Autoren als Vorbeugungsmittel gegen den „Umsturz“ sehr geschätzt, erscheint anderen wiederum in einem kritischen Licht. Es findet sich einmal die 1834 publizierte Auffassung des „eifrig katholischen“ Franzosen Jean Paul Alban de Villeneuve-Bargemont in der deutschsprachigen Literatur wieder. Dieser gibt dem Protestantismus eine allerdings indirekte Hauptschuld an der Verarmung der Massen. Die protestantischen Länder seien zugleich die Industrieländer und in diesen trete die Massenarmut am meisten hervor und nehme am schnellsten zu.177 Diese Ansicht, die nach der Auffassung Robert von Mohl’s eine Frucht der „bigotten Abneigung“ des Verfassers gegen den Protestantismus ist,178 erfährt jedoch im Deutschland der damaligen Zeit keine bedeutende und zustimmende Resonanz. Ganz anders argumentiert eine Stimme gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Man habe schon oft die Bemerkung gemacht, „...daß je mehr in einem Lande gebetet, gewallfahrtet und gefrömmelt, je mehr Aufwand in religiösen Ceremonien gemacht wird, desto geringer der Grad des Fleißes, der Industrie und des bürgerlichen Wohlstandes sey...“179 Die Regel „unterm Krumstab ist gut wohnen“ sei durchaus „sehr starken Ausnahmen“ unterworfen. „Andächteley“ und „Bigottismus“ als charakteristisches Kennzeichen mancher Länder auch noch im „aufgeklärten“ 18. Jahrhundert, hindere den Wohlstand und fördere - neben und mit anderen Faktoren - die Armut. „Jener unselige Hang zum frommen Müßiggange, der sich in einer Menge überflüssiger Religions-Übungen gefällt“ wird später insbesondere für die katholischen Länder und daselbst „unter dem weiblichen Geschlechte“ beobachtet.180 Neben die natürlichen Ereignisse, die den Wohlstand und die häusliche Ordnung bedrohen, setzt der Dresdener Publizist Friedrich Christian Franz zu Beginn des 19. Jahrhunderts u.a. die zahlreichen Feiertage im Jahr. Sie schadeten der Landwirtschaft „...besonders wenn sie zur Bestellzeit der Sommerfrüchte treffen“181, oder wenn sie eine Ausnutzung des Erntewetters verhinderten. Tagelöhner würden durch zahlreiche Feiertage (aber auch: durch ungünstige Witterung) einen Lohnausfall erleiden. Der verminderte Lohn müsse aber auf jeden Fall für die Lebenshaltung des ganzen Jahres ausreichen. Regierungen hätten es in tion der Hilfen des Staats, der Gemeinden, der Vereine und der Proletarier selbst. Breslau 1847, 115 ff.; weitere Hinweise insbesondere auf Friedrich Bülau und Robert von Mohl enthält: Scholz, Joachim: Vorläufer...a.a.O.(=Anm. 79), 226 ff. 175 Gerade hierin, in der Anerkennung auch der äußeren Umstände, liegt der wesentliche Erkenntnisfortschritt der Pauperismusliteratur. 176 Vgl. dazu auch: Nostitz und Jänckendorf, G.A.E. von: Versuch über Armenversorgungsanstalten in Dörfern. Görlitz 1801, 2 f. 177 So die Wiedergabe seines Grundgedankens aus: Bülau, (Friedrich): Der Pauperismus... a.a.O.(=Anm. 114), 92 f. 178 Vgl.: Mohl, Robert von: Ueber die Nachtheile...a.a.O. (=Anm. 54), 189. 179 Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), 27. 180 Ebenda, 28; vgl. auch: Fischer, C.A.: Arme. In: Ersch, J.S., Gruber, J.G. (Hg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge...Fünfter Theil. Leipzig 1820, 350 - 353, hier: 350. 181 Vgl.: Franz, Friedrich Christian: Vorschläge...a.a.O.(=Anm. 172), 113.
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der Hand, eine kluge Abhilfe zu schaffen und darauf zu sehen, daß nur noch der Sonntag festlich begangen und bachtet werde. „Die vielen Feyertage, gewöhnen offenbar an den Müssiggang und haben Armuth und Elend zur Folge.“182 Anderseits werden auch Vorzüge inzwischen entfallener traditioneller Religionsausübung gesehen. Der Säkularisation als Folge der napoleonischen Herrschaft,183 wird ein die „Einzeln-Armuth“, mitunter sogar die „Massendürftigkeit“ fördernder Einfluß zugeschrieben. Angesprochen werden die „armenpflegerischen“ Auswirkungen der „Einziehung der geistlichen Güter und Klöster“. Man habe damals dem augenblicklichen Bedürfnis der Staatskassen zur Deckung der Kriegskosten und Tilgung der Landesschulden mehr entsprochen, als dem „Wohl des Volkes“. Durch die Aufhebung der „geistlichen Korporationen“ habe man „...vielen tausend Familien das Mittel zur Unterbringung und Unterstützung ihrer Familienmitglieder und das von dem Ueberflusse gespendete Brod zum Lebens-Unterhalt entzogen.“184 Mit dem Verkauf dieser zu Staatseigentum erklärten „geistlichen Stiftungen und Ansiedlungen“ an „reiche Eigenthümer“ habe man deren Besitz und Reichtum zwar vergrößert, der ärmeren Volksklasse sei aber ein Verlust an „milden Gaben“ und „Gastfreundschaft“ zugefügt worden. Der früher von „geistlichen Korporationen“ abhängige Pächter bzw. der neue Eigentümer sei in seinen Abgaben „gesteigert“ und oft unterdrückt worden.185 Dieser Auffassung von der „segensreichen“ Wirkung kirchlicher Institutionen wird Jahrzehnte nach der Säkularisation angesichts des Bestehens immer noch zahlreicher „geistlicher Korporationen“ entschieden widersprochen, wenn nicht nur von der pauperisierenden Wirkung „unmäßiger Religionsausübungen“ ganz allgemein die Rede ist, sondern auch von der dem „Volkswohlstand“ abträglichen Wirkung zu zahlreicher kirchlicher bzw. religiöser Einrichtungen. Das gesamte vormärzliche Missionswerk der Kirchen wird schließlich in ein schlechtes Licht gerückt, indem festgestellt wird, es kümmere sich vornehmlich um das „Seelenheil“ und vernachlässige, daß mit dem Ora! (Bete!) auch das Labora! (Arbeite!) gefördert werden müsse, daß den „Darbenden und Hülfsbedürftigen“ zu lohnender Beschäftigung Gelegenheit zu geben sei. Die Missionsvereine der beiden christlichen Konfessionen würden „vaterländisches Geld“ in enormen Summen zum Zwecke der Förderung des „Seelenheils der Ungläubigen“ auf die Südseeinseln, zu den Küsten Afrikas, nach Nord- und Südamerika verbringen. „Den materiellen Bedürfnissen der nothleidenden Mitbürger um und unter uns widmet man den geringsten Grad von Aufmerksamkeit... (man) verkennt… ganz und gar die Verpflichtungen der Christenheit in der Nähe. Während man dort aufbauen will, läßt man hier verderben und untergehen...“186 Derartige Kritik an der Kirche zu üben, ist nicht die Absicht christlich-religiöser Kreise. Ihre Konzeptionen nähern sich typischerweise den Gedankengängen Johann Hinrich Wicherns und beziehen diese auf die gesellschaftserschütternde Erscheinung der „Massenarmuth“.187 Sie bringen mithin die „Ablösung der Gesellschaft von dem Offenbarungsglauben“ als Ursache des Pauperismus ins Gespräch. Nicht das Wirken der Kirche und der Religion, sondern ihr Rückzug aus der Psyche des Menschen, das Entstehen von „Glau182 Derselbe, ebenda, 114. 183 Vgl. dazu etwa anklagend: Die Unzufriedenheit der Völker und die Ursachen und Mittel derselben abzuhelfen. München 1833, 30 ff. 184 Posek, Fr. von: Denkschrift...a.a.O.(=Anm. 130), 20 185 Vgl. denselben, ebenda, 20. 186 Steinmann, Friedrich: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 109), 70. 187 Wichern selbst ist primär auf das „Seelenheil“ orientiert.
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benslücken“, der „Abfall von Gott“, ein weiterer Aspekt der „Verweltlichung“, der „Rationalismus“, der „Materialismus“188 und die „bloße kalte Humanität“189 werden zur Ursache der Massenarmut erklärt. Die Abwesenheit „christlicher Bruderliebe“ und das Fehlen der Berücksichtigung christlicher Prinzipien in der Staatsgesetzgebung, die „Brechung des socialen Einflusses der Geistlichkeit auf die Armenpflege“ werden beklagt. Die Kirche, deren „unrationelle“, „bettelfördernde“ Almosenpraxis auf der Schwelle zur „Neuzeit“ so häufig kritisiert wurde, empfiehlt sich nunmehr als eine gesellschaftsstabilisierende, als eine die „Entsittlichung“ mit Religion bekämpfende Instanz.190 Teilweise werden ihr auch, wie von Buß kritisch vermerkt, entsprechende Funktionen von weltlicher Seite angemutet: „Nicht mehr als göttlich ordnende Macht wird die Religion angesehen, sondern höchstens als eine Zuchtmeisterin von der Polizei aufgeboten ... da soll sie bald von der Schließung unvorsichtiger Ehen abmahnen ... bald soll sie das Volk von Fehlern und Leidenschaften reinigen ... bald soll sie Luxus dämmen ... bald die alten innigen Verbände der Familie, Innung, Gemeinde wieder kitten, die eine leichtsinnige Gesetzgebung zersprengt hat.“191 Diese Ansinnen und die überwiegend übernommene Funktion, der „Entsittlichung“ entgegenzuwirken, verweisen auf einen weiteren, einen letzten großen, in der Pauperismusliteratur breit dikutierten und ausgemalten „Ursachenkomplex“ der Massenarmut, auf die „Sitte“ bzw. den Vorgang und den Zustand der „Entsittlichung“ im weiteren und engeren Sinne. Mit diesen auch schon bei den „Klassikern“ geläufigen, heute weitgehend veralteten Begriffen wird einmal das Verhältnis der Geschlechter zueinander bezeichnet. „Entsittlichung“ im weiteren Sinne umfaßt die Summe aller „unangemessenen“ Einstellungen und Verhaltensweisen. Als „unangemessen“ gelten diese immer dann, wenn sie nach Auffassung der Pauperismusautoren geeignet sind, die „arbeitenden“ bzw. die „unteren Volksklassen“ in Not und Elend versinken zu lassen. Auf diesem Gebiet kann die Pauperismusliteratur Argumentationsmuster aus der traditionsreichen Fürsorgeliteratur übernehmen. „Sitte“ und „Entsittlichung“ werden dort unter die Gründe für die „selbst verschuldete“ oder „gemischte“, d.h. teilweise selbstverschuldete, teils auch „äußerlich“ bedingte Armut eingereiht. Bei der Darstellung und Erörterung der Subjektivität und des Verhaltens der gesellschaftlichen Unterschichten ist die Unterscheidung zwischen Ursachen, die zur Einzelarmut führen sollen und solchen, die den Pauperismus als Massenerscheinung erklären sollen, teilweise erheblich verunklart. Die Schriften und Abschnitte einzelner Werke, die auf die „Sitte“ bzw. „Entsittlichung“ der damaligen Menschen abheben, bedienen sich einer emotional aufgeladenen, vorurteils- und angstgeprägten Sprache. Teils wird gerade hier die Spekulation auf Leserbedürfnisse und das Bestreben deutlich, durch „schaurige Sittengemälde“ dem eigenen Anliegen und Werk Bedeutung und Durchsetzung zu verschaffen. Nicht selten wird das Bild einer ins Allgemeine ausgreifenden Zeitkritik entrollt. Die Nähe der benutzten Kategorien zur alltäglichen Anschauung begünstigt zudem, daß gerade auf diesem Gebiet zwi-
188 Vgl.: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XII f. 189 Vgl.: Wagner, A.: Denkschrift über den öffentlichen Nothstand und das Armen-Fürsorgewesen in Bayern mit Rücksicht auf seine Stellung als paritätischer Staat. Nürnberg 1847, 5. 190 Vgl. etwa die folgende von einem Pfarrer verfaßte Schrift: Maier, J.M.: Die Noth der untersten Volksklassen und ihre Abhilfe. Ein Versuch zur Lösung der von Sr. Majestät, dem Könige von Bayern, gestellten Preisaufgabe. Erlangen 1849. 191 Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XXIV.
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schen Ursachen und Erscheinungsformen nicht immer angemessen getrennt wird und der Blick häufig an den Erscheinungsformen haften bleibt.192 Besonders eng mit der im Vormärz herrschenden Übervölkerungsfurcht verbunden sind die vorwurfsvoll und „verständnislos“ vorgetragenen Argumente, die das generative Verhalten der ärmeren Bevölkerung betreffen. Die „...endlose Vermehrung der Volkszahl in den unvermögenden Klassen der Bevölkerung, deren Anwachsen ein Verderben über die Staaten bringt...193, das „Alles verzehrende Wachstum“194 wird gemeinhin auf die geschlechtliche Zügellosigkeit oder einen allgemeinen Mangel an „Berechnen der Zukunft“195 zurückgeführt, der jene sozialen Schichten befallen habe, die zur „Enthaltsamkeit“ die meiste Usache hätten: „...ohne auch nur einige Jahre der Erfahrung durchgemacht zu haben, meistens von Hause aus verwahrlost oder gar verzogen, ohne alle Existenzmittel außer dem täglichen Erwerbe, häufig kaum im Stande, die nothwendigen Kosten der Kopulation etc. zu bestreiten, lebt ein solch junges Paar sorglos in den Tag hinein und kennt kein höheres Streben als das der Befriedigung seiner sinnlichen Bedürfnisse und Leidenschaften.“196 Nicht ganz so „subjektivistisch“ wird das „Streben der Menschen nach dem Familienleben“ immer dann aufgefaßt und bewertet, wenn nicht nur auf das Trachten nach „augenblicklicher Sinnenlust“, auf „Leichtfertigkeit“, „Unbesonnenheit“, „geschlechtlicher Ausschweifung“ abgestellt wird, sondern hervorgehoben wird, den Arbeiter halte kein „äußeres und inneres Mittel“ von der Schließung einer Ehe ab.197 Damit rückt, wie typischerweise bei den sozialkonservativen Autoren der Pauperismusliteratur, auch für dieses Gebiet die „moderne Welt“ in das Fadenkreuz der Kritik: „Regellose Willkür in Wohnsitznahme, Verheirathung und Gewerbsbeginn ist die Größe, welche den Hang der untern Volksklassen zum Familienleben, zur Unabhängigkeit von Andern, immer von Neuem aufregt...“198 Diese, von den „Unterschichten“ ergriffene - keineswegs überall unbeschränkt bestehende Freiheit führe zur „Vielkinderei der untern Klassen, die nicht, wie in der guten alten Zeit, durch Schwert, Eisen und Quacksalber decimirt wird.“199 Dieser „Vielkinderei“ werden nun typischerweise eine Vielzahl von „moralischen“ und materiellen Folgen zugerechnet, die tief in das „schauderhafteste Elend“ führten. Was die materielle Seite betrifft, müssen derartige Folgen tatsächlich auch in einer Situation des ständigen Lebens von der arbeitenden Hand in den immer hungrigen Mund unterlegt werden. Mit den Kindern kehre die Armut in die Familie ein, die vordem schon kaum mit zwei Löhnen zu ernähren war. Der Ehestand werde „...durch fortwährende Nahrungssorgen zum Wehestand und das Lebensglück des jungen Gatten und Vaters, der jungen Frau und Mutter ist in der Blüthe muthwillig geknickt und zerstört worden.“200 Die Familie mehre sich, die Frau höre gezwungenermaßen auf zu arbeiten, die Kinder erforderten einen höheren Auf192 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Einschätzung der Literatur bei: Preußer, Norbert: Not macht erfinderisch. Überlebensstrategien der Armenbevölkerung in Deutschland seit 1807. München 1989, bes. 23 ff. 193 Benedict, Friedrich August: Ist die Klage...a.a.O.(=Anm. 114), X. 194 Vgl. denselben, ebenda, XI. 195 Diesen Aspekt betont: Obermüller, Wilhelm: Das Gütergleichgewicht. Eine Lösung der Frage, wie ist dem Elend der arbeitenden Volksklassen abzuhelfen?...Constanz 1840, 74. 196 Die Zustände der arbeitenden Klasse...a.a.O.(=Anm. 173), 21 f. 197 Vgl.: Kruse, C.(arl) A.(dolph) W.(ernhard): Zur Abhülfe des Proletariats. Ein altes Mittel gegen ein neues Uebel. Elberfeld und Iserlohn 1848, 11. 198 Benedict, Friedrich August: Ist die Klage...a.a.O.(=Anm. 114), 41 f. 199 Kruse, C.(arl) A.(dolph) W.(ernhard): Zur Abhülfe...a.a.O. (=Anm. 197), 7. 200 Veritas, Vincens: Die Wünsche und Forderungen der Arbeiter an ihre Arbeitgeber und an den Staat. Zur Verständigung und Beruhigung Aller allseitig beleuchtet und erläutert von einem Arbeiter. Leipzig 1848, 21.
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wand und nun ruhe alles auf der Schulter des Mannes.201 Krankheit, Arbeitslosigkeit, strenge Winter, Teuerung führten zum Absinken in das Bettlertum. Die Armen, bald aller „irdischen Mittel“ bloß, würden dann allerdings auch „moralisch“ bzw. „sittlich“ sinken. Mit dem Verlust der „Habe“ beginne für die verarmten Familien ein neues Leben. Der Berliner „Armen-Commissions-Vorsteher“ Gottlieb S. Liedke schildert: „Das Leben, für das sie nun meinen doch nichts mehr erwerben zu können, behält für sie nur noch Werth um der augenblicklichen Befriedigung sinnlicher Genüsse willen. Nach dem Empfange des Tage- oder Wochenlohns wird der Höker oder Wirth bezahlt, und von dem, was danach übrig bleibt, der Gaumenkitzel gestillt. Bares Geld können die Armen nun nicht mehr leiden, sie wissen, es geht ihnen doch verloren, und finden darum nicht eher Ruhe, als bis der letzte Heller die Tasche verlassen hat. Und trugen sie auf diese Weise ihre eigene Sittlichkeit zu Grabe, so werden sie von nun an auch selbstredend wenig besorgt sein, den Wachsthum derselben an ihren Kindern zu fördern. Das künftige Geschick ihrer Lieben, es liegt ihnen nicht mehr am Herzen! Lüderlich geworden, ging ihnen in Folge dessen ja die Arbeitslust verloren; faul geworden, müssen sie nothwendig in größere Noth versinken und sich gegen den Schrei derselben zu betäuben, denkt dann allein noch ihre zum Thierischen hinabsteigende Seele. Können sie aber selber nun nicht mehr genug erwerben zur Stillung ihrer unseligen Genüsse, so fallen sie gar häufig auf den Gedanken, sich zur Befriedigung derselben ihrer Kinder zu bedienen, und diese werden dann von ihnen gezwungen, Geld anzuschaffen, gleichviel ob durch Betteln, durch Stehlen oder durch Laster.“202 Der Berliner Armenkommissarius nähert sich damit einer Beschreibung, die Friedrich Wilhelm Gaum zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt, wenn er den typischen Bettlerfamilien „von Profession“ zuschreibt, der Erwerb von Geld ohne Arbeit sei der letzte und einzige Zweck des Strebens, das jedes Mittel heilige: „...die Töchter geben sich frühzeitig preis und wuchern mit ihren Reitzen; die Söhne betteln und stehlen; die Mütter handeln, so lange es geht, mit ihren Annehmlichkeiten, wenn diese verblüht sind, werden sie Kupplerinnen; die Väter ziehen gleich irrenden Rittern auf Abentheuer im Lande umher...“203 Äußerste Disziplin der Lebensführung, Wirtschaftlichkeit, d.h. die Aufbietung aller Kräfte zum Erwerb und sparsamste Verwendung des Erworbenen, Fleiß, „Haushaltskunst“ und äußerste Ausgabendisziplin sind Verhaltensweisen, die der „noch aufrecht und selbstständig stehende Theil der Nazion“204 den Unterschichten dringend zurät. In einer sich beschleunigt umwälzenden, in Bewegung und Unruhe geratenen Welt in der land- und zunftlose Leute, ein „Vierter Stand“, ein „Stand der Standlosen“ sich „drohend erhebt“ und die politische Bühne betritt, erscheint der „...Sinn des Volkes für Sitteneinfalt, Strenge, Sparsamkeit, Ordungsliebe in glücklicher Beschränktheit, (der) Muth der Entbehrung...“ gelähmt.205 „Unerschöpflich“ ist die Liste der Eigenschaften und Verhaltensweisen, die als Gründe der Armut diskutiert werden. Von Üppigkeit, Faulheit, Völlerei, Spielsucht, Unwissenheit, Ungeschick, Mangel an Urteilskraft, Unüberlegtheit, Liederlichkeit, Eitelkeit, dem Hang zur Verschwendung, Unredlichkeit, Leidenschaften, „Thorheiten“, Fehlern usw. ist die Rede, die zeigt, wie wenig die „gesellschaftlichen Unterschichten“ als angepaßt an ihre 201 Vgl.: Benedict, Friedrich August: Ist die Klage...a.a.O. (=Anm. 114), 44 f. 202 Liedke, G.(ottlieb) S.(amuel): Hebung der Noth der arbeitenden Klassen durch Selbsthilfe. Eine Handlung. Berlin 1845, 22. 203 Gaum, Friedrich Wilhelm: Praktische Anleitung...a.a.O. (=Anm. 3), 3 f.; im Original gesperrt. 204 So ein Sprachbild bei: Krug, Leopold: Die Armenassekuranz...a.a.O.(=Anm. 138), 22. 205 So von Buß in: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XIII.
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Lebenssituation gelten.206 In den Worten Liedkes: „Putz-, Gefall-, Heiraths-, Selbständigkeits-, Vergnügungs-, Bequemlichkeits- und Studir-Sucht, und aus diesen entspringend: Erhebung über den eigentlichen Stand, Schuldenmachen, Ehescheidungen, Verarmungen, Banquerotte und Laster.“207 Unspezifischer wird u.a. die „Denkungsart unserer Zeiten“, die Abscheu vor aller Anstrengung des Körpers, wie des Geistes, eine tödliche „Kälte und Fühllosigkeit gegen alles Große und Erhabene“ als ein wichtiger Grund der Verarmung schon im Spätfeudalismus diagnostiziert,208 und damit zugleich gezeigt, wie schnell sich derartige Analysen im Allgemeinen verlieren können. Der unmäßige Konsum „geistiger Getränke“ und von Tabak werden besonders häufig als Quelle der Not der „arbeitenden Klassen“ hervorgehoben, ohne daß man sich sonderlich bemüht, die Ursachen dieses verbreiteten Suchtverhaltens angemessen zu erfassen.209 Behauptet wird: „Seitdem in Preußen Hermbstädt gelehrt hat, möglichst wohlfeil aus Kartoffeln Spiritus zu brennen, fließt dieß physisch-moralische Gift ... in die Kehlen der niederen Volks-Klassen übermäßig...“210 Jedes Glas Branntwein, warnt der Freiherr von Lüttwitz, führe dem Verarmen näher.211 Wir sahen, berichtet der westdeutsche Industrielle Friedrich Harkort, „...Gegenden des Vaterlandes, wo Kartoffeln, Sauerkraut und Branntwein Bedürfnisse sind, dagegen Schuhe, Strümpfe und Brod zum Luxus gehören - dort lag auch Nacht über dem geistigen Menschen!“212 Das Verdikt des übermäßigen Alkoholgenusses trifft schon die Handwerksmeister der noch zünftig gebundenen Gewerbe, denen vorgehalten wird, sie ließen die Gesellen für sich arbeiten und besuchten währenddessen die Schenken und „Bierhäuser“.213 So wird das „...Wirthshaus die reichste und unversieglichste Quelle der Armutei.“214 Die Kinder der Armen unterlägen bereits vom Elternhause her der Versuchung, zu Alkohol und Tabak zu greifen und dies umsomehr und ungestörter, da sie nur dem Vater nachahmten und „...sie durch diese Genüsse ihre Männlichkeit und Mündigkeit zu bekunden meinen, die ihnen das Ansehen der Erwachsenen verschaffen soll.“215 Diese Leute bewegten sich von „Geschlecht zu Geschlecht“ in einem „Zauberkreise“, dem sie sich nicht mehr entwinden könnten. Nur selten wird den dem übermäßigen „Branntweingenusse“ ergebenen „Trunkenbolden“ Verständnis entgegengebracht. Man sehe sich diese nur an, urteilt als Verfasser einer „gekrönten Preisschrift“ Karl Ferdinand Schnell: „Wie unsicher ist ihre Haltung, wenn sie nicht getrunken haben; wie umnebelt ihr Sinn; wie stumpf und todt ihr besseres Gefühl...; wie unzuverläßlich und bestialich zuletzt ihr Blick und Wesen, wenn, dem Laster als Sklaven in die eisernen Arme gesunken, das Tollwasser durch ihre Adern rollt und die Besserung fast unmöglich ist.“216 206 Vgl.: Fischer, C.A.: Arme...a.a.O.(=Anm. 180), 350; Das Armenwesen nach allen seinen Richtungen... a.a.O.(=Anm. 139), 2; Der Nothstand der untern Volksklassen mit seinen augenfälligen, nahen und entfernten Ursachen und den ausführbaren sichern Mitteln zu seiner radikalen Bekämpfung. Den Fürsten und ihren Ratgebern... Königsberg 1848, 8 ff. 207 Liedke, G.(ottlieb) S.(amuel): Hebung...a.a.O.(=Anm. 202), 9. 208 Vgl.: Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), 23. 209 Vgl. dazu auch: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97), 66. 210 Vgl.: Lüttwitz, Freiherr von: Ueber Verarmung...a.a.O. (=Anm. 139), 11. 211 Vgl. denselben, ebenda, 13. 212 Harkort, Friedrich: Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation u. Emancipation der untern Klassen. Elberfeld 1844, 36. 213 Vgl.: Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110) XII f. 214 Ernst, G.: Der Pauperismus und die Armennoth. Winterthur 1852, 19; zit. nach: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97), 66. 215 Der Nothstand der untern Volksklassen...a.a.O.(=Anm. 206), 9. 216 Schnell, Karl Ferdinand: Vorschläge zur Verbesserung...a.a.O.(=Anm. 139), 26.
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Die zahlreichen Vorwürfe an die Adresse der Armen werden, wenn und soweit sie die Konsumgewohnheiten betreffen, häufig zu einem einzigen Begriff verdichtet, zum Begriff des „Luxus“. Nur selten wird dieser vorgeblich in den „arbeitenden Klassen“ immer mehr überhandnehmende „Luxus“ näher definiert. Der pensionierte Obertribunalrat J.G.B. Härlin versteht unter „Luxus“ einen „...mit dem Glücks- und sonstigen Umständen des Einzelnen nicht im Verhältnisse stehende(n) Aufwand in Kleidung, Mobilien, Speisen und Getränke u.s.w. ...“217 Er zählt auch „übergroßen“ Aufwand bei Familienfesten in diese Kategorie. Bei anderen Autoren wird mitunter deutlich, daß Kaffee- und Teegenuß diesen Tatbestand erfüllen. Auch der Hang zum „Luxus“ wird aus den Strukturen der „modernen Welt“ abgeleitet, indem festgestellt wird, die Erzeugnisse der Industrie köderten die „Begierlichkeit“ und zerstörten den Sinn des Volkes für „Sitteneinfalt, Strenge, Sparsamkeit, Ordnungsliebe in glücklicher Beschränktheit, den Muth der Entbehrung.“218 Ein Bezug zu den Ideen von 1789 und die daraus folgende Zersetzung der ständischen Ungleichheit wird hergestellt, wenn festgehalten wird, daß eigentlich jeder nach seinem Stand seine Bedürfnisse einrichten solle, daß man sich doch dagegen sträube, da das „Bewußtsein der Gleichheit“ nun einmal da sei. Die Folge sei ein Wetteifer der unteren mit den „wohlhabenden und reichen Klassen“ in Äußerlichkeiten. Eine vernünftige Verwendung der Mittel für die ersten, die dringlichsten Bedürfnisse des Lebens werde so verhindert.219 Was der „männliche Theil“ in Getränken und Tabak finde, daß suche der „weibliche Theil“, sobald er in die Städte in Dienst gehe, in „Putz und Kleidern“, die er nicht für seine Lage, „...sondern nach dem Beispiel seiner Brodherrschaft wählt.“220 Als „augenscheinlich und unleugbar“ gilt zahlreichen Kritikern der „neuen Zeit“ der verderbliche Einfluß, den Fabriken nicht nur auf den „Leib“ sondern und häufig vor allem auf die „Seele“ der Fabrikarbeiter und ihr Familienleben ausübten.221 Aus der grundherrlichen oder zünftigen und hausväterlichen Ordnung der Handwerksbetriebe, aus der Kontrolle und wechselseitigen Hilfsverpflichtung auf hergebrachter, religiös-sittlicher Grundlage herausgelöst, sozusagen in die „soziale Sünde“ versetzt,222 wird die Fabrik als eine Stätte geschildert, in der Areligiosität, „Sittenlosigkeit“ und Rohheit herrschen. Der Fabrikant Heinrich Bodemer beklagt die Fabriken würden von den Gegnern des Fabrikwesens als „Schulen der Prostitution des weiblichen Geschlechts“ bezeichnet.223 Diese Vorwürfe werden im Vormärz offenbar zu (erfolgslosen) politischen Vorstößen benutzt, die Schließung dieser „Schulen des Lasters“ zu fordern. Über den Einfluß der Fabrikarbeit auf Kinder ist zu lesen: „Die anstrengende Beschäftigung, das tödtende Einerlei der selben, die ungesunde Fabrikluft, die frivolen Gespräche und schlechten Sitten der älteren Arbeiter, alles wirkt erdrückend und zerrüttend auf Körper und Geist, welche sich beide an der ihnen werdenden spärlichen Nahrung gegen solche Anfechtungen nicht zu kräftigen vermögen.“224
217 Härlin, J.G.B.: Darstellung...a.a.O.(=Anm. 120), 1. 218 Vgl.: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XIII. 219 Vgl.: Berends, Julius: Wie ist die Noth der arbeitenden Klassen abzuhelfen? Leipzig 1847, 5. 220 Vgl.: Der Nothstand...a.a.O.(=Anm. 206), 9. 221 Vgl.: Ein Besuch in einer öffentlichen Fabrik. In: Oesterreichischer Volksfreund, 1852, Nr. 108, 577 - 580, hier: 577. 222 Eine meisterhafte Darstellung dieser Verhältnisse und ihrer Zersetzung findet sich bezogen auf das Handwerk aus der Feder des „Gesellenvaters“ Adolph Kolping unter dem Titel: Für ein Gesellen-Hospitium. In: ebenda, Nr. 112, 645 646; Nr. 113, 653 - 661. 223 Vgl.: Bodemer, Heinrich: Ueber die Zustände...a.a.O.(=Anm. 141), 18. 224 Partz, August: Entwurf zu einer Lösung der socialen Frage für Deutschland. Braunschweig 1849, 11 f.
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Die „moralischen Vorwürfe“ an die Adresse der Armen bzw. der „arbeitenden Klassen“ wollen kein Ende nehmen. Bei einer derartig ausgeprägten Betonung der „Sitte“ und „Sittenverschlechterung“, an der Vertreter des christlichen Glaubens als Priester und Laien einen erheblichen Anteil haben,225 können auch Vorwürfe nicht ausbleiben, die angesichts der sozialen Krise des Vormärz im hohen Ausmaß zynisch sind. Der Diakonus an der Feldkirche zu Preetz, Carl Wilhelm Brodersen, vermerkt, alle Notleidenden würden die Schuld ihrer Verarmung auf äußere und zufällige Ereignisse schieben.226 Als Resultat seiner Überlegung faßt er zusammen, daß die Verarmung so vieler Menschen, wenn auch immer durch äußerliche Umstände mit befördert, so doch keineswegs durch diese notwendig gemacht worden sei. Es sei nicht so, daß diese Menschen der Verarmung nicht hätten entgegen arbeiten und ihr dadurch hätten entgehen können: „Eine noch schwerere Last aber als die Armuth, ist das Bewußtseyn, die Armut selbst verschuldet zu haben, und daher beginnt der Mensch natürlicher Weise zuerst damit, diese Schuld von sich abzuwälzen, unbekümmert wohin sie falle...“227 Nach der Darstellung der Ursachen, sollen nunmehr die zur Sprache gebrachten („bedrohlichen“) Folgen des Pauperismus betrachtet werden. Die Pauperismusautoren folgen den „Klassikern“ in der Erkenntnis, daß nicht der Pauperismus „als solcher“ eine revolutionäre Gefahr sei, sondern daß nur eine spezifische, sich leicht mit dem Pauperismus verbindende „Gesinnung“ zum Kampf um die Grundlagen der Gesellschaft führen könne. Der der „Socialreform“ weitgehend abholde Gedanke, die bewußtseinsmäßigen Auswirkungen der Massennot könnten darin bestehen, daß sich die pauperisierten Massen als „Soldaten einer geschlagenen Armee“ fühlen, kommt ihnen (ebenso wie den „Klassikern“) im „Zeitalter der europäischen Revolution“ nicht in den Sinn. Der „Augenschein“ läßt diese Deutung offensichtlich nicht zu. Das allseits befürchtete, vermutete und in den in- und ausländischen (Unterschichts-) Unruhen greifbare „Potential an innerer Auflehnung, an Negation, an zersetzender Kraft“228 als typische Auswirkung der „Massennoth“ wird auch von den Pauperismusautoren nicht nur festgestellt, sondern in eine Lehre des Zusammenhangs von „Gesinnung“ und Lebenssituation bzw. Gesellschaftsstruktur und -entwicklung eingebettet. Das heißt, die Pauperismusautoren schreiten ebenfalls fort zur Entwicklung einer typischerweise nicht individualpsychologischen sondern immer sozialpsychologischen „Lehre“ von den Bewußtseinsinhalten und der Bewußtseinsentwicklung bei den verarmten Bevölkerungsteilen. Hinzu treten auch bei ihnen bestimmte Auffassungen über die aus diesem Bewußtsein erwachsenden politisch bedeutsamen Handlungen. Eingebettet in einen insgesamt als sozialpolitisch zu qualifizierenden Gesamtzusammenhang, entrollt sich so ein Stück weiter das Bild einer frühen, ohne fundierte empirische Forschungsmethoden entwickelten politischen Psychologie, das durchaus eigenständige, über die „Klassiker“ hinausweisende Züge kennt. Unter den Bedingungen derartiger Grundorientierungen erscheinen insbesondere die Massen- aber auch die Einzelarmut von vornherein als soziale Zustände, die bei den Betroffenen „Hemmungen“ abbauen, zu neuen Handlungensstrategien verleiten, die sich nicht mehr an den gegebenen Rahmen von Recht und Gesetz halten. Was vorher Leidenschaft und erhitztes Blut für sich allein nie vermocht habe, dazu reize Not und Elend, heißt es. Es 225 Vgl.: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97), 65. 226 Vgl.: Brodersen, Carl Wilhelm: Die Armuth...a.a.O.(=Anm. 120), 16 ff. 227 Derselbe, ebenda, 21. 228 Vgl.: Jantke, Carl: Zur Deutung...a.a.O.(=Anm. 89), 26.
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wird die rhetorische Frage gestellt, was Ehrlichkeit und Tugend für einen von Elend Gemarterten seien.229 Dadurch, daß der Proletarier sich auf der untersten Stufe der Gesellschaft befinde, dadurch, daß er sich in einer aussichtslosen Lage sehe, wo er nichts zu verlieren habe, weil ihm nichts gehöre und er nichts gelte, so eine Einsicht aus dem Jahre 1844, seien aus seiner verzweifelten Stellung heraus in jedem Augenblick verzweifelte Schritte zu befürchten.230 Eine Auflösung moralischer Zwecke gehe von der Armut aus.231 Noch, betont ein anderer Zeitzeuge, seien „Biedersinn und Treue“ aus „deutscher Brust“ nicht entwichen, doch das Mißraten einer einzigen Jahresernte würde ein „verzweifeltes Losungswort“ durch Deutschland schleudern, Not kenne kein Gebot.232 Unter der sich ausbreitenden Not schwänden Schutz, Sicherheit und Ruhe, „diese Hauptzwecke des Staatsvereins“ dahin.233 Durch die Bevölkerungsvermehrung habe man der großen Masse nur den Wechsel gelassen, entweder auszuwandern, oder aber die Reichen zu plündern.234 Ein derartiges „Plündern“ der Reichen findet allerdings lediglich im mundräuberischen Einzelfall eines ansonsten „ordentlichen“ und „rechtschaffenen“ Familienvaters ein gewisses „Verständnis“. Ein anonym publizierender „Mann aus dem Volke“ schildert: „Belauschen wir einen dieser armen Familienväter, wie er im Winter des Sonnabends von seiner Arbeit in seiner Hütte eintrifft, sehen wir, wie er in die elende Stube eintritt, in welcher seine Kinder auf der bloßen Erde, in Lumpen gehüllt, ausgebreitet liegen (doch sehen können wir es nicht, denn wo sollte Licht herkommen), ahnen wir also, wie er zwischen seinen Kindern hertappt, um auf der Erde ein leeres Plätzchen zu finden, auf dem er seine müden Glieder auszuruhen hofft; hören wir endlich, mit welch herzzerreißendem Ton ihn seine Frau fragt, ob er Brod mitgebracht; hören wir es, wie das von der Mutter ausgesprochene Wort ‘Brod’ die armen, an Geist und Körper verwahrlosten, abgemagerten, von Ungeziefer gequälten Kinder aus dem Schlafe aufschreckt, und wie diese armen Wesen in ihrer Schlaftrunkenheit das Wort ‘Brod’ instinktmäßig nachlallen, und ermessen wir dann das Gefühl des armen Mannes, der nicht im Stande ist, den Hunger seines Herzbluts zu stillen.“235 Man solle sich nicht wundern, wenn man diesen Mann nächstens gefesselt vorbeigeführt sehe, weil er gestohlen habe, um die „süsse Lust“ einmal zu genießen, seine Kinder satt füttern zu können. Trete aber zur Massenarmut jene Weckung des „Thiers im Menschen“, jene vielbeschriebene „Verwilderung“, jene „moralische Degeneration“ in den Lebensansichten und im Erwerb hinzu, so sind nach verbreiteter Ansicht jene „classes dangereuses“ bereits entstanden,von deren Dasein und Unterabteilungen in den großen Städten, dem eigentlichen Ort der „Massen“, Honoré Antoine Fregier berichtet,236 wenn nicht sogar sozialrevolutionäre Bewegungen vermutet werden.
229 Vgl.: Franz, Friedrich Christian: Vorschläge...a.a.O.(=Anm. 172), 23 f. 230 Vgl.: Fallati: Das Vereinswesen als Mittel zur Sittigung der Fabrikarbeiter. In: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, 1(1844), 736 - 791, hier: 747. 231 Vgl. auch: Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 20. 232 Vgl.: Die Preisfrage des Königs beantwortet nach Vernunft und Wahrheit. Ein freies Wort jedem ehrlichen Deutschen insbesondere jedem Bayern gewidmet. München 1849, 18. 233 Vgl.: Lawätz, Johann Daniel: Ueber die Sorge...a.a.O. (=Anm. 111), 302. 234 Vgl.: Die Unzufriedenheit der Völker und die Ursachen und Mittel derselben abzuhelfen. München 1833, 29 f. 235 Die Armuth und die Mittel ihr entgegen zu wirken. Von einem Manne aus dem Volke. Leipzig 1844, 8. 236 Vgl.: Fregier, H.A.: Ueber die gefährlichen Classen der Bevölkerung in den großen Städten und die Mittel, sie zu bessern. Von der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften gekrönte Preisschrift. Aus dem Französischen übersetzt von C. von M. Coblenz 1840.
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Die Analyse begnügt sich nicht mit der Beschreibung der „sittlichen Verwilderung“, die aus der Massenarmut entspringe,237 sondern bezieht in die Betrachtung die Bewußtseinsinhalte mit ein, die daraus erwachsen würden, daß sich neben der Armut der Reichtum häuft und daß zwischen beiden Erscheinungen ein offensichtlich enger Zusammenhang bestehe. Mit Blick auf die gewaltsamen Unruhen im Deutschland des Jahres 1844 wird formuliert, der „Contrast“ zum Reichtum sei es gewesen, der das Gehirn der Armen „...zur Wuth entflammte und zur Vernichtung.“238 Habsucht, Wucher, prahlerische Zurschaustellung des mitunter betrügerisch, unredlich oder durch Spiel erworbenen Reichtums, „Manufakturen des Luxus“, die nur ihren Erfinder bereichern, zu deren Reichtum die unteren Klassen durch ihre Armut beizutragen gezwungen sind, auf der einen Seite, Not und Elend auf der anderen, das seien die Gegebenheiten, die zu „giftigem Haß und Neid“,239 zu „verbissenem Groll“ und zur „feindlichen Stimmung der Stände gegeneinander“240 beitrügen. Von hier, von der Erscheinung, daß viele „...mitten im Überfluß an allen Bedürfnissen des Lebens, Mangel leiden mußten...“241, von den mentalen Auswirkungen einer sich - nach Auffassung vieler sozialkonservativer Autoren - in zwei Klassen aufspaltenden Gesellschaft, läßt sich Anschluß an die Ausführungen Hegels von der entwicklungsnotwendig mit der bürgerlichen Gesellschaft eintretenden inneren Empörung der Armen gegen die „Reichen“, die Gesellschaft und das politische „Oben“ gewinnen. Durch die Pauperisierung und die abgründige soziale Ungleichheit, durch die erkennbare Ausbeutung der Arbeitskraft zu Nutzen der Reichen verbunden mit massenhaftem Elend, so läßt sich die Diskussion zusammenfassen, sei die Gesellschaft in einen Zustand erleichterter „Erregbarkeit“ versetzt, sie sei sozusagen „infektiös“ geworden.242 Von dieser an von Baader erinnernden Zeitdiagnose aus, wird, wie so oft in anderen Zusammenhängen auch, an die frühere, die statische und religiös durchwirkte Welt gemahnt, an eine Welt, in der jeder seinen Platz gehabt habe und in der sich Aspirationen mit Ständeschranken gedeckt hätten. Früher hätten die Arbeiter garnicht daran gedacht, daß ihre Stellung nach ihrem Stand anders sein könnte, „...weil sie glaubten, Gott habe es so geordnet, jetzt ein ganz anderes Bewußtsein als Resultat der Bildung und Entwicklung hervorgebrochen ist, nämlich des Bewußtsein einer allgemeinen Gleichheit aller Menschen, nicht bloß im Himmel, sondern hier auf Erden.“243 Deshalb sei die „Masse“ nicht nur gewachsen, sondern auch qualitativ verändert. Der Glaube, der „tröstete“ und „ermunterte“ und auch „niederhielt“, sei durch Aufklärung, Bildung des Verstandes und des Wissens geschwächt oder gewichen. Begehrlichkeit und Unzufriedenheit seien geweckt.244 Der Geist der Kritik, des Mißmutes, der Veränderung, die „Raserei umzustürzen“,245 und „Wiederaufzubauen“, eine verdächtige Zunahme des politischen Interesses, angeregt durch zahlreiche Zeit- und Flug-
237 So eine Definition von Pauperismus bei: Maier, J.M.: Die Noth...a.a.O.(=Anm. 190), 1. 238 Vgl.: Wenckenstern, Otto von: Die deutsche Industrie und der Verein zur Abhülfe des Nothstandes der deutschen Fabrikarbeiter. Bonn 1844, 6. 239 Vgl.: Schmidt, Friedrich: Ueber die Zustände...a.a.O. (=Anm. 120), 113 f. 240 Vgl.: Steinmann, Friedrich: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 109), 33. 241 Gall, Ludwig: Was könnte helfen? ...a.a.O.(=Anm. 132), 3. 242 Vgl.: Dittrich, J.J.: Unsere Uebergangszeit...a.a.O.(=Anm. 174), 296. 243 Berends, Julius: Wie ist der Noth der arbeitenden Klassen ...a.a.O.(=Anm. 219), 4. 244 Vgl.: Zyro, Ferd.(inand) Fried.(rich): Antipauperismus oder prinzipielle Organisation aller Lebensverhältnisse zu Unterstützung der Bedürftigen und zu Verminderung menschlichen Elends. Allen Freunden der leidenden Menschheit gewidmet. Bern 1851, 1 f. 245 Vgl.: Die Unzufriedenheit der Völker...a.a.O.(=Anm. 234), 7.
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schriften, die Tatsache, daß „Politik und nichts als Politik“ überall an der Tagesordnung sei,246 werden registriert. Ausgerechnet in einer Situation, in der die Massenarmut, die soziale Ungleichheit, die Ausbeutung, der Verfall der Ständeordnung und Religion, die Verbreitung der Aufklärung und der französischen Revolutionsideale bei den Unterschichten zu einer „gefährlichen“ Bewußtseinslage geführt hätten, sei, so die Pauperismusautoren, auch noch das Eindringen eines „düsteren Gespenstes“, d.h. das Eindringen der Lehren des „Communismus und Socialismus“ nach Deutschland zu diagnostizieren. Dieses später von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beschworene und von Lorenz von Stein zurückgewiesene „Gespenst“ rechtfertigt bei den sozialkonservativen Zeitgenossen die schlimmsten Befürchtungen und entschiedenste Abwehr. Das „Gespenst“ des „Communismus und Socialismus“ sei erzeugt von „...listigen, boshaften oder quergebildeten Köpfen; genährt und gepflegt durch den so natürlichen und verzeihlichen Neid, welchen die Vergleichung der eigenen Gedrücktheit mit dem Wohlbefinden der besser Gestellten hervorruft; großgezogen durch Mangel an Fürsorge, durch Unkunde oder Vernachlässigung der wesentlichen Bedürfnisse dieses Standes, und hier und dort zum Ausbruch gebracht durch Noth oder Leidenschaft...“247 „Communismus und Socialismus“ werden, nicht ohne daß sich häufig eine chauvinistisch geprägte Frankreich-Feindschaft ausdrückt, ebenso wie die Revolutionsideale Freiheit und Gleichheit als „falsche Theorien“ bezeichnet, die das dem „...deutschen Wesen entsprechende Gebäude unseres Volks- und Staatslebens zu zerstören drohen.“248 Während der „Socialismus“ mitunter in einem milderen Licht erscheint, aber meist ebenfalls wegen seiner „falschen Prinzipien“, „unrichtigen Prämissen“ und der „Verkennung“ der „menschlichen Natur“ der Ablehnung verfällt, trifft den „Communismus“, wegen seiner Frontstellung gegen das bürgerliche Eigentum, erbitterte Ablehnung. Soziale Lage und kommunistische Ideologie bzw. Theorie zusammendenkend, „erkennt“ der Fabrikant Harkort: „Quelle des Kommunismus ist die Armuth und Besitzlosigkeit der untern Klassen, daher der Krieg, welchen er dem Eigenthum erklärt. Indem der Kommunismus das absolute und allgemeine Anrecht der Einzelnen auf Alles verspricht, Gütergemeinschaft verlangt und die Ehe aufhebt, ist er der gefährlichste Feind der Gesellschaft; Freiheit und Eigenthum treten zum Vernichtungskampfe in die Schranken.“249 Der „Pöbel in der Masse“, von dem man traditionell, erst recht aber 1848/49 annimmt, er sei durch „Wortklänge“ leicht zu „bethören und zu verleiten“250, er sei vom „Fermente des Socialismus und Communismus reichlich durchsäuert“,251 er befinde sich immer in der Gefahr oder im Zustand der „Aufwiegelung“ und „Verführung“ durch „geheime Leithammel“, wird entgegen den Ergebnissen der heutigen Sozialgeschichtsschreibung auf dem Weg zur Ausbildung eines durchgängigen „proletarischen Klassenbewußtseins“ gesehen. Die soziale Revolution, die „rothe“ oder „social demokratische Republik“, so der „königliche Pfarrer, Dekan, Distrikt-Schul-
246 Vgl.: Tzschirner, Heinrich G.: Die Gefahr einer Deutschen Revolution. Leipzig 1823, 6. 247 Dittrich, J.J.: unsere Uebergangszeit...a.a.O.(=Anm. 174), 289; erstmals benutzt Lorenz von Stein in seiner Jugendschrift von 1842 das Sprachbild des „Gespenstes“; vgl. denselben: Der Socialismus...a.a.O. (=Anm. 31), 4. 248 Vgl.: Schulze, Friedrich G.: Die Arbeiterfrage nach den Grundsätzen der deutschen Nationalökonomie, mit Beziehung auf die aus Frankreich nach Deutschland verpflanzten Systeme des Feudalismus, Merkantilismus, Physiokratismus, Socialismus, Communismus und Republikanismus. Jena 1849, VIII. 249 Harkort, Friedrich: Bemerkungen...a.a.O.(=Anm. 212), 77. 250 So: Lüttwitz, Freiherr von: Ueber Verarmung...a.a.O. (=Anm. 139), 6. 251 Vgl.: Maier, J.M.: Die Noth ...a.a.O.(=Anm. 190), 4.
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Inspektor und Landrath“ J. M. Maier im Jahre 1849,252 nimmt in den Köpfen der Sozialkonservativen bedrohliche Gestalt an. Diese Erscheinung in abgeschwächter Form auch für Deutschland unterstellend, spricht eine Schrift aus dem Jahre 1844 davon, daß ein französischer Proletarier ein Bewußtsein von seiner Lage und Kraft habe. Der Auffassung Hegels entsprechend, gelangt auch dieser anonyme Autor zu der Einsicht, daß dies Faktoren seien, die den Proletarier vom Armen früherer Tage deutlich unterschieden.253 Eine spätere Schrift meint sogar, die Überzeugung von der Unfreiheit und Rechtlosigkeit seines Zustandes habe im deutschen Proletariat Wurzeln geschlagen.254 Daß die Überzeugung vom Gesetz niedergedrückt zu sein, verbunden mit dem Gefühl der Kraft, dieses Joch gewaltsam abzuwerfen, eine Mischung von „furchtbarer Explosionskraft“ sei und daß die Rezeptionsbedingungen für diese Mischung in Deutschland vorhanden sind, wird mit Blick auf die Unruhen in Schlesien und Böhmen schon 1844 festgestellt.255 Diese Ängste der Sozialkonservativen, „...daß der Geist, dieser alte Maulwurf, sein unterirdisches Werk bereits vollbracht hat, und daß er bald wieder erscheinen wird, um sein Gericht zu halten...“256, daß man mit ihm zusammen „...getrost den (hungernden, E.R.) Magen auf den Bock des weltgeschichtlichen Wagens setzen“ könne,257 nährt in den Schriften des Jahres 1848 die Überzeugung, daß die (weit und umfassend verstandene) Arbeiterfrage eine „Lebensfrage“ von Staat und Nation sei,258 bzw. daß die Behebung der Not und „Bedrängnis“ eine der großen Fragen und eigentlich die „wichtigste von Allen“ sei,259 denn Zündstoff sei überall angehäuft und die Brandstifter hielten still, heimlich und unsichtbar ihre Lunten.260 Großes Unglück, vermerkt schon zu Beginn der 20er Jahre der Professor der Theologie und Superintendent aus Leipzig, Heinrich G. Tzschirner, bringe der Krieg über die Länder, zehnfach größeres die Revolution.261
3.2.3 Umrisse einer konservativen Sozialreform Diese kaum mehr zu steigernden Sprachbilder, dieser erschreckte Blick auf eine „aufgelöste“, zerissene „Societät“, gibt Einblicke in eine im höchsten Maße politisierte literarische Öffent252 Vgl.: denselben, ebenda, 17; erstmals findet sich die Wortbildung „social demokratisch“ bzw. „sociale Demokraten“ vermutlich 1848; vgl. dazu die Studie von: Müller, Hans: Ursprung und Geschichte des Wortes Sozialismus und seiner Verwandten. Hannover 1967, 156 ff. 253 Vgl.: Ueber den vierten Stand...a.a.O.(=Anm. 123), 12 f. 254 Vgl.: Partz, August: Entwurf zu einer Lösung...a.a.O. (=Anm. 224), 75. 255 Vgl.: Fallati: Das Vereinswesen...a.a.O.(=Anm. 230), 767; Frankreich bereffend hat Lorenz von Stein 1842 bereits in klassischen Formulierungen diesen „Bewußtwerdungsprozeß“ beschrieben; vgl. denselben: Der Socialismus... a.a.O.(=Anm. 31), 27. 256 Oelkers, Theodor: Die Bewegung des Socialismus und Communismus. Leipzig 1844, 1. 257 Vgl.: Hasemann, J.: Die Armuthsfrage...a.a.O.(=Anm. 120), 4; eine bemerkenswerte Schrift, die dringend die Hinwendung der Geschichtswissenschaft von den Personen, Schlachten und Friedensschlüssen zu den „niedrigen Gegenständen“, dem gesellschaftlichen Unten empfiehlt. 258 Vgl.: Reichenheim, Leonor: Die sociale Frage und die Mittel zu deren Lösung. Potsdam 1848, 15. 259 Vgl.: Moltke, M.(agnus) Graf von: Einige Bemerkungen über eine zu versuchende Ausgleichung zwischen Hülfsbedürftigkeit und Wohlstand. Hamburg o.J. (1848), 3. 260 Vgl.: Dittrich, J.J.: Unsere Uebergangszeit...a.a.O. (=Anm. 174), 296 f. 261 Vgl.: Tzschirner, Heinrich G.: Die Gefahr...a.a.O. (=Anm. 246), 1; weitere Hinweise auf Autoren, die sich den Bewußtseinsinhalten bei den Proletariern zuwenden, finden sich bei: Müller, Christine: Der gescheiterte Kleinbürger. Köln 1981, 55 ff.
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lichkeit, in ein Schreib- und Lesepublikum, daß sich insbesondere in der Frage der Methode und des Weges der Herbeiführung und der Ausgestaltung einer „gemeinschaftlichen“ und stabilen sozialen Ordnung zutiefst entzweit hat. Schon Robert von Mohls begründete Stellungnahme für die Beibehaltung des „fabrikmäßigen Gewerbebetriebes“ und die nicht selten an der Ständegesellschaft orientierte Kritik der „neuen Zeit“ im Rahmen der Analyse der Pauperismusursachen signalisieren, daß die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in deutschen Ländern eine besonders intensive Phase der Diskussion von Fragen der Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung darstellt. Letztlich dokumentieren auch die Systeme des „Socialismus und Communismus“ diesen Charakter der damaligen Auseinandersetzung. Vor diesem Hintergrund kann es nicht erstaunen, daß ein Teil der Autoren, die den Pauperismus nicht als vorübergehend oder „naturnotwendig“ ansehen und zu „positivem Einschreiten“ gegen das Übel entschlossen sind, grundsätzliche „ordnungspolitische Alternativen“ als „Heilmittel“ zur Behebung der Massennot anbieten.262 Die einen, führt von Buß aus, wollten die Gegenwart zur Vergangenheit zurückbilden, sie wollten die Zustände des idealisierten Mittelalters wieder herstellen. Diese bezeichnet er als „ökönomische Reactionäre“. Die anderen wollten die ganze Grundlage der „gegenwärtigen Socialität rücksichtlich der gewerblichen Verhältniss“ ändern; diese seien die „ökonomischen Revolutionäre“.263 Der Ökonom Friedrich Bülau rechnet zu den „ökonomischen Revolutionären“ die Sozialisten, d.h. bei ihm die Anhänger der „St. Simonistischen Träumereien“ und den Owenismus.264 Der Rückgriff auf weitere Ansätze, auf die „Radicalreformer“ bei Bülau265 zeigt, daß es sich bei der angesprochenen Klassifikation wohl nur um Extrempunkte einer Skala handelt, die dringend um die „communistischen Systeme“ zu erweitern wäre. Sozusagen zwischen den Polen liege die „vorherrschende Mehrheit“ der Autoren, die von Buß als die „Dritten“ bezeichnet. Es handele sich dabei um jene, die trotz heftiger Gesellschaftskritik die gewerblichen Zustände im Ganzen annähmen.266 Damit hat von Buß einen Standpunkt verdeutlicht und in ein politisches Spektrum von damals vertretenen Meinungen eingeordnet, der dem der meisten „Klassiker“ entspricht. Die Verfasser der Pauperismusliteratur neigen mit ihren maßnahmepraktischen Vorschägen ebenfalls diesem Standpunkt zu und beschreiten demzufolge zusammen mit jenen „Klassikern“ einen spezifischen „Dritten Weg“ zwischen „Reaction“ und „Revolution“ auf ökonomischsozialem Gebiet. Im Spektrum der auseinanderstrebenden Auffassungen zur Schaffung einer stabilen und integierten Gesellschaft lassen sich „Klassiker“ und Pauperismusautoren desweiteren als Gegner des Fatalismus und des Hoffens auf eine letztlich doch ausgleichende Wirkung der liberalen Institutionen, der „unsichtbaren Hand“ (A. Smith), der „latenten Kräfte zur Ausgleichung“ (von Buß) charakterisieren. Darüber hinaus lehnen sie die damals vielfach praktizierte „polizeilich-militärische Methode“, den Versuch, die Aufstände und Forderun262 Vgl.: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XIV f.; vgl. auch: Bülau, (Friedrich): Der Pauperismus... a.a.O.(=Anm. 114), 91 ff. 263 Vgl.: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XV. 264 Vgl.: Bülau, (Friedrich): Der Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 114), 94 f. 265 An anderer Stelle wird dieser Begriff für Strömungen benutzt, die offensichtlich über eine Kette von Reformen grundlegende Umgestaltungen erreichen wollen und somit Vorläufer „sozialistischer Sozialpolitikkonzeptionen“ darstellen; vgl.: Reform. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversationslexikon. Zehnte, verbesserte und vermehrte Auflage. In funfzehn Bänden. Zwölfter Band. Leipzig 1854, 621. 266 Vgl.: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XV.
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gen der „arbeitenden Klassen“ allein mit „Soldaten und Bajonetten“ sowie „Zuchthäusern und Strafanstalten“ zu brechen als präventiv vermeidbar, als verfehlt, als ungenügend oder ergänzungsbedürftig ab. Als Folge des „antirevolutionären Geistes“, aus dem heraus die „Heilmittel“ und die „Heilverfahren“ für die „Societät“ entwickelt werden, diskutiert man die vermutlichen oder erwünschten Auswirkungen der Sozialreform auf das Bewußtsein und Verhalten der „arbeitenden Klassen“ häufig ausdrücklich mit. Einige der vorgeschlagenen Maßnahmen werden kontrovers beurteilt und verfallen teilweise deshalb der Ablehnung, weil von ihnen die endgültige „In-Brand-Setzung“ der Gesellschaft erwartet wird. Andere Vorschläge werden ganz besonders intensiv erörtert, weil man davon ausgeht, daß sie geeignet sind, die Arbeiter bzw. die (abhängig) „arbeitenden Klassen „ „...ohne Verletzung der Rechte der Herren in eine gesittete und geordnete Bevölkerung zu verwandeln.“267 Wohl kaum ließe sich der enorme gedankliche Aufwand der „Frühsozialpolitiker“ verstehen, wenn neben der Idee der prinzipiellen „Machbarkeit“ von Sozialreformen nicht auch die Hoffnung vorhanden gewesen wäre, diese auch praktisch durchzusetzen. Diese Hoffnung und die besondere Zukunftsträchtigkeit mancher der vorgeschlagenen Maßnahmen gründet nicht nur in der labilen sozialen Situation, sondern vor allem auch in den „Wesenszügen“ des Prinzips Reform. Die „Dritten“, die Sozialreformer, suchen den Anschluß an schon bestehende sozialpolitische Instrumente, deren Ausbau und oder Veränderung sie verlangen, sie halten inhaltlich „Maß“, versprechen ein planvolles Verfahren „von oben“ herab, fomulieren im Möglichkeits- und Machbarkeitsspielraum der staatlichen Gewalt oder anderer in Aussicht genommener Träger von „Gegenpotenzen“ wider den als selbstzerstörerisch angesehenen „Selbstlauf“ der Gesellschaftsentwicklung. Für sozialkonservativ orientiertes Denken liegt es angesichts der Überzeugung von der großen Bedeutung subjektiver Faktoren für die Verarmung und vor allem: für die gesellschaftlichen Spannungen und Unruhen nahe, eine Lösung der Probleme mehr oder weniger ausschließlich durch eine „Zurechtsetzung der Köpfe“ zu erreichen268 und nicht durch eine nennenswerte Veränderung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Meistens jedoch werden die direkt auf die subjektive Verfassung der gesellschaftlichen Unterschichten abzielenden Vorgehensweisen im Zusammenhang mit anderen, mit lebenslageverbessernden Maßnahmebündeln diskutiert. Dieser „Zurechtsetzung der Köpfe“ soll nicht nur eine höchst pragmatisch nach ihrer politisch-pädagogischen Nützlichkeit bewertete Religion dienen, die möglichst nahe an die „arbeitenden Massen“ herangebracht werden soll, etwa durch die Verbreitung entsprechender Sinngehalte durch den Einsatz von Reisepredigern in Feldkapellen unter Eisenbahn-, Kanal- und Chauseearbeitern. Der Inhalt dieser Tätigkeit, die Vermittlung „echt religiösen Sinns“, spielt allerdings bei sämtlichen Maßnahmen eine bedeutende Rolle. Andere Inhalte treten jedoch hinzu, wie die folgenden Strategievorschläge verdeutlichen. Bestandteil einer „sozialen Politik“ (L. Heyde) gegenüber den „untern Volksklassen“ ist die an das Arbeiterbildungsvereinswesen anknüpfende Empfehlung, verstärkt obrigkeitlich eingebundene, von Bürgertum und Geistlichkeit angeleitete Vereine unter den „arbei267 So die wünschenswerten Eigenschaften von Sozialpolitik bei: Fallati: Das Vereinswesen...a.a.O. (=Anm. 230), 741, vgl. auch: Müller, Christine: Der gescheiterte Kleinbürger...a.a.O. (=Anm. 261). 268 Vgl. in diesem Zusammenhang: Lövenich, Friedhelm: Verstaatlichte Sittlichkeit. Die Politik der konservativen Kontruktion der Lebenswelt in Wilhelm Heinrich Riehls „Naturgeschichte des deutschen Volkes“. In: Politische Vierteljahreschrift, 27 (1986) 4, 378 - 397, hier: 388.
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tenden Klassen“ zu gründen. Diese sollen ein „ständisches Sonderbewußtsein“ sowie vor allem Neid und Haß „auflösen“ und sie sollen durch Belehrungen, Ausstellungen, allgemeinverständliche Vorträge, „ökonomische Aufklärung“, durch Bereitstellung von Lesezimmern, den Verleih „guter Literatur“, durch die Ermöglichung persönlichen Umgangs mit „Fabrikherren“ soziale Gegensätze abbauend nach „unten“ wirken.269 In eine ähnliche Richtung weist der Vorschlag, Dienstboten, Handwerksgesellen und Lehrlinge wieder vollständig der „Zucht des Hauses“ zu unterstellen, um sie so besser beeinflussen zu können und um sie nicht in die Hände des Aufruhrs fallen zu lassen.270 In diesen Zusammenhang gehört schließlich der Plan, daß Familien, die den gehobenen Schichten angehören, sich in großer Zahl jeweils einer Familie aus der Armutsbevölkerung zuwenden, um sie überwiegend durch „persönliche Einwirkung“ zu Ordnung, Fleiß und „vernünftiger“ Lebensführung zu bringen und um sie damit aus der Armut zu „heben“.271 Eine Schlüsselstellung kommt in diesem direkt auf die „Köpfe“ zielenden Gesamtkonzept der vielkritisierten Schule zu. Sie soll in ihrer Wirksamkeit durch den Ausbau des gesetzlichen Zwangs, Kostenfreiheit, Stipendien, bessere Ausstattung in personalmäßiger und baulicher Hinsicht und leichte Zugänglichkeit verbessert und mit Blick auf ihre gewandelten Aufgaben in der Epoche der Revolution und des Pauperismus inhaltlich neu strukturiert werden. Ein unerschütterliches, in der Zeit der Aufkärung entstandenes Vertrauen in die „Bildsamkeit des Menschengeschlechts“ und ein mehr oder weniger ausgeprägtes Absehen von objektiven Faktoren sowie von menschlichem „Eigensinn“ führen dazu, daß ihr durchaus die Fähigkeit zugeschrieben wird, gegenwärtige Not zu mildern und künftiger Verarmung durch die Vermittlung entsprechender Arbeitshaltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten entgegenzuwirken.272 Darüber hinaus soll vor allem die Schule eine Pflanzstätte gegenrevolutionärer Gesinnung werden. Es sei „...besonders dahin zu arbeiten, daß sie (die Jugentlichen, E.R.) einst frei von sklavischer Kriecherei im Geschäfte gern sich ihren Vorgesetzten unterordnen, das Interesse des Lohnherren wie das ihrige fördern und eifrig nach Wohlstand streben, ohne von Modesucht, Neid und communistischen Gelüsten sich hinreißen zu lassen.“273 Nicht nur scheint aus diesem Blickwinkel heraus alles „unbotmäßige“ Denken und Handeln zumindest abschwächbar zu sein, sondern durch Erweiterung und Umstrukturierung der Unterrichtsgegenstände etwa auf Gesundheitslehre, auf Fragen des Hauswirtschaft, scheinen die subjektiven Quellen der Not auch im Bereich des Alltagslebens und des generativen Verhaltens „verstopfbar“. Beinahe lebensumspannende Schultypen und Schulsysteme (Elementarschulen, Gewerbeschulen, Fabrikschulen, Sonntagsschulen, Abendschulen, Fortbildungs-Anstalten, Zerlumptenschulen nach dem Vorbild der Londoner RaggedSchools) werden in der Pauperismusliteratur angesprochen oder sogar analysiert und begründet.274 Der nach vorherrschender Meinung für seine Aufgaben schlecht vorgebildete, teilweise politisch verdächtige und miserabel bezahlte Lehrer (das „Schulmeisterproletari-
269 So der Ansatz von: Fallati: Das Vereinswesen...a.a.O. (=Anm. 230). 270 Vgl.: Maier, J.M.: Die Noth...a.a.O.(Anm.190), 157. 271 Vgl.: Die Armuth...a.a.O.(=Anm. 235), 31 ff. 272 So schon: Lawätz, Johann Daniel: Ueber die Sorge des Staates...a.a.O. (=Anm. 111), 20; vgl. ähnlich: Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), 80 ff. 273 Schulze, Friedrich G.: Die Arbeiterfrage...a.a.O.(=Anm. 248) 97 f. 274 Vgl.: Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 13 f.; zusammenfassend auch: Dilcher, Liselotte: Der deutsche Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 96), 138 ff.; Scholz, Joachim: Vorläufer...a.a.O. (=Anm. 79), 224 ff.
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at“) soll zu einem Bollwerk gegen Not und Elend werden und schließlich wird erkannt: „Von den Lehrern hängt der Zustand, der Charakter der Masse des Volkes ab...“275 Ein ganzes Bündel von Maßnahmen zur Abwehr der „Gefahren“, die Staat und Gesellschaft aus der „Massenarmuth“ erwachsen, zielt darauf ab, die „Zahl der Hände“ in ein „gesundes Verhältnis“ zu den Erwerbsquellen zu bringen. Grundsätzlich und wenn die Volkszahl keineswegs unverhältnismäßig hoch sei, gleichzeitig jedoch eine „zunehmende Verarmung zahlreicher Volksclassen“ nicht zu verkennen sei, lasse sich das Problem auch durch freiere Bewegung der Population, durch Vermehrung der Produktion und des Absatzes lösen, durch „consequente und vollständige Ausführung des Industriesystems“, erkennt der Ökonom Friedrich Bülau.276 Von diesem Standpunkt aus werden wirtschaftspolitische Maßnahmen gefordert, wie etwa die Verwirklichung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes nach innen und Schutzzölle nach außen. Die meisten Pauperismusautoren argumentieren jedoch anders. Sie trachten danach, auf verschiedene Weise die Bevölkerungsvermehrung in den unteren Klassen zu begrenzen und sie verlassen sich dabei nicht immer auf „Aufklärung“ und Schule. Malthusianisches Denken, Übervölkerungs- und Revolutionsfurcht bringen den Hallenser Hochschullehrer und Arzt Carl August Weinhold zu einem „vieldiskutierten“ Vorschlag einer umfassenden staatlichen Bevölkerungskontrolle verbunden mit Eheverboten und einer medizinischen Verunmöglichung der Fortpflanzung durch „eine Art von unauflöslicher Infibulation mit Verlöthung und metallischer Versiegelung.“277 Diese rigorose Form der Disziplinierung der Sexualität der Unterschichten, von Weinhold als die Lösung für viele Probleme der frühindustriellen Gesellschaft empfohlen, verfällt vollständiger Ablehnung.278 Franz Xaver von Baader spricht aus religiöser Sicht empört von einem „viehärztlichen Vorschlag“,279 und vermerkt - wohl kaum ahnend, daß es unter anderem Vorzeichen einmal so weit kommen soll - daß jeder Staat, der „...im unchristlichen Sinne die Menschen nur als sein Baumaterial betrachtet...“280 solche Gedanken und Vorschläge wenigstens als seinem Prinzip nicht fremd finden könne. Bülau zieht den Vorstoß Weinholds ins Lächerliche.281 Dasselbe Ziel der Reduzierung der Bevölkerungszahl mit vergleichsweise „milderen Mitteln“ verfolgen die zahlreichen Autoren, die eng an die damals bestehenden Formen der staatlichen Regulierung des generativen Verhaltens der Bevölkerung anknüpfen. Sie wollen aus „guten Gründen“ die Ehe für Unterschichtsangehörige nicht generell verbieten und die Fortpflanzung nicht biologisch verunmöglichen. Sie möchten die Verehelichungsfreiheit der Unterschichten „nur“ weiter einschränken und noch mehr in den „Bereich der Staatseinmengerei“ zerren. So vermutet Bülau, daß die Wirkung eines Eheverbots das Ziel aller Sozialpolitik, die Stabilisierung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung durch Ausschaltung von „Spannungen“, mehr als nur verfehlen könnte: „Das Verbot der Armenehen 275 Ueber den vierten Stand...a.a.O.(=Anm. 123), 76. 276 Vgl.: Bülau, Friedrich: Handbuch der Staatswirthschaftslehre. Leipzig 1835, 27; derselbe: Der Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 114), 99. 277 Zit. nach: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97), 78. 278 Vgl. dazu insgesamt denselben, ebenda, 77 - 82. 279 Vgl.: Baader, Franz Xaver von: Reflexion über einen neuerlich gemachten scandalösen Vorschlag gegen die Ueberbevölkerung. In: Hoffmann, Franz (Hg.): Franz Xaver von Baader. Gesammelte Schriften... a.a.O.(=Anm. 71), 280 - 283, hier: 280 f. 280 Derselbe, ebenda, 281. 281 Vgl.: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 97), 82.
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würde, abgesehen von seiner schreienden Ungerechtigkeit, der Bedrückung ohne hin bedrückter Classen und den nachtheiligen Folgen für die Sittlichkeit, den Staat noch der letzten Garantie berauben, die er für die Ruhe, Ordnungliebe, Rechtlichkeit und Moralität der Proletarier besitzt.“282 Ein Verbot verbiete sich mithin aus Gründen der „Staatsklugheit“, es sei zudem schwer durchzuführen, könne außerehelichen Umgang nicht verhindern, heißt es an anderer Stelle. Aus der Ablehnung des Eheverbots, des „Armen-Cölibats“, erwächst die Strategie, daß der Gedanke der Hemmung „unbesonnener Ehen“ alle Gesetze des Staates wie ein roter Faden durchziehen müsse, „...der Staat ohne jene Hemmung wird sich selbst zerstören.“283 Der Staat befindet sich im Lichte dieser Auffassungen auf einer Art Gradwanderung. Sowohl bevölkerungspolitischer Rigorismus als auch Abstinenz bedrohen Ruhe und Ordnung und damit letztlich seinen Bestand. Nur die Verfolgung einer von der „Theorie“ vorgearbeiteten mittleren Linie bewahre ihn vor diesem Schicksal. Staatszentrierte Sorgen äußern sich auch in vergleichsweise „banaler“ Form. Unübersehbar steht mitunter die Sorge vor Überlastung der Armenkassen durch „Vielkinderei“ weit im Vordergrund.284 Von hier werden die Praktiken und Vorstöße verständlich, die die Verehelichung an Vermögens- und/oder Einkommenskriterien, an den Beitritt zu einer Kasse, an den Besitz einer Wohnung binden möchten. Zur Verminderung der Volkszahl durch Verlängerung der beängstigend kurzen Zeitspannen zwischen den Generationen wird zumindest eine Altersgrenze gefordert, unterhalb derer die Ehe für arme Leute verboten oder eingeschränkt werden soll. Es handelt sich meist um das Volljährigkeitsalter, das vollendete 24. Lebensjahr.285 Es fehlt auch nicht die Anempfehlung bestimmter Arten der Empfängnisverhütung,286 und selbstverständlich werden in diesem Zusammenhang die ausufernden Schlachten um das Niederlassungsrecht und um andere Fragen des Armenwesens geführt. Für die einer industriellen Wachstumsprogrammatik nicht trauenden, teilweise erkennbar der agrarischen Welt verhafteten Pauperismusautoren, ergeben sich zwei weitere in der Praxis schon erprobte „Auswege“ aus der „demographischen Falle“ und dem dadurch mitverursachten Pauperismus: die „innere Colonisation“ und die Auswanderung. Die „innere Colonisation“ gab es in Deutschland, überwiegend als Maßnahme zur Vermehrung des bebauten Bodens und der Bevölkerung gedacht, schon in „älterer Zeit“.287 Diese Zwecksetzung hat sich im Zeitalter der „demographischen“ und politisch-sozialen Revolution „radikal“ verändert: „Ableitung der Uebervölkerung“, „Unterbringung der nahrungs- und sittenlosen Menschen,“288 Beseitigung der innenpolitischen Gefahr lauten die nunmehr weit im Vordergrund stehenden Begründungen. Auftrieb erhält die „innere Colonisation“ durch das Beispiel des holländischen Generals Johannes van den Bosch, der im August 1818 mit der
282 Bülau, Friedrich: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 276), 30. 283 Zur Lösung der socialen Frage...a.a.O.(=Anm. 152), 14. 284 Vgl.: Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.0.(=Anm. 97), 84 ff. 285 Vgl. etwa: Lüttwitz, Freiherr von: Ueber Verarmung...a.a.O. (=Anm. 139), 20; Werner, Bernhard: Das Armenwesen, sein Ursprung und die Mittel zur Abhülfe, ein Beitrag zur Erklärung der Noth der Armen, den deutschen Landständen und Finanzmännern gewidmet. Darmstadt und Leipzig 1845, 13; Matz, Klaus-Jürgen: Pauperismus...a.a.O. (=Anm. 97), 90. 286 Vgl. denselben, ebenda, 91. 287 Vgl. Poseck, Fr. von: Denkschrift...a.a.O.(=Anm. 130), 37. 288 Vgl. denselben, ebenda, 38.
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Anlegung der Armenkolonie Frederiksoord in der holländischen Provinz Drenthe internationales Aufsehen erregt und auch in Deutschland Nachahmung findet.289 Dieses sozialpolitische Mittel ist nicht unumstritten, erfolgen doch die Ansiedlungen auf Heiden, bei Mooren, auf unergiebigen, wüsten Ländereien mit Menschen, die nach der damaligen Auffassung vieler Autoren durch ihr Verarmen schon gezeigt hätten, daß sie unfähig seien, ihre Kräfte gehörig zu nutzen.290 Während so einerseits befürchtet wird, die „Armen-Colonien“ könnten das Bettlertum verewigen und, da Ehe und Vermehrung gestattet seien, auch vermehren,291 werden sie andererseits aber auch durchaus positiv bewertet und die Anlegung „großer Colonien“ auf „vaterländischem Boden“ wird als Alternative zur „Verschleuderung“ deutscher Arbeitskraft nach Übersee angesehen.292 Die vielfältig und „phantasievoll“ geförderten „Armen-Colonien“ sind in ihren entwickelten Formen wesentlich als ländliche Dorfgemeinschaften mit entsprechender Infrastruktur geplant bzw. verwirklicht worden.293 Es kann sich aber auch um einfache Ödlandzuweisungen handeln. Mitunter werden neuartige Sozialformen projektiert oder in der Praxis erprobt.294 Immer ist die Verwandlung von Besitzlosen in Besitzende der angestrebte Inhalt der inneren Kolonisation, eine Verwandlung von der sich viele einen „neuen Geist“ bei den Armen und damit eine Stabilisierung der Gesellschaftsverhältnisse versprechen. Seit die Auswanderung mit dem Artikel 18 der Verfassung des Deutschen Bundes vom 8. Juni 1815 erleichtert worden ist, spielt sie als Lebensperspektive gewisser sozialer Schichten und in der sozialpolitischen Diskussion eine hervorgehobene Rolle. Die Auswanderung als Mittel der Herstellung des richtigen Verhältnisses der „Volksmenge zu der vorhandenen Produktenmasse“295 wird im allgemeinen als „geregelte“, mit „Umsicht“ und „patriotischer Fürsorge“ anzuleitende Aktion angesprochen.296 Hinter diesen Begriffen versteckt sich die Diskussion eines ganzen Bündels sozialer und politischer Maßnahmen, die die Auswanderung flankieren und gestalten sollen. Mit dem Projekt der „Förderung und Gestaltung“ der Auswanderung verbinden sich weitergehende politische Ziele. Es existiert die Idee „grosse deutsche Kolonien und Kriegsflotten“ zu begründen, damit denen, die auswandern wollen, Gelegenheit gegeben wird, „für ihre Nation zu arbeiten.“297 Häufiger scheint eine schonendere Methode der vermehrten Ansiedlung vor allem in den nordamerikanischen Freistaaten, aber auch in Ungarn, Siebenbürgen und den Donauländern angestrebt zu werden: Staatsverträge und gemeinschaftliches Vorgehen werden angesprochen,298 von deutschen Landankäufen und anschließender entgeltlicher Überlassung an die Siedler
289 Vgl.: Benedict, Friedrich August: Ist die Klage...a.a.O. (=Anm. 114), 81; vgl. als Darstellung der holländischen Kolonien: Lüttwitz, Freiherr von: Ueber Verarmung...a.a.O.(=Anm. 139), 47 ff. 290 Vgl.: Das Armenwesen nach allen seinen Richtungen...a.a.O. (=Anm. 139), 345. 291 Vgl.: Benedict, Friedrich August: Ist die Klage...a.a.O. (=Anm. 114), 86 ff. 292 Vgl.: Poseck, Fr. von: Denkschrift über die zunehmende Nahrungslosigkeit ...a.a.O.(=Anm. 130), 43. 293 Vgl.denselben, ebenda, 44 f. 294 Vgl.: W.S.: Theorie und Praxis zur Bewältigung des Pauperismus. In: Deutsche Viertel-Jahrschrift, 1845, 32 - 74, bes. 62 ff.; Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 14 f. 295 Vgl.: R.(iecke), E.(mil): Die Quellen der Armuth...a.a.O.(=Anm. 120), 1; daß sie diesem Ziel umfangmäßig und in anderer Hinsicht nicht genügt, betont: Biedermann, Karl: Vorlesungen über Sozialismus und soziale Fragen. Leipzig 1847, 77. 296 Vgl.: Wagner, J.P.: Was ist die Ursache des Nothstandes der Arbeiterklasse und in welcher Weise kann demselben entgegengewirkt werden? Frankfurt a.M. 1848, 17. 297 Vgl.: Dilcher, Lieselotte: Der deutsche Pauperismus...a.a.O. (=Anm. 96), 148. 298 Vgl.: Werner, Bernhard: Das Armenwesen...a.a.O.(=Anm. 285), 13.
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ist die Rede; man wolle aber wegen der Gefahr von Hader und Streit im Ausland keinen Staat im Staate begründen.299 Die Auswanderung selbst wird sowohl als Zwangsmaßnahme diskutiert, als auch als Entscheidung, die durch Anreize (etwa: Erschwerung der Seßhaftmachung für junge Leute) massenhaft herbeigeführt werden soll.300 Auf sie soll durch praxisbezogene Ausbildungsveranstaltungen und Sprachkurse vorbereitet werden. Die Auswanderer sollen dem Zielland entsprechend mit Kleidung und Werkzeug ausgestattet werden.301 Auswanderungsbehörden werden gefordert und der Transport der Emigranten durch die Preußische Seehandlung wird verlangt. Wohltätige Folgen wie ein Ansteigen der Löhne, Sinken der Immobilien- und Lebensmittelpreise werden als Ergebnis einer Massenauswanderung, der „eigentlichen Radikalkur“ der „Uebervölkerungszustände“, ausgemalt aber auch Gefahren werden gesehen. Es fehlt nicht die Hoffnung auf andauernde Anhänglichkeit an die alte Heimat und daraus erwachsende „vorteilhafte Handelsbeziehungen“. Als Zielgruppen der Auswanderung werden nicht nur die völlig Verarmten angesehen,302 die an der real ablaufenden Auswanderung jener Jahre wegen ihrer schlechten materiellen Lage kaum Anteil haben. Wenn allerdings betont wird, in einer großartigen, massenhaften „...von den teutschen Regierungen begünstigten und organisirten Auswanderung liegt das einzige schnell und sicher wirkende Mittel, den drohendsten Gefahren des Pauperismus zu entgehen“303, geht es schlicht um die Entfernung des sozialen „Gährungsstoffes“ über die Grenzen der deutschen Länder, will man sich das politisch unruhige „Proletariat“ unabhängig von den Lebens- und Einkommensverhältnissen „vom Halse“ schaffen, wird die Grenze zur politischen Verbannung überschritten. Gegenüber den Auswanderungsbefürwortern fallen die Stimmen, die die Auswanderung aus wirtschaftlichen Gründen (Entzug von Arbeitskräften) ablehnen, weniger ins Gewicht. In einer Situation, in der sich der eigentumslose, „lebenslängliche“, marktabhängige, (kapital-)herrschaftsunterworfene, aus traditionellen Lebenswelten herausgelöste und selbstbewußte (Nur-)Lohnarbeiter noch keineswegs zu einer bedeutenden Sozialfigur herausgebildet hat,304 lassen sich sozialpolitische Projekte identifizieren, die ähnlich der „inneren Colonisation“, durch Eigentumsbildung und Eigentumsstreuung die volle Ausbildung der Proletarität hemmen sollen. Die Absicht, Eigentum unter den „arbeitenden Klassen“ zu bilden, wird dabei (neben Haus bzw. Wohnung) auf kleine landwirtschaftliche oder besser: gärtnerisch zu nutzende Grundstücke bezogen, die von den „großen Grundbesitzern“ den Kleinsteigentümern oder völlig landlosen Schichten käuflich überlassen werden sollten. Neben die Idee der abgestuften Besitzverteilung als Mittel der Abschwächung der Entwicklung zur Klassengesellschaft und klassenspezifischen Spannungen, tritt die Vorstellung der Ermöglichung bzw. Verbesserung der Eigenwirtschaft.305 Nicht nur für Landarbeiter, son299 Vgl.: Wagner, J.P.: Was ist die Ursache...a.a.O.(=Anm. 296), 18. 300 Vgl.: Zur Lösung der socialen Frage...a.a.O.(=Anm. 152), 18; R.(iecke), E.(mil): Die Quellen der Armuth...a.a.O. (=Anm. 120), 28. 301 Vgl.: Wagner, J.P.: Was ist die Ursache...a.a.O.(=Anm. 296), 19 ff.; Dittrich, J.J.: Unsere Uebergangszeit...a.a.O.(=Anm. 174), 195 ff. 302 Die „höheren Schichten“ bevorzugt: Zur Lösung der socialen Frage...a.a.O.(=Anm. 152), 20. 303 Maier, J. M.: Die Noth ...a.a.O.(=Anm. 190), 109. 304 Vgl. in diesem Zusammenhang insgesamt: Kocka, Jürgen: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert. Bonn 1990. 305 Vgl. etwa: Frenzel, J.C.F.: Praktische Ratschläge zur Verminderung des Proletariats auf dem Lande und in den Städten. Breslau 1849, 1 ff.; noch weniger weit geht ein anderer Autor, der bereits der Aussicht auf ein Grundstück eine zufrieden machende Wirkung zuschreibt; vgl.: Schulze, Friedrich G.: Die Arbeiterfrage ...a.a.O.(=Anm. 248), 110;
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dern auch für Fabrikarbeiter, Gesellen und sogar für Selbständige wird der erleichterte Erwerb eines kleinen Grundstücks diskutiert. Die Verallgemeinerung dieser in der damaligen Realität übrigens nicht seltenen Soziallage eines gärtnerischen oder landwirtschaftlichen „Nebenerwerbs“ soll mithin einmal einen Beitrag zu den „Haushaltsbedürfnissen“ leisten und damit die Lohnabhängigkeit der Existenz mildern. Zum anderen werde der „Proletarier“ dadurch, daß er etwas habe und etwas gelte, weniger gefährlich sein, da er nun auch etwas zu verlieren habe. Zusätzlich oder ergänzend zu diesen Maßnahmen der „Hebung“ der „Eigentumslosen“ oder Kleinsteigentümer, sehen Pauperismusautoren einen Weg zur Überwindung der Proletarität und der damit einhergehenden Gefahren darin, daß man dieser Soziallage das Merkmal der „Lebenslänglichkeit“, der Endgültigkeit und Aussichtslosigkeit nimmt. Diese sich eher auf den gewerblich-handwerklichen Bereich beziehenden Überlegungen stellen den Gedanken der Eröffnung bzw. der Verbesserung der Chance zu einer selbständigen Existenz in den Mittelpunkt ihrer Erwägungen. Ähnlich wie in der „alten Welt“ des zünftig regulierten Handwerks wird unterstellt, daß weniger die jeweils gegenwärtige Lebenslage als vielmehr die Hoffnung auf eine spätere „Selbständigkeit“ die psychische Verfassung der unselbständig Beschäftigten bestimme306 : „Wer die Wunder des Gefühls der Selbständigkeit und das Interesse am Eigenthum kennt, wird die Lösung dieser Aufgabe (d.h. die Verwandlung der Besitzlosen in Besitzende, der Unselbständigen in Selbständige, E.R.) für eine der Wichtigsten halten“, vermerkt der Statistiker und „Frühsozialpolitiker“ Freiherr von Reden. Für jenes Gebiet der „modernen ökonomischen Erscheinungen“, auf dem die oben erwähnten Konzepte keinen Erfolg versprechen oder zu Schwierigkeiten führen würden, für das Fabrikwesen und die Fabrikarbeiter, werden spezifische Wege der „Pazifizierung“ skizziert. Zur Überwindung des „inneren Krieges“ zwischen Arbeit und Kapital, zur Milderung der schroffen Gegensätzlichkeit der Interessen, aber auch um den Arbeiter „emsiger“ zu machen und am Wohl und Wehe der Fabrik zu interessieren, werden zahlreiche auf staatliche Eingriffe bauende Pläne entworfen, die ihn, den Arbeiter, vom „Eigentumslosen“ zum „Miteigentümer“ am Unternehmen machen sollen. Damit gehen diese Pläne über die von Robert von Mohl vertretene Forderung nach Gewinnbeteiligung hinaus, sie dienen aber dem gleichen Ziel.307 Die Diskussion verbleibt nicht auf der Ebene dieser vermittelt wirkenden und vergleichsweise „sensiblen“ sozialpolitischen Herrschaftsmittel, auf der Ebene der „kunstvollen“ Modellierung und Konturierung der Klassenstrukturen und -gegensätze, die immer auch eine gewisse Lageverbesserung für die „Proletairs“ hätten beinhalten können. Angedeutet, „wenn schon nicht geradezu angerathen“, wird das ebenso abenteuerliche wie chancenlose Vorhaben einer Einführung der Sklaverei für Fabrikarbeiter, der Plan seiner Herabwürdigung zum Eigentum des Fabrikherren. Armut verschwinde dann ganz. „Der Sklave, ein kostspieliges Capital, werde möglichst geschont... er erhalte also Wohnung, Kleidung und Speise von dem Herrn; in Krankheiten werde er verpflegt, eine weibliche Genossin werde ihm erlaubt, wo nicht gar gegeben, und die Zahl der Kinder aus solcher Verbindung den Gedanken der „Kleineigentümerei“ vertreten auch: Schnell, Karl Ferdinand: Vorschläge zur Verbesserung...a.a.O.(=Anm. 139), 36, 47 f; Werner, Bernhard: Das Armenwesen... a.a.O.(=Anm. 285), 12. 306 Vgl. die Überlegungen bei: Mohl, Robert von: Ueber die Nachtheile...a.a.O.(=Anm. 54), 173 f. 307 Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 15; zu den Vermögensbeteiligungsvorstellungen des Vormärz vgl.: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 79), 180 ff.
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brauche ihm keinen Kummer zu machen.“308 Von ähnlicher Radikalität wie dieser aus politisch-psychologischen, sittlichen und christlichen Motiven heraus von Robert von Mohl empört zurückgewiesene Vorschlag der Degradierung von Hunderttausenden zu bloßen „Arbeits- und Zuchtthieren“, ist das Vorhaben den „freien Arbeiter“ unter ein äußerst engmaschiges Netz sozialer Kontrolle einschließlich bestimmter Strafinstanzen zu bringen. Nun hat der „neuzeitliche Staatsapparat“ insgesamt einen die „Unterthanen“ disziplinierenden Charakter. In besonderer Weise wendet er dieses „Gesicht“ immer schon den „unangepaßten“, „unzivilisierten“ Unterschichten zu.309 Während dieser Zeit des Vormärz und in den ersten Jahren nach der Niederschlagung der 1848/49er Revolution hat sich dieser Zug der Staatstätigkeit noch stärker ausgeprägt. Es ist also im Grunde „nur“ die Ausdehnung eines Prinzips, wenn der Schritt über eine flächendeckende, rationale Reorganisation von Polizei und Armenpflege hinaus310 zur verstärkten Kontrolle und Sanktionsbedrohung aller „Proletarier-Klassen“ durch zusätzliche und neuartige organisatorische Arrangements getan wird. Während aber der „Staatsverband“ in der Realität jener Jahre auch den Unterschichten noch gewisse „Freiheitsspielräume“ beläßt, nimmt er in den Planungen zu seiner erweiterten Form Züge einer „totalitären“ Herrschaftsapparatur an. Der Architekt einer derartigen „totalitären“ Herrschaftsapparatur aus dem Revolutionsjahr 1849 ist J. J. Dittrich, Verwalter großer Justitiariate in sechs Kreisen, Major und Chef der Bürgergarde, Landsturm-Commandant, Rechtsbeistand und Rittergutsbesitzer.311 Aus seiner Lebenserfahrung heraus meint er, dem Prinzip des Aufbaues einer Kontrollstruktur aus „guten Männern und Frauen der Klasse“ folgen zu müssen, ergänzt durch Kräfte aus dem kommunalen und staatlichen Bereich. Auf der Basis einer genauen Registrierung der Arbeiter und Dienstboten und ihrer relevanten Verhaltensweisen, bei der eine „proletarische Ordnungs-Polizei“ mitwirken soll, sollen die auf diese Weise „genau ermittelten Proletarier“ eingeteilt werden „...in 10 Stämme von je 10 Männern, denen ein Ord n er - der elfte Mann - und von je 10 Frauen, denen eine Ordn er in - die elfte Frau - vorsteht.“ Je 10 dieser Stämme sollen nach den Vorstellungen Dittrichs zu „Rollen“, je 10 dieser Rollen wiederum zu „Bünden“ und diese schließlich in „Corps“ zusammengefaßt werden. Dieser Ordnung sind Polizisten verschiedener Hierarchiestufen beigegeben und auf die Ordner folgen bei den Stämmen „Ober-Ordner“, dann die „Aufseher“ und „Oberaufseher“ sowie ihre weiblichen Pendants, schließlich ein „Director“ und das ganze ist endlich in letzter Instanz dem Polizeipräsidenten untergeordnet. Anreizmittel zu „ehrenhaftem Verhalten“ und Disziplinarbefugnisse werden über die Hierarchie verteilt, Verfahrensweisen und Riten sowie Formen des Zusammenwirkens mit den Arbeitgebern werden von Dittrich umschrieben. So bleibe, resümiert er, „...das Proletariat in der Hand der Polizei, und diese, wie die gesamte innere Organisation der verschiedenen Abtheilungen, würde fortan jede Emeute, jede grobe Widerspenstigkeit und viele tausend Verbrechen, Vergehen und Laster unmöglich machen. Ein schöner, belebender Hauch von Ehrgefühl, Anstand, sittigem und sittlichem Betragen würde das ganze, jetzt zerbröckelte und eben darum verwilderte, un308 So die Wiedergabe derartiger Pläne bei: Mohl, Robert von: Ueber die Nachtheile ...a.a.O.(=Anm. 54), 168. 309 Vgl. in diesem Zusammenhang mit Bezug auf das Werk von Thomas Hobbes und Norbert Elias: Petermann, Thomas: Hobbes und der Prozeß der Zivilisation. In: Politische Vierteljahresschrift, 23(1982), 139 - 152. 310 Solche Reorganisationspläne finden sich z.B. bei: Lawätz, Johann Daniel: Ueber die Sorge des Staates...a.a.O.(=Anm. 111), bes. 204 ff.; sowie in der Schrift des Lehrers: Moll, Heinrich: Die Armuthsnot in ihrer wahren Entstehung und sichern Bekämpfung; und: Wie hat eine Gemeinde sich zur erfolgreichen Bekämpfung der in ihr vorhandenen Armuth zu organisiren? Solingen 1845, 64 ff. 311 Vgl.: Dittrich, J.J.: Unsere Uebergangszeit...a.a.O. (=Anm. 174), IV f.
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übersehbare Proletariat durchwehen ...Von politischer Gefahr aber kann dabei überall nicht die Rede sein, viel weniger noch, als bei dem Militär.“312 Diese Lösungsform der „socialen Frage“, von Dittrich im Rahmen zahlreicher anderer sozialpolitischer Maßnahmen dargestellt, erhellt schlaglichthaft den Umfang des damals schon gedanklich durchschrittenen Möglichkeitsspielraums konservativer Sozialreformen. Die antirevolutionäre, auf Integration und Herrschaftssicherung abstellende Grundhaltung der Pauperismusautoren erschwert es ihnen teilweise außerordentlich, eine positive Haltung zu den Tendenzen der Fabrikarbeiter (und ähnlicher Arbeiterschichten) einzunehmen, sich selbständig zu „Associationen“ zusammenzuschließen. Zwar können sie soziale Bewegungen, deren Zweck es ist, Veränderungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen, von politischen „Emeuten“ durchaus unterscheiden, eine verhalten positive Einschätzung, wie sie sich bei von Mohl findet, ist jedoch selten. Ein solcher Standpunkt wird z.B. von dem Leipziger Professor für Geschichte, Karl Biedermann, bezogen, der die legale Möglichkeit der Arbeiterverbindungen und Arbeitseinstellungen aus Gründen der Gleichheit und Gerechtigkeit gegenüber den Arbeitgebern fordert, die sich ungehindert durch die bestehenden Verbotsgesetze zu kollektiven Aktionen gegen ihre Arbeiter verbinden könnten. Andere Autoren lehnen derartige Verbindungen der Arbeiter und die entsprechenden Aktionen jedoch ab oder sie geben sich skeptisch, wenn etwa behauptet wird, solche „leidenschaftlichen Associationen“ könnten der Sache des Proletariats nur schaden.313 Teilweise halten sie ihre Aktionen angesichts der Übermacht der Fabrikherren und der Streikbrecherei für zwangsläufig erfolglos.314 Sie weisen auch auf die „nachteiligen Folgen“ für Unternehmer (Produktions- und Absatzverluste) und Arbeiter (Verlust des Arbeitsplatzes, Herabsetzung des Lohnes bei Scheitern der Aktionen, vermehrter Maschineneinsatz) hin,315 Folgen, die für die Arbeiter aufgrund des geringen Organisationsgrades und der „Ungeübtheit“ der ersten Arbeiterbewegung vermutlich häufig aufgetreten sind. Durchmißt man die Skala möglicher Haltungen gegenüber der beginnenden Arbeiterbewegung von der Ablehnung zur Skepsis bis zur Einräumung begrenzter Handlungsspielräume in Fragen der Lohn- und Arbeitsbedingungen, so steht die anonyme - mit Vincenz Veritas gezeichnete - Schrift über die Wünsche und Forderungen der Arbeiter schon an der Schwelle zur sozialistischen Literatur und zu den Selbstzeugnissen der jungen Arbeiterbewegung.316 Sie fordert einen allgemeinen Arbeiter-Verband zur Vereinigung aller Arbeiter und Arbeiterinnen, der die Existenzinteressen dieser sozialen Klasse zwar auf legale Weise aber nachdrücklich vertreten soll und auch noch die berufliche Fortbildung der Arbeiter zu übernehmen habe.317 Einen anderen Weg schlagen die „Frühsozialpolitiker“ vor, die Fragen der Gestaltung der Arbeitswelt auf (inner-)betrieblicher Ebene in „gemeinschaftlichen“ Verfahren regeln wollen und sich davon eine Befriedung des „Proletairs“, dieses sich „auf-
312 Derselbe, ebenda, 114; zum Organisationsschema: 106 ff. 313 Vgl.: Steinmann, Friedrich: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 109), 79; zu Biedermanns Ansichten vgl.: Biedermann, Karl: Vorlesungen...a.a.O.(=Anm. 295), 92 ff. 314 Vgl. etwa: Obermüller, Wilhelm: Das Gütergleichgewicht. Eine Lösung der Frage: Wie ist dem Elende der arbeitenden Volksklassen abzuhelfen? Constanz 1840, 9; weitere Hinweise bei: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 79), 101 ff. 315 So Friedrich Schmidt; vgl. bei demselben...a.a.O.(=Anm. 120), 104 f. 316 Vgl.: Veritas, Vincenz: Die Wünsche und Forderungen...a.a.O. (=Anm. 200). 317 Vgl. denselben, ebenda, 16 ff. und 107.
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richtenden Riesen der modernen Gesellschaft“, dieses „verstoßenen Kinds der Nation“, dieses „stolzen und großen Bettlers“318 versprechen. Kurz vor dem Erscheinen von Franz Xaver von Baaders Konzeption einer bevormundenden und sehr eingeschränkten politischen Partizipation der „Proletairs“, wird eine Schrift des Lehrers Immanuel Wohlwill anonym veröffentlicht, die sich nur dem Titel nach mit der Theorie des Armenwesens beschäftigt.319 In Kritik an einer malthusianisch beeinflußten und ebenfalls irreführend betitelten Schrift zur Arbeiterfrage,320 behandelt Wohlwills Schrift das Verhältnis von Arbeitern und Lohnherren. Er schlägt eine „gemischte schiedsrichterliche Behörde aus sachkundigen, rechtschaffenen Abgeordneten der Lohnherren und der Arbeiter“ unter Beteiligung weiterer „fähiger und achtbarer Personen“ vor. Die Hauptfunktion dieser obrigkeitlich vorzuschreibenden und zu kontrollierenden Kommission soll die Regelung der Lohnfrage sein.321 Wohlwill beeinflußt mit seiner Schrift die von Mohlsche Konzeption eines „sozialen Friedenswerkes“ durch die Mitwirkung der Arbeiter bei der Ermittlung der Höhe ihrer Beteiligung am Unternehmensgewinn.322 Diese zur damaligen Zeit vor allem im englischen Schrifttum ausgebauten Gedanken einer sozial pazifizierenden „Vereinigung zwischen Frabrikherren und Arbeitern“323 zur Regelung zahlreicher Fragen des Arbeitslebens, werden nunmehr auch in Deutschland breiter diskutiert und finden bei dem österreichischen Juristen und Politiker Johann Alois Perthaler im Jahre 1843 eine eigenständige Fortbildung und Anreicherung.324 Ausgehend von einem aufzuspannenden „Schirm der Schutzzölle“, eingebunden in Gewinn- und Vermögensbeteiligungspläne, bezogen auf seine Zielvorstellung eines anzustrebenden „Gleichgewichts zwischen den feindlichen Interessen zweier Classen“ durch „Maßregeln der inneren Fabrikorganisation“, will er zur Festsetzung und Auszahlung des an die Arbeiter zu vergebenden Gewinnanteils einen von diesen selbst aus ihrer Mitte gewählten Ausschuß errichtet sehen.325 Unter den zahlreichen „Societäten“, die schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durch ihre praktischen und publizistischen Aktivitäten zur Ausbildung eines sozialpolitischen Bewußtseins beitragen,326 erlaubt im Vormärz vor allem der Berliner „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ einen tiefen Einblick in die „Werkstatt“ konservativer Sozialreform. Im Zusammenhang mit Projekten des „Arbeiterwohlfahrtswesens“ wird die „Mitbestimmung“ der Arbeiter an diesen Einrichtungen zur Erhöhung ihrer integrativen Wirkung immer wieder diskutiert.327 Es gelte Formen der Mitwirkung zu finden, die sowohl das „kommunistische Prinzip“ der Selbsthilfe, als auch das patriarchalische Prinzip 318 So Begriffsbildungen bei: Steinmann, Friedrich: Pauperismus ...a.a.O.(=Anm. 109), 30. 319 Vgl. dazu: Teuteberg, Hans Jürgen: Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Ursprung und Entwicklung ihrer Vorläufer im Denken und in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1961, 19. 320 Es handelt sich um: Godeffroy, Carl: Theorie der Armuth. Ein Versuch. Hamburg 1834. 321 Vgl.: Teuteberg, Hans Jürgen: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 319), 22 f. 322 Vgl. denselben, ebenda, 27. 323 Vgl. die Hinweise bei demselben, ebenda, 31 f. 324 Vgl.: Perthaler, G.H. bzw. J.H.: Ein Standpunct zur Vermittlung socialer Mißstände im Fabrikbetriebe. In: Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzeskunde, 3(1843), 66 - 84; 118 - 134, hier: 123. Vornamen ermittelt aus: Jantke, Carl, Hilger, Dietrich (Hg.): Die Eigentumslosen...a.a.O. (=Anm. 89); Perthaler wiederum bezieht sich streckenweise auf die lesenswerte anonyme Schrift: Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der politischen Oekonomie. In: Deutsche Vierteljahrs-Schrift (1840), 1 - 72. 325 Vgl. zu seinen Anschauungen auch: Teuteberg, Hans Jürgen: Geschichte... a.a.O.(=Anm. 319), 36 ff. 326 Vgl.: Wendt, Wolf Rainer: Geschichte der sozialen Arbeit. Von der Aufklärung bis zu den Alternativen. Stuttgart 1983, 26. 327 Vgl.: Teuteberg, Hans Jürgen: Geschichte ...a.a.O.(=Anm. 319), 53 ff.
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der „Wohltäterei“ vermeiden. Dies seien beides Prinzipien, die die gesellschaftlichen Spannungen zu lösen nicht geeignet seien. Sogar für das Gebiet der Regelung von Arbeitszeitfragen werden „Mitwirkungsregelungen“ erwogen.328 Derartige bürgerliche Konzeptionen heben auf eine Abschwächung der Herrschaftsunterworfenheit bzw. des Warencharakters der Arbeit im Kapitalismus ab. Das Ziel der Abschwächung des Warencharakters der Arbeit kann jedoch auch ohne Mitwirkung der Arbeiter erreicht werden. Das wird an Ansätzen zur Lohntheorie und Lohnbildung deutlich, die nicht partizipatorisch, sondern staatlich„expertokratisch“ argumentieren. Die den Pauperismus zu erheblichen Ausmaßen mitverursachende Differenz zwischen dem durch Angebot und Nachfrage zustandekommenden Lohn - dem „Marktlohn“ - und den realen Existenzbedürfnissen der Menschen, führt immer wieder zur Bestimmung von Lohnstandards und Lohnniveaus, die hier zur Ergänzung der lohntheoretischen Ansätze in den Frühschriften von Johann Karl Rodbertus und Robert von Mohl dargestellt werden sollen. Mit seiner Differenzierung zwischen „laufendem Preis“ der Arbeit (dem jeweiligen Marktpreis) und dem „nothwendigen Preis“ der Arbeit gibt Rudolf Heinrich Bernhard von Bosse einen Einblick in ein bereits im Jahre 1820 weit entfaltetes Problembewußtsein. Der „nothwendige Preis“ der Arbeit, der mit dem „laufenden Preis“ nicht übereinstimmen müsse, umfaßt nach von Bosse die Kosten des Haushalts des Arbeiters pro Jahr, also auch die Kosten für Kleidung, Gebühren, die Aufwendungen während der Feiertage, während vorübergehender Krankheiten, für die Aufzucht und den Unterhalt der Kinder usw. Während von Bosse staatsabstinent argumentiert und die Erreichung des „nothwendigen Preises“ der Arbeit den Marktkräften überläßt und ausdrücklich auf die lohnhebende Kraft eines weiter zunehmenden „Verlagsvermögens“, von Abwanderungen in lohnendere Beschäftigungen, aber auch von vermehrter Sterblichkeit setzt, sind andere, durch die sozialen Unruhen sensibilisierte Autoren nicht derart „optimistisch“ bzw. zynisch gegenüber den sozialen Folgen der Lohnpreisbildungsmechanismen.329 Im Sinne eines „nothwendigen Preises“ der Arbeit, allerdings ohne die Kosten von Krankheit, Arbeitslosigkeit, von Unglücksfällen, Taufen, Begräbnissen und bei unterstelltem Mitverdienst der Frau, entwickelt Dittrich sein kärgliches, familienbezogenes Jahresbudget eines Arbeiters, nicht ohne zu betonen, daß der „Brotherr“ durch eine ungenügende Entlohnung der Arbeit doppelt verliere, nämlich an Zeit (durch frühe Arbeitsunfähigkeit, zahlreiche Pausen aufgrund körperlicher Schwäche) und Wert der Arbeit.330 Ihm folgt die „gekrönte Preisschrift“ zur Verbesserung der Arbeiterverhältnisse von Karl Ferdinand Schnell.331 Auch bei Perthaler findet sich die Forderung nach einem Mindestlohn, der „nach ämtlich gepflogener Erörterung“ existenzsichernd sein müsse und dessen Zahlung durch eine „Schutzsteuer“ sichergestellt werden soll, die ein Unterschreiten dieses Lohnes unattraktiv machen soll.332 Der Minimumlohn für die „arbeitenden Klassen“ überhaupt und für 328 Zur politischen Diskussion von Modellen der „Mitbestimmung“ während der Revolution 1848/49 vgl. denselben, ebenda, 59ff.; Eine Mitbeteiligung von Arbeitern an der Regelung von Lohn- und Arbeitszeitfragen sieht z.B. die folgende Schrift vor: Wichura, Victor (Hg.): Die vereinigte Arbeit (Association)... a.a.O.(=Anm. 144), 121. 329 Vgl. mit zahlreichen weiteren Details: Bosse, Rudolf Heinrich Bernhard: Arbeit. In: Ersch, J.S., Gruber, J.G. (Hg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet...Fünfter Theil. Leipzig 1820, 106 - 110, hier: 108 ff. 330 Vgl.: Dittrich, J.J.: Unsere Uebergangszeit...a.a.O. (=Anm. 174), 27 ff. 331 Vgl.: Schnell, Karl Ferdinand: Vorschläge zur Verbesserung... a.a.O.(=Anm. 139), 30 ff. 332 Vgl. zu seinem Gesamtkonzept: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O. (=Anm. 79), 51.
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die Fabrikarbeiter insbesondere wird von anderen Pauperismusautoren schon damals als Reallohnstandard betrachtet, indem man ihn an die Entwicklung der Lebensmittelpreise knüpfen möchte. Er solle durch ein „positives Gesetz“ fixiert werden. Nach den Verhältnissen jeder Provinz, jedes Landesteiles und den dort herrschenden Preisen der Lebensbedürfnisse festgesetzt, werde der Lohn dem Arbeiter zu besserer Subsistenz genügen und alle Willkür werde auf diese Weise verbannt.333 Die Regelung und Feststellung des Lohnes in Form eines Minimums solle diesen „in die Schranken der Menschlichkeit“ zurückführen. Das Minimum müsse ausreichen, einen Zustand sicherzustellen, bei dem der Arbeiter „als Mensch“ leben könne, erkennt ein Fabrikant.334 Es sei ein „unnatürlicher Zustand“ vermerkt ein anderer Autor, daß das Almosen die Lücken einigermaßen gefüllt habe, welche der Arbeitslohn gelassen habe. Die Regel müsse sein: „eher viel Lohn und wenig Almosen als viel Almosen und wenig Lohn“. Der Staat könne durch öffentliche Arbeiten bei möglichst hohen Löhnen die Privatpersonen zwingen, ihrerseits die Löhne heraufzusetzen.335 Mit dieser Ausrichtung und aufgrund der Zeitverhältnisse kann die vielgestaltige Lohndiskussion, die sich in die Nationalökonomie und Staatswissenschaft aspektreich fortsetzt, nicht ermessen, in welchem Umfang dieses Gebiet einmal Gegenstand, Konflikt- und Tätigkeitsfeld der Koalitionen bzw. der „Associationen der Arbeiter“ und der Arbeitgeberverbände werden wird.336 Ein weiterer äußerst zentraler Dreh- und Angelpunkt sozialkonservativer Konzepte für die „arbeitenden Klassen“ ist die Regulierung der Arbeitszeit. In einer Situation, in der Arbeitszeiten bei den abhängig Beschäftigten vorherrschen, die an die Grenze der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit gehen, in der auch, soweit dies möglich ist, Frauen und Kinder in den Arbeitsprozeß einbezogen sind, lassen sich zum einen Erscheinungen der physischen und psychischen Ruinierung, des Abgleitens in ein „vegetirendes auf das Grobsinnliche gerichtetes Leben“ beobachten.337 Es fehlt zum anderen aber auch jede zeitliche Möglichkeit zivilisierender und befriedender Einwirkung auf die „Proletairs“. „Barbarisch“ lange Arbeitszeiten von täglich teilweise weit über 14 Stunden, ein Ausdruck der Übermacht der „Lohnherren“ und ihrer Verwertungsstrategien, erscheinen so als ein gravierendes Hindernis der Herstellung eines „freundlichen Verhältnisses zwischen Fabrikherren und Arbeitern“,338 und sie lassen sozialreformerischen Einwirkungen jenseits der Arbeitssphäre buchstäblich keinen Raum. Das betrifft die Ausdehnung erzieherischer und kultureller Strategien ebenso wie die Absicht der Ausdehnung von gärtnerischem und landwirtschaftlichem „Nebenerwerb“. Selbstverständlich wird auch gesehen, daß das gesamte Privat- und Familienleben derart zuschanden gemacht wird. Der industrielle Unternehmer Friedrich Harkort erkennt: „Ein Individuum welches von Morgens 6 Uhr bis Abends 7 Uhr (einschließlich 1/2 Stunde Frühstück, 1 Stunde Mittagessen und 1/2 Stunde Nachmittagsruhe) beschäftigt ist, bedarf der übrigen wenigen Stunden 333 Vgl.: Steinmann, Friedrich: Pauperismus...a.a.O.(=Anm. 109), 75 f.; eine Minimallohnforderung enthält auch: Die sociale Frage im Vordergrunde! oder die drei Hauptforderungen der Arbeiter an den Staat...von einem Tuchfabrikanten. Grünberg 1848; zu weiteren Ansätzen, denen in einem Fall auch wieder ein partizipatorisches Moment anhaftet, vgl.: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O. (=Anm. 79), 58 ff. 334 Vgl.: Reichenheim, Leonor: Die soziale Frage...a.a.O. (=Anm. 258), 9 f. 335 Der Autor erkennt zudem, daß das Armenwesen dem Fabrikanten den Gewinn gesteigert habe; vgl.: Hasemann, J.: Die Armuthsfrage...a.a.O.(=Anm. 120), 93 ff. 336 Vgl. zu Ansätzen derartiger Einsichten: Scholz, Joachim: Vorläufer...a.a.O.(=Anm. 79), 66, 68. 337 Vgl.: Veritas, Vincens: Die Wünsche und Forderungen...a.a.O. (=Anm. 200), 59. 338 Vgl.: Mohl, Robert von: Ueber Nachtheile...a.a.O.(=Anm. 54), 174 f.
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für seine Familie und Verhältnisse als Mensch. Ebensogut wie das Gesetz den Sonntag zur Ruhe bestimmt, kann es den Feierabend feststellen.“339 Vor allem bei der Jugend sei anzusetzen. Sie dürfe vor zurückgelegter Schulzeit überhaupt nicht in Fabriken angestellt werden. Mit Blick auf die teilweise noch kürzeren Arbeitszeiten des Bergbaues, den dort gezahlten „mäßigen Lohn“, die dort üblichen „häuslichen“ und „ländlichen Arbeiten“ in der freien Zeit sowie die Fürsorge der Knappschaft stellt er fest: „Proletarier werden so nicht gebildet.“340 Fügt man diesem sozialpolitischen Motiv die verbreitete Auffassung hinzu, daß die Schaffung von Werten und Reichtümern auf Kosten der Menschenwürde abzulehnen sei341 und daß kürzere Arbeitszeiten die Arbeitsfähigkeit, Arbeitsmotivation und Arbeitsqualität heben und eventuell einem 18stündigen „geschäftigen Müßiggang“ erheblich überlegen sind,342 so wird die Häufigkeit und der Nachdruck erklärbar, mit dem die Sozialreformer die „Beschränkung der Verfügung des Lohnherren über die Lohnverhältnisse (d.h. die Arbeits- und Entlohnungsverhältnisse, E.R.) der Arbeiter“ anmahnen343 und Arbeitszeiten zwischen 10 und 12 Stunden an sechs Tagen als Maximum fordern.344 Sind die zuletzt diskutierten sozialreformerischen Interventionsschwerpunkte auf das innerbetriebliche Verhältnis von Arbeit und Kapital, die Länge der Arbeitszeit und die Entlohnung der geleisteten Arbeit zugeschnitten, so geht es bei anderen Projekten konservativer Sozialreform um die materielle Sicherstellung der „arbeitenden Klassen“ und ihrer Familien in den Zeiten, in denen die Arbeitskraft nicht gegen Lohn eingetauscht werden kann, weil sie „beschädigt“ ist oder keine Nachfrage findet, wie bei Krankheit, Unfall, Invalidität und bei Arbeitslosigkeit. Die Gefahr, in „erwerbslosen Zeiten“ buchstäblich von der „Tafel des Lebens“ verdrängt zu werden, betrifft dabei nicht lediglich die Arbeiter ländlicher, gewerblicher oder hauswirtschaftlicher Art, die von „Lohnherren“ abhängen, sondern alle „arbeitenden Klassen“, die aufgrund ihrer Vermögenslosigkeit der Armut nahestehen und auf den beständigen Einsatz ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Dementsprechend beziehen sich die der Verarmung durch Erwerbsunfähigkeit vorbeugenden „Heilmittel“ auf einen außerordentlich breiten, aus „alten Gebundenheiten und Sicherheiten“ herausgelösten Personenkreis. Ausgehend von dem Bild eines von Irrtum, Leidenschaft, Unvollkommenheit, kurz: von „Einsittlichung“ geprägten (Unterschichts-)Menschen, vertrauen die sozialkonservativen Stimmen nicht darauf, daß die Unterschichten bei genügend hohen Löhnen von sich aus für die Zeiten der Not ausreichende Rücklagen bilden. Mehr oder weniger ausdrücklich geht es ihnen deshalb beinahe immer um eine „obrigkeitlich“ verfügte, sanktionsbewehrte Reservierung eines Teils des Lohnes für Notfälle. Gedacht wird vor allem an die Einlage dieses Teils in die vielfältigen „Associationen“, die als Kassen für bestimmte Berufe und soziale Schichten und Gruppen schon bereitstehen.345 Angesichts der vielfachen Möglichkeiten des Kassenwesens fordert Harkort: „Man constituire die Massen, allein nicht im Geiste des Mittelalters, sondern auf der Grundlage der fortgeschrittenen Civilisation.“346 339 Harkort, Friedrich: Bemerkungen über die Hindernisse...a.a.O.(=Anm. 212), 44. 340 Derselbe, ebenda, 45. 341 Vgl. denselben, ebenda, 44. 342 Sinngemäß vgl.: Veritas, Vincenz: Die Wünsche und Forderungen...a.a.O.(=Anm. 200), 58. 343 So eine treffende Begriffsbildung von F.J. Buß in: Die öffentliche Armenpflege...a.a.O.(=Anm. 119), XVII. 344 Zahlreiche Nachweise bei: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 79), 87 ff. 345 Vgl.: Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 19; den staatlichen Zwang betont z.B.: Reichenheim, Leonor: Die sociale Frage...a.a.O.(=Anm. 258), 14. 346 Harkort, Friedrich: Bemerkungen...a.a.O.(=Anm. 212), 68.
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Vom sozialpolitischen Gehalt der Pauperismusliteratur
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Was diese Kassen und ihren Ausbau zu umfassenden Versicherungseinrichtungen so attraktiv macht, ist neben der Tatsache der „Preisgünstigkeit“ dieser Einrichtungen und der Hoffnung, daß die Kommunen bei der überhandnehmenden Armenunterstützung entlastet werden, wiederum die psychische Wirkung, die von diesen Institutionen nach der Auffassung und Anschauung der damaligen Zeit ausgehen soll. Daß alle armuts- und unzufriedenheitsfördernden Wirkungen falsch konstruierter Armenpflege im Rahmen der „Armenassekuranz“ entfallen, betont schon der Statistiker und „Kriegsrath“ Leopold Krug in seiner 1810 erschienen Schrift.347 Freiherr von Reden bekennt, die Begründung derartiger Kassen sei um so mehr zu empfehlen, „...als allen Erfahrungen nach Fleiß, Freudigkeit bei der Arbeit, Gemeinsinn, Ordnung und Sparsamkeit, unter den Theilnehmern dadurch recht sehr gefördert werden.“348 Aufgrund der Nähe zur Anschauung, zu den schon bestehenden „Assecuranzen“ und ihrer „Erfolgsgeschichte“349 sowie wegen der finanziellen und psychischen Vorteilhaftigkeit gehören die Kassen zu den am häufigsten diskutierten Mitteln gegen Pauperismus und Revolution. Sie finden sich in der Literatur vorgeschlagen als Anstalten „sozialpatriarchalischer Versorgung“, finanziert von Arbeitgebern und Staat oder als von Arbeit und Kapital „gemeinschaftlich“ verwaltete und finanzierte Institutionen. Sie werden als auf viele Versicherungszwecke bezogene Träger oder als spezialisierte Kassen beschrieben und gefordert.350 Die Diskussionen beziehen sich auch schon auf das Risiko der Arbeitslosigkeit,351 verzichten allerdings typischerweise noch auf die Fixierung einer Altersgrenze, wenn es um das Risiko der mit dem Alter drohenden Invalidität geht. Die Kassen werden für verschiedene Berufsgruppen nicht selten als separate Einrichtungen vorgeschlagen. Neben den Geldleistungen (Krankenlohn und Rente) spielen die Sach- und Dienstleistungen der ärztlichen Betreuung eine große Rolle. Die Diskussionen um Kassenformen, Kassenzwecke und Kassenstrukturen werden vor allem mit Fragen der Lohntheorie und Lohnbildung verknüpft, finden sich aber auch isoliert, wobei die Vielzahl der Versicherungszwecke und der verfügbare Lohn bzw. der Spielraum für Lohnabzüge in ein krasses Mißverhältnis geraten können. Der Gedanke der Anbindung der Geldleistungen an stark schwankende Lebensmittelpreise, insbesondere an die Getreidepreise, d.h. eine Vorform des Gedankens der „Dynamisierung“, findet sich schon in Krugs Schrift aus dem Jahre 1810.352 Die Tragfähigkeit der vorgeschlagenen Versicherungseinrichtungen wird durch mitunter umfangreiche statistisch-mathematische Kalkulationen ergründet, ausgearbeitete Statutenentwürfe sind nicht selten,353 und es ist keineswegs das alleinige Verdienst des „Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen“ mit seinem Plan einer „Allgemeinen Preußischen Versorgungsanstalt“354 diesen Weg der Fundierung seiner Anschauungen gegangen zu sein. 347 Vgl.: Krug, Leopold: Die Armenassekuranz...a.a.O.(=Anm. 138), insbes. auf den Seiten bis 84. 348 Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 19. 349 Vgl. etwa: Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), 115. 350 Vgl. dazu zusammenfassend: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 79), 108 ff. 351 Vgl. denselben, ebenda, 134. 352 Vgl.: Krug, Leopold: Die Armenassekurranz...a.a.O.(=Anm. 138), 126 ff. 353 Beides enthält die Arbeit von Krug; vgl. denselben, ebenda, 80 ff.; vgl. auch: Stelzig, Franz Aloys: Ausführliche Darstellung wie eine unwandelbar bestehende allgemeine Versorgungsanstalt für Greise, ohne ihr Verschulden erwerbsunfähige Männer, Witwen und Waisen, ohne Einlagsgelder, sondern nur durch mäßige jährliche Beiträge der Mitglieder gegründet werden kann.Prag 1828; Härlin, J.G.B.: Darstellung...a.a.O.(=Anm. 120); Liese, Eduard: Ueber öffentliche Versorgung der arbeitenden Volksklasse in Tagen der Krankheit und Noth. Ein Mittel zur Beseitigung des Proletariats und als Beitrag zur Staats- und Medicinal-Reform. Arnsberg 1848. 354 Vgl. dazu zusammenfassend: Reulecke, Jürgen: Sozialer Frieden...a.a.O.(=Anm. 64), 217 ff.
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Die sozialpolitische Diskussion vom Beginn bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts
Mit den Vorstellungen und Vorschlägen der Überbrückung arbeits- und damit einkommensloser Phasen durch „Associationen“, die nach dem Versicherungsprinzip arbeiten, konkurrieren über viele Jahrzehnte Vorstellungen, diesen Zweck der Verbannung von „Noth und Elend im Volke“ durch (Zwangs-)Sparen und (Zwangs-)Sparkassen umfassend, wenngleich auf individualisierter Basis, zu erreichen.355 Verschieden ausgestaltete Systeme der Umwandlung der Spar- und Dispositionsfreiheit in Zwang sollen die Ansammlung eines verzinslich angelegten „kleinen Kapitälchens“356 bedingen und auch den Zugang zu einem Kredit eröffnen. Kredite für „Unbemittelte“ sollen darüberhinaus über Leihanstalten ermöglicht werden. Auf diese Weise soll der Staat als Zuchtmeister die politisch gefährliche und ausreichend sparfähige bzw. „kreditwürdige“ Massenarmut überwinden helfen. Durch einen entsprechend ausgestalteten Sparzwang könne niemand leichtsinnig handeln. Er könne nicht ohne Vermögen heiraten (da die Hinterlegung eines Geldbetrages als Heiratsvoraussetzung betrachtet wird, E.R.) und müsse stets berechnen, ob er auch die für seine Kinder zu hinterlegende Summe aufzutreiben wisse. Er müsse demgemäß entweder mehr arbeiten oder weniger zeugen und es könne nie der Fall eintreten, daß, wenn der Vater sterbe, „...ein Dutzend hülflose Waisen übrig bleiben; denn jedes hätte sein Sümmchen in der Sparkasse.“357 Es kann nicht überraschen, daß der Weg gesehen wird, aus den Fonds der Zwangsspargelder selbständige Erwerbstätigkeit bzw. heimische Wirtschaft zu fördern.358 Die Lösung des Problems der „Massenarmuth“ über Versicherungs- oder Sparfonds setzt bei den Arbeitsverhältnissen an und hat einen relativ selten und nur kurzfristig unterbrochenen, insgesamt dauerhaften Fortbestand abhängiger oder selbständiger Arbeit als Voraussetzung. Das Ziel, mittels Hilfs- und Sparkassen zu bewirken, daß die „arbeitenden Klassen“ sich „zufrieden und glücklich fühlen“ (aber auch arbeitsmotiviert, „stark und kräftig“ werden)359 ist davon abhängig, daß sie grundsätzlich versicherungs- und sparfähig bleiben. Der politischen Gefahr, die von der erwerbsarbeitslosen Armutsbevölkerung ausgeht, ist so nicht zu begegnen. Gesteuert werden kann nur die „Gefahr“, die von den „arbeitenden Armen“ (der „versicherungs- bzw. sparfähigen Armut“) ausgeht, von jenen zahlreichen sozialen Schichten und Gruppen also, die noch etwas vom Lohn erübrigen können. Um diese Bruchstelle gesellschaftlicher Integration und Pazifizierung zu kitten, darf die Masse der arbeits- und damit längerfristig einkommenslosen Menschen nicht überhandnehmen. Dieses Grundproblem der damaligen Gesellschaft, gegen das schon die Palliative der Einschränkung der Verehelichungsfreiheit, der Auswanderung, der „inneren Colonisation“ und der Ausweg der Entfesselung eines industriell-wirtschaftlichen Wachstums ins Feld geführt wurden, soll darüber hinaus durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, durch die Beeinflussung der Arbeitskräftenachfrage in großem Umfang, bekämpft werden. Auch auf
355 Vgl. z.B.: Dittrich, J.J.: Unsere Uebergangszeit...a.a.O. (=Anm. 174), 79 mit weiteren Überlegungen. 356 So zutreffend: Beiträge zur Beantwortung der Frage: Wie kann dem allgemeinen Nothstande allein und am zweckmäßigsten abgeholfen werden? Michelstadt 1852, 37. 357 So: Obermüller, Wilhelm: Das Gütergleichgewicht...a.a.O. (=Anm. 314), 79 mit weiteren Überlegungen. 358 Vgl. zu den Sparkassen auch: Hasemann, J.: Die Armuthsfrage ...a.a.O.(=Anm. 120), bes. 135 ff.; vgl. insgesamt zu den Sparkassen und den Versicherungsansätzen: Die öffentliche Armenpflege. Von dem Herrn von Gérando...Im Auszug übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Dr. F.J. Buß...Zweiter Theil. Zweites und drittes Buch. Stuttgart 1844, 2 - 227; eine interessante Variante der Sparidee, das Sparen im Sommer, um damit Heiz- und Lebensmittel für den häufig armutauslösenden Winter im Großen anzukaufen, findet sich bei: Liedke, G.(ottlieb) S.(amuel): Hebung der Noth...a.a.O.(=Anm. 202), 40 ff.; eine Kritik des Sparkassenwesens leistet: Marx, Karl: Lohnarbeit und Kapital. Berlin 1970 (1849), 75 f. 359 So: Schnell, Karl Ferdinand: Vorschläge zur Verbesserung... a.a.O.(=Anm. 139), 37.
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diesem Gebiet argumentiert die Pauperismusliteratur im Anschluß an eine damals schon recht verbreitete Praxis. Geradezu zentral ist die Anempfehlung verstärkter öffentlicher Arbeiten in Form von Ödlandkultivierung, von Landstraßen-, Kanal- und Eisenbahnbau.360 Von Graf zu Dohna wird die Verpflichtung des Staates postuliert, jedem, der keine Arbeit hat, einen Arbeitsplatz zuzuweisen, „...oder selbst seine körperlichen Kräfte gegen angemessenen Lohn zu benutzen, und zwar ebenfalls nicht bloß für heute und morgen, sondern für den Verlauf eines ganzen Jahres.“361 Wie hieraus schon deutlich wird, möchte auch er dem Übel der wöchentlichen, ja täglichen Kündigung im privatwirtschaftlichen Bereich einen „Damm entgegen gestellt“ sehen. Von hier ergeben sich Anklänge an das aus dem Frankreich des auslaufenden 18. Jahrhunderts postulierte „Recht auf Arbeit“, das im Vormärz in Deutschland von dem Philosophen und Ökonomen Johann Gottlieb Fichte sowie dem Trierer Regierungssekretär Ludwig Gall und dem Anhänger des Fourierismus und Journalisten Franz Stromeyer in unterschiedlicher Form vertreten wird. Von zahlreichen Autoren wird eine Verbesserung des Arbeitsmarktausgleichs durch eine Förderung und Verbreitung der bereits bestehenden „Arbeitsnachweisungsanstalten“ oder, wie es auch heißt: der „AdreßComptoirs“ gefordert.362 Von Bedeutung ist neben dieser Diskussion auch der Vorschlag, eine Kündigungsfrist einzuführen und die Stellensuche während des auslaufenden Arbeitsverhältnisses zu ermöglichen. Hinzutreten soll die Zahlung eines „Wartegeldes“ bei Auftragsmangel und ein Verzicht der sofortigen Kündigung. Zur Regelung der Streitigkeiten aus diesen Fragen soll ein „Arbeitergericht“ ins Leben gerufen werden, das von den Arbeitern und „Arbeitsherren“ besetzt werden soll.363 Als Sonderproblem stellen sich den „Frühsozialpolitikern“ die sozialen Folgen dar, die sich aus der Anwendung des technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts in Form von Maschinen ergeben. Die in- und ausländischen Maschinenstürmereien und der Augenschein machen für viele Beobachter deutlich, daß sie Arbeit ersparen und „freisetzen“ und technologisch zurückbleibende, kleindimensionierte Produktionsstätten ruinieren.364 Dennoch sind die Stimmen, die die Maschinen abschaffen oder ihren Einsatz deutlich beschränken möchten, eher die Ausnahme.365 Im Allgemeinen wird die „Ausdehnung der Maschinerie“ bejaht und es werden lediglich bestimmte Hilfsmaßnahmen für die betroffenen Arbeitergruppen gefordert und diskutiert. Dieser Haltung entspricht, daß man nicht primär die Ruinierung des Menschen durch das Maschinenwesen unterlegt, sondern die Vorteile der Maschinenproduktion, wie bessere und billigere Produkte, Befreiung des Menschen von erniedrigender, einseitiger und schwerer Arbeit sieht und darüber hinaus annimmt, daß letztlich die durch den Maschineneinsatz bedingte Arbeitslosigkeit vorübergehender Natur sein werde. Niedrigere Preise der maschinell hergestellten Waren zögen einen höheren Absatz nach 360 Vgl. zusammenfassend: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 79), 71 ff. 361 Dohna, Hermann Graf zu: Die freien Arbeiter...a.a.O.(=Anm. 148), 68, dort auch die nähere Ausgestaltung. 362 Vgl.: Klees, Bernd: Das Recht auf Arbeit. Bestandsaufnahme, Kritik, Perspektive. Frankfurt a.M. 1984, 23ff.; vgl. zur Geschichte dieses Rechts auch: Schminck-Gustavus, Christoph U.: Recht auf Arbeit - Zur Geschichte einer konkreten Utopie. In: Achten, Udo u.a. (Hg.): Recht auf Arbeit - eine politische Herausforderung. Neuwied und Darmstadt 1978, 15 - 43; vgl. zur Aufgabenstellung und Struktur eines Adreß-Comptoirs: Schultze, Karl: Wie könnte der arbeitenden Klasse geholfen werden? Meurs o.J., sowie: Die Zustände der arbeitenden Klasse. Beleuchtet und gezeichnet von einem Proletarier...Düsseldorf 1847, 35 ff. 363 Vgl.: Veritas, Vincenz: Die Wünsche und Forderungen...a.a.O. (=Anm. 200), 62 ff. 364 Vgl. dazu das von F. List verfaßte Stichwort: Arbeit ersparende Maschinen. In: Rotteck, Carl von, Welcker, Carl (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften... Erster Band. Altona 1834, 653 - 656. 365 Vgl.: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 79), 192 ff.
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sich, die Maschinen selbst müßten gebaut, bedient und gewartet werden, die ganze Ökonomie gerate durch den Maschineneinsatz in eine expansive, eventuell staatlich zu fördernde Entwicklungsphase, letztlich würden mehr Menschen beschäftigt, als vor dem Einbruch des Maschinenwesens in die Arbeitswelt.366 Für die Bewältigung der lediglich temporär gedachten Arbeitslosigkeit wird zunächst einmal auf den Ausbau des Spar- und Hilfskassenwesens und auf eine einzurichtende staatliche Arbeitslosenunterstützung verwiesen. Es fehlt erneut auch nicht der Hinweis auf das Arbeitsbeschaffungs- und Arbeitsvermittlungswesen. Es finden sich aber auch Vorschläge, Freisetzungen durch Mitwirkung eines „Fabrikarbeiterkuratoriums“ möglichst zu verhindern oder zu „gestalten“.367 Darüber hinaus wird das Bildungs- und Fortbildungswesen als Instrument angesprochen, durch Vermittlung industrieller und landwirtschaftlicher Fähigkeiten die Anpassungsmöglichkeiten der Arbeiter zu verbessern, um so die Probleme der Einsparung von Arbeit durch Maschineneinsatz in einer expandierenden Ökonomie zu lösen.368 Zahlreiche teils in sehr unvollkommener Form bereits bestehende, teils erst intellektuell erdachte Instrumentarien, die „...vielen kleinen Palliative, die von bürgerlicher Seite gemacht werden...“369 werden also, unter geringfügiger Umgestaltung, auf diesen einen besonderen Ursachenkomplex der „gefahrvollen Ruinierung“ der „arbeitenden Klassen“ bezogen. Als eine weitere Kategorie von Hilfsmitteln gegen die „Gefahren“ des Proletariats werden Maßnahmen diskutiert, die in der Sphäre des Konsums und des Alltaglebens eingreifen und hier bestimmte „Erleichterungen“ und - nicht unbestritten - Reglementierungen bewirken sollen. Ausgehend von der besonders hohen Steuerbelastung der Unterschichten wird die Aufhebung oder mindestens Ermäßigung der Abgaben, welche auf den „unentbehrlichen Lebensbedürfnissen lasten“, gefordert.370 Eine solche Maßnahme sei geeignet, das Mißverhältnis der Löhne zu den Preisen zu reduzieren und das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben der „arbeitenden Klassen“ wiederherzustellen. Es wird also die Möglichkeit erkannt, durch Steuern regulierend in die Lebenshaltung ganzer Gesellschaftsklassen einzugreifen. Statt der indirekten Steuern wird eine progressive Einkommensteuer und eine stärkere Besteuerung des Luxus vorgeschlagen. In eine ähnliche Richtung weisen die Vorstöße, die Stempelgebühren und die sonstigen öffentlichen Abgaben so umzugestalten, daß sie für die im Wohlstand gesunkenen sozialen Schichten und Gruppen tragbar und akzeptabel sind.371 „Positiv“, sozusagen lebenslageverbessernd sind auch die Vorschläge, das Dienstleistungsangebot etwa auf dem Gebiet des damaligen Gesundheitswesens zu optimieren, die Rechtspflege zu erleichtern und zu verbilligen,372 zweckentsprechende Gesetze gegen Kreditwucher zu erlassen, Maßnahmen gegen die Warenspekulation und den Preiswucher bei Lebensmitteln zu ergreifen.373 „Gegen Verderbtheit, Trägheit, Dummheit und Unglück der Armen selbst, hat man Volks-Unterricht, religiöse Erziehung, Wohltätigkeits-Anstalten und Sparkassen und der366 Vgl.: List, F.: Arbeit ersparende Maschinen...a.a.O.(=Anm. 364),654 ff. 367 Vgl.: Scholz, Joachim: Vorläufer der heutigen Sozialpolitik ...a.a.O.(=Anm. 79),203. 368 Vgl. denselben, ebenda, 211 ff. 369 Marx, Karl: Lohnarbeit...a.a.O.(=Anm. 358), 77. 370 Vgl.: Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 15; vgl. auch: Werner, Bernhard: Das Armenwesen, sein Ursprung...a.a.O.(=Anm. 285), 13. 371 Vgl.: Reden, Freiherr von: Erwerbsmangel...a.a.O.(=Anm. 120), 15 f. 372 Vgl. ebenda, 15. 373 Vgl.: Die Zustände der arbeitenden Klasse...a.a.O.(=Anm. 362), insbesondere 24 ff.
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gleichen, in Anwendung gesetzt.“374 Manche der über die Ursachen, die „Heilmittel“ und „Heilverfahren“ des Pauperismus publizierenden Autoren wollen bei diesen Einwirkungsmitteln nicht stehen bleiben. Sie heben den Staat in den Rang einer das Alltagsleben überwachenden Zwangsanstalt und stehen damit besonders eng in der Tradition des überkommenen „Armen(polizey)wesens“ und der noch im 18. Jahrhundert nachweisbaren Versuche, die Unterscheidung der Stände auch im äußeren Erscheinungsbild durch Kleiderordnungen und andere Reglements des Lebensstils und des Konsumverhaltens, durch „Prachtgesetze“ also, aufrechtzuerhalten.375 „Die Hülfe erhaltenden Individuen werden unter Aufsicht gestellt, und dürfen Schenken und öffentliche Oerter nicht besuchen.“376 Die meisten „Frühsozialpolitiker“ differenzieren nicht zwischen juristisch-administrativ geschiedenen Bevölkerungsgruppen, die von ihnen vorgeschlagenen, in der Tradition der „Policey“-Gesetzgebung stehenden Mittel sind insgesamt jedoch kaum weniger einschneidend. Ein allgemeines Verbot aller Hazardspiele, „die Abschaffung und jegliche Ausrottung aller Lotti und Lotterien“377, die Einschränkung des Luxus der niederen Stände, vor der Gewerbefreiheit: die Bekämpfung der „Handwerksmißbräuche“, die Einschränkung und strenge Beaufsichtigung der Schänken und Wirtshäuser378 und der „vielen niedrigen Gelage“, die Förderung „zweckmäßiger Volksergötzlichkeiten“, die Verhinderung übertriebenen Aufwandes bei Familienfesten, die Verunmöglichung des „Abfressens, Saufen, gewisse Stunden Schlafen“ durch Beamte gegenüber den Dienstboten,379 „...die Einwirkung der Gutsherrschaften und Polizei-Obrigkeiten auf bessern und nüchternen Lebenswandel“,380 die Einschränkung der Prostitution usw. usf. gehören in diese Kategorie der Hilfsmittel gegen die Verarmung. Angesichts solcher Vorschläge, die insgesamt auf eine extreme „Verpolizeilichung“ der Lebensführung der „untern Volksclassen“ hinausgelaufen wären, erhebt sich auch Skepsis. Diese bezieht sich vor allem auf die politisch-psychologischen Folgen einer solchen Strategie. Eine derartige Vorgehensweise im Zeitalter der Rechtsgleichheit und (formalen) Freiheit, so wird nicht ohne Grund befürchtet, könne die „Stände“ noch weiter scheiden, könne ein noch größeres Mißtrauen und eine „...untilgbare Erbitterung, das größte Unheil, was unserer Gesellschaft drohen kann“381, hervorrufen, könne dazu beitragen, daß „verbissener Groll und Trotz“ in offene Widersetzlichkeit, in Bürgerkrieg und soziale Revolution übergehen. Im Gesamtbild der sozialpolitischen Ausgleichungs-, Kontroll- und Modifizierungsstrategien spielt der Gedanke, die „gesellschaftlichen Spannungen“ durch die Einräumung von politischen Partizipationschancen für die gesellschaftlichen Unterschichten zu vermindern, keine zentrale Rolle. Diese Beobachtung kann nicht überraschen. Das Eigentum gilt im allgemeinen als Voraussetzung der Bildung eines „realitätsangemessenen“ politischen Interesses und Urteilsvermögens. Es mache den „wahren Bürger“ aus und es ist Voraussetzung und nach Umfang und Art auch Maßstab für die Abstufung politischer Rechte. Eigentumslose und „Buchgelehrte“ gelten als anfällig für (eigentumsfeindliche, egalitäre) politi374 Obermüller Wilhelm: Das Gütergleichgewicht...a.a.O. (=Anm. 314),4; im Original teilweise gesperrt gedruckt. 375 Vgl. dazu die instruktive Studie von: Stürmer, Michael (Hg.): Herbst des alten Handwerks. Meister, Gesellen und Obrigkeit im 18. Jahrhundert. München, Zürich 1986, bes. 94 ff. 376 So: Schmidt, Friedrich: Ueber die Zustände...a.a.O.(=Anm. 120), 283. 377 Vgl.: Untersuchungen...a.a.O.(=Anm. 110), 106. 378 Vgl.: Wohlfahrt, Johann Friedrich Theodor: Der Pauperismus... a.a.O.(=Anm. 120), 129. 379 Vgl.: Gaum, Friedrich Wilhelm: Praktische Anleitungen... a.a.O.(=Anm. 3), 16. 380 Vgl.: Cieszkowski, August Graf von: Zur Verbesserung der Lage der Arbeiter auf dem Land. Berlin 1846, 8. 381 Berends, Julius: Wie ist die Noth...a.a.O.(=Anm. 219),33.
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sche Doktrin; getrieben von Neid und Habsucht bildeten sie eine Gefahr für Sicherheit und Eigentum der „wahren Staatsbürger“. Forderungen der „Lobredner der Demokratie“, Wahlrechte in herrschaftsrelevanter Weise in Richtung auf den „Vierten Stand“ auszudehnen, stoßen deshalb zur damaligen Zeit auf den Vorbehalt, aus dieser „zu weit getriebenen Gleichheit“ resultiere leicht die Herrschaft der blinden, veränderlichen Volksgunst, ergäbe sich Anarchie und Ochlokratie (Pöbelsherrschaft). Typischerweise gibt man dem monarchischen oder aristokratischen Prinzip den Vorzug und betrachtet jene „radikalen Demokraten“ als Feinde des Bestehenden und der Stabilität.382 Schon das bei der überwiegenden Mehrheit der Pauperismusautoren auffindbare Menschenbild legt nahe, daß die Auffassung vorherrschen muß, daß „...einige Individuen ... fast immer vom Regierungsantheil ausgeschlossen werden müssen, nämlich die Nichterwachsenen, die Weiber, die Unselbständigen, deren bürgerliche Existenz durch persönliche Dienste und Verpflichtung von andern abhängt.“383 Die politisch ungebildeten Massen gelten auch in diesem Zusammenhang gemeinhin als Sitz des Unverstandes und der Leidenschaften. Lediglich „ein Ostpreuße“ möchte in einer Schrift des Jahres 1848 das Mißtrauen zwischen den Völkern einerseits und den Fürsten und höheren Ständen anderseits dadurch bekämpfen und ausrotten, daß entsprechend dem Gleichheitspostulat die noch bestehenden Privilegien geschleift werden und daß die privilegierten Kammern „...einer von der Gesammtheit der Nation frei und ohne verdächtigende Formen gewählten Gesammtheit von Volksvertretern weichen“ müssen.384 Andere Autoren verbinden mit der Einräumung gewisser „demokratischer Formen“ Vorstellungen, die jeder wirksamen Einflußnahme Hohn sprechen. Setzt von Baader mit seiner Konzeption einer „Repräsentation als Advocatie“ vor allem auf Einbindung der „Proletairs“ durch die Ausbildung einer „Standschaftsehre“, und möchte der liberale Ökonom, Hochschullehrer und Politiker Karl Biedermann das Volk durch freieste Debatte und Aussprache in allen Fragen des öffentlichen Lebens zur politischen Bildung und Reife führen, damit es später auch „sachgemäß“ an der sozialen Umgestaltung mitarbeiten könne,385 so vermissen manche sozialkonservative Autoren die Abwesenheit der „untern Volksklassen“ in den politischen Gremien vor allem als Abwesenheit eines „politischen Frühwarnsystems“. In einer Veröffentlichung über die preußische Bürokratie aus dem Jahre 1845 findet sich die Auffassung, „bei freier Presse und Volksrepräsentation, wodurch die armen Weber öffentlich hätten zu Worte kommen können, wäre das Unglück verhütet worden.“386 In unübertroffener Eindeutigkeit und zugespitzt verfolgt und vertieft der Rittergutsbesitzer J.J. Dittrich entsprechende Gedankengänge und kommt zu dem Ergebnis, daß im Preußen des Vormärz in den Landtagen wesentlich lediglich der Grundbesitz interessenmäßig repräsentiert sei, das „Merkantil-Interesse“, das „wissenschaftliche Interesse“ und das 382 So die Grundlinien des Bildes, das sich bei der Lektüre der entsprechenden Stichworte der Lexika und Wörterbücher der damaligen Zeit ergibt; vgl. auch die Gedanken des Reichsfreiherrn vom und zum Stein wiedergegeben bei: Gembruch, Werner: Die preußischen Reformer. In: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Band 4. München, Zürich 1986, 79 - 91, hier: 81 ff. 383 Köppen: Demokratie. In: Ersch, J.S., Gruber, J.G. (Hg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet. Erste Section. Dreiundzwanzigster Theil. Leipzig 1832, 33 - 35, hier: 34. 384 Vgl.: Der Nothstand der untern Volksklasen...a.a.O.(=Anm. 206), 71 f. 385 Vgl.: Mombert, P.: Aus der Literatur...a.a.O.(=Anm. 96), 202. 386 Vgl. denselben, ebenda, 195.
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„proletarische Interesse“ fehlten jedoch. Genuin sozialpolitisch argumentierend fährt er fort: Der Proletarier Bedeutung, wachsende Zahl und steigende Not lasse es sehr geraten erscheinen „...ihnen einen gesetzlichen Weg zu öffnen, auf welchem sie ihre Bedürfnisse, ihre dringenden Wünsche zur gemeinsamen Berathung mit den anderen Ständen und zur Kenntniß der höchsten Behörden bringen können. Dazu aber scheint, so lange die Landtage nur Standschaften repräsentiren, e in e Stimme genügend für den Stand der Handarbeiter. E in e nur, wie die Römer sie schon vor 2400 Jahren ihren Proletariern gewährten, um mit ihren Zuständen immer auf dem Laufenden zu bleiben, und jeglicher Bedrängnis zeitig vorzubeugen oder abzuhelfen ... Es scheint aber die Gewährung e in er Stimme für das Proletariat um so nothwendiger, als die anderen Stände keine genaue Kenntniß seiner inneren Zustände haben, und diese doch auf das Wohl der Gesammtheit von wesentlichstem Einfluß sind.“387 Damit artikuliert Dittrich ein aus der historischen Situation und dem politischpsychologischen bzw. sozialpsychologischen Gesamtcharakter der Pauperismusdiskussion resultierendes Informationsbedürfnis über die subjektiven und objektiven Befindlichkeiten der „Unterschichten“. Der die Denkformen der Naturwissenschaften auf gesellschaftswissenschaftliche Tatbestände „übertragende“ Politiker und Theoretiker Moritz von LavergnePéguilhen verdichtet dieses Informationsbedürfnis zu einem Arrangement „gesellschaftlicher Dauerbeobachtung“ von bemerkenswerter „Modernität“. In einem Antrag schlägt er vor, die Regierung zur Errichtung eines sozialpolitischen Zentralinstituts aufzufordern, „...dessen Aufgabe es sein wird, in ununterbrochener Beobachtung die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erforschen; die darauf bezüglichen Gesetzentwürfe oder praktischen Unternehmungen vorzubereiten oder zu begutachten; für die Ausbildung der Gesellschaftswissenschaft zu einer Erfahrungswissenschaft als Unterlage zu dienen, allen auf Erkenntnis und Reform der Gesellschaft gerichtete Bestrebungen einen Mittelpunkt darzubieten und die Staatsregierung mit der Entwicklung der Gesellschaft in stetem gegenseitigen Rapport zu erhalten.“388 Vor dem Hintergrund derartiger Konzeptionen und dem Charakter der ersten sozialpolitischen Debatte kann nicht verwundern, daß auf dem Gebiet der Sozialpolitik und des Armenwesens ein wichtiger Ausgangspunkt der empirischen Sozialforschung liegt. Es werden allerdings überwiegend objektive Sachverhalte und diese häufig in Form von Expertenbefragungen erhoben. Diese Methode, die jenseits der deutschen Grenzen in Frankreich, Belgien und England intensiv angewendet wird,389 hat im Jahre 1849 auch in Deutschland bereits eine lange Geschichte hinter sich. Sie geht zurück auf das „rationalistische, fortschrittsgläubige und aufklärerische“ 18. Jahrhundert. Eine intensivere Suche nach „Vorformen“ in allen Weltgegenden und in lange untergegangenen Herrschaftsgebilden läßt schließlich sogar als Ausgangspunkt einer „diffusen“ Entwicklungsgeschichte einen 387 Dittrich, J.J.: Unsere Uebergangszeit...a.a.O.(=Anm. 174), 194 f. 388 Zit. nach: Mombert, P.: Aus der Literatur...a.a.O.(=Anm. 96), 216; Mombert behauptet, es habe sich um einen Antrag an die erste preußische Kammer aus dem Jahre 1849 gehandelt; dann wäre es in der Tat ein äußerst bemerkenswerter Verstoß gewesen. In den Drucksachen der Ersten Kammer konnte ein entsprechender Antrag des Jahres 1849 jedoch nicht identifiziert werden. 389 Vgl. die Hinweise bei: Oberschall, Anthony: Empirical Social Research in Germany 1848 - 1914. Paris, The Hague 1965, 3 f. sowie: Kern, Horst: Empirische Sozialforschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien. München 1982, 67 ff. und sehr erhellend: Fallati, (Johannes): Einige Mittheilungen über die Einrichtung statistischer Enquêten in England, Frankreich und Belgien mit einer Schlussanwendung auf den deutschen Zollverein. In: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft (1846)1, 724 - 752.
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„Fragebogen Karls des Großen“ aus dem Jahre 811 im Blickfeld erscheinen.390 In der Literatur gut dokumentiert ist z.B. eine systematische Erhebung von Daten über die Hamburger Armenbevölkerung gegen Ende des 18. Jahrhunderts.391 Umfragen begleiten auch die Kinderarbeit und die Entstehung des Kinderschutzgesetzes von März 1839.392 Bekannt ist die empirische Untersuchung von Alexander Schneer über die Not der Leinen-Arbeiter in Schlesien und die Mittel diesem Elend abzuhelfen.393 Besonders erwähnenswert sind Alexander von Lengerkes Umfrage über die Lage der Landarbeiter in Preußen, und die Umfrage in Sachsen über die Lage der Arbeiter, beide aus dem Revolutionsjahr 1848. Die letztgenannte Untersuchung hat das Ziel die Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung zu erkunden und fragt damit als eine der ersten Untersuchungen nach einem subjektiven für den sozialpolitischen Gesamtzusammenhang zentralen „Sachverhalt.“394
3.3 Resümee mit Blick auf die Arbeiterbewegung In der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, von der Agrar- zur Industriegesellschaft, vom absolutistisch-aristokratischen Herrschaftssystem zum (noch in der weiten Zukunft liegenden) „modernen“ Verfassungs- und Nationalstaat, von der verkommenden, zerbröckelnden Ständegesellschaft zur Klassengesellschaft, von der traditionalen, religiös durchwirkten, aristokratisch geprägten Kultur zur vergleichsweise stärker säkularisierten, weniger traditionalen Kultur bürgerlicher Zeit,395 entsteht eine vielfältige „ursprüngliche“ sozialpolitische Diskussion, deren Grundzüge sich resümierend besonders scharf hervorheben lassen, wenn man sie an revolutionären Ansätzen „spiegelt“396 und hiervon abgrenzt. Das sozialreformerische Denken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht in besonders krassem Gegensatz zu allen Konflikt- und Emanzipationsmodellen gesellschaftlicher Entwicklung. Die Sozialreformer setzen ausdrücklich nicht auf die revolutionäre Kraft der Massenarmut bzw. des „Proletariats“. Die Emanzipation des „Vierten Standes“ durch den „Vierten Stand“ ist nicht Hoffnung und positive Zukunfts-, sondern Schreckensvision. Die Entfremdeten, die Unterdrückten und Entwürdigten, die „Verdammten dieser Erde“ erscheinen ihnen als zu beobachtende und zu behandelnde Objekte, nicht als Subjekte gesellschaftlichen Fortschritts. Ihre Schriften mit den maßnahmepraktischen Vorschlägen richten sich nicht an die „arbeitenden Klassen“. Es gilt den Sozialreformern ganz überwiegend als ausgemacht, daß das Heraustreten der „Proletarier“ aus ihrer Objekt- und Opferrolle schreckliches Unglück, einen neuen „Barbarensturm“ bedeuten würde. Die gesellschaftlichen Unterschichten in den Rang einer fortschrittlich-geschichtsbestimmenden Größe zu heben, wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen. Was den Revolutionären von 1789 Ehre 390 So: Rothenbacher, Franz: Die subjektive und sozialpsychologische Dimension in der Geschichte der empirischen Sozialforschung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 42 (1990)3, 524 - 546, hier: 531: vgl. auch: Petersen, Thomas u.a.: Der Fragebogen Karls des Grossen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 56(2004)4, 736 - 745. 391 Vgl.: Wendt, Wolf Rainer: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 326), 30. 392 Vgl. etwa den Auszug aus dem Fragebogen des Bürgermeisters von Ratingen vom 22. August 1824 in: Köllmann, Wolfgang: Die Industrielle Revolution. Stuttgart o.J., 29. 393 Auszüge bei: Kuczynski, Jürgen: Die Geschichte...a.a.O. (=Anm. 103), 200 ff. 394 Vgl.: Rothenbacher, Franz: Die subjektive...a.a.O.(=Anm. 390), 531 f. 395 Ähnlich die grobe „Zeitbestimmung“ bei: Kocka, Jürgen: Arbeitsverhältnisse...a.a.O.(=Anm. 304), 1. 396 Vgl. in diesem Zusammenhang die ausgezeichnete Studie von: Hahn, Manfred: Bürgerlicher Optimismus im Niedergang. Studien zu Lorenz von Stein und Hegel. München 1969.
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gemacht habe, betont Lorenz von Stein, dürfe dem aufbegehrenden Proletariat nicht gelingen: der Sieg.397 Darin sind sich alle einig: einen „von unten“ erfolgenden Schritt über das in einem raschen und krisenhaften Umbruch und Entwicklungsprozeß sich befindende „Bestehende“, dürfe es nicht geben. Bei der scharfen moralischen Abwertung der „arbeitenden Klassen“ erscheint es ihnen als zwingend, daß eine Revolution der „schlechteren Klasse“ nur Unheil bringen könne. Wenngleich sich mitunter deutliche Neigungen zeigen, das „Gute“ der „alten Zeit“ zu idealisieren und zumindest teilweise zu ihr zurückzukehren, stehen die „Frühsozialpolitiker“ doch mehrheitlich auf dem Boden der vielgestaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Übergangszeit, über die es für sie kein revolutionäres Hinaus und im Prinzip auch kein Zurück gibt. Diese Haltung beinhaltet keine platte Apologie. Das Vorhandene gilt ihnen als Fehlerhaft und einer verhängnisvollen Entwicklungsdynamik verfallen. Es lasse sich nicht erhalten, wenn alles so bleibe, wie es sei oder wie es sich „naturwüchsig“ entwickle. Das zu Erhaltende müsse zuerst haltbar und erhaltenswert gemacht werden. Der anerkannte Veränderungsbedarf wiederum führt nicht dazu, daß die „Frühsozialpolitiker“ in die lange Tradition der Entwicklung und Ausmalung alternativer Gesellschaftsentwürfe eintreten, die in den Ansichten Robert Owens und der französischen Frühsozialisten ihren damaligen Endpunkt gefunden hat. Sie denken sich dementsprechend keine Alternative zur kapitalistisch werdenden Wirtschaft aus und sind nicht an der Umsetzung entsprechender Sozialexperimente beteiligt, die als „gemeinschaftliche“ Eigentums-, Produktions-, Lebens- und Verteilungsformen beinhaltende Sozialgebilde in großer Zahl vor allem in Europa und in Nordamerika entstehen.398 Im Gegensatz zu den Konzeptionen der „Frühsozialpolitiker“ stellen diese Kommunitäten theoretische und praktische Versuche gegen die „moderne“, die industrielle Gesellschaft dar. Mustergemeinschaften etwa in der Form der Owenschen Gründung von Harmony in Südengland bzw. New Harmony in Nordamerika oder der vielfältigen und zahlreichen Versuche der Umsetzung fourieristischer Phalangen, werden noch weniger diskutiert als die dahinter stehenden Gedankengebäude. Gewisse Anklänge an „kommunitäre“ Sozial- und Wirtschaftsformen finden sich bestenfalls bei den Projekten der „inneren Colonisation“ und bei „Armenkolonien“. Im Vergleich mit diesen in der frühen Arbeiterbewegung des gesamten europäischen Kontinents diskutierten Veränderungsideen und -versuchen greifen die „Frühsozialpolitiker“ deutlich „kürzer“. Es ist typischerweise überhaupt nicht an grundlegende, wesentliche Veränderungen der Produktionsverhältnisse gedacht. Die Fabrikarbeiter sollen weiter Fabrikarbeiter, die „arbeitenden Klassen“ sollen samt und sonders „arbeitende Klassen“ in einer Gesellschaft bleiben, in der eben nicht alle von ihrer Hände Arbeit zu leben gezwungen sind. Lediglich bestimmte Folgen dieser Ordnung sollen auf ein „erträgliches Maß“ reduziert werden. Der Standpunkt des teilweise noch feudalen und des bürgerlichen Eigentums und der darauf aufbauenden Sozialordnung wird nicht überschritten, eine nicht vollkommene Gesellschaft soll mehr oder weniger notdürftig repariert werden. Das Hier und Jetzt soll gegen Theorien und soziale Bewegungen behauptet werden, die aus dem noch teilweise ständisch und feudal geprägten Heute in eine neuartige „Zukunftsgesellschaft“ 397 Vgl. denselben, ebenda, 87. 398 Die unmittelbaren Vorläufer der französischen Früh- oder utopischen Sozialisten finden sich bei: Girsberger, Hans: Der utopische Sozialismus des 18. Jahrhunderts in Frankreich. 2. Auflage. Wiesbaden 1973; als unverzichtbare Darstellung des Forschungsstandes vgl.: Hahn, Manfred: New Harmony oder Die Versuche des praktischen Beweises gegen die kapitalistische Gesellschaft. Vormarxistischer Sozialismus als communities. Forschungsstand. Bremen 1983 (vv. Man.).
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fortdrängen. Deshalb: „geregelte Auswanderung“, Entfesselung des wirtschaftlichen Wachstums, Instrumentalisierung von Kirche und Schule, Fixierung eines Lohnminimums, Arbeitsbeschaffung, Arbeitermitwirkung usw. Das ist deutlich mehr als fallweise, reaktive, bestenfalls den Armen ändernde „Armenhilfe“ und erheblich weniger und anderes als die Revolution. Diese Zusammenhänge deutlich erfassend formuliert der konservative Wirtschaftsund Sozialwissenschaftler Goetz Briefs mit Blick auf das (spätere) „gewerbliche Proletariat“, eine sozialpolitische Strategie beinhalte nicht die Aufhebung der mit dem Kapitalismus notwendig verbundenen „Proletarität“ und der „Lohnarbeit“, sondern versuche das Los der Lohnarbeiterschaft zu erleichtern. Zu diesem Zweck werde das „proletarische Problem“ mehr als „Arbeiterfrage“ aufgefaßt und der „problematische Komplex“ des proletarischen Schicksals werde zum Gegenstand von Maßnahmen gemacht, die die „Proletarität“ erträglicher machen sollten, die geeignet seien, die „proletarische Daseinslage“ annehmbarer zu gestalten. Mit anderen Worten und am Beispiel zukunftsträchtiger „frühsozialpolitischer“ Konzeptionen: Der Lohn soll weiterhin Existenzgrundlage des „proletarischen Daseins“ bleiben, er soll aber existenzsichernd hoch und während der vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit durch Lohnsurrogate (Kassenleistungen vor allem) ersetzt werden. Der Arbeiter soll weiterhin kündbar bleiben, es sollen aber Fristen vorgeschrieben bzw. eingehalten werden.399 Den frühsozialpolitischen Konzepten liegt eine auch für die spätere sozialpolitische Diskussion bedeutsame „Theorie“ einer sozialen Revolution zugrunde. Diese kennt objektive („daseinslagebezogene“) und subjektive („bewußtseinsbezogene“) Ursachen eines befürchteten „Umsturzes“ und bezieht auf beide ihre Maßnahmevorschläge. Die ursprüngliche sozialpolitische Diskussion dokumentiert ein bemerkenswertes Phänomen der „Verfrühung“. In einer Gesellschaft, die insgesamt noch ganz am Anfang ihrer Umbildung von einer Stände- zur Klassengesellschaft, von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft steht, werden vor dem Hintergrund europäischer Revolutionen und deutscher Unterschichtsunruhen und mit Blick vor allem auf Frankreich und England bzw. die französische und englische Zustände verarbeitende Literatur Verfahren entwickelt, die zu einer Zeit auf „Klassen-Entbildungsprozesse“ (J.Kocka) abzielen, zu der von einer bedeutenden selbstbewußten, solidarisch handelnden „Arbeiterklasse“ noch nicht die Rede sein kann. Die gedankliche Entwicklung der „Gegenmittel“ eilt den gerade erst in Gang kommenden Klassenbildungsprozessen zeitlich voraus, die praktische Umsetzung läßt allerdings auf sich warten. Die Ziele der sozialpolitischen Bewegung unterscheiden sich deutlich von denen der politischen und antifeudalen Bewegung. Letzterer geht es um die Verwirklichung „abstrakter“ Freiheits- und Gleichheitsideen, die mit gesellschaftsverändernder Intention gegen den „feudalen Staat des Mittelalters“, gegen das korporative Rechtsklassengefüge und Herrschaftssystem der „alten Zeit“ gerichtet werden. „Preßfreiheit“, Rechtsstaatlichkeit, persönliche Freiheit, Gleichheit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Justiz, aber auch der Ruf nach nationaler Einheit, kurz: Forderungen der politischen Bewegung sättigen keinen Notleidenden,400 die Forderung nach wirtschaftlicher Freiheit ist in bestimmten Situationen sogar geignet, die Not zu vertiefen. Demgegenüber sind die Forderungen der sozialpoliti-
399 Vgl.: Briefs, Goetz: Das gewerbliche Proletariat...a.a.O.(=Anm. 107), 224 ff. 400 Darauf weist der sehr lesenswerte Beitrag „Politik und Sozialismus“ des Arztes und kritischen Publizisten Otto Lüning hin; vgl.: Derselbe (Hg.): Dies Buch gehört dem Volke, 2 (1845), 1 - 31.
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schen Bewegung letztlich und typischerweise auf „Messer- und Gabelfragen“, aber auch auf Kontrolle und weltanschauliche Beeinflussung gerichtet. Die „utopischen Systeme“ des „Sozialismus und Communismus“, die bald auch in bestimmten Kreisen deutscher Staaten Resonanz finden und fortentwickelt werden, enthalten Zukunftsperspektiven und Versprechen eines Lebens in Freiheit, Fülle und Harmonie, vom Glück der Menschen, von einem „goldenen Zeitalter der Menschheit“. Diese Ziele und Versprechungen sind der schlechten Realität der „Umbruchs-“ und „Übergangsgesellschaften“ der damaligen Zeit entgegengesetzt.401 Auch der klassische ökonomische Liberalismus hat eine „Zukunftsvision“. Er führt den „...mehrteiligen Beweis, daß durch die freie Tätigkeit der Individuen - und nur durch sie - die ökonomische und soziale Harmonie gewährleistet sei...“402, daß „...bei höchstmöglicher Freiheit Wohlstand und Zufriedenheit für alle“ tatsächlich erreicht werden könne.403 Diese „Vision“ siedelt auch in den vereinfachten und vulgarisierten Doktrinen der bald entstehenden deutschen „Manchesterschule“. Das „Kommunistische Manifest“ von 1848 verspricht an Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen „...eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“404 Demgegenüber sind die Zielprojektionen der Sozialreformer „bescheidener“. Es fehlen typischerweise entfaltete und ausgeschmückte Zukunftsbilder und es fehlt auch das „Freiheits-“ und „Emanzipationspathos“. Das Ziel ist mitunter außerordentlich „negativ“ und „reaktiv“ formuliert: Abwehr der sozialen Revolution und zu diesem Zweck: Abbau „feindlicher Gesinnungen“, Erzeugung einer „Standschaftsehre“, Weckung „frommen christlichen Sinns“, Abbau von „Neid und Haß“. Diese „Zurückhaltung“ resultiert letztlich daraus, daß kein grundlegend neuer Zustand und kein neuer Typ der Evolution der menschlichen Geschichte angestrebt wird, und die vielkritisierte Wirklichkeit nicht an einem idealen Endzustand „gespiegelt“ wird. Die Zwecke bzw. Ziele der Sozialkonservativen, zu deren Erreichung die unterschiedlichsten Instrumente eingesetzt werden sollen, entsprechen weitgehend den Interventionszielen, die später von den Sozialpolitikern Ludwig Heyde, Ladislaus von Bortkiewicz, Richard van der Borght und anderen formuliert und zur Definitionsgrundlage von Sozialpolitik genommen werden.405 Letztlich erscheint bei den „Frühsozialpolitikern“ das Bild einer mehr oder weniger „versöhnten“, „harmonischen“ „Gemeinschaft“ der ökonomisch, sozial und politisch Ungleichen in einer Gesellschaft im Übergang und in der „Epoche der Europäischen Revolution“. Mehr oder weniger deutlich wird, daß die Konzeptionen der „Frühsozialpolitiker“ gegenüber den auflösenden und umwälzenden Tendenzen eine regelrechte „Kampffunktion“ haben. Die sozialreformerischen Maßnahmen werden als Hebel der Beeinflussung der Verhältnisse der „arbeitenden Klassen“ konzipiert, sie sind zunächst von umfassendem Zuschnitt. Erst viel später, nachdem sich fabrikmäßig-industrielle Lohnarbeit und Kapital als beherrschende Kräfte und Sozialerscheinungen konstituiert haben, werden vorrangig bestimmte Instrumente zur Beeinflussung dieses Klassengegensatzes erdacht und eingesetzt 401 Vgl. als Kurzfassung: Pfetsch, Frank R.: Politische Utopie, oder: Die Aktualität des Möglichkeitsdenkens. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52 - 53/90, 21. Dezember 1990, 3 - 13. 402 Heimann, Eduard: Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a.M. 1980, 21. 403 Ähnlich Horst Claus Recktenwald in seiner Würdigung des Werkes von: Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München 1978 (ursprüngl.1789), XVI. 404 Marx, Karl, Engels, Friedrich: Manifest...a.a.O.(=Anm. 47), 68. 405 Vgl. das Kapitel 1.1 dieser Arbeit.
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und erscheinen als „gegenemanzipatorische“ Bestrebungen zur Herstellung einer „Klassengesellschaft“ ohne oder mit geregeltem „Klassenantagonismus“. Darüber hinaus wird schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich, daß der (vorgeschlagenen) Sozialpolitik weitere Funktionen angesonnen werden. Vor allem die Schuldiskussion zeigt, daß die Sozialisation nicht nur eine sozialpazifizierende Funktion haben soll. Die Schule soll auch notwendige und andersweitig nicht sicher zu stellende Voraussetzungen für das wirtschaftliche Wachstum in Form von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten bereit stellen. Arbeiterschutzmaßnahmen sind schlicht auch Maßnahmen zur physischen Erhaltung der Arbeitskraft und zur Steigerung der Leistungsfähigkeit.406 Die Subjekte der Umsetzung der evolutionären und revolutionären Veränderungsideen und damit die Träger der Hoffnung werden insgesamt höchst unterschiedlich gedacht: Die freie Tätigkeit der Individuen selbst, die politisch werdende Massenarmut (das „Proletariat“ im vormarxistischen Sinne), eine dem Klassenkampf und Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft förderliche „Krisen- und Bewegungsmechanik“, ritterliches Führertum, die Aristokratie, die Schichten von „Besitz und Bildung“ als die „natürlichen Vormünder“, Experten, die Kirchen, sogar die schlichte Vorbildwirkung geglückter Sozialexperimente werden ins Gespräch gebracht. Bei den „Frühsozialpolitikern“ steht, wie diese Untersuchung gezeigt hat, der Staat als Umgestaltungsagentur weit im Vordergrund. Im klaren Bewußtsein von zumindest den elementaren Bedingungen gesellschaftlicher Stabilität und in der Absicht, die anhebende bürgerliche Gesellschaft nicht dem (vermeindlich) drohenden Untergang zu überlassen, wird der Staat als gesellschafts- und konfliktfrei funktionierende Apparatur von vielen (aber nicht allen) gedacht. Die Dynamik der Gesellschaft soll durch den Staat, durch die staatliche Verfügung über Individuen, Lebenslagen und Gesellschaftsklassen geformt und „gestaltet“ werden. Wie kein anderer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Lorenz von Stein die Voraussetzungen mitbedacht, die erfüllt sein müssen, um der „kranken Gesellschaft“ die „Arznei“ des Staates verordnen zu können.407 Gerade im monarchischen Prinzip, in der als mehr oder weniger souverän aufgefaßten Herrschaft des Königs glaubt er eine Macht gefunden zu haben, die sich an die Spitze der Sozialreform stellen könnte und deren Schicksal besiegelt sei, wenn sie diesen Schritt nicht tue. Die Orientierung auf den monarchischen Staat, geradezu konstitutives Merkmal des damaligen Sozialkonservatismus, beinhaltet bei Lorenz von Stein die mit Skepsis beschwerte Hoffnung, dieser sei eher als der dem Sonderinteresse verfallene reine Staat des Bürgertums in der Lage, eine Sozialreform durchzuführen.408 Vor diesem Hintergrund wird eine gewisse Unabhängigkeit des Staates vom (Sonder-) Interesse zu seiner Bestandsgarantie erklärt. Damit ist ein Zusammenhang von (historischer) Staatsgewalt und Gesellschaft skizziert und die „naive“ Betrachtung des Staates als „neutraler Gewalt“ ist überwunden. Mit der Wahl des (vordemokratischen) noch weitgehend vom Adel beherrschten Staates als Subjekt gesellschaftlicher Umgestaltung wird gleichzeitig eine bestimmte Methode des Eingriffs in die soziale Dynamik gewählt: Ein staatlich gesetztes, sanktionsbewehrtes 406 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zur „Konstitutionsfunktion“ von Sozialpolitik, die zur Funktion der Konfliktentschärfung, zur „Kompensationsfunktion“ staatlicher Sozialpolitik hinzutrete: Rödel, Ulrich, Guldimann, Tim: Sozialpolitik als soziale Kontrolle. In: Guldimann, Tim, Rodenstein, Marianne, Rödel, Ulrich, Stille, Frank (Hg.): Sozialpolitik als soziale Kontrolle. Frankfurt a.M. 1978, 11 - 55, hier: 17 - 22. 407 Vgl. beispielhaft die Analyse der von Stein'schen Schriften von 1839 bis 1850 bei: Hahn, Manfred: Bürgerlicher Optimismus...a.a.O.(=Anm. 396). 408 Vgl. denselben, ebenda, 104 f.
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(öffentliches) Recht, das, wie es später heißt, Sozial- und Arbeitsrecht, die Bürokratie als Träger des Rechtsvollzuges, das Geld als Eingriffsmedium, pädagogisch-weltanschauliche Beeinflussungen sind es vor allem, die die Köpfe „zurechtsetzen“ und die Befriedigung bestimmter bis dato unerfüllter Bedürfnisse des „Vierten Standes“ ermöglichen, die eine in „Unordnung“ geratene „Societät“ neu ordnen und damit das „System“ stabilisieren sollen. Staatliche Instrumentarien sollen auch in den Prozeß der „naturwüchsigen Regelung der Klassenbeziehungen“ in der Fabrik intervenieren. Der noch garnicht zum Ziel gekommene historische Prozeß der „Entpolitisierung der Ökonomie“, die weitgehende „Souveränität des Kapitals im Produktionsprozeß“ soll zurückgefahren werden auf ein Maß, das die Ruinierung der Arbeitskraft und die soziale Revolution ausschließt.409 Damit haben die „Klassiker“ und Pauperismusautoren einem säkularen, teilweise in der Tradition der „alten“, „vielregierenden“ Obrigkeitsstaaten stehenden Entwicklungspfad der Ausdehnung der Staatstätigkeit gedanklich vorgearbeitet.410 Rechtsnormen, Sanktionen, Institutionen und Verfahren sollen die Spannungszustände der „modernen Welt“ beherrschbar machen, solange diese einer solchen politischen, „von oben herab“ geführten Regelung noch zugänglich sind. Diesen Zusammenhang charakterisiert mit Blick auf die Arbeiterversicherung der bekannte Soziologe Ferdinand Tönnies folgendermaßen: „Gegen die Merkmale: Vertrag, Freiheit, Selbstinteresse wirken die Merkmale: Gesetz, Zwang, Gemeininteresse; gegen Privatrecht und Geschäft: öffentliches Recht und Verwaltung.“411 Der Staat, der sich nach der Ausschaltung der intermediären Gewalten und Korporationen, nach der Unterminierung vormoderner Hilfesysteme und Konfliktregelungen und der Egalisierung der „Unterthanen“ und ihrer Rechte als Adressat sozialpolitischer Forderungen geradezu „anbietet“, ist gleichzeitig der Träger eines scharfen Repressionskurses während der Zeit des Vormärz und während und nach der 1848/49er Revolution. Er, der Staat der „Karlsbader Beschlüsse“, der „Demagogenverfolgung“ und der „Reaktionszeit“, setzt in bedeutendem Umfang auf eine polizeiliche, militärische und strafrechtliche „Sozialkontrolle“. Als Repressions- und Überwachungsstaat drängt er auch einen Teil sozialreformerischer Gesellschaftskritik an den oder über den Rand der Legalität. Insgesamt hat diese Tatsache die Sozialreformer nicht daran gehindert vor allem im vordemokratischen Staat das rettende Prinzip und den Hoffnungsträger zu sehen. Die Verfasser mehr oder weniger repressiver sozialpolitischer Systeme werden hierin kaum ein Problem gesehen haben. Im Vormärz liegt nicht nur die Geburtsstunde der deutschen Sozialwissenschaft bzw. Soziologie als Gegenwarts- und Krisenwissenschaft ganz allgemein.412 Dort liegt auch der Ursprung dieser Sozialwissenschaft als „Partei-Wissenschaft“, als Wissenschaft, die für etwas und gegen etwas anderes eintritt. Insoweit ist die damalige Sozialwissenschaft eine solche gegen das revolutionäre Hinaus über das Bestehende, sie ist explizit „Stabilisierungswissenschaft“. Sie stellt sich auf die Seite der Herrschenden, mag ihre Kritik auch 409 Immer noch lesenswert in diesem Zusammenhang: Blanke, Bernhard, Jürgens, Ulrich, Kastendiek, Hans: Zur neueren Marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Funktion des bürgerlichen Staates. In: Probleme des Klassenkampfes, 3 (1974) 14/15, 51 - 102. 410 Vgl. zu dieser Tradition: Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 - 1800. München 1986; vgl. auch: Baum, Detlef: Bürokratie und Sozialpolitik. Zur Geschichte staatlicher Sozialpolitik im Spiegel der älteren deutschen Staatsverwaltungslehre. Berlin 1988. 411 Tönnies, Ferdinand: Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung. Jena 1926, 256. 412 Vgl. in diesem Zusammenhang: König, René: Soziologie in Deutschland. Begründer, Verächter, Verfechter. München und Wien 1987, insbesondere 23ff., 103 ff.
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noch so drastisch ausfallen. Teilweise wird sie von Vertretern der damaligen Herrschaftsapparatur verfaßt.413 Ihre Argumentation findet sich dementsprechend auch in den Akten, den Drucksachen, den Protokollen der damaligen Herrschaftsinstanzen. Gegenüber den Kräften, die auf Gewaltausübung zur Stabilisierung der Gesellschaft setzen, versteht sie sich teilweise ausdrücklich als Literatur, die zu „klügeren“ und langfristig erfolgreicheren Formen gesellschaftlicher Integration rät. Daß die eigene soziale Stellung das Ziel der Stabilisierung der Gesellschaft als einzig vernünftiges hat erscheinen lassen, darf wohl unterstellt werden. Insofern die „Frühsozialpolitiker“ durch eine „soziale Revolution“ nur zu verlieren gehabt hätten, drückt sich in ihren Schriften ein Eigeninteresse aus. Dieses ist ein ganz und gar irdisches und diesseitiges. Hierin liegt der große Unterschied zu den ebenfalls vom Eigeninteresse (am Seelenheil) motivierten Almosenlehren und -praxen des Mittelalters. Sozialwissenschaft in diesem Sinne ist also nicht nur Mittel der Selbstreflexion der Gesellschaft sondern vor allem ursprüngliche administrative Hilfswissenschaft, ähnlich wie dies zuvor die Staats- und Verwaltungslehren und die Kameralistik des „Ancien régime“ gewesen sind. Dennoch ist die ursprüngliche sozialpolitische Debatte nicht mit diesen Ansätzen gleichzusetzen, da sie sich inhaltlich unterscheidet und auf eine spezifische historische Situation bezogen ist.414 Sie bringt „...den latenten (und offenen, E.R.) revolutionären Gehalt dieser unheimlichen und zweideutigsten Epoche europäischen Geisteslebens zur Aussprache...“415 und klärt die Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen, kurz: die Handlungserfordernisse und die Handlungsspielräume staatlicher Gewalt zur Überwindung der Destabilisierung und Desintegration der Gesellschaft ab. Sie ist - Jahrzehnte vor der „Marxtöterei“416 - Wissenschaft gegen Theorien, die eine nichtbürgerliche Zukunft antizipieren und als Möglichkeit konstruieren.417 Die sozialpolitischen Konzepte der besprochenen Art entstehen vor und mit der Entwicklung von ersten Ansätzen zu einer Arbeiterbewegung, die sich im Schoß der sozialökonomischen Vielfalt des Pauperismus und der politischen Bestrebungen und „massenpsychologischen“ Dispositionen abgrenzen lassen. Am Anfang stehen vor allem Kassen, Gesellen-Verbindungen, Arbeitervereine, erste kollektive Aktionen von (mehr oder weniger) reinen Lohnarbeitern, nach Deutschland „ausstrahlende“ organisatorische Bemühungen wandernder Handwerksgesellen in der Schweiz, in Frankreich und England. Dazu zählen der 1832 in Paris gegründete „Deutsche Volksverein“, der auf das Jahr 1834 zu datierende „Bund der Geächteten“, die Abspaltung und 1836 erfolgende Gründung des „Bundes der Gerechten“ mit seinen deutschen Bundesgemeinden, der von 1847 bis 1852 bestehende „Bund der Kommunisten“, für den Marx und Engels das „Manifest der Kommunistischen Partei“ verfassen, die 1834 erfolgende Gründung des „Jungen Deutschland“ in der Schweiz. In Deutschland entsteht die „Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung“ des Jahres 1848. 413 Vgl.: Hahn, Manfred: Bürgerlicher Optimismus...a.a.O. (=Anm. 396), 119. 414 Gerade diese besondere Situation und das Besondere der in ihr entwickelten Gedankengänge müssen beachtet werden. Betrachtet man die Geschichte der Sozialpolitik zu sehr mit einer der Gegenwart entliehenen Begrifflichkeit und trägt man in sie zu stark den „zeitgenössischen Blick“ hinein, entsteht leicht der Eindruck des „Immergleichen“ und des „Immer-schon-Dagewesenen“ und die Brücken zur Vergangenheit reichen umstandslos bis in die klassische Antike; vgl. die trotz dieser Mängel lesenswerte Arbeit von: Pöhlmann, Robert von: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt. 2., vermehrte und verbesserte Auflage. 2 Bände. München 1912. 415 König, René: Soziologie...a.a.O.(=Anm. 412), 72. 416 Darunter sollen hier die später ununterbrochenen mehr oder weniger respektablen Vorstöße verstanden werden, die Karl Marx oder der seinen Ideen folgenden Bewegung „Denkfehler“ nachweisen wollen. 417 Vgl.: Hahn, Manfred: Bürgerlicher Optimismus...a.a.O. (=Anm. 396), 109.
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Die ebenfalls auf dieses Jahr fallenden Organisationsbestrebungen der Buchdrucker und Tabakarbeiter stehen am Anfang eines Verselbständigungs- und politisch-ideologischen „Abklärungsprozesses“ von Arbeitern und mit ihnen verbundenen Intellektuellen. Ein Prozeß, der mit den Mitteln der Repression nicht gebrochen werden kann und später zur Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, dem bevorzugten Objekt der staatlichen Sozialpolitik, überleitet.418 Das Spektrum der politischen Vorstellungen in den ursprünglichen Bünden und Vereinen ist beträchtlich; es umfaßt den revolutionären Standpunkt ebenso wie den sozialreformerischen. Wenn sozialreformerische Forderungen erhoben werden, wie dies insbesondere bei der „Arbeiterverbrüderung“ der Fall ist,419 erscheinen diese häufig wie eine Übernahme von sozialreformerischen Vorstellungen der sozialkonservativen „Frühsozialpolitiker“. Eine oberflächige Betrachtung könnte suggerieren, daß es schon damals vor allem Brücken von einem gemäßigten Teil der ursprünglichen Arbeiterbewegung zu den Sozialkonservativen gegeben habe und kaum Gräben.420 Wäre es so, dann käme dies einer „wissenschaftlichen Sensation“ gleich. In einem solchen Fall hätte die (sozialpolitisch orientierte) Arbeiterbewegung von vornherein ein politisches Projekt unterstützt, das der Intention und Ausgestaltung nach dazu bestimmt ist, sie zu bändigen, zu kontrollieren, einzubinden und von innen vor allem dadurch umzuwandeln, daß man plant und danach strebt, die Mitglieder dieser Bewegung in vielfach (sozial-)versicherten, hinreichend entlohnten, teilweise öffentlich regulierten, beinahe schon „kleinbeamtlichen Lebensformen“ mit zunächst noch gärtnerisch-kleinstagrarischem Einschlag zu „befrieden“. Ein Programm, das auf das „Geistesund Gemütsleben“ des Paupers berechnet ist, und dessen Verfechter aufgrund plausibler Annahmen und praktischer Erfahrungen mit dem „kleinen Mann“ auch mit einiger Berechtigung davon ausgehen können, daß „befriedende“ Wirkungen bei einer Umsetzung der meisten Konzeptionen auch eintreten würden. Eine derartige Sichtweise greift zu kurz. Sicher gibt es trotz aller Verselbständigungstendenzen Berührungspunkte zwischen den Kräften aus den „gehobenen sozialen Schichten“, die einen sozialreformerischen Weg auf der Grundlage und dem Boden der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung anstreben und für möglich erachten und der sozialpolitisch orientierten frühen und späteren Arbeiterbewegung. Diese Berührungspunkte lassen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit aufscheinen, daß die Arbeiterbewegung zumindest in Teilen auf der Basis der sozialpolitischen Reform und der Mitarbeit an der „Arbeiterfrage“ zu befrieden sein wird. Von einer solchen Perspektive kann damals allerdings nur ausgegangen werden, wenn und soweit man auf der Seite der Arbeiterbewegung die vielberedeten Zweiklassen-, Krisen- und Verelendungsthesen nicht zu „ernst“ nimmt, sie zumindest für abmilderbar hält und einen wirtschaflichen Wachstumsprozeß unterlegt und so oder auf andere Weise eine Möglichkeit der Lösung des „proletarischen Problems“ sieht. Von Anfang an aber muß beachtet werden, daß sich mit der frühen Arbeiterbewegung ein ausgeprägter Emanzipationswille verbindet, der dem „Geist“ der „conservativen Re418 Vgl. zu den gegenwartspolitischen und ideologischen Implikationen der Datierung des Beginns der Arbeiterbewegung: Knatz, Lothar: Utopie und Wissenschaft im frühen deutschen Sozialismus. Frankfurt a.M., Bern, New York, Nancy 1984, 55 ff. 419 Vgl. zur Arbeiterverbrüderung: Balser, Frolinde: Sozial-Demokratie 1848/49 - 1863. Zwei Bände. 2. Auflage. Stuttgart 1965. 420 „Unbewußte Brücken“ von der Arbeiterbewegung zum Konservatismus vermutet im Kontext der „Bismarckschen Arbeiterversicherungsgesetzgebung“: Ribhegge, Wilhelm: Konservative Politik in Deutschland. Von der Französischen Revolution zur Gegenwart. Darmstadt 1989, 120.
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Die sozialpolitische Diskussion vom Beginn bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts
formthätigkeit“ widerspricht. Konzepte, wie etwa die Organisation des „Proletariats“ unter Leitung von Bürgertum und Adel in Assoziationen oder die Unterstellung der Arbeiter unter die Aufsicht der Polizei, die Gewährung einer minimalen politischen Mitsprache unter dem Protektorat des Priestertums, stehen von vornherein in einem starken bis extremen Spannungsverhältnis zu den Absonderungs-, Solidarisierungs- und Emanzipationsbestrebungen schon der ersten, erst recht aber der späteren Arbeiterbewegung. Von hier ergibt sich ein logischer Zusammenhang: Je stärker sich die zuletzt genannten Bestrebungen ausprägen, desto deutlicher müssen sie in Widerspruch zu der Intention und der Ausgestaltung der „conservativen Reformthätigkeit“ geraten. Tatsächlich ergibt sich von Beginn an eine Erscheinung, auf die man eine vereinfachende und auf spätere Gesellschaftsverhältnisse gemünzte Formel anwenden kann: Bedingt durch eine höchst verschiedene Interessenbasis der zur Sozialreform drängenden Kräfte lassen sich schon bald zwei „Klassenlinien“ in der Sozialpolitik ausmachen.421 Während die einen den bekannten Integrations-, Pazifizierungs- und Revolutionsverhinderungszielen folgen, wollen die anderen ihren Emanzipations-, Absonderungs-, Selbsthilfe-, Machtgewinnungs- und Solidaritätsbildungszielen auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik Geltung verschaffen. Streckenweise geht es der Arbeiterbewegung angesichts einer auch in den „liberalen“ Phasen der deutschen Innenpolitik stark repressiven Staatstätigkeit schlicht um die bloße Behauptung einer autonomen, selbstorganisierten Arbeitersozialpolitik gegenüber dem „Staatsbedürfnis“ nach Kontrolle und Überwachung, nach „Durchstaatlichung“ gerade der Bereiche in der Gesellschaft, von denen man eine Destabilisierung erwartet. Im Kaiserreich trägt ein solches „Staatsbedürfnis“ schließlich zu einem vielschichtigen Konzept bei, zu dem die Idee der Bekämpfung des „radicalen socialdemokratischen Socialismus“ durch einen - wie es unter Mißbrauch eines Zentral- und Hoffnungsbegriffs aus der Arbeiterbewegung heißt - „...ganz entschiedenen, bewußten conservativen Socialismus...“422 gehört. Diese Zusammenhänge sollen am Beispiel der Vorgeschichte, der Verabschiedung und der „Frühgeschichte“ der Arbeiterversicherungsgesetzgebung konkretisiert werden.
421 Vgl.: Jung, Heinz: Der Klassenkampf als Triebkraft der Sozialpolitik. In: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik, 1985, 276 - 305, hier: 282. 422 So die Umschreibung sozialpolitischer Ideen und Strategien durch den konservativen Politiker und Sozialwissenschaftler Rudolf Meyer; zitiert nach: Puhle, Hans-Jürgen: Von der Romantik zum konservativen Konstitutionalismus. In: Fetscher, Iring, Münkler, Herfried (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Band 4. München 1986, 268 - 276, hier: 276.
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Vom Wesen und Ursprung des Versicherungs- und Kassenwesens
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4 Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
„Die Arbeiter, die ihre Zukunft mehr gesichert sähen, würden nicht mehr in gleichem Maaße wie bisher, den Einflüsterungen und Aufhetzungen von Menschen zugänglich sein, die ihnen selbst nichts zu bieten vermögen, und sie nur für ihre ehrgeizigen und eigennützigen Pläne mißbrauchen möchten. Die Arbeiter würden in der Kasse ein Gemeingut erkennen und schätzen, was in dem Maaße, wie es sich vergrößert und kräftiger wird, ihr Selbstgefühl heben, und ihr Zutrauen auf die Zukunft befestigen müßte.“1 „Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Ueberzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde... Wir (würden) mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge ... zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen.“2
4.1 Vom Wesen und Ursprung des Versicherungs- und Kassenwesens Die Vor- und Frühgeschichte der heutigen Sozialversicherung ist Teil eines miteinander verschlungenen, säkularen Prozesses der Entstehung von Versicherungsbedarfen und der Ausdehnung des Versicherungswesens auf zahlreichen Gebieten. Die im vorigen Kapitel enthaltenen Hinweise auf das Kassenwesen der Zünfte und Gesellen, auf die Kassen für Eisenbahnarbeiter und die Knappschaften sind zu ergänzen, um einer sachlich und zeitlich verkürzten Sichtweise vorzubeugen. Schließlich ist das Wesen der Versicherung selbst einer analytischen Betrachtung zu unterwerfen. Dies empfiehlt sich um so mehr, als das „Versicherungsprinzip“ und die Errichtung entsprechender Anstalten schon in „alter Zeit“, vor allem aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist und schließlich zu einer überragenden Antwort auf das Jahrhundertthema der „sozialen Frage“ wird. In der heutigen Zeit schließlich ist die Versicherung für die Gestalt der (Massen-)Gesellschaft in weiten Bereichen geradezu konstitutiv, und die Sozialpolitik ist derart vom versicherungsförmig gestalteten „System der sozialen Sicherung“ bestimmt, daß beide nicht selten in eins gesetzt werden. Der Prozeß der Entwicklung des Versicherungswesens kennt verschiedene Formen und unterscheidbare Stadien. Am Beginn der uns interessierenden Zeit besteht zur Bewältigung von Gefahren, die Einzelne, Familien, aber auch andere Wirtschafts- und Lebenseinheiten treffen können, teilweise schon seit Jahrhunderten das ursprüngliche „Assecuranz-“ 1 Hüffer, A.W.: Vorschläge zur Bekämpfung des bei den arbeitenden Klassen immer mehr einreißenden Pauperismus, und des daraus hervorgehenden Proletariats. In: Sammlung sämmtlicher Drucksachen der Ersten Kammer. Band I. Nr. 1 bis 124. Berlin 1849, Anlage zur Drucksache No. 78, 10. 2 Auszug aus der sogenannten Kaiserlichen Botschaft; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. V. Legislaturperiode, I. Session 1881/82. Berlin 1882, 2.
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Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
bzw. Kassen- und Versicherungswesen und die rationale, moderne Versicherung als privatrechtliche aber auch öffentlich-rechtliche Lebens- und Sachversicherung. Am Ende des hier betrachteten Zeitraumes entsteht als neuartiger (gleichwohl Vorformen „verarbeitender“) Typ die Sozialversicherung. Die damit angedeutete Abfolge von „institutionellen Praktiken“ ist nicht so zu verstehen, daß mit dem Neuen das Alte restlos vergeht. Neben der modernen, rationalen Versicherung und der Sozialversicherung bestehen Jahrzehnte die „vormodernen“ Formen des ursprünglichen Kassen- und Versicherungswesens fort. Das Wesen der verschiedenen Formen der Versicherung tritt deutlich hervor, wenn man vom Idealbild der rationalen, modernen Versicherung ausgeht und die übrigen Formen als Abweichungen studiert. Alle Formen der Versicherung haben aber auch gemeinsame Grundlagen. Die Gefahren, die sie versichern, werden aus der Sphäre des Schicksals, der göttlichen Fügung, der „Selbstverständlichkeit“ und der individuellen Schuld und Vorsorge herausgelöst. Es herrscht eine nicht-fatale Einstellung gegenüber der Zukunft vor und es hat sich die Überzeugung verbreitet, daß es wirksame Gestaltungsmöglichkeiten, daß es „Maasreguln wider die Unglücksfälle“ gibt.3 Die Gefahren, die einer Sache bzw. einer Person bzw. einer Personenvielzahl drohen, werden im Rahmen der modernen Versicherung als Risiken betrachtet4, d.h. individuell unwägbare Gefahren werden eingegrenzt, benannt und definiert, berechenbar gemacht, bewertet, von einem „Assecuradeur“ gegen einen Preis übernommen, und im Falle des Risikoeintritts werden den Schaden materiell kompensierende Leistungen fällig. Typischerweise handelt es sich dabei um Geldleistungen, insofern setzt die Versicherung eine mehr oder weniger entwickelte Geldwirtschaft voraus. Ein derartiges Vorgehen, eine solche Strategie der Risikobewältigung läßt sich in rational-kalkulierenden Form erst denken, seitdem gewisse, insbesondere auch mathematische Erkenntnisfortschritte auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik aber auch der kaufmännischen Kalkulation erzielt wurden. In ihrer rationalen Form ist die Versicherung ein „Konzentrat an Modernität.“5 Sie beruht ganz allgemein auf der Beobachtung, daß mit der Erfassung einer genügend großen Zahl von Einzelfällen nach bestimmten Merkmalen „...die Gesamtzahl der zufällig auftretenden schadensstiftenden Ereignisse einer bestimmten Art und der damit verbundene finanzielle Aufwand meßbar und so auch kalkulierbar und planbar“ wird.6 Im Rechtssinne ist die Versicherung eine „Gemeinschaft“ gleichartig Gefährdeter „...mit selbständigen Rechtsansprüchen auf wechselseitige Bedarfsdeckung.“7 Damit unterscheidet sich die Versicherung von anderen Bedarfsdeckungssystemen, zu denen auf dem Gebiet der Sozialpolitik Fürsorge- und Versorgungssysteme gezählt werden. Jede Versicherung ist entgeltlich, jeder Teilnehmer hat einen Einsatz, einen Beitrag, eine Prämie zu zahlen. Die Beiträge werden einem Sicherungsfonds zugeführt, aus dem 3 So: Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten oder ausführliche Vorstellung der gesamten Polizeiwissenschaft. In 2 Bänden. Königsberg und Leipzig 1760, 763. 4 Zum Konzept des Risikos vgl.: Mahr, Werner: Einführung in die Versicherungswirtschaft. Allgemeine Versicherungslehre. Dritte Auflage. Berlin 1970 (Nachdruck von 1951), 21; vgl. auch: Ehrenberg, Victor: Versicherungsrecht. Erster Band. Leipzig 1893, 3 ff. 5 So zutreffend: Borscheid, Peter: Die Entstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert. Zum Durchsetzungsprozeß einer Basisinnovation. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 70(1983)3, 305 - 330, hier: 309. 6 Stichwort: Versicherung. In: Ökonomisches Lexikon. O - Z. 3., neu bearbeitete Auflage. Berlin 1980, 467. 7 Stichwort: Versicherung. In: Sellien, R., Sellien, H. (Hg.): Dr. Gablers Wirtschaftslexikon. Wiesbaden 1971, Sp. 1883.
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Vom Wesen und Ursprung des Versicherungs- und Kassenwesens
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beim Vorliegen des Versicherungsfalls, bei Eintritt des Risikos, ein „Verlustausgleich“ gewährt wird. So ermöglicht die Versicherung als Technik des Schadensausgleichs die wirtschaftliche Stabilisierung und den Schutz vor finanzieller Überforderung der jeweils betroffenen Sozial- und Wirtschaftseinheiten. Damit ist die Versicherung „...eine geistige Schöpfung, die verschiedenartige, insbesondere wirtschaftliche, mathematische und rechtliche Elemente miteinander verbindet.“8 In dieser so eminent von dem Geist der „Rechenhaftigkeit“ (M. Weber) geprägten Gestalt ist die rationale, moderne Versicherung in Deutschland ein Kind des beginnenden 19. Jahrhunderts. Als Sach- oder und in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse: als Personen- bzw. Lebensversicherung entsteht sie unter dem Eindruck ausländischer, vor allem englischer Vorbilder.9 Als Lebensversicherung dient sie der „Sicherstellung“ des Alters oder der Hinterbliebenen, d.h. auch diese moderne Form der Versicherung dient als Schutz gegen die Verarmung. Entsprechende Pionieranstalten dieser Branche gründen sich in Gotha (1829), Leipzig (1830), Hannover (1831), Braunschweig (1842), Lübeck (1828), Berlin (1836), München (1836) und Frankfurt a.M. (1844).10 Noch Jahre auf der Grundlage von lange unzureichenden Statistiken (insbesondere Sterblichkeitstafeln und Absterbeordnungen) um ihre rationale Ausgestaltung kämpfend, sind sie auch in Deutschland nicht ohne Vorläufer11 und werben als „neue“ Branche der „neuen Zeit“ im Umkreis und in teilweiser Konkurrenz mit ähnlichen, teils sehr traditionsreichen „Instituten“ um Kunden. Insgesamt versichern die erwähnten Pionieranstalten im Jahre 1845 das Leben von ungefähr 26.000 Personen.12 In ihrem achten Rechenschaftsbericht für 1836 verkündet die ausdrücklich nach dem Vorbild der englischen Equitable society in London gegründete „Lebensversicherungsbank für Deutschland“ in Gotha stolz die Solidität ihrer statistischen Berechnungen und die Tatsache, daß allein bei diesem Institut 7.333 Personen versichert sind; 1847 sind es schon 14.485.13 Die „Preußische Renten-Versicherungs-Anstalt“,14 die den Wunsch eines „...Uebergang(s) in einen Zustand sorgenfreier Ruhe und der Unabhängigkeit von fremder Hülfe...“ im Alter erfüllen helfen will, wendet sich an „alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft“ und gibt sich optimistisch „...mancherlei Zustände und Verhältnisse des Lebens zu verbessern...“15 Neben diesen Pionieranstalten einer sich nicht ohne „Skandale“ und Übervorteilungen des Publikums insbesondere ab den 1850er Jahren rasch entwickelden Branche,16 sind ausländische, insbesondere englische Anstalten in Deutschland tätig.17 8 Farny, Dieter: Versicherung. In: Grochla, Erwin, Wittmann, Waldemar (Hg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft. 4., völlig neu gestaltete Auflage. Stuttgart 1976, Sp. 4214 - 4226, hier: Sp. 4214. 9 Im Jahre 1706 wird von einem englischen Bischof die Amicable society gegründet; viel bekannter ist die 1762 in London gegründete Equitable Society; vgl.: Lebensversicherung. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon. Zehnte, verbesserte und vermehrte Auflage. In funfzehn Bänden. Neunter Band. Leipzig 1853, 447 - 450, hier: 449. 10 Vgl. ebenda, 450. 11 So erwähnt Borscheid u.a. die „Hamburgische allgemeine Versorgungsanstalt“ von 1765, das „Braunschweigische Allgemeine Prediger-, Schullehrer-, Wittweninstitut von 1806“ und die Hamburger „Lebensversicherungs-Societät“ aus dem gleichen Jahr; vgl.: Borscheid, Peter: Die Entstehung...a.a.O. (=Anm. 5), 313. 12 Vgl.: Lebensversicherung...a.a.O.(=Anm. 9), 450. 13 Vgl.: Achter Rechenschaftsbericht der Lebensversicherungsbank für Deutschland. Für das Jahr 1836. Gotha o.J., erhalten in: Staatsarchiv Münster (STAMS), Oberpräsidium, Akte 3803, Bl. 4 ff. 14 Vgl. ebenda, 40 ff. 15 Vgl. ebenda, 40. 16 Vgl. die Statistiken bei: Borscheid, Peter: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 5), 320 f. 17 Vgl. denselben, ebenda, 314; zur Konzessionierung der „Lebens- und Rentenversicherungs-Gesellschaft Royale Belge“ mit Sitz in Brüssel vgl.: STAMS Oberpräsidium, Akte 3803, Bl. 509 ff.
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Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
Das Bemühen der preußischen Anstalt um „alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft“ darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die auf „Actien“ oder auf „Gegenseitigkeit“ beruhenden Lebensversicherungen von ihrem Publikum her „Klassencharakter“ tragen. Sie „assecuriren“ das „grösste irdische Gut des Menschen ... sein Leben“ nicht in allen sozialen Klassen, Schichten und Gruppen in gleichem Maße: Staatsbeamte, Ärzte, Geistliche, Rechtsanwälte, Notare, Professoren, Lehrer, Kaufleute, „Geistesarbeiter“ also, stellen die überwiegende Mehrheit der Klienten.18 Die Vermögens- und Lebensgefahren derer, vor denen sich eine große Zahl der Klienten der rationalen, modernen Lebensversicherungen noch ein ganzes Jahrhundert fürchten soll, die Risiken der Lohnarbeiter, werden über diesen Weg nur in sehr geringem Umfang „abgesichert“. Bevor die Sozialversicherung als öffentlich-rechtlich ausgestaltete, mit der Versicherungspflicht arbeitende, Millionen Mitglieder zählende, nur modifiziert nach dem Äquivalenzprinzip operierende, aus Beiträgen der Versicherten, der Arbeitgeber und aus Staatszuschüssen finanzierte, körperschaftlich ausgestaltete Einrichtung ins Leben tritt,19 sind Lohnarbeiter im Falle des Verlustes der Fähigkeit zur Erzielung von Arbeitseinkommen vom Bestand und von der Leistungskraft bestimmter „Zweige“ des ursprünglichen Kassen- und Versicherungswesens abhängig. Zunächst sei ein Blick auf die Kassen im „Umfeld“ der Arbeiterkassen gestattet. Dieses Kassenwesen, das sich schon in der klassischen Antike nachweisen läßt,20 entbehrt in „alter Zeit“ zwangsläufig der rationalen Grundlagen. Die Voraussetzungen zur Schaffung dieser Fundamente werden auf mathematischem Gebiet erst durch die Arbeiten von Pierre de Fermat (1601-1665) und Blaise Pascal (1623-1662) entwickelt und erst später, inzwischen durch weitere Theoretiker vertieft, im Zuge der Projektemacherei und der Verbesserungsideen der Aufkärung und der staatsbezogenen Strategien des Kameralismus bzw. Merkantilismus auf die Versicherung angewendet. Das alte Kassenwesen ist sehr vielgestaltig und sowohl auf die Erhaltung bzw. den Ersatz von Vermögenswerten als auch auf die Sicherung des Lebensunterhalts und der medizinischen Hilfe bei Verlust der Erwerbsfähigkeit ausgerichtet. Verglichen mit der rationalen, modernen Lebensversicherung weist es während des 19. Jahrhunderts einen teilweise erheblichen „Modernitätsrückstand“ auf. Der Vermögensversicherung dienen die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts in Deutschland aufblühenden „Brandcassen“, die „Feuersocietäten“ bzw. „Feuerassecuranzen“, wie man sie auch bezeichnet.21 Mit ihren umfangreichen Vorschriften zur Brandverhütung betonen diese Kassen in „extremer“ Weise das Prinzip der (Schadens-) Prävention. Sie werden teilweise schon bald durch landesherrliche Gesetzgebung aus der lokal-kleinräumigen Begrenzung und aus „unzweckmäßigen“ Formen gelöst. Die Verhinderung der Verarmung der Brandopfer durch „Feuersocietäten“ wird mit Blick auf die ab18 Vgl.: Borscheid, Peter: Die Entstehung...a.a.O. (=Anm. 5), 319. 19 So die Wesensbestandteile der Sozialversicherung bei: Farny, Dieter: Versicherung. In: Grochla, Erwin, Wittmann, Waldemar (Hg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft...a.a.O.(=Anm. 8), Sp. 4214. 20 Vgl. die Hinweise bei: Peters, Horst: Die Geschichte der sozialen Versicherung. 3. Auflage. Sankt Augustin 1978, 16f. mit Hinweis auf die „Collegia funeratica“ (Sterbekassenvereine) und „Collegia tenuarum“ (Krankenkassenvereine); diese und weitere Formen ursprünglicher Versicherungen bzw. Kassen finden sich besprochen bei: Pfeffer, Maria Elisabeth: Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und römischen Antike unter besonderer Berücksichtigung der Sicherung bei Krankheit. Berlin 1969. 21 Vgl. dazu den lesenswerten Beitrag von: Borscheid, Peter: Feuerversicherung und Kameralismus. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 30(1985), 96 - 117; Materialien und Reglements die Brandversicherung betreffend finden sich z.B. in: STAMS, Oberpräsidium, Akte Nr. 120.
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Vom Wesen und Ursprung des Versicherungs- und Kassenwesens
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trägliche Wirkung armer „Privatpersohnen“ auf das „Staatswohl“ diskutiert. Darüber hinaus gilt die Brandversicherung in großen öffentlich-rechtlichen Anstalten, verbunden mit einem Versicherungszwang, als geschickter Weg staatliche Finanzbedarfe zu decken.22 Dem Schutz vor Verarmung dienen weitere Sachversicherungen, die allesamt weit in die Geschichte der „alten Zeit“ zurückreichen: die Seetransportversicherung, die Stromversicherung, die „Hagelschlagversicherung“, die „Viehassecuranz“ und andere Ausprägungen und Institutionalisierungen des ursprünglichen Versicherungsgedankens als „...eine der schönsten und nützlichsten Früchte der Gesittigung.“23 Zu den sozialen Schichten und Gruppen, die schon in „alter Zeit“ weder auf korporative Bindungen und Hilfeformen, noch auf agrarisch-subsistenzwirtschaftliche Produktion und „hauswirtschaftlichen Schutz“ bauen können,24 zählen zahlreiche Personen, die in zunehmender Zahl im „weltlichen und geistlichen Herrendienst“ tätig sind.25 Nur noch zum Teil verfügen diese über ausreichende Geld- oder Sachvermögen oder über Einkünfte und Dienste, die ihnen auf Grund von Vorrechten zu gewähren sind.26 Auch für diese Menschen, die später einen Teil der Klienten der modernen, rationalen Lebensversicherung bilden, gibt es ein ursprüngliches, umfangreiches Kassenwesen, das teilweise aus beitragsfinanzierten Zwangsversicherungsanstalten besteht.27 Losgelöst von den natürlichen Ernährungsgrundlagen, an ein Geldlohnverhältnis gebunden und den Wechselfällen der kirchlichen oder landesherrlichen Verwaltung unterworfen, sind sie zu häufig lebenslanger Dienstleistung gezwungen. Eine heutigen Zuständen vergleichbare Lebensphase „versorgten Alters“ ist unbekannt. In dieser Situation wird die materielle Sicherstellung ihrer Witwen und Waisen zu einem existenziellen Problem. Als Folge dieser ungesicherten Existenzform und zur Erhaltung der Loyalität der „Bedienten“ entstehen vor allem auch auf Betreiben der Landesherren spätestens mit dem 16. Jahrhundert spezielle Kassen, die unter unterschiedlichen Bezeichnungen etwa als „Witt22 Vgl. dazu: Ehrenberg, Richard: Studien zur Entwicklungsgeschichte der Versicherung. In: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, 2(1901/02), 35 - 41, hier: 35; wesentlich auf die Feuerversicherung bezieht sich auch: Knoll, Hans: Aus der Entwicklungsgeschichte des Versicherungswesens von den Anfängen bis zur Gegenwart. Köln 1934. 23 So die Einschätzung von: Mohl, Robert von: Brandversicherung. In: Rotteck, Carl von, Welcker, Carl (Hg.): StaatsLexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften...Zweiter Band. Altona 1835, 704 - 710, hier: 704; entsprechend der Bedeutung des Versicherungswesens bereits in dieser frühen Zeit, existiert schon vor und erst recht nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine recht ansehnliche „versicherungswissenschaftliche“ Literatur; vgl. dazu: Große, Walter: Die Physiokraten und ihre Stellung zum Versicherungswesen. In: Das Versicherungsarchiv, 1(1930)2, 43 - 68; derselbe: Die Würdigung des Versicherungswesens durch Smith und seine Schule. In: Das Versicherungsarchiv, 1(1930)4, 12 - 41; von Interesse auch: Derselbe: Daniel Defoe und das Versicherungswesen. In: Das Versicherungsarchiv, 1(1931)11, 7 - 18. Ausdrücklich empfohlen wird ein Ausbau des Versicherungswesens schon Ende des 17. Jahrhunderts von Leibniz; vgl.: Klopp, Onno (Hg.): Die Werke von Leibniz gemäß seinem handschriftlichen Nachlasse in der Königlichen Bibliothek zu Hannover. Erste Reihe. Sechster Band. Hannover 1872, 231 - 242; vgl. auch die versicherungstheoretischen Überlegungen bei: Sonnenfels, (Joseph von): Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz. Fünfte, vermehrte und verbesserte Auflage. Wien 1787, 307 - 411; vgl. als zusammenfassende Darstellung: SchmittLermann, Hans: Der Versicherungsgedanke im deutschen Geistesleben des Barock und der Aufklärung. München 1954, sowie: Perdikas, Panayotis: Die Entstehung der Versicherung im Mittelalter. Karlsruhe, Berlin 1966. 24 Vgl. in diesem Zusammenhang und auf die ursprüngliche Alterssicherung bezogen: Göckenjahn, Gerd (Hg.): Recht auf ein gesichertes Alter? Studien zur Geschichte der Alterssicherung in der Frühzeit der Sozialpolitik. Augsburg 1990. 25 So die Ausdrucksweise bei: Wunder, Bernd: Pfarrwitwenkassen und Beamtenwitwen-Anstalten vom 16. - 19. Jahrhundert. Die Entstehung der staatlichen Hinterbliebenenversorgung in Deutschland. In: Zeitschrift für historische Forschung, 12(1985), 429 - 489, hier: 429. 26 Man denke etwa an die ökonomische Position des (nicht verarmten) Adels. 27 Vgl.: Ponfick, Friedrich Wilhelm: Geschichte der Sozialversicherung im Zeitalter der Aufklärung. Dresden 1940 (Diss. jur. Leipzig), 66.
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Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
wenkasse“, „Pfarrwittwenfiskus“, „Wittwenbeneficium“, „Priester-Wittwen- und WaysenCasse“, als „Militär-Wittwencasse“28 über die Jahrhunderte nachweisbar sind und auch im 19. Jahrhundert in reichhaltiger und vielgestaltiger Form bestehen.29 Zur Vielgestaltigkeit gehört, daß sich bei der Leistungsgestaltung Fürsorge-, Versorgungs- und Versicherungselemente mischen und die Kassen meist nicht ausschließlich aus Beiträgen gefüllt werden. Laufende fiskalische Zuwendungen, einmalige Widmungen von bedeutenden Vermögenswerten sind gebräuchlich und der Übergang zu „Fonds-“ und „Stiftungslösungen“ ist fließend. Darüber hinaus läßt sich für Militärpersonen und ansatzweise auch für andere Personenkategorien die Zahlung von Invalidenunterstützung nachweisen.30 Zu erwähnen ist die Möglichkeit auf der Basis frühzeitig eingezahlter Geldsummen Renten für Hinterbliebene zu erwerben. In beträchtlicher Zahl bestehen in „alter Zeit“ sowohl für den wirtschaftlich-kaufmännischen Bereich, als auch für die Personen im „weltlichen und geistlichen Herrendienst“ Kassen, die auf weitere „Risiken“ der arbeitenden und vorwiegend von eigener Arbeit abhängigen Menschen bezogen sind: Heirats-, Aussteuer-, Krankenunterstützungsund Sterbekassen sollen ruinöse Anforderungen an das (Haushalts-)Budget auffangen und eine „standesgemäße“ Bewältigung bestimmter Lebensphasen sicherstellen. Obwohl sich in Deutschland seit 1700 der Einfluß der Statistik und der Wahrscheinlichkeitsrechnung im ursprünglichen Kassenwesen bemerkbar macht und eine ganze Reihe von Hilfsbüchern erscheint, ist die Solidität des ursprünglichen Kassen- und Versicherungswesens ein großes Problem. Das trifft meist nicht so sehr die größeren Gründungen, die auf fiskalische Zuschüsse, Stiftungsgelder usw. rechnen können und der öffentlichen Überwachung unterliegen. Insbesondere auf dem Gebiet der Sterbekassen reißen schon früh Übervorteilungen, Betrügereien und schwindelhafte Gründungen ein.31 Auch auf dem Gebiet der Witwenkassen bleiben dem Publikum schmerzhafte Erfahrungen nicht erspart. Viele vor allem der älteren Kassen scheitern zudem an dem „Eigensinne und der Unkenntnis ihrer Unternehmer.“32 Trotzdem ist, bevor der Staat überhaupt eine auf den „freien Arbeiter“ bezogene Kassen- oder Arbeiterversicherungspolitik betreibt bzw. aufgrund des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes betreiben kann, ein „System sozialer Sicherung“ existent und teilweise schon „festgegründet in Theorie und Praxis.“33 Auf allen angesprochenen Gebieten des Kassen- bzw. Versicherungswesens setzt sich eine traditionsreiche spezifische „Versicherungspolitik“ durch die Geschichte hindurch fort. Die Arbeitersozialpolitik in Gestalt der preußischen Kassenpolitik, auf die wir uns im folgenden zunächst beschränken, ist nun 28 So einige Bezeichnungen aus: Wunder, Bernd: Pfarrwitwenkassen...a.a.O.(=Anm. 25); vgl. insgesamt auch die Stichworte Wittwen-Casse, Wittwen-Kasten...In: Lexikon aller Wissenschaften und Künste...Sieben und Funfzigster Band. Leipzig und Halle 1748, Sp. 1957 ff. 29 Vgl. etwa das Kapitel „Wittwen- und Waisencassen“ bei: Lisko, Friedrich Gustav: Das wohlthätige Berlin. Berlin 1846, 163 ff.; vgl. auch: Gebhard, D. A.: Ueber Wittwen- und Waisen-Pensions-Anstalten nebst Bemerkungen über Lebens-Versicherungs-Anstalten. München 1844. 30 Vgl. etwa den „Provinzial Invalidenfonds“ bzw. „Landsbergschen Invaliden-Fonds“ zu Münster; STAMS. Regierung Münster. Akte Nr. 1659; vgl. zu den frühen Formen der Unterstützung von „Zivil-“ und „Militäroffizianten“ auch die folgenden Aktenbestände vom Beginn des 19. Jahrhunderts: Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HSTADdf.), Regierung Kleve, Akten Nr. 116, 390, 391, 392, 394, 395, 396, 399 ff. 31 Vgl. dazu: Vesper, Ernst: Die Sterbekassen in alter und neuer Zeit. Berlin 1966, bes. 24 ff. 32 Stichwort: Witwenkassen. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. ConversationsLexikon. Neunte Originalauflage. In funfzehn Bänden. Funfzehnter Band. Leipzig 1848, 364 - 365, hier: 365. 33 So mit Bezug auf die Feuerversicherung: Borscheid, Peter: Feuerversicherung ...a.a.O.(=Anm. 21), 117.
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Preußische Kassenpolitik, Arbeiterbewegung und Kassenwesen
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allerdings keineswegs bestrebt, in einer Zeit, in der die Differenz zwischen „Hütte und Palast“ revolutionär zu werden droht, nach den fortgeschrittensten Methoden „sozialer Sicherung“ einer Gesellschaft zu greifen, in der man bereits „alles zu assekuriren versteht“ (F. Bülau).
4.2 Preußische Kassenpolitik, Arbeiterbewegung und Kassenwesen Die unterschiedliche Gebietsbestände einbeziehende preußische Kassenpolitik, ein Ausgangspunkt hin zur Entstehung der Arbeiterversicherung unter Reichskanzler Otto von Bismarck, richtet sich auf das zu Beginn des 19. Jahrhunderts unzulänglichste Teilgebiet des ursprünglichen Kassenwesens: auf das durch die Einführung der Gewerbefreiheit arg geschundene Hilfesystem des alten Handwerks und Gewerbes.34 Obwohl die Geschichte der Sozialpolitik bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts reich an Vorstößen ist, Anschluß an ein großräumiges, rational-modernes Versicherungswesen mit einem ausreichenden Leistungsspektrum zu gewinnen, folgt die Kassenpolitik dieser Linie keineswegs. Vielmehr setzen sich auch in dem „Zeitalter der europäischen Revolution“ kassenpolitische Tendenzen fort, die bereits für die Handwerkerpolitik in den Jahren vor und kurz nach dem Epochenereignis der Französichen Revolution kennzeichnend gewesen sind, nun aber vor dem Hintergrund der Entstehung der Arbeiterbewegung eine neue Ausgestaltung und Relevanz gewinnen. Ein „ewiger“ Grundzug staatlichen Handelns ist die offensichtliche Furcht vor organisatorischen Regelungen, die Menschen unabhängig vom Staat und (möglicherweise) sogar gegen ihn oder andere einflußreiche Gruppen und Schichten der Gesellschaft verbinden. Dieser Grundzug schlägt sich auch auf dem Gebiet des Kassenwesens nieder. Gegen Ende der „alten Zeit“ und noch nicht durch die Französische Revolution gesteigert, führt diese Furcht etwa in Gestalt des „Reichs-Schluß wegen Abstellung der Unordnungen und Mißbräuche bey den Handwerkern“ vom 16. August 1731 zu umfangreichen Eingriffen in die noch korporativ verfaßte Welt des Handwerks. Ein Koalitions- und Streikverbot für Gesellen wird ausgesprochen. Vor allem in Preußen hinterläßt diese Gesetzgebung tiefe Spuren. 1733 wird in einem „General-Privilegium“ exemplarisch die Verwaltung der „Gewerks-Armen-Casse“, der „Gesellen-Armen-Casse“ bzw. der „Gesellen-Büchse“ durchnormiert. Erkennbar geht es darum, zu verhindern, daß die in den Kassen ruhenden Gelder zur Finanzierung von Konflikten „mißbraucht“ werden.35 Ein letztes Mal, schon auf der Schwelle zur „neuen Zeit“ stehend und bald durch die Einführung der Gewerbefreiheit außer Kraft gesetzt, regelt das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ (ALR) das Gewerbe auf rein korporativer Grundlage.36 Dieses Gesetzgebungswerk, das übrigens in insgesamt 425 Paragraphen zu den Versicherungsverträgen im Rahmen des Kaufmannsrechts „Stellung bezieht“,37 enthält ebenfalls einige Paragraphen zum ursprünglichen handwerklichen Kassenwesen. Im zweiten Teil, achten Titel und dritten Abschnitt dieses Gesetzbuches verpflichtet der § 353 bei Bedürf34 Vgl. dazu: Fröhlich, Sigrid: Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden. Darstellung, Analyse, Vergleich. Berlin 1976. 35 Vgl.: Ortloff, Johann Andreas: Corpus Juris Opificiarii oder Sammlung von allgemeinen Innungsgesetzen und Verordnungen für die Handwerker...Erlangen 1820, 3 ff., 51 ff. 36 Vgl. etwa: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Textausgabe. Mit einer Einführung von H. Hattenhauer...Berlin 1970, 2. Teil, 8. Titel, 3. Abschnitt, §§ 179 ff. 37 Vgl.: ALR, 2. Teil, 8. Titel, 12. Abschnitt, §§ 1934 - 2358.
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tigkeit vorrangig die „Gesellenlade“ und dann die „Gewerkscasse“ zur „Cur und Verpflegung eines eingewanderten und krank gewordenen Gesellen“. Das Gesetz reagiert damit zum wiederholten Male auf das in dieser Spätzeit der Zünfte eingerissene Übel, sich der Sorge um die erkrankten Gesellen durch Fortschicken von „Ort zu Ort bis zu ihrer Heimath“ zu entledigen.38 In den §§ 396 und 397 werden erneut weitgehende Freiheitsbeschränkungen für Gesellen verfügt, deren „Verbindungen“ als Gesellengilden zu den „vorindustriell-zünftigen“ Ursprüngen oder Vorläufern der Gewerkschaften zu rechnen sind.39 Die §§ 399 und 400 bestimmen: „Uebrigens hat es bey den Policeygesetzen und Zunftartikeln, wonach den Gesellen erlaubt ist, einen Altgesellen zu wählen, und unter dessen Rechnungsführung eine eigene Casse aus ihren Beyträgen, zu gemeinschaftlichen Bedürfnissen, besonders zur Verpflegung kranker oder sonst verunglückter Gesellen zu errichten, auch noch ferner sein Bewenden... Doch sind die Gesellen, auch in diesen Angelegenheiten, der Aufsicht der Gewerksältesten und des Beysitzers unterworfen.“ Diese Richtung, die Repression der sozialen Bewegung bei weiterer Zulassung und „Ausnutzung“ ihrer Selbsthilfebestrebungen, setzt sich in der Kassengesetzgebung des 19. Jahrhunderts fort. Vor dem Hintergrund eines in Abwehr revolutionärer Bestrebungen verschärften Koalitionsverbots, von Militäreinsätzen und stellenweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen, setzen Vorarbeiten zu einer Gewerbeordnung ein, in die nunmehr auch die kassenspezifischen Vorschriften eingehen sollen. Die Zeit für die Einbeziehung solcher Vorschriften in eine wahrhaft umfassende Kodifikation, wie sie das der Kodifikationsbewegung der Aufklärungszeit entstammende ALR noch darstellte, ist damit endgültig vorüber.40 Der Kompromiß auf dem Gebiet der Gewerbeordnung, den man nach Jahren der „Überspannung des liberalen Prinzips“ durch die Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1810 mit dem handwerklich-gewerblichen Bürgertum sucht, der angestrebte Mittelweg zwischen extremer wirtschaftlicher Freiheit und zünftlerischer „Gebundenheit“, ist deutlich von den zeitgenössischen sozialen Unruhen und ihre spezifische Interpretation geprägt. Auch aus der Furcht vor der „gefährlichen, besitzlosen Masse“ wird die Schaffung neuer Innungen, zunächst als „sociale Vereine“ bezeichnet, angestrebt. Durch diese Innungen will man „‘den antisozialen Verbindungen, welche der Kommunismus hervorrufen’ wolle, ‘kräftige soziale Vereine’“ entgegenstellen, und die ersteren durch letztere absorbieren.41 An die Stelle der alten Zünfte müsse in den neuen Vereinen „...ein Organ kräftigen Einflusses für Zucht und Ordnung...“ hervorgerufen werden, so glaubt man dem „zerstörerischen Einfluß des Kommunismus auf den Gesellenstand“ entgegenarbeiten zu können.42 Unter dem Blickwinkel der „Abwehr der socialen Gefahr“ wird im Verlaufe der 1826 einsetzenden Vorbereitung der Gewerbeordnung auch die Frage der Vereinigungen der 38 Vgl. dazu: Frevert, Ute: Krankheit als politisches Problem 1770 - 1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung. Göttingen 1984, 157 f. 39 Vgl. grundlegend: Reininghaus, Wilfried: Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter. Wiesbaden 1981, bes. 233 ff. 40 Aufgrund des umfassenden Charakters des ALR sind in diesem Gesetzgebungswerk weitere soziale und kassenbezogene Vorschriften „versteckt“, so subsidiär geltende Normen zur Versorgung von Kranken und „beschädigten“ Bergleuten, entsprechende Vorschriften für Dienstboten, die später in der Preussischen Gesindeordnung vom 8. November 1810 konkretisiert werden und solche für Seeleute. 41 So eine Passage aus den Staatsratsprotokollen des Jahres 1844; zit. nach: Tilmann, Margret: Der Einfluß des Revolutionsjahres 1848 auf die preußische Gewerbe- und Sozialgesetzgebung (Die Notverordnung vom 9. Februar 1849). Diss. Berlin 1935, 11. 42 Vgl.: Roehl, Hugo: Beiträge zur Preußischen Handwerkerpolitik vom Allgemeinen Landrecht bis zur Allgemeinen Gewerbeordnung von 1845. Leipzig 1900, 236 f.
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Arbeitskräfte für wohltätige Zwecke betrachtet. Im Entwurf einer „Allgemeinen Gewerbeordnung“ aus dem Jahre 1835 werden auch sie, gleich den Koalitionen, mit Verbot belegt.43 Schließlich läßt man die Gesellenverbindungen, ähnlich wie im ALR, in Form „milder Kassen“ zu und verbindet damit u.a. den Zweck, die Ortsarmenpflege, insbesondere der großen Städte, zu entlasten. Eine vollständige Unterdrückung aller Organisationsformen wird von vielen als politisch unklug angesehen.44 Entsprechend der sozialökonomischen Entwicklung werden im Winter 1836/37 die Vorschriften, die die Gesellen und Gehilfen betreffen, auf die Fabrikarbeiter ausgedehnt,45 „...weil ein großer Teil der Fabrikarbeiter nur ausgelernte Gesellen wären, und man auch im übrigen aus den ... polizeilichen Gesichtspunkten heraus die Fabrikarbeiter in das Gesetz einbeziehen zu müssen glaubte.“46 Bei dieser Regelung bleibt es und damit hat die Handwerk und Fabrikwesen umfassende preußische (Gewerbe-)Gesetzgebung erstmals von dieser neuartigen, dem Kapitalismus geschuldeten sozialen Klasse Kenntnis genommen und einige sozialpolitische Normen vorgesehen. Dementsprechend erlaubt der § 144 der „Allgemeinen Gewerbeordnung“ vom 17. Januar 184547 den Gesellen und Gehilfen die „...Beibehaltung der zur gegenseitigen Unterstützung vorhandenen besondern Verbindungen und Kassen..., es bleibt jedoch vorbehalten, die Einrichtungen derselben nach Befinden abzuändern und zu ergänzen. Auch können dergleichen Verbindungen und Kassen mit Genehmigung der Regierung unter den von dieser festzusetzenden Bedingungen, neu gebildet werden.“ Diese Vorschrift findet gemäß § 145 auch auf Fabrikarbeiter Anwendung. Gemäß § 169 kann durch Ortsstatuten die Verpflichtung für alle an dem Ort beschäftigten Gesellen und Gehilfen (nicht für Fabrikarbeiter) festgesetzt werden, den in § 144 erwähnten Verbindungen und Kassen beizutreten. „Die Wirksamkeit dieser Bestimmungen scheint sich, soweit die Akten darüber Auskunft geben, darauf beschränkt zu haben, dass die aus früherer Zeit bestehenden Kassen in bisheriger Weise fortexistierten und hie und da eine veränderte Einrichtung erhielten.“48 Von ortsstatuarischem Beitrittszwang und der Errichtung neuer, „künstlich“ geschaffener Kassen ist auf Grund entgegenstehender Interessen und des dispositiven Charakters der entsprechenden Vorschriften nichts zu erfahren.49 So wird bereits der wesentliche Mangel dieser „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ deutlich, die weitgehende Ergebnislosigkeit. Die äußerst mangelhafte Wirksamkeit der kassenbezogenen Vorschriften der Gewerbeordnung von 1845 muß überraschen, entsprechen doch die Vorschriften auch den Interessen und Vorstößen von kommunaler Seite, durch Zwangsmittel das Kassenwesen der alten Gewerbeverfassung mit dem Ziel der Schonung der Kommunalfinanzen zu erhalten und auszudehnen, Finanzen, die durch die Armen- und Freizügigkeitsgesetzgebung des Jahres 1842 bedroht scheinen.50 Schließlich haben sich Vertreter des Bürgertums bzw. Autoren der Sozialreform vehement für die Kassen als Mittel der ökonomischen und „mo43 Vgl.: Ritscher, Wolfgang: Koalitionen und Koalitionsrecht in Deutschland bis zur Reichsgewerbeordnung. Stuttgart und Berlin 1917, 156. 44 Vgl.: Roehl, Hugo: Beiträge...a.a.O.(=Anm. 42), 216. 45 Vgl.: Ritscher, Wolfgang: Koalitionen...a.a.O. (=Anm. 43), 157. 46 Derselbe, ebenda, 157. 47 Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1845 Nr. 5, 41. 48 Die unter staatlicher Aufsicht stehenden gewerblichen Hülfskassen für Arbeitnehmer (mit Ausschluss der sog. Knappschaftskassen) und die Versicherung gewerblicher Arbeitnehmer gegen Unfälle im preussischen Staate. Bearbeitet im Auftrage des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Berlin 1876, I f. 49 Vgl. ebenda, II. 50 Vgl.: Frevert, Ute: Krankheit...a.a.O.(=Anm. 38), 157 ff.
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ralischen“ Integration der „arbeitenden Klassen“ in die neue, die freigesetzte Gesellschaft eingesetzt. Wenn und soweit es vor 1849, dem Jahr erneuter kassenpolitischer Regelungen, zu Neugründungen von Unterstützungseinrichtungen der Gesellen, Gehilfen und Arbeiter kommt, dann gehen diese Initiativen meistens von diesen sozialen Schichten selbst, von Fabrikinhabern, von Honoratioren, von sozialreformerischen Vereinen und von Kommunen ohne die direkte Ausübung des ortsstatuarischen Zwanges aus.51 Die kassenpolitischen Vorschriften des Jahres 1849 sind in der „Verordnung, betreffend die Errichtung von Gewerberäten und verschiedene Abänderungen der Allgemeinen Gewerbeordnung“ vom 9. Februar 1849 „versteckt“. Diese sogenannte Notverordnung verstärkt unter dem Eindruck der Revolutionsjahre 1848/49 „...die Einbindung der Gesellenkassen in ein komplexes System staatlich autorisierter und überwachter... Zuständigkeiten...“52 Dieses gilt auch für die Kassen der Arbeiter. Die Verordnung richtet sich so gegen unkontrollierte Aktivitäten der freien Kassen der in der Revolution entstandenen Arbeitervereine und der traditionellen Gesellenverbindungen.53 Sie setzt damit erneut die in den Gesetzen der „alten Zeit“ enthaltene politische Tendenz fort. Neben Ausführungen zum (auch auf diesem Gebiet dispositiven) ortsstatuarischen Beitrittszwang von selbständig Gewerbetreibenden zu den Kranken-, Sterbe-, Hilfs-, Witwen- und Waisenunterstützungskassen der Innungsgenossen, und zur Möglichkeit, sie ortsstatuarisch zur Bildung von Kassen für Gesellen und Gehilfen zu zwingen, ist die wesentliche Neuerung in der Regelung der Beitragszahlung und der Verwaltung der Kassen zu sehen. Selbständig Gewerbetreibende und Fabrikbesitzer können gemäß §§ 57, 58 durch ortsstatuarischen Zwang verpflichtet werden, bis zur Hälfte der Beiträge der Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter zu den Kosten der Kassen beizutragen. Durch die Beiträge der Handwerksmeister und Fabrikherren soll das „Band“ zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern fester geknüpft werden. Während über die Verwaltung der Kassen der Gesellen und Gehilfen in der Verordnung nichts bestimmt ist, durch Orts- und Kassenstatuten aber durchaus Bestimmungen getroffen werden können, vermerkt der § 58 zur Verwaltung der Fabrikarbeiterkassen: „In den von der Regierung zu genehmigenden Statuten der einzelnen Verbindungen und Kassen muss den Fabrikinhabern eine ihrer Stellung als Arbeitgeber und der Höhe ihrer Beiträge entsprechende Theilnahme an der Kassenverwaltung eingeräumt werden“. Mit dieser Bestimmung, von der man sich eine Überwachung der Kassen verspricht, geht die preußische Regelung der gesamten europäischen Gesetzgebung voran.54 Alle Beiträge können „...von den zur Zahlung Verpflichteten durch exekutivische Betreibung im Verwaltungswege eingezogen werden.“ Die Beiträge der Arbeiter, Gesellen und Gehilfen können, falls die Gemeindebehörde eine entsprechende Regelung im Statut vorsieht, „...unter Vorbehalt der Anrechnung auf die nächste Lohnzahlung...“ vorgeschossen werden. Den Kommunalbehörden und Regierungen werden wesentliche Aufsichts- und Kontrollbefugnisse eingeräumt.
51 Vgl. ähnlich: Reininghaus, Wilfried: Das erste staatlich beaufsichtigte System von Krankenkassen: Preußen 1845 1869. Das Beispiel der Regierungsbezirke Arnsberg und Minden. In: Zeitschrift für Sozialreform, 29(1983), 271 - 296, hier: 273; vgl. als Beispiel der Gründung einer Kasse durch Honoratioren die „Kranken- und Sterbe-Auflage Friedrich Wilhelm Kronprinz von Preußen“ in Schöller, Bürgermeisterei Haan, Kreis Elberfeld von 1837/38 in: HSTADdf. Regierung Düsseldorf, Akte Nr. 25098. 52 Frevert, Ute: Krankheit...a.a.O.(=Anm. 38), 165. 53 Vgl.: Tilmann, Margret: Der Einfluß...a.a.O.(=Anm. 41), 57. 54 Vgl.: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus 1848 - 1869. Berlin 1968, 42.
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Mit dem seit 1845 bestehenden (dispositiven, ortsstatuarischen) Versicherungszwang, der Verstärkung der staatlich-kommunalen Kontrolle gegen „Zweckentfremdung“ der Mittel und Einrichtungen, mit der Beitragspflicht der Arbeitgeber, die die Versicherbarkeit der Arbeiter verbessert, mit der Zusammensetzung der Verwaltungs- und Beschlußgremien der Arbeiterkassen durch Vertreter von Arbeit und Kapital sind 1849 in Preußen wesentliche Grundzüge des Bismarckschen Krankenversicherungsgesetzes aus dem Jahre 188355 erstmals vorweggenommen. Die durch diese Rechtsgrundlagen, Orts- und Kassenstatute strukturierten Kassen sind schon fast zu Körperschaften des öffentlichen Rechts geworden. Dadurch, daß die Verordnung nunmehr auch für Fabrikarbeiter einen in das Ermessen der Kommunen gestellten Beitrittszwang vorsieht und gerade auch die Verwaltung der Arbeiterkassen regelt, wird deutlich, daß die preußische Regierung und hier insbesondere das am 17. April 1848 gegründete Preußische Handelsministerium, das ab dem 4. Dezember 1848 von dem Bankier August von der Heydt geleitet wird,56 wahrnimmt, wie sich aus dem umfassenden Pauperismusproblem die „soziale Frage“ als „Lohnarbeiterfrage“ herausschält und in den Vordergrund rückt. Durch das Festhalten auch dieser Gesetzgebung am liberalen Prinzip der Freiwilligkeit bringt sich die preußische Kassengesetzgebung erneut um ihre Wirksamkeit. Die Hoffnung auf die Eigeninitiative der Gemeinden wird wiederum enttäuscht und selbst das Drängen des Handelsministeriums bleibt ohne die erhoffte Resonanz. Die mit einem „Circularerlaß“ vom 1. April 1849 versandten und an die Kommunen verteilten „Normal-Statuten“ für das handwerkliche Kassenwesen verfehlen ihren Zweck ebenso, wie ein „Circular-Erlaß“ vom 16. März 1852, dem „Normal-Statuten“ für das Arbeiterkassenwesen beigegeben werden.57 Bis Ende 1853 gelangen im ganzen nur 226 Ortsstatuten mit dem darin enthaltenen Versicherungszwang zur Genehmigung, „...darunter nur 58, in denen die Verpflichtung der Arbeitg eber zur Leistung von Beiträgen ausgesprochen war.“58 Die Einführung von Hilfskassen für Fabrikarbeiter stößt also auf unerwartet heftiges Widerstreben. Die Abneigung vieler (aber nicht aller) Fabrikbesitzer, die ihnen zugunsten solcher Kassen angesonnenen „Opfer“ zu übernehmen, sei noch ziemlich allgemein gewesen „...und die Gemeinden hatten, bei der meist einflussreichen Stellung, welche die Fabrikbesitzer in ihnen einnehmen, nicht den Muth, die Verpflichtung zu diesen Leistungen durch Ortsstatut auszusprechen.“59 Daß in Preußen angesichts dieser Erfahrung mit bürgerlichem und kommunalem Widerstand eben nicht auf die „erstrebte allgemeine Verbreitung der Hülfskassen“ verzichtet wird und zum Zweck der „allgemeinen Verbreitung“ staatlicher Sozialpolitik bald sogar das liberale Sakrileg des in das Belieben der Kommunen gestellten Versicherungszwangs zur Diskussion steht, zeigt nach Jahren des Zögerns ein genuin staatliches Interesse an der Ausweitung des Kassenwesens, das über den Zweck hinausweist, den Kommunen die Tragung der „Armenlasten“ zu erleichtern. Es verweist auf die „Herrschaftsproblematik“ ange-
55 Die Notverordnung findet sich in der Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1849, 93. 56 Daten und Einschätzung nach: Tilmann, Margret: Der Einfluß ...a.a.O.(=Anm. 41), 23 f. 57 Vgl.: Die unter staatlicher Aufsicht...a.a.O. (=Anm. 48), II; vgl. in diesem Zusammenhang die „Bemerkungen zu dem Entwurfe eines Ortsstatuts in Betreff der Gesellenkassen“ und das „Statut für die Stadt N“ sowie das „Statut der Tischlergesellenkasse in N.“, die sich allesamt auf die Gewerbeordnung von 1845 beziehen in: STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt, Akte Nr. 416. 58 Die unter staatlicher Aufsicht...a.a.O.(=Anm. 48), II. 59 Ebenda, II.
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Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
sichts der Möglichkeit einer Revolution in einer Gesellschaft in der sich so auffällig die Reichtümer oben und die Risiken unten in der Sozialstruktur sammeln.60 Bis zum Jahr 1854 ist die sozialpolitische Situation in Preußen noch durch Zurückhaltung gekennzeichnet. Auf der Ebene des Abgeordnetenhauses vorgebrachte sozialpolitische Projekte finden sowohl bei der Regierung und in der Kommission, als auch im Handelsministerium zunächst keinen Anklang.61 Zu einer eigenen Gesetzesinitiative dieser zweiten Kammer kommt es nicht. Die durch die Repression „beruhigten“ innenpolitischen Verhältnisse und eine verbesserte Wirtschaftslage stärken wiederum jene Kräfte, die die soziale Frage durch freie Selbsthilfe der Arbeiter, ohne staatlichen Zwang, ohne „fremde“ Zuschüsse und ohne Eingriffe in das Wirtschaftsleben sich lösen sehen. Ein späterer Antrag des westfälischen Industriellen und Mitglieds des Centralvereins Friedrich Harkort, die Pflicht des Beitritts zu Alters-Versorgungs-Anstalten auf alle „Lohn-Arbeiter“ einer Gemeinde und deren Arbeitgeber auszudehnen, ein im einzelnen auf Sparkassen basierender umfassender Plan einer Revolutionsprävention durch „Einbürgerung“, wird weder im Plenum noch im Ausschuß des Abgeordnetenhauses für diskussionswürdig erachtet.62 Als nun, nachdem sich alle Hoffnungen auf die „Einsicht“ der Kommunen zerschlagen haben, der Abgeordnete Peter Reichensperger im Januar 1854 einen von der katholischen Fraktion unterstützten Antrag einbringt, der vorschlägt, ein Normalstatut auszuarbeiten „...und in allen ‘geeigneten Gemeinden’ durch den Staat einzuführen...“ und weitere entsprechende parlamentarische Vorstöße in der Kassenfrage sich ankündigen,63 wird Handelsminister von der Heydt aktiv und legt einen eigenen Gesetzentwurf vor. Dieser soll das Dilemma der „liberal-staatlichen Sozialpolitik“64 - ihre Unwirksamkeit - dadurch beheben, daß er in gewissen Fällen staatlichen Zwang vorsieht. Gerade an diesem Punkte, an der Instrumentalisierung des Zwangs als Mittel der Sozialpolitik und wiederum am Unternehmerbeitrag reiben sich die entgegenstehenden Interessen. Mit (wirtschafts-) liberalen Argumenten und politischen Vorstößen, die das Gesetz als Schritt in das „Lager des büreaukratischen Sozialismus“ qualifizieren, läßt sich die Regierungsvorlage jedoch nicht vom Tisch wischen. Die gesamte Bandbreite der Argumente ist groß. Die Arbeiterbewegung und ihre „Gefährlichkeit“ spielt wieder ihre Rolle, wenn etwa Reichensperger betont, die „politisch qualifizierte Gesellschaft“ habe dafür zu zahlen, daß sie vom Staat vor den Ansprüchen der „unqualifizierten Masse“ geschützt werde. In seinen Augen wird der „Anwalt der Arbeiterschaft“ zugleich zu einem vorausschauenden „Sachwalter des Bürgertums“, der durch rechtzeitige kleine „Konzessionen“ erzwungene große zu verhindern suche.65 Neben dieser Argumentation, die die damalige Entrechtung und Unterdrückung der Fabrikarbeiter, Gesellen, Gehilfen und der anderen gesellschaftlichen Unterschichten geradezu als staatlich vermittelte Wohltat ansieht, für die man gewisse Opfer in Kauf nehmen
60 So überspitzt und vereinfacht: Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine neue Moderne. Frankfurt a.M. 1986, 46. 61 Vgl.: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage...a.a.O. (=Anm. 54), 59 ff. 62 Vgl. denselben, ebenda, 73 - 76. 63 Vgl.: Die unter staatlicher Aufsicht...a.a.O.(=Anm. 48), III, sowie: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage ... a.a.O.(=Anm. 54), 64. 64 So die Ausdrucksweise bei: Ullmann, Hans-Peter: Deutsche Unternehmer und Bismarcks Sozialversicherungssystem. In: Mommsen, Wolfgang J., Mock, Wolfgang (Hg.): Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850-1950. Stuttgart 1982, 142 - 158, hier: 143. 65 Nach: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage... a.a.O.(=Anm. 54), 72.
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Preußische Kassenpolitik, Arbeiterbewegung und Kassenwesen
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müsse, ist in der Begründung der Regierungsvorlage auch wieder die schnell steigende Armenlast ein wichtiges Argument.66 Das mit den Stimmen der großen konservativen Fraktion (dem zuverlässigen Mehrheitsbeschaffer bei Regierungsvorlagen, die die eigenen wesentlich agrarischen Interessen nicht betreffen67) verabschiedete „Gesetz, betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen“ vom 3. April 185468 bildet den Abschluß der preußischen Gesetzgebung zum Kassenwesen. Dieses nur fünf Paragraphen umfassende Gesetz beseitigt u.a. einen Zweifel, indem es bestimmt, daß durch Ortsstatuten für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter die Verpflichtung begründet werden kann, neue Unterstützungskassen zu errichten. Die bestehenden und die neu zu errichtenden ausdrücklich unter kommunaler Aufsicht stehenden (Zwangs-)Kassen haben nunmehr, wenn ihre Statuten genehmigt sind, die Rechte einer in den Staatsaufbau eingegliederten juristischen Person. Die für die Wirksamkeit der staatlichen Kassenpolitik entscheidende und richtungweisende Vorschrift enthält der § 3 des Gesetzes. Er wählt einen Mittelweg zwischen der überkommenen liberalstaatlichen Tendenz alles dem „Scharfsinn der Gewerbsleute und Kommunal-Behörden“ zu überlassen und der obrigkeitlichen Anordnung einer allgemeinen öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherung, wie sie damals schon für den Bergbau vorgesehen ist. Dieser Mittelweg ermöglicht es für Preußen in Zukunft, zu Lasten der freien von den Gesellen bzw. Arbeitern selbstverwalteten Kassen, den beaufsichtigten Zwangskassen zur Ausdehnung zu verhelfen. Der § 3 erlaubt es den Regierungen, daß alle diejenigen Bestimmungen über Kassen, die durch Ortsstatut getroffen werden können (d.h. u.a. Beitrittszwang, Zwang zur Errichtung neuer Kassen, Beitragszwang der Fabrikanten und Gewerbetreibenden, Zusammensetzung der Kassenverwaltungen), künftig, „...sofern dem obwaltenden Bedürfnisse durch ein entsprechendes Ortsstatut nicht genügt wird, auch von der Regierung nach Anhörung Gewerbetreibender und der Kommunalbehörden für einzelne oder, nach Maaßgabe des Bedürfnisses, für mehrere Ortschaften getroffen werden.“ Zur Ausführung des Gesetzes ergehen zahlreiche Erlasse, die auf einen immer noch erheblichen Widerstand gegen die Ausbreitung der Zwangskassen hinweisen.69 Im Erlaß vom 18. April 185470 äußert von der Heydt den Wunsch, „...dass mit der Ausführung des Gesetzes sofort und energisch vorgegangen werde...“. Mit Erlaß vom 31. Mai 1855 und vom 21. Mai 185671 wird erneut die mangelnde Ausdehnung des Kassenwesens und damit zusammenhängend: der weiterhin anhaltende Widerstand der Fabrikanten gegen die Ausführung des Gesetzes und gegen eine Beteiligung an der Beitragszahlung angesprochen. Unverhohlen wird diesen Kreisen und den Kommunen mit Zwang gemäß § 3 des „Gesetzes, betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen“ gedroht. Fabrikanten, die ihre Absicht erkennen lassen, den Lohn um ihren Kassenbeitrag zu kürzen, wird mit dem Staatsanwalt gedroht. Die Geltung der Kommunalaufsicht, der Genehmigungspflicht und der sonstigen Vorschriften der Gewerbegesetzgebung wird auch für die freien, gesellenbzw. arbeiterselbstverwalteten Kassen behauptet. Im Erlaß vom 3. Dezember 1856 spricht von der Heydt die Wichtigkeit der Beteiligung der selbständigen Handwerksmeister an der Beitragszahlung und Verwaltung der Kassen an, „...um auf diesem Wege Missbräuchen 66 Vgl. denselben, ebenda, 65. 67 Vgl. denselben, ebenda, 104 f. 68 Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1854, 138. 69 Vgl.: Die unter staatlicher Aufsicht stehenden gewerblichen Hülfskassen...a.a.O.(=Anm. 48), III. 70 Wiedergegeben: ebenda, 264. 71 Vgl. ebenda, 265 ff.
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Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
vorzubeugen, welche bei den sich selbst überlassenen Gesellenverbindungen nicht selten vorkommen.“ Ein nunmehr von seinem Nachfolger von Itzenplitz unterzeichneter Erlaß vom 31. März 1865 zeigt immer noch Widerstand der Fabrikanten an und bestimmt Maßnahmen der Abhilfe. Vor dem Hintergrund dieser Aktionen entwickeln sich die Zwangskassen relativ rasch. Die freien, selbstverwalteten Kassen haben es dementsprechend schwer. Die Obrigkeiten erkennen, daß sie in bedeutendem Umfang Kristallisationspunkte gesellschaftspolitischer Aktivitäten und organisatorische Hülle der unterdrückten Arbeiterbewegung sind. Die Behörden „reinigen“ freie Kassen von allen Ansätzen „demokratischer Infiltration“, verbieten überörtliche Verbindungsaufnahme, untersagen den gegenseitigen Kontakt der Kassen, beseitigen vor allem „republikanische Einrichtungen“ wie „...häufigere Generalversammlungen, Verwaltungs- und Ausschußräte und ähnliches mehr.“72 Die Repression nimmt nach dem von Bismarck als preußischem Gesandten mitinitiierten und 1854 durchgesetzten Beschluß des Deutschen Bundestages zu, alles zu unterdrüken, was sich an sozialpolitischen und Fachvereinen aus der Revolutionszeit noch erhalten hat.73 „Blühende freie Kassenvereine hat in jenen Jahren die Polizeigewalt mit Schikanen zu erdrücken gestrebt und wirklich unterdrückt, um ihren Zwangskassen zum Siege zu verhelfen.“74 So ist die Kassengesetzgebung und Vollzugspraxis aus herrschaftstechnischer Motivation gegen das Organisations-, Selbstverwaltungsund Sicherungsstreben der Arbeiter gerichtet und ein typischer Ausdruck der Reaktionszeit. Dieses Ziel wird, wie fortdauernde Beschwerden zeigen, keineswegs durchgängig erreicht. Ganz ähnlich gelagert ist die Intention des „Gesetz, betreffend die Vereinigung der Berg-, Hütten-, Salinen- und Aufbereitungs-Arbeiter in Knappschaften, für den ganzen Umfang der Monarchie“ vom 10. April 1854. Ursprünglich der mehr oder weniger freien Initiative der Beteiligten überlassen, werden die Knappschaftsvereine nun für diese speziellen Arbeitergruppen vorgeschrieben. Sie werden der Aufsicht des jeweils zuständigen Bergamtes unterstellt. Gleichzeitig aber entsteht mit diesem „Knappschaftsgesetz“ eine öffentlichrechtliche Zwangsversicherung für bestimmte, in der „Urproduktion“ tätige Arbeiterkategorien. Die Leistungen welche diese „Knappschafts-Vereine“ nach näherer Bestimmung des Statuts den meistberechtigten Mitgliedern zu gewähren haben sind „freie Kur“ und Arznei, Krankenlohn, „lebenslängliche Invalidenunterstützung bei einer ohne grobes Verschulden eingetretenen Arbeitsunfähigkeit“, ein Beitrag zu den Beerdigungskosten, eine „Unterstützung der Wittwen auf Lebenszeit, beziehungsweise bis zur etwaigen Wiederverheirathung“, eine Unterstützung zur Erziehung der Kinder verstorbener Mitglieder und Invaliden bis „nach zurückgelegtem vierzehnten Lebensjahr.“ Der am wenigsten begünstigten Klasse der Mitglieder sind mindestens die bei Krankheit fälligen Leistungen zu gewähren. Bei einem Arbeitsunfall tritt eine Waisenunterstützung hinzu. 75 Die „Kassenfrage“ und sonstige Maßnahmen zur Behebung der Not haben als Bestandteil „von unten“ ausgehender Volks-, Handwerker- bzw. Arbeiterforderungen vielfachen Niederschlag in den Dokumenten der mit der Revolution von 1848/49 sich belebenden frühen sozia72 Offermann, Toni: Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutschland 1850 - 1863. Bonn 1979, 140. 73 Vgl.: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung. Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Bonn o. J. (1977), 18. 74 Oppenheim, H.B.: Die Hülfs- und Versicherungskassen der arbeitenden Klassen. Berlin 1875, 33. 75 Vgl. zum Knappschaftsgesetz: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1854, 139 ff.; zur Auseinandersetzung um dieses Gesetz: Geyer, Martin H.: Invalidität und Existenzsicherung im Bergbau 1770 bis 1870. In: Göckenjahn, Gerd (Hg.): Recht...a.a.O. (=Anm. 24), 181 - 202 und die dort angegebene Literatur; vgl. zum Eigenleben der Kassen trotz Repressiv-Gesetzgebung: Frevert, Ute: Krankheit...a.a.O. (=Anm. 38), 297 ff.
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len, handwerklichen und gewerkschaftlichen Bewegung gefunden. Bei den „kassenpolitischen Aktivitäten“ der Handwerksgesellen und Arbeiter, bei der Nähe dieser ersten Arbeiterbewegung zum „alten Handwerk“ und den in dieser Sozialordnung enthaltenen Kassen, bei der allgemeinen Verbreitung des Kassen- und Versicherungswesens, der intensiven „frühsozialpolitischen“ Diskussion und der Lebenslage der „arbeitenden Klassen“, kann dieser Befund nicht überraschen. Deutlich zeigen sich Reaktionen auf die jeweiligen Zeitumstände und die staatliche Kassenpolitik. Die Kölner „Forderungen des Volkes“ vom 3. März 1848 verlangen eine „...Organisation der Arbeiter, staatliche Eingriffe zum Schutz der Arbeit und zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz, Reform des Erziehungswesens. Das setzt sich fort in den zahllosen Volksversammlungen, Petitionen und Deputationen der Märztage.“76 Auf einer Massenversammlung vor dem Schönhauser Tor in Berlin vom 26. März 1848 gehört zu den Forderungen: Lohnerhöhung, Lohnminimum, Zehnstundentag, Arbeitsnachweise, Unfallversicherung, preiswerte Wohnungen, kostenlose Volkserziehung. Petitionen an die preußische Nationalversammlung enthalten zusätzlich die Forderung nach einer Altersversorgung.77 Der in der Zeit vom 14. Juli bis zum 18. August 1848 in Frankfurt tagende erste deutsche Handwerker- und Gewerbekongreß erklärt sich für ein umfangreiches Unterstützungswesen. Dieses ist in dem „Entwurf einer allgemeinen Handwerker- und Gewerbe-Ordnung“ verankert. Der an die „hohe verfassungsgebende National-Versammlung“ gerichtete Entwurf, der die Gewerbefreiheit „gänzlich“ aufheben möchte, sieht allgemeine Gesellen-Krankenkassen und Gesellen-Wanderkassen an allen Innungsorten vor, zu denen faktisch Beitrittszwang besteht. Unter die Mittel zur Hebung des deutschen „Handwerker- und Gewerbestandes“ zählt u.a. die „gesetzliche Verpflichtung aller Bürger, sich mit einem Minimum bei Wittwen-, Waisen- und Alterskassen zu betheiligen.“78 Nicht nur dieser von selbständigen Handwerkern dominierte Kongreß, sondern gerade auch die Gesellen- und Arbeiterkongresse befassen sich intensiv mit der Frage der materiellen Sicherstellung für den Fall, daß das „einzige wirtschaftliche Tauschgut“, die Arbeitskraft, nicht mehr verwertet werden kann. Dabei fällt auf, daß sich ihre Forderungen, Planungen und Aktivitäten häufig ebenfalls auf die Lösung des Problems der „unversorgten“ Invalidität, des Alters und die Hinterbliebenen beziehen. Die Vorstöße zur Lösung dieser Reproduktionsprobleme wenden sich nur teilweise im Sinne einer „Versorgungslösung“ in Hoffnung auf die Arbeit und den Bestand der Nationalversammlungen an den Staat, wie das etwa der „Bund der Kommunisten“ tut, wenn er 1848 fordert: „Der Staat garantiert allen Arbeitern ihre Existenz und versorgt die zur Arbeit unfähigen,“79 oder das „Zentralkomitee für Arbeiter“ in Berlin, das an die Nationalversammlungen in Berlin und Frankfurt im selben Jahr die Forderung richtet: „Der Staat versorgt alle Hilflosen und also auch alle Invaliden der Arbeit.“80 Bemerkenswert ist, daß die Vorschläge und Aktivitäten der Gesellen, Gehilfen und Arbeiter das ursprüngliche Kassenwesen nicht nur auf die Invalidität, das Alter, die Witwen und Waisen erstreckt sehen wollen, sie wollen es auch aus der lokal-kleinräumigen, nicht auf die Mobilität der „neuen Zeit“ zugeschnittenen Begrenzung lösen. Ganz im Sinne der Errichtung 76 Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage...a.a.O. (=Anm. 54), 20. 77 Vgl. denselben, ebenda, 21. 78 Vgl. die faksimilierte Wiedergabe der Dokumente bei: Dowe, Dieter, Offermann, Toni (Hg.): Deutsche Handwerker- und Arbeiterkongresse 1848 - 1852. Protokolle und Materialien. Berlin, Bonn 1983, 178 ff, bes. 186, 193. 79 Vgl.: Peschke, Paul: Geschichte der deutschen Sozialversicherung. Berlin 1962, 172. 80 Anträge des Zentralkomitees für Arbeiter in Berlin an die Nationalversammlungen in Berlin und Frankfurt, 1848; zit. nach: Mommsen, Wilhelm (Hg.): Deutsche Parteiprogramme. München 1960, 292 - 294, hier: 293.
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einer solchen „modernen“ Anstalt, „beaufsichtigt von einer Section des (geforderten, E.R.) Arbeiter-Ministeriums“, spricht sich der Allgemeine deutsche Gesellen- bzw. Arbeiterkongreß in Frankfurt a.M. am 26. Juli 1848 mit seinem Vorschlag einer beitragsfinanzierten „Pensionskasse“ bzw. einer „Pensions-Centralkasse für Deutschland“ aus.81 Die Forderungen der Gesellen, Gehilfen und Arbeiter an die Nationalversammlungen führen zu keinem Ergebnis. Das von den bürgerlichen Kräften angestrebte „politische Gebäude“ auf dem „soliden Boden der verbesserten materiellen und sozialen Zustände“ zu begründen,82 wie es in der Frankfurter Nationalversammlung die wenigen Fürsprecher der Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter und ähnlicher sozialer Schichten vorschlagen, liegt nicht im Interesse der Mehrheit des in Erwerbsinteressen und in politischen Zielsetzungen „befangenen“ Bürgertums.83 Entsprechende Forderungen verfallen der Ablehnung. Man ist mehrheitlich der Meinung, daß die „soziale Frage“ durch die historische Entwicklung ohne Zwang und Gesetze ihre Lösung finden werde. So ist schließlich von den Forderungen und Programmen der Arbeiter, Gesellen und Gehilfen (die Grenzen und Übergänge von Handwerker und Arbeiter, Werkstatt und Fabrik sind immer noch fließend) „...wenig diskutiert und nichts beschlossen worden.“84 Nach dem Scheitern der Revolution, nach der Auflösung der Nationalversammlungen ist die Zeit jener von unten ausgehenden Forderungen und Aktivitäten zunächst einmal vorbei, die in der ein oder anderen Weise auf den Staat setzen. Aus der politischen Enttäuschung erwächst ein ausgeprägter Selbstverwaltungs-, Selbstgestaltungs- und Selbsthilfewille, der sich exemplarisch u.a. im § 18 der „Grundstatuten der deutschen Arbeiter-Verbrüderung“ ausdrückt, die auf der Generalversammlung deutscher Arbeiter vom 20. bis 26. Februar 1850 beraten werden. Dort ist zu lesen, daß die Lokalvereine dieser überregionalen Gewerkschaftsorganisation u.a. die Aufgabe haben, „...die Bedürfnisse und Uebelstände der Arbeiter ihrer Berufsart, wie auch im Allgemeinen, zu erforschen, auf Abhülfe derselben zu wirken; ihre G ewer k s- , Arb e i ts- u n d W ir th s cha f tsv er h ä l tni s s e zu berathen und zu ordnen; durch Arbeitsvermittelung, wie durch Errichtung und Selbstverwaltung freiwilliger Kranken-, Sterbe-, Invaliden-, Dispositions-Kassen u.s.w. die Grundsätze der Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit unter den Arbeitern zu fördern...“85 Als ein Grund für diese Orientierung hin auf Selbsthilfe wird in den Motiven der Grundstatuten die Enttäuschung über die Arbeit der Nationalversammlungen noch einmal benannt.86 Als Dokumente eines frühen, aus dem Selbsthilfewillen resultierenden und „von unten“ ausgehenden Strebens nach Erleichterung der Existenz durch versicherungsähnliche Einrichtungen sind die „Statuten der Wanderunterstützungs- und Arbeitsnachweisevereine“ der Ar81 Vgl.: Dowe, Dieter, Offermann, Toni (Hg.): Deutsche Handwerker- und Arbeiterkongresse...a.a.O. (=Anm. 78), 199, 207. 82 Vgl.: Kleier, Gertrud: Sozialpolitische Fragen in der Deutschen Nationalversammlung von 1848/49. Diss.rer.pol. Frankfurt a.M. 1948 (MS), 5. 83 Als Ausdruck der Verbitterung der organisierten Arbeiter über die Nichtbehandlung der sozialen Frage vgl.: Beschlüsse des Arbeiter-Kongresses zu Berlin. Vom 23. August bis 3. September 1848. Manifest des deutschen ArbeiterKongresses an die konstituierende Versammlung zu Frankfurt a.M., wiedergegeben in: Quarck, Max: Die erste deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte der Arbeiter-Verbrüderung 1948/49. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis des Marxismus. Leipzig 1924, 348 - 350. 84 Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage...a.a.O. (=Anm. 54), 35. 85 Dowe, Dieter, Offermann, Toni (Hg.): Deutsche Handwerker- und Arbeiterkongresse...a.a.O.(=Anm. 78), 273; vgl. auch die Wiedergabe des Dokuments bei: Balser, Frolinde: Sozial-Demokratie 1848/49 - 1863. Band 2: Quellen. Stuttgart 1962, 507 - 518, hier: 509. 86 Vgl. dieselben, ebenda, 237 - 336.
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beiter-Verbrüderung erhalten. Diese Vereine sollen ihre Mitglieder auf der Wanderschaft gegen Not schützen und damit dem „demoralisirenden Bettelwesen“ entgegenwirken. Sie sollen darüber hinaus durch Nachweis von Arbeit das Reisen „nützlicher“ und „leichter“ machen. Ein mit vielen Aufgaben betrauter, über einige Jahre in Berlin aktiver Gesundheitspflegeverein des Berliner Bezirks der Arbeiterverbrüderung soll in Verbindung mit Krankenunterstützungs- und Sterbekassen die Gesundheit des Arbeiters, „...häufig sein e inz ig e s, imme r sein wichtigstes Lebensgut“ erhalten bzw. wiederherstellen helfen.87 Als Ausdruck eines beachtlichen sozialen Selbsthilfewillens ist das Projekt der Errichtung einer zentralen Witwen- und Invalidenkasse der gewerkschaftlich organisierten Zigarrenarbeiter überliefert. Eine derartige, an den fortgeschrittenen Stand der rationalen, modernen Lebensversicherungsanstalten gemahnende Einrichtung, wird auf der 9. Sitzung des zweiten Kongresses deutscher Zigarrenarbeiter in Leipzig am 12. September 1849 beschlossen.88 In den Statuten der „Association der Cigarren-Arbeiter Deutschlands“ vom 13. September 1849 finden sich schon einige Bestimmungen zu den Beiträgen, dem geplanten Wirksamwerden der Einrichtung, dem Beitritt (er ist freiwillig) und dem zu versichernden Risiko. Während die „Association“ angesichts der politischen Verhältnisse im Verlaufe der Generalversammlung der Zigarren-Arbeiter Deutschlands vom 19. bis 25. August 1850 ihre Auflösung zu beschließen sich gezwungen sieht,89 hält man am Projekt der Witwen- und Invalidenkasse als Schutz vor „gänzlicher Verarmung“ fest und verständigt sich über einige weitere Statutenbestimmungen. Bei der Diskussion um die Beitragsgestaltung wird deutlich, daß die schon bestehenden Pionieranstalten der Renten- oder Lebensversicherungen mehr als die zünftlerischhandwerklichen Traditionen Vorbildfunktion haben. Dennoch wird eine den Gesetzen der (Versicherungs-)Mathematik folgende Beitragsgestaltung abgelehnt. Die Versammlung von Abgeordneten deutscher Zigarren-Arbeiter-Vereine vom 18. bis zum 21. August 1851 dient, mit obrigkeitlicher Duldung, ausschließlich der Beratung der Statuten der Witwen- und Invaliden-Kasse, die bereits am 1. Januar 1851 ins Leben getreten ist. Auch auf dieser Sitzung zeigt sich, daß die rational-mathematischen Grundlagen eines solchen Instituts mit den sozialen Vorstellungen der Tagungsteilnehmer nicht zu vereinbaren sind.90 Im Dezember 1851 geht der erste Antrag auf Auszahlung einer Witwenrente ein,91 immerhin rund sechs Jahrzehnte bevor im Rahmen der staatlichen Arbeiterversicherung unter bestimmten Bedingungen ein derartiger Antrag eine kärgliche Witwenunterstützung zur Folge haben kann,92 allerdings auch Jahrhunderte nach der erstmaligen Regelung der Witwen- und Waisenunterstützung für „Bediente“. Bevor nun diese Kasse (bei fortlaufend rationaler Gestaltung der Statuten) aufblühen oder auch scheitern kann (worauf die Obrigkeit hofft, damit 87 Zu den Statuten vgl.: Dowe, Dieter, Offermann, Toni (Hg.): Deutsche Handwerker- und Arbeiterkongresse...a.a.O. (=Anm. 78), 278 f., 280 ff.; ein Musterstatut für eine Krankenunterstützungs- und Sterbekassen-Gesellschaft der Verbrüderung findet sich ebenda, 285 ff.; vgl. mit weiteren Hinweisen zum Gesundheitspflegeverein: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 73), 15 f. 88 Vgl. dieselben, ebenda, 373 f.; vgl. auch: Offermann, Toni: Materialien zur Geschichte der Assoziation der Zigarrenarbeiter Deutschlands 1848 - 1851. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Heft 1/1986, 84 - 97, hier: 86. 89 Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 19. bis 25. August 1850; Dowe, Dieter, Offermann, Toni (Hg.): Deutsche Handwerker- und Arbeiterkongresse...a.a.O. (=Anm. 78), 382. 90 Vgl. die faksimilierte Wiedergabe dieses Protokolls bei: Offermann, Toni: Materialien...a.a.O.(=Anm. 88), 91 - 97. 91 Vgl. denselben, ebenda, 87. 92 Vgl. dazu: Dreher, Wolfgang: Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung in Deutschland nach z.T. unveröffentlichten Quellen. Berlin 1978, bes. 57 ff.
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sich derartige autonome ‘sozialistische’ Selbsthilfeversuche selbst diskreditieren), findet sie aufgrund polizeilicher Verfolgungen und Schikanen im Januar 1854 ihr Ende.93 Das Streben nach autonomer, versicherungsförmiger Bewältigung der Folgen von Krankheit, Unfall, Alter, Tod, aber auch: handwerklicher Wanderschaft, läßt sich vor allem auch noch bei den Buchdruckern nachweisen. Zu den Beschlüssen der Buchdruckerversammlung in Heidelberg am 23. April 1848 gehört, in jeder Stadt eine allgemeine Viatikums-, eine Kranken- und eine Invalidenkasse zu errichten.94 Der Beschluß Nr. 48, gefaßt auf der „National-Buchdrucker-Versammlung“ abgehalten zu Mainz vom 11. bis 14. Juni 1848 verlangt: „Es soll in der nächsten National-Buchdrucker-Versammlung ein Normalstatut für alle deutschen Buchdrucker-Kranken-, Invaliden-, Sterbe- und Wittwenkassen entworfen werden.“95 Dieser Beschluß wird noch auf derselben Versammlung dahin ergänzt und modifiziert, daß eine Versicherungspflicht ausgesprochen wird und eine Verrechnung bzw. Anerkennung der Ansprüche bei Wechsel des Vereins vorgesehen wird. Daran wird auch deutlich, daß das Kassenwesen kleinräumig geplant ist.96 Tatsächlich werden Grundzüge zu Statuten für die InvalidenKasse erarbeitet und schließlich findet sich - mit einer Einnahmen- und Ausgabenrechnung versehen - ein „Entwurf zum Statut der Bundes-Invalidenkasse.“97 Auch diese in der Reaktionszeit scheiternde Initiative, den unerbittlichen und inhumanen Zusammenhang von „Arbeit und Essen“ dadurch zu erweichen, daß für „alte und kranke Tage“ Zahlungen aus einem beitragsfinanzierten Geldfonds vorgesehen werden, läßt sich als Beleg lesen, in welchem Umfang zur damaligen Zeit die traditionelle, generationenalte Ordnung des Arbeitens und der Lebenssicherung eingestürzt ist. Die Initiativen zeigen darüber hinaus, wie früh auch die Arbeiterbewegung erkannt hat, daß es eines umfassenden Ansatzes „organisierter Wechselseitigkeit“ bedarf, um die Folgen der „Proletarität“ auf ein erträgliches Maß abzumildern.98 Sind auch die Schwächen dieser frühen „...Verteidigungsmaßnahmen gegen die uneingeschränkten Auswirkungen der (zunehmend, E.R.) kapitalistischen Lebenssituation des Proletariats“99 insbesondere, was die Möglichkeiten zum Risikoausgleich und zur rationalen Beitrags-Leistungskalkulation angeht, unübersehbar, so sind sie doch der preußischen Kassenpolitik „um Meilen“ voraus. Eine Regelung von Leistungsfragen, von Fragen des Umfangs des „Versicherungsschutzes“, der Alters- und Hinterbliebenenversicherung usw. geht dieser Politik damals noch weitgehend ab. Angesichts dieser inhaltlichen „Fehlstellen“ der preußischen Kassenpolitik wird der repressive Zug dieser „von oben“ ausgehenden Initiativen noch unübersehbarer. Das sozialpolitische, d.h. das „herrschaftliche“ Motiv, nicht das humanitäre, steht weit im Vordergrund und prägt sowohl den Inhalt als auch den Zeitpunkt dieser Projekte. Die „Botschaft“ dieser Politik lautet vor allem: finanzielle Selbsthilfe ja und möglichst viel, wenn nötig mit Zwang, aber keineswegs autonome Selbstverwaltung durch die Versicherten und ihre Organisationen. 93 Vgl.: Offermann Toni: Materialien...a.a.O. (=Anm. 88), 87. 94 Vgl.: Dowe, Dieter, Offermann, Toni (Hg.): Deutsche Handwerker- und Arbeiterkongresse...a.a.O. (=Anm. 78), 393 f. 95 Ebenda, 416. 96 Vgl. auch die: „Beschlüsse der ersten National-Buchdrucker-Versammlung zu Mainz...“, ebenda, 426; diese im Verbandsorgan publizierten Beschlüsse fassen im wesentlichen die Aussagen des Protokolls zusammen. 97 Vgl.ebenda, 449 f. 98 Vgl.: Ewald, Francois: Die Versicherungs-Gesellschaft. In: Kritische Justiz, 22(1989)4, 385 - 393, hier: 391. 99 So die auf die spätere Sozialpolitik angewendete und eben deshalb nicht unproblematische aber auf Selbsthilfeinitiativen durchaus passende Definition von Sozialpolitik bei: Croner, Fritz: Grundzüge freigewerkschaftlicher Sozialpolitik. Berlin 1930, 6 (im Original gesperrt); dabei wird von mir nicht übersehen, daß die damaligen Gewerbs- und Erwerbsverhältnisse und die daraus erwachsenden Lebensformen noch keineswegs „rein“ kapitalistisch sind.
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Hervorstechendes Merkmal des damals bestehenden ursprünglichen Kassenwesens in der Gestalt, die es durch die preußische Kassenpolitik erhalten hat, und markantes äußeres Merkmal des „Modernitätsrückstandes“ ist die kleinräumige Orientierung und die vorwiegend auf berufsgenossenschaftlicher Basis erfolgende Zersplitterung. Dieses „Geburtsmerkmal“, das bis in die spätere Sozialversicherung hinein fortwirkt, ist eine Folge der alten Handwerkskultur und der räumlichen und politischen Abgeschlossenheit der Siedlungsgebiete und Kommunikationsbeziehungen der „alten Zeit“.100 Weit entfernt von den kommenden Großorganisationen der „Massenversicherung“, etwa von den Landesversicherungsanstalten, den großen Krankenkassen, nähern sich die ursprünglichen Kassen teilweise „Größenordnungen“, die einen Risikoausgleich, den Vorteil jeder „wirklichen“ Versicherung, weitestgehend ausschließen. Sie streifen teilweise die Grenze zum kollektiven Sparen weniger, meist beruflich verbundener Menschen. Der Eindruck der Zersplitterung ergibt sich deutlich aus lokalen amtlichen Erhebungen, wie sie für westdeutsche Industrieorte für die Jahre ab 1855 vorliegen.101 Die Mitgliederzahlen der Kassen schwanken in der Zeit von 1855 bis 1858 zwischen einigen hundert bis unter hundert. Kassen mit mehr als 1.000 Mitgliedern sind große Ausnahmeerscheinungen, häufiger sind solche mit unter hundert Mitgliedern. Der Eindruck verstärkt sich durch die Ermittlung der durchschnittlichen „Kassenstärke“ anhand der allerdings erst für die 1860er und 1870er Jahre vorliegenden preußischen Statistik der gewerblichen Unterstützungskassen. Die Durchschnittsgröße aller Kassen überhaupt bewegt sich in den Jahren 1864 - 1874 (für 1869, 1871 und 1873 sind keine Daten überliefert) zwischen 136 und 163 Mitgliedern. Die reinen Fabrikarbeiterkassen sind deutlich größer. Ihre Durchschnittsmitgliederzahlen bewegen sich für den obigen Zeitraum zwischen 232 und 270, eine Folge der Ausdehnung und des teilweise schnellen Wachstums der Fabriken und Fabrikkassen dieser Zeit. Die Kassen für Handwerksgesellen und Gehilfen sind erwartungsgemäß bedeutend kleiner. Die durchschnittlichen Mitgliederzahlen schwanken zwischen 84 und 102. Die Durchschnittsgröße der gemeinsamen Kassen für Handwerksgesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter bewegt sich zwischen 238 und 307 Mitgliedern. Die kleinen, ausschließlich handwerklichen Kassen sind die zahlreichsten, gefolgt von den schnell an Zahl und Umfang zunehmenden reinen Fabrikarbeiterkassen. Relativ selten sind die gemeinsamen Kassen. 1864 bestehen erst 69, 1874 sind es 236 geworden.102 Alle Kassenarten zusammengerechnet ergibt sich unter Einbezug der Eckdaten der Finanzwirtschaft das folgende Bild der offiziell registrierten Kassen Preußens, das sich (durch die 1866 erfolgende Einverleibung neuer Gebiete im Zuge des preußischen Hegemonialstrebens) ab 1868 auf einen neuen, vergrößerten Gebietsbestand bezieht:
100 Vgl. dazu auch: Tennstedt, Florian: Die Errichtung von Krankenkassen in deutschen Städten nach dem Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. In: Zeitschrift für Sozialreform, 29(1983), 297 - 338, bes. 304 f. 101 Vgl.: STAMS, Regierung Arnsberg, Akten Nr. 1582ff.; erfaßt sind die Kassen der Kreise Altena, Arnsberg, Bochum, Brilon, Dortmund, Hagen, Hamm, Iserlohn, Menden, Hemer, Limburg, Lippstadt, Meschede, Siegen, Soest, Wittgenstein, Olpe, Laasphe, Neuenrade. 102 Einige statistische Daten finden sich auch bei: Reininghaus, Wilfried: Das erste staatlich beaufsichtigte System...a.a.O. (=Anm. 51), 280 f.; beachtenswert und die Kassen der selbständigen Gewerbetreibenden umfassend, auch die auf das Jahr 1864 bezogene Statistik zur Entwicklung der gewerblichen Unterstützungskassen in Preußen in: Preussisches Handelsarchiv, 1867, Bd. I, 432 - 435.
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Tabelle 1: Gewerbliche Unterstützungskassen in Preußen 1864-1874 Jahr
Zahl der Kassen
Zahl der Mitglieder
Jahresbeitrag der Gesellen
Jahresbeitrag der Arbeitgeber
Kassenvermögen
1864 1865 1866 1867 1868 1870 1872 1874
3.308 3.458 3.503 3.585 4.698 4.655 4.690 4.877
457.635 518.496 493.714 546.179 688.012 632.212 724.888 795.283
2.753.514 3.160.782 3.167.676 3.357.441 3.993.282 4.471.323 5.621.442 6.823.953
741.765 839.574 854.541 950.466 1.057.791 1.251.009 1.667.784 2.124.495
3.982 197 4.303 431 4.391 055 4.743 729 5.871 357 6.950 940 8.461 404 12.196 311
Quelle: Fischer, Wolfram, Krengel, Jochen, Wietog, Jutta: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Band I. Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes 1815-1870. München 1982, 208; Beitrags- und Vermögensangaben in Mark.
Die Kleinräumigkeit, die Zersplitterung, die fehlende „juristische Durchbildung“ durch einen die Verhältnisse vereinheitlichenden Gesetzgeber und die Tatsache, daß insgesamt auch diese Kassen „...ein lebendiges Spiegelbild der gesamten sozialen Entwicklung und ihrer Hauptkräfte...“103 sind, beinhalten, daß die Ausgestaltung dieser Einrichtungen höchst vielgestaltig ist, und daß sich diese Formenvielfalt leicht als wahrer „Friedhof“ für allzu einfache und einseitige Thesen erweist. Auch hier können nur einige Grundlinien gezeichnet werden, die die Bildung eines Eindrucks ermöglichen sollen. Die folgende Darstellung fußt wesentlich auf Material aus dem Rheinland, aus Westfalen und Lippe.104 Die Mitgliedschaft ist je nach Kassenart unterschiedlich geregelt und variiert selbst innerhalb einer Kassenart beträchtlich. Die stark expandierenden Fabrikkassen (pflicht-) versichern im allgemeinen alle in bestimmten Fabriken beschäftigten Arbeiter. Eventuell sind nur die „gesunden“ Arbeiter einbezogen. Mitunter werden die Arbeiterinnen als Pflichtmitglieder ausdrücklich mitbezeichnet.105 Es sind aber auch Kassen bekannt, bei denen Frauen ausgeschlossen sind. Das ist bemerkenswert. Die landesrechtlichen Bestimmungen über die „Unterstützungskassen für gewerbliche Arbeiter“, die von „Gewerbegehülfen, Gesellen, Fabrikarbeitern, Lehrlingen“ sprechen, bedienen sich einer Sprache, die offensichtlich zu Gunsten und zu Lasten der Frauen interpretiert werden kann. Ein weiteres Kriterium der Mitgliedschaft in einer Kasse kann die Wohnung oder der Aufenthalt am Ort sein. Ein bestimmter sehr eng bemessener Bereich des Umlandes kann hinzutreten.106 Es sind wohl neben den Fabrikkassen (hier erfolgt zusätzlich eine Selektion über die Einstellungspolitik der Betriebe) die 103 So allgemein auf die Versicherung bezogen: Tönnies, Ferdinand: Das Versicherungswesen in soziologischer Betrachtung. In: Derselbe: Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung. Jena 1926, 243 - 265, hier: 265. 104 Bei diesem Material handelt es sich um eine Fülle von Kassenstatuten aus den Beständen des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf und des Staatsarchivs Münster sowie um Arbeiten, die auf archivalische Studien zurückgehen. Über die Repräsentativität der Ausführungen können keine gesicherten Aussagen gemacht werden. Es handelt sich bei den folgenden Ausführungen um die Ausleuchtung des Möglichkeitsspielraumes damaliger Kassengestaltungen. Über die Alltagsrealität der Arbeit der damaligen Kassen ist wenig zu erfahren, insofern gehen die folgenden Ausführungen immer auch von der Annahme aus, daß diese sich wesentlich im Rahmen der Statuten bewegt hat. 105 Vgl. z.B. den § 2 des 1857 genehmigten „Statuts für die in den Fabriken des Hauses A.J. Berens zu Brachelen und Oberbruch zu errichtende Arbeiter-Unterstützungskasse“; HSTADdf. Regierung Aachen, Akte Nr. 7937. 106 Vgl. das „Reglement für die Krankenkasse der Fabrik-Arbeiter“ aus dem Jahre 1842 in: HSTADdf. Regierung Aachen, Akte Nr. 6790.
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allgemeinen Kassen, die die geringsten Anforderungen an die Mitgliedschaft stellen. Von ihnen werden auch Lohn erhaltende Lehrlinge erfaßt.107 Schließlich existieren auch Kassen, die Selbständige und abhängig Beschäftigte versichern. Beitrittspflichtigen darf die Aufnahme in Kassen nicht verwehrt werden. Gesellenladen nehmen nur Angehörige eines Handwerksberufes auf oder beschränken sich als „vereinigte Gesellenladen“ auf die Angehörigen bestimmter Berufe. Beschränkt ist „natürlich“ auch der Beitritt zu den Kassen, in denen sich Bürger, die zwar arbeiten, aber nicht „Arbeiter“ sein wollen, versichern108 und zu den Einrichtungen, die exklusiv selbständige Handwerksmeister bzw. selbständige Gewerbetreibende zu Risikogemeinschaften zusammenfassen.109 1864 bestehen für diesen Personenkreis immerhin 901 Kassen mit 152.636 Mitgliedern. Mitunter lassen sich Beispiele erheblicher „Risikoselektion“ und erheblicher moralischer Anforderungen an Beitrittswillige finden. So schreiben die Statuten der unter der Leitung eines Pfarrers zustandegekommenen „Kranken- und Sterbe-Auflage Friedrich Wilhelm Kronprinz von Preußen“ in Schöller, Bürgermeisterei Haan, aus dem Jahre 1838 vor, daß der Bewerber um eine Kassenmitgliedschaft „völlig gesund“ und zwischen 20 und 40 Jahre alt sein muß. Vorausgesetzt wird darüber hinaus „unbescholtener Ruf in jeder Hinsicht“. Besonders der „Hang zur Trunkenheit“ wird als Hindernis der Aufnahme in die Kasse angesehen: „Wer sich desselben nach der geschehenen Aufnahme ergibt, oder derjenige, der ein entehrendes Verbrechen begeht, wird aus der Liste der Mitglieder gestrichen und ist der gezahlten Beiträge verlustig.“ Der „Betrieb eines ehrbaren Gewerbes“ wird vorausgesetzt.110 „Unbescholtenheitskriterien“ finden sich als Selektionskriterien auch in den Statuten selbstorganisierter Arbeiter- und Gesellenkassen. Selbst bei allgemein zugänglichen Kassen können bestimmte Arbeiterkategorien ausgeschlossen sein. Das betrifft mehrfach Gesinde und Tagelöhner aber auch unfallgeneigt oder gesundheitsgefährlich beschäftigte Arbeiter, wie Bergleute (die allerdings eigene Kassen haben) und Personen, die z.B. in Bleiweißfabriken arbeiten.111 Das Statut der „Fabriken-Kranken- und Sterbe-Kasse“ zu Iserlohn dokumentiert ein weiteres Aufnahmekriterium, indem es eine untere Verdienstgrenze einführt, ab der die Versicherungspflicht beginnt.112 So ergibt sich eine große Anzahl von besonders bedürftigen aber aus dem Kassenwesen ausgeschlossenen Personen, zu denen ausdrücklich auch die alten Menschen zu zählen sind: In einem Alter von mehr als 50 Jahren muß es außerordentlich schwer gewesen sein, überhaupt noch eine bzw. eine noch finanziell erschwingliche Kassenmitgliedschaft zu erwerben.
107 Vgl. die „Statuten der gewerblichen Unterstützungskasse in Goch“ von 1856. HSTADdf. Regierung Düsseldorf, Akte Nr. 25203. 108 Vgl. das Statut der Bürger-Krankenkasse zu Iserlohn erwähnt von: Reininghaus, Wilfried: Die Statuten der Iserlohner „Kranken-Unterstützungs-Kasse“ von 1833 und 1841 als Quelle der Sozialgeschichte. In: Der Märker, 31(1982)1, 11 - 15, hier: 12. 109 Vgl. das „Statut für die Sterbekasse resp. des Vereins der selbständigen Handwerksmeister in Ibbenbüren“ aus dem Jahre 1869. STAMS. Kreis Tecklenburg. Landratsamt, Akte Nr. 244. 110 Vgl.: HSTADdf. Regierung Düsseldorf, Akte Nr. 25098; vgl. auch daselbst die Statuten der 1847 genehmigten „Sterbe-Lade zu Linn“, § 20. Ähnliche Vorschriften auch in den „Erneuerten Statuten der Kranken- und SterbeAuflage Friedrich Wilhelm in Elberfeld“ aus dem Jahre 1836, § 18; vgl. insgesamt auch: Reininghaus, Wilfried: Die Unterstützungskassen der Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter in Westfalen und Lippe (1800 - 1850). In: Westfälische Forschungen, 35(1985), 131 - 163, bes. 150 ff. 111 Vgl. die erneuerten Statuten...a.a.O.(=Anm. 110), § 18(6). 112 Vgl.: STAMS. Kreis Iserlohn. Landratsamt. Akte Nr. 638.
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Das Wissen darum, daß der, der die Lebenslage der Unterschichten „hebt“,113 auch Einfluß auf die Bewußtseinsinhalte dieser sozialen Schichten gewinnt und auf „Anhänglichkeiten“ bei denen rechnen kann, denen Hilfe gewährt wird, ist nicht nur bei den Sozialreformern und einigen Regierungsvertretern der damaligen Zeit vorhanden. Dieses Wissen und diese Erfahrung findet sich auch bei den Gesellen- und Arbeiterverbindungen und anderen „Assoziationen“. Bekannt ist desgleichen, daß soziale Gebilde, die sich mit helfenden und unterstützenden Organen in Form von ursprünglichen Versicherungseinrichtungen versehen, an „Zuspruch“ gewinnen. Bevor nun der Staat im Zuge seiner Umbildung zum „Sozialstaat“ von diesen Mechanismen in bedeutendem Umfang „Gebrauch macht“, sind sie selbstverständlicher Bestandteil der Selbsthilfebestrebungen der frühen (und der späteren) Arbeiterbewegung, die ihre Kassen eben auch zur Attraktivitätssteigerung der Organisation gründet, und dementsprechend auch nur den eigenen Mitgliedern öffnet. Für das System der Betriebs- bzw. Fabrikkassen sind diese Mechanismen ebenfalls eine konstitutive Grundlage. Die Verknüpfung von Vereins- und Kassenmitgliedschaft findet sich allerdings nicht nur bei der Arbeiterbewegung und nicht nur hier wird sie mit dem Ziel verbunden, auf die weltanschaulich-politische Einstellung der Kassenmitglieder Einfluß zu gewinnen. Vor allem aus dem Bereich der Arbeiterbildungsvereine und dem kirchlichen Sektor sind in offensichtlich erheblicher Zahl Kassen überliefert, die sich dem interessierten Gesellen bzw. Arbeiter nur öffnen, wenn er Vereinsmitglied ist bzw. wenn er gleichzeitig einer bestimmten Religion oder einem religiös inspirierten Gesellenverband angehört.114 Diese „Verknüpfungen“ haben von vornherein den Zweck, dem Klassenbildungsprozeß entgegenzuwirken. Die Finanzierung der ursprünglichen Kassen erfolgt - wie der obigen Tabelle zu entnehmen ist - wesentlich über regelmäßige Beitragseinnahmen von den Versicherten und durch laufende Zuschüsse der Arbeitgeber.115 Die Beiträge können für alle Versicherten gleich hoch sein, es ist aber auch eine Beitragsstaffelung etwa nach dem Familienstand oder dem Wochenverdienst oder nach Berufsklassen nachweisbar. Die Beiträge werden zum einen vom Lohn einbehalten oder sind beim Rendanten abzuliefern. Zum anderen ist nicht selten vorgesehen, daß sie ein „Cassirer“ in der Wohnung der Versicherten abholt. Zu den Beiträgen treten meist „Einschreibegelder“ und „Eintrittsgelder“ (die mit dem Lebensalter drastisch steigen), Gelder für die überreichten Statuten usw. hinzu, Zahlungen, die den Kassenbeitritt zu einem „teuren Vergnügen“ machen. Hinzu kommen auch besondere Umlagen bei Kassengründung oder „Schließung“ der Kasse, bis ein bestimmtes Grundkapital eingegangen ist. Einmalige Zuschüsse oder Startkapitalien von Fabrikherren sind nachweisbar.116 Häufig ist darüber hinaus 113 Der später in der politischen Diskussion sehr verbreitete Begriff der „Hebung“ wird vermutlich von Robert von Mohl in einer Schrift des Jahres 1835 erstmals verwendet; vgl.: Fischer, Klaus H.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990, 204. 114 Derartige, auf Verbreitung religiösen Sinns abstellende Kassen finden sich in: HSTADdf. Regierung Düsseldorf, Akte Nr. 25095; vermutlich erreichen derartige Strategien ihren Höhepunkt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; zahlreiche Statuten von Kassen aus dieser Zeit sind erhalten in: HSTADdf. Regierungs-Präsident zu Aachen, Akte Nr. 6640; vgl. zu den Kassen der Arbeiterbildungsvereine: Frevert, Ute: Krankheit...a.a.O.(=Anm. 38), 302 ff. 115 Vgl. auch: Reininghaus, Wilfried: Die Unterstützungskassen... a.a.O.(=Anm. 110), 149 f. 116 Zahlreiche Hinweise zum frühen Kassenwesen finden sich bei: Puppke, Ludwig: Sozialpolitik und soziale Anschauungen frühindustrieller Unternehmer in Rheinland-Westfalen. Köln 1966, 74 - 128; hier werden wesentlich archivalisch erhaltene Quellen zu einzelnen Kassen besprochen; vgl. auch: Die unter staatlicher Aufsicht stehenden gewerblichen Hülfskassen...a.a.O. (=Anm. 48), 17 ff.; auf zahlreiche verschiedene Einnahmearten weist z.B. hin, der § 7 der „Statuten des Unterstützungs-Vereins für Fabrik-Arbeiter in den Fabrikwerken der Herren Kissing & Möllmann in der Gemeinde Holzen“ von 1855. STAMS. Kreis Iserlohn. Landratsamt, Akte Nr. 636.
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zu erkennen, daß die Betriebskassen von stark disziplinierenden Fabrikordnungen insofern „profitieren“, als erhebliche Strafgelder als Folge undisziplinierten Verhaltens im Betrieb den Kassen zugeflossen sein müssen.117 Der Kasse zufließende Strafgelder werden häufig auch bei einem Verstoß gegen die Kassenstatuten fällig. Es ist kennzeichnend für das ursprüngliche Kassenwesen, daß viele Kassenstatute insbesondere bei kleinen Kassen existenznotwendige Möglichkeiten vorsehen, die Einnahmen und Ausgaben bei schwieriger Finanzlage umgehend „auszubalancieren“.118 Auch in diesem Punkt unterscheiden sie sich deutlich von der modernen, rationalen (Lebens-)Versicherung. So sieht z.B. die 1856 errichtete „Handwerkergesellen- und Fabrikarbeiter-Unterstützungskasse“ zu Cleve ein Verfahren zur Erhöhung der Beiträge bei „vermehrten Ausgaben“ vor.119 Es finden sich auch Ermächtigungen, die Beiträge beim Unterschreiten eines bestimmten „Cassa-Bestandes“ zu erhöhen oder bei schlechter Kassenlage die Leistungen herabzusetzen. Manche Leistungen werden nur unter dem Vorbehalt einer bestimmten Kassenlage oder der Ansammlung eines entsprechenden Reservefonds zugesagt. Trotz dieser „Vorsichtsmaßregeln“ bleiben „faule Bankrotts“ oder zumindest längerfristige Leistungseinstellungen nicht aus. Das buntscheckige, durch verschiedene Leistungsniveaus und Leistungsarten gekennzeichnete Kassenwesen, das sich nicht selten auch durch zu zahlreiche Neugründungen und Arbeitskräftefluktuationen an den Rand der Existenzfähigkeit bringt, birgt schon hierdurch zahlreiche Erschwernisse für die Versicherten. Ein Blick auf das Leistungsspektrum dieser ursprünglichen Kassen zeigt, daß diese nicht lediglich als Vorläufer der staatlichen Krankenversicherung zu interpretieren sind. Insgesamt lassen sich als Leistungsarten vor allem ausmachen: Sterbe- oder Begräbnisgeld, Geleitung der Leiche, Krankenwache, Krankengeld, Übernahme der Arzt- und Arzneikosten, Verpflegung in einer Herberge oder einem Hospital bzw. Krankenhaus und auch ähnlich den Planungen der frühen Arbeiterbewegung: Invaliden-, Witwen- und Waisenunterstützung. Auf eine Verbesserung der Lebenssituation der Frauen zielt auch die mitunter vorgesehene und knapp bemessene „Wöchnerinnenunterstützung“ für Versicherte, die unverheirateten Wöchnerinnen allerdings versagt werden kann. Zu finden ist auch ein Recht auf Weiterversicherung der Witwe in der Kasse des verstorbenen Mannes zu geringen Beiträgen und bei ebenso geringen Leistungen. Auch die Möglichkeit unter bestimmten Umständen bestimmte Unterstützungen auf „Familienmitglieder“ zu übertragen, ist bereits in den alten Kassenstatuten nachweisbar. Diese „schwachen“ Ansätze zur Berücksichtigung der Arbeiterfrauen und -familien im Rahmen des preußischen Kassenwesens hat natürlich wenig dazu beitragen können, zu verhindern, daß die Witwen und Waisen aus dem Kreis der „unselbständig Gewerbetreibenden“ zu den „Ärmsten der Armen“ der damaligen Zeit zählen. Mit Vorbehalten hinsichtlich der Vollständigkeit und Richtigkeit der Erhebung, läßt sich dem Kommentar der amtlichen preußischen Kassenstatistik entnehmen, wie sich die Leistungarten auf die Kassen verteilen: „Die Rege l bilden diejenigen Kassen, welche ihren Mitgliedern Kr ank enun ter s tüt z ung und S te rbeg e ld gewähren. Ihrer sind 3 714 Kassen mit 507 919 Mitgliedern. Einen be sch ränk te ren Unterstützungszweck haben im Ganzen 759 Kassen mit 76 491 Mitgliedern, und zwar beschränken sich 70 derselben mit 7 586 Mitgliedern auf die 117 Vgl. als Beispiel einer solchen drastischen Fabrikordnung das Reglement für die Fabrik-Arbeiter in der Neuenburgerschen Maschinen-Weberei zu Marklissa und Beerberg. In: Köllmann, Wolfgang, Reulecke, Jürgen (Hg.): Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen (unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1848 1858 in fünf Bänden). Band 1. Hagen 1980, 154 ff. 118 Vgl. den Hinweis bei: Reininghaus, Wilfried: Das erste staatlich beaufsichtigte System...a.a.O.(=Anm. 51), 284. 119 Vgl. den § 3 dieser Kasse. HSTADdf. Regierung Düsseldorf, Akte Nr. 25203.
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Gewährung von Sterbegeldern, während 699 Kassen mit 68 805 Mitgliedern Krankenunterstützung aber kein Sterbegeld gewähren. Erw e iter te Unterstützungszwecke haben 280 Kassen mit 192 103 Mitgliedern, indem sie neben den Krankenunterstützungen und Sterbegeldern noch sonstige Unterstützungen gewähren.“120 Gerade die sonstigen Unterstützungen, zu denen hauptsächlich Invalidenpensionen aber auch und seltener Witwen- und Waisenunterstützungen zählen, stehen bei den „multifunktionalen“ Kassen unter dem Vorbehalt der finanziellen Lage. Sie sind im allgemeinen, was die Höhe und die Art der Gewährung anbetrifft, als „Gnadenlöhne“ zu betrachten. Zudem ist die Berechtigung auf diese Leistungen von langjähriger Kassenzugehörigkeit abhängig und der Anspruch ist nicht selten unbestimmt formuliert. Wenn derartige Leistungen an alte und invalide Personen im Rahmen einer Fabrikkasse vorgesehen sind, stehen sie im Zusammenhang der Honorierung der Betriebstreue und „langjähriger Verdienste“ um die Firma. Zu erwähnen sind aber auch einige spezielle „Pensionskassen“, die auf bürgerliche Initiativen zurückgehen. Der auf Betreiben des Aachener Kaufmanns, Politikers und Publizisten David Justus Ludwig Hansemann (1790 - 1864) 1834 begründete „Aachener Verein zur Beförderung der Arbeisamkeit“121 umfaßt eine Arbeiter-Pensions-Kasse, die am 19. Januar 1852 die obrigkeitliche Genehmigung erhält.122 Eine Denkschrift mit dem Titel „Zur Frage der Hebung des Arbeiterstandes“ aus dem Jahre 1868123 erwähnt als Werke mit Einrichtungen, die den alleinigen Zweck der Invaliden-, Witwen- und Waisenunterstützung haben, den Hörder Verein, die Gesellschaften Neuschottland und Phönix, die Firmen Jacobi, Haniel, Huyssen, Fr. Krupp und der Vieille Montagne. Auch hier ist in den meisten Fällen die Höhe der Leistung von der jeweiligen Kassenlage abhängig und über 40jährige werden im allgemeinen nicht mehr in die Einrichtung aufgenommen. Ähnliche Bestrebungen gehen Anfang der 60er Jahre von den Arbeiterbildungsvereinen aus. Nicht selten versucht man hier private Versicherungs-Gesellschaften und Rentenbanken zu beteiligen.124 Auch ohne Beziehungen zu Arbeitervereinen versucht sich die private Lebensversicherung ein „neues Feld für die Assekuranz“ in Kreisen der Arbeiterschaft zu erschließen. Auf Betreiben der bürgerlichen Sozialreform wendet sich u.a. die Concordia mit einer „Altersversorgungsanstalt“ an die „Handarbeiter-Klassen“. Trotz deren „Billigkeit“ ist „...die Betheiligung, welche die Concordia für diese Versicherungsart gefunden hat, geradezu gleich Null geblieben.“ Ähnliche Erfahrungen muß die „Lebens-Versicherungs-ActienGesellschaft Nordstern“ machen.125 Darüber hinaus gründen die von den Vertretern der Fortschrittspartei, von Franz Duncker und Max Hirsch initiierten und in Konkurrenz zu den Freien Gewerkschaften stehenden wirtschaftsfriedlichen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine am 1. Juli 1869 eine Invalidenkasse der deutschen Gewerkvereine, die bald mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.126 120 Die unter staatlicher Aufsicht stehenden gewerblichen Hülfskassen...a.a.O.(=Anm. 48), VIII. 121 Vgl. zu diesem Verein und zur Person seines Gründers: Bergengruen, Alexander: David Hansemann. Berlin 1901; zum Verein, der finanziell mit dem Versicherungsgeschäft Hansemanns verknüpft ist: 69 ff. 122 Vgl.: HSTADdf. Regierung Aachen, Akte Nr. 6595, 238. 123 Vgl.: Zur Frage der Hebung des Arbeiterstandes. Denkschrift des aus den Kreisen Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund gebildeten Komités zur Gründung einer Altersversorgungskasse. Essen 1868, 4 f., erhalten im STAMS. Kreis Iserlohn. Landratsamt, Akte Nr. 638. 124 Vgl.: Wöllmer, Ferdinand: Die Invaliden-Pensionskassen und die Gesetzgebung. Berlin 1879, 2. 125 Vgl.: Gerkrath, F.: Zur Frage der Arbeiter-Versicherung. Berlin 1880, 16 ff. 126 Vgl.: Oppenheim, H.B.: Die Hülfs- und Versicherungskassen...a.a.O.(=Anm. 74), 25 f.; ihre finanziellen Grundlagen werden ebenfalls kritisch beurteilt von Rickert, Heinrich: Ueber die Leistungsfähigkeit der Deutschen Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit. Leipzig 1874.
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Insgesamt gesehen ergeben sich damit für Arbeiter und Handwerksgesellen sehr viel ungünstigere Bedingungen, als sie die Bergleute haben. Die Knappschaftskassen haben an ihre „meistberechtigten Mitglieder“ nach dem Knappschaftsgesetz vom 10. April 1854 mindestens zu gewähren: zusätzlich zu den üblichen Leistungen (wie: freie Kur und Arznei, Krankenlohn, Begräbniskostenzuschüsse) eine „lebenslängliche Invalidenunterstützung bei einer ohne grobes Verschulden eingetretenen Arbeitsunfähigkeit“, Witwenunterstützung und Waisengeld bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres.127 Sowohl die betrieblich, als auch die außerbetrieblich angesiedelten Kassen stehen in einem schreienden Gegensatz zur Arbeitskräftemobilität der damaligen Zeit und zum „Recht der Freizügigkeit“. Ein Ortswechsel, ein Beschäftigungs-, mitunter sogar ein Berufswechsel, Erscheinungen zu denen die entstehende kapitalistische Industriegesellschaft die Arbeiter „massenhaft“ veranlaßt, beinhalten im allgemeinen den Verlust der Beiträge und der Rechte gegenüber der Kasse. Von den „Arbeitsherren“ ist diese Erscheinung geradezu gewollt, erlaubt sie doch, geeignete Arbeitskräfte, die Träger von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen sein können, anzuziehen und an die Fabrik zu binden und zu disziplinieren.128 Jeder sozialromantischen Betrachtungsweise des ursprünglichen Kassenwesens widersprechen die durchgängig zu beobachtenden zahlreichen Leistungsausschlüsse und die Formen der Aussteuerung. Leichtere Krankheiten führen meist nicht zur Zahlung eines Krankengeldes. Wartezeitenregelungen sind verbreitet. Die Leistungen sind zeitlich begrenzt. Eine intensive Überwachung und Kontrolle der Kranken ist in den Statuten vorgesehen und gefordert. Entdeckte Mißbräuche ziehen eine Minderung oder den Wegfall der Leistungen und häufig auch Strafen nach sich. Bestimmte Krankheiten, wie Krätze und Syphilis, führen nicht zu Kassenleistungen. Geradezu stereotyp finden sich in den Statuten Hinweise wie: „Wer durch eigene Schuld, als durch Saufen, Schlägerei und sonstige schlechte Aufführung, sich eine Krankheit zu zieht, verliert seinen Anspruch auf Unterstützung.“129 „Selbstentleibung“ oder Tod in Folge einer „ungesetzlichen Handlung“ können zum selben Ergebnis führen. Es fehlt nicht der immer wiederholte Hinweis, daß den Anweisungen der Kassenverwaltung Folge zu leisten sei. Dem Arzt, dem ärztlichen Krankheitsbericht, dem Attest und dem Arztbesuch kommen schon in dieser Frühphase erhebliche Bedeutung für die Leistungserlangung und die Dauer des Leistungsbezuges zu.130 Leistungen, die sich bei niedrigen Löhnen und geringen Beiträgen meist auf einem Niveau bewegen, das knapp die Lebenserhaltung ermöglicht und die notwendigsten medizinischen Dienst- und Sachleistungen umfaßt, zeigen die Grenzen von Selbsthilfe-Projekten von oder für den „potentiellen Pauper“ der damaligen Zeit. Der Formenvielfalt des ursprünglichen Kassenwesens entspricht, daß die Verwaltung der Kassen höchst unterschiedlich ausgestaltet ist. Die Zusammensetzung der Kassenorgane variiert von der „reinen Selbstverwaltung“ durch die Versicherten bis zur Verwaltung durch Honoratioren, Betriebsunternehmer und ihre Vertreter bzw. Beauftragten und Kräfte der kommunalen Verwaltung. Auch in solchen Fällen ist der Mitbeteiligung „großjähriger und unbescholtener Arbeiter“ bzw. Gesellen und Gehilfen weitgehend Rechnung getragen. Aus der Beitragsregelung der preußischen Kassengesetzgebung wird auch der Schluß gezogen, daß ein Drittel der Sitze im Kassenvorstand den Arbeitgebern und zwei Drittel den Arbeitnehmern zukom127 Vgl. den § 3 des Knappschaftsgesetzes. 128 Vgl. mit weiteren Hinweisen: Offermann, Toni: Arbeiterbewegung...a.a.O.(=Anm. 72), 142. 129 Entnommen den „Statuten der gewerblichen Unterstützungskasse in Goch“. HSTADdf. Regierung Düsseldorf, Akte Nr. 25203. 130 Vgl. zusammenfassend: Reininghaus, Wilfried: Die Unterstützungskassen ...a.a.O.(=Anm. 110), 152 ff.
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men. Offiziell verlautet zur Zusammensetzung der Organe des (registrierten) Kassenwesens: „Sehr verbreitet ist die Verwaltung durch einen Vorstand, der zur Hälfte a u s und von den Arbeitgebern, zur anderen Hälfte au s und von den Arbeitnehmern gewählt wird.“131 Nicht „unbescholtene“ und „unehrenhafte“ Kassenmitglieder verlieren typischerweise ihr Stimmrecht und können auch keine Funktionen in der Selbstverwaltung ausüben. Kleine Kassen kommen, was die Ausführung der laufenden Geschäfte anbetrifft, mit einer „Einmannverwaltung“ aus. Einige Fabrikarbeiterkassen, „...namentlich wenn sie erweiterte Unterstützungszwecke verfolgen...“, sind nach dem Muster oder ähnlich den Knappschaftskassen organisiert.132 Nicht immer ist die sich noch überwiegend im Bereich der „Ehrenamtlichkeit“ bewegende Verwaltungstätigkeit, insbesondere auch der Krankenbesuch, die Beitragserhebung, der Umgang mit Haupt- und Kassenbuch auf Gegenliebe gestoßen. Das kann man aus den zahlreichen Statutenbestimmungen entnehmen, die einen Zwang zur Annahme solcher „Ämter“ aussprechen. Auch die Tätigkeit in den Organen ist nicht immer auf ein entsprechendes Engagement gestoßen. Es ist eine Bekanntmachung des Iserlohner Magistrats vom 25. August 1855 erhalten. Diese setzt für die Wahl der Vorstands-Mitglieder der allgemeinen Kranken- und Sterbekasse der Fabrikarbeiter, der Gesellenlade der Schneider, Posamentierer und Knopfmacher, Hutmacher, Perückenmacher, Weber und Wirker, Tuchmacher und Tuchbereiter, Seiler und Reifschläger, Bürstenbinder, Korbflechter und Töpfner und zwei weitere „Gesellenladen“ einen Termin fest. Angedroht wird gleichzeitig für den Fall, daß die Wahlen nicht vollzogen oder nicht angenommen werden, daß der Magistrat selbst auf Kosten der Kassen die Verwaltung übernehmen werde. Offensichtlich hat es derartige „Kalamitäten“ in Iserlohn, einem der wichtigsten Industriezentren des Westfalens der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schon vor 1855 zumindest einmal gegeben.133
4.3 Die Konstituierung der Sozialdemokratie und die Neubelebung der Gewerkschaftsbewegung als Rahmenbedingung sozialpolitischer Entwicklung 4.3 Die Konstituierung der Sozialdemokratie Die Verabschiedung und Durchsetzung des „Gesetz, betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen“ vom 3. April 1854 steht am Beginn einer bis in die Mitte der 70er Jahre dauernden Stagnation der Kassengesetzgebung. Gleichwohl handelt es sich um einen Zeitraum, der für die Kassen- bzw. Arbeiterversicherungspolitik bedeutende Rahmenbedingungen setzt. Das „stille Wirken“ des „kapitalistischen Geistes“ hinterläßt in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts im Verein mit dem Bevölkerungswachstum und der Binnenwanderung bereits tiefe Spuren in der Sozialstruktur, im Leben und den Mentalitäten der damaligen Menschen134 sowie in der „äußeren Physiognomie“ der Städte, Gemeinden und Landschaften. In regional sehr unterschiedlicher Weise setzt ein gewaltiger Urbanisierungsprozeß ein und bedingt für diese Gebiete einen zunehmenden Bedeutungsverlust vorindustriell-ländlicher Existenzformen. Neue Städte entstehen, kleine, bislang „stagnierende“ Ackerbürger-, Handwerker- und Handelsstädtchen vervielfachen innerhalb weniger Jahrzehnte ihre Einwohnerzah131 Die unter staatlicher Aufsicht stehenden gewerblichen Hülfskassen...a.a.O.(=Anm. 48), XIII. 132 Vgl. ebenda, XIII f. 133 Vgl.: STAMS, Kreis Iserlohn. Landratsamt, Akte Nr. 636. 134 Recht instruktiv hierzu die schematische Darstellung und Gegenüberstellung von „ständischer“ und „Industriegesellschaft“ bei: Borsdorf, Ulrich (Hg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Köln 1987, 74.
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len, wenn sie im Gravitationsfeld der industriellen Entwicklung liegen, etwa im Ruhrgebiet, in bestimmten Teilen Sachsens oder in Oberschlesien. Notdürftig mit Wohnraum „versorgte“ Arbeitermassen bislang ungekannten Ausmaßes ballen sich in diesen unförmig wuchernden, „anarchischen“ Siedlungsgebieten. Die städtische gewinnt gegenüber der ländlichen Bevölkerung ständig an Gewicht.135 Mit Beginn der Prinzregentschaft Wilhelms, seit 1861 König Wilhelm I., vollzieht die preußische Monarchie eine Abkehr vom Willkürregiment der Reaktionszeit. Die Aktionsbedingungen der Arbeiterbewegung Preußens verbessern sich. Es wird eine neue Regierung gebildet, die sich aus gemäßigt konservativen und gemäßigt liberalen Ministern zusammensetzt und die auf gewerblich-innenpolitischem Gebiet eine Politik vorsichtiger Zugeständnisse an das liberale Bürgertum verfolgt. Aus den Wahlen des Jahres 1858 geht, dank des „plutokratischen“ Wahlrechts, die liberale Fraktion als stärkste des neuen Abgeordnetenhauses hervor. Unter diesen Bedingungen setzt mit dem Jahr 1860 eine sich über ein Jahrzehnt hinziehende Diskussion um eine Liberalisierung des Gewerberechts ein, deren Ziel eine Reform der Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 und der ergänzenden Vorschriften ist. Die Diskussion berührt zwangsläufig die bisherige Kassenpolitik Preußens und nimmt Anstoß an den Zwangselementen, insbesondere am § 3 des Gesetzes vom 3. April 1854 mit seiner Befugnisübertragung an die Regierung. Die mit der Entwicklung des „Manchestertums“ einhergehende Diskussion für „Freiheit“, „Fortschritt“, „freiwillige Selbsttätigkeit“ auf dem Gebiete der Sozialpolitik und gegen „zunftreaktionäre Sündenfälle“, „bureaukratischen Socialismus“ hätte durchaus eine Chance auch für arbeiterselbstverwaltete Kassen geboten. Die Regierung, Konservative und die katholische Fraktion halten jedoch an der überkommenen, wesentlich herrschaftstechnisch begründeten Gesetzgebung fest.136 Von perspektivisch hervorragender Bedeutung ist zu dieser Zeit die Tatsache, daß sich vor dem Hintergrund einer gewaltigen Zunahme der Arbeiter137 in den 1860er Jahren Gewerkschaften neu gründen bzw. wieder beleben, stärken und zentralisieren und daß sich in der Arbeiterbewegung eine parteipolitische Komponente ausbildet. Ausgehend und in Abrenzung von der weitgehend bürgerlich-liberal beeinflußten Arbeiter(bildungs)vereinsbewegung138 und den rein wirtschaftlichen Selbsthilfeprojekten im Umkreis der Aktivitäten von Hermann Schulze aus Delitzsch (Preußen),139 gründet sich 1863 der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ (ADAV) unter der Führung von Ferdinand Lassalle. Aus der nicht zu Lassalle übergehenden Arbeiterbildungsbewegung stammt auch August Bebel. Im Jahre 1867 übernimmt er das Präsidium des „Vereinstags“, des organisatorischen Zusammenschlusses der (verbliebenen) Arbeitervereine. 1868 setzt er dort die Annahme des Programms der „Internationalen Arbeiterassoziation“, der „rothen Internationale“, wie sie von den Gegnern auch genannt wird, durch. Auf dieser Basis gründet er mit Wilhelm Liebknecht und einigen „abtrünnigen“ Lassal-
135 Vgl. als Überblick mit weiterführender Literatur: Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. Frankfurt a.M. 1985, bes. 36 ff. 136 Die Aspekte dieser Diskussion sind wiedergegeben bei: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage...a.a.O. (=Anm. 54), 111 ff., 177 ff. 137 Vgl.: Köllmann, Wolfgang: Politische und soziale Entwicklung der Deutschen Arbeiterschaft 1850 - 1914. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 50(1963), 481 - 504, hier: 481; vgl. auch die Statistiken in: Hoffmann, W.G.: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin, Heidelberg, New York 1965, 171 - 214. 138 Vgl. dazu: Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 9. Aufl. 1979, 61 f. 139 Vgl. zu ihm und seinen Vorstellungen: Offermann, Toni: Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum...a.a.O. (=Anm. 72), 206 ff.
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leanern im Jahre 1869 in Eisenach die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“.140 Die Gewerkschafts- und Parteibildungsprozesse zeigen deutlich die Beschleunigung einer Entwicklung an, die sich schon im Vormärz und während der Revolution gezeigt hatte und in der „Reaktionszeit“ fortgeschritten ist: die „Trennung“ oder auch „Entmischung“ von bürgerlichen und proletarischen Interessen und Organisationen,141 ein komplexer und vielfach gebrochener Prozeß. Hinzu tritt eine sich fortsetzende Frontstellung gegen die Politik des damaligen Staates auf dem Gebiet der „Arbeiterfrage“. Diese Entwicklung äußert sich unter anderem auf dem Fünften Vereinstag Deutscher Arbeitervereine, der vom 5. bis 7. September 1868 in Nürnberg abgehalten wird. Auf diesem Vereinstag wird, wie in der Arbeiterbewegung der Revolutionszeit, das Projekt einer Altersversicherung erörtert. Der Vereinstag, der zuvor ein Gutachten zu dieser Frage hat ausarbeiten lassen,142 diskutiert über die Frage einer Staatsgarantie für die Altersversicherung. Dieser Gedanke verfällt jedoch der Ablehnung. In einem Beschluß wird das damit begründet, daß das „...Anheimgeben der Verwaltung einer allgemeinen Altersversorgungskasse für Arbeiter an den bestehenden Staat den Arbeiter unbewußt zu einem konservativen Interesse an die bestehenden Staatsformen bringt, denen er keineswegs Vertrauen schenken kann...“143 Statt dessen stellt sich der „Vereinstag“ auf den Standpunkt der Selbsthilfe. Diese Stellungnahme spiegelt neben dem Mißtrauen gegenüber staatlichen Maßnahmen eine tiefe Einsicht in sozialpolitische Zusammenhänge wider. Direkt auf die Kassen bezogen empfiehlt der „Vereinstag“ durch Deputierte des Ortes ein „Collegium“ zu bilden, das eine gute Organisation der Kassen, volle Selbstverwaltung, Vereinigung derselben nach Gewerken in Verbänden, die Besprechung der Kasseninteressen in einem geeigneten Organ, Freizügigkeit innerhalb der Gewerkskassen, bankmäßige Bewirtschaftung des Kassenvermögens und Neugründungen anstreben solle.144 Das Programm der Eisenacher Arbeiterpartei zielt unter anderem auf die Erkämpfung politischer Freiheit, auf wirksame und durchgreifende Demokratisierung durch Wahlrechtsreform und Beteiligung an Wahlen, auf sozialistische Gesellschaftsumgestaltung, die Abschaffung von Diskriminierungen und Freiheitsbeschränkungen. Ähnlich wie in den Grundsätzen des ADAV, die im sog. „Offenen Antwortschreiben“ Lassalles vom 1. März 1863 niedergelegt sind, wird darüber hinaus eine staatliche Unterstützung von Genossenschaften gefordert.145 Während sich das Programm der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ aller Aussagen zur Kassenfrage enthält, werden die „Sparkassen, Invaliden-, Hilfs- und Krankenkassen“ im „Offenen Antwortschreiben“146 Lassalles, der programmatischen Grundlage des ADAV, in ihrer Bedeutung stark abgewertet. Er „...erkenne gern den relativen, obwohl äußerst unterge140 Vgl.: Grebing, Helga: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 138), 65. 141 So: Tenfelde, Klaus: Die Entstehung der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Vom Vormärz bis zum Ende des Sozialistengesetzes. In: Borsdorf, Ulrich (Hg.): Geschichte... a.a.O.(=Anm. 134), 15 - 165, hier: 101 f. 142 Rodenstein, Marianne: Arbeiterselbsthilfe, Arbeiterselbstverwaltung und staatliche Krankenversicherungspolitik in Deutschland. In: Starnberger Studien 2. Guldimann, Tim u.a.: Sozialpolitik als soziale Kontrolle. Frankfurt a.M. 1978, 113 - 180, hier: 136. 143 Vgl.: Bericht über den Fünften Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine am 5., 6. und 7. September 1868 zu Nürnberg. Leipzig o.J., 26. 144 Vgl. ebenda, 26 f. 145 Das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, beschlossen in Eisenach 1869 findet sich u.a. in: Abendroth, Wolfgang: Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie. Vierte, erweiterte Auflage. Köln 1978, 105 f. 146 Das „Offene Antwortschreiben“ wird hier zitiert nach: Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Beratung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand Lassalle. In: Programme der deutschen Sozialdemokratie. Bonn o.J., 25 - 62.
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ordneten und kaum der Rede werten Nutzen dieser Institute an.“ In seinem „Antwortschreiben“, das in seiner Auseinandersetzung mit der preußischen Fortschrittspartei und SchulzeDelitzsch die Zeitumstände der Herausbildung der politischen Arbeiterbewegung spiegelt, werden sie lediglich als „ganz angemessene Mittel“ betrachtet, „...das Elend von Arbeiterindividuen erträglicher zu machen.“ In scharfer Abgrenzung zu den wirtschaftlichen Selbsthilfeprojekten von Schulze-Delitzsch (Kredit-, Vorschuß-, Rohstoff-, Konsumvereine), dem er vorwirft, daß seine Maßnahmen ebensowenig wie die Kassen eine Verbesserung der Lage des „Arbeiterstandes“ bewirken können, fordert Lassalle, den „Arbeiterstand“ zu seinem „eigenen Unternehmer“ zu machen. Hierzu sei Staatshilfe nötig, nur so sei das „eherne Lohngesetz“ zu brechen. Dieses „Gesetz“, damals in weiten Kreisen der ökonomischen Wissenschaft vertreten, besagt, daß unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigsten Lebensunterhalt reduziert werde, „...der in einem Volke gewohnheitsgemäß zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist.“147 Durch eigene Unternehmen des „Arbeiterstandes“ falle eine Unterscheidung zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn fort, an die Stelle des Lohnes könne die „Vergeltung der Arbeit: der Arbeitsertrag“ treten. Die zu diesem Zwecke nötige Staatshilfe, die „Intervention zugunsten der notleidenden Klassen“, die das „eherne“, das „grausame“ Lohngesetz bannen soll, kann nur, so Lassalle, durch das „allgemeine und direkte Wahlrecht“ erzwungen werden. Nur dann, wenn die „gesetzgebenden Körperschaften“ aus diesem Wahlrecht hervorgingen, „...werden sie den Staat bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen.“148 Das „allgemeine und direkte Wahlrecht“, für das es massenhaft zu agitieren gelte, erlangt damit den Rang einer Grundvoraussetzung zur Verbesserung der „materiellen Lage des Arbeiterstandes“.149 Die Wahlrechtsfrage war allerdings schon Gegenstand von Forderungen von Arbeiterorganisationen an Regierung und Fortschrittspartei bevor Lassalle ihr dieses theoretische Gewicht verlieh. Zu den noch aus den Arbeiterbildungsvereinen und der erstarkenden Gewerkschaftsbewegung erwachsenden Forderungen der frühen 60er Jahre gehört darüber hinaus zentral die Koalitionsfreiheit.150 Die Formierung der politischen Arbeiterbewegung, die Entwicklung der Gewerkschaften, die Erhebung dieser Forderungen fallen in eine Phase der Modifizierung und „Anreicherung“ der Herrschaftsmethoden. Die Objekte der späteren reichsdeutschen Sozialpolitik, die Arbeiter, werden, wie schon vorher die Handwerker, in ihrer Eigenschaft als mögliche Wähler erkannt und durch die „Berücksichtigung“ von bestimmten Forderungen umworben.151 So findet die Arbeiterforderung nach Koalitionsfreiheit in verschiedener Form bald in allen Fraktionen des preußischen Abgeordnetenhauses Resonanz. Die allgemeinpolitische Situation verstärkt diese Entwicklung. „Der preußische Verfassungskonflikt mit seinen harten Parteikämpfen hat den Wettlauf der Parteien um die Arbeiterschaft mächtig vorangetrieben.“152 Der Verfassungskonflikt, die große Auseinandersetzung um die Ausdehnung und Stellung des „militärisch-aristokratischen Moments“ bringt zudem Otto von Bismarck auf die Bühne der 147 So die Formulierung bei: Damaschke, Adolf: Geschichte der Nationalökonomie. Eine Einführung. 5., durchgesehene Auflage. Jena 1911, 409 f. 148 Offenes Antwortschreiben...a.a.O.(=Anm. 146), 59 f. 149 Vgl. ebenda, 60. 150 Vgl.: Peschke, Paul: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 79), 157 ff. 151 Vgl.: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage...a.a.O. (=Anm. 54), 137. 152 Born, Karl Erich: Sozialpolitische Probleme und Bestrebungen in Deutschland von 1848 bis zur Bismarckschen Sozialgesetzgebung. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 46 (1959), 29 - 44, hier: 36.
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großen Politik. Die Fortschrittspartei versucht durch Arbeitervereine und die Aktivitäten von Schulze-Delitzsch politischen Einfluß zu gewinnen, gegen die Regierung, wie der seit dem 23. September 1862 als preußischer Ministerpräsident fungierende Bismarck vermutet.153 Vor dem Hintergrund dieser Erscheinungen wird deutlich, wie einschneidend sich die politische Situation bereits verändert hat. Die neukonstituierte Arbeiterbewegung ist in dieser Phase der Gesellschaftsentwicklung einmal eine Reformen und tiefgreifende ökonomischpolitische Umgestaltungen fordernde Kraft. In dieser Rolle ist sie, wie die ältere Bewegung der Arbeiter und Handwerker, ein Indikator sozialer Spannungen und „Mittler“ von Arbeiterwünschen und -bedürfnissen. Sie kann zur damaligen Zeit aber kaum als reale Bedrohung der bestehenden politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse angesehen werden. Zum anderen sind die Arbeiterbewegung und vor allem die weitaus zahlreicheren Arbeiter mit ihrer Entdeckung als Wähler Gegenstand parteipolitischer Kalküle geworden. Der „Einbruch der Massen“ in die Politik, seit der Französichen Revolution unübersehbarer Tatbestand, hat damit eine spezifisch „moderne“ Ausprägung erfahren. Genau in diesen Zusammenhang sind auch die ersten bemerkenswerten sozialpolitischen Aktivitäten Bismarcks zu stellen. Es handelt sich um episodische, von „außen“ bzw. von seinen Mitarbeitern inspirierte Vorstöße. Mit Blick vor allem auf die ländlichen Arbeiter, die er für monarchisch gesinnt bzw. beeinflußbar hält, kritisiert er das Dreiklassenwahlrecht, weil es den Einfluß des Liberalismus verstärkt und nur „übelgesinnte und voreingenommene Bürokraten und Pedanten“ ins Abgeordnetenhaus bringe.154 Es bleibt jedoch nicht bei diesem einen „Projekt“. Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist in dieser Situation das Wirken von Bismarcks Freund und Berater Hermann Wagener (1815-1889). Er erkennt vom konservativen Standpunkt aus geradezu „seherisch“, daß die „Arbeiterfrage“ das große innenpolitische Problem der Zukunft darstellen wird und fordert sozialpolitische Interventionen, bis er zu Beginn der 1870er Jahre entmachtet wird und andere Kräfte den sozialpolitischen Kurs bestimmen. Während des großen Konfliktes über Heer und Verfassung, eines der epochalen Ereignisse zwischen der Revolution von 1848/49 und der Reichsgründung, verbindet ihn mit Bismarck eine Gegnerschaft gegen Bourgeoisie und Liberalismus. Bismarck, Preuße, Machtund Außenpolitiker aus Leidenschaft, ohne Berührungsängste und ideologische Hemmungen im Schmieden politischer Kalküle, „radikalen“ Mitteln nicht abgeneigt und die neuen Bewegungen und Kräfte durchaus wahrnehmend, räumt seinem Berater und Fachmann für „soziale Fragen“ einen erheblichen Spielraum ein. Nicht nur die Idee der Einführung des allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechts wird von ihm verfochten. Darüber hinaus ist es Wageners Rat, der dazu führt, daß Bismarck 1864 - an den Ressortministern vorbei - schlesischen Webern eine Audienz bei dem Preußenkönig Wilhelm I. verschafft und erreicht, daß den Webern ein königliches Startkapital für eine Produktivgenossenschaft zugewendet wird. Diese „Wagenersche Inszenierung“, in die auch Ferdinand Lassalle einbezogen ist, der um diese Zeit einige Gespräche über ‘soziales Königstum’ und verwandte Fragen mit Bismarck führt, endet allerdings in gut einem Jahr in einem Konkurs. Den politischen Schaden dieser Aktion hatte Bismarck skeptisch-vorausschauend dadurch begrenzt, daß er den König bewog, Privatmittel
153 Vgl.: Hunkel, Ernst: Fürst Bismarck und die Arbeiterversicherung. Erlangen 1909 (Diss. phil.), 16. 154 Vgl.: Born, Karl Erich: Sozialpolitische Probleme... a.a.O.(=Anm. 152), 34.
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Die Konstituierung der Sozialdemokratie
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zur Verfügung zu stellen, so daß die gescheiterte Sache nun als „königliche Privatwohltätigkeit“ der politischen Arena entzogen werden kann.155 Auch das Verdienst der Forcierung der Idee der Aufhebung des Koalitationsverbotes als Maßnahme der Schaffung eines Gegengewichts zum Liberalismus gebührt Hermann Wagener und Bismarcks Geheimsekretär Karl Ludwig Zitelmann, nicht also dem dafür zuständigen Ressort. Überhaupt ist das sozialpolitische Verständnis und die sozialpolitische Einsicht bei Mitarbeitern der Bürokratie teilweise recht gering entwickelt.156 Von Bismarck mit mehr Konsequenz als die Assoziationsidee verfolgt und von Wagener (und Bismarck)157 als Strategie zur Inkorporation der Bewegung des „Vierten Standes“ in den monarchischen Staat gedacht und umschrieben, wird die Koalitionsfreiheit diskutiert und später nach langwierigen Auseinandersetzungen in eingeschränkter Form verwirklicht.158 Die Sozialpolitik der „Konfliktzeit“ soll so letztlich den Zielen der altpreußischen Militärmonarchie dienen. Sie soll mit ihrer antiliberalen Stoßrichtung dazu beitragen, daß das Fundament der Macht der Monarchie, das Heer, unabhängig gehalten wird von den im Parlament repräsentierten Kräften des Bürgertums. Durch Sozialpolitik soll zu dieser Zeit also die Herrschaft der Aristokratie gefestigt und zugleich verhindert werden, daß sich die sozialstrukturellen und interessenbezogenen Folgen der explosiven Industrialisierung im politischadministrativen System entsprechend niederschlagen, oder „positiv“ formuliert: Er (Bismarck) will das „Gute“ der kapitalistischen Entwicklung, die Produktion immenser Reichtümer und von daher auch eine Stärkung der Staatsmacht, ohne den Beigeschmack des „Schlechten“, d.h. ohne den „ungebührlichen“ Einfluß des damals noch mißliebigen liberalen Bürgertums. Zusätzliche Anregungen zu einer so ausgesprochen herrschafts- bzw. wahltaktischen (d.h. typisch sozialpolitischen) Herangehensweise an die „soziale Frage“ erhält Bismarck zu dieser Zeit aus Frankreich. Dort stützt Napoleon III. seine Herrschaft auf ein „geschickt manipuliertes“ allgemeines und gleiches Wahlrecht „...mit dessen Hilfe er das liberale Bürgertum durch die Masse der Landbevölkerung majorisierte.“ 1864 hebt Napoleon III. das Koalitionsverbot des Code pénal auf, „...um die Sympathien der städtischen Arbeiterschaft gegen die liberalen Unternehmer zu gewinnen.“159 Der Ministerpräsident Preußens läßt sich über die Botschaft über die Auswirkungen dieses Schrittes berichten. Auch Napoleon III. leistet Staatszuschüsse an Genossenschaften. Weniger durch Napoleons mit dem Gesetz vom 18. Juni 1850 ins Leben tretende „Alterskasse“, als vielmehr durch Initiativen seiner Mitarbeiter und durch deutsche Vorbilder und Vorstöße bedingt, interessiert sich Bismarck bereits in dieser 155 Vgl. dazu grundlegend den von Florian Tennstedt, Heidi Winter unter Mitarbeit von Wolfgang Ayass und KarlHeinz Nickel bearbeiteten Band: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. I. Abteilung. 1. Band. Stuttgart, Jena, New York 1994, XXIff.; in dieser Quellensammlung finden sich zahlreiche Aktenstücke zur Sozialpolitik der „Konfliktzeit“. 156 Vgl. ebenda, XXIV f. 157 Vgl. Born, Karl Erich: Sozialpolitische Probleme...a.a.O.(=Anm. 152), 40. Vgl. zu weiteren Erwägungen und Details: Poschinger, Heinrich von: Fürst Bismarck und die Arbeiterfrage von 1870. In: Die Arbeiter-Versorgung, 27(1910)5, 91 - 94.; bei der Rezeption von Quellen, veröffentlicht von Bismarcks „Haus- und Hofhistoriographen“ Heinrich Ritter von Poschinger, ist allerdings zu beachten, daß Bismarck selbst durch Vorauswahl und Zensur des Materials und auf andere Weise Einfluß genommen hat, daß der Wert dieser Quellen mithin „fragwürdig“ ist; eine kleine „Arbeitsprobe“ Bismarckscher „Quellenbearbeitung“ findet sich im Westfälischen Wirtschaftsarchiv Dortmund, N 7/36. 158 Vgl.: Winter, Heidi, Tennstedt, Florian (Bearb.):Quellensammlung...I. Abteilung. 1. Band...a.a.O.(=Anm. 155), XXV. 159 Poschinger, Heinrich von: Fürst Bismarck...a.a.O.(=Anm. 157), 39.
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„Konfliktzeit“ für „Altersversorgungsanstalten“.160 Am 18. März 1863 bittet Bismarck in einem Schreiben den Minister des Innern um eine Stellungnahme zur Errichtung von Altersversorgungsanstalten, die allerdings zurückhaltend ausfällt.161 Im April 1866 läßt er den Berliner Privatdozenten Eugen Dühring ersuchen, u.a. eine Denkschrift über die Möglichkeit der Staatshilfe für Arbeiter zu erstellen.162 Diese Aktivitäten, die so eng mit herrschaftsstrategischen Überlegungen zusammenhängen, kündigen Verbesserungen der Bewegungsfreiheit und der Einflußmöglichkeiten für die Arbeiterbewegung als politische und soziale Kraft an, sie führen aber nicht zu einer Beendigung der Phase der Stagnation der Kassengesetzgebung. Dazu trägt auch bei, daß wesentliche politisch-administrative Kräfte durch die Kriegführung der damaligen Zeit und durch entsprechende außenpolitische Aktivitäten gebunden sind.
4.4 Die Arbeiter- und Kassenpolitik im Norddeutschen Bund Nach dem „Deutschen Krieg“ von 1866 wird bei stärkstem hegemonialen Übergewicht Preußens der Norddeutsche Bund gegründet. Tatsächlich führen nun die Aktivitäten der Arbeiterbewegung, die (Parteien-)Konkurrenz um die „Führung der Massen“, der Hintersinn Bismarcks, durch staatliche Sozialpolitik und verändertes Wahlrecht die parlamentarische Führungsposition des liberalen Bürgertums anzugreifen, zu bedeutsamen politischen Veränderungen. Der Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes enthält bereits das allgemeine, gleiche und direkte (Männer-)Wahlrecht. Die Liberalen, die zu Recht vermuten, daß dieses Wahlrecht ein Mittel der Regierung zur Wahlbeeinflussung sein soll, trotzen Bismarck das mit „äußerstem Zögern“ zugestandene Wahlgeheimnis ab,163 wobei er meint, „...die Heimlichkeit der Wahl stehe im Widerspruch zu den besten Eigenschaften des germanischen Blutes.“164 Dieses Wahlrecht findet sich schließlich auch in der endgültigen, am 1.Juli 1867 in Kraft tretenden Verfassung des Norddeutschen Bundes. Während in Preußen das Dreiklassenwahlrecht fortbesteht, ist hiermit auch eine (Vor-)Entscheidung für das spätere Deutsche Reich getroffen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß die Wahlrechtspraxis dieser Jahre den Rechtsnormen nicht immer genügt.165 Das neue Wahlrecht, erlassen als „Mittel im Dienste höherer Zwecke“, d.h. zugestanden aus sozialpolitischer Motivierung, führt schon auf kurze Sicht nicht zum beabsichtigten Ziel. Während der „Deutsche Krieg“ und die Gründung des Bundes zu mancherlei „willkommenen“ Veränderungen in der Politik und der Parteienlandschaft beitragen (vor allem zur Gründung der Nationalliberalen Partei), kommt es zu einer Entwicklung, die insbesondere später in erheblichem Maße vom allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht profitiert: Im Norddeutschen Reichstag, dem u.a. die Zuständigkeit für die Gewerbe- und damit für die 160 Zu den Zeitumständen in Frankreich vgl.: Saint-Jours, Yves: Landesbericht Frankreich. In: Köhler, Peter A., Zacher, Hans F.(Hg.): Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz. Berlin 1981, 187 - 267, hier: 200 f. 161 Vgl: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O. (=Anm. 20), 48; vgl. zu diesem Schreiben und der Reaktion: Winter, Heidi, Tennstedt, Florian (Bearb.): Quellensammlung…I. Abteilung. 1. Band...a.a.O.(=Anm. 155), Dok. Nr. 4, 10; dort auch weitere Aktenstücke zur Frage der Altersversorgungsanstalten für die „arbeitenden Klassen“. 162 Vgl.: Hunkel, Ernst: Fürst Bismarck...a.a.O. (=Anm. 153), 13. 163 Vgl.: Holborn, Hajo: Deutsche Geschichte in der Neuzeit. Band II. Reform und Restauration, Liberalismus und Nationalismus (1790 bis 1871). Frankfurt a.M. 1981, 431f. 164 Vgl.: Mommsen, Wilhelm: Otto von Bismarck. Reinbek bei Hamburg 1980, 79. 165 Vgl.: Grebing, Helga: Geschichte...a.a.O. (=Anm. 138), 69.
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Die Arbeiter- und Kassenpolitik im Norddeutschen Bund
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Kassen- und Koalitionsrechtspolitik zukommt, findet die Zeit der alleinigen parlamentarischen Tätigkeit der sozialpolitisch denkenden, bürgerlichen „Anwälte“ der „niederen Schichten“ ein Ende. Im Jahre 1867 ziehen, noch als Vertreter der Sächsischen Volkspartei, August Bebel und Wilhelm Liebknecht in den Reichstag ein. Bald wird diesem Parlament erstmals das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aus marxistisch inspirierter Sicht gezeichnet. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß zu dieser Zeit außerhalb des Parlaments Streik auf Streik folgt, daß das „Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ein Kriegszustand ist“166, ist es fast schon erstaunlich, daß der § 152 der neuen „Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund“ vom 21. Juni 1869167 bestimmt, daß „Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter“ legal sein sollen. Diese „Koalitionsfreiheit“ wird allerdings durch den § 153, der einen ausgeprägten Schutz für Streikbrecher beinhaltet, stark eingeschränkt. Ganz generell wird von diesen Vorschriften, wie von den in § 108 der Gewerbeordnung vorgesehenen paritätisch besetzten Schiedsgerichten, eine streikeindämmende Wirkung erwartet, nur deshalb waren sie überhaupt hinreichend konsensfähig. Die mit dieser Gesetzgebung verbundene integrative und pazifizierende Erwartung wird allerdings gleich nach dem Inkrafttreten dieser Gesetzgebung „zuschanden“ gemacht. Die bereits hohe Zahl der Streiks, die zunehmend von der Arbeiterbewegung als Mittel der Auseinandersetzung entdeckt werden, steigt schon im Jahre 1869 sprunghaft an. Es folgt innerhalb von fünf Jahren nach der Aufhebung des Koalitionsverbots eine Welle von mehr als 1.000 Streiks,168 die von einem „deutlich gestiegenen sozialen Selbstwertgefühl“ und einem „zielgerichteten Interessenbewußtsein“ getragen sind169 und auf einen verstärkten bürgerlich-staatlichen Widerstand stoßen. Indem so immer deutlicher wird, daß sich die Emanzipation der sozialistischen Arbeiter in Frontstellung zu Kapital und Staat vollzieht, dokumentiert sich gleichzeitig, wie unsicher die der staatlichen Sozialpolitik angesonnene „antiproletarische Tendenz“, die beabsichtigte „entproletarisierende Wirkung“ sein kann. Die Streikbewegung der Jahre 1869 bis 1874 versieht „...alle vorausschauenden Überlegungen im bürgerlichen Lager mit dem Etikett sozialharmonisierender Naivität...“170 Immerhin stellt auch diese Form der Aufhebung der Koalitionsverbote durch die Gewerbeordnung des Jahres 1869 eine bedeutende sozialpolitische Grundsatzentscheidung aus der Reichsgründungszeit dar, da sie die kollektive Selbsthilfe der gewerblichen Arbeiter grundsätzlich legalisiert. Die Gewerbeordnung bildet die Grundvoraussetzung der späteren Entwicklung eines kollektiven Arbeitsrechts. Bismarcks beharrliches und politisch motiviertes Eintreten für die Koalitionsfreiheit läßt sich bis ins Jahr 1863 zurückverfolgen. Vergleichbar ist diese Entscheidung mit der Einführung des gleichen, allgemeinen und direkten Männerwahlrechts bei den Wahlen zum Reichstag, das der Sozialdemokratie, der politi166 So der Redebeitrag des Lassalleaners und Reichstagsmitglieds Johann Baptist von Schweitzer in der Generaldebatte zum Entwurf der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869; hier zit. nach: Koller, A.: Die Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund vom 21.Juni 1869. Berlin 1869, 12 - 20, hier: 12. 167 Vgl: BGBl. (Nordd.Bund) 1869, 245. 168 Vgl.: Machtan, Lothar: „Im Vertrauen auf unsere gerechte Sache...“ Streikbewegungen der Industriearbeiter in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. In: Tenfelde, Klaus, Volkmann, Heinrich (Hg.): Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. München 1981, 52 - 73, hier: 52. 169 Vgl. denselben: „Giebt es kein Preservativ, um diese wirthschaftliche Cholera uns vom Halse zu halten?“ In: Jahrbuch der Arbeiterbewegung. Geschichte und Theorie. 1981. Frankfurt a.M. 1981, 54 - 100, hier: 56. 170 Derselbe, ebenda, 55.
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Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
schen Arbeiterbewegung, einen bedeutenden Spielraum eröffnet. Eine Abschaffung der Koalitions- und Streikfreiheit, die angesichts der Streikwelle schon bald gefordert wird, steht im Regierungslager nicht zur Debatte. Das hängt mit dem „Streikbrecherschutz“ und auch mit den zahlreichen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Grenzen der Betätigung der Koalitions- und Streikfreiheit zusammen. Den „Koalitionen“ und den Vereinbarungen zum Zweck der Erlangung „günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen“ wird der „staatliche Schutz“ ausdrücklich vorenthalten: „Jedem Theilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder Klage noch Einrede statt“ bestimmt schon der § 152 (2). Der „Streikbrecherschutz“ gemäß § 153 der Gewerbeordnung wird durch eine Mobilisierung des allgemeinen Strafrechts gegen das Aufbegehren der Arbeiter ergänzt: „Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte begriffen Streik als Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und wendeten für Streikvergehen vorrangig folgende Straftatbestände an: § 123 (qualifizierter Hausfriedensbruch), § 124 (schwerer Hausfriedensbruch), § 125 (Landfriedensbruch), § 185 (Beleidigung) und § 240 (Nötigung).“171 Diese Tatbestände spiegeln aber zugleich auch die „unzivilisierten“ Formen der damaligen Arbeitskämpfe wieder. Insgesamt gesehen zerfallen bereits in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre nach und nach die Bedingungen, die die Ansätze staatlicher Sozialpolitik motiviert haben. Der Vorrang der Außenpolitik für Bismarck, ihm willkommene Verschiebungen im Parteiengefüge, die nunmehrige Anbahnung einer Zusammenarbeit mit den (National-) Liberalen, die Beilegung des Verfassungskonfliktes, das Scheitern zunächst des Experiments der staatlichen Förderung der Produktivassoziationen der Weber, sodann das Zerbrechen der Spekulationen, die mit der Koalitionsfreiheit verbunden waren, die Einsicht der führenden Kreise, daß dem preußischdeutschen Interesse am besten durch eine die Arbeiterbewegung nicht einbindende liberale Wirtschaftspolitik und Zusammenarbeit mit dem Bürgertum gedient sei, sind Faktoren, die hier angeführt werden müssen. Hinzu kommt die Abneigung des Königs gegenüber sozialpolitischen Strategien. Der „politische Realist“ Bismarck hält schon bald weitergehende sozialreformerische Strategien, die ihn nunmehr in einen krassen Gegensatz zu einem ihm „genehmen“ Parlament und zum König gebracht hätten, für inopportun und nunmehr auch nicht weiter „machbar“. Es ist also nicht nur die verständnislose, die zu dieser Zeit „manchesterliche Bürokratie“, wie Wagener meint, die auf dem Wege zum Sozialstaat vorübergehend bremst.172 Die Gewerbeordnung, die mit einigen noch „illiberalen“ Grundzügen der gewerblichen Vergangenheit bricht, sich in pointierter Weise auf den Grundsatz der Gewerbefreiheit stellt, berührt als „wirtschaftliche und soziale Grundordnung“ des Bundes173 auch die Kassenfrage. Obgleich sich letztendlich die ältere Tendenz bestätigt, an der überkommenen Gestaltung festzuhalten, und damit die kassenpolitische Stagnation kein Ende findet, sind die Auseinandersetzungen zu dieser Frage von erheblichem Interesse. Ebenso chancenlos wie bezeichnend ist ein sozialpolitischer Verstoß des Freikonservativen und Vertreters eines „patriarchalischen, ... konservativen, antidemokratisch-autoritären, sozial-feudalistischen Unternehmertums“174, des Freiherrn Carl Ferdinand von StummHalberg in der Arbeiterversicherungsfrage. Er bringt erstmals 1869 einen Antrag ein, 171 Ayass, Wolfgang, Nickel, Karl-Heinz, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. I. Abteilung. 4. Band. Darmstadt 1997, XXIII. 172 Vgl.: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung... I. Abteilung. 1. Band...a.a.O.(=Anm. 155), XXV ff. 173 So: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage...a.a.O.(=Anm. 54), 186. 174 So die Ausdrucksweise bei: Lampert, Heinz: Sozialpolitik. Berlin, Heidelberg, New York 1980, 79.
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„...welcher im Wesentlichen dahin ging, für Fabrikarbeiter nach dem Vorbild der Knappschaften eine Zwangsversicherung zu errichten, welche neben der Krankenunterstützung und Sterbegeldleistung auch auf die Invaliden, Witwen und Waisen bedacht sein sollte.“175 Zugleich ist von ihm ein Antrag erhalten, als Krankenkassen die unternehmerbeherrschten Fabrikkassen vorzusehen. Die Statuten dieser Kassen sollten vom Fabrikunternehmer „...unter Mitwirkung eines von den Arbeitern zu wählenden Ausschusses...“ festgesetzt werden. Zu diesen Fabrikkassen sollen die „Werksbesitzer“ zumindest die Hälfte der Beiträge leisten. „Die Mitglieder des Kassenvorstandes werden nach näherer Bestimmung des Statuts zur einen Hälfte von den Werksbesitzern, und zur anderen Hälfte von den Arbeitern je aus ihrer Mitte oder aus der Zahl der Fabrikbeamten gewählt,“176 so der vorgeschlagene Gesetzestext. Es ist dies ein Versuch, eine umfassende Arbeiterversicherung anzuregen, die auf „Kosten“ des Staates und der organisierten Arbeiter den Interessen der Großindustrie entspricht, die den „Mißbrauch“ der Kassengelder als „Kriegskasse zur Förderung von Strikes“ in „aufgeregten Zeiten“ ebenso ausschließen soll, wie sie dem Zweck dienen soll, die Zusammengehörigkeit, die „Eintracht“ zwischen Arbeit und Kapital zu fördern.177 Dieser „unzeitgemäße“ Plan trifft vor allem auf den Widerstand der Abgeordneten der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Fortschrittspartei um Duncker, Hirsch, Schulze-Delitzsch. Diese Kreise stehen ganz unter dem Eindruck des Erfolges der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, die 1869 ca. 30.000 Mitglieder zählen,178 deren Bedeutung aber relativ rasch wieder zurückgeht. Die Gewerkvereine gründen zu dieser Zeit gerade ihre „Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit“. Diese ist allerdings schon bald in ihrem Fortbestand gefährdet. Sie wird nach restriktiven Satzungsänderungen, Leistungskürzungen, Beitragerhöhungen sowie Mitgliederverlusten 1889 aufgelöst. Da die kassenpolitische Diskussion schon einige Zeit von dem sozialpolitischen Kalkül begleitet wird, die Arbeiter mit Hilfe solcher Kassen in gewerkschaftliche Organisationen oder in Betriebe oder auch in das bestehende wirtschaftliche oder staatliche System einzubinden, kann das Motiv der „Fortschrittler“ für die Ablehnung des Stummschen Vorstoßes nicht überraschen: Sie möchten die Entwicklung der Kassen- und Arbeiterversicherungsgesetzgebung für ihren Einfluß „offen“ halten, um ihre Position in der Arbeiterschaft ausbauen zu können.179 Der Entwurf der Gewerbeordnung enthält zur Kassenfrage, in insgesamt acht Paragraphen untergebracht, noch den bisherigen preußischen Rechtszustand. Mit diesen Bestimmungen wäre das preußische sozialpolitische Modell umstandslos auf den Norddeutschen Bund verallgemeinert worden und wie vordem in Preußen, wäre im gesamten Bundesgebiet die Entwicklung „freier Bildungen“ von Unterstützungskassen erschwert worden. Das kann weder im Interesse der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und sozialistischen Gewerkschaften noch der Fortschrittspartei und der Gewerkvereine liegen.
175 Satorius von Waltershausen, August: Die Stellung des Staates zu der Alters- und Invalidenversorgung für Lohnarbeiter. Berlin 1880, 30. 176 Vgl.: Aktenstück Nr. 132. Reichstag des Norddeutschen Bundes. I. Legislaturperiode. Session 1869, 461 - 463; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Wissell, Rudolf: Die ersten gesetzgeberischen Versuche einer Sicherstellung der Arbeiter gegen die wirtschaftlichen Folgen von Krankheit, Unfällen, Invalidität und Alter. In: Die Reichsversicherung, 2(1928)8, 253 - 264. 177 Vgl auch: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage...a.a.O. (=Anm. 54), 192 f. 178 Vgl.: Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine. In: Wörterbuch der Geschichte. Band I. A - K. Berlin 1984, 462 f. 179 Ähnlich: Volkmann, Heinrich: Die Arbeiterfrage...a.a.O. (=Anm. 54), 185; vgl. auch: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. I. Abteilung. 6. Band. Darmstadt 2002, XVIII und XXV f.
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Geschickt argumentieren zwei Abgeordnete der Fortschrittspartei, Eduard Lasker und Hermann Schulze-Delitzsch, in ihren „Motivirungen“ zu zwei Anträgen gegen eine sofortige Regelung der Kassenfrage in der Gewerbeordnung. Lasker hebt die Bedeutung der Hilfskassen hervor, bemängelt die Stummsche Vorlage, kritisiert die Genehmigungspraxis der Behörden nach den bisherigen Rechtsgrundlagen, weist auf fehlendes Material und Zeitnot hin und fordert, die Kassenfrage in der nächsten Session durch ein „Normativgesetz“ zu regeln, das auch eine sichere Grundlage für die Finanzen und die Konzessionierung der Kassen bieten solle. Schulze-Delitzsch weist ebenfalls auf Mängel der Zwangskassen, den Widerwillen in den „Arbeiterkreisen“ hin und plädiert für eine freie Kassenwahl. Tatsächlich werden beide Anträge schließlich angenommen, die bisherigen Bestimmungen werden gestrichen und aufgenommen wird der § 141 dessen erster Satz auf den Antrag Lasker und dessen zweiter Satz auf den Antrag Schulze-Delitzsch zurückgeht: „Bis zum Erlass eines Bundesgesetzes bleiben die Anordnungen der Landesgesetze über die Kranken-, Hülfs- und Sterbekassen für Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter in Kraft. Die durch Ortstatut oder Anordnung der Verwaltungsbehörde begründete Verpflichtung der Gesellen, Gehülfen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter, einer bestimmten Kranken-, Hülfs- oder Sterbekasse beizutreten, wird indess für diejenigen aufgehoben, welche nachweisen, dass sie einer anderen Kranken-, Hülfs- oder Sterbekasse angehören.“180 Dieser „wegweisende“, später unter Bismarck beibehaltene Schritt weg von der Zwangskasse hin zum Kassenzwang führt dazu, daß sich die Kassen der Freien Gewerkschaften, vorübergehend aber auch, wie von Lasker und Schulze-Delitzsch beabsichtigt, jene der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine kräftig entwickeln und die Zwangskassen teilweise in ihrem Bestand und ihrer Leistungsfähigkeit gefährden.181 Angesichts der Tatsache, daß mit der Verabschiedung des § 141 der Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 eine Resolution verabschiedet wird, die eine durchgreifende gesetzliche Neuordnung des gewerblichen Hilfskassenwesens in nahe Aussicht stellt, gerät die Tätigkeit der preußischen Behörden zur Entwicklung und weiteren Ausdehnung der Zwangskassen vorübergehend ins Stocken. Die Unsicherheit über die Ausgestaltung der angekündigten neuen gesetzlichen Grundlagen der Kassen lähmt die Aktivitäten.182 Obwohl mit dem § 141 klargestellt ist, daß in den alten preußischen Provinzen die überkommenen Vorschriften der Jahre 1845, 1849 und 1854 fortgelten, hat die Gewerbeordnung den Weg zu den freien Kassen in der von der Regierungsseite befürchteten Weise weit geöffnet, ohne daß über die „anderen Kassen“, die von der Beitrittspflicht zu den Zwangskassen befreien, Bestimmungen getroffen sind. Während sich die preußischen „Centralbehörden“ nun auf den Standpunkt stellen, daß diese „anderen Kassen“ nur legal bestehende sein können, solche, die mit staatlicher Genehmigung errichtet sind,183 urteilen verschiedene Gerichte abweichend und eröffnen damit den freien Gewerkschafts- und Gewerkvereinskassen fortdauernde Chancen. Durch Erlaß vom 8. Mai 1874 wird bestimmt, „... dass gegen die einmal bestehenden freien Kassen und die ihnen unter den bisherigen unklaren Verhältnissen einmal beigetretenen Mitglieder zu Gunsten der Zwangskassen nicht eingeschritten werden sollte.“184 Gleichzeitig wendet sich der Erlaß gegen eine zukünftige weitere Ausdehnung des freien Kassenwesens.
180 Nähere Einzelheiten: Koller, A.: Die Gewerbe-Ordnung...a.a.O. (=Anm. 166), 162 ff. 181 Vgl.: Oppenheim, Heinrich Bernhard: Die Hülfs- und Versicherungskassen... a.a.O.(=Anm. 74), 42. 182 Vgl.: Die unter staatlicher Aufsicht stehenden gewerblichen Hülfskassen...a.a.O. (=Anm. 48), IV. 183 Zur Rechtfertigung dieses Standpunktes vgl.: Erlass, betreffend das Verhältnis der freien Hülfskassen zu den s.g. Zwangskassen vom 23. Februar 1874 und Anlage zum Erlaß vom 23. Februar 1874, in: ebenda, 268 f. 184 Ebenda, V.
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Die Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik des Deutschen Reiches
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Nachdem die Fortschrittspartei ihren Einfluß auf die sich mehr und mehr sozialistisch orientierende Arbeiterbewegung verloren hat, beteiligt sie sich an deren Bekämpfung. Diese Haltung wird schon im Zusammenhang mit der Strafrechtsverschärfung deutlich, die das Koalitionsrecht noch weiter als bisher einschränkt.185 Sie zeigt sich auch auf dem Gebiet des Kassenwesens. Tiefes Mißtrauen drückt sich in der Debatte über einen „Antrag der Abgeordneten Schulze und Lesse, betreffend die gewerblichen Hülfs- und Unterstützungskassen“ aus dem Jahre 1873 aus. Dieser Antrag geht auf die erwähnte Resolution des Norddeutschen Reichstages aus dem Jahre 1869 zurück. Er mahnt den baldigen Erlaß eines Bundesgesetzes zur Regelung der Kassenfrage an. Im Reichstag schließt der Abgeordnete der Fortschrittspartei, Lesse, eine Beteiligung der Unternehmer an diesen Kassen nicht aus. Ähnlich wie Stumm möchte er auf diese Weise einen „zweckfremden“ Einsatz der Gelder für gewerkschaftliche Ziele, insbesondere zur Finanzierung von Streiks, verhindern. Gleichzeitig erinnert er an konkrete Vorschläge zur Durchnormierung der Arbeit der Kassen.186 Diese Vorstöße ragen jedoch allesamt schon in eine neue Zeit.
4.5 Die Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik des Deutschen Reiches 4.5 Die Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik des Deutschen Reiches 4.5.1 Politische und ökonomische Rahmenbedingungen Der Deutsch-Französische Krieg und die am 18. Januar 1871 vollzogene Kaiserproklamation, die aus der Verfassung des Norddeutschen Bundes hervorgehende Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 bilden den Abschluß einer nach drei Hegemonialkriegen erreichten deutschen Einigung unter preußischer Führung. Für die Wahlen zu dem an der Gesetzgebung und gesetzlichen Budgetbewilligung nicht jedoch personell an der Regierung und an der Führung der Reichsgeschäfte beteiligten Reichstag, gilt das gleiche Wahlrecht wie im Norddeutschen Bund. Der Deutsch-Französische Krieg, der manches erahnen läßt, was im Ersten Weltkrieg an Massenhaftigkeit des Menschen- und Materialeinsatzes und neuer Kriegstechnologie zum Einsatz kommen wird, und die sich daraus entwickelnde Nationalstaatsgründung, stellen die Sozialdemokratie vor Herausforderungen und leiten zu staatlichen Reaktionen gegen die Arbeiterbewegung über, die in ihrer Tragweite nicht überschätzt werden können. Der Beginn des Krieges im Jahre 1870 zwingt die beiden Richtungen der Sozialdemokratie zu einer Stellungnahme, dies insbesondere auch in der Frage der Bewilligung der Kriegsanleihen, die auf der Reichstagssitzung des Norddeutschen Bundes vom 21. Juli 1870 zur Abstimmung stehen. August Bebel und Wilhelm Liebknecht enthalten sich der Stimme mit der Begründung, „als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozial-Republikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation“ könnten sie sich weder direkt noch indirekt für den Krieg erklären.187 Andere Kräfte der Arbeiterbewegung halten einen Krieg zwar generell für verwerflich, sind aber bereit, den Krieg des Jahres 1870 als „Verteidigungskrieg“ zu akzeptieren. Der Streit um die Unterstützung und Wertung des Krieges in der Arbeiterbewegung ist jedoch 185 Vgl.: Born, Karl Erich: Sozialpolitische Probleme ...a.a.O. (=Anm. 152), 42 f. 186 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. I. Legislaturperiode. IV. Session 1873. Erster Band. 27. Sitzung vom 5. Mai 1873, 497 ff., hier: 499. 187 Zit. nach: Lern- und Arbeitsbuch Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Darstellung - Chronologie - Dokumente. Hrsg. unter der Leitung von Thomas Meyer, Susanne Miller, Joachim Rohlfes. Teil 2. Bonn 1984, 302.
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sofort beendet, als sich in dieser Bewegung nach der französischen Niederlage bei Sedan (am 1. September 1870) die Auffassung durchsetzt, daß er nunmehr, nach der Gefangennahme Napoleon III., gegen die neue Republik gerichtet werde und den Charakter eines Verteidigungskrieges verloren habe. Die Arbeiterbewegung protestiert gegen die Fortsetzung des Krieges und „...mehrere ihrer führenden Mitglieder wurden dafür mit Festungshaft bestraft.“188 Für die Gewerkschaften bringt der Krieg einen starken Mitgliederschwund, und die ganze Arbeiterbewegung wird durch den gesteigerten Chauvinismus und die wüste Kampagne, die der Stimmenthaltung in der Frage der Kriegsfinanzierung folgt, in die Defensive gebracht. Die Wahlen zum Reichstag vom 3. März 1871 werden für die Sozialdemokratie zum Debakel. Mit nur 3,3 % der Stimmen gelangt lediglich der insbesondere in Sachsen bekannte Eisenacher August Bebel in das Parlament. Das Maß der Gegnerschaft und des Hasses vor allem des Militärs,189 des nationalen Bürgertums und der traditionellen preußisch-deutschen Führungsschicht „läuft über“, als Bebel im Reichstag die vom 18. März bis zum 26. Mai 1871 bestehende und schließlich mit Beihilfe der preußisch-deutschen Eroberer niedergeschlagene, proletarisch geprägte Pariser Kommune190 begrüßt und behauptet, der Kampf in Paris sei nur „ein kleines Vorpostengefecht“, daß die Hauptsache in Europa noch bevorstehe und daß „...ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats ‘Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange’ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats sein wird.“191 Verbunden mit der ursprünglichen Sozialisten- und Kommunistenfurcht, verbunden mit Erfahrungen aus Revolution, Unterschichtsunruhen und Arbeiterstreiks, führen diese „Vorkommnisse“ schon bald nach der „von oben“ erfolgenden Begründung des Kaiserreichs zu einer verstärkten Behinderung und Überwachung der beiden Arbeiterparteien und zu einer fortdauernden Unterdrückung der Streikbewegung. Unmittelbar nach dem Scheitern der Pariser Kommune läßt sich eine allerdings wesentlich außenpolitisch-taktisch motivierte Zunahme „amtlicher“ sozialpolitischer Bemühungen beobachten. Wie andere französische Ereignissen zuvor, strahlt auch dieses revolutionäre Ereignis im „Zentrum der Weltzivilisation“ auf das übrige Europa aus und die I. Internationale steht an der Spitze einer verzweigten Solidaritätsbewegung. Zwei weitere Entwicklungen treiben in den 70er Jahren die sozialpolitische Diskussion an. Eine schon in den 1860er Jahren anlaufende, zuletzt noch durch die französischen Reparationszahlungen beeinflußte Konjunktur findet ihr Ende. Den Jahren außerordentlich starken wirtschaftlichen Wachstums, den „Gründerjahren“, folgt ab Mitte des Jahres 1873 der „Gründerkrach“. Die absteigende Phase dieser Krise ist erst gegen Mitte, wenn nicht gegen Ende des Jahres 1879 überwunden. Diese Krisenerscheinungen sind es, die nunmehr die liberalen Anschauungen und Kräfte diskreditieren. Hinzu treten nun deutliche Erfolge der politisch188 Ebenda, 302; vgl. auch die lebensvollen Schilderungen bei: Bebel, August: Aus meinem Leben. Frankfurt a.M. o.J. (ursprünglich 1910), 414 ff., dort auch weitere Ausführungen zum Krieg und zur Haltung der Arbeiterbewegung. 189 Vgl. dazu etwa die Materialsammlung in: Höhn, Reinhard: Sozialismus und Heer. Band II. Die Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit dem Moltkeschen Heer. Berlin, Zürich 1959; sowie die Dokumente bei: Mehner, Heinz: Militärkaste, Sozialdemokratie und Armee in den 70er und 80er Jahren. In: Zeitschrift für Militärgeschichte, 2(1963), 223 - 230. 190 Vgl. dazu etwa: Haupt, Heinz-Gerhard, Hausen, Karin: Die Pariser Kommune. Erfolg und Scheitern einer Revolution. Frankfurt a.M., New York 1979. 191 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. I. Legislaturperiode. I. Session 1871. Erster Band, 921.
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sozialen Emanzipationsbewegung des „Vierten Standes“, die besonders greifbar und auffallend an der Entwicklung der Sozialdemokratie ablesbar sind. Auch hierdurch weitet sich die ökonomische Krise zu einer politischen Krise aus.192 Nach internen Annäherungsprozessen schließen sich auf dem „Vereinigungs-Congreß der Sozialdemokraten Deutschlands“ vom 14. und 15. Februar 1875 in Gotha die beiden Arbeiterparteien zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ zusammen. Dieser Vorgang wirkt vereinheitlichend auf die sozialistische Gewerkschaftsbewegung zurück, die sich unter dem Einfluß zweier konkurrierender Arbeiterparteien in zwei ebenfalls rivalisierenden Gewerkschaftsrichtungen organisiert hatte. Unmittelbar vor der Vereinigung haben beide Parteien zusammen 24.443 Mitglieder. Eine vergleichsweise viel gewaltigere politische Auswirkung hat die Anzahl der Stimmen und der Abgeordneten im Deutschen Reichstag, die diese Parteirichtung schon bald auf sich vereinen kann. Bei den Reichstagswahlen vom 10. Januar 1874 erringen die beiden noch nicht vereinigten Parteien zusammen mehr als 6 % der Stimmen und insgesamt 9 Mandate.193 Die vereinigte Sozialdemokratie wird in der Reichstagswahl vom 10. Januar 1877 zur viertstärksten Partei. Sie erhält von 5.401.021 abgegebenen Stimmen 493.447 und erreicht damit 12 Mandate.194 Die kriegsbedingte Schwächeperiode dieser Partei ist somit überwunden und aufmerksamen Beobachtern drängt sich schon zu dieser Zeit eine Ahnung von der „unwiderstehlichen Durchschlagskraft“ dieser Bewegung auf. Eine Folge dieser Entwicklungen ist, daß neben den antiliberalen die antisozialistischen Bestrebungen der damaligen Regierung in aller Schärfe hervortreten und ständige Begleiter und Faktoren der reichsdeutschen Politik werden. Ende der 70er Jahre schließlich läßt sich die antisozialistische Stimmungsmache kaum mehr steigern. Ganz allgemein werden die Töne gegen die Arbeiterbewegung immer schriller. Es spukt „...das rote Gespenst bis in die letzte Bierstube.“195 Schließlich ist von bedrohlicher „Räuberbande“, von „verbrecherischen Umsturztheorien“, von „Behandlung nach Kriegsrecht“, von „Vertilgung der Ratten im Lande“196, von „widerlichstem und unberechtigstem Treiben“, von der „Agitation heuchlerischer Phrasenhelden“197 usw. usf. die Rede. Die Stimmung nach den beiden ebenso fälschlich wie absichtsvoll der Sozialdemokratie zugeschriebenen Kaiserattentaten des Jahres 1878 faßt August Bebel folgendermaßen zusammen: „Die Partei hieß im gegnerischen Lager nur noch die Partei der Meuchelmörder, der Allesruinierer, die der Masse den Glauben an Gott, Königtum, Familie, Ehe und Eigentum raube. Diese Partei zu bekämpfen und sie, wenn möglich, zu vernichten, erschien diesen Gegnern als die glorreichste Tat.“198 Im Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, beschlossen in Gotha im Jahre 1875, in der bis 1891 geltenden programmatischen Grundlage der Sozialdemokratie, spiegelt sich die Frontstellung der damals herrschenden Kräfte gegen die Arbeiterbewegung. Eingebettet in weitreichende gesellschaftspolitische Grundsätze erstrebt die Partei „...mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung 192 Vgl.: Böhme, Helmut: Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. 7. Aufl. Frankfurt a.M. 1978, 69. 193 Vgl.: Hohorst, Gerd, Kocka, Jürgen, Ritter, Gerhard A.: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Band II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870 - 1914. 2., durchgesehene Auflage. München 1978, 173. 194 Vgl. dieselben, ebenda, 173. 195 So: Schäffle, A.: Die Quintessenz des Sozialismus. 3. Auflage 1878, 1. 196 So die Auflistung entsprechender Ausdrücke bei: Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871 - 1918. 4., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage. Göttingen 1980, 100 f. 197 So: Heyl, Cornelius W.: Die Arbeiter-Invalidenkasse vor dem Reichstage. Berlin 1879, 7 f. 198 Bebel, August: Aus meinem Leben...a.a.O. (=Anm. 188), 595 f.
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des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.“ In dieses „Emanzipationsprogramm“ eingefügt, ist die Gegenwartsforderung: „Volle Selbstverwaltung für alle Arbeiterhilfs- und Unterstützungskassen.“199 Die Krise und die Wachstumsstörungen seit 1873 sind - nicht voraussetzungslose - Ausgangspunkte einer weiteren Entwicklung, die auf dem Gebiet der Sozialpolitik allerdings erst ab den 1890er Jahren tiefgreifend theoretisch und ab 1914 auch praktisch wirksam werden soll: des deutschen (und außerdeutschen) „modernen“ Imperialismus. Er gilt in den herrschenden Kreisen vor allem als Methode der Überwindung der Wachstumsstörungen, als Voraussetzung wirtschaftlichen Wachstums auf der (Rohstoff-)Beschaffungs- und Warenabsatzseite, als Mittel der Ablenkung von inneren Problemen, als Instrument der nationalen Integration, als wahltaktische Hilfe, insgesamt: als weiterer Behelf zur Verteidigung der gegebenen Sozialund Machtstrukturen gegen die umwälzenden Folgen der in eine Krise geratenen Industrialisierung, als ein Palliativum gegen die damit erwachenden Bestrebungen nach Parlamentarisierung und Demokratisierung. Der Imperialismus zeigt sich unter Bismarck noch in seiner „gemäßigten“, „pragmatischen“ Form. Doch auch schon diese Form der Handhabung des Strebens nach innerer Stabilisierung durch Herrschaftsausdehnung auf die außereuropäische Welt, schon diese Reaktion auf drängende wirtschaftliche und innerpolitische Probleme führt zu erheblichen Spannungen und Gegensätzen zwischen europäischen Staaten. Noch fehlt jedoch das Moment der brutalen Kriegsbereitschaft und „Weltmachtversessenheit“, das schließlich zum Ersten Weltkrieg führt.200
4.5.2 Die sozialreformerische Diskussion bis zur Mitte der 1870er Jahre In den ersten Jahren des Kaiserreichs, in einer durch starke Spannungen gezeichneten Gesellschaft und im Rahmen eines Staatswesens, das seinem Charakter nach „...eine Art Dachverband der Könige, Großherzöge, Fürsten und sonstigen Souveräne...“ darstellt,201 in einer Zeit, in der, in Fortsetzung älterer Tendenzen, trotz des nicht zu unterschätzenden nationalen und bewußt nationalisierten und militarisierten Bevölkerungsteils, beständig Instrumente und Allianzen gegen den „Umsturz“ ersonnen und praktiziert werden, „erblüht“ die umfangreiche sozialreformerische Diskussion überwiegend als Teil dieser Bestrebungen und angelehnt an ältere Diskussionsstränge.202 Diese Diskussion zeigt, daß die „merkwürdige Erscheinung“, daß fast alle bedeutenden gesetzgeberischen Maßnahmen „...welche die sozialreformatorische Strömung unserer Zeit (d.h. der Zeit bis zum Ende der 1880er Jahre, E.R.) erzeugte, auf dem Boden des Versicherungswesens“203 unternommen werden, auch zu Beginn der 70er Jahre keineswegs alternativlos gewesen ist. Die spätere Vorherrschaft der Versicherung auf dem sozialpolitischen Gebiet, 199 Zit. nach: Mommsen, Wilhelm: Deutsche Parteiprogramme. München 1960, 313 - 314, hier: 314. 200 Vgl. dazu umfassend: Wehler, Hans-Ulrich: Bismarck und der Imperialismus. 4. Auflage. München 1976; als Überblick mit umfassendem Quellenanhang: Schöllgen, Gregor: Das Zeitalter des Imperialismus. München 1986. 201 So die treffende Umschreibung der „Verfassungslage“ bei: Suhr, Ernst-Friedrich: Deutschland vor dem 1. Weltkrieg - Bilder aus einer Gesellschaft. In: Lamszus, Wilhelm: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg (1912), neu hrsgg. von Johannes Merkel und Dieter Richter. O.O., o.J., 153 - 174, hier: 158. 202 Vgl. als kurzgefaßte Analyse: Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich...a.a.O. (=Anm. 196). 203 So die zutreffende Erkenntnis in: An unsere verehrten Leser! In: Juristisch-technische Versicherungs-Zeitschrift, No. 1 vom 3. Januar 1889, 1.
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die „eklatanten Unterlassungen“ auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes, vor allem das weitgehende Unterbleiben „primärpräventiver aktiver Interventionen“ in die für Leib und Leben gefährliche Arbeitswelt, und die „Unterlassungen“ auf anderen Gebieten der Sozialpolitik (etwa auf dem Feld des kollektiven Arbeitsrechts), sind vielmehr Ergebnis eines politischen Prozesses in dem Bismarck angeregt durch die Denkschrift eines Großindustriellen „Oberhand“ gewinnt.204 In diesem weit ausgreifenden Diskurs zu Beginn der 70er Jahre fehlt zwar die „Assekuranz“ als Mittel der Lösung der „sozialen Frage“, die zunehmend mit der Arbeiterfrage in eins gesetzt wird, keineswegs. Das Versprechen einer zukünftigen Reichsgesetzgebung in § 141 des Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes, inzwischen auf das Reich übernommen, stimuliert die Diskussion zusätzlich. Erstaunlicherweise bildet erneut das „Pensionskassenwesen“, d.h. eine Invaliditäts- und Altersversicherung zusätzlich zum übrigen Kassenwesen, eine hervorragende Rolle. Die gesamte öffentlich geführte Diskussion, an der Vertreter der nichtsozialistischen Parteien, Ökonomen, Sozialwissenschafler, kirchlich-soziale Kreise, Teile der Unternehmerschaft, Personen aus dem Staatsapparat, aber auch: die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften von je unterschiedlichen Standpunkten ausgehend teilhaben,205 umfaßt, neben der Arbeiterversicherung und dem Arbeiterschutz,206 u.a. auch die Arbeiterwohnungsfrage, die Erziehung, Arbeitsvertragsfragen, das Lehrlingswesen, Steuerfragen, das Gewerksvereinswesen, das Schieds- und Einigungswesen. Von der Seite der Arbeiterbewegung treten vor allem pointierte Freiheits-, Gleichheits-, Demokratisierungs-, kurz: „Emancipationsforderungen“ hinzu.207 Vor dem Hintergrund der hochgehenden Streikbewegung, der Diskussion um ein Berufsvereinsrecht und von bereits bestehenden Formen der Streikschlichtung entstehen auch erste zukunftsweisende Vorstellungen einer „modernen“ Form der Kanalisierung und Zivilisierung der heftigen Klassenauseinandersetzungen durch sozialpolitische Normierungen. Das Leitbild eines „gesellschaftlichen Kooperationssystems“ von Kapital und Arbeit scheint auf. Einem solchen „Kooperationssystem“, das unter spezifischen Bedingungen erst 1918 zum Durchbruch kommt, hätten zur damaligen Zeit vor allem die daran interessierten Unternehmer gefehlt. Diese praktizieren vielmehr zu dieser Zeit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine einseitige Festlegung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen und neigen dazu, eine Disziplinierung ihrer Beschäftigten mit autokratisch-repressiven oder patriarchalisch-integrativen Mitteln vorzunehmen und gegebenenfalls auf die zu ihren Gunsten intervenierende Staatsgewalt zu vertrauen. Die Grenzen der kommenden „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ sind also auch von dieser Seite „unübersteigbar“. Sowohl im preußischen Handelsministerium als auch in der weiteren sozialreformerischen Diskussion wer-
204 Vgl. dazu insbesondere: Machtan, Lothar, Berlepsch, Hans-Jörg von: Vorsorge oder Ausgleich - oder beides? Prinzipienfragen staatlicher Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich. In: Zeitschrift für Sozialreform, 32(1986)5, 257 275; Heft 6, 343 - 358; siehe international vergleichend: Machtan, Lothar: Bismarck’s Sozialstaat als Export-Modell? In: Zeitschrift für Sozialreform, 35(1989)6, 365 - 373. 205 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Peschke, Paul: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 79), 228. 206 Vgl. als relativ frühe Arbeiterschutz-Forderung aus den Reihen der Arbeiterbewegung den Entwurf eines „Arbeiter-Schutzgesetz“. In: Der Volksstaat Nr. 3 vom Freitag den 9. Januar 1874. 207 Vgl. zusammenfassend: Bruch, Rüdiger vom: Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich. In: Derselbe (Hg.): „Weder Kommunismus noch Kapitalismus“. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer. München 1985, 61 - 179, hier: 77.
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den in diesem Zusammenhang aber die Trade Unions und die darauf bezogene englische Gesetzgebung intensiv beobachtet.208 Daß zu Beginn der 1870er Jahre und auf der Ebene des Staatsapparats die Würfel zugunsten einer „Versicherungslösung“ noch keineswegs gefallen sind, zeigen die staatlichsozialpolitischen Aktivitäten, die sich an die Niederschlagung der Pariser Kommune anschließen. Sie entwickeln sich vor dem Hintergrund von nationalen und internationalen Aktivitäten gegen die Internationale, der eine Mitverantwortung für die Pariser Kommune zugeschrieben wird. Als für die staatliche Sozialpolitik zuständige Instanz erörtert das preußische Handelministerium, durch zum Kampf gegen die Internationale aufrufende Zirkularnoten des französischen Ministers für auswärtige Angelegenheiten, Julius Favres, vom 6. Juni und 16. Juli 1871 angeregt bzw. unter außenpolitischen Handlungsdruck geraten, „...sehr lebhaft ‘positive’ Vorschläge zur Bekämpfung der Sozialdemokratie.“209 Handelsminister Graf von Itzenplitz lehnt ein in erster Linie gewaltförmiges Vorgehen gegen die Sozialdemokratie ab, um nicht die „Objektivität der Regierung“ in ihrer Stellung „über den Parteien“ zu gefährden. Er, der ein Gegner der Formen staatlicher Sozialpolitik ist, die den Bereich der wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit zentral betreffen, verlangt „..., daß die Repressivmaßnahmen an letzter Stelle, mindestens aber gleichzeitig mit den sozialen Vorschlägen behandelt werden müßten.“210 Seine „sozialen Vorschläge“ sind beeindruckend und trotz seiner wirtschaftsliberalen Grundauffassung zahlreich211, und schließlich gibt er doch noch zu bedenken, ob nicht, nach dem Vorgehen in Frankreich, obwohl es ihm „gegenwärtig sehr zweifelhaft erscheine“ das Reich gegen die Internationale ausnahmegesetzlich vorzugehen habe. Er raisoniert, ob nicht eine Strafrechts- und auf die Streiks zielende Gewerberechtsverschärfung zu erwägen sei.212 Bemerkenswert ist die auf Drängen Bismarcks zustande kommende sozialpolitische Konferenz im Handelsministerium vom 26. November 1871, an der, gerade in preußische Dienste getreten, Bismarcks sozialpolitischer Mitarbeiter (und Kritiker) Geheimrat Theodor Lohmann (1831 - 1905) teilnimmt. Er wird von Graf von Itzenplitz beauftragt, Vorschläge für den Arbeiterschutz auszuarbeiten. Diese werden am 12. März 1873 den Ministerien zugestellt.213 In dieser Situation internationaler Kontakte zur Bekämpfung der Internationalen sind es außenpolitisch-taktische Erwägungen Bismarcks, die dazu führen, daß es zur Anbahnung von Besprechungen mit Österreich kommt, die sich zwar mit der Abwehr staatsfeindlicher Bestrebungen beschäftigen sollen, mit deren Hilfe er jedoch vorrangig eine Annäherung beider Staaten erzielen möchte. In dieser Absicht findet am 17. August 1871 in Bad Gastein und am 7. September 1871 in Salzburg eine Aussprache zwischen Reichskanzler Bismarck und dem österreichischen Ministerpräsidenten Friedrich Ferdinand Graf von Beust statt. Man kommt überein, in einer Konferenz von Sachverständigen „...die Methoden für die Bekämpfung der Internationalen zu besprechen.“214 Es bedarf weiterer Anstöße215 bevor die angestrebte 208 Vgl.: Ayass, Wolfgang, Nickel, Karl-Heinz, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung...I. Abteilung. 4. Band ...a.a.O.(=Anm. 171), XXIV. 209 So die Ausdrucksweise von: Lipinski, Rich.(ard): Dokumente zum Sozialistengesetz. O.O., 1928, 7. 210 Derselbe, ebenda, 7. 211 Vgl. denselben, ebenda, 7 - 9. 212 Vgl. ebenda, 10. 213 Vgl. ebenda, 11 f.; das Protokoll der Konferenz ist abgedruckt in: Winter, Heidi, Tennstedt, Florian (Bearb.): Quellensammlung...I. Abteilung. 1. Band...a.a.O. (=Anm. 155), Dok. Nr. 88. 214 Ebenda, 13; die außenpolitisch-taktischen Motive betont: Herbst, Ludolf: Die erste Internationale als Problem der deutschen Politik in der Reichsgründungszeit. Frankfurt, Zürich 1975; vgl.: Winter, Heidi, Tennstedt, Florian (Bearb.): Quellensammlung...I. Abteilung. 1. Band...a.a.O.(=Anm. 155), XXVII. 215 Vgl. Lipinski, Rich.(ard): Dokumente...a.a.O. (=Anm. 209) ebenda, 13f.
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deutsch-österreichisch-ungarische Konferenz vom 7. bis 29. November 1872 unter dem Vorsitz von Hermann Wagener in Berlin stattfindet und sich in 13 Sitzungen mit dem angesprochenen Fragenkreis befaßt. Auf diese Weise hat der Außenpolitiker Bismarck mit Wageners Hilfe einen grundlegenden und bedeutsamen sozialpolitischen Diskussionsprozeß angestoßen. Mit erstaunlicher Weitsicht hebt Wagener auf dieser Konferenz hervor, daß vor allem der Irrtum vermieden werden müsse, als ob man es nur mit Arbeitern und nicht mit dem Gesamtzustand der Gesellschaft zu tun habe. In seiner Promemoria über diese Konferenz formuliert Wagener: „Nach der richtigen Bezeichnung müsse die soziale Frage in ihrem Kern definiert werden: als das Streben der modernen Erwerbsgesellschaft, die ihr entsprechende politische Form zu finden, wobei die sozialistischen Bestrebungen als Reaktion der arbeitenden Klassen gegen das analoge Treiben der besitzenden Klassen erschienen.“216 Die Konferenz beschäftigt sich unter dem Gesichtspunkt der Stabilisierung der Gesellschaft und der Abwehr der sozialistischen Gefahr vor allem mit Fragen der Arbeiterbildung, des Genossenschaftswesens, der Freizügigkeit, der Wohnungsnot, des Aktienwesens, des Kassenwesens, der ländlichen Arbeiter, der Gewerkvereine, des Arbeiterschutzes, des Arbeitsrechts sowie des Vereins- und Versammlungswesens. Besonders große Hoffnungen knüpfen Konferenzteilnehmer an die Gewerkvereine. Mit Blick auf England diskutiert man ihre Förderung, ihre Zukunftsaufgaben, ihre rechtliche Privilegierung und staatlich-juristische Überformung. Man erörtert darauf aufbauende Einigungsämter und Schiedsgerichte, um so ein Bollwerk gegen den Sozialismus und einen bei den Arbeitern akzeptablen Faktor der Ordnung und des „sozialen Friedens“ zu gewinnen.217 Gleichzeitig kommt man überein, den Regierungen zu empfehlen, die Arbeiterbewegung in den jeweiligen Staaten durch Verschärfung des „gemeinen Rechts“ (d.h. vor allem des Vereinsrechts, der „Preßgesetze“) zu bekämpfen. Die Internationale, die im „Zeitalter der Nationalstaaten“ den Konferenzteilnehmern als die „gefährlichste Form“ des „Mißbrauchs“ der Vereinsfreiheit, als mit ihren Aktivitäten im „vollsten Gegensatze zu den Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats“ befindlich qualifiziert wird, müsse durch (Verbots-) Maßnahmen bekämpft werden, die auf der „Solidarität aller Regierungen“ beruhen müßten,218 vermerkt das Protokoll. Diese Auffassungen auf einer Konferenz, die nach Bismarcks Beurteilung wesentlich dem außenpolitischen Bedürfnis einer Annäherung des Deutschen Reiches an Österreich-Ungarn dienen soll, belegen, daß der Wille zu einer rein „ausnahmerechtlichen“ Repression der Arbeiterbewegung in diesen Kreisen nicht akzeptabel ist, dies nicht zuletzt wegen erwarteter innenpolitischer Schwierigkeiten. Bismarck und der Kaiser des Deutschen Reiches zeigen sich nach dieser Konferenz nur wenig an Sozialpolitik interessiert. Sie neigen repressiven Strategien zu. Mit Wageners Promemoria über diese Konferenz ist eine umfassende sozialpolitische Grundsatzdiskussion erst einmal abgeschlossen, seine Gedanken werden nicht umgesetzt. Mit dieser Haltung steht Bismarck auch im Gegensatz zu „seinem“ berühmten Schriftwechsel mit dem Handelsminister von Itzenplitz, den er im Vorfeld dieser Konferenz geführt hatte und der auch den zur Tat drängenden Willen zu signalisieren schien, die Arbeiter zu „...Schutzbefohlenen, zu Klienten des 216 Winter, Heidi, Tennstedt, Florian (Bearb.): Quellensammlung...I. Abteilung. 1. Band...a.aO.(=Anm. 155), Dok. Nr. 120, S. 381. 217 Vgl. zu dieser Konferenz, ihrer Vorgeschichte und Begleitumstände auch: Brügel, Ludwig: Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, Wien 1922, 90 ff.; einen Bericht über den Konferenzverlauf findet man S. 155 ff. 218 Vgl. den Protokollauszug bei: Lipinski, Rich.(ard): Dokumente...a.a.O.(=Anm. 209), 15 f.; vgl. auch: Winter, Heidi, Tennstedt, Florian (Bearb.):Quellensammlung...I. Abteilung. 1. Band...a.a.O.(=Anm. 155), 430.
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Staates zu machen“219, d.h. der seine staatspolitische Ausrichtung220 und seine Neigung zu gleichzeitiger Repression dokumentiert. In einem auf den 21. Oktober 1871 datierten Schreiben zur „sozialen Frage“ an den Handelsminister von Itzenplitz bemerkte Bismarck noch, die in Bad Gastein angestellten Überlegungen zusammenfassend und auf einen Entwurf eines Mitarbeiters gestützt folgendes: Die Tätigkeit der Regierungen könne sich in doppelter Weise äußern, indem sie „...1. denjenigen Wünschen der arbeitenden Klassen - das Wort in dem schiefen, aber gang und gäben Sinne verstanden, welche in den Wandlungen der Produktions-, Verkehrs- und Preisverhältnisse eine Berechtigung haben - durch die Gesetzgebung und die Verwaltung entgegenkommen, soweit es mit den allgemeinen Staatsinteressen verträglich ist, 2. staatsgefährliche Agitationen durch Verbots- und Strafgesetze zu hemmen, soweit es geschehen kann, ohne ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern.“221 Im November 1871 wurde der Briefwechsel fortgeführt, weil Bismarck mit „seinen“ weitgehenden „sozialinterventionistischen“ Anschauungen bei von Itzenplitz auf Widerspruch stieß.222 Auf die liberal und politisch-strategisch motivierten Einwendungen gegen die „klassische Präzisierung einer monarchischen Sozialreform“223, die derartige Bestrebungen in die Nähe des Sozialismus rückten, replizierte Bismarck am 17. November 1871 mit einem von Hermann Wagener entworfenen Schreiben: „Eine Einmischung der bestehenden Staaten in die sozialistische Bewegung ist... so wenig gleichbedeutend mit dem Siege der sozialistischen Doktrin, daß mir vielmehr die Aktion der gegenwärtig herrschenden Staatsgewalt als das einzige Mittel erscheint, der sozialistischen Bewegung in ihrer gegenwärtigen Beirrung Halt zu gebieten und dieselbe insbesondere dadurch in heilsamere Wege zu leiten, daß man realisiert, was in den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und in dem Rahmen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann.“224 Praktische Folgen dieser „von außen“ angestoßenen Debatten bleiben aus und Einsichten in grundsätzliche Mängel der Staats- und Wirtschaftsordnung bewegen in diesen Jahren weder den Kanzler und noch viel weniger den Kaiser. Die (vorübergehende) sozialpolitische Abstinenz Bismarcks und seine noch aus der „Konfliktzeit“ und den nachfolgenden Erfahrungen resultierende Abwendung von einer Politik der „behutsamen“ Erweiterung der Handlungsspielräume für die Arbeiterbewegung führt dazu, daß er den emanzipatorischen Gehalt dieser Bewegung nicht anerkennen kann. Hieraus erwächst ein Widerspruch zu seinen sozialpolitischen Beratern. Der bereits gestürzte Hermann Wagener versucht im Jahre 1873 vergeblich, Bismarck zu überzeugen, „...daß jeder Versuch der Verständigung und Ausgleichung mit den arbeitenden Klassen durchaus aussichtslos ist, solange man sich nicht auf den Standpunkt vollkommener politischer und sozialer Gleichberechtigung stellt.“ 225 In diesem Sinne und ebenfalls vergeblich wirbt ab 1872 auch Theodor Lohmann mit Blick auf die Ansätze zu einer „gemäßigten“ Arbeiterbewegung „...für eine 219 Born, Karl Erich: Sozialpolitische Probleme...a.a.O. (=Anm. 152), 43. 220 Diese wird auch betont von: Rothfels, Hans: Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik. Rede gehalten bei der Reichsgründungsfeier am 18. Januar 1929. Königsberg Pr. 1929, 6 f. 221 Zitiert aus: Zeitschrift für Sozialreform, 38(1992)1, 49; vgl. auch: Hunkel, Ernst: Fürst Bismarck...a.a.O. (=Anm. 153) 20. 222 Vgl. etwa: Quandt, Otto: Die Anfänge der Bismarckschen Sozialgesetzgebung und die Haltung der Parteien. Berlin 1938 (Diss.), 9. 223 Vgl. zur Formulierung: Schmoller, Gustav: Charakterbilder. München und Leipzig 1913, 49. 224 Zitiert nach: Zeitschrift für Sozialreform...a.a.O.(=Anm. 221), 54; vgl. nunmehr auch: Winter, Heidi, Tennstedt, Florian (Bearb.): Quellensammlung…I. Abteilung. 1. Band...a.a.O.(=Anm. 155), Dok. Nr. 75 und 85. 225 Meyer, Rudolph: Hundert Jahre conservativer Politik und Literatur. Band 1. Wien und Leipzig, o.J., 252.
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Sozialpolitik auf der Grundlage vollkommener sozialer und politischer Gleichberechtigung, die über die bloße Sicherung der materiellen Existenz der Arbeiter weit hinauszielte.“226 Daneben plädiert Lohmann für Arbeiterschutz und Gewerbeaufsicht. Mit dieser Orientierung am Arbeitsschutz und mit dem Sturz von Bismarcks Freund und Berater Hermann Wagener und den Aktivitäten von Bismarcks Gegenspieler Theodor Lohmann beginnt ab 1873 eine neue Entwicklungsphase staatlicher Sozialpolitik, die zunächst im Zeichen von Arbeiterschutzinitiativen steht. Über Jahre erhält Lohmann nun Gelegenheit, seinen (vor Eintritt in den Dienst Preußens) in der Kirchenverwaltung des annektierten Hannover gewachsenen antipreußischen Widerstandsgeist an Bismarck zu erproben. Am 30. September 1876 legt Bismarck sein Veto gegen den Ausbau der Fabrikgesetzgebung ein und widerspricht im Juli 1877 dem Entwurf eines entsprechenden Gesetzes, das daraufhin nicht in den Reichstag eingebracht wird.227 Hieraus ergibt sich eine weitere bedeutende, vor allem aus der Ablehnung der Fabrikinspektion resultierende Verengung der sozialpolitischen Instrumentarien, die Bismarck akzeptabel erscheinen. Am 6. und 7. Oktober 1872 treten in Eisenach, dem Ort der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, etwa 180 Männer aus Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft zusammen, um die „soziale Frage“ zu besprechen. Aus dieser Aktivität heraus konstituiert sich am 13. Oktober 1873 der „Verein für Socialpolitik“, der von nun an mit beachtlicher Wirkung die erwähnte öffentlich geführte Diskussion um die staatliche Sozialpolitik prägt und voranbringt. Motiviert durch die neu entfachte Revolutionsfurcht schaltet sich dieser Verein zu einer Zeit in die Diskussion ein, die für die Durchsetzung einer staatlichen Sozialpolitik weiterhin sehr „schwierig“ ist. Die Argumentation erinnert darüber hinaus teilweise sehr stark an die Gedankengänge der Pauperismusautoren.228 In erster Linie wendet sich dieser Verein mit seinen Empfehlungen und Vorstößen an das politisch-administrative System, das zu dieser Zeit nicht zuletzt durch Bismarcks Intervention auf dem Gebiet der Sozialreform weitgehend auf der Stelle tritt. Dieser Verein von - wie man bald sagt - „Kathedersozialisten“, in dem auch einige Mitglieder des seit 1844 bestehenden „Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen“ aktiv sind, wendet sich einerseits gegen „socialistische Experimente“229 andererseits gegen das „Prinzip der Nichtintervention des Staates.“230 Der Verein steht damit im Gegensatz zu den „auf dem Markt des Tages“ unbedingt vorherrschenden „volkswirtschaftlichen Doktrinen“, zur „Manchesterpartei“ und richtet sich gegen das „absolute laissez-faire et lessez-passer“ in der „sozialen Frage“. Durchaus ausgehend von der These und der Befürchtung der möglichen „...Gefahr einer uns zwar bis jetzt nur von ferne, aber doch deutlich genug drohenden socialen Revolution...“231 226 Groh, Dieter: Die misslungene ‘innere Reichsgründung’. Verfassung, Wirtschaft und Sozialpolitik im zweiten Reich. In: Revue d`Allemagne, 4(1972), 88 - 112, hier: 106. 227 Vgl.: Lipinski, Rich.(ard): Dokumente...a.a.O. (=Anm. 209), 12; vgl. neuerdings zu den sozialpolitischen Anschauungen Lohmanns und zu seiner Auseinandersetzung mit den amtlichen sozialpolitischen Aktivitäten: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi: „Der Staat hat wenig Liebe - activ wie passiv“. Die Anfänge des Sozialstaats im Deutschen Reich von 1871. In: Zeitschrift für Sozialreform, 38(1993)6, 362 - 392. 228 Zum Verein vgl.: Boese, F.: Geschichte des Vereins für Socialpolitik 1872 - 1932. Berlin 1939 (=Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 188), sowie: Bruch, Rüdiger vom: Bürgerliche Sozialreform...a.a.O. (=Anm. 207), 72 ff. 229 Vgl.: Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage am 6. und 7. October 1872. Leipzig 1873, 5. 230 Vgl. ebenda, 2; vgl. auch: Gehrig, Hans: Die Begründung des Prinzips der Sozialreform. Jena 1914, bes. 169 ff. 231Vgl.: Verhandlungen...a.a.O.(=Anm. 229), 1.
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betont der „Verein für Socialpolitik“ die gesellschaftsstabilisierende Funktion einer mit administrativ-gesetzlichen Mitteln durchzusetzenden Wirtschafts-, Sozial- und Arbeiterpolitik. Der Grundkonsens dieses Vereins wird auf der Eisenacher Versammlung am 6. Oktober 1872 von dem sozialkonservativen Hochschullehrer Gustav Schmoller auf den Begriff gebracht, wenn er ausführt: die Mehrzahl derer, die die Versammlung einberufen und die Einladung unterzeichnet haben, wollten „...eine starke Staatsgewalt, welche über den egoistischen Klasseninteressen stehend, die Gesetze gebe, mit gerechter Hand die Verwaltung leite, die Schwachen schütze, die unteren Klassen hebe...“232 Unter dem Aspekt der sozialpolitischen Orientierung Bismarcks und der späteren Arbeiterversicherungspolitik gewinnt ein Gutachten des „Vereins für Socialpolitik“ an Bedeutung, das sich im Jahre 1874 mit der Frage der Errichtung einer umfassenden „Casse“ für Arbeiter befaßt. Verfasser ist Fritz Kalle, Fabrikbesitzer, Vorsitzender des „Mittelrheinischen Fabrikantenvereins“ und Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses. Er betont in seinem Gutachten über „eine deutsche Arbeiter-Invaliden-, Wittwen- und Waisen-Casse“: Die „Unsicherheit der Zukunft“ des Arbeiters und die hieraus sich „entwickelnden Anschauungen“ machten zu einem großen Teil die Empfänglichkeit für die „socialdemokratische Agitation“ aus.233 Daneben seien die Gemeinden durch die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit und das „Gesetz über den Unterstützungswohnsitz“ geschädigt. Es sei höchst ungerecht, „...der Gemeinde die Verpflichtung zur Unterhaltung der invaliden Arbeiter oder Waisen und Wittwen der Arbeiter aufzubürden, welche von dem betreffenden Industriellen von außen herangezogen wurden...“234 Neben dieser Argumentation, die im Kern die Verschiebung von „Soziallasten“ von den Etats der Gemeinden, die wesentlich aus Steuern der Besitzenden gespeist werden, auf die Schultern der Arbeiter legitimieren soll, birgt das Gutachten weitere beachtenswerte und „zukunftsweisende“ Aspekte. Der Hinweis auf die krisenhafte Entwicklung bei den „Pensionskassen der Gewerkvereine“235 dient Fritz Kalle zur Begründung und Rechtfertigung der Einführung eines allgemeinen staatlichen Versicherungszwangs,236 eine Idee, die im Gegensatz zu dem bloß lokalen, dispositiven Versicherungszwang der „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ stehend, um diese Zeit in Unternehmerkreisen bereits einige Verbreitung gefunden hat.237 Die in den 70er Jahren zunehmende Neigung zur Instrumentalisierung des Zwangs als Mittel der staatlichen Sozialpolitik, die zusammenfällt mit einer allgemeinen Abnahme des Widerwillens gegen den Unternehmerbeitrag,238 wird schließlich vom 1876 gegründeten für Sozialpolitik wichtigen „Centralverband Deutscher Industrieller“ übernommen,239 einem Verband, in dem überwiegend die großbürgerlich-industriellen Führungsschichten organisiert sind, die sich gegen Ende der 1870er Jahre mit der preußisch-aristokratischen Herrenklasse verstärkt zu gemeinsamer Herrschaftsausübung und Interessenpolitik zusammenfinden werden.
232 Ebenda, 4. 233 Vgl.: Kalle, Fritz: Eine deutsche Arbeiter-Invaliden-, Wittwen- und Waisen-Casse. Gutachten. In: Ueber Altersund Invalidencassen für Arbeiter. Gutachten auf Veranlassung des Vereins für Socialpolitik abgegeben von F. Kalle u.a. Leipzig 1874, 1 - 22, 1. 234 Derselbe, ebenda, 2. 235 Vgl. denselben, ebenda, 6. 236 Vgl. denselben, ebenda, 4. 237 Vgl.: Zwiedineck-Südenhorst, Otto von: Sozialpolitik. Berlin und Leipzig 1911, 381. 238 Vgl.: Die unter staatlicher Aufsicht stehenden gewerblichen Hülfskassen... a.a.O.(=Anm. 48), VI. 239 Vgl.: Frevert, Ute: Krankheit...a.a.O.(=Anm. 38), 181.
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Die zur Begründung des Zwangs angeführte mangelnde Bereitschaft der Arbeiter Beiträge zum Pensionskassenwesen freiwillig zu leisten, wird von Fritz Kalle nicht aus den niedrigen Löhnen abgeleitet, sondern ganz im Stile der Pauperismusautoren aus einer fast schon fundamentalen moralisch-sittlichen Verdorbenheit der Arbeiter: „Leichtsinn, Mangel an Voraussicht ist hier gepaart mit Mangel an Ehrgefühl, beides hervorgegangen aus der aus mangelhafter Erziehung erwachsenden Verwilderung der Anschauungen und Sitten.“240 Auch Kalle plädiert aus eigener Anschauung heraus für die in der preußischen Kassengesetzgebung ebenso wie in zahlreichen Betriebswohlfahrtseinrichtungen vorgesehene Heranziehung von „Arbeitern und Arbeitgebern“ zur „Cassenverwaltung.“241 Durch diese Form der gemischten Verwaltung werde der Vorteil eines neuen „Berührungspunktes zwischen den beiden Classen“ erreicht. Nichts sei nach seiner Ansicht mehr geeignet, „...die zwischen denselben herrschende Gegensätzlichkeit zu mildern, zu freundschaftlichem Hand in Hand gehen zu führen, als gemeinsame Arbeit.“242 Die Arbeiterversicherung, vermutet Kalle, führe über die „gesicherte Zukunft“ des Arbeiters zu einem Interesse am „Bestehenbleiben des Ganzen“ und dadurch werde er weniger zugänglich für die „Umsturzlehren der Social-Demokraten.“243 Kalle verbindet mit der Invaliditäts-, Witwen- und Waisenversicherung der Arbeiter ganz bewußt die Hoffnung, die damalige Haftpflichtgesetzgebung durch eine „günstige“ Versicherungslösung zu ersetzen.244 Das Haftpflichtgesetz war aus einer heftigen, viele Kräfte einbeziehenden Diskussion um die Ursachen und Folgen, um die Vermeidbarkeit und Verantwortung, um das Einstehen für und den Ausgleich der Schuld bei (Arbeits-)Unfällen hervorgegangen. Spektakuläre Massenunfälle waren eine wesentliche Triebkraft dieser Entwicklung. Am Anfang des politisch-administrativen Prozesses stand eine Petition, die der Ausschuß der nationalliberalen Partei beim Reichstag des Norddeutschen Bundes und beim Bundeskanzleramt im Jahre 1868 einreichte. Nachdem die Regelung des „allgemeinen Rechts“, nach der nur der unmittelbare Verursacher, nicht der Auftraggeber, also in der Regel ein anderer Arbeiter bzw. ein „Betriebsbeamter“ verschuldensabhängig haftete, u.a. wegen der Mittellosigkeit der Ersatzpflichtigen völlig untragbar geworden war, ist die hier vor allem interessierende (Unternehmer-)Haftpflicht seit dem Beginn der 1870er Jahre geregelt im „Gesetz, betreffend die Verbindlichkeit zum Schadenersatz für die bei dem Betriebe von Eisenbahnen, Bergwerken, Fabriken, Steinbrüchen und Gräbereien herbeigeführten Tödtungen und Körperverletzungen“ vom 7. Juni 1871.245 Durch die Bestimmung, daß (jenseits der Eisenbahnen) eine schuldabhängige Haftung des Unternehmers auch für das Verhalten seiner Vertreter vorgesehen ist, kommt es zu zahlreichen Haftpflichtprozessen der Unternehmer mit „ihren“ Arbeitern: „Sie waren die Ursache endloser Feindschaft und Verbitterung zwischen Arbeiter und Fabrikherr, die selbst nicht durch eine billige Entscheidung des Gerichts geheilt wurden.“246 Der so ständig neu aufgerissene „unselige Gegensatz“ wird auch dadurch nicht überbrückt, daß sich ein Teil der Unternehmer bei „Unfallversicherungs-Aktiengesellschaften“ versichert. Eher wird der 240 Kalle, Fritz: Eine deutsche...a.a.O.(=Anm. 233), 4. 241 Reichhaltiges Material zur Ausgestaltung der Wohlfahrtseinrichtungen der Unternehmen bietet die Rubrik „Repertorium der Leistungen“, die fortlaufend in der „Concordia. Zeitschrift für die Arbeiterfrage“ ab 1872 erscheint. 242 Kalle, Fritz: Eine deutsche...a.a.O.(=Anm. 233), 9. 243 Vgl. denselben, ebenda, 7. 244 Vgl. denselben, ebenda, 2. 245 RGBl. 1871, 207; grundlegende Ausführungen und Dokumente finden sich in dem von Florian Tennstedt, Heidi Winter unter Mitarbeit von Heinz Domeinski bearbeiteten Band: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 - 1914. I. Abteilung. 2. Band. Stuttgart, Jena, New York 1993. 246 Bachem, Carl: Haftpflicht. In: Bachem, Julius (Hg.): Staatslexikon. 3., neubearbeitete Auflage. 2. Band. Freiburg i. Br. 1908, Sp. 967 - 989, hier: Sp. 975.
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Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
Gegner der Arbeiter dadurch noch mächtiger und unerbittlicher, eher nehmen die Prozesse mit dem Ziel der Schuldzurückweisung zu, wird die „Schadensabwicklung“ verschleppt und die „Neigung“ zu unfairen Vergleichen verstärkt. Bei den folgenschwersten Unfällen, insbesondere bei Explosionen, wird der Schuldbeweis z.B. dadurch unmöglich gemacht, daß die Betriebsstätte verwüstet ist und die schuldige Person getötet wurde. Auch hierdurch wird das „Culpaprinzip“ ad absurdum geführt und es offenbaren sich schwere rechtspolitische Fehler. Bei Insolvenzen nicht versicherter Unternehmen kommt die Entschädigung häufig ganz in Wegfall. Wegen der Höhe der eventuell. zu erwartenden Schadensersatzansprüche geben Unternehmer unverheirateten Arbeitern den Vorzug, um der „kostspieligen Fürsorge“ für Witwen und Waisen enthoben zu sein. Mitunter geraten sie wegen der Höhe der Entschädigung in Existenznot. Vor dem Hintergrund dieser für die Unternehmer und für die Arbeiter unakzeptablen Regelungen des Reichshaftpflichtgesetzes kommt die Diskussion nicht zur Ruhe und es erhöht sich der sozialpolitische Problemdruck. In diesen Zusammenhang sind auch die Aktivitäten des eigensinnigen Referenten im Preußischen Handelsministerium, die Verstöße Theodor Lohmanns seit dem Jahre 1878 zu stellen. Diese durch eine zunehmende technische Gefährlichkeit der Unternehmungen, die Beweislastregelung (Arbeiter haben die Schuld des Unternehmers usw. nachzuweisen), die strikte Verweigerung eines wirksamen Unfall- und Gesundheitsschutzes in den Betrieben weit aufgerissene Quelle vielfältigen Elends in der Arbeiterschaft, soll nach dem Willen der Arbeiterbewegung nicht überwiegend durch eine Entschädigungskassen-Regelung gestopft werden, wie es dem Fabrikanten Kalle vorschwebt. Seit 1867 liegt ein weitreichender, wiederholt erfolglos gestellter Arbeiterschutzgesetzentwurf der Sozialdemokratie vor.247 Die damals bereits diskutierte Forderung einer wirksamen Intervention in den Bereich der „industriellen Pathologie“ etwa in Form von gesetzlichem Arbeiterschutz, von Meldepflichten, verschärfter Haftpflicht (durch Verallgemeinerung der Gefährdungshaftung, Umkehr der Beweislastregelung) und umfassender Gewerbeaufsicht fehlt in Fritz Kalles Stellungnahme zur Arbeiterfrage „naturgemäß“.248 Wie bei dem Entwurf und der Verabschiedung der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes sind auch in der sozialreformerischen Diskussion zu Beginn der 1870er Jahre die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine bemüht, ihre Interessen zu wahren. Diese haben im Jahre 1870/71 einen bedeutenden Mitgliederverlust zu verzeichnen und setzen verstärkt auf sozialpolitische Aktivitäten, schon um sich von den in zahlreichen Streikaktionen engagierten Freien Gewerkschaften zu unterscheiden. Wiederum kommt es diesen Kräften darauf an, das Kassenwesen als Betätigungsfeld der Gewerkvereine zu erhalten. Aus dieser Sicht, der es, wie den bürgerlichen Sozialreformern, um eine Stärkung des bürgerlichen Einflusses, um „Klassenharmonie“ geht, sind Konzepte einer „Kranken-, Sterbe-, Invaliden- und Unterstützungskasse“ auf Gemeinde- bzw. Gemeindeverbandsebene249 ebenso abzulehnen und abzuwehren, wie etwa der jede „Zersplitterung nach Ort und Beruf“ negieren-
247 Vgl.: Schröder, Wilhelm: Arbeiter und Sozialreform. In: Sozialistische Monatshefte, 16(1910), 217 - 224, hier: 217. 248 Vgl. dazu : Machtan, Lothar: Risikoversicherung statt Gesundheitsschutz für Arbeiter. Zur Entstehung der Unfallversicherung im Bismarck-Reich. In: Leviathan, 13(1985)3, 420 - 441; sowie Machtan, Lothar, Ott, René: Erwerbsarbeit als Gesundheitsrisiko. Zum historischen Umgang mit einem virulenten Problem. In: Brüggemeier, Franz-Josef, Rommelspacher, Thomas (Hg.): Besiegte Natur. München 1987, 124 - 142, bes. 136. 249 Vgl. dazu: Ludwig-Wolf, L.: Ueber Alters- und Invaliden-Pensionscassen. Gutachten...In: Ueber Alters- und Invalidencassen für Arbeiter...a.a.O.(=Anm. 233), 35 - 56.
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de Standpunkt einer zentralistischen und staatlichen „Reichsinvalidencasse.“250 Beide Modelle hätten die Anlehnung an und Organisation durch Gewerkvereine und damit eine Attraktivitätssteigerung dieser Gewerkschaftsrichtung sehr erschwert. Die passende Strategie findet Max Hirsch in dem Entwurf und der Begründung zu einem „Gesetz, betreffend die gegenseitigen Hülfscassen“ aus dem Jahre 1874. 251 Dieser Entwurf sieht, entsprechend der Diskussion vor allem auch über die Invaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter, Normativbestimmungen für „Vereinigungen von nicht geschlossener Mitgliederzahl“ vor, „...welche die gegenseitige Unterstützung (Versicherung) ihrer Mitglieder oder deren Angehöriger im Falle der Krankheit, der Invalidität durch Unfall oder Siechtum, des Alters oder des Todes, sowie die gegenseitige Versicherung einer Aussteuer oder ähnlicher Leistungen bezwecken...“252 Der Gesetzentwurf läßt offen, ob die Invaliden- und Altersversicherung bzw. Witwen- und Waisenunterstützung durch „Capital oder Rente“ erfolgen solle (§ 13 des Entwurfs). Er spiegelt damit den damals noch offenen Streit um die Aufbringungs- und Auszahlungsformen der Geld- und Vermögensmassen einer Arbeiterversicherung wider. Ansonsten tritt Hirsch - staatliche Kontrolle auf ein Minimum reduzierend - für weitestgehende Freiheit und Freiwilligkeit auf diesem Gebiet ein.253 Er wahrt somit in idealer Weise die Interessen der Gewerkvereine und der Fortschrittspartei.
4.5.3 Die Hilfskassengesetzgebung des Jahres 1876 Das Ende des von Max Hirsch so bezeichneten „...höchst unklaren, zerissenen und nach allen Richtungen unbefriedigenden Interregnums, der ‘kaiserlosen, der schrecklichen Zeit’ für die deutschen Hülfskassen...“254 führt nicht zu einer derart weitgehenden Privilegierung der freien Kassen und damit zwangsläufig auch der Gewerkvereinsinstitute. Obwohl nun wahrlich genügend historische Vorbilder öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Natur existieren und zusätzlich ausreichend Konzeptionen entworfen worden sind, kommt es auch nicht zu einer „Versicherungslösung“, die alle „Risiken“ des Lohnarbeiters (Krankheit, Unfall, Alter, Invalidität, Witwen- und Waisenschaft, Arbeitslosigkeit) umfaßt. Das Ergebnis des im Frühjahr 1874 beginnenden (Hilfskassen-)Gesetzgebungsprozesses255 ist noch einmal eine Absage an umfassende Ansätze einer Arbeiterversicherung. Die Gesetzgebung sucht lediglich vier teils traditionelle „Problembereiche“ bzw. „Gefahren“ zu „beheben“, die sich der Regierung und den antisozialistischen Kräften wie folgt darstellen: Es geht um die Klarstellung der durch § 141 der Gewerbeordnung offen gelassenen Frage nach dem Rechtsstatus der „anderen Kassen“, die von einer Mitgliedschaft in einer Zwangskasse befreien; es geht um die Gefährdung der Zwangskassen durch eine „Aushöhlung des Zwangsprinzips“ sowie um die Gefahr „unsolider“ Kassengründungen und die „Gefahr“ des „Mißbrauchs“ von Kassengeldern namentlich für Agitation und Streiks, eine „Gefahr“, die sich verschärft habe, „...seitdem man gegen Ar-
250 Vgl. dazu: Behm, G.: Zur Regelung des Invaliden-Pensions-Cassenwesens. In: Ueber Alters- und Invalidencassen für Arbeiter...a.a.O.(=Anm. 233), 133 - 176. 251 Vgl.: Hirsch, Max: Die gegenseitigen Hülfskassen und die Gesetzgebung. Berlin 1875; der Gesetzentwurf findet sich zudem in: Ueber Alters- und Invalidencassen...a.a.O.(=Anm. 233), 177 - 194. 252 § 1 des Gesetzentwurfs. 253 Vgl.: Hirsch, Max: Die gegenseitigen Hülfskassen... a.a.O.(=Anm. 251), 6ff. 254 Derselbe, ebenda, 1. 255 So: Rothfels, Hans: Theodor Lohmann und die Kampfjahre der staatlichen Sozialpolitik. Berlin 1927, 41.
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beitervereine und Fachverbände mit polizeilichen Mitteln vorzugehen begonnen hatte.“256 Diese „Probleme“ und „Gefahren“ berühren neben der „inneren Ordnung“ der Kassen auch das Verhältnis von den Zwangs- zu den freien Kassen und die Tatsache der Verbindung der freien Kassen mit der Arbeiterbewegung. Dieser „Problembestand“ wird ein weiteres und letztes Mal im Rahmen der Instrumente und Strukturen der preußischen „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ „bearbeitet“ und einheitlich für das ganze Reichsgebiet geregelt. Das Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses ist einmal das von den Sozialdemokraten wegen seiner gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Tendenz abgelehnte „Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen“ vom 7. April 1876.257 Im Zusammenhang damit wird mit dem Datum vom 8. April 1876 das „Gesetz, betreffend die Abänderung des Titels VIII der Gewerbeordnung“ erlassen.258 Dieses Gesetz faßt den in seiner Auslegung strittigen § 141 der auf das Reich übernommenen Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes neu und fügt zahlreiche Bestimmungen zu dem bislang strittigen Verhältnis von Zwangs- und freien Kassen hinzu. Das durch § 141 der alten Gewerbeordnung auftauchende „Problem“ der Qualität der „anderen Kassen“, die von der Beitrittspflicht zu den Zwangskassen befreien, wird im Rahmen des Abänderungsgesetzes zur Gewerbeordnung dadurch gelöst, daß bestimmt wird, daß in den Orten mit Kassenzwang nur noch diejenigen vom Beitritt zur Zwangskasse befreit sind, „...welche die Betheiligung an einer anderen eingeschriebenen Hülfskasse nachweisen.“259 Eine derartige, von der höheren Verwaltungsbehörde auszusprechende Anerkennung als „eingeschriebene Hülfskasse“ können auch die von Vereinen und Gesellschaften für ihre Mitglieder errichteten Kassen erwerben, wenn sie sich den in 36 Paragraphen festgelegten Normativvorschriften des „Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen“ unterwerfen, Normativvorschriften, die teilweise der „Solidität“ der Kasse dienen und damit ein weiteres Problem des damaligen Kassenwesens lösen sollen. In der Tradition der preußischen Kassengesetzgebung stehend, kennt das Hilfskassengesetz keine offensichtliche Diskriminierung der Frauen bei der Besetzung der Organe der Hilfskassen. Eine solche läßt sich aber gleichwohl bei den Leistungen feststellen. Das Hilfskassengesetz gewährt den Hinterbliebenen „verstorbener Mitglieder“ eine „Beihülfe“ und sieht ansonsten vor, daß die Gewährung ärztlicher Behandlung auf „Familienangehörige der Mitglieder“ ausgedehnt werden kann (§ 12). Ein abgeleiteter Anspruch für „Familienangehörige“ ist also nicht verpflichtend vorgeschrieben. Die Vorschriften zum Verhältnis von den Zwangs- zu den freien Kassen werden hauptsächlich zugunsten der wirtschaftsfriedlichen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine getroffen.260 Das „Problem“ der Gefährdung der Zwangskassen durch eine „Aushöhlung des Zwangsprinzips“ wird durch diese Bestimmung und die Schaffung eines einheitlichen Kassentyps allerdings faktisch nicht behoben. Durch eine Liberalisierung der Zwangsmomente wird die Gefährdung der Zwangskassen sogar verstärkt. Wie vordem in Preußen, stößt der Kassenzwang in diesem letzten entscheidend liberal geprägten Kassengesetzgebungsverfahren auf
256 Derselbe, ebenda, 41 f. 257 RGBl. 1876, 125. 258 RGBl. 1876, 134; vgl. insgesamt zu den gewerblichen Unterstützungskassen: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. I. Abteilung. 5. Band. Darmstadt 1999, XXI ff. 259 § 141a des Gesetz, betreffend die Abänderung des Titels VIII der Gewerbeordnung vom 8. April 1876. 260 Vgl.: Zeller: Die geschichtliche Entwicklung der Arbeiterversicherung. In: Vierteljahrschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte, 11(1882)3, 19 - 87, hier: 57 f.
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erheblichen Widerstand.261 Der bis zu diesem Zeitpunkt in den alten preußischen Provinzen geltende § 3 des „Gesetz, betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen“ vom 3. April 1854, der den preußischen Regierungen unter bestimmten Bedingungen das Recht einräumte, die Bildung von Zwangskassen gegenüber unwilligen Gemeinden und Gemeindeverbänden anzuordnen, enfällt mit der Hilfskassengesetzgebung. In dieser Beziehung wird der preußische Rechtszustand des Jahres 1845 auf das Deutsche Reich verallgemeinert. Ein beträchtlicher „historischer Rückfall“. Das „Gesetz, betreffend die Abänderung des Titels VIII der Gewerbeordnung“ vom 8. April 1876 bestimmt dementsprechend, den Kassenzwang wieder ganz den Gemeinden überantwortend: „Durch Ortsstatut... kann die Bildung von Hülfskassen nach Maßgabe des Gesetzes über die eingeschriebenen Hülfskassen vom 7. April 1876 zur Unterstützung von Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter angeordnet werden... Durch Ortsstatuten kann Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeitern, welche das sechszehnte Lebenjahr zurückgelegt haben, die Betheiligung an einer auf Anordnung der Gemeindebehörde gebildeten Kasse zur Pflicht gemacht werden.“262 Da man das Gebiet der „materiellen Sicherstellung“ von Arbeitern bei Arbeitsunfähigkeit den Kassen der Gewerkvereine offenhalten will und vor einem sondergesetzlichen Verbot der Freien Gewerkschaften und ihrer Unterstützungskassen (noch) zurückscheut, verlangt das „Problem“ des „Mißbrauchs“ von Kassengeldern eine anderweitige Regelung. Dieses „Problem“, d.h. die Trennung der Kassen von den gewerkschaftspolitischen Zielen der Arbeiterbewegung wird durch zahlreiche Normativvorschriften angegangen. Die zur Arbeiterbewegung gehörenden freien Kassen, die den Status einer „eingeschriebenen Hülfskasse“ erwerben möchten oder müssen, werden in ein sehr inniges Verhältnis zur Gemeinde und zur höheren Verwaltungsbehörde gebracht, zahlreiche Kontroll- und Eingriffsbefugnisse werden eröffnet, die Gestaltungs- und Selbstverwaltungsspielräume werden dementsprechend beengt. Eine entsprechende Strafvorschrift (Geldstrafe bis 300 Mark) soll die Beachtung der Vorschriften effektivieren. Der § 6 Abs. 2 dieses Gesetzes schreibt vor: „Der Beitritt darf von der Betheiligung an anderen Gesellschaften oder Vereinen nur dann abhängig gemacht werden, wenn eine solche Betheiligung für sämmtliche Mitglieder bei Errichtung der Kasse durch Statut vorgesehen ist. Im Uebrigen darf den Mitgliedern die Verpflichtung zu Handlungen oder Unterlassungen, welche mit dem Kassenzweck in keiner Verbindung stehen, nicht auferlegt werden.“ Der § 13 des Gesetzes verlangt, daß Beiträge nur zur Abwicklung der gesetzlich normierten Unterstützungstatbestände und zur Deckung der Verwaltungskosten verwendet werden dürfen, dasselbe gilt für die Verwendung des Vermögens. In den Motiven heißt es, daß zunächst Sorge dafür zu treffen war, daß die Kassen nicht fremdartigen, ihren Aufgaben fernliegenden Interessen dienstbar gemacht und daß vom Staat verliehene Rechte nicht gegen die Interessen des Staates verwertet werden können.263 Ansonsten soll auch nicht unterschlagen werden, daß die Aufsicht der Behörden auf die Beachtung der Einhaltung der gesetzlichen und satzungsmäßigen Bestimmungen beschränkt ist. „Zweckmäßigkeitserwägungen“ dürfen nach dem Geset-
261 Vgl.: Brentano, Lujo: Erwerbsordnung und Unterstützungswesen. In: Jahrbuch fuer Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, N.F. 1(1877), 15 - 45, hier: 40. 262 Vgl. die §§ 141 und 141a des „Gesetz, betreffend die Abänderung des Titels VIII der GewO.“ vom 8. 4. 1876. 263 Vgl.: Tschoeke, Arwed: Grundfragen der Sozialversicherung. Köln 1937 (Diss. jur.), 47; vgl. zur Einschätzung, daß derart die Hilfskassen „...gegen die Beeinflussung durch politische und andere Machtströmungen...“ gesichert werden sollen auch: Weymann, Konrat: Die gesetzliche Neuregelung des Hilfskassenwesens im Deutschen Reiche. In: Zeitschrift für die gesamte Versicherungs-Wissenschaft, 8(1908), 484 - 498, hier: 485.
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zeswortlaut nicht angestellt werden.264 Zu mehr als einem „Drittheil der Stimmen“ dürfen Arbeitgeber, die Zuschüsse leisten, im Vorstand der Kasse nicht vertreten sein (§ 16). Der praktische Erfolg der beiden Gesetze des Jahres 1876 ist aufgrund des dispositiven, den Gemeinden erneut eine Schlüsselstellung einräumenden Charakters nur in Preußen, dem historischen Ausgangspunkt dieser Rechtsprinzipien, nennenswert. Bis zum Ende des Jahres 1880 sind in Preußen aber nur 278, in allen anderen Bundesstaaten nur 20 Ortsstatute erlassen worden. Es erwerben bis zu diesem Zeitpunkt in Preußen 559 Krankenkassen für Arbeiter mit etwa 123.000 Mitgliedern das Recht einer „eingeschriebenen Hülfskasse“, darunter befinden sich nur 112 neu errichtete Kassen. Im übrigen Reichsgebiet erlangen 321 Kassen die Rechte einer „eingeschriebenen Hülfskasse“, von denen nur 120 neu errichtet sind. Insgesamt geht das Kassenwesen leicht zurück.265 Aus sozialdemokratischer Sicht urteilt der Reichstagsabgeordnete Max Schippel: „Thatsächlich hatte sich die Entwicklung des Kassenwesens sehr v ers ch ieden ar tig vollzogen. Einem Verfall zahlreicher alter Kassen stand gegenüber ein Aufb lüh en zahlreicher jüngerer, moderner Kassen, die besonders mit der G ewe rksch af tsb ew egung verbunden waren. Gerade hier zeigten sich kräftige Keime eines neuen Wachsthums. Doch dieses Wachsthum war der Regierung sehr unangenehm, weil es die Selbstverwaltung und Lohnkoalition der Arbeiter stärkte. Diese unliebsamen Kassen zu schwächen und in der drohenden Weiterentwicklung zu unterbinden, war geradezu eine der Nebenabsichten der Regierungsreform.“266 Trotz der von Gewerkschaften und Sozialdemokratie abgelehnten kontrollierenden und festlegenden Grundzüge des Hilfskassengesetzes, trotz der grundsätzlichen Opposition gegen diese Gesetzgebung, die argumentativ schon vieles von dem vorwegnimmt, was später gegen „Bismarcks Sozialreform“ vorgebracht wird, erwerben bereits im Jahre 1877 auch Gewerkschaftskassen die Rechtsform einer „eingeschriebenen Hülfskasse“. Hinter diesem Verhalten steht auch die Absicht, im Falle einer noch stärkeren Verfolgung und Repression der Arbeiterbewegung in der legalisierten und amtlich konzessionierten Kasse einen organisatorischen Rückhalt zu haben.267 Über „eingeschriebene Hülfskassen“ verfügen 1877 u.a. der Deutsche Buchdrucker-Verband, der Bund der deutschen Böttcher, der Bund der deutschen Glasarbeiter, die Gewerkschaft der Manufaktur- und Handarbeiter beiderlei Geschlechts, die Metallarbeiter-Gewerks-Genossenschaft, der Verband deutscher Schmiede, der Senefelder-Bund, die Gewerkschaft der Schuhmacher, der deutsche Tabakarbeiter-Verein, der Bund der Tischler und das Deutsche Zimmerer-Gewerk.268 Insgesamt gesehen ist auch angesichts dieser Schilderung festzuhalten, daß am Ende der Epoche der „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ die Zahl und der Mitgliederbestand der Zwangskassen den der gewerkschaftlich orientierten freien Kassen deutlich übersteigt.269 Das ergibt sich schon aus einem Vergleich der in Zwangskassen Versicherten (1880 allein in Preußen: 839.602) mit der Zahl der Mitglieder der Freien Gewerkschaften (1878: 56.275) und der
264 Vgl. denselben, ebenda, 486. 265 Vgl.: Schippel, Max: Sozialdemokratisches Reichstags-Handbuch. Ein Führer durch die Zeit- und Streitfragen der Reichsgesetzgebung. Berlin o.J., 837. 266 Derselbe, ebenda, 838. 267 Vgl. insgesamt: Stollberg, Gunnar: Die gewerkschaftsnahen zentralisierten Hilfskassen im Deutschen Kaiserreich. In: Zeitschrift für Sozialreform, 29(1983), 339 - 369, hier: 346. 268 Grundlegend zu diesem Fragenkreis: Knaack, Rudolf, Schröder, Wolfgang: Gewerkschaftliche Zentralverbände, Freie Hilfskassen und die Arbeiterpresse unter dem Sozialistengesetz. Die Berichte des Berliner Polizeipräsidenten vom 4. September 1886 und 28. Mai 1888. In: Jahrbuch für Geschichte, 22(1981), 351 - 481, hier: 383. 269 Das betont: Frevert, Ute: Krankheit...a.a.O. (=Anm. 38), 117.
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Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine (1880: 21.000).270 Darüber hinaus schließt der Status als Zwangskasse nicht jede solidaritätsstärkende Wirkung, Selbstverwaltung durch die Versicherten und Instrumentalisierung für gewerkschaftliche Ziele aus. Die soziale Wirklichkeit ist auch auf diesem Gebiete reichhaltiger als die Rechtsvorschriften und Begriffe vermuten lassen. Für viele der aus antistaatlicher Selbsthilfe der Arbeiterbewegung heraus entstandenen Kassen hätte der Erwerb des Status einer eingeschriebenen Hilfskasse, deren Leistungen auf den Fall der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit und des Todes beschränkt sein müssen, einen sozialen Rückschritt bedeutet: z.B. die Einstellung der Zahlung von verschieden ausgelegten Invaliden-, Alters-, Witwen-, Waisen-, Reise-, Gemaßregelten- und Arbeitslosenunterstützungen.271 Auch die Beschränkung der Kassenzwecke durch das Hilfskassengesetz ist politisch motiviert: kapitalbildende Versicherungszweige sollen vermieden werden, da die zu diesem Zweck zusammenkommenden erheblichen Kassenmittel zur (Mit-)Finanzierung von Arbeitseinstellungen herangezogen, die Kampfkraft der Gewerkschaften ganz erheblich gesteigert hätten.272 Insgesamt ist die staatliche Sozialpolitik der „liberalen Epoche“ weit davon entfernt, den vielfach diskutierten Vorstellungen und Plänen von der „Hebung“ einer ganzen Gesellschaftsklasse auch nur annähernd zu entsprechen. Jedem Versuch der materiellen „Hebung“ stehen während der Krise seit 1873 vielfache Widerstände entgegen: Eine extrem ungleiche und „unten“ als provozierend ungerecht empfundene Einkommens- und Vermögensverteilung, Arbeitslosigkeit, geringe Löhne, insgesamt stockende, noch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau befindliche Produktion von Lebensbedarfen. Die Kassenpolitik stößt von dort an ihre Grenzen und bringt sich während der gesamten hier betrachteten Zeit durch den Verzicht auf einen umfassenden Versicherungszwang um ihre Wirksamkeit. Veranschlagt man die dramatischen sozialstrukturellen und sozialen Folgen der kapitalistischen Entwicklung und die Liberalisierung von Gewerbeordnung und Kassengesetzgebung, so kann man auch Ende der 1870er Jahre mit Recht (wenn auch leicht schief und überzeichnend) davon sprechen, daß sich alle Ansätze der staatlichen Kassenpolitik bis in die 1870er Jahre darauf beschränken „...in die frei und chaotisch fließende Ökonomie einen Hauch von korporativer Gliederung einzustreuen...“273, eine Ökonomie, die zur Zeit der Reichsgründung eine Arbeiterklasse geschaffen hat, die rund ein Fünftel, 1882 aber schon rund ein Viertel der rasch wachsenden Bevölkerung des Reiches ausmacht.274
270 Zur Zahl der in Preußen 1880 versicherten Personen vgl.: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung ...a.a.O.(=Anm. 73), 20; die Zahlen zu den Gewerkschaftsmitgliedern sind entnommen: Hohorst, Gerd, Kocka, Jürgen, Ritter, Gerhard A. (Hg.): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch...a.a.O.(=Anm. 193), 135. Einheitliche, sämtlich auf 1880 sich beziehende Werte sind nicht ermittelt. 271 Vgl.: Tschoeke, Arwed: Grundfragen...a.a.O. (=Anm. 263), 46; vgl. auch: Manes, Alfred: Hilfskassen. In: Elster, L. et al. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaft. Fünfter Band. Jena 1923, 257-261, hier: 258. 272 Vgl.: Waldheim, Harald von: Zeitgemäße Reformen der deutschen Sozialversicherung in historischer und wirtschaftlicher Beleuchtung. Berlin 1930 (Diss. phil.), 53 f. 273 So bezogen auf die Kassenpolitik des preußischen Handelsministeriums: Frevert, Ute: Krankheit...a.a.O. (=Anm. 38), 175. 274 Vgl.: Born, Karl Erich: Von der Reichsgründung bis zum I. Weltkrieg. In: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 9., neu bearbeitete Auflage, hrsgg. von Herbert Grundmann. Band 3. Stuttgart 1973, 221 - 375, hier: 229.
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4.5.4 Repression und Sozialreform bis zur Arbeiterversicherungsgesetzgebung Entschlossen schürt und benutzt Bismarck die antisozialistische Stimmung, die auf den Siedepunkt gebrachte Erregung der Öffentlichkeit nach den Kaiserattentaten, um eine nunmehr antiliberale „partielle Umfundamentierung der Grundlagen des Reiches“275 und die radikalisierte Unterdrückung der Sozialdemokratie einzuleiten. Schon das erste Attentat vom 11. Mai 1878, bei dem der Kaiser nicht verletzt wird, nimmt er, der in der Vergangenheit verschiedentlich mit gleichgerichteten Versuchen an der liberalen Reichstagsmehrheit gescheitert war,276 zum Anlaß einen Entwurf eines „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ einzubringen.277 Dieser Vorstoß wird abgelehnt, weil sich auch das Zentrum und die Nationalliberalen gegen diesen ersten, „schlecht gearbeiteten“ Entwurf aussprechen.278 Das Attentat vom 2. Juni 1878, bei dem der in weiten Kreisen als „Heldenkaiser“ verehrte und hochstilisierte Wilhelm I. schwer verletzt wird, ist für Bismarck Anlaß für die Auflösung des Reichstages und die Ansetzung von Neuwahlen. Der Wahlkampf wird zu einer „Aufwühlung aller Volksleidenschaften“279 gegen die Sozialdemokraten, den Fortschritt und die Nationalliberalen mißbraucht, um den Wählerwillen im Sinne der angestrebten Repression der Arbeiterbewegung und der „Umfundamentierung“ der Politik zu beeinflussen. Während die Sozialisten vor allem als Urheber der Attentate auf den greisen Kaiser aber auch als Ursache der Wirtschaftskrise angegriffen werden, macht man die Liberalen u.a. für die „Schutzlosigkeit“ des Kaisers verantwortlich. Tatsächlich erleiden Fortschrittspartei, Sozialdemokratie und Nationalliberale Verluste und unter dem Eindruck dieser Wahl und Wahlagitation wird der dem neugewählten, stärker konservativ bestimmten Reichstag vorgelegte überarbeitete Entwurf eines Sozialistengesetzes mit den Stimmen der Nationalliberalen am 19. Oktober 1878 angenommen.280 Das Sozialistengesetz ist von Anfang an mit der die Annahme erleichternden auch offiziell propagierten Idee verbunden, neben diese Repressionspolitik auch eine noch unspezifizierte „positive“ Bekämpfung der Sozialdemokratie durch „Sozialreform“ treten zu lassen. Bereits in der kaiserlichen Eröffnungsrede zur zweiten Session des Reichstags vom 12. Februar 1879 finden sich entsprechende Andeutungen. Mit der Annahme des Sozialistengesetzes ist allerdings von dem alten Gedanken einer „Kopplung“ von Sozialreform und Repression zunächst einmal nur die Repression und diese keineswegs in einer „klug“ dimensionierten Form verwirklicht. Mit der „Sozialreform“ politisch-propagandistisch „verknüpft“ ist auch der zweite Bereich der durch die bewußte Schwächung des Liberalismus ermöglichten Wende der deutschen Politik ab dem Ende der 70er Jahre. Am Tiefpunkt der Krise angelangt, führt die Einflußnahme der sich organisierenden Interessen der Schwer- und Textilindustrie und der 275 Vgl.: Mommsen, Wolfgang J.: Die latente Krise des Wilhelminischen Reiches. Staat und Gesellschaft in Deutschland 1890 - 1914. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 15(1974), 7 - 28, hier: 11. 276 1874 scheitert ein von ihm vorgelegter Pressegesetzentwurf, 1875 eine Erweiterung des Strafgesetzbuches durch einen Paragraphen, der die „Aufreizung zum Klassenhaß“ mit Strafe bedroht; vgl.: Born, Karl Erich: Von der Reichsgründung...a.a.O. (=Anm. 274), 294. 277 Vgl. zum Entwurf: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. 4. Legislaturperiode. I. Session 1878, 2. Band. Anlagen Nr. 1 bis 48, Aktenstück Nr. 4, 2 ff. 278 Vgl.: Mommsen, Wilhelm: Bismarck. Reinbek bei Hamburg 1980, 127; vgl. auch die erhellenden Dokumente bei: Lipinski, Rich(ard): Dokumente...a.a.O.(=Anm. 209), 21 ff. 279 So: Heyde, L.: Abriß der Sozialpolitik. 3. u. 4. Aufl. Leipzig 1923, 29. 280 RGBl. 1878, 351; vgl. ausführlicher: Pack, Wolfgang: Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878 - 1890. Düsseldorf 1961.
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Großgrundbesitzer 1879 zum Schutzzoll, zur staatlichen Protektion von Industrie und Landwirtschaft auf Kosten der Verbraucher, insbesondere der Arbeiter,281 auf Kosten auch der aufgrund verbesserter Verkehrsverhältnisse und ökonomisch-technischer Überlegenheit verstärkt exportorientiert handelnden ausländischen Staaten und Unternehmen.282 Die Diskussion um den Schutzzoll spaltet die Nationalliberale Partei in eine „freihändlerische“ und eine in wichtigen Fragen zunehmend regierungsorientierte Fraktion und führt zu einer mit zahlreichen Vorbehalten aus der Zeit des nunmehr abebbenden „Kulturkampfes“ belasteten Annäherung des Zentrums an die Regierungspolitik. Die Schutzzollpolitik soll darüber hinaus mit anderen Maßnahmen die Reichsfinanzen stärken und u.a. dem Zwecke dienen, eine erhebliche finanzielle Beteiligung des Reiches an der kommenden Sozialpolitik zu ermöglichen.283 Der Schutzzoll, die Erhaltung des deutschen Marktes für die „nationale Produktion“, wird aber auch sehr direkt mit dem Argument begründet und verteidigt, „...daß nur eine starke Industrie der Belastung einer Sozialgesetzgebung gewachsen wäre, und daß es andererseits nur gerecht sei, wenn die durch Zölle und indirekte Steuern entstehenden Preissteigerungen in Form von Sozialleistungen oder mindestens Steuererleichterungen an die wenig verdienenden Bevölkerungsschichten wieder zurückgezahlt würden.“284 Real allerdings ergibt sich, daß die Belastungen der Lebenshaltung der Arbeiter durch diese vor allem der Existenz- und Herrschaftssicherung des (Groß-)Bürgertums, der (Groß-)Agrarier und des Staates dienenden Politikstrategien bedeutend höher ausfallen, als die Entlastungen aufgrund der Unternehmerbeiträge und Staatszuschüsse zur erst viel später entstehenden Arbeiterversicherung.285 Gegen Kritik der Arbeiterbewegung an dieser „einseitigen“ Krisen- und Stabilisierungspolitik schützt weitgehend das Sozialistengesetz. Die angesprochenen Maßnahmen bringen die preußische und die Reichsbürokratie sowie Bismarck selbst in enge Fühlungnahme mit der Großindustrie. Die sozialpolitischen Vorstöße dieser Kräfte in den Jahren vor und während der „Bismarckschen Sozialreform“, ihr eingenständiges vor allem auf „sozialen Frieden“, auf Arbeitsmotivation, Arbeitsfähigkeit und Loyalität im Betrieb abstellendes Interesse an Sozial- bzw. Arbeiterpolitik, das sich auch in den zahlreichen „Betriebswohlfahrtseinrichtungen“ dokumentiert, machen sie besonders zu Beginn zu Beeinflussern und vor allem anfänglich zu kritischen Unterstützern der „Sozialreform“. Auch diese Faktoren helfen zu erklären, warum es in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, in einer Situation, die insgesamt gesehen keineswegs revolutionär ist, auch Bismarck teilt nicht die „naive“ vom ihm selbst geschürte Revolutionsfurcht des Bürgertums,286 zu einer doch vergleichsweise deutlichen sozialpolitischen Reaktion kommt. Obwohl die neue Kons281 Vgl.: Grebing, Helga: Geschichte...a.a.O. (=Anm. 138), 71; vgl. allgemein zu diesem Fragenkreis: Hardach, Karl W.: Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879. Berlin 1967. 282 Vgl.: Mommsen, Wilhelm: Bismarck...a.a.O. (=Anm. 278), 129f.; vgl. aus zeitgenössischer Sicht etwa: Stommel, Kuno: Die Getreidezölle. Reformvorschläge für den praktischen Staats- und Landwirth. Düsseldorf 1885, 1ff. 283 Vgl.: Ritter, Gerhard A.: Soziale Sicherheit in Deutschland und Großbritannien von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Ein Vergleich. In: Geschichte und Gesellschaft, 13(1987)2, 137 - 156, hier: 142. 284 Dreher, Wolfgang: Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung in Deutschland nach z.T. unveröffentlichten Quellen. Berlin 1978, 29 f. 285 Vgl.: Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung der Sozialversicherung besonders in Deutschland und Großbritannien. In: Köhler, Peter A., Zacher, Hans F.(Hg.): Beiträge zu Geschichte und aktueller Situation der Sozialversicherung. Berlin 1983, 79 - 109, hier: 87. 286 Daß deshalb die „Sozialreform“ eben auch andere Triebkräfte habe, als den „Druck“ der Arbeiterbewegung betont sehr stark: Baron, Rüdiger: Weder Zuckerbrot noch Peitsche. Historische Konstitutionsbedingungen des Sozialstaats in Deutschland. In: Backhaus, H.-G. et al.(Hg.): Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 12. Frankfurt a.M. 1979, 13 - 55.
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tellation der politischen Kräfte, insbesondere die Schwächung des Liberalismus287, ein deutliches Überschreiten der bisherigen Bahnen der preußisch-deutschen Sozialpolitik erlaubt, bleibt der Versuch, der „staatserschütternden Bewegung der unteren Volksklassen“288 auch durch „positive Maßnahmen“ Abbruch zu tun289 „schwierig“ und ist auf der Reichstagsebene auf zahlreiche Kompromißbildungen angewiesen. Diese „Schwierigkeiten“ resultieren zunächst vor allem aus der destruktiven Rolle Bismarcks gegenüber bestimmten sozialpolitischen Vorstößen. Wenn und soweit soziale Verelendung den Vorstellungen der Sozialpolitiker entsprechend geeignet ist, soziale Unruhen hervorzurufen oder auszulösen, wäre eine „Bethätigung des sozialen Empfindens“290 gerade auch wegen des Sozialistengesetzes dringend erforderlich. Nicht nur die Auswirkungen des „Gründerkrachs“ machen sich in der Lebenshaltung und im Kassenwesen der Arbeiter negativ bemerkbar, die Kassen werden darüber hinaus durch das Sozialistengesetz und die daran anknüpfende Verwaltungs- und Polizeipraxis bedroht und in ihrem Bestand vermindert.291 Ähnlich, wie die „milden Kassen“ von Gesellen und Gehilfen in einem Entwurf der preußischen Gewerbeordnung aus dem Jahre 1835 zunächst mit Verbot belegt werden, werden im zweiten Entwurf des Sozialistengesetzes die „genossenschaftlichen Kassen“ den „Vereinen, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken...“ zunächst gleichgestellt, und sie werden, wie diese, mit der ganzen Fülle der im Gesetz vorgesehenen Repressionsmaßnahmen bedacht. Ganz im Rahmen der bekannten Argumente gegen die Arbeiterbewegung führt die Begründung dazu aus: Die Sozialdemokratie habe solche Kassen für ihre politischen Zwecke bereits benutzt und durch eine weitere Verfolgung dieses Weges könne die Absicht des Gesetzes leicht vereitelt werden.292 In der schließlich verabschiedeten Fassung des Sozialistengesetzes ist diese Vorschrift abgemildert. Die geltende Fassung des Sozialistengesetzes bedroht weiterhin die Kasse, bei denen die Polizeibehörde feststellen zu können glaubt, es handele sich um einen Verein, welcher den „Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezweckt“ (vgl. § 1 Abs.1 des Sozialistengesetzes), mit Verbot. Etwas anders ausgestaltet ist das Verfahren, falls die Polizeibehörde die Kasse als Verein klassifiziert „...in welche(m) sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten“ (§ 1 Abs. 2). Während für die „eingeschriebenen Hülfskassen“ in diesem Fall auf die Repressivvorschriften des „Gesetzes über die eingeschriebenen Hülfskassen“ vom 7. April 1876 zurückgegriffen wird, bestimmt der § 3 des Sozialistengesetzes für „selbständige Kassenvereine (nicht eingeschriebene)“, d.h. für 287 Vgl. dazu: Quandt, Otto: Die Anfänge...a.a.O.(=Anm. 222), 26 ff. 288 So: Knobloch, A.: Die Beseitigung der Beitragsmarke. Jena 1896, 1. 289 Dies Motiv spricht die sog. „Kaiserliche Botschaft“ in aller Klarheit aus. Es handelt sich bei dieser „Kaiserlichen Botschaft“ vom 17. November 1881 übrigens weder um die erste, noch um die letzte „Botschaft“ zur Arbeiterversicherung. Zudem ist sie nicht kaiserlicher Herkunft. Leitende Ministerialbeamte hatten sie entworfen, Bismarck hat sie wesentlich redigiert, Beanstandungen des Kaisers an der Tendenz der Botschaft berücksichtigend. Bismarck selbst hat sie verlesen, da der Kaiser „wider Erwarten durch Unwohlsein verhindert“ war, die Session des Reichstages zu eröffnen. Vgl.: Tennstedt, Florian: Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881. In: Zeitschrift für Sozialreform, 17(1981)11/12, 663 - 739. 290 So der Titel der nicht sehr lesenswerten Arbeit von: Astfalck, Cäsar: Die Besiegung der Sozialdemokratie durch Bethätigung des sozialen Empfindens. Erster Teil...Charlottenburg 1899. 291 Vgl.: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung ...a.a.O.(=Anm. 73), 20. 292 Vgl.: Stenographische Berichte...a.a.O.(=Anm. 277), 6.
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viele Kassen der Gewerkschaften insbesondere der freien, der sozialdemokratischen Richtung, daß sie in einem derartigen Falle „...zunächst nicht zu verbieten, sondern unter eine außerordentliche staatliche Kontrolle zu stellen..“ sind. Nach § 4 ist die Kontrollbehörde befugt, allen Sitzungen und Versammlungen des Kassenvereins beizuwohnen, Generalversammlungen einzuberufen und zu leiten, die Bücher, Schriften und Kassenbestände einzusehen, sowie Auskunft über die Verhältnisse des Vereins zu fordern, die Ausführung von Beschlüssen, die dem „Umsturz“ dienen, zu untersagen, mit der Wahrnehmung der Obliegenheiten des Vorstandes oder anderer leitender Organe des Vereins geeignete Personen zu betrauen, die Kassen in Verwahrung und Verwaltung zu nehmen. Wird allerdinges durch ein Organ der Kasse den von der Kontrollbehörde innerhalb ihrer Befugnisse erlassenen Anordnungen zuwidergehandelt oder treten die Bestrebungen des § 1 Abs. 2 des Sozialistengesetzes auch nach Einleitung der Kontrolle „zu Tage“, „...so kann der Verein verboten werden“ (§ 5). Zuständig für Verbot und Kontrolle der Kassen ist die Landespolizeibehörde.293 Die Attentatshysterie führt nicht nur zum Sozialistengesetz. Als Kampfmittel gegen die „Eiterbeule am Leibe unseres Volkes“, wie sich der preußische Hofhistoriograph Heinrich von Treitschke in der „Stunde des Aufruhrs aller Gefühle“ von Haß geblendet ausdrückt,294 kommt es, jenseits der angekündigten „Sozialreform“, auch zu einer unmittelbaren, nicht sehr zukunftsträchtigen sozialpolitischen Aktion. Als sozialpolitisches Mittel gegen den „feigen Mord“, der um das Herrscherhaus „schleicht“,295 ist ein publikumswirksamer Vorstoß der aristokratischen Herrenschicht gedacht. „Aus Veranlassung der bei diesen beiden Attentaten abgewendeten Lebensgefahr...“ wird aufgrund eines von Feldmarschall Graf Moltke unterzeichneten Aufrufs eine Sammlung veranstaltet, die insgesamt 1,74 Millionen Mark erbringt.296 Dieses Geld wird der am 22. März 1879 gegründeten, unter dem Protektorat des Kronprinzen stehenden Stiftung „Kaiser Wilhelms-Spende, allgemeine deutsche Stiftung für Alters-Renten- und Kapitalversicherung“ einverleibt.297 Die Kaiserattentate und das Sozialistengesetz führen seit Mitte 1878 in preußischen Ministerien zu intensiven Diskussionen über den einzuschlagenden sozialpolitischen Kurs. Erlasse des Handelsministeriums von Juni 1878 gemahnen nachgeordnete Behörden zu repressiven und sozialpolitischen Aktivitäten. Eine bemerkenswerte Initiative von Bismarcks Stellvertreter, des Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode, hätte dazu führen können, daß das Sozialistengesetz schon 1878/79 ein „positives Korrelat“ in Form von staatlicher Sozialpolitik hätte bekommen können. Diese Initiative zu einer zeitlich parallelen Bekämpfung nicht nur der Wirkung (d.h. der Sozialdemokratie) sondern auch der Ursachen (der radikalisierenden Sozialverhältnisse) stößt auf Bismarcks Obstruktion.298 Auch das Großbürgertum, der zweite Pfeiler des unter Bismarck geschmiedeten schwerindustriell-großagrarischen Interessenkartells von „Ahr und Eisen“ bringt die Verwaltung und 293 Zu weiteren Verfahrensvorschriften vgl.: §§ 6 - 9 des „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Betrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21. Oktober 1878; RGBl. 1878, 351. 294 Vgl. seinen bezeichnenden Beitrag: Der Socialismus und der Meuchelmord. In: Preußische Jahrbücher, 41(1878), 637 - 647, hier: 637, 638. 295 Vgl. denselben, ebenda, 639. 296 Vgl.: Stichwort: Wilhelm I (Deutscher Kaiser und König von Preußen). In: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. 13., vollständig umgearbeitete Aufl. Sechzehnter Band. Leipzig 1887, 644. 297 Vgl. zur „Kaiser Wilhelms-Spende“: Stämmler, R.: Haben sich die Invalidenkassen der deutschen Gewerkvereine bewährt? Mittheilungen aus den Schriften der deutschen Gewerkvereine. Berlin 1881, 3ff. 298 Vgl.: Rothfels, Hans: Theodor Lohmann...a.a.O. (=Anm. 255), 49; Breitenborn, Konrad: Im Dienste Bismarcks. Berlin 1984, 283ff.; Zu den Erlassen des Handelsministeriums vgl.: STAMS, Oberpräsidium, Akte Nr. 2693I, Bl. 9 f, 18 f.
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Regierung des Reiches unter erheblichen Handlungsdruck.299 Schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes, am 11. September 1878 und erneut mit dem Antrag vom 12. Februar 1879 bringt der Abgeordnete Karl Ferdinand Stumm, unterstützt von einer Reihe von Unternehmern, sein altes Vorhaben als Antrag auf parlamentarischer Ebene in Erinnerung, obligatorische Altersversorgungs- und Invalidenkassen nach dem Muster der ihm gut bekannten KnappschaftsVereine für alle Fabrikarbeiter einzuführen.300 Beide Interpellationen bleiben unerledigt, führen aber zu regierungsamtlichen Umfragen. Zu einer solchen Ausgestaltung der „Assekuranz“ mit dem Ziel derart zur „Herstellung und Wahrung des sozialen Friedens“ beizutragen und unangenehme sozialpolitische Initiativen abzuwenden, drängt nun, nachdem die Schutzzollpolitik die internationale Konkurrenz weniger drückend gemacht hat, vermehrt auch der mächtige „Centralverband deutscher Industrieller“ (CDI).301 Gegen den Widerstand Bismarcks setzt der Reichstag im Jahre 1878 doch noch Umrisse einer präventionsorientierten Arbeiterschutzpolitik durch und fordert eine Haftpflichtrevision. Bismarcks eigensinniger Mitarbeiter Theodor Lohmann verfolgt daraufhin seit 1878 den Gedanken, durch Haftpflichtrevision das Eigeninteresse der Unternehmer an weitgehendem Arbeiterschutz zu stimulieren. Er will durch Verschärfung der Haftbarkeit ein Interesse an Arbeiterschutz hervorrufen, um auf diesem „indirekten“ Weg seinem alten Ziel einer durchgreifenden Prävention mit großen Schritten näher zu kommen; ein Ziel, daß er, auf den Widerstand Bismarcks treffend, zuvor durch eine „fundamentale Verschärfung“ der Arbeiterschutzgesetzgebung zu erreichen suchte. Dadurch hat Bismarck weiterhin Gelegenheit, sich mit Forderungen auseinanderzusetzen, die ihm widerstreben. Diese Fragen wachsen sich nunmehr zu einem Prinzipienstreit der staatlichen Sozialpolitik aus und drängen zur Entscheidung. Die Argumentation, die der Reichskanzler gegen solche Ansätze, die nicht nur von Lohmann vertreten werden, aufbietet, liegt wesentlich auf der Linie einer Interessenvertretung der Industrie. Er lehnt präventionsorientierte, auf der Haftpflicht der Unternehmer aufbauende sozialpolitische Konzepte mit dem Hinweis auf die angebliche Gefährlichkeit dieser Ansätze für den Bestand und die Entwicklung der Industrie ab. Der Primat der Förderung der industriellen Dispositionsfreiheit und Leistungsfähigkeit führt dazu, daß er die staatliche Sozialpolitik dem wirtschaftlichen Expansionismus auch als Voraussetzung der Erhaltung und des Ausbaus des Machtstaats unterordnet. Auf diese Weise dient er gleichzeitig dem Ziel der Industriellen, „Herr“ im „eigenen Hause“ bleiben zu wollen. Die Tatsache, daß nunmehr der Phase der „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ jene der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ folgt, beinhaltet also nicht, daß mit dem wirtschaftsliberalen Prinzip der Aufrechterhaltung eines ungestörten „Eigenlebens“ der Ökonomie ernsthaft gebrochen wird.302 Der Urheber derart mißliebiger Konzeptionen auf der Ebene der Ministerialbürokratie, Theodor Lohmann, hat seine Vorstellungen 1879/80 zu einer umfassenden Konzeption verdichtet. Diese umfaßt einen Gesetzentwurf zur Anzeige der in Fabriken und anderen Betrieben
299 Vgl. insgesamt den sehr lesenswerten Beitrag von: Ullmann, Hans-Peter: Industrielle Interessen und die Entstehung der deutschen Sozialversicherung 1880 - 1889. In: Historische Zeitschrift, Bd. 229(1979), 574 - 610. 300 Vgl.: Wattler, Theo: Sozialpolitik der Zentrumsfraktion zwischen 1877 und 1889 unter besonderer Berücksichtigung interner Auseinandersetzungen und Entwicklungsprozesse. Köln 1978 (Diss. phil.), 188; Die Entstehung des Gesetzes, betreffend die Invaliditäts- und Alterssicherung der Arbeiter, und die Stellung des Centralverbandes zu demselben. In: Bueck, H.A.(Hg.): Verhandlungen, Mittheilungen und Berichte des Centralverbandes deutscher Industrieller Nr. 71. Berlin 1896, 3 - 23. 301 Ebenda, 4. 302 Vgl. zusammenfassend: Machtan, Lothar: Risikoversicherung ...a.a.O.(=Anm. 248).
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vorkommenden Unfälle,303 sowie eine Denkschrift zur Haftpflichtrevision, verfaßt, um das „unselige Haftpflichtgesetz“ von 1871 so überwinden zu können.304 Hinzu treten Betriebsschutzrichtlinien.305 Mit diesen zu Anfang des Jahres 1880 vorliegenden Ausarbeitungen verweigert sich Lohmann den Vorstellungen seines unmittelbaren Vorgesetzten, des Handelsministers Karl von Hofmann, der wohl erkennt, daß damit ein Weg beschritten werden soll, der im Gegensatz zu den Vorstellungen Stumms und Bismarcks steht. Schon vor der definitiven und schriftlichen Zurückweisung dieser Konzeption durch Bismarck im Juli 1880, darf sich von Hofmann als jemand fühlen, der durch seinen Mitarbeiter schlicht in Stich gelassen worden ist. Die Denkschrift Lohmanns ist auch kein Äquivalent zu den weitreichenden Intentionen Stumms, wie Lohmann vorgibt, um den mit der Linie Stumms sympathisierenden von Hofmann für sich einzunehmen.306 Der Handelsminister sieht sich in eine schwierige Situation manövriert. Die Entscheidung der Grundsatzfrage nach der Dimensionierung von „Prävention oder Kompensation“, „Schadensursachenbekämpfung“ oder finanzieller Abgeltung der Schadensfolgen ist insoweit „festgelegt“, als Ansätze, die primär auf Prävention und Ursachenbeseitigung setzen, für den Reichskanzler weiterhin erkennbar unakzeptabel sind.307 Tatsächlich hat damit auch die Frage, die Handelsminister Karl von Hofmann anläßlich der Reichstagsdebatte vom 26. Februar 1879 stellt, bereits eine pointierte, den Weg einer „radikalen“ Prävention ausschließende Antwort gefunden. „Sollen wir nun“, fragt der Minister, „lieber auf dem Weg der Invalidenversorgung die ein soziales Band zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer knüpft - Abhilfe schaffen, oder sollen wir es thun auf dem Wege der Verschärfung des Haftpflichtgesetzes, welches in jedem einzelnen Falle der Anwendung den Arbeiter in einen juristischen Gegensatz, in eine feindliche Stellung zu dem Arbeitgeber treten läßt?“308 Entscheidende strategische Bedeutung gewinnt in dieser historischen Situation die Denkschrift eines Großindustriellen, die in den Grundlinien ähnlich wie das Gutachten des Fabrikbesitzers, Verbandsfunktionärs und Politikers Fritz Kalle aus dem Jahre 1874 argumentiert. Es handelt sich um eine Ausarbeitung des Gründungsmitglieds des Centralverbands, der Abgeordneten, des ersten Generaldirektors des „Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation“, Louis Baare.309 Baare, der sich schon einige Zeit mit der Frage einer „glücklichen“, den Betriebsfrieden und die Arbeitsmotivation sichernden Lösung der „Haftpflichtfrage“ beschäftigt hat, faßt auf Wunsch des von seinem Referenten in Stich gelassenen Handelsministers seine Gedanken zu Beginn des Jahres 1880 zu einer „Promemoria“ zusammen. Dieser benutzt die Ausarbeitung für eine Stellungnahme zu den Vorstößen Stumms und zur Auseinandersetzung mit Theodor Lohmann. In einem konfliktreichen Prozeß entsteht nun im Han303 Vgl.: Rothfels, Hans: Theodor Lohmann...a.a.O. (=Anm. 255), 49. 304 Zur Entstehungsgeschichte und zum Streit um dieses Gesetz vgl.: Endemann, W.: Die Haftpflicht der Eisenbahnen, Bergwerke etc. für die bei ihrem Betriebe herbeigeführten Tödtungen und Körperverletzungen. Erläuterungen des Reichshaftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871. Berlin 1871, 3 ff. 305 Vgl.: Machtan, Lothar, Berlepsch, Hans-Jörg von: Vorsorge...a.a.O.(=Anm. 204), 266 ff.; vgl. dazu die Quellen in: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung...I. Abteilung. 2. Band...a.a.O.(=Anm. 245). 306 Vgl. dieselben, ebenda, XXV. 307 Vgl. in diesem Zusammenhang: Held, A.: Bericht über verschiedene Ansichten, betr. die Haftpflichtfrage. In: Die Haftpflichtfrage. Gutachten und Berichte veröffentlicht vom Verein für Socialpolitik. Leipzig 1880 (=Schriften des Vereins für Socialpolitik XIX.), 139 - 154, hier: 142 f. 308 Zit. nach: Baron, J.: Zur Fortbildung des Haftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871. In: Die Haftpflichtfrage...a.a.O. (=Anm. 307), 101 - 129, hier: 129. 309 Vgl.: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialversicherung. In: Blohmke, Maria et al. (Hg.): Handbuch der Sozialmedizin in drei Bänden. Band III. Sozialmedizin in der Praxis. Stuttgart 1976, 385 - 492, hier: 424.
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delsministerium ein Votum, das immer noch viel von Lohmanns ursprünglicher Konzeption einer Haftpflichtverschärfung enthält.310 Als Karl von Hofmann Bismarck mit diesen Gedanken in Form einer kurzgefaßten Anfrage bekannt macht, stößt er auf dessen entschiedenen Widerstand, der schließlich „...Hofmanns Schicksal als Minister und Staatssekretär besiegelte.“311 Um sich effektiv gegen Bismarcks Vorwurf, er betreibe den Ruin der Industrie, zu verteidigen, präsentiert der demissionierte Handelsminister dem Reichskanzler Mitte August 1880 die Denkschrift des Schwerindustriellen Louis Baare als Grundlage seiner Gedanken. Durch die Promemoria des Industriellen angeregt, sieht nun Bismarck die Möglichkeit das politische und persönliche Ärgernis einer Haftpflichtrevision durch ein Unfallversicherungssystem zu überwinden. Er will eine Reform durchführen, die geeignet ist, Konflikte in Industrie und Politik beizulegen und die Effektivität und Produktivität in der Wirtschaft zu heben. Als Ergebnis der Interventionen Bismarcks gegen eine Weiterentwicklung des „Arbeiterschutzes“312 läßt sich festhalten: Umfangreiche Vorarbeiten, Vorstöße der Parteien im Reichstag, einschlägige Stellungnahmen von anderen sozialreformerischen Kräften scheitern und von 1878313 „...bis zu Bismarcks Sturz wurden im gesetzlichen Arbeiterschutz keine weiteren Fortschritt mehr erzielt. Sieht man vom Ausbau der Fabrikinspektion und den zaghaften Anfängen im Mutterschutz ab, ist während der gesamten Kanzlerschaft Bismarcks ein faktischer Stillstand der Arbeiterschutzgesetzgebung zu verzeichnen. Vom preußischen Gesetz über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken vom 16. Mai 1853 bis zum ‘Arbeiterschutzgesetz’ vom 1. Juni 1891 änderte sich an den Schutzvorschriften für Kinder, Jugendliche und Frauen nichts Wesentliches. Insbesondere wurden während Bismarcks Kanzlerschaft keine gesetzlichen Bestimmungen erlassen, die bestehende Schutzvorschriften über die Fabriken hinaus auf Werkstätten, Läden, Landwirtschaft oder Hausindustrie ausdehnten.“314 Der Widerstand Bismarcks gegen den „Arbeiterschutz“ bzw. die „Fabrikgesetzgebung“, der sich mit der Zeit bei ihm zu einer regelrechten fixen Idee auswächst,315 die Ablehnung von durchaus mehrheitsfähigen Initiativen, die geeignet gewesen wären, Wirkung auf die politische und soziale Arbeiterbewegung auszuüben, darf nicht nur aus „äußeren“ interessenpolitischen Interventionen erklärt werden. Er ist offensichtlich auch eng mit persönlichen Erfahrungen Bismarcks verbunden. Diese resultieren auch aus seiner Stellung als 310 Diese und die folgenden ereignisgeschichtlichen Details sind erstmals anhand neu erschlossener Quellen treffend rekonstruiert bei: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi: „Der Staat...a.a.O.(=Anm. 227), 373 ff. 311 Rothfels, Hans: Theodor Lohmann...a.a.O. (=Anm. 255), 51. 312 Der Terminus „Arbeiterschutz“ wird zur damaligen Zeit mitunter sehr breit verstanden. Er bezeichnet dann den umfassenden Schutz der Arbeiter gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Wirtschaftsform und ist insofern nicht mit „Arbeitsschutz“ gleich zu setzen. Vgl. z.B. noch das Stichwort „Arbeiterfrage“ in: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Sechste gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Erster Band. Leipzig und Wien 1903, 675 – 681, hier: 677 f.; einen Überblick über die Entwicklung des Arbeiterschutzes bietet das Stichwort „Arbeiterschutzgesetzgebung“. In: Elster, Ludwig, Weber, Adolf, Wieser, Friedrich (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Erster Band. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage. Jena 1923, 434 ff. 313 In diesem Jahr wird das „Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung“ vom 17. Juli 1878 (RGBl. 1878, 199) verabschiedet; vgl. als lesenswerte Studie zu den Arbeiterschutzbestrebungen und dem Widerstand Bismarcks unter besonderer Berücksichtigung des Katholizismus auch: Sellier, Ulrich: Die Arbeiterschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert. Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, bes. 117 ff. 314 So resümierend die Einleitung zu: Ayass, Wolfgang (Bearb.): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. I. Abteilung. 3. Band. Stuttgart, Jena, New York 1996, XXXVIII f. 315 Vgl. Grundlegend: Ayaß, Wolfgang: Bismarck und der Arbeiterschutz. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 89(2002)4, 400 - 426, hier: 425.
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Gutsherr und Unternehmer. Von diesem Standpunkt aus qualifiziert Bismarck in Reichtagsreden, in seinen Memoiren, in einzelnen Schriftstücken und in seinen berühmten „Bleistiftmarginalien“ in den Akten der Reichs- und preußischen Ministerien den „Arbeiterschutz“ schlicht als schädlich nicht nur für das Gewerbe, sondern auch für die zu schützenden Arbeitergruppen. Regelrechte Ausfälle gegen die Fabrikinspektion und den betrieblichen Gefahrenschutz gehen auf Konflikte zurück, die Bismarck mit dem Fabrikinspektor für Pommern, Robert Hertel, im Juli 1977 in Varzin (heute: Warsino, Polen) austrägt. Dieser moniert u.a. die fehlende Abdeckung einer Kreissäge und fehlende Sicherheitsvorkehrungen an freilaufenden Maschinenteilen. Für Bismarck gerät ein Fabrikinspektor zum Sinnbild für dumpfe Beamtenwillkür.316 Arbeitszeitregelungen kann er nur in Grenzen und bei Kindern akzeptieren. Sie erscheinen ihm sonst als Beschränkung des Geldverdienens, der Erwerbstätigkeit, als Zwang zum Müßiggang, als „bürokratische Einmischung in das Familienleben“ oder als Einengung der persönlichen Freiheit des Arbeiters oder der Arbeiterin. Selbst gegen das Verbot der Sonntagsarbeit, die er wie selbstverständlich auch in seiner Papierfabrik praktiziert, votiert er. Erst recht verfällt die Vorstellung und Kernforderung der Arbeiterbewegung nach einem „Normalarbeitstag“ seiner strikten Ablehnung. Seine Haltung weiß er gegenüber Reichstagsinitiativen über den von ihm „inspirierten“ Bundesrat wirkungsvoll zur Anwendung zu bringen. In seinen Lebenserinnerungen bezeichnet Bismarck gesetzliche Arbeitszeitregelungen pauschal als „Arbeiterzwang“, als Nötigung „weniger zu arbeiten“.317 Das Bedürfnis der Arbeiter sei eher mehr Lohn als mehr Schutz. Der Reichskanzler „…reduzierte damit den facettenreichen Arbeiterschutz auf eine reine Lohnfrage, was allerdings sehr kurz griff, denn immerhin ging es beim Arbeiterschutz auch um Bereiche wie Gesundheit, Mutterschutz, Schaffung von Freizeit und Ermöglichung von Familienleben, also um zentrale Fragen der Reproduktionsbedingungen der Arbeiterschaft.“318 Natürlich fehlt in diesem Zusammenhang nicht das Argument von der „gegenwärtig ungünstigen Lage der Industrie“, von der Verteuerung der Produktion mit nachteiligen Folgen für die Konkurrenz- und Exportfähigkeit der inländischen Industrie, die schließlich zur Arbeitslosigkeit führe. Mit seiner strikten Ablehnung des „Arbeiterschutzes“ übertrifft Bismarck durch seine Radikalität sogar noch den Standpunkt der ihm sonst so verhassten linksliberalen „Freisinnigen“,319 die sich in den 1880er Jahren als grundsätzliche Kritiker des Staatsinterventionismus in Form der geplanten Arbeiterversicherungsgesetzgebung profilieren.320
4.5.5 Die „Bismarcksche Sozialreform“ Nicht durch die Rehabilitierung Karl von Hofmanns, sondern durch die vorübergehende Übernahme des preußischen Handelsministeriums leitet der Reichskanzler eine Umsetzung seiner Konzeption in die Wege. Dabei beteiligt er an der Erarbeitung eines Unfallversicherungsentwurfs nicht nur „seine“ Geheimräte im Handelsministerium, sondern auch den Kom316 Vgl. denselben, ebenda, 405 ff. 317 Vgl. denselben, ebenda, 421. 318 Derselbe, ebenda, 421. 319 Vgl. denselben, ebenda, 422. 320 Genauere Hinweise bei: Kieseritzky, Wolther von: Liberalismus und Sozialstaat. Köln, Weimar, Wien 2002, vor allem: 202 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die im wesentlichen auf spätere Zeiträume bezogene Arbeit von: Tober, Holger J.: Deutscher Liberalismus und Sozialpolitik in der Ära des Wilhelminismus. Husum 1999.
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merzienrat Louis Baare. Im Verlaufe weiterer Abstimmungsprozesse wird unter Zugrundelegung des Entwurfs von Lohmann eine vorläufige Endfassung eines Entwurfs eines Unfallversicherungsgesetzes erstellt, welcher nunmehr zunächst intern, dann auch „amtlich“ als „positive“ Ergänzung zum Sozialistengesetz bezeichnet wird. Ein machtvoller Anfangsimpuls, eine unbeirrte Durchsetzung tragender Prinzipien eines Gesetzes, das zugleich sowohl betriebsökonomischen als auch „politökonomischen“ Zielen dienen soll,321 die Erfindung aufsehenerregender Sprachbilder (Pekulium der Enterbten, christliche Staatsidee...) sind ebenso Bismarcks Leistung wie die Verhinderung sozialpolitischer Alternativen. Als eine „Vervollständigung der Gesetzgebung zum Schutze gegen sozialdemokratische Bestrebungen“ in der Thronrede vom 15. Februar 1881 bezeichnet,322 fällt der für alle sichtbare Beginn der nunmehr von Bismarck persönlich vorangetriebenen Arbeiterversicherungsgesetzgebung in das Wahljahr 1881. Vor dem Hintergrund der Regierungsaktivitäten wird es ein Wahlkampf, in dem nicht so sehr das Sozialistengesetz und die zurückliegenden Kaiserattentate, sondern die „Sozialreform“ im Mittelpunkt steht. Um den Willen zur „Versöhnung“ zu demonstrieren, geht der Vollzug des Sozialistengesetzes in seine „milde Phase“ über. An der Beeinflussung des Wählerwillens durch „Sozialreform“ sind jedoch nicht nur Konservative und Bismarck interessiert, sondern alle Parteien wollen „...die Notlage des Volkes möglichst zu ihrem Vorteile ausnutzen“, wollen ihre parlamentarische Position durch Sozialreformversprechen ausbauen. Selbst die „fortschrittlich-sezessionistischen Manchesterleute“, mit deren „...Prinzip der unbeschränkten freien Konkurrenz sich das sozialistische Element verträgt wie Wasser mit Feuer...“323 rufen nach „Sozialreform“ und da alle Parteien unter den Bedingungen des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts „gleichzeitig“ den „kleinen Mann“ als Wähler für sich haben wollen, bezichtigen sie sich gegenseitig öffentlich der Unaufrichtigkeit.324 Dem Reichtag wird, wie in der Tronrede vom 15. Februar angekündigt, mit Datum vom 8. März 1881 ein „Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter“ als Aktenstück Nr. 41 vorgelegt.325 Diese Vorlage ist das Ergebnis einer langen Vorgeschichte, die die ältere Diskussion um Arbeitsunfälle ebenso umfaßt wie die „unbefriedigende“ Lösung dieses Problemkomplexes in Gestalt des Reichshaftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871 und die Auseinandersetzungen und Weichenstellungen im politischadministrativen System. Diese Ereignisse und nicht das Sozialistengesetz von 1878 und die kaiserlichen Kundgebungen stehen am Anfang des spezifisch deutschen Ansatzes zur obrigkeitsstaatlichen „Lösung“ der „Arbeiterfrage“. Zu den auf Bismarck persönlich zurückgehenden Weichenstellungen gehört auch, daß er die im Zuge der Entstehung der ersten Unfallversicherungsvorlage diskutierte Beitragspflicht der „armen Arbeiter“ ebenso ablehnt, wie die Durchführung einer Arbeiterversicherung in privatrechtlicher Form bzw. durch die Privatversicherung. Hier spielen wiederum negative persönliche Erfahrungen des Reichskanzlers eine Rolle. Diese hatte er mit der „Magdeburger“ gemacht. Darüber hinaus 321 Vgl. dazu: Stürmer, Michael: Bismarcks Sozialpolitik als Räson des Machtstaats. In: Zeitschrift für Sozialreform, 29(1983), 370 - 389. 322 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. 4. Legislaturperiode. IV. Session 1881. I. Band, 2; vgl. auch: Ritter, Gerhard A.: Sozialversicherung in Deutschland und England. München 1983, 28. 323 Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag. Berlin 1909, 199f. 324 So die sozialdemokratische Einschätzung: ebenda, 200. 325 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. 4. Legislaturperiode. IV. Session 1881. Dritter Band. Anlagen. Berlin 1881, 222 ff.; vgl. auch: Rosin, Heinrich: Das Recht der Arbeiterversicherung. Erster Band. Berlin 1893, 20.
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geht die im Entwurf vorgesehene öffentlich-rechtliche Reichsanstalt auf seine Initiative zurück. Mit dieser Konzeption setzt er sich in durchaus eigenständiger Weise in einen Gegensatz zu Lohmann, aber auch zu einigen Ansichten Baars.326 Die umfangreiche Begründung der ersten Unfallversicherungsvorlage nimmt wiederum die aus politischen Motiven vorgenommene Verknüpfung der Sozialreform mit dem „Sozialistengesetz“ auf und formuliert in klassisch „staatssozialistisch“-sozialpolitischer Manier: „Daß der Staat sich in höherem Maße als bisher seiner hülfsbedürftigen Mitglieder annehme, ist nicht blos eine Pflicht der Humanität und des Christenthums, von welchem die staatlichen Einrichtungen durchdrungen sein sollen, sondern auch eine Aufgabe staatserhaltender Politik, welche das Ziel zu verfolgen hat, auch in den besitzlosen Klassen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, daß der Staat nicht blos eine nothwendige, sondern auch eine wohlthätige Einrichtung sei. Zu dem Ende müssen sie durch erkennbare direkte Vortheile, welche ihnen durch gesetzgeberische Maßregeln zu Theil werden, dahin geführt werden, den Staat nicht als eine lediglich zum Schutz der besser situirten Klassen der Gesellschaft erfundene, sondern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende Institution aufzufassen.“327 Im Reichstag findet der vom Bundesrat bereits gebilligte erste Entwurf in der „ersten Berathung“, die am 1., 2. und 4. April 1881 stattfindet, vielfältige Kritik. Diese richtet sich vor allem gegen die „Reichsversicherungsanstalt“ mit Sitz in Berlin, gegen das „bürokratisch-unitaristische Element“, gegen die die „wohlthätige“ Initiative des Reiches unterstreichende Organisationsstruktur. Aber auch andere zentrale Strukturmerkmale stoßen von verschiedenen Seiten auf Widerspruch: Der Versicherungszwang, das angestrebte öffentlich-rechtliche „Versicherungsmonopol“, der Zuschuß aus öffentlichen Kassen. Der bedeutende Gegenspieler Bismarcks und Kritiker seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Führer der Fortschrittspartei, Eugen Richter, nutzt die Gelegenheit um polemisch überspitzt festzuhalten: „Der Grundsatz der Reichsregierung ist ein kommunistisches Element, und weiter noch, es ist ein Kommunismus, so schlecht wie ihn noch niemand bisher erfunden hat.“ Die Behauptung, die Regierung selbst habe mit der Sozialreform den abschüssigen Pfad des „Kommunismus“ oder „Sozialismus“ betreten, wird zu einem festen Bestandteil der Polemik dieser Jahre der deutschen Sozialstaatswerdung. Die Kritik am Ausschluß der Privatversicherung gibt dem Reichskanzler Gelegenheit, seine Vorbehalte gegen die Privatversicherung vor dem Reichstag zu artikulieren. Am Ende der ersten Beratung, am 4. April 1881, wird der erste Unfallversicherungsentwurf auf Antrag des Abgeordneten Stumm mit großer Majorität „einer Kommission mit 28 Mitgliedern“ überwiesen.328 Im Zuge dieses Verfahrens und durch die sich anschließenden weiteren Reichstagsberatungen erfährt dieser erste Entwurf zahlreiche Änderungen. Die „Karenzzeit“ für den Eintritt der „Fürsorge“ durch den Unfallversicherungsträger wird von vier auf zwei Wochen herabgesetzt, grobes Verschulden des Versicherten soll sich in der Rentenhöhe auswirken. Vor allem aber ersetzt der Reichstag die im Gesetzentwurf vorgesehene Reichsversicherungsanstalt durch Versicherungsanstalten der Einzelstaaten. 326 Vgl. insgesamt: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung...I. Abteilung. 2. Band...a.a.O. (=Anm. 245 ). 327 Stenographische Berichte...4. Legislaturperiode...IV. Session. Anlagen...a.a.O.(=Anm. 325), 228. 328 Die Debatte ist dokumentiert in den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Reichstags. 4. Legislaturperiode. IV. Session 1881. Erster Band. Berlin 1881, 673 ff., 699 ff., 733 ff.; das Zitat von dem Reichstagsabgeordneten E. Richter findet sich auf der Seite 709.
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Darüber hinaus wird „...die von den verbündeten Regierungen für nothwendig erachtete Beihülfe des Reichs zu den Kosten der Versicherung aus dem Entwurf beseitigt.“329 Diesem „...Gesetzentwurf in der Gestalt, welche er durch die Beschlüsse des Reichstags erhalten hat...“ versagen nun die „verbündeten Regierungen“ ihre Zustimmung. Gleichzeitig wird aber auch eine Übereinstimmung der „gesetzgebenden Faktoren“ in zahlreichen anderen Punkten deutlich, so daß sich ein gemeinsamer Nenner, die Perspektive einer Einigung zeigt. Die mit dem Beginn der „Sozialreform“ verknüpften wahlpolitischen Hoffnungen erfüllen sich nicht. Aber schon bald nach der Wahl ist in der berühmten „Kaiserlichen Botschaft“ vom 17. November 1881 davon die Rede, der erste Unfallversicherungsentwurf werde „…mit Rücksicht auf die im Reichtag stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung unterzogen, um die erneute Berathung desselben vorzubereiten. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt.“330 Sodann wird, nachdem ein höheres Maß „staatlicher Fürsorge“ auch für die durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig gewordenen Menschen als Perspektive staatlicher Politik angesprochen worden ist, ein wahrhaft nebulöser Hinweis auf organisatorische Arrangements eröffnet: „Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses (des christlichen, E. R.) Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde.“331 Diese „organisatorischen Vorgaben“ stürzen die zuständigen Bearbeiter der angekündigten, der zweiten Unfallversicherungsvorlage in erhebliche Probleme. Zu denen, die auf der Seite der Ministerialbürokratie nunmehr die Zeit vom Scheitern des ersten Unfallversicherungsentwurfes bis zur Verabschiedung des Unfallversicherungsgesetzes durchleben und durchleiden, gehört Robert Bosse, der zudem noch im Rahmen der Entstehung der Invaliditäts- und Altersversicherung große Bedeutung erlangt. „Am 2. 5. 1881 wechselte Bosse vom preußischen Staatsministerium in den Reichdienst über, wurde Direktor der neuen ‘sozialpolitischen’ Abteilung und zum geschickten und ebenso loyalen wie von Selbstzweifeln geplagten Chefadministrator der Arbeiterversicherungspolitik des Reichs. Damit wurde er der engste Mitarbeiter und ‘Zuarbeiter’ Karl Heinrich von Boettichers ... und Vorgesetzter des von sozialpolitischer Fachkompetenz wie missionarischer Selbstgewissheit strotzenden Theodor Lohmann.“332 Obwohl er Verfasser des ersten arg redigierten Entwurfs der „Kaiserlichen Botschaft“ war und aus seiner Feder ursprünglich die Aussagen zum gewerblichen Krankenkassenwesen und zur Alters- und Invaliditätsversicherung stammen,333 machen auch ihm die organisatorischen Andeutungen und andere Fragen zunächst ratlos. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Reichstag fällt es dem Reichskanzler nicht schwer von der Konzeption der „Reichsversicherungsanstalt“ abzurücken. Aber auch die 329 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 5. Legislaturperiode. II. Session 1882/83. Fünfter Band. Anlagen. O.O.(Berlin), o. J., Aktenstück Nr. 19, 173 - 251, hier: 194. 330 Stenographische Berichte...V. Legislaturperiode. I. Session 1881/82...a.a.O.(=Anm. 2), 2. 331 Ebenda, 2. 332 Tennstedt, Florian: Glaubensgewissheit und Revolutionsfurcht. Zum sozialpolitischen Wirken Robert Bosses. In: Zeitschrift für Sozialreform, 49(2003)6, 831 – 846, hier: 836 f.; vgl. zu Bosse auch: Frick, Robert: Christengemeinde und Bürgergemeinde in der wilhelminischen Zeit. O. O., o.J. (1971), biographische Notizen ebenda, 3 f. 333 Vgl. denselben, ebenda, 837.
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Konzeption der Versicherungsanstalten in den Einzelstaaten verfällt seiner Ablehnung. Stattdessen favorisiert er bald ein Organisationsmodell, das die genossenschaftliche Zusammenfassung gleichartiger Betriebe zu Interessen- und Gefahrengemeinschaften beinhaltet und das damit den Andeutungen in der „Kaiserlichen Botschaft“ vom 17. November 1881 entspricht. Dieses Organisationsmodell war allerdings subsidiär bereits in der ersten Unfallversicherungsvorlage enthalten und mit bestimmten Auflagen versehen worden.334 Die zweite Unfallversicherungsvorlage, die als Drucksache Nr. 19 nach Beschlussfassung durch den Bundesrat dem Reichstag mit Datum vom 8. Mai 1882 zugeht,335 beinhaltet tatsächlich eine abgeänderte Organisationsform der Unfallversicherung. Dieser zweite Gesetzentwurf zur Unfallversicherung ist mit einem „Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ verbunden, der, ebenfalls vom Bundesrat bereits beschlossen, das Datum vom 29. April 1882 trägt.336 Sämtliche Betriebe, die der Unfallversicherungspflicht unterworfen werden sollen, sollen in Gefahrenklassen eingeteilt und für die Bezirke einer „höheren Verwaltungsbehörde“ nach bestimmten Regeln zu einer „Betriebsgenossenschaft“ vereinigt werden (§§ 10 f. des Entwurfs). Am Reichszuschuß meint die Vorlage aus herrschaftsstrategischen Erwägungen festhalten zu müssen. Dem Rechtsschutz sollen spezielle für jede „Betriebsgenossenschaft“ errichtete „Schiedsgerichte“ dienen. Hier deutet sich bereits die Entstehung einer (weiteren) Sondergerichtsbarkeit an. Entgegen den Bestimmungen der ersten Unfallversicherungsvorlage soll nun das „Umlageverfahren“ der Finanzierung dienen. Von erheblicher Bedeutung ist, daß nunmehr die Unfallversicherung nicht von Beginn der fünften Woche an, sondern erst von Beginn der vierzehnten Woche nach Eintritt des Unfalls an leistungspflichtig werden soll. Diese Regelung läßt die Vorlage und Verabschiedung einer „Krankenversicherung“ der unfallversicherungspflichtig zu machenden Arbeiter vollends unumgänglich erscheinen.337 Die zweite Unfallversicherungsvorlage und die (erste) Krankenversicherungsvorlage erfahren am 15. Mai 1882 eine erste gemeinsame Beratung.338 Erläutert werden die Vorlagen vom Bevollmächtigten zum Bundesrat, vom Staatssekretär des Innern, Staatsminister von Boetticher, da der Reichskanzler durch seinen Gesundheitszustand abgehalten ist, diese Aufgabe selber zu übernehmen, wie es im stenographischen Bericht heißt. Auch dieser zweite Entwurf einer Unfallversicherung der Arbeiter findet im Reichstag vielstimmige Kritik. Sie betrifft erneut die Organisationsstruktur, den Reichszuschuß, den Versichertenkreis und die offenkundige Überwälzung der „Unfallasten“ auf die Krankenversicherung durch die Verlängerung der „Karenzzeit“ auf 13 Wochen. Kritisiert wird wiederum die Nichtzulassung der Privatversicherung. Auch der Entwurf des „Krankenkassengesetzes“ wird kritisch behandelt. Nach einer längeren Geschäftsordnungsdebatte wird die erste Beratung der beiden Vorlagen am 16. Mai 1882 vor einem nur spärlich besetzten Reichstag fortgesetzt. Beide Gesetzentwürfe werden am Ende dieser Sitzung an die Kommission überwiesen.339 334 Vgl. den § 56 der ersten Unfallversicherungsvorlage. 335 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 5. Legislaturperiode. II. Session 1882/83. Fünfter Band. Anlagen. Berlin 1883, 173 - 251. 336 Vgl. ebenda, Aktenstück Nr. 14, 124 ff. 337 Vgl.: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. II. Abteilung. 2. Band. 1. Teil. Stuttgart, Jena, New York 1995, XXVII f. 338 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 5. Legislaturperiode. II. Session 1882/1883. Sitzungen 1 - 28. Berlin 1883, 199 ff. 339 Vgl. ebenda, 249.
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Diese Kommission, über deren Arbeit ein offizieller Bericht nicht erstattet wird, befürwortet die „Überweisung“ von Unfällen geringerer Bedeutung an die Krankenkassen, schlägt eine Veränderung an der „betriebsgenossenschaftlichen“ Organisation vor und mißbilligt erneut den bereits reduzierten Reichszuschuß.340 Folgt man der offiziellen Auffassung, dann hat die zweite Unfallversicherungsvorlage bei der „kommissarischen Berathung“ eine Reihe von Angriffen erfahren, „...welche die Hoffnung, daß er zur Verabschiedung gelangen werde, ausschließen...“341 Der Entwurf wird daraufhin zurückgezogen und die Frage der Gestaltung des Unfallversicherungswesens wird einer weiteren eingehenden „Erwägung“ unterzogen. Eine erneute „Kaiserliche Botschaft“, diesmal vom 14. April 1883, legt dem Reichstag zum wiederholten Mal die „Erledigung“ eines Unfallversicherungsgesetzes ans Herz.342 Diese Vorgänge und die noch einige Zeit auf sich warten lassende dritte Unfallversicherungsvorlage machen deutlich, daß Reichskanzler von Bismarck, bei aller gezeigten Flexibilität, an bestimmten Grundprinzipien der Sozialreform bedingungslos und den Gesetzgebungsprozeß erschwerend und verzögernd festhält. Er lehnt vor allem jeden Ansatz ab, eine Rechtsfortbildung in privatrechtliche Richtung zu versuchen. Man hätte mit ähnlichen Folgen für die Arbeiter auch auf privatrechtlicher Basis unter Einschluß der Privatversicherung - wahrscheinlich sogar rascher - weiterkommen können, aber den konservativen Sozialstaat - Bismarcks Option und Vision - hätte man so nicht erreicht. Insgesamt gerät das derart zugeschnittene Projekt trotz seiner generell „wirtschaftsfreundlichen“ Tendenz zu einer vehementen Auseinandersetzung mit dem Liberalismus. Bismarck will nach 1878 offenkundig keine Sozialreform mehr, die sich mit bestimmten Grundanschauungen des politischen Liberalismus verträgt. Dieser antiliberale Kurs erzwingt schon fast, will er überhaupt ein akzeptables gesetzgeberisches Resultat seiner Arbeiterpolitik erlangen, einen Abbau der Frontstellungen in anderer Richtung. Hier bietet sich nach der oppositionellen Reichstagswahl des Jahres 1881 der Katholizismus an, dem gegenüber nun die Kulturkampfgesetzgebung allmählich zurückgenommen und dem gegenüber sozialpolitische Konzessionen gemacht werden.343 Vor diesem Hintergrund kann nicht erstaunen, daß die Haltung von Industrie und Gewerbe zur „Sozialreform“ uneinheitlich ist. Während vor allem die schwerindustriellen Unternehmer aus Rheinland-Westfalen, dem Saargebiet und Oberschlesien zu den Förderern insbesondere der Unfallversicherung zählen,344 herrscht jenseits dieser Personengruppe nicht selten Ablehnung vor, und diese wird immer noch aus politisch-liberalen und wirtschaftlichmanchesterlichen Anschauungen heraus „begründet“. „Die soziale Seite des Schutzzolles, die in der Agitation für den neuen Tarif gute Dienste geleistet hatte, wurde nun, nachdem er erkämpft war, unbequem.“345 Nicht nur diese Argumente, sondern auch die „Befürchtung“ eines „Pensionsspekulantentums“ bei den Arbeitern, eine „Untergrabung der Werksdisziplin“ wer-
340 Vgl.: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland. Berlin-Lichterfelde 1928, 125. 341 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 5. Legislaturperiode. IV. Session 1884. Dritter Band. Anlagen. Berlin 1884, Aktenstück Nr. 4, 50 ff., hier: 65. 342 Vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 20), 61. 343 Vgl.: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung...II. Abteilung. 2. Band. 1. Teil...a.a.O. (=Anm. 337), XXIV. 344 Vgl.: Ullmann, Hans-Peter: Deutsche Unternehmer und Bismarcks Sozialversicherungssystem. In: Mommsen, Wolfgang, Mock, Wolfgang (Hg.): Die Entstehung des Wohlfahrtsstaats in Großbritannien und Deutschland 1850 1950. Stuttgart 1982, 142 - 158, hier: 150. 345 Vogel, Walter: Bismarcks Arbeiterversicherung. Ihre Entstehung im Kräftespiel der Zeit. Braunschweig 1951, 41.
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den ins argumentative Feld geführt.346 Diese Abneigung spiegelt sich vor allem bei den wirtschaftsliberal orientierten Abgeordneten. Mit der dritten Unfallversicherungsvorlage, die das Datum des 6. März 1884 trägt,347 setzt sich die Modifikation gewisser Strukturen der kommenden Unfallversicherung fort. Beispielhaft läßt sich dieser Prozeß an der Weiterentwicklung der organisatorischen Form nachvollziehen. Nachdem die „Reichsversicherungsanstalt zu Berlin“ unter dem Druck des politischen Partikularismus,348 sodann des Zentrums im Reichstag349 zu Landesversicherungsanstalten mutierte350, nachdem schließlich in der zweiten Vorlage „Betriebsgenossenschaften“ vorgesehen waren, erblicken jetzt „Berufsgenossenschaften“ als neuartige Träger der Unfallversicherung das „Licht der Welt“. Neuartig sind darüber hinaus ein „ReichsVersicherungsamt“ und der Verzicht auf den Reichszuschuß. Dieser ist zu einer „Reichsgarantie“ für den Fall der Zahlungsunfähigkeit und Auflösung von Berufsgenossenschaften umgewandelt worden, sofern es nicht möglich sein sollte, die entsprechenden Versicherten einer anderen Berufsgenossenschaft zuzuweisen. Bereits während der ersten Beratung dieses dritten „Entwurfs eines Gesetzes über die Unfallversicherung der Arbeiter“ droht im Reichstag ein „unwürdiges Schauspiel.“ Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Georg von Vollmar betont am 13. März 1884, je länger die Geschichte währe, desto schlechter werde sie. Er fährt fort: „Es ist geradezu ermüdend, diese Seeschlange von Unfallversicherungsvorlage sich nunmehr schon seit 3 Sessionen hinschleppen zu sehen - von einer Thronrede zur anderen, von einem Entwurf zum anderen, von einer Berathung zur anderen, dabei immer kurzathmiger, immer lebensunfähiger werdend.“351 Seit sechs Jahren stehe die „berühmte ‘Sozialreform’“ nun schon auf der Tagesordnung. Die sich anschließenden Parlamentsreden lassen die Befürchtung aufkommen, daß noch weitere Jahre folgen könnten. Das Fehlen bestimmter Betriebe bzw. Branchen, insbesondere des Baugewerbes und der Land- und Forstwirtschaft wird bemängelt. Die Privatversicherungen finden wieder Fürsprecher und ein Redebeitrag zeigt, daß hunderttausende von Arbeitern bei den Privatversicherungsgesellschaften, darunter die „Leipziger“ und die „Magdeburger“, bereits gegen Unfall versichert sind.352 Gegen aber auch für die Beteiligung der Arbeiter an der Verwaltung der Unfallversicherung wird gesprochen. Mit Blick auf die Reichsgarantie wird von der Gefahr einer „Assignatenwirtschaft“ gewarnt. Die Exportwirtschaft werde das erste Opfer der „Sozialreform“ sein. Über die Frage „Umlageverfahren“ oder Prämien- bzw. Kapitaldeckung wird erneut gestritten. Auch das „Reichs-Versicherungsamt“ findet Kritik. Die „Berufsgenossenschaften“ als Zusammenschlüsse gleicher Berufsinteressen finden auch Unterstützung. Die „Betriebsgenossenschaften“, die Betriebe verschiedenster Art zusammengebunden hätten, seien ein „kolossaler Mißgriff“ gewesen.353 Der „revolutionäre Sozialismus“ werde durch diese „Sozialreform“ eher befestigt und gefördert, nicht jedoch besiegt. Staatsminister von Boetticher 346 Vgl. denselben, ebenda, 42 f. 347 Vgl.: Stenographische Berichte...a.a.O. (=Anm. 341), Aktenstück Nr. 4, 50 ff. 348 Vgl.: Hunkel, Ernst: Fürst Bismarck...a.a.O. (=Anm. 153), 58. 349 Vgl.: Heidemann, Karl: Bismarcks Sozialpolitik und die Zentrumspartei 1881 - 1884. Herford 1930 (Diss. phil.), 23f. 350 Vgl.: Hunkel, Ernst: Fürst Bismarck...a.a.O. (=Anm. 153), 69. 351 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. V. Legislaturperiode. IV. Session 1884. Berlin 1884, 35. 352 Vgl. ebenda, 46. 353 Vgl. ebenda, 50.
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kommt die Verteidigung der Vorlage zu und am 15. März 1884 ergreift Bismarck selbst das Wort.354 Er wirft dem Parlament Verzögerungstaktik vor. Die Regierung sei an der Verschleppung unschuldig. Bismarck äußert sich kritisch zu der immer wieder geforderten privaten Absicherung des Unfallrisikos. Er weist auf die geradezu „ungeheuerlichen Dividenden“ einiger Feuerversicherungen hin. Die Privatversicherung werde erst recht die Exportfähigkeit der Industrie beschränken und die „nothleidenden Armen“ bedrücken. Ausgeschlossene Gewerbezweige könnten schon bald in die Versicherung einbezogen werden. Zu wenig „Staatssozialismus“ sei der Hauptgrund für die Wahlerfolge der Sozialdemokratie. Der Reichskanzler nutzt darüber hinaus die Gelegenheit zu einem heftigen Angriff gegen den „Freisinn“ in Gestalt des Reichstagsmitgliedes Ludwig Bamberger. Natürlich weist dieser - der Reichskanzler hat den Plenarsaal bereits verlassen - die Angriffe zurück. Ebenso selbstverständlich betont ein anderer Abgeordneter, nicht das Parlament, Fehler in den Entwürfen hätten zur langen Verfahrensdauer geführt. Abermals lassen die Stimmen und Standpunkte die Gefahr eines Scheiterns der Vorlage in den Bereich des Möglichen rücken. Am 15. März 1884 wird die dritte Unfallversicherungsvorlage der Kommission überantwortet. Von besonderer Bedeutung für die endgültige Verabschiedung des Unfallversicherungsgesetzes ist ein „klerikal-konservativer Kompromiß“, d.h. ein vom damaligen Ministerialdirektor Robert Bosse persönlich aufgesetzter, umfassender Abänderungsantrag von Konservativen, Freikonservativen und Zentrum. Er stellt zentrale Grundprinzipien der Unfallversicherungsvorlage wieder her, die zuvor in der Reichstagskommission gefährdet worden waren und sichert so Bismarcks Vorstellungen von einer Arbeiterversicherung auf öffentlich-rechtlicher Basis. Vor dem Hintergrund eines vielschichtigen Spiels, in dem sich das Zentrum als QasiRegierungspartei profiliert, kann das Projekt der deutschen Sozialstaatsgründung schließlich gelingen. So führt erst der dritte Entwurf zum „Unfallversicherungsgesetz“ (UVG) vom 6. Juli 1884.355 Mit den „korporativen Genossenschaften“ werden vorübergehend regierungsseitig weitere Zwecke im Rahmen einer antiparlamentarischen Strategie „verknüpft“. Überdrüssig der Auseinandersetzung mit den oppositionellen Parteien und angesichts des immer deutlicher werdenden Scheiterns seiner auf die „Massen“ und „Massenparteien“ gerichteten Politik, verbindet Bismarck mit ihnen den die Verfassung brechenden Plan eines korporativen Aufbaus des Staates, Beteiligung der Korporationen an der Gesetzgebung, äußerstenfalls durch Staatsstreich.356 In diesem Fall und unterstellt, die „Staatsstreichpläne“ waren mehr als „politisches Spiel“, wäre tatsächlich die Arbeiterversicherungspolitik jener Jahre als Teil eines von Bismarck angestrebten „ständestaatlichen“ Aufbaues zu werten.357 Mit der Herausbildung günstigerer Parlamentskonstellationen seit dem Frühjahr 1884, mit der Annäherung des Zentrums (aber auch der Nationalliberalen) an den Regierungskurs, sind diese „undurchsichtigen“
354 Vgl. ebenda, 72 ff. 355 Vgl. dazu: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung...II. Abteilung. 2. Band. 1. Teil… a.a.O.(=Anm. 337), XXXI ff.; vgl. zu weiteren Einflüssen auf die Bismarcksche Arbeiterversicherungspolitik: Vogel, Walter: Bismarcks Arbeiterversicherung...a.a.O. (=Anm. 345); auch: Wagner, Moritz: Die deutsche Arbeiterversicherung. Berlin-Grunewald 1906, bes. 97 ff.; zum Gesetz vgl. RGBl. 1884, 69. 356 Vgl.: Rothfels, Hans: Theodor Lohmann...a.a.O. (=Anm. 255), 63 f.; vgl. zu den Staatsstreichplänen: Pöls, Werner: Sozialistenfrage und Revolutionsfurcht in ihrem Zusammenhang mit angeblichen Staatsstreichplänen Bismarcks. Lübeck und Hamburg 1960. 357 So: Rothfels, Hans: Prinzipienfragen...a.a.O.(=Anm. 220), 16 f.
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Erwägungen und Ankündigungen schon wieder obsolet, ihre Umsetzung erweist sich als nicht mehr nötig. Insgesamt gesehen ist das von der Sozialdemokratie bespöttelte Abrücken von der Reichsversicherungsanstalt,358 die auch in weiten Teilen des Bürgertums keine Freunde findet,359 ist der Anschluß an die „realen Kräfte des Volkslebens“ und die Zusammenfassung dieser Kräfte in Form „korporativer Genossenschaften“360 weit davon entfernt, eine Niederlage Bismarcks darzustellen. Diese Sprachbilder und organisatorischen Strategien signalisieren dem Zentrum Entgegenkommen und Anschluß an ständestaatliche Vorstellungen und sind wie erwähnt wurde - gleichzeitig und vorübergehend Ansatzpunkt machtstrategischer Erwägungen bzw. Drohungen. Das umfangreiche, 111 Paragraphen umfassende Unfallversicherungsgesetz verbessert durch eine Abkehr vom „prozeßtreibenden“ Haftpflichtgedanken die Entschädigungsmöglichkeiten der Arbeiter und bestimmter, gering verdienender „Betriebsbeamter“ verschiedener Gewerbezweige auf „bemerkenswertem“ Niveau. Im Falle „völliger Erwerbsunfähigkeit“ beträgt die Entschädigung „sechsundsechzigzweidrittel Prozent des Arbeitsverdienstes“ (§ 5 UVG). Nur .noch vorsätzlich herbeigeführte Unfälle werden nicht entschädigt. Es sieht nur sehr begrenzte Mitwirkungsmöglichkeiten der Versicherten, der „Arbeiter und Betriebsbeamten“ mit geringem Einkommen vor. Die noch im zweiten Entwurf vorgesehenen „Arbeiterausschüsse“ verfallen der Ablehnung. Trotzdem wird zusätzlich darauf geachtet, daß die verhaßte Sozialdemokratie einschließlich der ihr nahestehenden Gewerkschaften nicht in die Organisation eindringen können. „Zum Zweck der Wahl von Beisitzern zum Schiedsgericht ... , der Begutachtung der zur Verhütung von Unfällen zu erlassenden Vorschriften...und der Theilnahme an der Wahl zweier nichtständiger Mitglieder des Reichs-Versicherungsamtes ... werden für jede Genossenschaftssektion und, sofern die Genossenschaft nicht in Sektionen getheilt ist, für die Genossenschaft Vertreter der Arbeiter gewählt“ (§ 41). Dabei ist eine paritätische Beteiligung der Arbeitervertreter vorgesehen. Die Wahl der Arbeitervertreter erfolgt durch die Vorstände der Krankenkassen, welche im Bezirk der Sektion bzw. der Genossenschaft ihren Sitz haben. Nicht nur diese Verfahrensweisen akzentuieren die Unfallversicherung als ein „Musterstück“ der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“. In diese Richtung weist auch der Ausschluß von Frauen aus der Selbstverwaltung und aus der Entscheidungs-, Aufsichts- und Spruchtätigkeit der Unfallversicherung. Wählbar sind nämlich nur „...männliche, großjährige, auf Grund dieses Gesetzes versicherungspflichtige Kassenmitglieder...“ (§ 42). So ist in diesem Fall nicht nur die Entstehung sondern auch der Vollzug dieses Gesetzes eine reine „Männersache“. Die den Männern unter bestimmten Bedingungen offen stehende, den Frauen aber verschlossene Möglichkeit innerhalb der Ministerialbürokratie, in parlamentarischen Kommissionen, im Reichtag, in den Landtagen und Gemeindevertretungen selbst als Redende und Handelnde aufzutreten, findet auf diese Weise in der Unfallversicherung dieser Jahre ihre Fortsetzung.361 Die ersten 13 Wochen werden die Schadensersatzleistungen (Renten bzw. Kosten des Heilverfahrens) auch nach der 358 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, V.Legislaturperiode, IV. Session 1884, 4. Sitzung am 13. März 1884, 36. 359 Vgl.: Wissel, Rudolf: Die ersten gesetzgeberischen Versuche...a.a.O.(=Anm. 176), 262. 360 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. V. Legislaturperiode. I. Session 1881/82, 1 - 3, hier: 2. 361 Vgl. in diesem Zusammenhang: Hausen, Karin: Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz und gesetzliche Krankenversicherung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Gerhard, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. München 1997, 713 - 743, hier: 718.
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Endfassung des UVG von der allein unternehmerfinanzierten Unfallversicherung auf die Krankenversicherung übertragen und damit finanziell wesentlich auf die Beitragszahlungen der abhängig Beschäftigten überwälzt. Mit dem UVG tritt als Aufsichts- und Spruchinstanz tatsächlich das „Reichs-Versicherungsamt“ ins Leben (vgl. §§ 87 - 91), „Landes-Versicherungsämter“ können errichtet werden (§§ 92, 93 UVG). Die Unfallverhütung, das einzige „ursachenbezogene“, „präventive“ Moment dieser Gesetzgebung, ist nur unzureichend ausgestaltet. Sie besteht in der Befugnis unter Beteiligung der Arbeitervertreter Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen. Deren Nichtbeachtung wird mit Sanktionen belegt. Die „Genossenschaften“ sind darüber hinaus befugt, durch „Beauftragte“ die Befolgung der Unfallverhütungsvorschriften zu überwachen und Einblicke in bestimmte Betriebsgegebenheiten zu nehmen. Durch die Unfallversicherung wird die Entschädigungsquote für Betriebsunfälle de facto zunächst nur unbedeutend erhöht.362 Aus materieller Interessiertheit der Unternehmer heraus wird, was die Leistungen anbetrifft, sehr restriktiv verfahren. Die meisten Unfälle werden während der ersten 13 Wochen (dem Leistungszeitraum der überwiegend arbeiterfinanzierten Krankenversicherung) „geheilt“. Eine restriktive Rechtsprechung und ärztliche Gutachten, die nur zu schnell eine Heilung bzw. eine „Besserung“ bei den Unfallopfern feststellen, wirken angeblich weitverbreiteten „Unfallneurosen“ und „Begehrlichkeitsvorstellungen“ entgegen und bedingen immer noch weit verbreitete Not, Elend und Einkommensverkürzungen als Folge von Betriebsunfällen.363 Zahlreiche Betriebe und Beschäftigtengruppen werden vom UVG nicht erfaßt, dort gilt weiterhin das „unselige“ Haftpflichtgesetz von 1871. Soweit in den von der Unfallversicherung erfassten Gewerbebetrieben, in den Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Steinbrüchen, Gräbereien (Gruben), auf Werften und Bauhöfen, sowie in Fabriken und Hüttenwerken (vgl. § 1 UVG) überhaupt Frauen beschäftigt sind, unterliegen diese wie die Männer der Unfallversicherungspflicht und sind auch in vollem Umfang leistungsberechtigt. Das UVG kennt aber auch schon eine Witwenund Waisenrente für den Fall, daß der Ehemann in Ausübung der Arbeit zu Tode kommt. Während die Höhe dieser Leistung im Gesetzgebungsverfahren umstritten ist, ist sie im Grundsatz unbestritten. Das hat damit zu tun, daß das Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 bereits einen zivilrechtlichen Anspruch der „Hinterbliebenen“ kannte und für weite Bereiche der Wirtschaft weiterhin kennt.364 Die Hinterbliebenenrente der damaligen Zeit beträgt „...für die Wittwe des Getödteten bis zum Tode oder Wiederverheirathung zwanzig Prozent, für jedes hinterbliebene vaterlose Kind bis zu dessen zurückgelegtem fünfzehnten Lebensjahre fünfzehn Prozent und, wenn das Kind auch mutterlos ist oder wird, zwanzig Prozent des Arbeitsverdienstes. Die Renten der Wittwen und der Kinder dürfen zusammen sechzig Prozent des Arbeitsverdienstes nicht übersteigen... Im Falle der Wiederverheirathung erhält die Wittwe den dreifachen Betrag ihrer Jahresrente als Abfindung. Der Anspruch der Wittwe ist ausgeschlossen, wenn die Ehe erst nach dem Unfall geschlossen worden ist...“ (§ 6 UVG). Vor dem Hintergrund der damals keineswegs unbedeutenden Ausländerbeschäftigung im Deutschen Reich ist bemerkenswert, daß die Hinterbliebenen eines Ausländers
362 Vgl.:Tampke, Jürgen: Bismarcks Sozialgesetzgebung: Ein wirklicher Durchbruch? In: Mommsen, Wolfgang J., Mock, Wolfgang (Hg.): Die Entstehung des Wohlfahrtsstaats...a.a.O. (=Anm. 344), 87. 363 Vgl. denselben, ebenda, 87 f. 364 Vgl.: Fait, Barbara: Arbeiterfrauen und -familien im System sozialer Sicherheit. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997/1, 171 - 205, hier: 180 ff.
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„...welche zur Zeit des Unfalls nicht im Inlande wohnten, ...keinen Anspruch auf die Rente (haben).“ Bis zum „Fall“ des Sozialistengesetzes und bis zur Entlassung des Reichskanzlers Otto von Bismarck im Jahre 1890 wird die Unfallversicherung durch zahlreiche Rechtsquellen ausgestaltet. Soweit diese im Reichsgesetzblatt veröffentlicht werden, dienen sie der Inkraftsetzung von Vorschriften des UVG vom 6. Juli 1884365 oder der Ausgestaltung der Unfallversicherung.366 Darüber hinaus werden schon bald Ausdehnungsgesetze vom Reichtag beschlossen und wiederum in Kraft gesetzt, teilweise erfolgt die Erweiterung des Kreises der Pflichtversicherten auch durch Bundesratsverordnungen. Die frühesten Entwürfe von drei bald ergehenden Ausdehnungsgesetzen werden vom Reichsversicherungsamt unter seinem Präsidenten Tonio Bödiker ausgearbeitet. Der Reichskanzler selbst hat diesen Verfahrensweg angeordnet.367 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der gleichzeitigen Ausdehnung von Unfall- und Krankenversicherungspflicht, da die Unfallversicherung erst nach Ablauf von dreizehn Wochen leistet. Am 8. Oktober 1884 wird ein Entwurf zu einem Ausdehnungsgesetz vom Reichsversicherungsamt dem Reichsamt des Innern zugeleitet. Es ist Reichskanzler Otto von Bismarck selbst, der in Friedrichsruh an diesem ersten Entwurf das Fehlen der Ausdehnung der Krankenversicherung moniert. Nach entsprechender Ergänzung wird der Entwurf als „Präsidialvorlage“ am 21. Oktober 1884 in den Bundesrat eingebracht. Er wird dort noch einmal einer Bearbeitung unterzogen. Auf Wunsch des preußischen Kriegsministers werden die Betriebe der Militärverwaltungen in die Unfallversicherungspflicht einbezogen. Am 17. Dezember 1884 wird der Gesetzentwurf dem Reichstag vorgelegt. Er durchläuft das parlamentarische Verfahren ohne bedeutsame Veränderungen und wird am 6. Mai 1885 beschlossen.368 Das Ergebnis dieses Verfahrens ist das „Gesetz über die Ausdehnung der Unfall- und Krankenversicherung“ vom 28. Mai 1885.369 Es unterwirft nunmehr auch die Betriebe der Post-, Telgraphen- und Eisenbahnverwaltungen, sämtliche Betriebe der Marine- und Heeresverwaltung einschließlich der Bauten, welche von diesen Verwaltungen für eigene Rechnung ausgeführt werden, den Baggereibetrieb, den gewerbsmäßigen Fuhrwerks-, Binnenschiffahrts-, Flößerei-, Prahm- und Fahrbetrieb, die Treidelei, den gewerbsmäßigen Speditions-, Speicher- und Kellereibetrieb, den Gewerbebetrieb der Güterpacker, Güterlader, Schaffer, Bracker, Wäger, Messer, Schauer und Stauer der Unfallversicherungs- und Krankenversicherungspflicht und trifft nähere Bestimmungen.370 Als nicht zur Unfallversicherung und zur Gesetzgebung zur „Lösung“ der „Arbeiterfrage“ zählend, soll das „Gesetz, betreffend die Fürsorge für Beamte und Personen des
365 Während einige Abschnitte des UVG mit dem Tage der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten (vgl. § 111 UVG), werden die restlichen Vorschriften durch eine „Verordnung, betreffend die Inkraftsetzung des Unfallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 (Reichs-Gesetzbl. S. 69) und die theilweise Inkraftsetzung des Gesetzes über die Ausdehnung der Unfall- und Krankenversicherung vom 28. Mai 1885 (Reichs-Gesetzbl. S. 159)“ vom 25. September 1885 (RGBl. 1885, 271) zum 1. Oktober 1885 in Kraft gesetzt. 366 Vgl. die „Verordnung über das Verfahren vor den auf Grund des Unfallversicherungsgesetzes errichteten Schiedsgerichten“ vom 2. November 1885 (RGBl. 1885, 279). 367 Vgl.: Ayass, Wolfgang (Bearb.): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. II. Abteilung. 2. Band. 2. Teil. Darmstadt 2001, XVIII f. 368 Vgl. ebenda, XX f. 369 Vgl.: RGBl. 1885, 159. 370 Zum Inkrafttreten vgl. den § 17 dieses Gesetzes, die schon erwähnte Verordnung vom 25. September 1885 sowie eine Verordnung vom 24. Juni 1886 (RGBl. 1886, 205).
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Soldatenstandes in Folge von Betriebsunfällen“ vom 15. März 1886371 hier nur kurz angemerkt werden. Auch dieses Gesetz geht auf Vorarbeiten des „Reichs-Versicherungamtes“ zurück.372 Von erheblicher politischer Brisanz ist der Vorstoß zu einer Unfall- und Krankenversicherung der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft. Auch auf diesem Gebiet leistet das Reichsversicherungsamt Vorarbeiten. Mit diesem Gesetzesvorhaben sollen erstmals Beschäftigtengruppen erreicht werden, die bis zu diesem Zeitpunkt weitestgehend außerhalb der Sozialgesetzgebung stehen. Die Zahl der neu unter den „Schutz“ der Versicherung zu stellenden Personen ist bedeutend und wird auf sieben Millionen Menschen geschätzt. Allein die Tatsache, daß aus dem nur 26 Paragraphen umfassenden Entwurf des Reichsversicherungsamtes ein 143 Paragraphen umfassendes eigenständiges Gesetzeswerk entsteht, ist bemerkenswert. Gegen den an das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 sich anlehnenden Entwurf des Präsidenten des Reichsversicherungsamtes machen sich dementprechend schon bald Bedenken geltend, die eine stärkere Berücksichtigung der „Besonderheiten“ in der Land- und Forstwirtschaft fordern. Zu Konflikten führt die Frage der Form der Einbeziehung der in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten in die Krankenversorgung. Ein Gesetzentwurf, der am 3. Januar 1885 in den Reichstag eingebracht wird, bleibt in der XIII. Kommission nach der ersten Beratung „stecken“.373 Nach dem Scheitern des ersten Anlaufs wird die ursprüngliche Gesetzesvorlage im Reichsamt des Innern überarbeitet. Die Frage der Krankenversicherung spielt erneut eine erhebliche Rolle und es setzen sich zwei bereits zuvor erkennbare Tendenzen durch. Einmal wird die Tendenz der Verlagerung wichtiger Streitpunkte auf die Landesgesetzgebung deutlich, zum anderen die Tendenz zur Ausformulierung eines völlig eigenständigen Gesetzes. Der Überarbeitete Entwurf geht am 5. November 1885 dem Bundesrat und am 7. Januar 1886 dann dem Reichtag zu. Nach geglückter Kompromißfindung in der Kommission stimmt das Reichstagsplenum „...dem Kommissionsentwurf in zweiter und dritter Lesung im wesentlichen (zu). Der Bundesrat ließ das abgeänderte Gesetz passieren.“374 Das „Gesetz, betreffend die Unfall- und Krankenversicherung der in land- und forstwirthschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen“ vom 5. Mai 1886375 schließt nicht aus, daß es nicht krankenversicherte Land- und Forstarbeiter gibt, die im Falle eines Unfalls in den ersten 13 Wochen keine Lohnersatzleistungen bekommen. Ihnen steht nur freie Krankenbehandlung zu, für deren Kosten die Gemeinden aufkommen müssen. Durch eine Vielzahl von Verordnungen wird dieses Gesetz zu verschiedenen Zeitpunkten in den Bundesstaaten in Kraft gesetzt. Seit dem 1. Mai 1889 gilt es im gesamten Deutschen Reich,376 nachdem es zuletzt mit einer Verordnung vom 16. April 1889 in der Hansestadt Hamburg sowie für Elsaß-Lothringen in seinem „vollen Umfange“ in Kraft gesetzt wurde.377
371 Vgl.: RGBl. 1886, 53. 372 Vgl.: Ayass, Wolfgang (Bearb.): Quellensammlung...II. Abteilung. 2. Band. 2. Teil...a.a.O.(=Anm. 367), XIX. 373 Vgl. ebenda, XXIV. 374 Ebenda, XXVI. 375 Vgl.: RGBl. 1886, 132. 376 So: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 20), 63. 377 Vgl. die „Verordnung über die Inkraftsetzung des Gesetzes vom 5. Mai 1886, betreffend die Unfall- und Krankenversicherung der in land- und forstwirthschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen“ vom 16. April 1889 (RGBl. 1889, 51).
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Nachdem bereits durch Beschlüsse des Bundesrates einige (weitere) Bauberufe unfallversicherungspflichtig gemacht wurden,378 erweist sich die Durchsetzung und Verabschiedung des „Gesetz, betreffend die Unfallversicherung der bei Bauten beschäftigten Personen“ vom 11. Juli 1887379 als weitgehend unproblematisch. Abgeschlossen wird die Ausdehnungsgesetzgebung dieser Jahre durch das „Gesetz, betreffend die Unfallversicherung der Seeleute und anderer bei der See-Schiffahrt betheiligter Personen“ vom 13. Juli 1887.380 Diese beiden Ausdehnungsgesetze, an denen das Reichsversicherungsamt nicht durch die Erarbeitung von Entwürfen beteiligt war, treten in „vollem Umfange“ am 1. Januar 1888 in Kraft.381 Bedenkt man, wie stark sich der Reichskanzler über Jahre für die Initiierung, Ausgestaltung und Durchsetzung des Unfallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 eingesetzt hat, so muß es erstaunen, wie zurückhaltend er sich in der Phase der Ausdehnungsgesetzgebung verhält. Auch der Aufbau der Berufsgenossenschaften interessiert ihn wenig.382 Die Berufsgenossenschaften der Unternehmer entstehen im Rahmen von insgesamt mehreren hundert Unternehmerversammlungen im ganzen Reich. Die Gründung dieser Berufsgenossenschaften erfolgt normalerweise auch auf Initiative des Unternehmertums, eine entsprechende Initiative des Reichsversicherungsamtes ist nur ersatzweise vorgesehen. Die Berufsgenossenschaften sind, was die Zahl der Versicherten und Betriebe angeht, von sehr unterschiedlicher Größe.383 Die Kontrolle der Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften durch „Beauftragte“ der Berufsgenossenschaften bewirkt, daß nunmehr staatliche Fabrikinspektoren und „Beauftragte“ parallel in den Betrieben tätig sind.384 Die Widerspruchsquote gegen Bescheide der Versicherungsträger ist mit etwa 20% relativ hoch. Ähnlich hoch ist die Widerspruchsquote gegen Entscheidungen der Schiedsgerichte und diese Widersprüche gehen zu vier Fünfteln von den Versicherten aus. Das Reichsversicherungsamt, das am 19. September 1884 seine regulären Sitzungen aufnimmt,385 ist vor diesem Hintergrund und der Vielzahl seiner Aufgaben gut ausgelastet. Unter Einbeziehung der Tatsache, daß zentrale Begriffe des Unfallversicherungsgesetzes nicht definiert sind, ist die Tätigkeit dieser Behörde auch von großer Bedeutung. Das Reichsversicherungsamt, das dem Reichsamt des Innern zugeordnet ist, entscheidet vom 12. Juli 1886 bis Ende 1889 über insgesamt 3.476 Rekurse.386 Die Sozialdemokratie, die sowohl das UVG vom 6. Juli 1884 als auch die Ausdehnungsgesetze abgelehnt hat, qualifiziert das Reichsversicherungsamt durchaus als eher arbeiterfreundliche Institution. Aufhorchen läßt in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten bereits 1886 dem Etatansatz für das Reichsversicherungsamt mit der Begründung zustimmen, man sei für das „Institut“ und seinen Ausbau.387
378 Vgl. die Ausführungen bei: Ayass, Wolfgang (Bearb.): Quellensammlung...II. Abteilung. 2. Band. 2. Teil... a.a.O.(=Anm. 367), XXVII. 379 Vgl.: RGBl. 1887, 287. 380 Vgl.: RGBl. 1887, 329. 381 Vgl. die entsprechende Verordnung vom 26. Dezember 1887 (RGBl. 1887, 537). 382 Vgl.: Ayass, Wolfgang (Bearb.): Quellensammlung...II. Abteilung. 2. Band. 2. Teil...a.a.O.(=Anm. 367), XXIX. 383 Vgl. ebenda, XXXII. 384 Vgl. ebenda, XXXV. 385 Vgl. ebenda, XXXI. 386 Vgl. ebenda, XXXII. 387 Vgl. ebenda, XXXVIII.
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Die isolierte Inangriffnahme dieses den wirtschaftlichen Interessen so überaus dienstbaren „Teilstücks“ der Arbeiterversicherungspolitik, die Überwindung des Lohmannschen „ ... präventionsorientierten Haftungskonzepts auf zivilrechtlicher Basis zugunsten einer (beinahe, E.R.) rein kompensatorischen Zwangsversicherung auf dem Boden des öffentlichen Rechts“388, hat bis auf den heutigen Tag wirksame Konsequenzen. Nicht nur ist dieser Vorgang geradezu die Inkarnation der bis zu Bismarcks Entlassung wirksamen „Tabuisierung“ des Arbeiterschutzes, nicht nur dokumentiert dieses „Teilstück“, daß der „deutsche Sozialstaat“ ursprünglich weniger zu dem Zweck gegründet wird, „Schäden“ an Leib und Leben mit großer Konsequenz „vor Ort“ zu verhüten.389 Die geschilderte Vorgehensweise begründet schließlich auch die organisatorische Form der Arbeiterversicherung. Bewußt gegen „voreilige“ und weitergehende Schritte zur Versicherung anderer Existenzrisiken der Lohnarbeiter gesetzt,390 verhindert sie eine „umfassende Lösung“, wie sie in der knappschaftlichen Versicherung bereits verwirklicht ist. Durch den Rückbezug auf die umstrittene Haftpflichtgesetzgebung des Jahres 1871 und durch die auch politisch-taktisch motivierte isolierte Neuregelung dieses „Risikobereichs“, ist die Aufspaltung der Arbeiterversicherung in die „Zweige“ Unfall-, Kranken- und Invaliditäts- und Altersversicherung schon mehr oder weniger präjudiziert. Insofern ist es zutreffend, daß das „...Reichshaftpflichtgesetz eine tiefe Spur in unserer Sozialversicherung bis zum heutigen Tag zurückgelassen“ hat.391 Das große Interesse an der Ersetzung der herkömmlichen Haftpflicht führt dazu, daß die über gut 110 Berufsgenossenschaften und zahlreiche Ausführungsbehörden abgewickelte und getragene Unfallversicherung,392 was die Zahl der (pflicht-)versicherten Personen betrifft, zum expansivsten Teilstück der frühen Arbeiterversicherung wird. Mit der Unfallversicherung ist erstmals der auf umfassenden Zwang gegründete Typus einer „künstlich errichteten“ sozialpolitischen Massen- und „Klassenverwaltung“ geschaffen worden, eine Innovation, die das zersplitterte, kleinräumige und kleindimensionierte traditionelle Kassenwesen weit hinter sich läßt. Beinahe schon besiegelt ist das Abrücken von einem einheitlichen, mehrere Versicherungszwecke umfassenden Verwaltungsträger, wie er traditionell auch bei den Kassen der freien Gewerkschaftskassen üblich ist, durch die Art der Inangriffnahme der Krankenversicherung der Arbeiter. Die bei der Unfallversicherung so wichtigen staatspolitischen, herrschaftsund wahltaktischen Gesichtspunkten stehen vergleichsweise weniger im Vordergrund. Die administrative Seite des Gesetzgebungsprozesses wird von Theodor Lohmann betreut. Hatte dieser bei der Einführung des Unfallversicherungszwangs noch erhebliche liberal motivierte Skrupel, so billigt er den Zwang auf dem Gebiete der Krankenversicherung u.a. aufgrund der langjährigen, „schlechten“ Erfahrungen mit dem „Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen“ aus dem Jahre 1876. Auch dieses Gesetz hatte Lohmann als Ministerialbeamter mitbetreut. Von Bismarck nicht ohne spezifischen Grund als „untergeschobenes Kind“ betrachtet,393 388 So weitgehend zutreffend: Machtan, Lothar, Berlepsch, Hans-Jörg von: Vorsorge oder Ausgleich... a.a.O.(=Anm. 204), 270; vgl. insgesamt auch: Hippel, Eike von: Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz. Rechtsvergleichendes Generalreferat. In: Fleming, John G. u.a. (Hg.): Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz. Frankfurt a.M. 1980, 40 - 75. 389 Vgl.: Machtan, Lothar: Risikoversicherung...a.a.O.(=Anm. 248), 441. 390 Vgl. dazu die Begründung des Unfallversicherungsgesetzentwurfs in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. 5. Legislaturperiode. II. Session 1882/83. Fünfter Band. Anlagen Nr. 1 bis 195, 187 f. 391 Waldheim, Harald von: Zeitgemäße Reformen...a.a.O.(=Anm. 272), 37. 392 Genauere Angaben bei: Manes, Alfred: Sozialversicherung. Dritte, wesentlich veränderte Auflage. Berlin und Leipzig 1912, 64 und die dort angegebene Literatur. 393 Vgl.: Ullmann, Hans-Peter: Industrielle Interessen...a.a.O. (=Anm. 299), 602.
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wird die Krankenversicherung bei Verallgemeinerung des bislang dispositiven, ortsstatuarischen Versicherungszwangs ganz als Fortsetzung der früheren preußisch-deutschen Gewerbeund Hilfskassengesetzgebung konzipiert.394 Die großindustriellen Förderer der Unfallversicherung messen diesem Gesetz weniger Bedeutung bei. Wichtiger Antriebspunkt der Krankenversicherungsgesetzgebung ist bekanntlich die lange Karenzzeit in der Unfallversicherung. Es geht im unmittelbaren Vorfeld der Entstehung des Krankenversicherungsgesetzes schlicht auch um die „Sicherstellung“ der Unfallverletzten „während der ersten Zeit der Erwerbsunfähigkeit“, die sich als unumgehbar darstellt, sollen die Unfallopfer und ihre Familien nicht der wirtschaftlichen Zerrüttung und der „entehrenden“ Armenpflege anheim gegeben werden und ohne medizinische Hilfe bleiben. So gewinnt das Projekt der Schaffung eines Krankenversicherungsgesetzes als „Vorschaltgesetz“ zur Unfallversicherung an Fahrt und es wird „logischerweise“ noch vor dem Beginn der Unfallversicherungsgesetzgebung „vollendet“.395 Hinter dem sich so ergebenden Zwang zu einer Krankenversicherungsgesetzgebung verbirgt sich eine Eigenwilligkeit und ein geschickter Schachzug Theodor Lohmanns. Auf eigene Faust, gegen die Direktiven Bismarcks (und auch des Reichstags) handelnd, ist es Lohmann, der in der zweiten Unfallversicherungsvorlage die Zeit bis zum Einsetzen der Leistungen der Unfallversicherung auf 13 Wochen heraufsetzt. Dadurch erst schafft er einen „unumgehbaren“ kassenpolitischen Handlungszwang. Dieser Zwang geht weit über den Handlungsdruck hinaus, der sich daraus ergibt, daß die „Kaiserliche Botschaft“ vom 17. November 1881 ergänzend zur Unfallversicherungsvorlage eine Vorlage ankündigt, die sich eine „gleichmäßige Organisation“ des gewerblichen Kassenwesens zur Aufgabe stellen soll. Das Kassenwesen wächst als „substantielle Ergänzung der Unfallversicherung“ geradezu in eine neue Rolle hinein.396 Die „Anbindung“ an die Unfallversicherung, die Anknüpfung an die „liberal-staatliche“ Kassenpolitik und der deshalb „gemäßigte Charakter“ des Gesetzentwurfs bewirken, daß der Widerstand gegen dieses Gesetz geringer ausfällt, als beim Unfallversicherungsgesetz.397 Der vom Bundesrat beschlossene „Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ wird mit Datum vom 29. April 1882 dem Reichstag vorgelegt.398 Eine von vornherein absehbare große Verschiedenheit, Kleinheit, lokale und „berufsständische“ Begrenztheit, eine groteske, „risikoselektierende“, mobilitätshemmende Krankenkassenzersplitterung ist eine weitere Folge des „konservativen“ Charakters dieses Projekts. Die Kassenzersplitterung nimmt im Verlaufe der Frühzeit der Arbeiterversicherung sogar noch zu. Bestehen 394 Vgl.: Schmittmann, B.: Sozialversicherung. In: Elster, L., Weber, A., Wieser, F. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Jena 1926, 622 - 650, hier: 624. 395 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Begründung des mit der zweiten Unfallversicherungsvorlage vorgelegten „Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vom 29. April 1882; Aktenstück Nr. 14. In: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichtages. 5. Legislaturperiode. II. Session 1882/83. Fünfter Band. Anlagen Nr. 1 bis 195. Berlin o.J., 124 ff. 396 Vgl. grundlegend: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung…II. Abteilung. 2. Band. 1. Teil...a.a.O.(=Anm. 337), XXVI ff. 397 Einen guten Einblick in die jenseits der Groß- und Schwerindustrie weitverbreitete Abneigung gegen die Unfallversicherung bietet: Francke, L.: Die Stimmen der deutschen Handels- und Gewerbekammern über das HaftpflichtGesetz vom 7. Juni 1871 und den Reichs-Unfallversicherungs-Gesetzentwurf vom 8. Mai 1881. In: Zeitschrift des Koeniglich-Preußischen statistischen Bureaus, 21(1881), 397 - 416. 398 Vgl.: Hitze: Arbeiterversicherung. In: Bachem, Julius (Hg.): Staatslexikon. 3., neubearbeitete Aufl. 1. Band. Freiburg i. Br. 1908, Sp. 317 - 326 hier: 322; vgl. insgesamt auch: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi: „Jeder Tag hat seine eigenen Sorgen, und es ist nicht weise, die Sorgen der Zukunft freiwillig auf die Gegenwart zu übernehmen.“ (Bismarck). In: Zeitschrift für Sozialreform, 41(1995)10, 671 - 706.
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Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik
1885 rund 19.000 Kassen, so sind es 1910 rund 23.000.399 Dieser „vormoderne“ Zug prägt die Krankenversicherung bis weit in das 20. Jahrhundert und sichert auch den allen Gesetzen der Versicherungsmathematik Hohn sprechenden „Zwergkassen“ ein langes Leben.400 Das Krankenversicherungsgesetz wird zu dem Teilstück der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ in dem die „liberal-staatliche“ Tradition die tiefsten Spuren hinterlassen hat. Der Reichstag verweist bekanntlich den Gesetzesentwurf (zusammen mit der Unfallversicherungsvorlage) durch Beschluß vom 16. Mai 1882 nach der ersten Lesung an die zuständige 8. Kommission. Die Kommission beschließt am 3. Juni 1882 die beiden Gesetzesvorlagen zu entkoppeln und getrennt zu beraten. Dem Krankenversicherungsprojekt hat Lohmann dann über die 50 Sitzungen umfassenden Kommissionsverhandlungen hinweggeholfen. Die „zweite Berathung“ des Gesetzentwurfs verbunden mit dem Komissionsbericht401 beginnt am 19. April und endet am 30. April 1883. Sie führt zu einigen Veränderungen im Detail.402 Dabei wird durchaus kritisch angemerkt, daß die lange Karenzzeit von 13 Wochen dazu führen werde, daß zahlreiche Unfallopfer, der Abgeordnete der Fortschrittspartei Eugen Richter schätzt den Anteil sogar auf 97%, allein durch die Krankenversicherung Unterstützung und Hilfe bekommen werden.403 Die „dritte Berathung“ beginnt am 22. Mai 1883 und zieht sich über zahlreiche Sitzungstermine. Diese dritte Beratung endet am 29. Mai. In der Reichstagssitzung des 31. Mai 1883 wird über den neu zusammengestellten Entwurf namentlich abgestimmt. Er wird mit großer Mehrheit (216 gegen 99 Stimmen) angenommen. Auf diese Weise wird Lohmanns Projekt der Krankenversicherung noch vor Bismarcks Projekt der Unfallversicherung als Gesetz verabschiedet. Bei diesem Vorgang handelt es sich zweifellos um eine „politisch-taktische Meisterleistung“ Theodor Lohmanns. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß in diesen Jahren kein Reichsgesetz ähnlicher Tragweite bekannt ist, das ohne Bismarcks Initiative eingebracht und auch noch verabschiedet wird. Der Kanzler allerdings hatte zu dieser Zeit auch noch andere Aufgaben zu bewältigen und kränkelt in den entscheidenden Monaten.404 Letztlich tragen die Winkelzüge Theodor Lohmanns dazu bei, daß sich bald ein Bruch dieses eigenwilligen Referenten mit dem Reichskanzler anbahnt. Mit dem u.a. durch die Vielzahl der zugelassenen Kassenorganisationen stark verkomplizierten „Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ (Krankenversicherungsgesetz, KVG) vom 15. Juni 1883405 wird bestimmt, „...daß auf die bestehenden Krankenkassen mit Beitrittszwang (eingeschriebene, wie landesrechtlich zugelassene, und gleichviel ob der Zwang auf Gesetz, Ortsstatut oder Arbeitsvertrag beruht) die Bestimmungen über Orts-, Betriebs- (Fabrik-), Bau- und Innungskassen, je nach der Art der bisherigen Hülfskassen, anzu-
399 Vgl.: Manes, Alfred: Sozialversicherung...a.a.O. (=Anm. 392), 64. 400 Vgl.: etwa die Kassenstatistik bei: Rieger, E.: Rationalisierung der Arbeiterversicherung. In: Proletarische Sozialpolitik, 1(1928)4, 56 - 58. Zahlreiche Hinweise finden sich in den statistischen Werken der Städte. 401 Zum Kommissionsbericht vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 5. Legislaturperiode. II. Session 1882/83. Sechster Band. Anlagen…Nr. 196 bis 373. Berlin 1883, Aktenstück Nr. 211, 767 ff. 402 Diese sind dokumentiert im Aktenstück Nr. 286 der Stenographischen Berichte…a.a.O.(=Anm. 401), 1047 ff. 403 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. V. Legislaturperiode. II. Session 1882/83. Dritter Band. Berlin 1883, 1971. 404 Vgl.: Rothfels, Hans: Theodor Lohmann...a.a.O. (=Anm. 255), 55; sowie: Tennstedt, Florian, Winter, Heidi (Bearb.): Quellensammlung…II. Abteilung. 2. Band. 1. Teil...a.a.O. (=Anm. 337), XXIV ff. 405 Vgl.: RGBl. 1883, 73; das „Gesetz, betreffend die Abänderung des Titels VIII der Gewerbeordnung“ vom 8. April 1876 wird mit dem Krankenversicherungsgesetz (§ 87) aufgehoben.
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wenden sind.“406 Die Knappschaftskasse bleibt für den Bereich des Bergbaues zuständig. In Anlehnung an süddeutsche Einrichtungen wird als subsidiäres Kasseninstitut die Gemeindekrankenversicherung geschaffen.407 Das Hilfskassengesetz bleibt nur noch für die auf freier Übereinkunft beruhenden Kassen in Geltung. Es erfährt mit Datum vom 1. Juni 1884408 eine entsprechende Novellierung. Gemäß § 75 des KVG befreit die Mitgliedschaft in einer der teilweise der Gewerkschaftsbewegung nahestehenden Hilfskassen (egal ob es sich um „eingeschriebene“ oder landesrechtlich geprägte Kassen handelt) weiterhin unter bestimmten Voraussetzungen (Gewährung mindestens der Leistungen der Gemeindekrankenversicherung) von der Mitgliedschaft zu einer der Kassenarten des KVG. Dies ist eine erneute Konzession besonders an die Kräfte, die das Kassenwesen der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine erhalten sehen wollen. Diese Vorschrift, die Grundlage der Entwicklung der späteren Ersatzkassen, ist entgegen der Auffassung Bismarcks und auch Lohmanns in das KVG eingeschrieben worden. Während Lohmann in dieser „nicht strikten“ Durchführung der Zwangsorganisation eine „Halbheit“ sieht, bemängelt Bismarck, daß dem „Voluntarismus zu weite Konzessionen“ gemacht worden seien.409 In einer späteren Aufzeichnung Lohmanns heißt es: „Daß das Krankenversicherungsgesetz nicht zustande gekommen wäre, wenn man schon bei der Einbringung des Entwurfs die volle Konsequenz des Versicherungszwanges gezogen hätte, unterliegt keinem Zweifel... Es ist aber für das letzte Ziel der ganzen Sozialreform dringend wünschenswert, daß dieser Schritt nicht getan wird, ohne daß man den arbeitenden Klassen für den Verlust des einzigen Gebiets, auf welchem ihnen eine freie organisatorische, nicht von dem Ermessen der Regierung abhängige, sondern gesetzlich geregelte Vergesellschaftung möglich war, einen Ersatz bietet... Finden wir nicht den Weg, den Vereinen eine freie Bahn zu öffnen, welche zugleich den Mißbrauch zu revolutionären Umtrieben ausschließt, so werden wir gegen den Fortschritt der sozialdemokratischen Bewegung vergeblich ankämpfen und schließlich bei einer Situation ankommen, welche zum offenen Kampf führen muß. Man erlasse ein Gesetz, welches alle Vereine zur Wahrnehmung legaler Interessen der Arbeiter mit gesetzlichen Mitteln ausdrücklich gestattet und ihre Organisation unter gewissen, gesetzlich festzustellenden Voraussetzungen unter den Schutz des Gesetzes stellt. Die notwendige Bedingung solcher Regelung ist die Forderung unbedingter Öffentlichkeit aller Verhandlungen dieser Vereine und ihrer Organe und ein mit starker Strafandrohung verbundenes Verbot aller nichtöffentlichen Vereine. Wenn man auf diese Weise den Arbeitern die Möglichkeit gibt, zur Erlangung günstiger Arbeitsbedingungen, zur Versicherung gegen Arbeitslosigkeit usw. gesetzlich anerkannte Vereinigungen zu schaffen, wenn man daneben die Hilfskassen als Ergänzungskassen bestehen läßt, so wird man ohne Gefahr für die Stimmung der Arbeiter den Schritt schon wagen dürfen, die gesetzliche Krankenversicherung ausnahmslos den Zwangskassen zu überweisen.“410 Heftige Kritik am § 75 des KVG formuliert auch der CDI, der zudem wegen staatlicher Aufsichtsbefugnisse über die Krankenkassen und der Nichtprivilegierung der Betriebskrankenkassen seine Interessen verletzt sieht: Durch die Zulassung dieser unabhängigen Selbst406 Hahn, Julius: Das Hülfskassengesetz vom 7. April 1876, 1. Juni 1894. Nebst Ausführungsbestimmungen und den die Hülfskassen betreffenden Bestimmungen anderer Gesetze. Berlin 1896; vgl. zu den Innungskassen und ihrer Herkunft: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte der sozialen Versicherung ...a.a.O. (=Anm. 340), 73f. 407 Vgl.: Rosin, Heinrich: Das Recht...a.a.O. (=Anm. 325), 30. 408 RGBl. 1884, 54. 409 Vgl.: Rothfels, Hans: Theodor Lohmann...a.a.O.(=Anm. 255), 53. 410 Zit. nach demselben, ebenda, 55 f.
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verwaltungsorganisationen der Arbeiter werde „...an die Unternehmer die sehr starke Zumuthung gestellt, unter ihren Arbeitern eine Gemeinde zu dulden, welche durch die Weigerung, der betreffenden Betriebs-(Fabrik-)Krankenkasse anzugehören, und durch ihre Mit g lieds cha ft bei einer freien Hilfskassse offen erkläre, daß sie den Ums tu r z der jetzigen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung und der bestehenden Besitzverhältnisse, wenn nicht anders dur ch G ewa lt, erstrebe.“411 Nun sind zwar diese von Staat und Unternehmertum abgelehnten „unabhängigen Selbstverwaltungsorganisationen der Arbeiter“ alles andere als unabhängig: Es war ja gerade ein Zweck des Hilfskassengesetzes von 1876, dessen Geltung mit dem Krankenversicherungsgesetz auf alle freien Kassen erstreckt wird, den „Mißbrauch“ von Kassen und Kassengeldern durch Normativvorschriften und staatliche Aufsicht auszuschließen. Trotz der Unrichtigkeit der Stellungnahme des CDI wird deutlich, daß zur damaligen Zeit die Wahl der Krankenkasse, insbesondere die Ablehnung der Mitgliedschaft in einer Betriebskrankenkasse, ein „Politikum“ ist, das für den, der den Schritt zur Hilfskasse wagt, schwerwiegende existenzielle Folgen haben kann. Jenseits der Hilfskassen, bei den alten, nunmehr auf die reichsgesetzliche Krankenversicherug überführten Zwangskassen, gibt es keine Organisation, die eine ausschließliche Selbstverwaltung der Versicherten kennt. Die überkommenen „staatlichliberalen“ Regelungen zur Beitragspflicht der Unternehmer und das daraus abgeleitete „Mitverwaltungsrecht“ sind in das KVG übernommen worden. Die Kassen der neuen Krankenversicherung müssen sich organisatorisch von dem Leistungsbereich „Invaliden-, Wittwen- und Waisenpensionen“ trennen; eine besondere „Pensionskasse“ kann gegründet werden (§§ 85, 86 KVG). Zugunsten der an einer Erleichterung ihrer „Armenlasten“ interessierten Gemeinden wird gestattet, den Versicherungszwang ortsstatuarisch erheblich zu erweitern (§ 2 KVG). Auch das Krankenversicherungsgesetz erstreckt sich zunächst auf Wirtschaftbereiche, in denen die Frauenbeschäftigung nicht bedeutend gewesen sein dürfte. Die Versicherungspflicht kann jedoch gemäß § 2 durch statuarische Bestimmungen der Gemeinden auf Bereiche erweitert werden, in denen die Frauenbeschäftigung bedeutend ist. Gegen Lohn oder Gehalt beschäftigte Frauen unterliegen als Pflichtversicherte in allen wesentlichen Punkten den gleichen Pflichten und Rechten, die auch für Männer gelten. Auf das Geschlecht und die Familiensituation nimmt das KVG insoweit Rücksicht, als den Angehörigen bei Krankenhausunterbringung gemäß § 7 ein halbes Krankengeld gewährt werden kann. Für den Fall der Schwangerschaft und Mutterschaft sind einschlägige Leistungen vorgesehen. Es wird Sterbegeld gezahlt. Krankenunterstützung (freie ärztliche Behandlung, Arznei, Brillen, Bruchbänder und ähnliche Heilmittel), Krankengeldzahlungen, Wöchnerinnenunterstützung, Sterbegeldzahlungen können durch Kassenstatute in einem gewissen Rahmen, teilweise sogar erheblich verbessert werden. Sie können, soweit das sinnvoll ist, auch auf „erkrankte Familienangehörige der Kassenmitglieder“ erstreckt werden (§ 21 KVG). Da die Selbstverwaltung der Krankenkassen durch „sämmtliche Kassenmitglieder“ oder durch aus ihrer Mitte gewählte Vertreter ausgeübt wird und die Wahl des Krankenkassenvorstand aus der „Mitte der Kassenmitglieder“ erfolgt (§§ 34 - 37) haben auch pflichtversicherte Frauen das aktive und passive Wahlrecht mit der Maßgabe, daß auch sie „großjährig“ und im Besitz der „bürgerlichen Ehrenrechte“ sind. Selbstverständlich haben diese Rechte auch Unternehmerinnen. Daneben existieren für besondere Kassenarten jeweils spezifische Regelungen. 411 Vgl.: Verhandlungen, Mittheilungen und Berichte des Zentralverbandes... Nr. 52, 43 f., zit. nach: Schippel, Max: Der Zentralverband der Scharfmacher und die Sozialpolitik Deutschlands. Berlin o.J., 15.
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Obwohl es für Arbeiter aus materiellen (der Unternehmerzuschuß entfällt) und anderen Gründen unvorteilhaft ist bzw. sein kann, entziehen sich bedeutende Teile der politisch bewußten Arbeiterschaft diesem erneuten staatlichen und unternehmerischen Zugriff auf die Krankenversicherungsinstitutionen und ihre Reproduktionsbedingungen. Sie treten zu „Hunderttausenden“ in die „freien Hilfskassen“ ein.412 Diese versichertenverwaltete Kassenart, die allerdings auch zahlreiche nichtgewerkschaftliche Institute kennt, erreicht im Jahre 1891 fast eine Million Mitglieder.413 Hinter dieser Erscheinung steht unter anderem eine breite sozialdemokratische Agitationskampagne aus dem Jahre 1884. In über 1.000 Versammlungen wendet sich die Partei gegen das „famose Krankenkassengesetz“ und fordert zum Übertritt in die selbstverwalteten „eingeschriebenen Hilfskassen“ auf. 1884 werden von der sich wieder regenden wenngleich noch immer verfolgten freien Gewerkschaftsbewegung besonders viele dieser Kassen gegründet. Sie werden, der überkommenen gewerkschaftlichen Organisationsstruktur entsprechend, als berufsgebundene Zentralkassen errichtet. Das heißt, sie haben ihren Sitz in einer bestimmten Stadt, nicht selten im relativ „liberalen“ Hamburg, und unterhalten zahlreiche, in Einzelfällen sogar Hunderte von Filialen in auswärtigen Städten und Gemeinden.414 Diese Organisationsform, im Keim schon in den bald unterdrückten und zu erheblichen Teilen zerschlagenen gewerkschaftlichen Kassenaktivitäten nach Erlaß des Hilfskassengesetzes angelegt, führt zu Kassengebilden, die, im Gegensatz zu den isoliert bestehenden Institutionen der Krankenversicherung, prinzipiell reichsweit tätig sind und als verbundene Organisationen erhebliche Mitgliederzahlen umfassen können. Tabelle 2: Gewerkschaftliche Eingeschriebene Hilfskassen (Zentralkassen) im Deutschen Reich
Zahl der Kassen Filialen Mitglieder Vermögen (Mark)
Ende 1885
Ende 1887
34 2.764 263.684 755.604
39 3.063 255.667 1.949.055
Quelle: Knaack, Rudolf, Schröder, Wolfgang: Gewerkschaftliche Zentralverbände... a.a.O. (=Anm. 268), 387.
Eindrucksvoll dokumentieren diese Zahlen das Erstarken des freigewerkschaftlichen Einflusses im Zuge der zunehmenden Urbanisierung, Industriealisierung und der Umwälzung der Sozialstruktur durch den fortschreitenden kapitalistischen Entwicklungsprozeß. Derartige Versicherungsinstitutionen machen sich offensichtlich die verbesserten Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse im Reich zunutze und entsprechen weit eher als die räumlich begrenzten Institute den Mobilitätsanforderungen der damaligen Zeit. Diese Kassen, die sich, wie ihre Vorläufer, die Kassen der Gesellen und Arbeiter aus der ersten Jahrhunderthälfte und 412 Vgl: Kampffmeyer, Paul: Unter dem Sozialistengesetz. Berlin 1928, 207. 413 Im Jahre 1891 ist mit 977.364 Mitgliedern ein Höchststand erreicht; vgl.: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 17(1896), 177; allgemein zur Entwicklung der Hilfskassen vgl.: Manes, Alfred (Hg.): Versicherungslexikon. Tübingen 1909, Sp. 556 - 573. 414 Vgl: Knaack, Rudolf, Schröder, Wolfgang: Gewerkschaftliche Zentralverbände ...a.a.O.(=Anm. 268), 384 f., 432 ff.
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aus der „alten Zeit“, durchaus kontrollierend und ausgrenzend gegenüber ihren (potentiellen bzw. tatsächlichen) Mitgliedern verhalten können,415 fungieren und verstehen sich vor dem Hintergrund des Sozialistengesetzes „...im Rahmen der Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur als Ersatz für die verbotenen Gewerkschaften.“416 Sie demonstrieren „...die im Arbeiterstand ruhende Fähigkeit, seine Angelegenheiten selbst zu verwalten und dieselben in diejenigen Bahnen zu führen, welche seinem Interesse entsprechen und für ihn am ersprießlichsten sind.“417 Am Ende des Jahres 1885 zählt allein die Zentralkasse der Tischler 70.095, jene der Metallarbeiter 33.210 und jene der Tabakarbeiter 22.153 Mitglieder.418 Diese Entwicklung wiederum dokumentiert für die herrschenden Kreise, daß der „höhere Zweck“ der Arbeiterversicherungspolitik, die gegen die Arbeiterbewegung gerichtete Stoßrichtung, verfehlt wird, daß die „Reichssozialpolitik“ ein höchst unwillkommenes Mittel der Stärkung der Arbeiterbewegung geworden ist. Offenkundig gut informiert vermutet die Regierung hinter dem schnellen Aufblühen der Hilfskassen „sozialdemokratische Bestrebungen“.419 Die auf bürgerlich-staatlicher Seite wachsende Absicht der „wohlorganisierten Agitation“, den „Wühlereien“, der „rothen Propaganda“420 ein Ende zu bereiten, führt zu einer vor allem durch die Gesetzgebung des Jahres 1892 betriebenen Verschlechterung der Existenzbedingungen dieser Kassenart. Vor diesem Hintergrund vermerkt Paul Singer im Fraktionsbericht der Sozialdemokratie von 1892, daß dieser jüngste Sprößling der deutschen Sozialreform seinen konservativ-ultramontan-nationalliberal-freisinnigen Vätern keine Freude machen werde und fährt fort: „Wenn es wahr ist, daß in den Hilfskassen vorzugsweise sozialdemokratische Anschauungen und Grundsätze gepflegt worden sind, dann sind binnen kurzer Zeit die Zwangskassen Sammelplätze für die ziel- und klassenbewußte Arbeiterschaft, welche ihre politische Organisation in der Sozialdemokratie besitzt, und welche auch auf dem Gebiete der Krankenpflege allein befähigt und gewillt ist, die Forderungen der Arbeiterklasse zu erfüllen.“421 Tatsächlich beginnt nun eine bis zur NS-Zeit dauernde Aktivität der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften in den bald als „rot“ verschrieenen Ortskrankenkassen, Kassen die vergleichsweise gute Selbstverwaltungsmöglichkeiten bieten.422 Die „Kaiserliche Botschaft“ vom 17. November 1881 spricht neben der Unfall- und Krankenversicherung die Invaliditäts- und Alterssicherung mit den Worten an, auch diejenigen, „...welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesammtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Theil werden können.“423 Trotz dieser Ankündigung, trotz der zahlreichen innerund außerparlamentarischen Intitiativen gegen Ende der 1870er Jahre, trotz der Tatsache, daß eine Invaliditäts- und Altersversicherung Bismarck am frühesten beschäftigt hat,424 daß er gerade mit diesem Zweig der Versicherung hohe staatspolitische Erwartungen verbunden 415 Vgl. dazu: Stollberg, Gunnar: Die gewerkschaftsnahen zentralisierten Hilfskassen im Deutschen Kaiserreich...a.a.O. (=Anm. 267), 351ff. 416 Derselbe, ebenda, 366. 417 Deutsche Metall-Arbeiter-Zeitung, Nr. 12 vom 24.3.1888. 418 Vgl.: Knaack, Rudolf, Schröder, Wolfgang: Gewerkschaftliche Zentralverbände ...a.a.O.(=Anm.268), 388. 419 Vgl.: Peschke, Paul: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 79), 315. 420 So mit Bezug auf die „freien Hülfskassen“ die Ausdrucksweise in der Schrift: Wohin steuern wir? Sozialpolitik oder Humanitätsdusel? Hagen i.W. 1890, 79 f. 421 Zit. nach: Schippel, Max: Sozialdemokratisches...a.a.O. (=Anm. 265), 845. 422 Vgl. als Kurzfassung: Reidegeld, Eckart: 75 Jahre Reichsversicherungsordnung. In: Soziale Sicherheit, 35(1986)11, 327 - 335, hier: 329 f. 423 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages...a.a.O.(=Anm. 2), 2. 424 Vgl. mit Verweis auf das Jahr 1863: Hunkel, Ernst: Fürst Bismarck...a.a.O.(=Anm. 153), 95.
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hat,425 läßt in den 80er Jahren ein entsprechender Gesetzentwurf auf sich warten. Die Vorstöße des Schwerindustriellen und freikonservativen Reichstagsmitglieds Karl Ferdinand Stumm führen 1879 zu einer Enquete des Reichskanzleramts in Form einer Befragung der Bundesregierungen bzw. der preußischen Bezirksregierungen über die Wünsch- und Durchführbarkeit von Alters- bzw. Invalidenversorgungskassen. Die Ergebnisse tragen eher dazu bei, daß man im Sommer 1880 regierungsseitig dazu neigt, ein solches Projekt ad acta zu legen.426 Es ist schließlich Bismarck selbst, der dieses Projekt wieder „anschiebt“ und die „Kaiserliche Botschaft“ wirkt wie eine Art Selbstverpflichtung.427 Seit 1881 sammelt das Reichsamt des Innern Unterlagen zu dieser Frage.428 Die Ausarbeitung dieser Materie liegt inzwischen nicht mehr bei Theodor Lohmann, der sich mit dem Reichskanzler aus Anlaß des dritten Entwurfs des Unfallversicherungsgesetzes gegen Ende des Jahres 1883 endgültig überworfen hat.429 Es sind der Leiter der wirtschaftlichen Abteilung im Reichsamt des Innern, Robert Bosse, und sein Mitarbeiter Erich von Woedtke, die zuerst und offenbar auch ohne unmittelbaren Auftrag ihrer Vorgesetzten die Initiative zur Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes ergreifen.430 Mitte 1887 münden die Vorarbeiten im Reichsamt des Innern in die „Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung“. Diese werden als erstes den Bundesregierungen zugesandt und erfahren eine deutliche Kritik. Die Kritik betrifft auch die Planung einer völlig unzulänglichen Altersrente, die ab dem 70. Lebensjahr gewährt werden soll. Skeptisch betrachtet wird auch die Lösung der Frage der Organisation. Die vorgesehene berufsgenossenschaftliche Organisation findet wenig Zustimmung. Als Alternative werden von Baden, Bayern und Sachsen neuartige territoriale Versicherungsanstalten vorgeschlagen, die u.a. auch den häufigen Betriebswechsel der Versicherten leichter bewältigen könnten. Reichskanzler Otto von Bismarck, Anhänger des Gedankens einer staatsfinanzierten Versorgung, versucht sich in diesem Zusammenhang weder mit Vehemenz durchzusetzen, noch reagiert er mit einer Blockadepolitik. Er überläßt das Feld seinen Beamten.431 Vor dem Hintergrund dieser Kritik nehmen Robert von Bosse und Erich von Woedtke nur wenige Überarbeitungen vor. Die umstrittene und viel zu niedrige Altersrente jedoch wird verdoppelt, um den Gegnern der Sozialpolitik keinen Anlaß zur „Herabwürdigung“ der Vorlage zu bieten. Eine Berücksichtigung der Witwen und Waisen fehlt. An der „Drittelfinanzierung“ durch Arbeitgeber, Versicherte und durch das Reich wird ebenso festgehalten, wie an der berufsgenossenschaftlichen Organisation und an anderen Strukturmerkmalen.432
425 Vgl. denselben, ebenda, 99. 426 Vgl.: Tennstedt, Florian: Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung. In: Fisch, Stefan, Haerendel, Ulrike (Hg.): Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Berlin 2000, 31 - 48, hier: 42 ff. 427 Vgl. denselben, ebenda, 46 ff. 428 Vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 20) 64 f.; zu diesen Unterlagen gehört auch die folgende statistische Ausarbeitung: Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiter-Versicherung in Deutschland. Den Mitgliedern des 6. Internationalen Arbeiterversicherungs-Kongresses zu Düsseldorf 1902 gewidmet von Dr. T. Bödiker. Düsseldorf 1902. 429 Vgl. ausführlich: Rothfels, Hans: Theodor Lohmann...a.a.O. (=Anm. 255), 60 f. 430 Vgl.: Haerendel, Ulrike: Regierungen, Reichstag und Rentenversicherung. Der Gesetzgebungsprozeß zwischen 1887 und 1889. In: Fisch, Stefan, Haerendel, Ulrike (Hg.): Geschichte...a.a.O.(=Anm. 426), 49 - 69, hier:51. 431 Vgl. dieselbe, ebenda, 54 f. 432 Vgl. dieselbe, ebenda, 56; vgl. auch: Rückert, Joachim: Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung. In: Ruland, Franz (Hg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Neuwied und Frankfurt a.M. 1990, 1 - 50, hier: 6.
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In ein konkreteres Stadium treten die Arbeiten an der Invaliditäts- und Altersversicherung mit der Publizierung der überarbeiteten „Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, nebst einer Denkschrift“, die symbolträchtig im Reichsanzeiger vom 17. November 1887 erfolgt. Diese „Grundzüge“ finden in der Öffentlichkeit ein äußerst lebhaftes Echo. Sie werden Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen und Versammlungen betroffener und interessierter Organisationen. Die „Sozialistische Arbeiterpartei“ startet eine breite Versammlungs- und Petitionskampagne.433 Die „Grundzüge“ werden auch vom preußischen Volkswirtschaftsrat beraten und lösen dort ebenfalls eine heftige Diskussion aus.434 Die Tatsache, daß am 9. März 1888 Kaiser Wilhelm I. stirbt und daß nach kurzer Regentschaft von Friedrich III. am 15. Juni 1888 Wilhelm II. die Thronfolge antritt, mag mancher Gegner der Sozialpolitik mit der Hoffnung verbunden haben, nunmehr sei die Arbeiterversicherungspolitik beendet.435 Doch schon am 15. April 1888 wird dem Bundesrat ein Gesetzentwurf einschließlich einer Denkschrift vorgelegt.436 Die Berufsgenossenschaften als Träger der Invaliditäts- und Altersversicherung werden aufgegeben. Dieser organisatorischen Entscheidung ist eine schwere Auseinandersetzung zwischen dem CDI und dem 1887 gegründeten „Verband deutscher Berufsgenossenschaften“ vorausgegangen. Dieser zuletzt genannte Verband macht zu dieser Zeit Anstalten, sich in Konkurrenz zum groß- und schwerindustriell dominierten CDI zu einem allgemeinen Interessenverband auszuweiten und begrüßt die Übertragung der Invaliditäts- und Altersversicherung als Stärkung seiner Position. Vermutlich im Dezember 1887 „...muß der Centralverband mit all seinem Gewicht auf die Regierung eingewirkt haben...“437 Was diese Intervention bewirkt hat, ist allerdings „unklar“. In den Ausschußberatungen des Bundesrates wird schließlich die „organisatorische Frage“ entschieden. Dort fungiert der bayerische stellvertretende Bundesratsbevollmächtigte Robert Landmann als Referent und Befürworter dieser Sozialversicherung. Er bringt für Bayern den Antrag zu einer territorialen Organisation ein, der dort im Ausschuß auch eine Mehrheit findet.438 Eine Subkommission arbeitet diesen Vorschlag aus und gelangt schließlich zum Konzept der Landesversicherungsanstalten. In dieser Subkommission, der die Bundesratsvertreter Badens, Bayerns, Preußens, Sachsens und Württembergs sowie als Regierungsvertreter Erich von Woedtke angehören, wird auch das „Ortsklassensystem“ ausgearbeitet, das zu einer stärkeren Individualisierung der Renten führen soll. „Es war diese Koalition der Mittelstaaten, die die territorialen Versicherungsanstalten gegen die Stimmen Preußens durchsetzte.“439 Der Entwurf, der nach den Ausschußberatungen im Juli 1888 vorliegt, wird ebenfalls veröffentlicht und führt zu einer weiteren Welle kontroverser Diskussionen. Die
433 Hinweise bei: Rückert, Joachim: Entstehung...a.a.o.(=Anm. 432), 6. 434 Vgl.: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte der sozialen Versicherung ...a.a.O.(=Anm. 340), 138; die „Grundzüge“ sind abgedruckt als Anhang des: Gutachten des Vorstandes des Verbandes „Arbeiterwohl“ zu den Grundzügen betreffend die Alters- und Invaliden-Versicherung der Arbeiter. In: Arbeiterwohl, 8(1888)1, 1-27, hier: 17-27; zu den Verhandlungen im Volkswirtschaftsrat vgl.: Haerendel, Ulrike: Regierungen...a.a.O.(=Anm. 430), 58. 435 So der Eindruck Bismarcks von den Mitgliedern des Reichstags, mitgeteilt dem Verfasser der Schrift: Witte, Emil: Unser Invalidenversicherungsgesetz. Berlin 1906, 7. 436 Vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O. (=Anm. 20), 65. 437 Waldheim, Harald von: Zeitgemäße Reformen...a.a.O. (=Anm. 272), 129; zur Auseinandersetzung der Verbände vgl.: Ullmann, Hans-Peter: Industrielle Interessen... a.a.O.(=Anm. 299), 605ff. 438 Vgl.: Haerendel, Ulrike: Regierungen…a.a.O.(=Anm. 430), 59; die Bundesratsausschüsse für Handel und Verkehr, für Justizwesen und Rechnungswesen werden zur Beratung der Alters- und Invalidenversicherung zusammengelegt und tagen erstmalig am 11. Mai 1888. 439 Haerendel, Ulrike: Regierungen...a.a.O.(=Anm. 430), 59 f.
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Sozialdemokratie startet eine neue, eine zweite Kampagne.440 Am 15. November 1888 wird der Entwurf vom Bundesrat verabschiedet.441 Durch die neue Organisationsform werden förderale Interessen gewahrt. Den Ländern wird es durch diese Konstruktion sozusagen ermöglicht, gegenüber den Rentenempfängern als leistende Stellen aufzutreten. Wilhelm II. eröffnet am 22. November 1888 den Reichstag mit einer Thronrede, die u.a. als „Frucht umfänglicher Vorarbeiten“442 die Vorlage des Bundesratsentwurfs ankündigt. Dieser Gesetzentwurf wird mit dem Datum vom 22. November 1888 als Aktenstück Nr. 10 dem Reichstag vorgelegt.443 Die erste Beratung beginnt am 6. Dezember 1888 und erfordert drei Sitzungstermine. Die zweite Beratung umfaßt achtzehn Sitzungen und beginnt am 29. März 1889. Die dritte Beratung erstreckt sich über sechs Sitzungen und beginnt am 17. Mai.444 Hinzu treten Kommissionssitzungen, an denen allerdings die Polen, die Elsässer und die Sozialdemokraten nicht beteiligt sind. Von großer Bedeutung ist eine informelle „Verständigungskommission“, ein Austausch zwischen Vertretern der Regierungen, der Länder, der Reichsbürokratie und des Parlaments, der dazu beiträgt, daß das Gesetz in der Form, in der es vom Reichstag verabschiedet wird, auch die notwendige abschließende Zustimmung des Bundesrates erlangt. „Man verarbeitete allein im Plenum 87 Änderungsanträge, davon vier seitens der Sozialdemokraten, und im ganzen 3287 Petitionen, darunter Sammelpetitionen mit über 85000 bzw. 60000 Unterschriften. Diese Massenpetitionen kamen besonders aus der ... sozialistischen Bewegung und Kampagne.“445 Im Reichstag zeigt sich am Beitrag des Bevollmächtigten des Bundesrats, des Staatssekretärs des Innern von Boetticher, daß das zu beratende Gesetz als wahre „Sparversion“ das Licht der parlamentarischen Öffentlichkeit erblickt. Eine Einheitsrente soll zur radikalen Vereinfachung der Verwaltung beitragen. Kostengründe macht er auch für die hohe Altersgrenze geltend. Das vielgeforderte und in der Unfallversicherung geltende „preiswerte“ Umlageverfahren hingegen lehnt er ab. Es biete keine ausreichende Sicherheit „...ob man die Rente zu solchen Zeiten wird bezahlen können, in denen wir Krieg, Seuchen oder wirthschaftlichen Niedergang haben.“446 Andere Mängel werden schöngeredet. Die niedrige Rente wird in einem Redebeitrag des Zentrumsabgeordneten Franz Hitze damit begründet, daß man es im großen und ganzen zu tun habe „...mit Familienvätern..., die bei i hr en K ind ern leben, und da ist auch eine g ering e Ren te schon eine d anken swerth e G abe , eine wirkliche Wohthat.“447 Ein Vertreter der Interessen der abhängig Beschäftigten weist dagegen darauf hin: „Eine große Anzahl von Arbeitern werden in einem Lebensalter 440 Vgl.: Rückert, Joachim: Entstehung...a.a.O.(=Anm. 432), 8. 441 Vgl.: Haerendel, Ulrike: Die Anfänge der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland. Speyer 2001, 63 ff. 442 Die Thronrede findet sich als Teilabdruck bei: Peters, Horst: Die Geschichte... a.a.O.(=Anm. 20), 65; vgl. ansonsten: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. VII. Legislaturperiode. IV. Session 1888/89. Erster Band. Berlin 1889, 1 f. 443 Vgl.: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 7. Legislaturperiode. IV. Session 1888/89. Vierter Band. Erster Anlagenband. Berlin 1889, 31 ff. 444 Neben den Plenarprotokollen vgl. zur Dimensionierung dieser „parlamentarischen Anstrengung“ auch: Rückert, Joachim: Entstehung...a.a.O.(=Anm. 432), 9. 445 Derselbe, ebenda, 9; vgl. in diesem Zusammenhang das Aktenstück Nr. 144: Verzeichniß der zu dem Gesetzentwurf, betreffend die Alters- und Invaliden-Versicherung eingegangenen Petitionen. In: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 7. Legislaturperiode. IV. Session 1888/89. Sechster Band. Dritter Anlagenband. Berlin 1889, 1153 ff. 446 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. VII. Legislaturperiode. IV. Session 1888/89. Erster Band. Berlin 1889, 142. 447 Ebenda, 172.
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invalide, in welchem ihnen noch die Sorge für die Familie obliegt...“448 Das Fehlen einer Witwen- und Waisenunterstützung wird wiederholt mit dem „Argument“ der zu hohen Kosten gerechtfertigt. Die im Gesetzentwurf vorgesehenen niedrigen Renten der Frauen werden mit dem Argument begründet, bei dem „weiblichen Geschlecht“ sei „Lohnarbeit bloß ein Uebergangsstadium zur späteren Selbständigkeit resp. Verheiratung...“449 Auch hier macht sich zweifellos negativ bemerkbar, daß Frauen wegen des fehlenden Wahlrechts auf der Bühne des Parlaments nicht agieren können. Es kann nicht überraschen, daß zu Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Organen der Leistungsträger nur gewählt werden können „...deutsche, männliche, großjährige, im Bezirke der Versicherungsanstalt wohnende Personen, welche sich im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte befinden und nicht durch richterliche Anordnung in der Verfügung über ihr Vermögen beschränkt sind.“ So steht es bereits im Bundesratsentwurf vom 22. November 1888 und so steht es auch im schließlich verabschiedeten Gesetz. Unter Belassung oder Abänderung der Bestimmungen des Bundesratsentwurfs gewinnt das Gesetz auch in anderen Punkten seine endgültige Gestalt. Auf dem Gebiet der anzustrebenden Organisationsform wird noch viel über die „Berufsgenossenschafts-“ aber auch die „Krankenversicherungslösung“ debattiert, auch über eine Zentralbehörde wird gesprochen. Schließlich werden die vom Bundesrat beschlossenen Landesversicherungsanstalten akzeptiert.450 Der politische Partikularismus und die damit einhergehende Angst vor einer Stärkung der „staatlichen Zentralgewalt“ setzen sich auch hier durch. Diese Entscheidung geht auch auf diesem Gebiet der Arbeiterversicherung zu Lasten der staatspolitischen Tendenz, Reich und Kaisertum als „wohlthätige Einrichtungen“ gerade auch für die „unteren Klassen“ erscheinen zu lassen. Bewußt wird während der Beratungen die Bezeichnung des angestrebten Gesetzes geändert. Es wird gezielt nicht mehr, wie in den „Grundzügen“ und im Entwurf des Bundesrates von „Alters- und Invaliditätsversicherung“ sondern schließlich und endgültig von „Invaliditäts- und Altersversicherung“ gesprochen, um zu zeigen, „...daß nicht die Alters- sondern die Invaliditätsversicherung der Hauptzweck des Gesetzes sei.“451 Das Alter selbst wird im Grunde nicht als „schützenswertes Risiko“ angesehen. Ein „Ruhestand“ soll eigentlich nicht gewährt werden. Die eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten sollen ausgeglichen werden. Alle Vorstöße, eine geringere Altersgrenze vorzusehen, die Sozialdemokratie möchte das Rentenalter bei 60 Jahren beginnen lassen, gefordert wird verschiedentlich auch eine Altersgrenze von 65 Lebensjahren, verfallen der Ablehnung. Mit dem vollendeten 70. Lebensjahr wird Invalidität sozusagen unterstellt. Dementsprechend heißt es im verabschiedeten Gesetz: „Altersrente erhält, ohne daß es des Nachweises der Erwerbsunfähigkeit bedarf, derjenige Versicherte, welcher das siebzigste Lebensjahr vollendet hat.“ Eine Witwen- und Waisenversicherung wird vor allem auch „...wegen der großen Belastung der Industrie auf finanziell bessere Zeiten“ verschoben.452 Statt dessen sind gewisse (Beitrags-) Rückerstattungsmöglichkeiten für Witwen und Waisen vorgesehen. Für jede Rente wird aus herrschaftsstrategischen Gründen, als Versicherungsprämie gegen den „Umsturz“, ein 448 Ebenda, 185. 449 Ebenda, 166. 450 Vgl.: Alters- und Invaliditätsversicherung. In: Juristisch-technische Versicherungs-Zeitschrift, 1(1889)15, 118119. 451 Scherf, Philipp: Arbeiterfürsorge nach dem Invalidenversicherungs-Gesetz vom 13. Juli 1899. Darmstadt 1900, 1f. 452 Vgl.: Dreher, Wolfgang: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 284), 31.
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Reichszuschuß vorgesehen. Ansonsten speist sich die Rente aus Beiträgen. Gegen verbreiteten Widerstand wird als Grundprinzip der Ausgestaltung der Finanzwirtschaft tatsächlich das Prämien- bzw. Kapitaldeckungsverfahren eingeführt. Die Wartezeit für die Invalidenrente wird auf 5, die für die Altersrente auf 30 Beitragsjahre festgelegt. Übergangsbestimmungen sichern für bestimmte Gruppen die Rente vor Ablauf der vollen Wartezeit. Die Renten selbst liegen, wie in der Reichstagsdebatte mehrfach betont wird, tatsächlich meistens unter den Unterstützungszahlungen der Armenpflege. Manche Rentner der damaligen Zeit glauben wohl angesichts der Rentenhöhe, „...daß nur ein ‘Schreibfehler’ im Rentenbescheid vorliege...“453 In der Denkschrift, die den „Grundzügen“ beigegeben war, war zu lesen: „Ihrem Betrage nach wird die Rente so bemessen werden müssen..., daß sie nur für den nothdürftigen Lebensunterhalt an billigem Orte ausreicht.“454 Faktisch sind die Renten „Zuschüsse“ und machen Familienhilfe, Zu- bzw. Weiterarbeit, Sparen usw. nicht entbehrlich. Auch das war den Debattenrednern keineswegs entgangen. Die Verarmung wird durch dieses Gesetz nicht verhindert, die gegebenenfalls unumgehbare Schuldenmacherei wird auch durch dieses Gesetz lediglich eingegrenzt. Von einer „aufrichtigen Hingabe“ an die Not der Arbeiter und anderer Bevölkerungskreise kann keine Rede sein. An die Ermöglichung eines gesicherten „Lebensfeierabends“ in Ruhe und Erholung ist gar nicht gedacht. Die Erlangung der Invalidenrente ist voraussetzungsvoll. Eine Invalidenrente erhält, wer die Anwartschaft erfüllt und dauernd erwerbsunfähig ist. Erwerbsunfähigkeit wird angenommen, wenn der Versicherte in Folge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr im Stande ist, durch eine seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Lohnarbeit mindestens einen Betrag zu verdienen, welcher gleichkommt der Summe eines Sechstels des Durchschnitts der Lohnsätze, nach welchen für ihn während der letzten fünf Beitragsjahre Beiträge entrichtet worden sind und eines Sechstels des dreihundertfachen Betrages des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter des letzten Beschäftigungsortes. Der Nachweis der Beitragszahlung erfolgt über Beitragsmarken, die in Quittungskarten einzukleben sind. Zunächst ist zur Nachweisung der Beschäftigungs- und Beitragszeiten sowie der Höhe der Beiträge ein Quittungsbuch vorgesehen. Das führte bei den Betroffenen und ihren Fürsprechern zu der berechtigten Angst, daß dieses wichtige Teilstück „obrigkeitsstaatlicher Sozialpolitik“ nicht nur dazu bestimmt ist, durch materielle „Bestechung“ auf das Wahl- und Organisationsverhalten der Arbeiter einzuwirken, „von oben“ auf die Mentalitäten Einfluß zu nehmen, sondern daß es auch zur direkten Kontrolle der abhängig Beschäftigten mißbraucht werden soll. Die Quittungsbücher werden als „maskierte Arbeitsbücher“ bezeichnet, als Arbeitsbücher, ähnlich wie sie zu dieser Zeit zur Kontrolle der Beschäftigten diskutiert und von den Konservativen verlangt werden. Gegen die ursprünglich vorgesehenen Quittungsbücher allein richten sich über 2.000 Petitionen mit mehr als 200.000 Unterschriften, da von sozialdemokratischer Seite eine „Anbringung geheimer Zeichen“ (etwa: Nadelstiche, verkehrt gesetzte Stempel) in den Quittungsbüchern befürchtet wird. Die Quittungsbücher hätten, mit derart diskriminierenden Zeichen versehen, tatsächlich eine Kontrolle des Arbeiterverhaltens ermöglicht. Sie hätten erlaubt, Auskünfte bei früheren Arbeitgebern zu erheben oder die Beteiligung an Streiks, Gewerkschafts- und Parteizugehörigkeit nachzuweisen. Demgegenüber ha-
453 So ironisch: Gräf, Eduard: Von unseren Invalidenversicherungsanstalten. In: Die Neue Zeit, 22(1903/1904), 349352, hier: 349. 454 Zit. nach: Schippel, Max: Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter nach dem Gesetzentwurf des Bundesrathausschusses. In: Die Neue Zeit, 6(1887/1888)385-394, hier: 388.
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ben die Quittungskarten eine kürzere Laufzeit. Ihr Mißbrauch ist durch Strafbestimmungen bedroht. Auch sie sind nicht unumstritten.455 Der Kreis der Versicherten ist von vornherein umfangreich. Er umfaßt alle Personen, welche als Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge oder Dienstboten gegen Lohn oder Gehalt beschäftigt werden. Er umfaßt auch „Betriebsbeamte“ und ähnliche Personenkreise (bis zu einem regelmäßigen Jahresarbeitsverdienst von 2.000 Mark) und gegen Lohn und Gehalt beschäftigte Personen der Schiffsbesatzungen deutscher Seefahrzeuge. Damit sind auch die abhängig Beschäftigten in der Landwirtschaft, die eigentlichen „Stiefkinder“ der damaligen und späteren „Sozialreform“ nicht ausgespart.456 Die paritätische Beteiligung der Arbeiter und Arbeitgeber an der Verwaltung der körperschaftlich organisierten Träger in Form eines Ausschusses beschränkt sich nicht nur auf „ehrbare“, deutsche, männliche und großjährige Personen. Man versucht auch unter diesen nur die zum Zuge kommen zu lassen, die staatstragend, kaisertreu und mit der bestehenden sozialökonomischen Ordnung „versöhnt“ sind. Durch die Ausgestaltung des Wahlverfahrens wird nämlich dafür Sorge getragen, daß der Einfluß „unbotmäßiger“ und „radikaler“ Arbeitervertreter erschwert wird. Spielen in der Krankenversicherung, der „liberal-staatlichen“ Tradition entsprechend, die höheren Verwaltungsbehörden, die Gemeindebehörden und sonstige landesrechtlich zu bestimmende Behörden die Rolle von Aufsichtsinstanzen, so werden als Aufsichtsinstanzen der Invaliditäts- und Altersversicherung - wie bei der Unfallversicherung - das Reichsversicherungsamt bzw. die Landesversicherungsämter bestimmt. Das Gesetz wird am 24. Mai 1889 als „Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung“ (IVG) mit 185 gegen 165 Stimmen beschlossen.457 Es trägt das Datum vom 22. Juni 1889. Es umfaßt 162 Paragraphen und tritt teilweise sofort, teilweise am 1. Januar 1891 in Kraft. Gegen das Gesetz stimmen aus höchst unterschiedlichen Motiven die Sozialdemokratie, beinahe alle Freisinnigen, die Mehrheit der Zentrumspartei, 9 Nationalliberale und 9 Konservative. Dafür stimmt die große Mehrheit der Konservativen und die große Mehrheit der Nationalliberalen.458 Wohl über kein Arbeiterversicherungsgesetz ist bis zu diesem Zeitpunkt soviel gestritten worden wie über das IVG, sein Schicksal war bis zur Schlußabstimmung ungewiß, 40 Abgeordnete stimmten nicht mit.459 Von großer Wichtigkeit für die Annahme des Gesetzes ist die Tatsache, daß 13 Abgeordnete des Zentrums für das Gesetz stimmen.460 Nicht zuletzt ist es die Angst vor Stimmenverlusten bei der nächsten Wahl, die nun den im Februar 1887 gewählten Reichstag, der zu Beginn der Legislaturperiode unter anderem für ein neues Militärgesetz, die Einführung der Branntweinsteuer, die Erhöhung der Zuckersteuer votiert hatte, dazu drängen, etwas für den „Arbeiter“ zu tun.461 Die Tatsache, daß die Sozialdemokratie auch gegen dieses dritte Sozialversicherungsgesetz gestimmt hat, wird von den gegnerischen Kräften demagogisch gegen sie und ihren Masseneinfluß gewendet. Sie sei eine Partei der „reinen, 455 Vgl.: Benöhr, Hans-Peter: Soziale Frage, Sozialversicherung und sozialdemokratische Reichstagsfraktion (18811889). In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 98(1981), 95-156, hier: 131. 456 Vgl. insgesamt auch: Rückert, Joachim: Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung ...a.a.O.(=Anm. 432), 2 f. 457 RGBl. 1889, 97; eine umfassende Darstellung der parlamentarischen Behandlung bietet: Rosin, Heinrich: Das Recht...a.a.O.(=Anm. 325) 44 ff. 458 Vgl.: Die Sozialdemokratie...a.a.O.(=Anm. 323), 502. 459 Vgl: Asmussen, P.: Die Annahme der Alters- und Invaliditätsversicherung. In: Die Gegenwart, 35(1889)26, 401 402. 460 Vgl.: Die Sozialdemokratie...a.a.O.(=Anm. 323), 502. 461 Vgl. ebenda, 366 f.
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unfruchtbaren Verneinung (Negation)“ und habe kein Interesse an einer Verbesserung der Lage der Arbeiter. Das IVG, von Bismarck abschätzig als „parlamentarischer und geheimrätlicher Wechselbalg“ bezeichnet462 wird von ihm zwar kaum mehr, wie einst das Unfallversicherungsgesetz, tatkräftig unterstützt. Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, daß der am Ende seiner Amtszeit stehende Reichskanzler durchaus noch einen bedeutsamen parlamentarischen Auftritt hat, den er dazu benutzt, bestimmte „schwankende“ Reichstagsmitglieder auf Zustimmung zum Gesetzentwurf einzuschwören. Das Gesetz wird auch von maßgebenden Kreisen der Unternehmerschaft „stark zurückhaltend“ aufgenommen und ist jenseits dieser Kreise ausgesprochen unbeliebt. Die relativ „rasche Aufeinanderfolge“ der Arbeiterversicherungsgesetze, eine erneut in den Vordergrund geschobene „Simulationsfurcht“, die „Bedrohung“ der „privaten, freiwilligen Fürsorge“ der Unternehmer und damit der Verlust an eigenständigen, unternehmensbezogenen, loyalitätssichernden, konfliktminimierenden Handlungsmöglichkeiten spielen in diesem Zusammenhang ebenso eine wichtige Rolle wie die „Beitraglasten“.463 Ein Gespür dafür, daß den Unternehmern doch auch etwas genommen wird, wenn dem Reich durch die primär staatspolitisch motivierte „Sozialreform“ ein hohes Maß an staatssichernden Einstellungen und Haltungen zuwachsen soll, ist weit verbreitet. Die Vorteile der Zuspitzung und Einengung der „Sozialreform“ auf die Arbeiterversicherungsgesetzgebung durch Bismarck, die für die Unternehmer günstige Lösung der Haftpflichtfrage, schaffen die Ressentiments nicht aus der Welt. Das IVG stößt, folgt man zeitgenössischen Veröffentlichungen, auch bei den eigentlichen Adressaten, den Arbeitern und den ihnen faktisch nahestehenden Gruppen zumindest zunächst auf wenig Begeisterung. Neben der Kritik an den äußerst niedrigen Leistungen würde die Ansammlung riesiger Kapitalien, würden die „kolossalen Geldanhäufungen“, aufgebracht aus „Arbeitergroschen“, argwöhnisch beäugt, das „Marken-Kleben“ werde als Last empfunden.464 Zudem werde entgegen der Intention des Gesetzes in Kreisen der Arbeiter die Altersrente als eigentlicher Zweck des Gesetzes angesehen und es werde gefolgert, es habe „...keinen Wert für den Arbeiter, der nicht 70 Jahre alt werde...“465 Die Furcht vor Verlust der Beiträge sei sehr groß und berechtigt. An der Tatsache, daß die Invaliditäts- und Altersversicherung zu dieser Zeit wohl „allseits unbeliebt“ ist,466 kann auch die offizielle Lobpreisung, die metaphorische Ausschmückung als „Krönung des sozialen Gebäudes“, als „gigantisches Werk, das seinesgleichen sucht“, als „bedeutendste Schöpfung des Reichstages seit den großen grundlegenden Arbeiten bei Errichtung des Deutschen Reiches“, als „bahnbrechender Fortschritt“ wenig ändern. In sozialpolitisch engagierten Kreisen von Regierung und Verwaltung ist man eher froh, vor dem Hintergrund einer günstigen Konjunkturlage und der damals von den herrschenden Kräften heraufbeschworenen Kriegsgefahr überhaupt zu diesem letzten der drei großen Arbeiterversicherungsgesetze ge-
462 Vgl.: Witte, Emil: Unser Invalidenversicherungsgesetz...a.a.O.(=Anm. 435), 8. 463 Breger, Monika: Die Haltung der industriellen Unternehmer zur staatlichen Sozialpolitik 1878-1891. Frankfurt 1982, 156. 464 Vgl.: Hitze: Invaliditäts-Versicherung und Markensystem. In: Christlich-sociale Blätter, 29(1896),609-613, hier 609. 465 Vgl.: Hochstätter: Warum ist das Invalidenversicherungs-Gesetz unbeliebt? Ein Beitrag zur Ehrenrettung des Gesetzes. Stuttart 1897, 15. 466 Vgl.: Schippel, Max: Der Zentralverband...a.a.O.(=Anm. 411), 12.
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kommen zu sein.467 Einmal ins Leben getreten, kann das „Klebe-Gesetz“ auch durch noch so heftiges Petitionieren der Gegner der „Sozialreform“ nicht rückgängig gemacht werden.468 Beispielhaft für die „verhaltene“ Einschätzung des „Schlußsteins der Arbeiterversicherungsgesetzgebung“ sind Äußerungen des Reichskanzlers und seines loyalen Mitarbeiters Robert Bosse. Da das IVG Bismarcks Vorstellungen von einer steuerfinanzierten Altersbzw. Staatsbürgerversorgung nicht entspricht, urteilt dieser rückblickend, er habe die Vorlage, so wie sie angenommen worden sei, als sein „Kind“ nicht anerkennen können. Er habe jedoch nach der Maxime gehandelt „...lieber dies Adoptivkind als gar keins.“469 Die Stellungnahme von Robert Bosse, seit dem Sozialistengesetz Impulsgeber und „Wegweiser“ in sozialpolitischen Fragen und treibende Kraft dieses Gesetzgebungsprozesses, wird wesentlich durch eine ausgeprägte Revolutionsfurcht und durch sein „persönliches Christentum“ geprägt. Seine schon gegen Ende der 1870er Jahre geäußerte Vorahnung einer „großen Katastrophe“, seine Furcht vor dem „Abgrund der gottlosesten, blutigsten, grausamsten Revolution“ und seine christlichen Überzeugungen verbinden ihn mit anderen Kreisen der damaligen Zeit und in besonders klarer Weise auch mit den Argumentationsmustern der vergangenen, der „frühsozialpolitischen“ Debatte. Überzeugt von der hohen Bedeutung der Kirche und Religion für die gesellschaftliche und politische Stabilität, intime Kenntnisse der damaligen Staats- und Gesellschaftsverhältnisse und des einschlägigen Gesetzgebungsprozesses lassen ihn den Beitrag der staatlichen Sozialpolitik zur Herrschaftssicherung besonders skeptisch einschätzen. Alle diese Faktoren zusammen führen zu einer bemerkenswerten Argumentation in seiner Privatkorrespondenz. Bald nach der Verabschiedung des IVG äußert er sich in einem Brief, der das Datum vom 17. Juli 1889 trägt, wie folgt: „Mit unserem Invaliditätsgesetz ist viel zu viel und viel zu früh ein großes Trara gemacht. Die Nackenschläge werden schwerlich ausbleiben. Die Bedeutung der Sache liegt ausschließlich darin, daß überhaupt ein Versuch gemacht wird, denn das ist der einzige Weg, um zu lernen, wie es gemacht werden muß. Nur eine sehr starke Monarchie kann den Versuch machen, und wir wissen am besten, wie mangelhaft dieser Versuch ausgefallen ist, in vieler Beziehung noch schlechter als unser Entwuf. Indessen ohne diese parlamentarischen Kompromisse war überhaupt nichts zustande zu bringen. Wenn die Sache losgeht, wird sie den Arbeitgebern wie den Arbeitern zunächst höchst unbequem sein, und ein Verständnis wird im günstigsten Fall nur sehr langsam aufdämmern. Ich habe nie angenommen, daß auf diesem Wege Sozialdemokraten bekehrt werden. Allein immerhin wird allmählich einige Einsicht reifen, wenn wir erst einige Millionen Menschen haben, die ihre Rente empfangen... Immerhin sehe ich in der Tatsache, daß ein derartiger Versuch, die über unsere Gesellschaft mit Notwendigkeit hereinbrechenden Gerichte mittels Zusammenraffens zu bessernder Tat wenigstens aufzuhalten, bei uns zustande gekommen ist, ein Zeichen, daß unser Volk trotz aller himmelschreienden Schäden von Gott dem Herrn doch noch in aufsteigender Linie geführt wird. Die Kämpfe, denen unser Kaiser intra et extra entgegengeht, werden schwer genug sein, und auch an Demütigungen und Niederlagen wird es dabei nicht fehlen. Dennoch glaube ich, daß es zunächst noch vorwärts und aufwärts gehen wird. So morsch vieles bei uns ist, so ist doch noch viel ge467 Vgl.: Woedtke, E. von: Zur Invaliditäts- und Alterssicherung im Ausblick auf die Praxis. Ein Vortrag, gehalten im Dezember 1889. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 14(1890),136, hier: 1ff. 468 Vgl.: Gebhard, Hermann: Die Reform der Invaliditäts- und Altersversicherung. Mainz 1893, 3; am 18. und 24. Februar 1893 werden die Petitionen im Reichstag behandelt und erweisen sich als aussichtslos; vgl. ebenda, 3. 469 Zit. nach: Tennstedt, Florian: Glaubensgewissheit und Revolutionsfurcht...a.a.O.(=Anm. 332),840.
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sunde Lebenskraft und selbst Christentum da, und kein Volk der Welt hat noch ein gleiches Maß von Empfänglichkeit für Gottes Wort und Gottes Ordnungen. Alle Nachbarvölker sind noch viel morscher, und deshalb glaube ich, daß die nächste Mobilmachung, die ich etwa auf den April 1891 setze, schließlich doch noch einmal zu deutschen Siegen führen wird.“470 Aber auch Bosse bleibt, wie andere Quellen zeigen, die wachsende Entfremdung vom christlichen Gottesglauben in Deutschland nicht verborgen. So erscheint ihm auch das Projekt unsicher, der kapitalistisch-industriellen Gesellschaft mit einer Restitution des christlichen Glaubens die verloren gegangene innere Stabilität zurückzugeben. Zwischen den Trägern der Arbeiterversicherung und den Leistungsanbietern (den Ärzten, den Krankenanstalten usw.) bildet sich bald ein Netz von finanziellen Transaktionen und vertraglichen Abmachungen heraus. Soweit es bei Versicherungsträgern zu Vermögensbildungsprozessen kommt, läßt sich eine umfassende Förderung des Gesundheits- und Sozialwesens beobachten. Auf diesem Gebiet sind insbesondere die Aktivitäten der Träger der „kapitalbildenden“ Invaliditäts- und Altersversicherung von erheblicher Bedeutung. Gelder der Landesversicherungsanstalten werden als Darlehen für den Bau von Arbeiterwohnungen verwendet. Sie dienen der Bekämpfung grassierender Seuchen und Infektionskrankheiten. Der Bau von Kranken- und Genesungshäusern sowie von Volksheilstätten wird gefördert. Gemeindepflegestationen, Herbergen zur Heimat, Arbeiterkolonien, Volksbäder, Blindenheime, Kleinkinderschulen, aber auch Schlachthäuser, Geschäftsräume für Arbeitsvermittlungsstellen, Wasserleitungs- und Kanalisationsanlagen, Spar- und Konsumvereine und ähnliche Einrichtungen erfahren eine Finanzierung durch Mittel aus der Arbeiterversicherung.471 Die Instrumentalisierung des Zwangs als Mittel der staatlichen Sozialpolitik bedingt, daß die Arbeiterversicherung gewaltige „Menschenmassen“ umfaßt. Sie läßt in dieser Beziehung alle älteren und alternativen „Lösungen“ und Vorläufer weit hinter sich. Selbst die geradezu explosionsartig anschwellende, in Deutschland ansässige Lebensversicherung, die 1845 erst ungefähr 26.000 Personen versicherte und es Ende 1898 bei den Kapitalversicherungen auf den Todesfall auf einen Bestand von immerhin 1.350.060 Policen bzw. Personen gebracht hat,472 wird durch den gewaltigen Umfang der Arbeiterversicherung geradezu deklassiert.
470 Dieser Brieftext wird hier wiedergegeben aus der Publikation von: Frick, D. Robert: Christengemeinde...a.a.O. (=Anm. 332), 67 f. 471 Vgl. mit Zahlen vom Beginn des 20. Jahrhunderts: Hitze, (Franz): Arbeiterversicherung. In: Bachem, Julius (Hg.): Staatslexikon. Dritte, neubearbeitete Auflage. Erster Band. Freiburg im Breisgau 1908, Sp. 317- 326, hier: Sp. 324 f. 472 Vgl.: Emminghaus, A.(rwed): Lebensversicherung. In: Conrad, J., Elster, L., Lexis, W., Loening, Edg. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite, gänzlich umgearbeitete Auflage. Jena 1900, 550 - 575, hier: 555.
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Tabelle 3: Umfang der Arbeiterversicherung Versicherte Jahr
Gesamtbevölkerung
1. Krankenversicherung
2. Unfallversicherung
3. Invalidenversicherung
1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900
46.707.000 47.134.000 47.630.000 48.168.000 48.717.000 49.241.000 49.762.000 50.266.000 50.757.000 51.339.000 52.001.000 52.753.000 53.569.000 54.406.000 55.248.000 56.046.000
4.670.959 4.944.212 5.220.782 5.790.431 6.557.336 7.018.483 7.342.958 7.427.699 7.574.942 7.736.686 8.005.797 8.443.049 8.865.685 9.325.722 9.742.259 10.159.155
3.251.000 3.821.000 4.121.000 10.353.000 13.374.000 13.680.000 16.515.000 16.514.000 16.618.000 16.691.000 16.889.000 16.105.000 16.447.000 16.746.000 17.104.000 17.392.000
11.490.200 11.650.400 11.812.800 11.977.500 12.144.500 12.313.800 12.485.500 12.659.600 12.836.100 13.015.100
Quelle: Manes, Alfred: Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm.392), 62 f.
Während auf dem Gebiet der Krankenversicherung die Vorläufer geradezu stilbildend für den strukturellen Aufbau geworden sind, gilt dies für den letzten der drei Versicherungszweige nicht. Auf dem Gebiet der Invaliditäts- und Altersversicherung haben Vorläufer wie etwa die Knappschaften, Fabrikpensionskassen und namentlich - worauf zuständige Mitarbeiter der Reichsbürokratie hinweisen - die Eisenbahnpensionskassen vor allem Anregungen und Anhaltspunkte vermittelt.473 Unter den Bedingungen gewaltiger Versichertenzahlen und angesichts des verkomplizierten Aufbaues der Arbeiterversicherung arbeitet die sich mit der „Bismarckschen Sozialreform“ erweiternde oder neu bildende Sozialbürokratie zunächst an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Notbehelfe, Unwägbarkeiten, Raumnöte, Personalknappheit, Umzüge in immer größere und meist auch repräsentativere Dienstgebäude stehen am Anfang. Vielfache Veränderungen des Rechts, der Spruchinstanzen, der örtlichen und sachlichen Zuständigkeiten, der ständige „Wandel“ der Bürotechniken und administrativen Verfügungen, eine stete Zunahme des „Geschäftumfangs“, eine Anreicherung mit medizinischen Einrichtungen und Instanzen treten ebenso hinzu, wie die Ausdehnung der Einnahmen, des Vermögens und der Ausgaben. Diese Erscheinungen sind Ausdruck einer nunmehr „energisch“ vorangetriebenen politischen Regulierung der Lohnarbeiterverhältnisse. Obgleich die Stellungnahme der Sozialdemokratie zur „Bismarckschen Sozialreform“ teilweise deutlich protestgeprägt und politisch motiviert ist, ist sie von erheblichem theoretischen Wert. Deutlich spiegelt sie die Zeitumstände, die von der herrschenden Seite verfolgten 473 Vgl.: Rückert, Joachim: Entstehung...a.a.O.(=Anm. 432), 36 f.
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politischen Ziele, die Mängel, Grundzüge und Details der Ausgestaltung der „Sozialreform“. Die Grundlinien der Stellungnahme der Sozialdemokratie werden im folgenden an Hand der Parteitags- und Reichstagsprotokolle und wichtiger zeitgenössischer Publikationen wiedergegeben. Es handelt sich um eine sinnanaloge, zusammenfassende Rekonstruktion typischer Positionen und Interpretationsmuster, die nicht immer einheitlich und unumstritten vertreten werden. Eine Darstellung der Auffassungsunterschiede und Diskussionen scheidet jedoch aus Platzgründen aus.474 Die Bismarcksche „Sozialreform“ wird durchgängig in Beziehung zur kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur des Kaiserreichs gesetzt. Sie habe nichts Wesentliches an der „bürgerlichen Gesellschaft“ und der „Stellung der Arbeiter“ in ihr geändert. Das Herrschaftsverhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern sei unangetastet geblieben, eine Beschränkung der Ausbeutung sei nicht erfolgt. Die Arbeiterversicherung habe mit den „wirklichen Ursachen“ der Not, mit der „Ausbeutungswirtschaft“ absolut nichts zu tun. Die Bismarcksche Politik trage den Namen „Sozialreform“ zu Unrecht, der Begriff sei reine „Sozialdemagogie“, „politische Bauernfängerei“. Den Arbeitern solle Sand in die Augen gestreut, sie sollten mit „Wertlosem“ zufriedengestellt werden. Insofern sei die „sociale Frage“ auch nicht mit der Arbeiterversicherungsgesetzgebung gelöst. Erst die Aufhebung des „Privatbesitzes“ an den „Arbeitsmitteln“, eine „sozialistische Organisation“ der Arbeit und der Verteilung, eine Beseitigung der Ursachen, welche „Not und Knechtschaft“, Verelendung, Ausbeutung ermöglichen, eine Überwindung der „Anarchie der Produktion“ und „Distribution“ könne als Sozialreform bezeichnet werden. Ohne „Arbeitsversicherung“ bleibe die Arbeiterversicherung „bloßes Stückwerk“. Vor diesem Hintergrund wird die Verweigerung aller „Maßregeln“, die Lage des „gesunden und tätigen Arbeiters grundlegend zu verbessern“, um diesen vor Unfall, Krankheit oder Invalidität zu bewahren, kritisiert. Auf diese Weise illustriert die Sozialdemokratie wirkungsvoll den Vorwurf der Arbeiterfeindlichkeit der staatstragenden Kräfte und Institutionen. Es sei Ziel der „Sozialreform“ gewesen, lediglich die „Noth der vorübergehend oder dauernd Arbeitsunfähigen“ zu mindern. Ein „Schutz gegen die Kapitalherrschaft“, eine gesetzliche Regelung der „Lohn- und Produktionsverhältnisse“, die Einführung eines „Normalarbeitslohnes“ in Höhe der „Erzeugungskosten der Waare Arbeit“ wird ebenso vermißt, wie ein „Recht auf Arbeit“. Die Sozialdemokratie sieht sich selbst als eigentlicher „Urheber der Sozialreform“. „Ohne Sozialdemokratie keine Sozialreform“, der Sozialdemokratie sei es geschuldet, daß die soziale Frage offiziell auf der Tagesordnung stehe. Der Staat sei gezwungen worden, der Agitation und dem stetigen Wachstum der Sozialdemokratie Rechnung zu tragen. Gleichzeitig wird typischerweise und entsprechend den Umständen der Durchsetzung der „Sozialreform“ erkannt, daß diese der „Bekämpfung“ der Sozialdemokratie dient, daß sie ein „taktisches Mit474 Neben den Protokollen wurden die folgenden Schriften ausgewertet: Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag...a.a.O.(=Anm. 323); Schippel, Max: Sozialdemokratisches Reichstags-Handbuch...a.a.O. (=Anm. 265); Bebel, A.: Das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung im Deutschen Reich. In: Die Neue Zeit, 7(1889), 385 - 400; Teil II: ebenda, 454 - 473; Schippel, Max: Die Alters- und Invalidenversicherung...a.a.O.(=Anm. 454); Mandl, Heinrich: Arbeiterversicherung und Arbeitsversicherung. In: Die Neue Zeit, 1(1883), 377 - 382; als Werke, die zeitgenössische Quellen verarbeiten, wurden herangezogen: Benöhr, Hans-Peter: Soziale Frage...a.a.O.(=Anm. 455); Förster, Alfred: Die Gewerkschaftspolitik der deutschen Sozialdemokratie während des Sozialistengesetzes vom Wydener Parteikongreß 1880 bis zum Parteitag von St. Gallen 1887. Berlin 1971; Peschke, Paul: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 79); Wolff, Herta: Die Stellung der Sozialdemokratie zur deutschen Arbeiterversicherungsgesetzgebung von ihrer Entstehung an bis zur Reichsversicherungsordnung. Berlin 1933 (Diss. jur.).
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tel“ sei, die Arbeiter „vom wahren Weg“ abzulenken. In diesem Zusammenhang wird die Arbeiterversicherungsgesetzgebung auch als Teil der „Klassengesetzgebung Bismarcks“ bezeichnet. Weist diese Ausdrucksweise schon auf die „Verknüpfung“ von Sozialistengesetz und „Sozialreform“ hin, so wird diese Verknüpfung auch unterstellt, wenn in der Gesetzgebung „Ausnahmebestimmungen gegen die Arbeiterklasse“ gesehen werden. Die Forderung nach politischen Freiheiten, die Sicherung der Koalitionsfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit seien „so gut wie nicht“ erfüllt. Diese Einschätzungen der Sozialdemokratie beinhalten jedoch nicht, daß man im Rahmen übergeordneter Ziele dem Grundgedanken der sozialen Absicherung bei Erwerbsunfähigkeit, der „staatlichen Verantwortung“, dem Prinzip des Rechtsanspruchs, dem Beitrittszwang ablehnend gegenübersteht. Eine wesentliche Ausdehnung des Versicherungszwanges bis in den Bereich der Kleinunternehmer wird gefordert. Beißende Kritik erfährt die Organisationsform der Arbeiterversicherung, ihre Aufspaltung in drei Zweige und in die einzelnen Trägerorganisationen. Die Schaffung derart verschiedener Organisationsformen wird von Bebel als ein „Nonsens sonder Gleichen“ bezeichnet. Auf den dadurch gesteigerten Kosten- und Verwaltungsaufwand wird ebenso immer wieder hingewiesen, wie auf die negativen Auswirkungen einer nicht auf der Basis des Reichs einheitlich geregelten Arbeiterversicherung für die Versicherten selbst. Organisatorisch so schlecht wie die Arbeiterversicherung würden wohl kaum „Anstalten der Bourgeoisie“ gemacht. Die Forderung nach einer rationalen, einheitlichen und zentralisierten Organisationsform, nach umfassendem Versichertenkreis und die Bejahung des Versicherungszwangs zeigen eine „Nähe“ zu Bismarcks ursprünglichen Arbeiterversicherungsplänen. Schärfsten und entschiedensten Widerspruch findet die allgegenwärtige Tendenz der Bedrohung der elementaren Selbst- und Eigenständigkeitsbestrebungen durch die Arbeiterversicherungspolitik. Während die Organisationen der Arbeiter unterdrückt würden, sei den Unternehmern mit den Berufsgenossenschaften eine Organisation zugewachsen, die diese für „ihre sozialen und politischen Herrschaftszwecke über die Arbeiter ausnutzen“. Ähnlich lautet das Urteil über die Betriebskrankenkassen. Die Krankenversicherungsgesetzgebung habe die „Organisation den Arbeitern entwunden“ und sie überall mit den „Unternehmern verkuppelt“. Die „volle“ bzw. „maßgebende Mitwirkung“ der Versicherten an der Verwaltung der Arbeiterversicherung ist eine der zentralen programmatischen Forderungen dieser Zeit. Dementsprechend wird der „polizeilich-bürokratische Gesamtcharakter“, die Beteiligung auch des Staates an der „Selbstverwaltung“ als „Mittel der Unterdrückung“ der Arbeiter abgelehnt. Wegen entsprechender offizieller Aussagen, der Beschränkung der Maßnahmen auf den arbeitsunfähigen Arbeiter, des niedrigen Leistungsniveaus und kommunalpolitischbürgerlicher Interventionen und Intentionen gehört es zum Kernbestand sozialdemokratischer Stellungnahmen zur „Sozialreform“, zu betonen, diese sei lediglich eine Weiterentwicklung einer Idee, welche schon der „staatlichen Armenpflege zu Grunde liegt“, sie sei nichts als der Versuch einer Neuregelung der „Armenpflege“, die „Armen“ (d.h. die Arbeiter) sollten nunmehr auch noch für die „Ärmsten“ (d.h. die arbeitsunfähigen Arbeiter) aufkommen. Ihre besondere Brisanz erhält diese Argumentation durch die Einfügung verteilungspolitischer Aussagen in die Stellungnahmen der Sozialdemokratie. Zweck der „Sozialreform“ sei es gewesen, eine „Verschiebung der Lasten der Armensteuer auf die Schultern der Arbeiterklasse“ zu erreichen. In Anknüpfung an die, die Arbeiterversicherungsgesetzgebung „begleitende“ Zollund (Verbrauchs-)Steuergesetzgebung wird ausgeführt, die Armenpflege sei durchaus zu „Ungunsten der Besitzlosen“ ausgestaltet worden. Um das „Armenbudget“ aus der Welt zu
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schaffen, müßten die Arbeiter nunmehr die „verschiedenartigsten Versicherungen“ eingehen. Entsprechend dem damaligen Steuersystem ist von einer Privilegierung der „besitzenden Klasse“ die Rede, selbst der Staatszuschuß zur Arbeiterversicherung werde wesentlich vom Arbeiter selbst aufgebracht. Es gehe um eine Entlastung der durch die Freizügigkeit, die industrielle Expansion und die Neuregelung der Armenunterstützung arg bedrängten Gemeinden, durch eine „Versorgung der Arbeitsunfähigen“ auf „billigste Weise“. Obwohl der Reichszuschuß zur Invaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter wesentlich von diesen selbst über Steuern zusammengebracht würde, werde er als „Reichswohltat“ und das Reich als „Wohltäter der Arbeiter“ dargestellt. Die damaligen Leistungen der Arbeiterversicherungen werden nicht selten als „Bettelgroschen“ oder „Almosen“ bezeichnet. Eine umfangreiche Kritik wird an der Höhe, der Zweckmäßigkeit und Zugänglichkeit der Leistungen entfaltet. Es wird u.a. kritisiert, daß die Leistungen vor der Inanspruchnahme der Armenpflege mit der Folge der „politischen Entrechtung“ nicht schützten. Aus dieser Perspektive wird die Arbeiterversicherung sogar als „verschlechterte Armenpflege“ bezeichnet. Ausgehend von „verteilungs-“ und „aufbringungspolitischen“ Gesichtspunkten, angelehnt an die marxistische Mehrwerttheorie wird betont, daß die Arbeitgeberbeiträge nicht aus der „Tasche des Arbeitgebers“ sondern aus dem von den Arbeitern geschaffenen Mehrwert gezahlt würden. Zudem würden sie über die Preise wieder reingeholt, d.h. auf die Konsumenten abgewälzt. Andere Stellungnahmen weisen darauf hin, daß die Unternehmer sich für das, was sie für die Arbeiterversicherung leisten müßten, „an den Löhnen schadlos halten.“ Eine Schmälerung des Mehrwerts für die Unternehmer trete garnicht ein. In Anknüpfung an entsprechende Aussagen des Erfurter Programms von 1891 wird betont: Wenn der „kapitalistische Staat“ die Ausbeutung der Arbeiter dulde, sei er auch verpflichtet, die sich aus diesem System ergebenden Schäden zu beseitigen. Da die arbeitende Klasse u.a. auch das „Staatsportemonnaie“ fülle, sei es Aufgabe des Staates, für die Opfer „unserer Gesellschaftsordnung“ zu sorgen. Die gerechteste Form der Aufbringung der Mittel für diese Aufgabe sei eine direkte, progressive Einkommens- bzw. Vermögenssteuer von den „begüterten Schichten“. Andere Stellungnahmen verlangen eine alleinige Beitragsleistung der Unternehmer. Die Bindung der Leistungen an das insgesamt geringe Beitragsaufkommen, nicht jedoch die „sozialen Notwendigkeiten“ wird kritisiert. Der Übergang zum „Fürsorgeprinzip“ erlaube eine Orientierung an der „sozialen Gerechtigkeit“ und an den „sozialen Notwendigkeiten“. Die aus dem Beitrags- bzw. Versicherungsprinzip resultierende enge Begrenzung der Einnahmen und Leistungen lasse sich so überwinden. Der „arme Arbeiter“ könne über die (Versicherungs-)Beiträge die Geldmittel garnicht aufbringen, die ausreichende Leistungen ermöglichten. Im Reichszuschuß wird eine erste Durchbrechung des Versicherungsprinzips gesehen. Berücksichtigt man, daß die Arbeiterbewegung dem Arbeiterschutz überragende Bedeutung zuschreibt, sich mithin generell auf den Standpunkt der Prävention stellt, wird verständlich, daß man die Unfallversicherung mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Die Statistiken der Unfallversicherung mit ihren Aussagen zur Unfallhäufigkeit, zu den Unfallarten, zu den Unfallentschädigungen usw. werden als Ausdruck einer „immer rücksichtsloseren Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft im Kampf um den Profit“ interpretiert. Mit Blick auf den Wegfall des „vollen Schadenersatzes“ durch Einführung der Unfallversicherung, wird diese als eine „Begünstigung des Leichtsinns und der Rücksichtslosigkeit“ der Unternehmer interpretiert. Während die Ausschaltung des Verschuldensprinzips, insoweit es sich um ein „Ver-
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schulden“ des Arbeiters handelt, begrüßt wird, wird die „volle Haftung“ des Unternehmers gefordert, wenn dieser an einem Unfall die Schuld trage. Da diese Kritik millionenfach in die „Arbeitermassen“ hineingetragen wird und die zahlreichen Mängel der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ tagtäglich erfahren werden, kann es unter Berücksichtigung der sonstigen Zeitumstände (insbesondere der staatlichen Repressionspolitik) nicht verwundern, daß die hochgesteckten Erwartungen der herrschenden Kreise in die staatliche Sozialpolitik zunächst und vordergründig nicht erfüllt werden. Die Kluft zwischen Staat, Kapital und Arbeiterschaft weitet sich „unbeeindruckt“ von „sozialreformerischen“ Ankündigungen und Aktivitäten. Die Mitgliederzahlen der Freien Gewerkschaften betragen im Jahre 1878 56.275, im Jahre 1890 werden schon 294.551 Mitglieder gezählt. Die Stimmenzahlen, die die Sozialdemokratie (ihre Tätigkeit im Reichtag und die Teilnahme an Wahlen zum Reichstag ist nicht verboten) auf sich vereinigen kann, entwickeln sich folgendermaßen: 1878: 437.000 (7,5%), 1881: 312.000 (6,1%), 1884: 550.000 (9,7%), 1887: 763.000 (10,2%), 1890: 1.427.000 (19,8%).475 Der „Siegeszug des Sozialismus“ scheint vielen unaufhaltsam. Es macht sich ein tiefer Pessimismus hinsichtlich der herrschafts- und loyalitätssichernden Wirkung der Arbeiterversicherung breit. Nicht zuletzt resultiert die Enttäuschung aus teils völlig überzogenen Erwartungen in bezug auf die „Dankbarkeit der Arbeiter.“ Dieser tiefe Pessimismus indes ist nur auf den ersten Blick berechtigt. Für den, der genauer hinsehen kann, zeigen sich gleichwohl Auswirkungen der „Sozialreform“ auf die Arbeiterbewegung. Diese werden vergleichsweise sensibel etwa von Georg Zacher registriert und auf einem „Internationalen Congress für Arbeiterfragen“ in Chicago im Jahre 1893 mitgeteilt. Zacher ist zu dieser Zeit Geheimer Regierungsrat, gehört dem Reichsversicherungsamt an und verfügt über intime Kenntnisse der Arbeiterbewegung u.a. aus seiner 1881 bis 1890 währenden Tätigkeit bei der für das gesamte Deutsche Reich zuständigen Berliner politischen Polizei.476 Zacher berichtet zutreffend über die SPD: „Schon auf den Parteikongressen zu Kopenhagen und St. Gallen (1883 und 1887) machte sich eine Gegenströmung geltend, welche angesichts der Kaiserlichen Socialreform den Parteistandpunkt der Negation als nicht mehr zeitgemäss verwarf und eine praktische Förderung der Arbeiterinteressen verlangte. Noch schärfer trat diese Opposition auf den beiden nächsten Parteitagen in Halle und Erfurt (1890 und 1891) hervor, als mit dem Erlöschen des Socialistengesetzes das dictatorische Verhalten der Parteileitung einer desto freieren Kritik unterzogen wurde.“477 Zacher kommt zu dem Ergebnis: „...die socialdemokratische Partei wird entweder eine Reformpartei werden oder sie wird verschwinden.“478 Die Einschätzung des „Staatssozialismus“, schon aus Anlaß der Diskussion um die Nationalisierung der Eisenbahnen in den Jahren 1876 bis 1878 virulent,479 die Einschätzung der Funktion und des „Wesens“ des damaligen Staatsapparats, die Zuordnung, der Zusammen475 Zur Entwicklung der Mitgliederzahlen der Freien Gewerkschaften vgl.: Ritter, Gerhard A., Tenfelde, K.: Der Durchbruch der Freien Gewerkschaften Deutschlands zur Massenbewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. In: Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler. Köln 1975, 61 - 120, hier 120; zu den Wahlerfolgen der Sozialdemokratie vgl.: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 46(1927), 496f. 476 Zu seinem Lebenslauf vgl.: Tennstedt, Florian: Fortschritte und Defizite in der Sozialversicherungsgeschichtsschreibung - komparative und sonstige Kurzsichtigkeiten nach 100 Jahren „Kaiserlicher Botschaft“. In: Archiv für Sozialgeschichte, 22(1982), 650 - 660, hier: 651. 477 Zacher: Arbeiterbewegung und Socialreform in Deutschland. Vortrag gehalten auf dem Internationalen Congress für Arbeiterfragen in Chicago 28. August bis 4. September 1893. Berlin 1893, 7. 478 Derselbe, ebenda. 7. 479 Vgl.: Lidtke, Vernon L.: German Social Democracy and German State Socialism, 1876 - 1884. In: International Review of Social History, 9(1964), 202-225, hier: 205.
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hang und die Gewichtung von „Tagesaufgaben“ und „revolutionärem Endziel“ sind Fragen, die durch die „Bismarcksche Sozialreform“, die „obrigkeitsstaatliche Sozialpolitik“, erneut in den Vordergrund der sozialistischen Diskussion gerückt werden. Die herrschaftstaktisch motivierte Strategie der Eröffnung einer juristisch reglementierten Mitwirkung von Arbeitervertretern, das bald schon „massenhafte“ Zusammenkommen von Vertretern der beiden großen Gesellschaftsklassen in den Selbstverwaltungsorganen der Arbeiterversicherung, die Schaffung zahlreicher Berührungspunkte mit dem Staat usw. beinhalten ein vor allem langfristig wirkendes sozialisatorisches Programm für die Vertreter der Arbeiter. Die Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes, Wahlerfolge verbunden mit der Illusion, schon bald die politische Macht zu erringen, neue staatliche sozialreformerische Ankündigungen verstärken die Tendenz zur „praktischen Förderung der Arbeiterinteressen“ im Rahmen der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, zum Reformismus. Sie tragen zu theoretischen „Verwirrungen“ bei, die schließlich einen Teilbereich des umfassenden politischen Richtungsstreits der SPD vor dem Ersten Weltkrieg bilden.480 So zerschlagen sich zwar die mit der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ verbundenen Hoffnungen, die Arbeiter würden unmittelbar aus Dankbarkeit der „Umsturzpartei“ und den „Umsturzlehren der Social-Demokratie“ den Rücken kehren und sich zum Konservatismus, zum bestehenden Staat und zur herrschenden Gesellschaft bekennen. Der „Staatssozialismus“ wirkt statt dessen langfristig in eine wachsende und sich differenzierende Arbeiterbewegung hinein und trägt zu ihrer Umformung bei. Auf diese subtile Weise dient er letztlich doch der Bannung des „rothen Gespenstes“, des „Umsturzes“.
4.6 Resümee Überblickt man den Gang der Untersuchung und versucht man die „Bodenhaftung quellennaher Forschung“ resümierend zu überwinden, so kann man zunächst zahlreiche Kontinuitäten und Verknüpfungspunkte zur Pauperismusdiskussion und zur „klassischen Sozialpolitiktheorie“ festhalten. Die verschlungenen Pfade von ökonomischer Entwicklung, Arbeiterbewegung und Kassen- bzw. Arbeiterversicherungspolitik illustrieren, daß Staats- bzw. Herrschaftszwecke in vielschichtiger Weise von Beginn der Kassengesetzgebung an eine hervorgehobene Rolle spielen. Eine rein soziale Teleologie theoretischer und praktischer sozialpolitischer Initiativen geht auch auf diesem Gebiet fehl. Hierin zeigt sich die Fruchtbarkeit des hier gewählten Ansatzes. Immer handelt es sich um Maßnahmen, die auch wegen der Wirkung auf den „inneren Menschen“, auf Bewußtsein und Verhalten der „Massen“ ergriffen werden. Mitunter sind sie Bestandteil weitreichender parlamentarischer Kämpfe und doppelbödiger Strategien. Diese Instrumentalisierung der Sozialpolitik reicht weit in die „Vor-Bismarck-Zeit“ zurück. Dabei herrschen gerade auch ab den 1870er Jahren starke Auffassungsunterschiede darüber, welche sozialpolitischen Strategien zur Erreichung der angestrebten Ziele überhaupt bzw. am besten geeignet sind. Mit der Genese der Kassen- bzw. Arbeiterversicherungspolitik erheben jene Kräfte ihre Stimme, die ergänzende und andere Pfade sozialpolitischer Entwick480 Vgl. dazu die immer noch lesenswerten Bände: Friedemann, Peter (Hg.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890 - 1917. Band I und II. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1978; als sehr lesenswerte Quelle desweiteren: Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution? Mit einem Anhang: Miliz und Militarismus. Leipzig 1899. In: Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke. Band 1. 1893 bis 1905. Erster Halbband. Berlin 1974, 369-445.
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lung fordern und vorschlagen. Auch andere „Züge“ der „Bismarck-Zeit“, die klare Scheidung zwischen staatstragenden Kräften und Kräften des „Umsturzes“ bzw. „Reichsfeinden“ sind seit den Tagen der Französischen Revolution bekannter Hintergrund sozialpolitischer Aktivitäten. Unabhängig von der schwierig zu beantwortenden Frage, inwieweit die Aufspaltung in „Reichsfeinde“ und „Reichsfreunde“ auch aus taktischen Gründen vorgenommen wird, inwieweit die Gefahr eines „Umsturzes“ damals real ist, was darunter zu verstehen ist und ob entsprechende Befürchtungen etwa bei Bismarck „echt“ gewesen sind: Die so verbreitete Furcht, die Ausmahlung eines „rothen Gespenstes“, trägt zur Genese der Arbeiterversicherungsgesetze durchaus bei, indem sie die Neigung zu integrativer (und segregativer bzw. repressiver) Politik verstärkt. Die herrschaftstaktischen Erwägungen, mittels der Verbreitung des Kassenwesens die Kräfte des „Communismus und Socialismus“ zur „politischen Nullität“ verkommen zu lassen, verbleiben nicht auf der Ebene der Absichtserklärungen und sie begleiten nicht nur die Hervorbringung der Arbeiterversicherungsgesetze rein „äußerlich“, sie bestimmen sie auch inhaltlich: Der ganze Zuschnitt und die Ausgestaltung der Kassenpolitik ist so gewählt, daß eine Förderung der Emanzipations-, Absonderungs-, Machtgewinnungs- und Solidaritätsbildungsziele der Arbeiterbewegung ausgeschlossen werden soll. Wo diese Absicht nicht erreicht wird, wird „nachgekartet“. Den Herrschaftsinteressen des Staats, den staatstragenden Kräften und dem Untermehnertum, nicht der Arbeiterbewegung, soll die Sozialpolitik zugute kommen. Daß beim Beschreiten dieses Weges (bald behobene und vielbeklagte) „Fehler“ unterlaufen, wie die Einräumung zu großer Spielräume für Hilfskassen und zu „großzügiger“ Selbstverwaltungsregelungen in den Ortskrankenkassen, unterstreicht nur den insgesamt emanzipationsfeindlichen, antisozialistischen Charakter der Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik. Dieser Grundzug kann nicht überraschen. Es ist nicht die Arbeiterbewegung, sondern es sind die staatstragenden, zwar zukunftsorientiert handelnden aber explizit nicht auf den „Zukunftsstaat“ und die „sozialistische Gesellschaft“ orientierten Kräfte in Regierung, Parlament und Interessengruppen, die den „Schlüssel zur Gesetzgebung“ in der Hand halten. Der gestalterische Einfluß der Arbeiterbewegung auf die „Bismarcksche Sozialreform“ beschränkt sich auf die Aufdeckung einiger offenkundlicher Mängel und Unzulänglichkeiten, zu deren Beseitigung sich die „antisozialistische Fronde“ in den Ausschüssen, im Reichstag und Bundesrat drängen läßt. Grundentscheidungen, der ganze gegen die Arbeiterbewegung und gegen legitime Arbeiterinteressen gerichtete Aufbau der Arbeiterversicherung können nicht revidiert werden.481 Die staatliche Arbeiterpolitik der 1880er Jahre erweist sich so, wenn man diese Begriffsbildungen benutzen will, als „Niederschlag“ (E. Heimann) sozialpolitischer Ideen in der Staatsgesetzgebung und Staatsbürokratie, nicht als „Niederschlag“ bloß „sozialer“ oder gar „sozialistischer“ Ideen. Sie ist ihrer Struktur nach eine Umgestaltung der Gesellschaft im Interesse der „herrschenden Klasse“. Die Arbeiterversicherungsgesetzgebung jener Jahre hat die Arbeiterbewegung als Objekt, sie ist ganz wesentlich Ergebnis eines „Klassenkampfes von oben“, weniger eines solchen „von unten“. Auch dieses Bild ist unvollständig, wie gerade auf dem Gebiet der Analyse der staatlichen Sozialpolitik jeder Monismus, jede Suche nach einer einzigen bewegenden Kraft, nach einer historisch-politischen Potenz, der die gesamte Entwicklung und Ausformung dieses Politikbereichs zugeschrieben werden kann, bestenfalls Teilerklärungen liefert. Unübersehbar führt die 481 Hofmann, Gudrun: Die deutsche Sozialdemokratie und die Sozialreformen von 1889. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 30(1982), 511-523.
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bloße Tatsache, daß im Norddeutschen Bund und späteren Kaiserreich freigesetzte, nicht mehr in Korporationen gebannte, in religiöse Bande geschlagene „Massen“ existieren, und daß diese Massen mit der Einführung des „modernen Wahlrechts“ (auf Bundes- bzw. Reichsebene) zu „gewaltigen Wählermassen“ werden, die zur „Urne schreiten“, auch im Rahmen des Obrigkeitsstaates zu einer Parteienkonkurrenz um die Arbeiter, die teilweise zwar „falsch“ wählen, die man dennoch hofft auf die jeweils eigene Seite zu ziehen bzw. dort halten zu können, weil man sie zur Machtgewinnung und Machterhaltung unter diesen Bedingungen benötigt. Dieser Mechanismus treibt unübersehbar die sozialpolitische Produktivität an, schärft das sozialpolitische „Problembewußtsein“ und sorgt dafür, daß entsprechende Maßnahmen auch in die Tat umgesetzt werden. Die eine „sozialpolitische Tat“, die Gewährung des „modernen Wahlrechts“, zieht weitere „sozialpolitische Taten“ nach sich. Die Tatsache, daß im Rahmen der Diskussion um die Ausgestaltung der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ schließlich die politischen Projekte an Durchschlagskraft gewinnen, in denen viele Seiten eine Wahrung oder Förderung ihrer Interessen sehen können, wird durch die Arbeiterversicherungspolitik der Bismarck-Ära eindrucksvoll belegt. Die starke Zuspitzung der Sozialpolitik auf Sozialversicherungspolitik ist kaum denkbar ohne diesen Zusammenhang und ohne den Rückbezug auf das „unglückliche“ Haftpflichtgesetz von 1871. Diese Haftpflichtgesetzgebung und die zahlreichen im Reichstag mehrheitsfähigen Vorstöße zur Haftpflichtverschärfung führen zu beharrlichen Interventionen von Vertretern der Großindustrie mit dem Ziel, die Haftpflichtgesetzgebung durch eine „Versicherungslösung“ zu ersetzen, zu einer „Sozialisierung“ des Haftungsrisikos und der Haftungsfolgen zu gelangen, die aus Betrieben resultieren, deren „Innenleben“ mitunter einem „Schlachtfelde“ gleicht, die Orte der massenhaften Ruinierung der Arbeitskraft sind.482 Eine überwiegend kompensatorische „Versicherungslösung“ verhindert, daß diese miserablen innerbetrieblichen Verhältnisse im Zuge der „Sozialreform“ über Gebühr „veröffentlicht“ werden, daß die Unternehmer einer peinlichen Überprüfung unterzogen werden, daß sie offiziell auf die Anklagebank geraten und mit dem Odium, menschenverachtend und „unmoralisch“ zu sein, in noch stärkerem Maße konfrontiert werden. Darüber hinaus erlaubt die Zuspitzung der „Sozialreform“ auf die Arbeiterversicherung eine Vermeidung einer durchgreifenden offiziellen Thematisierung oder sogar: Modifikation weiterer „Problemzonen“ in der politischen und in der Arbeitswelt des Kaiserreichs, etwa des „freien Arbeitsvertrags“, der absoluten Herrenstellung der Unternehmer den Arbeitern gegenüber, der minderen Rechtsstellung der Arbeiter und Arbeiterbewegung im „halbabsolutistischen“ Herrschaftssystem Preußen-Deutschlands. Diese vorübergehend relativ erfolgreiche Dethematisierungsleistung der „Bismarckschen Sozialreform“ schont samt und sonders Gebiete, deren Betreten auf den entschiedensten Widerstand des führenden Wirtschaftsbürgertums schon damals erkennbar stößt. Es ist geradezu ein Geburtsmerkmal der „Bismarckschen Sozialreform“, daß sie mit der autoritären Betriebsstruktur und dem „freien Arbeitsvertrag“ kompatibel und nicht „emanzipativ“ ist. Nicht soziale, sondern politische, sozialpolitische, betriebsökonomische und betriebsherrschaftliche Gründe sind es vor allem, die Vertreter der Großindustrie zu kritischen Förderern der „Sozialreform“ werden lassen. Diese Kräfte sind in erster Linie an der Unfallversicherungsgesetzgebung interessiert.483 Der Arbeiterversicherungspolitik betreibende 482 Vgl. dazu mit weiteren Nachweisungen: Machtan, Lothar: Zum Innenleben deutscher Fabriken im 19. Jahrhundert. In: Archiv für Sozialgeschichte, 21(1981), 179-236. 483 Vgl. in diesem Zusammenhang: Machtan, Lothar, Berlepsch, Hans-Jörg von: Vorsorge oder Ausgleich...a.a.O. (=Anm. 204).
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Staat des Kaiserreichs ist nicht unmittelbar vergleichbar mit der als mehr oder weniger souverän aufgefaßten Herrschaft eines „Königthums der socialen Reform“ (L. von Stein), er ist durchaus dem großwirtschaftlichen Sonderinteresse verfallen und diese enge Interessenbindung stellt eine spezifische Grenze der „Sozialreform“ dar. Die ursprüngliche staatliche Arbeiterversicherung, die als solche und in dieser Form überhaupt nicht Gegenstand von Forderungen der Arbeiterbewegung gewesen ist, dieser nunmehrige Begleiter und „Gestalter“ der modernen kapitalistischen Umwälzungsdynamik, der „grundlegenden“ Veränderung der Daseinsformen, ist Ergebnis eines Denkens und Handelns, das sich dem Ziel der „Regierbarmachung“ der Gesellschaft verschrieben hat und auf diese Weise die Hemmungen und Gefährdungen gegen die gewaltige Umwälzungsdynamik beseitigen möchte. In ihr drücken sich überwiegend Staats- und Gesellschaftsanschauungen sowie Machbarkeits- und Gestaltbarkeitsvorstellungen der nichtsozialistischen, der herrschenden Kräfte der damaligen Gesellschaft aus. Die „obrigkeitsstaatliche Sozialpolitik“ ist vom Ursprung her „Realpolitik“, „praktische Arbeiterpolitik“ gegen sozialdemokratische Zukunftsvorstellungen, gegen die in der sozialistischen Arbeiterbewegung mächtige marxistisch inspirierte Geschichtsteleologie bzw. -theorie. Dieses „Wesensmerkmal“, das in ähnlicher Form die revolutionsgeprägte sozialreformerische Diskussion seit dem Jahr 1789 bestimmt, die Unangemessenheit der Leistungen und die „Verknüpfung“ mit der innenpolitischen Gewaltanwendung, der Ausnahmegesetzgebung, die den Klassencharakter politischer Herrschaft betont und der Arbeiterbewegung ein „proletarisches Heroenzeitalter“ verschafft, bedingen, daß der gesellschaftliche und politische Stabilisierungserfolg zunächst gering bleibt. Die „Versicherungslösung“ des Haftpflichtproblems, die zwangsläufig mit einer umfassenden Versicherungspflicht operieren muß, ermöglicht es perspektivisch eine allgemeine, die gesamte Arbeitswelt umfassende Rationalisierung der Betriebsabläufe zu erreichen. Störende, konfliktfördernde Haftpflichtprozesse können hinfort in erheblichem Umfang vermieden werden, die „Schuldfrage“ wird nur noch in Extremfällen gestellt, das Unfallgeschehen und die sonstige Vernutzung der Arbeitskraft wird in der Versicherungsprämie kalkulierbar, die für Unternehmer relativ günstige finanzielle Regelung der Unfallentschädigung (Überwälzung der ersten Wochen auf die Krankenversicherung) führt zu einer Minimierung der Kosten, die rigide Leistungsgewährungspraxis wirkt ebenfalls in diese Richtung. „Unvernünftig teure“ Schutzvorkehrungen können vermieden werden. Die „sozialen Schäden“ der hochkapitalistischen Industriewirtschaft werden vorwiegend nur kompensiert, nicht ursächlich bekämpft, sie werden desweiteren externalisiert, monetarisiert und medikalisiert. Der Arbeiter in der Fabrik aber bleibt weiterhin mehr oder weniger ausschließlich Herrschaftsunterworfener, dem Unternehmer verbleibt die patriarchalische Herrschaftsposition mit im Extrem diktatorischer Anordnungsbefugnis und Normsetzungskompetenz in seinem betrieblichen Herrschaftsbereich. Der Arbeitsvertrag, der schlechthin entscheidend für die wirtschaftliche Existenz, die Lebensführung, das Arbeits- und Familienleben und die soziale Stellung des Arbeiters ist, bleibt weiterhin im Regelfall der „freien Übereinkunft der Parteien“ unterworfen, mit den entsprechenden Folgen für den typischerweise gegenüber dem Unternehmer machtlosen Arbeiter.484 Die Festlegung der „Sozialreform“ auf eine Arbeiterversicherungspolitik ist auf der Ebene der Regierung und Verwaltung vor allem „Bismarcks Werk“. Daß Bismarcks „Staatssozialismus“ nach einer Zeit nur „gelegentlichen und dilettantischen Interesses“ praktisch wird, kann ohne die industriellen Interessen, die in mancher Hinsicht mit 484 Vgl. dazu: Borght, R.(ichard) van der: Grundzüge der Sozialpolitik. Zweite, umgearbeitete Auflage. Leipzig 1923, 180 f.
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Bismarcks Erfahrungen und Ansichten als Unternehmer übereinstimmen, nicht hinreichend erklärt werden.485 Der enge Rahmen der Versicherung wird nicht überschritten, auch nicht als Bismarcks Anteilnahme an der Sozialpolitik schon bald merklich nachläßt. Selbst auf dem wichtigen „Kampfplatz der Interessen“, auf der politischen Ebene des Reichstags, der Kommission und des Bundesrats, auf der die Vorlagen der Regierung zurechtgeschnitten werden, bis sie mehrheitlich konsensfähig sind, wird der Rahmen der Versicherung nicht verlassen. Wohl kommt es zu Abstrichen an den ursprünglichen herrschaftstechnischen Plänen des Kanzlers durch den organisatorischen Aufbau der Arbeiterversicherung, und durch eine bedeutende finanzielle Beteiligung des Reiches, die „wohltätige Stellung“ des Reiches zu betonen und selbst die Schwerindustrie hat einige Abstriche hinzunehmen. Alles sozialreformerische „Darüberhinaus“ und „Daneben“, alle sozialpolitischen Alternativen der „Bismarckzeit“ erhellen lediglich einen Möglichkeitsspielraum, zeigen die Kräfte, die eine Weiterentwicklung der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ zu tragen bereit sind, zeigen sogar politische Mehrheiten für die Verwirklichung von „Reformalternativen“, die sich ursprünglich bis in die Zeit der Pauperismusdiskussion (und teilweise darüber hinaus) zurückverfolgen lassen. Sie werden aber auch deshalb von vielen Kräften diskutiert und konzipiert, weil das Deutsche Reich zwar auf dem Gebiet der öffentlich-rechtlichen (Zwangs-)Arbeiterversicherung damals allen „Kulturnationen“ voraus ist, auf anderen Gebieten der „Lösung der sozialen Frage“ allerdings in einen bemerkenswerten Rückstand geraten ist und weil deshalb für viele ein ganz bestimmter Weg der Sozialreform vorgezeichnet ist. Aus dem „Gesamt“ der Interaktionen zwischen den Rahmenbedingungen und den handlungsgeschichtlichen „Details“ ergibt sich eine Antwort auf die Frage, warum Deutschland auf dem Gebiet der öffentlich-rechtlichen Arbeiterversicherung der „Welt“ vorangeht, einer „Welt“, die in unterschiedlicher Ausgestaltung auf dem Gebiet der Haftpflicht- und Arbeiterschutzgesetzgebung nach „Lösungen“ sucht, bis sich das Streben nach einer in vielerlei Hinsicht „günstigen“ und eben deshalb „erfolgreichen“ Versicherungslösung in verschiedener Form auch dort bemerkbar macht. Es ist geradezu die weitgehende Verweigerung der in den anderen Ländern beobachtbaren Problemlösungsalternativen, die dem „Haftpflichtproblem“, das am Anfang von Deutschlands Weg zum Sozial(versicherungs)staat steht, zunehmende politische Virulenz verleiht und nach neuen Wegen Ausschau halten läßt. Es ist schließlich das Beschreiten eines ungewöhnlichen, bereits von Industriellen vorgedachten „anderen Weges“, es sind Bismarcks staats- und versicherungspolitische Grundanschauungen, die auf diesem Gebiet zu Deutschlands „Vorsprung“ beitragen. Es ist schließlich Theodor Lohmanns Taktik, die ergänzend zur Unfallversicherung eine öffentlich-rechtliche Krankenversicherung vollends „unumgehbar“ macht. Die Invaliditäts- und Altersversicherung, das dritte Teilprojekt der „eigentlichen“ deutschen Sozialstaatsgründung, entsteht aus einer gewissen Selbstbindung der Regierung und Krone durch die Ankündigung dieses Projekts in der „Kaiserlichen Botschaft“ vom 17. November 1881. Hinzu tritt auch auf diesem Gebiet eine bestimmte Sachlogik, ein „Sachzwang“, der diese Sozialversicherung als unumgehbar erscheinen läßt. Eine fortdauernde Politisierung der „Arbeiterfrage“, die im Handeln und in den Erfolgen der Arbeiterbewegung Nahrung findet, tritt hinzu. Günstige Rahmenbedingungen, förderliche personelle und politische Bedingungen in Regierung, Verwaltung und in anderen Entscheidungsgremien fördern die Projekte der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“. Die Gesamtheit aller 485 Vgl. die „Etappeneinteilung“ von Bismarcks sozialpolitischer Entwicklung bei: Wolf, Julius: Das socialpolitische Vermächtnis Bismarcks. In: Zeitschrift für Socialwissenschaft, 2(1899), 477-495.
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Faktoren bedingt Deutschlands frühen Weg zum „Sozialstaat“ als „Arbeiterversicherungsstaat“. Die Arbeiterversicherung der Bismarckschen Form, die Staatsbejahung und „sozialen Frieden“ aus materieller Interessiertheit und durch „Hebung“ der Lebenslage erreichen will, mithin ein extrem ökonomisches (verteilungspolitisches) Mittel der Sozialpolitik darstellt, setzt einen gewissen Stand des Kapitalismus bzw. der Reichtumserzeugung voraus. Einmal bedarf es der Erscheinung, daß sich aus der Großgruppe des Paupers als Folge der kapitalistischen Industrialisierung die Klasse der Lohnarbeiter herausgeschält hat. Zum anderen muß die Ökonomie und mit ihr die Lohnhöhe einen Entwicklungsstand erreicht haben, der die Tragung einer Versicherungslösung rein materiell ermöglicht. Eine Produktion auf niedrigstem Standard wäre unvereinbar mit hinreichend hohen Löhnen und einem nennenswerten „Sozialniveau“. Ein „Mitspielen“ des Unternehmertums bei der Mittelaufbringung und Verwaltung der Institutionen, eine relativ stabile Einbindung großer „Massen“ in Lohnarbeitsverhältnisse sind unabdingbar. Das administrative Wissen und Können nicht nur des Staates, sondern auch der Arbeitgeber der damaligen Zeit muß ein gewisses Niveau erreicht haben. „Unerschütterlich“ muß das Vertrauen der Akteure in den Fortbestand und die Fortentwicklung der sich „naturwüchsig“ entfaltenden Ökonomie, der Grundlage der Arbeiterversicherungspolitik, gewesen sein. Die „miserables“, die Elenden und Verworfenen, die dauerhaft und von vornherein Erwerbsunfähigen, die „Unwirtschaftlichen“, der nicht in Fabriken und Büros administrativ erfaßbare „Bodensatz der Gesellschaft“ hätte gar nicht Adressat dieser „modernen“ in der Lohnarbeit wurzelnden Sozialpolitik sein können.486 Mit der „Bismarckschen Sozialreform“, mit der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ beginnt eine „massenwirksame“ Trennung von Arbeiter- und Armenpolitik. Werden die Armen als Objekte der Fürsorge weiterhin politisch entmündigt und einer eingehenden Kontrolle unterworfen, so wird dem „ordentlichen“ Arbeiter perspektivisch ein Weg aus der Gefahr der vielfach drohenden Verarmung gewiesen. Unter Beibehaltung des „allgemeinen Bürgerstatus“ wird ihm ein „subjektiv öffentliches Recht“ auf Unterstützung für bestimmte Situationen der Erwerbsunfähigkeit eröffnet. Der Weg zu dieser Trennung und zu der Erscheinung, daß die vorübergehend oder dauerhaft arbeitsunfähige Lohnarbeiterbevölkerung ganz überwiegend im staatlichen „System der sozialen Sicherung“ sich befindet und verbreitet ohne Fürsorgeleistungen leben kann, ist lang, gewisse Entlastungen der Armenpflege durch die „Aufstockung“ der Hilfeinstanzen zeigen sich aber schon bald.487 Die Einkommensquelle, das „Pekulium“ (Bismarck), das die Reichsgesetzgebung schafft, hält die „Mitte“ zwischen Arbeits- und Besitzeinkommen. Der Zugang zu dieser „eigenartigen“ Einkommenskategorie, zu den nach dem Äquivalenzprinzip gestalteten ‘Lohnersatzleistungen’, ist juristisch reglementiert und wird von den Institutionen im Einzelfall überwacht. Hinzu treten Sach- und Dienstleistungen namentlich in Form der Beteiligung der Ärzteschaft. Dabei weist die „Arbeiterversicherung“ dieser Jahre spezifische Mitwirkungsund Leistungsmängel gegenüber Frauen auf. 486 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Burghardt, Anton: Über residualen Pauperismus. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 124(1968), 349-368; zu zahlreichen weiteren Voraussetzungen der Entstehung von Sozialversicherung vgl. die Thesensammlung bei: Köhler, Peter A.: Entstehung von Sozialversicherung. Ein Zwischenbericht. In: Zacher, Hans F. (Hg.): Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung. Berlin 1979, 18-88. 487 Vgl.: Rückert, Joachim: Entstehung...a.a.O.(=Anm. 432), 30 ff. sowie: Lass, Ludwig, Zahn, Friedrich: Einrichtung und Wirkung der Deutschen Arbeiterversicherung. Denkschrift für die Weltausstellung zu Paris 1900. Berlin 1900, 226 ff.
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Mit der Schaffung der Arbeiterversicherung wird der Warencharakter der Arbeitskraft in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung von Staats wegen erstmals in großem Umfang dadurch begrenzt, daß für bestimmte Lebenssituationen, die das Arbeiterleben als existenzbedrohendes „Risiko“ begleiten (Unfall, Alter, Invalidität, Krankheit), ein vom Lohn abgeleitetes Einkommen ohne gleichzeitige Arbeitsleistung ermöglicht wird. Die Beziehung zwischen Arbeit und Lohn wird auf diese Weise gelockert. Das Arbeiterdasein verliert so an Härte. Es wird perspektivisch zunehmend möglich, eine lohnabhängige Existenz ohne umfassenden Rückhalt durch einen Familienverband, ohne intensive Nutzung anderer Formen der korporativen Existenzabsicherung und ohne landwirtschaftlichen bzw. gärtnerischen Nebenerwerb „durchzuhalten“, und es wird zunehmend möglich, die „entehrende Armenpflege“ zeitweise oder relativ dauerhaft zu vermeiden. „So werden dann in immer weiteren, vordem lokal, privat, familiär-nachbarlich, genossenschaftlich versorgten Bereichen Akten und Beamtendisziplin, Büros und Sekretariate zur Grundlage der Ordnung.“488 Gegenüber dem Kassen- und Versicherungswesen vor der „Bismarckschen Sozialreform“, das in sehr begrenztem Umfang zu ähnlichen Erscheinungen beitrug, sind die entsprechenden Leistungen der Arbeiterpolitik nunmehr allgemeiner Standard, von Reichs wegen ohne Rücksicht auf den Wohnort und die dort herrschenden Kräfteverhältnisse, den Beruf, das Alter und den Gesundheitszustand durchgesetzt. Voraussetzung ist „nur“ noch die „ordentliche“, versicherungspflichtige Beschäftigung, die Zahlung der Beiträge und der Erwerb der Anwartschaft. Erreicht werden diese neuen Verhältnisse durch eine staatlich erzwungene Heranziehung der Unternehmer und Beschäftigten zur Beitragsleistung, durch eine Administrierung der Lohnverhältnisse und der Lebensführung mit dem Ziel der Ausbildung von bedeutenden Geldfonds, der „Akkumulation“ von „Sozialfinanzen“. Im Zuge dieser Entwicklung zum „Sozialstaat“ gewinnt der Staat eine unerhörte Macht über die „Massen“, er hat sie in ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis gebracht. Insgesamt hat damit die individuelle Abhängigkeit der Arbeiter und von anderen versicherungspflichtigen Beschäftigten vom Kapital und sonstigen Dienstgebern ab- und die Staats- und Politikabhängigkeit zugenommen, während grundsätzlich die Lebenslagen und die staatlichen „Potenzen“ weiterhin vom ökonomischen Wachstums- und Krisenprozeß abhängig geblieben sind. Perspektivisch entstehen „Verkomplizierungen“ der Sozialstruktur, wachsen allmählich die Menschengruppen in der Klasse der Lohnabhängigen, die als Unfallopfer, Berufs- und Erwerbsunfähige, als „Alte“ aus der Unmittelbarkeit des Lohnarbeitsverhältnisses entlassen sind. Die Sozialversicherung bricht auch auf dem Gebiet der Finanzierung mit der traditionsreichen Armenpflege. Die „Kehrseite“ des „subjektiv öffentlichen Rechts“ ist, wie die Sozialdemokratie klar erkannt hat, daß der Staat den „virtuellen“, den „arbeitenden Pauper“ für die eigene „soziale Sicherheit“ auch überwiegend selbst zahlen läßt und damit die armutsbedingten kommunalen Steuertransfers an diese soziale Klasse herabdrückt. Historisch erstmals wird der „kleine Mann“ in nennenswerter Weise durch diese finanzpolitische Innovation überwiegend nicht mehr nur zu indirekten Steuern, sondern auch zu direkten Abgaben, zu einer zweckgebundenen, direkten „Quasi-Steuer“ herangezogen. Die „soziale Zweckbindung“
488 Marr, Heinz: Die Massenwelt im Kampf um ihre Form. Hamburg, o.J., 297; hinzuweisen wäre vor allem noch auf: Achinger, Hans: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Frankfurt a.M. 1971, 84ff.
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hemmt gleichzeitig den Aufbringungswiderstand der Lohnarbeiter, die betriebspolitische Funktionalität der Arbeiterversicherung jenen der Arbeitgeber.489 Mit der Arbeiterversicherung, die von vornherein über den engeren Kreis der gewerblichen Arbeiter hinausgreift, beginnt der an politischer Stabilität und wachsender Wirtschaft interessierte deutsche Nationalstaat das „Lebensschicksal“ der Lohnabhängigen und ihrer Familien zu „umspannen“. Diese Entwicklung führt unmittelbar zu der Erscheinung, daß der Bereich des Arbeitslebens weitgehend in der Sphäre des Privatrechts mit der dominierenden Rechtsfigur des Vertrages verbleibt, während der Reproduktionsbereich öffentlich-rechtlich, durch das sich differenzierende Gewebe des staatlichen Sozialrechts reguliert wird. Dieses spezifische öffentliche Recht, das ursprüngliche Kassen- und spätere Arbeiterversicherungsrecht, hat sich im Verlauf seiner historischen Genese „konsequent“ aus der „Gesamtrechtsordnung“ des Preußischen Landrechts gelöst, ist in die „Teilrechtsordnung“ des Gewerberechts übergegangen und hat sich schließlich auch hieraus als Arbeiterversicherungsrecht bzw. Sozialversicherungsrecht abgespaltet und verselbständigt. Die Rechtsetzungskompetenz, die bei den wenigen Rechtsnormen, die das ursprüngliche Kassenwesen betrafen, vor allem auf lokale und korporative Gewalten verteilt war, hat sich mit der „Bismarckschen Sozialreform“ merklich zentralisiert, ohne daß die Normsetzungsbefugnisse nachgeordneter und untergeordneter Instanzen völlig aufgesogen worden sind. Relativ zentralisiert arbeiten, sieht man von bestimmten Krankenkassen ab, auch die neugeschaffenen Institutionen. Dabei fällt auf, daß die Reichsregierung und hier insbesondere Bismarck auf dem Gebiet der Unfall- und Invaliditätsund Altersversicherung zunächst das Reich als zentralen Bezugspunkt der organisatorischen Ausgestaltung favorisiert. Es bleibt späteren „Ergänzungen“ der Arbeiterversicherung vorbehalten, zu denken ist vor allem an die Angestelltenversicherung und die Arbeitslosenversicherung, die Barrieren gegen reichsbezogene Organisationsstrukturen zu überwinden. In den 1880er Jahren scheitern die zentralistischen Organisationsvorstellungen noch am politischen Partikularismus und an industriellen Interessen. Trotzdem stellt die Kassen- und Sozialversicherungspolitik einen Teilaspekt einer allgemeinen Zentralisierungstendenz politischer Instanzen und der politischen Macht dar, die vor der Nationalstaatsgründung in extremer Weise auf Einzelstaaten, lokale Instanzen sowie Korporationen verteilt war. Mit den Institutionen der Arbeiterversicherung expandiert ein neuartiges, nunmehr auch wesentlich hauptberufliches Spezialistentum. Schon bald zählen auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu dieser Personenkategorie. Hierdurch und durch die Mitwirkung in verschiedenartigen Gremien, durch die Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit, durch die Beteiligung an der Selbstverwaltung, an den Spruch- und Aufsichtsinstanzen, durch die Ausbildung beratender Arbeitersekretariate, werden die Arbeiter und wird die Arbeiterbewegung „Bestandteil“ des reichsdeutschen „Sozialstaats“. Die politische Einbeziehung von Tausenden von „Arbeitnehmervertretern“ resultiert aus ihrer Qualifizierung als Interessenpartei und wird mit der altbekannten Hoffnung verbunden, gerade auch hierdurch die Beziehungen zwischen den Klassen im integrativen Sinn zu „gestalten“, begegnen den „Arbeitnehmervertretern“ doch in großem Umfang „Arbeitgebervertreter“, mit denen sie „vernünftig“ zusammenarbeiten sollen. Die Mitwirkung der organisierten Arbeiterbewegung an der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ stößt zunächst überwiegend auf Ablehnung und Repression und soll durch die „Finessen“ der damaligen Sozialrechtsordnung und spezifische Repressionsmaßnahmen erschwert wenn nicht sogar unmöglich gemacht werden. Kennzeichnend ist auch, 489 Vgl. in diesem Zusammenhang: Krätke, Michael: Steuergewalt, Versicherungszwang und ökonomisches Gesetz. In: Prokla, 21(1991) Nr. 1, 112-143, besonders: 127 ff.
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daß die Gewerbeordnung von 1869 zwar die Koalitionsverbote aufhebt, die Betätigung der Koalitionsfreiheit aber zahlreichen Restriktionen unterliegt. Sieht man von bestimmten Institutionen der Krankenversicherung ab, so bedingt die Arbeiterversicherungsgesetzgebung bedeutende innovative, in die Erwerbsgesellschaft eingreifende Ausformungen des Staatsapparats und der Staatstätigkeit. Die „Bismarcksche Sozialreform“ bedingt dort, wo sie durch Zwang neuen Organisationen zum Leben verhilft, eine „Solidarität“ sozial Fremder. Sie hebt damit die individualisierende, isolierende Wirkung der „neuen Wirtschaftsweise“ nicht auf, sondern ergänzt und ersetzt die unter erheblichen „Druck“ geratene alte zivilisatorische Substanz durch neuartige, hochsynthetische, dem politischadministrativen System des Reiches „entsprungene“ Hilfeinstanzen, deren Funktionsfähigkeit und Arbeitsbereich durch Verwaltungs-, Beamten- und Dienstrecht, durch Beitrittszwang und Abspaltung eines Sozialbeitrags vom Lohn sichergestellt wird. Durch die „gewaltige“ Ausdehnung der Arbeiterversicherung und durch allmähliche Leistungsverbesserungen soll - nach dem Willen der herrschenden politischen Kräfte - vor allem die Rücksichtslosigkeit der kapitalistischen Marktökonomie gegenüber den Bestandserfordernissen von bürgerlicher Gesellschaft und reichsdeutscher Politik allmählich abgemildert werden. Aus der Konstituierung gewaltiger öffentlicher Haushalte und der „zweckentsprechenden“ Verwendung dieser Mittel will der Staat die Kraft ziehen, gesellschaftliche Spannungen auszugleichen und Massenloyalität herzustellen. Die „obrigkeitsstaatliche Sozialpolitik“ stellt damit eine exemplarische Durchbrechung und Negation des „Harmoniedogmas“ und der „Freiheitsapologie“ des „Manchesterliberalismus“ dar. Der Gedanke, daß die Neuregelung des Umgangs mit den Gefahren der industriellen Arbeitswelt, mit dem Problem der Arbeitsunfähigkeit, einen Dammbruch von Forderungen „von unten“ auslösen könnte, die Angst, daß die „Sozialreform“ nicht am Erreichten, sondern an den verbliebenen „Übeln“ gemessen werden würde, daß uneingelöste Erwartungen die Ungeduld der Bevölkerung mit dem Bestehenden fördern und die Geduld erschöpfen könnten, daß sie den Veränderungswillen mächtig antreiben könnten, ist während der 1880er Jahre marginal und politisch bedeutungslos. Das Bestehen derartiger Vorstellungen, daß etwas, was als Reform beginnt, das „System“ sprengen könnte, indem die sozialen und politischen Kräfte ermutigt werden, Bedrückendes und Verhaßtes rasch abzuschütteln, indem die Gesellschaft, von Etappe zu Etappe der Veränderungen fallend, keinen Ruhepunkt mehr auf dem Weg zum „Umsturz“ findet, hätte zweifellos ein reformfeindliches Klima erzeugt. Davon jedoch kann vor allem zu Beginn der 1890er Jahre keine Rede sein.
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„Neben dem weiteren Ausbau der Arbeiter-Versicherungsgesetzgebung sind die bestehenden Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter einer Prüfung zu unterziehen, um den auf diesem Gebiete laut gewordenen Klagen und Wünschen, soweit sie begründet sind, gerecht zu werden. Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß es eine der Aufgaben der Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirthschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben. Für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten betheiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlung mit den Arbeitgebern und mit den Organen Meiner Regierung befähigt werden.“1 „Das Deutsche Reich muß im 20. Jahrhundert Weltpolitik treiben, wenn es seinen Platz an der Sonne haben will, und es muß die Sozialpolitik fortführen, wenn dem äußeren Glanze auch die innere Kraft den Bestand verleihen soll ... Einigkeit, Wohlfahrt, Macht und Kultur - auf den Bahnen der Weltpolitik und der Sozialreform locken sie als hehre Ziele!“2
5.1 Zwischen Reform- und Repressionskurs Der „Fall“ des Sozialistengesetzes am 25. Januar 1890, die Entlassung Bismarcks am 20. März 1890, leiten zu einer neuen Phase der Innen- und Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland über, die sich wiederum in verschiedene „Unterabschnitte“ unterteilen läßt. Die von nun an bis 1914 praktizierte Herrschaftsmethode gegenüber der Arbeiterbewegung zeigt ein eigenartig schwankendes Bild. Auch nach dem „Fall“ des Sozialistengesetzes setzt sich der Repressionskurs fort und es sind immer wieder Vorstöße zu registrieren, die den Willen zu einer Rückkehr zur ausnahmegesetzlichen Gewaltpolitik erkennen lassen. Daneben eröffnen sich Pfade sozialpolitischer Weiterentwicklung und Gesellschaftsstabilisierung. Weder die Vertreter der Methode der offenen Gewalt, der Verweigerung aller Sozialpolitik jenseits patriarchalischsozialfürsorgerischer Art, noch die Vertreter der sozialreformerischen Strategie können sich auch nur annähernd „rein“ bzw. vollständig durchsetzen.3 Diese Entwicklung endet in einer ausgeprägten innenpolitischen Stagnation.4
1 Auszug aus dem Erlaß Wilhelms II. an die Minister der öffentlichen Arbeiten und für Handel und Gewerbe. In: Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger 1890, No. 34 vom Mittwoch, den 5. Februar, 1. 2 Francke, Ernst: Weltpolitik und Sozialreform. In: Schmoller, Gustav, Sering, Max, Wagner, Adolph (Hg.): Handelsund Machtpolitik. Reden und Aufsätze im Auftrage der „Freien Vereinigung für Flottenvorträge“. Stuttgart 1900, 85 132, hier: 132, im Original gesperrt gedruckt. 3 Diese Zusammenhänge werden, auf marxistisch-leninistische Begriffe und Konzepte bezogen, durchaus zutreffend gesehen in der Schrift und Quellensammlung: Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917.
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Der Hintergrund und bedingender Faktor dieser Entwicklung ist der endgültige Durchbruch der Freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zu bedeutenden Massenbewegungen. Der Stimmenanteil der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen steigt 1893 auf 23,3%; 1898 wählen 27,2%, 1903: 31,7% sozialdemokratisch. Nach einem Einbruch bei den Wahlen des Jahres 1907 (28,9%), erreicht diese Partei 1912 einen Stimmenanteil von 34,8%. Seit 1890 ist die Sozialdemokratie von den Stimmen her gesehen stärkste Partei, mit den Wahlen von 1912 auch stärkste Fraktion im Reichstag.5 Im Jahre 1914 zählt diese Partei etwas über eine Millionen Mitglieder. Diese Entwicklung, die mit ausgeprägten Flügelbildungsprozessen einhergeht, ist Ausdruck einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der einseitigen Interessenpolitik der herrschenden großindustriell-junkerlichen Kreise. Auch die Freien Gewerkschaften erleben einen weiteren bedeutenden Aufschwung. Gehören dieser Gewerkschaftsrichtung im Jahre 1900 nach einer langen Phase der Stagnation 680.427 Mitglieder an, so steigt diese Zahl auf 2.525.042 im Jahre 1913 an.6 Angesichts der „Dramatik“ dieser Zahlen mag sich nicht jeder mit dem Hinweis beruhigen, daß auch industrielle Arbeiter „tüchtige und ehrliebende Soldaten“ seien,7 daß die rein numerische Zunahme der Anhänger der sozialistischen Bewegung nicht gleichbedeutend sei mit der Gefahr des „Umsturzes“, da „jene katalinarische Energie“ der revolutionären Tat erkaltet sei, wie sich Max Weber ausdrückt.8 Die Akzente für einen „Neubeginn“ der staatlichen Sozialpolitik werden schon bald nach dem „Fall“ des Sozialistengesetzes und noch während der Kanzlerschaft Bismarcks gesetzt. Nachdem der durch erhebliche Mißstände ausgelöste Riesenstreik der Bergarbeiter im Mai 1889 erneut die Hoffnung auf die Wirksamkeit der damaligen „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ diskreditiert hat, und dadurch, daß der junge Kaiser Wilhelm II. die Chance nutzt, gegen den ungeliebten, übermächtigen und noch amtierenden „Reichsgründer“ durch die Betonung sozialpolitischer Differenzen politische Geländegewinne zu erzielen, erhält das von Bismarck unterdrückte Konzept der Weiterentwicklung des Arbeiterschutzes und erhalten andere sozialpolitische Ansätze eine Realisierungschance.9 „Die von Beratern Wilhelms II. gegen den Reichskanzler von langer Hand geplante und eingeleitete ‘großartige Aktion’ rekurrierte auf die Arbeiterschutzbeschlüsse des Reichstages aus dem Jahre 1887 und mündete auf verschlungenen ... Wegen in die von Bismarck persönlich redigierten zwei kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar 1890.“10 Dokumente zur innen- und außenpolitischen Strategie und Taktik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches. Berlin 1977. 4 Bruch, Rüdiger vom: Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich. In: Derselbe (Hg.): „Weder Kommunismus noch Kapitalismus“. München 1985, 61 -179, hier: 144. 5 Vgl.: Matthias, Erich, Pikart, Eberhard (Bearb.): Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918. Erster Teil. Düsseldorf 1966, XIII ff. 6 Vgl. die Tabelle bei: Matthias, Erich, Schönhoven, Klaus (Hg.): Solidarität und Menschenwürde. Bonn 1984, 369. 7 So der Feldmarschall Graf von Häseler; vgl.: Die Arbeiter im Heer. In: Die Hilfe, 11(1905)15, 1. 8 Vgl.: Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede. Freiburg i. Br. und Leipzig 1895, 31. 9 Vgl.: Machtan, Lothar, Berlepsch, Hans-Jörg von: Vorsorge oder Ausgleich - oder beides? Prinzipienfragen staatlicher Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich. In: Zeitschrift für Sozialreform, 32(1986)5, 257 - 275, Heft 6, 343-358, hier bes. 343 ff. 10 Dieselben, ebenda, 344; zu den „verschlungenen Wegen“ vgl.: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890 bis 1896. Bonn 1987, 15 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Reichold, Hermann: Der „Neue Kurs“ von 1890 und das Recht der Arbeit: Gewerbegerichte, Arbeitsschutz, Arbeitsordnung. In: Zeitschrift für Arbeitsrecht, 21(1990)1, 5-41. Real, Willy: Die Sozialpolitik des Neuen Kurses. In: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld. Berlin 1958, 441-457.
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Die redaktionelle Betätigung des widerwillig auf die sozialpolitische Initiative Wilhelms II. reagierenden Kanzlers an diesen beiden Erlassen, den sogenannten Februarerlassen, die die Politik eines „Neuen Kurses“ der Sozialpolitik einleiten, ist darauf gerichtet, durch die aus seiner Sicht „ultraradikale Formulierung“ und Erweiterung der zugrunde liegenden Ausarbeitungen und durch das Hineinschreiben verfahrenstechnischer Finessen und Fallstricke das ganze Projekt zu Fall zu bringen und dem Kaiser unter anderem durch die Weglassung der verfassungsmäßigen Gegenzeichnung die alleinige Verantwortung für ein sozialpolitisches Desaster aufzubürden.11 Ein weiteres und letztes Mal nach dem 17. November 1881 ist es eine „kaiserliche“, von Bismarck „redigierte“ sozialpolitische Ankündigung, die „außerordentliches Aufsehen“ in der Öffentlichkeit des In- und des Auslandes erregt.12 Die Reaktionen reichen vom ungläubigen, skeptisch-zustimmenden Staunen in der Arbeiterpresse bis zu deutlichen Bedenken und eingehender Kritik. Wieder, ähnlich wie schon im Zusammenhang mit der „Kaiserlichen Botschaft“ von 1881, ist in der Öffentlichkeit das Gefühl verbreitet, an einer Wende der sozialpolitischen Entwicklung zu stehen. Trotz der expliziten Betonung der Grenzen, die die internationale Konkurrenz der „Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter“ setze, werden in und mit den beiden Februarerlassen alle Tabuzonen und Grenzen „Bismarckscher Sozialpolitik“ leichtfüßig überschritten. Sie lassen, ohne daß man den beiden Texten Gewalt antun und allzusehr zwischen den Zeilen lesen muß, die Kernpunkte des ganzen Ensembles „moderner Arbeiterpolitik“ erkennen, sie umfassen die Hauptpunkte der sozialreformerischen Diskussion im Reich und versprechen ein schnelles „Aufholen“ des Reiches auf den sozialpolitischen Gebieten, auf denen es, verglichen mit anderen westeuropäischen Staaten, in erheblichen Entwicklungsrückstand geraten ist. In weiten Bereichen stimmen die beiden „herrlichen Kundgebungen“13 sogar „vordergründig“ mit politischen Vorstößen sowie Programmpunkten der Sozialdemokratie überein, die „innerhalb der heutigen Gesellschaft“ zum „Schutz der Arbeiterklasse“ gefordert werden, eine Tatsache, die bei dieser zu nicht unerheblichen Argumentationsnöten führt.14 Der erste der beiden (Februar-)Erlasse, die Anweisung an den Reichskanzler (zunächst ist das immer noch der widerstrebende und zu jeder Sabotage bereite Bismarck) verlangt vorbereitende Schritte zur Anberaumung einer internationalen Konferenz, um auf dem Wege „internationaler Verständigung“ die in der internationalen Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung „der Lage unserer Arbeiter“ wenn nicht zu überwinden, so doch abzuschwächen. Anregungen und Ansätze zu derartigen typischerweise den Arbeiterschutz betreffenden internationalen Verhandlungen hat es schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegeben. Aus dieser Zeit sind entsprechende Forderungen des schweizerischen Historikers und Volkswirtschaftlers Jean Charles Leȩnard Simonde de Sismondi und des britischen Sozialreformers und Unternehmers Robert Owen bekannt. Der Sozialreformer und Fabrikant Daniel Legrand aus dem Elsaß wiederholte solche Vorstöße ab den 1830er Jahren. Die deutschen Hochschullehrer Gustav Schönberg, Adolf Wagner und andere Pioniere der Sozialpolitik folgten mit dem Beginn der 1870er Jahre. Die Gründung der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ im Jahre 1864 und das Erstarken der Arbeiterbewegung 11 Vgl.: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 10), 29 ff. 12 Vgl. denselben, ebenda, 31 ff. 13 So eine Bezeichnung in der Aachener Zeitung; zit. aus : Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger No. 37, vom 8. Februar. 14 Vgl. das Gothaer und das Erfurter Programm der Sozialdemokratie.
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hat diesen Ansätzen Schubkraft gegeben, vor allem die auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes vorangehende Schweiz war mehrfach initiativ geworden. Grundgedanke dieser Aktivitäten war, daß wettbewerbsbedingt die Produktionsmöglichkeiten eines einzelnen auf diesem Gebiet voranschreitenden Landes auch zum Schaden der Arbeiter begrenzt würden.15 Bismarck hatte sich vor 1890, sieht man von seinen außenpolitisch motivierten Aktivitäten ab, mehrmals gegen derartige Initiativen gestellt. Selbst die „rothe Internationale“ hatte sich mit den entsprechenden Fragen internationaler Arbeiterschutzpolitik befaßt. Die nunmehr auf deutsche Initiative zustandekommende Internationale Arbeiterschutzkonferenz tagt vom 15. bis zum 29. März 1890 in Berlin. Die Konferenz gerät zu einer glatten Niederlage der Absichten Bismarcks, der geglaubt hat, die Konferenz würde sich gegen weitergehende internationale Aktivitäten aussprechen und so den Elan des neuen Kaisers bremsen. Der direkt greifbare Erfolg dieser Konferenz ist zwar gering, aber die Konferenz zieht weitere Aktivitäten nach sich und auf ihr wird die Idee eines internationalen Arbeitsamtes geboren. Im Rahmen von bemerkenswerten nichtstaatlichen „Nachfolgeaktivitäten“ wird die „Internationale Vereinigung für den gesetzlichen Arbeiterschutz“ gegründet, die 1901 das „Internationale Arbeitsamt“ ins Leben ruft. Ebenfalls 1901 tritt als deutsche Sektion dieser internationalen Vereinigung die „Gesellschaft für Soziale Reform“ ins Leben. Diese wichtige Gesellschaft, die bald in die fördernden und finanzierenden Aktivitäten des Frankfurter Industriellen Wilhelm Merton einbezogen wird, zählt die wichtigsten sozialreformerisch engagierten Hochschullehrer als Mitglieder. Ihr gehören darüber hinaus an: Vertreter sozialpolitisch aktiver bürgerlicher Parteien, christliche, konfessionelle, liberale und „nationale“ Arbeitnehmerorganisationen, zahlreiche reformorientierte Unternehmer bzw. Unternehmerorganisationen, Vertreter von Reichs- und Staatsbehörden und weitere Repräsentanten oder Einzelpersonen. Eine von europäischen Regierungen beschickte Arbeiterschutzkonferenz findet allerdings erst wieder im Mai 1905 in Bern statt.16 Der zweite, der weitaus gewichtigere Erlaß bezeichnet die bisherige, die Bismarcksche Sozialpolitik als nicht ausreichend. Er stellt zunächst einen weiteren Ausbau der Arbeiterversicherungsgesetzgebung in Aussicht. Es ist weniger die „treue“ Erfüllung dieses Auftrags, es sind vielmehr die zahlreichen Mängel, die Unzulänglichkeiten in den Versichertenkreisen und Leistungen, es sind wirtschaftliche Interessen und die Forderungen von Parteien und Interessengruppen verbunden mit politischen Spekulationen, es sind finanzwirtschaftliche Spielräume, die die Entwicklung vor allem in Form von Abänderungs- und auch von weiteren Ausdehnungsgesetzen weitertreiben.17 Die dabei erreichten Fortschritte sind jedoch gering. Auf dem Gebiete der Unfallversicherung bringt erst das neue, das beginnende 20. Jahrhundert größere Veränderungen. Geprägt von der Debatte um eine Vereinheitlichung oder auch Zusammenlegung und Verschmelzung aller oder einzelner Zwei-
15 Vgl.: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 10), 54 ff.; einen guten, wenngleich rechtsgeschichtlich orientierten Überblick bietet das Stichwort „Arbeiterschutzgesetzgebung“ in: Conrad, J., Lexis, W., Elster, L, Loening, Edg. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Erster Band. Jena 1909, 591 ff. 16 Vgl. denselben, ebenda, 62 f.; vgl. als ältere Darstellung auch : Born, Karl Erich: Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Wiesbaden 1957, 84 ff.; einige geschichtliche Hinweise zur „Gesellschaft für Soziale Reform“ finden sich in: Historisches Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG, 154(2); vgl. zum finanziellen Engagement Mertons: ebenda, 152(1); vgl. zur Person: Ratz, Ursula: Wirtschaftsführer, Sozialreformer, Frankfurter Stifter. Vor 70 Jahren starb Wilhelm Merton. In: MG-Informationen, 4/1986, 4-7. 17 Einen Überblick bietet die Zeittafel sozialpolitischer Gesetze und Verordnungen bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939. Stuttgart 1957, 543 ff.
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ge der Arbeiterversicherung18 wird, da eine Einigung , eine „annehmbare Grundlage“ für ein solches Projekt nicht gefunden werden kann, eine gewisse Vereinheitlichung und Verbesserung der Unfallversicherungsgesetzgebung und ihrer Leistungen angestrebt. Nach zähen Verhandlungen in Reichstag und Kommission, in denen das besondere Interesse der Vertreter der Wirtschaft an separaten Berufsgenossenschaften erneut deutlich wird, entsteht schließlich das sog. Mantelgesetz, das „Gesetz, betreffend die Abänderung der Unfallversicherungsgesetze“ vom 30. Juni 1900,19 dem die ebenfalls reformierten Unfallversicherungsgesetze für einzelnen Gewerbebereiche „beigegeben“ werden mit der Maßgabe, daß der Reichskanzler ermächtigt wird, den Text der Unfallversicherungsgesetze in bereinigter Form bekannt zu machen.20 Ein aufmerksamer Beobachter der parlamentarischen Szenerie beobachtet dabei eine bemerkenswerte „Erscheinung“. Die Annahme der Unfallversicherungsgesetze im Reichstag sei einstimmig erfolgt, „…da schließlich auc h d ie Soz ia ld e mokr a ten d afür stimmten, ebenso wie sie dies vor Jahr und Tag bei der Novelle zur Invalidenversicherung gethan haben. Dies ist die offizielle Anerkennung der segensreichen Wirksamkeit der Versicherungsgesetzgebung von Seiten der Sozialdemokratie, die damit nur den wahren Empfindungen der Arbeiterschaft selbst Ausdruck giebt.“21 Das „Mantelgesetz“ enthält Vorschriften über die Errichtung neuer Berufsgenossenschaften und über „Schiedsgerichte für Arbeiterversicherung.“ Das sind die durch das Invalidenversicherungsgesetz errichteten Organe, die nunmehr auch für Angelegenheiten der Unfallversicherung zuständig werden.22 Weniger bedeutsam sind die Änderungen in den Einzelgesetzen. Insgesamt handelt es sich um Verbesserungen, eine Tatsache, die die Sozialdemokratie zur Zustimmung motiviert. Von Bedeutung ist darüber hinaus das „Gesetz, betreffend die Unfallfürsorge für Gefangene“, das ebenfalls das Datum des 30. Juni 1900 trägt.23 Es bestimmt in seinem § 1: „Wenn Gefangene einen Unfall bei einer Thätigkeit erleiden, bei deren Ausübung freie Arbeiter nach den Bestimmungen der Reichsgesetze über Unfallversicherung versichert sein würden, so ist für die Folgen solcher Unfälle eine Entschädigung zu leisten.“ Schließlich sei auf die Novellierung des aus dem Jahre 1886 stammenden Unfallfürsorgegesetzes für Beamte und „Personen des Soldatenstandes“ vom 18. Juni 1901 hingewiesen.24 Damit sind für das Gebiet der Unfallversicherung alle reichsweit bedeutsamen Reformen bis zu dem Zeitpunkt benannt, zu dem sich die „gesetzgebenden Faktoren“ zu einer alle Zweige der Arbeiterversicherung umfassenden, vereinheitlichenden Gesetzgebung entschließen. Der im zweiten Februarerlaß angekündigte Ausbau der Arbeiterversicherungsgesetzgebung bleibt auch auf dem Gebiete der Krankenversicherung „bescheiden“. Die bereits wegen ihrer gegen die Hilfskassen gerichteten „Spitze“ erwähnte Krankenkassengesetzge-
18 Vgl.: Heiß, Cl.: Die Reform der Unfallversicherung. In: Soziale Praxis, 9(1899/1900)16, Sp. 390 - 393; entsprechende „Reformliteratur“ ist angemerkt bei: Reidegeld, Eckart: 75 Jahre Reichsversicherungsordnung. In: Soziale Sicherheit, 35(1986)11, 327 - 335. 19 Vgl.: RGBl. 1900, 335. 20 Das geschieht unter dem gleichen Datum auf den Seiten 573 ff. des RGBl. 21 Endgültige Annahme der Novellen zur Unfallversicherung im Reichstage. In: Soziale Praxis, 9(1899/1900)35, Sp. 905 - 906, hier: 905 f. 22 Vgl. dazu die „Verordnung, betreffend das Verfahren vor den Schiedsgerichten für Arbeiterversicherung“ vom 22. November 1900 (RGBl. 1900, 1017). 23 Vgl.: RGBl. 1900, 536. 24 Vgl.: RGBl. 1901, 211.
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bung vom 10. April des Jahres 189225 beinhaltet eine Erweiterung des Versichertenkreises. Namentlich gehören Handlungsgehilfen und Lehrlinge im kaufmännischen Bereich zu den Pflichtversicherten, falls ihnen die Ansprüche auf Gehaltsfortzahlung nach Artikel 60 des Handelsgesetzbuches vertraglich nicht oder nur beschränkt zustehen. Mit gleichem Datum wird eine Neufassung des „Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ mit der neuen Bezeichnung „Krankenversicherungsgesetz“ publiziert.26 Das „Gesetz, betreffend die Abänderung des Krankenversicherungsgesetzes“ vom 30. Juni 1900 ermächtigt den Bundesrat die „selbständigen Hausindustriellen“ in die Versicherungspflicht einzubeziehen. Diese Möglichkeit war zuvor „nur“ den Kommunen vorbehalten. Das relativ umfangreiche „Gesetz, betreffend weitere Abänderungen des Krankenversicherungsgesetzes“ vom 25. Mai 1903 paßt die Krankenversicherung u.a. an die geltenden Bestimmungen des „Invalidenversicherungsgesetzes“ an. Zu diesem Zweck wird die Laufzeit der Krankenunterstützung von 13 auf 26 Wochen heraufgesetzt. Der Rahmen für die Erhöhung der Beiträge in der Gemeindekrankenversicherung wird auf 3% des ortsüblichen Tageslohnes festgesetzt. Die gesetzlich vorgeschriebene Wöchnerinnenunterstützung wird von vier auf sechs Wochen verlängert. Es wird die Bestimmung gestrichen, wonach bei Erkrankung durch „geschlechtliche Ausschweifungen“ (Geschlechtskrankheiten) das Krankengeld verweigert werden kann. Darüber hinaus werden noch einige weitere Leistungsverbesserungen vorgenommen. Das Gesetz tritt zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Kraft. Es wirkt sich auch auf die Leistungen der Knappschaften aus.27 Auf dem Gebiet der Invaliditäts- und Altersversicherung ergeben sich insofern Besonderheiten, als die Inkraftsetzung des IVG gemäß § 162 Absatz 2 in die „Nach-BismarckZeit“ fällt. Die Vorschriften zur Schaffung der Verwaltungsträger gelten allerdings bereits mit dem Tage der Verkündung des Gesetzes. Seinem vollen Umfang nach tritt das IVG erst mit dem 1. Januar 1891 in Kraft.28 Mit einer umfangreichen Verordnung vom 1. Dezember 1890 wird das Verfahren vor den auf Grund des IVG errichteten Schiedsgerichten ausgestaltet.29 Das Reichsversicherungsamt, nunmehr auch für bestimmte Angelegenheiten der Invaliditäts- und Altersversicherung zuständig, erhält durch Verordnung vom 20. Dezember 1890 eine „Abtheilung für Invaliditäts- und Altersversicherung.“30 Ein Abänderungsgesetz vom 8. Juni 1891 erleichtert die „Erreichbarkeit“ der Altersrente durch Herabsetzung der Wartezeit.31 Durch Bundesratsbeschluß wird die Versicherungspflicht mit dem 4. Januar 1892 beginnend auch auf „Hausgewerbetreibende“ der Tabakfabrikation erstreckt.32 Eine „Bekanntmachung“ vom 1. März 1894 zieht auch „Hausgewerbetreibende“ der Textilindustrie in die Invaliditäts- und Altersversicherung ein.33 Vorübergehende Dienstleistungen hingegen werden von der Versicherungspflicht befreit.34 Von besonderer Bedeutung ist 25 Es handelt sich um das „Gesetz über die Abänderung des Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883“ vom 10. April 1892 (RGBl. 1892, 379). 26 Vgl.: RGBl. 1892, 417 ff. 27 Vgl. den Artikel IV des Gesetzes sowie die Verordnung vom 7. November 1904 (RGBl. 1904, 385). 28 Vgl. die „Verordnung über die Inkraftsetzung des Gesetzes, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung, vom 22. Juni 1889“ vom 25. November 1890 (RGBl. 1890, 191). 29 Vgl.: RGBl. 1890, 193. 30 Vgl.: RGBl. 1890, 209. 31 Vgl.: RGBl. 1891, 337. 32 Vgl.: RGBl. 1891, 395. 33 Vgl.: RGBl. 1894, 324. 34 Vgl. die „Bekanntmachung, betreffend die Durchführung der Invaliditäts- und Altersversicherung“ vom 24. Dezember 1891 (RGBl. 1891, 399).
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schließlich das nach mehreren erfolglosen Anläufen zustande kommende „Invalidenversicherungsgesetz“ - so die neue Bezeichnung - vom 13. Juli 1899.35 Dieses ersetzt das ursprüngliche Gesetz aus dem Jahre 1889 und integriert die zwischenzeitlichen Gesetzesänderungen. Es tritt im Wesentlichen mit dem Beginn des neuen, des 20. Jahrhunderts in Kraft und bleibt auch in den kommenden Jahren unverändert. Es dehnt den Bereich der Pflichtversicherten erneut aus. Dieser umfaßt nunmehr auch Lehrer und Erzieher. Er umfaßt in stärkerem Maße auch den Angestelltenbereich und ermöglicht die Einbeziehung „kleiner Selbständiger“. Verschiedentlich erfolgen Regelungen zu den vielkritisierten Marken und Quittungskarten. Das Gesetz vom 13. Juli 1899 bringt Klärungen des Begriffes der „Erwerbsunfähigkeit“, erweitert die Möglichkeiten und den Stellenwert des Heilverfahrens, führt eine fünfte Lohnklasse ein und schafft einen Vermögensausgleich zwischen den Versicherungsträgern. Durch eine Verordnung vom 6. Dezember 189936 wird das Verfahren der Schiedsgerichte in der Invalidenversicherung ausgestaltet und verbessert. Es wird nunmehr auch eine mündliche Verhandlung der „Streitsache“ in öffentlicher Sitzung vorgesehen (§§ 10, 12). Trotz unbestreitbarer Fortschritte sind bleibende Mängel auf dem Gebiet der Invaliditäts- und Alterversicherung auszumachen. Die Frage der Witwen und Waisen bleibt auch im Rahmen des „Invalidenversicherungsgesetzes“ vom 13. Juli 1899 ungelöst. Auf diesem Gebiet tut sich nur die See-Berufsgenossenschaft hervor, deren Invaliden-, Witwen- und Waisenkasse 1907 in Funktion tritt.37 Die Protagonisten der Lösung der „Witwen- und Waisenfrage“, der Freikonservative Karl Freiherr von Stumm und der Zentrumsabgeordnete Franz Hitze, ruhen zwar auch jetzt nicht, entscheidend wird jedoch das „Zolltarifgesetz“ vom 25. Dezember 1902.38 Es sieht für die Einfuhr von Waren in das deutsche Zollgebiet teilweise erhebliche, die Lebenshaltung der „Massen“ verteuernde Zollsätze vor. Es enthält aber auch den für die Sozialpolitik entscheidenden § 15 (sog. Lex Trimborn). Danach soll ein ganz bestimmter Nettozollertrag zur „Erleichterung der Durchführung einer Wittwenund Waisenversorgung“ verwendet werden. Falls ein entsprechendes Gesetz bis zum 1. Januar 1910 nicht in Kraft tritt, soll dieser Betrag den einzelnen „InvalidenVersicherungsanstalten“ zum Zweck der Einführung einer „Wittwen- und Waisenversorgung“ zufließen. Bei dieser Regelung bleibt es bis zur großen Arbeiterversicherungsreform im Jahre 1911. Auch eine Verbesserung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Frauen an der Selbstverwaltung unterbleibt. Die Relationen der neu bewilligten Renten zum Lohn bewegen sich in den Jahren 1891 bis 1913 zwischen 14 und 18 Prozent. Bei den Invalidenrenten zeigt sich keine steigende, bei den Altersrenten ist sogar eine sinkende Tendenz auszumachen. Nominal betrachtet steigen die Renten in ihrer Höhe stark an.39 Mit Rentenzahlungen, die 100 Jahre später geleistet werden, hat dies wenig zu tun. Insgesamt sind die Zahlen schwer zu inter35 Vgl.: RGBl. 1899, 393; der Text des Invalidenversicherungsgesetzes wird mit Bekanntmachung vom 19. Juli 1889 unter fortlaufender Nummernfolge der Paragraphen neu publiziert (vgl. RGBl. 1899, 463). 36 Vgl.: RGBl. 1899, 677. 37 Vgl.: Ellerkamp, Marlene: Die Frage der Witwen und Waisen. In: Fisch, Stefan, Haerendel, Ulrike (Hg.): Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Berlin 2000, 189 - 208, hier: 199. 38 Vgl.: RGBl. 1902, 303. 39 Vgl. die Anlage 14 bei: Sniegs, Monika: Statistik als Steuerungselement in der historischen Entwicklung der Invaliditäts- und Alterssicherung 1891 -1911. Bremen 1998 (Diss. rer. pol., Mikrofiche Edition), 236 sowie: Kaschke, Lars, Sniegs, Monika: Kommentierte Statistiken zur Sozialversicherung in Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Band 1. Die Invaliditäts- und Altersversicherung im Kaiserreich (1891 - 1913). St. Katharinen 2001, 57.
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pretieren.40 Die Zahlen der bewilligten Invalidenrenten steigen mit dem Inkrafttreten des IVG überraschend steil an.41 Als dann mit dem Inkrafttreten des „Invalidenversicherungsgesetzes“ vom 13. Juli 1899 ein neuer Schub an bewilligten Renten beobachtet wird,42 und Modellrechnungen zur Makulatur zu werden drohen, kommt es zu steuernden Eingriffen. Durch eine „Bereisung“ der Versicherungsträger durch eine sachverständige Kommission, die in den Jahren 1901 bis 1911 stattfindet, kommt es zu einer Überprüfung der Bewilligungspraxis durch eine Kommission. Diese Kommission besteht aus hochrangigen Beamten des Reichsamts des Innern und des Reichsversicherungamtes.43 Diese Praxis führt zunächst zu einem bedeutenden Rückgang der Rentenbewilligungen und zu einer Zunahme der Rentenentziehungen. Insgesamt gesehen bleibt aber die Zugänglichkeit der Rente gut. Die Anerkennungsquote ist hoch. Eine Auswertung der Geschäftsberichte der Landesversicherungsanstalten ergibt, „...daß zwischen 1892 und 1913 rund 80% aller formell entschiedenen Rentenanträge in erster Instanz anerkannt wurden...“44 Allein in den östlichen Provinzen Preußens schlagen sich offensichtlich Vorurteile und Kommunikationsprobleme gegenüber „nationalen Minderheiten“ im Verwaltungshandeln nieder. Den entsprechenden Personengruppen fällt es offensichtlich schwerer ihre Rechtsansprüche durchzusetzen.45 Die unmittelbare Initiative zu einer umfassenden Revision der Arbeiterversicherungsgesetzgebung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Eindruck eines „buntscheckigen Mosaikbildes von Unzulänglichkeiten“ vermittelt, geht auf Bestrebungen im Reichstag zurück. Nach einer bemerkenswerten Initiative des nunmehrigen Freiherrn von StummHalberg und unter der Wirkung des „Druckmechanismus“, der in das Zolltarifgesetz von 1902 „eingebaut“ wurde, ist es eine vom Zentrum eingebrachte und einstimmig beschlossene Resolution aus dem Jahre 190346, die das Verlangen nach einer Revision der Sozialgesetzgebung nicht ruhen lässt. Die Resolution des Jahres 1903 beinhaltet auch die Forderung nach einer Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht und einer Zusammenlegung der drei Versicherungsgesetze bei „organischer Verbindung“ der drei Versicherungszweige. Diese letzte Formulierung knüpft an die langjährige Diskussion um die organisatorische Form der in drei Zweigen unterteilten Versicherung an. Bereits wenige Jahre nach der Verabschiedung der Arbeiterversicherungsgesetze, im Jahre 1895, begann mit einer Konferenz im Reichsamt des Innern die Frage der Verwaltungsvereinfachung auch „amtliche Kreise“ zu beschäftigen. Schon mit der Verabschiedung der Arbeiterversicherungsgesetze befaßten sich Ankündigungen, Tagungen, Kongresse, Versammlungen und Publikationen intensiver mir der Frage der Vereinfachung oder gar Verschmelzung der Organisation von „Bismarcks Werk.“ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch war die Reichsregierung unter dem Druck der mit der herkömmlichen Organisationsstruktur verknüpften Interessen von einer grundlegenden Organisationsstruktur abgerückt.47 Der Reichstag verlangt von der Regierung in
40 Vgl.: Rückert, Joachim: Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung. In: Ruland, Franz (Hg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Neuwied und Frankfurt a.M. 1990, 1 - 50, hier: 30 ff. 41 Vgl.: Sniegs, Monika: Statistik...a.a.O.(=Anm. 39), 194. 42 Vgl. die Statistik bei: Kaschke, Lars: Kommission für „Rentenquetsche“? Die Rentenverfahren in der Invalidenversicherung und die Bereisung der Landesversicherungsanstalten 1901 - 1911. Bremen 1997 (Diss. phil., Mikrofiche Edition), 385. 43 Vgl. denselben, ebenda, 1. 44 Kaschke, Lars, Sniegs, Monika: Kommentierte...a.a.O.(=Anm. 39), 1. 45 Vgl. zusammenfassend: Kaschke, Lars: Kommission...a.a.O.(=Anm. 42), 373 46 Vgl. dazu: Rother, Klaus: Die Reichsversicherungsordnung 1911. Mainz 1994, 78. 47 Vgl.: Reidegeld, Eckart: 75 Jahre...a.a.O.(=Anm. 18).
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den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts mehrfach Rechenschaft über den Fortgang der Reformarbeiten. Vor diesem Hintergrund erweisen sich auch Jahre ohne bemerkenswerte sozialpolitische Innovationen als Jahre sozialpolitischer Forderungen und Diskussionen, die die Gestalt der kommenden Gesetzgebung vorprägen. Auch die die legislativen Entscheidungen vorbereitende „Ebene“, die für die „Sozialreform“ zuständige Abteilung II des Reichsamts des Innern ist nicht untätig. Dies trifft vor allen Dingen und im engeren Sinne für die Jahre 1907 bis 1910 zu, in denen die Entwürfe zu einer „Reichsversicherungsordnung“ (RVO) und zu einem „Angestelltenversicherungsgesetz“ verfertigt werden.48 Diese Tätigkeit umfaßt Gespräche und Besprechungen, Gesetzesentwürfe und Konzeptionen, die Auseinandersetzung mit Materialien, die im Vorfeld der großen Reform und Revision der Sozialversicherung auf die Ministerialbürokratie von interessierter Seite als Eingaben, Voten, Berichte, Resolutionen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel „zufließen“. Nach komplizierten Vorabstimmungen und Bundesratsverhandlungen über einen ersten Entwurf, geht dem Reichtag ein zweiter Entwurf einer RVO am 10. März 1910 zu,49 der durch vielerlei Kompromisse geprägt ist. Dieser Entwurf findet in der ersten Beratung vielfältige Kritik. Im Zuge komplexer parlamentarischer Koalitions- und Kompromißbildungsprozesse, formt sich allerdings nun die endgültige Gestalt dieses Gesetzgebungswerkes aus. Insbesondere der notwendige Einbezug der Konservativen sorgt dafür, daß die „sozialpolitischen Fortschritte“ im Sinne von Leistungsverbesserungen nicht allzu groß werden. Die Sozialdemokratie im Reichstag ist während der Verhandlungen über die RVO politisch isoliert und nur mit knapp 11% der Sitze im Reichstag vertreten. Diese Partei, die zwischen 1899 und 1903 positiv an der staatlichen Sozialpolitik mitgearbeitet hatte, sieht sich auf der parlamentarischen Ebene mit der Ablehnung ihrer Initiativen konfrontiert und kann sich keine Hoffnung darauf machen, daß ihre Forderungen zur Reform der Sozialversicherung Gehör finden. Insbesondere die Forderung nach „radikaler“ Ausdehnung der Versichertenkreise, nach einer grundsätzlichen organisatorischen Vereinheitlichung, nach voller Selbstverwaltung der Versicherten, der „Heranziehung aller Klassen zur Tragung der Kosten“, nach Einführung einer „Arbeitslosen-Versicherung“ und nach erheblichen Leistungsverbesserungen sind chancenlos.50 Vor diesem Hintergrund mündet das letzte große sozialpolitische „Vorkriegsprojekt“ in der ursprünglich 1.805 Paragraphen umfassenden „Reichsversicherungsordnung“ vom 19. Juli 1911.51 Die RVO wird am 31. Mai 1911 mit 232 gegen 58 Stimmen bei 15 Enthaltungen angenommen.52 Den Kräfteverhältnissen, den Anschauungen und der innenpolitischen Situation entsprechend enthält dieses Gesetz in seiner ursprünglichen Fassung eine unübersehbare antisozialdemokratische Tendenz. Der § 354 der RVO bestimmt: „Angestellte, die ihre dienstliche Stellung oder ihre Dienstgeschäfte zu einer religiösen oder poli48 Vgl. die zusammenfassenden Einleitungen und Dokumente in der „Quellensammlung zu Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914“, daselbst die IV. Abteilung, die die Sozialpolitik in den letzten Friedensjahren des Kaiserreichs (1905 - 1914) umfaßt. 49 Vgl. dazu: Rother, Klaus: Die Reichsversicherungsordnung...a.a.O.(=Anm. 46), 119 ff. 50 Die Programmatik der Sozialdemokratie aus dem zeitlichen Umfeld der Entstehung der Reichsversicherungsordnung findet sich bei demselben, ebenda, 239 ff. 51 Vgl.: RGBl. 1911, 509. 52 Zum Abstimmungsergebnis: Peters, Horst: Die Geschichte der sozialen Versicherung. 3. Auflage. Sankt Augustin 1978, 77; vgl. auch: Die Reichsversicherungsordnung angenommen. In: Soziale Praxis, 20(1911)35, Sp. 1081 -1082.
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tischen Betätigung mißbrauchen, hat der Vorsitzende des Vorstandes zu verwarnen und bei Wiederholung, nachdem ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, sofort zu entlassen…“ Eine solche Betätigung außerhalb der Dienstgeschäfte und die „Ausübung“ des Vereinsrechts, dürfen diese Konsequenzen „an sich“ nicht haben, soweit solche Aktivitäten nicht gegen Gesetze verstoßen. Das Selbstverwaltungsrecht der Versicherten wird durch die RVO bewußt eingeschränkt, eine Tendenz, die durch das „Einführungsgesetz zur Reichsversicherungsordnung“ vom 19. Juli 1911 noch einmal vertieft wird.53 Diese in die Paragraphen der Sozialgesetzgebung hineingeschriebene unmittelbare Reaktion auf die sozialistische Bewegung, stellt nur einen Ausschnitt der antisozialistischen Aktionen im späten Kaiserreich dar. Sie macht die RVO zu einem Musterbeispiel der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik.“ Insbesondere wird in das Selbstverwaltungsrecht der Ortskrankenkassen und in die Rechte der dort beschäftigten und in der Sozialdemokratie aktiven Mitarbeiter eingegriffen. In einer haßerfüllten Rede bekennt der Reichskanzler von Bethmann Hollweg während des Gesetzgebungsprozesses, die Reichsregierung verfolge mit Nachdruck das Bestreben die sozialpolitischen Einrichtungen davor zu sichern, daß sie zu „Werkzeugen sozialdemokratischer Machtpolitik“ würden.54 Die RVO, von den Sozialdemokraten deshalb nicht zu Unrecht als „Sozialistengesetz in Kassenpackung“ und als „Ausnahmegesetz gegen die bisherigen Kassenbeamten“ bezeichnet, wird nicht sofort wirksam. Es treten „...nacheinander in der neuen Form in Kraft die Invalidenversicherung am 1.1.1912, die Unfallversicherung am 1.1.1913 und die Krankenversicherung am 1.1.1914.“55 Unter anderem aus der Furcht vor einer „Einheitsfront der Arbeitnehmer“ und um eine Stärkung des Einflusses der Sozialdemokratie zu verhindern, entsprechen die Reichsleitung und der Reichstag den „Standesbestrebungen“ der organisierten Angestelltenschaft und es wird für die besser verdienenden Angestellten mit dem „Versicherungsgesetz für Angestellte“ vom 20. Dezember 191156 eine von der Arbeiterversicherung getrennte Reichsanstalt, die „Reichsversicherungsanstalt für Angestellte“ in Berlin gegründet, als Träger einer eigenen Sozialversicherung für diese „Volkskreise“, die zudem auch vergleichsweise bessere Leistungen beinhaltet.57 Während sich die RVO der sozialistischen Arbeiterbewegung gegenüber feindselig und ablehnend verhält, eröffnet sie den Frauen die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe an den Selbstverwaltungsorganen des Sozialstaats. In diesem Punkt folgt die Sozialgesetzgebung dem Vereinsgesetz in seiner Fassung vom 19. April 1908, das auch keine Sonderbestimmungen für bzw. gegen Frauen mehr kennt. Wählbar zu den Organen aller Versicherungsträger nach der RVO (Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Landesversicherungsanstalten) sind nun unbescholtene „volljährige Deutsche“, die bei dem Versicherungsträger versichert sind.58 Es wird nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Ersatz für den entgangenen Arbeitsverdienst oder ein Pauschbetrag wird für die Sitzungszeiten der 53 Vgl.: RGBl. 1911, 839. 54 Vgl.: Der Reichskanzler über Sozialpolitik und gegen Sozialdemokratie. In: Soziale Praxis, 20(1910/11)11, Sp. 332 - 333, hier: 332. 55 Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 52), 77. 56 Vgl.: RGBl. 1911, 989. 57 Vgl.: Reidegeld, Eckart: 75 Jahre...a.a.O.(=Anm. 18), 334 f.; vgl. zu den Details die unkritische aber sachlich zutreffende Darstellung bei: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm.. 52), 75 ff., 92 ff.; vgl. auch: Düttmann: Angestelltenversicherung. In: Elster, Ludwig, Weber, Adolf, Wieser, Friedrich (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Erster Band. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage. Jena 1923, 304 - 320; zum „Versicherungsgesetz für Angestellte“ vom 20. Dezember 1911 vgl.: RGBl. 1911, 989. 58 Vgl.: § 12 der RVO.
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Organe gewährt. Darüber hinaus existiert ein verklausulierter „Anspruch“ auf „Freistellung“ zur Wahrnehmung solcher Funktionen. Die Berechtigung der Frauen zur Teilnahme an der Selbstverwaltung der Arbeiterversicherungsträger wird nicht auf die neugestalteten Versicherungsbehörden erstreckt. Sowohl die „Versichertenvertreter“ bei den Versicherungsämtern mit ihren Spruchausschüssen als auch die Beisitzer bei den Oberversicherungsämtern als höherer Spruch-, Beschluß- und Aufsichtsbehörde dürfen nur Männer sein. Diese Regelung gilt auch für Landesversicherungsämter bzw. das Reichsversicherungsamt. Dieses ist nunmehr die oberste Spruch-, Beschluß- und Aufsichtsbehörde. Analoge Vorschriften finden sich in modifizierter Form im Angestelltenversicherungsgesetz. Auch das Prinzip der Parität und die Tätigkeit der Vertreter der beiden großen „Gesellschaftsklassen“ unter einer staatlichen „Spitze“ in den jeweiligen Organen findet sich als Strukturmerkmal der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ in diesen beiden Gesetzen. Daß die Verbände von Arbeit und Kapital in diesem Zusammenhang keine offizielle Funktion haben, ist selbstverständlicher Bestandteil dieser beiden bedeutenden Sozialrechtskodifikationen. Mit der RVO (und von vornherein auch mit dem AVG) wird nun tatsächlich die aus der Geschichte der ursprünglichen Kasseneinrichtungen, der Knappschaften und der Unfallversicherung bereits bekannte „Hinterbliebenenversicherung“ eingeführt (§§ 1258 ff. der RVO). Differenziert ausgestaltet gilt zunächst der Grundsatz, daß die „dauernd invalide Witwe“ nach dem Tod ihres versicherten Mannes eine Witwenrente erhalten soll. Eine nicht dauernd erwerbsunfähige Witwe erhält eine „Witwenkrankenrente“. Waisenrente erhalten nach dem Tod des versicherten Vaters „...seine ehelichen Kinder unter fünfzehn Jahren und nach dem Tod einer Versicherten ihre vaterlosen Kinder unter fünfzehn Jahren. Als vaterlos gelten auch uneheliche Kinder“ (§ 1259). Nach dem Tod der versicherten Ehefrau eines erwerbsunfähigen Ehemannes, die den Lebensunterhalt ihrer Familie ganz überwiegend aus ihrem Arbeitsverdienste bestritten hat, steht dem erwerbsunfähigen Mann Witwerrente zu und die ehelichen Kinder unter 15 Jahren haben einen Anspruch auf Waisenrente. Diese Leistungen stehen unter dem Vorbehalt der Bedürftigkeit. Daneben gibt es weitere Leistungsarten, die die Kumulation eigener und abgeleiteter Rentenansprüche ausschließen, etwa das Witwengeld, die Waisenaussteuer im Falle des eigenständigen Rentenanspruchs der Witwe. Natürlich müssen die Verstorbenen Wartezeit und Anwartschaft erfüllt bzw. aufrechterhalten haben. Die Witwen- bzw. Witwerrente besteht aus einem Reichszuschuß von 50 Mark, der Anteil der „Versicherungsanstalten“ richtet sich nach den gezahlten Beiträgen und den Militärdienst und Krankheitszeiten, die als Beitragwochen gelten. Der Anteil der „Versicherungsanstalten“ beträgt bei Witwen- und Witwerrenten drei Zehntel des Grundbetrages und der Steigerungssätze der Invalidenrente, die der „Ernährer“ zum Zeitpunkt seines Todes bezog oder bei Invalidität bezogen hätte (§ 1292 RVO). Der Anteil der „Versicherungsanstalt“ ist bei Waisenrenten mit drei Zwanzigstel und für jede weitere Waise mit einem Vierzigstel noch niedriger. Es existiert darüber hinaus eine Höchstgrenze der „Hinterbliebenenversicherung“. Witwen- und Witwerrenten fallen bei Wiederverheiratung weg. Durchweg günstiger sind die Hinterbliebenenrenten nach dem AVG. So erhält z.B. jede Witwe, nicht nur die dauernd invalide, nach dem Tod des versicherten Mannes bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen eine Witwenrente. Waisenrente erhalten die Kinder unter 18 Jahren. Die Witwenrente beträgt zwei Fünftel des „Ruhegeldes“. Waisen erhalten je ein Fünftel, „Doppelwaisen“ je ein Drittel des Betrages der Witwenrente. Das „Ruhegeld“ der Angestellten beginnt mit dem Tage, an dem das Alter von fünfundsechzig Jahren
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vollendet wird oder die Berufsunfähigkeit eingetreten ist (§ 26 AVG). In der RVO liegt die Altergrenze für eine Altersrente zunächst weiterhin beim vollendeten siebzigsten Lebensjahr. Dann endlich bekommt die oder der Versicherte eine Rente „auch wenn er noch nicht invalide ist.“ Vergleicht man diese leistungsrechtlichen Bestimmungen mit jenen der zwischenzeitlich weiterentwickelten knappschaftlichen Versicherung der Bergleute und der Sozialpolitik für Beamte, Gruppen, die von Anbeginn aus der „normalen“ Sozialpolitik herausdefiniert worden sind, so ergibt sich ein facettenreiches Bild unterschiedlicher „Leistungsschemata.“ Die Tatsache, daß normale Arbeiter in diesem Zusammenhang eine wenig vorteilhafte Position innehaben, hat dem integrativen Ziel in diesen Bevölkerungskreisen nicht gedient. Es hat sowohl aus Unternehmer- als auch aus Arbeitnehmerorganisationen nicht an Stimmen gefehlt, die zumindest einer Einbeziehung der Angestellten in die RVO das Wort geredet haben. Im „Einführungsgesetz zur Reichsversicherungsordnung“ vom 19. Juli 1911 ist immerhin in Artikel 84 die Verpflichtung enthalten, daß der Bundesrat im Jahre 1915 dem Reichstag die gesetzlichen Vorschriften über die Altersrente zur erneuten Beschlußfassung vorzulegen hat. Neben einer gewissen Vereinheitlichung der Behörden und der Verfahren wird durch die RVO auf dem Gebiet der Krankenversicherung die Gemeindekrankenversicherung mit tausenden von Versicherungsträgern beseitigt. Durch die RVO wird die Krankenversicherungspflicht auf 6 - 7 Millionen land- und forstwirtschaftliche Arbeiter und auf das Wander- und das Hausgewerbe ausgedehnt. Die Wochenhilfe wird verbessert. In der Unfallversicherung und der „Invalidenversicherung“ kommt es ebenfalls zu einer Erweiterung der Versicherungspflicht. Neu eingeführt wird hier die freiwillige Zusatzversicherung in der Invalidenversicherung.59 Durch die RVO und durch andere Reformgesetze, die bis zur Verabschiedung der RVO ergangen sind, sind nunmehr auch wichtige Bereiche der Frauenerwerbsarbeit in den Versicherungsschutz einbezogen worden. Die RVO berührt auch die inzwischen auf eine „große sozialhistorische Vergangenheit“ zurückblickenden Hilfskassen. Sie werden als „Ersatzkassen“ den Bestimmungen der §§ 503 - 516 der RVO unterworfen. Darüber hinaus wird schon seit Jahren ein Streit über die „Schwindelkassen“ auf diesem Gebiet ausgetragen. Da die Bestimmungen des in der „liberalen Aera“ entstandenen „Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen“ vom 7. April 1876 den Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden keine Handhabe bieten, haben sich tatsächlich innerhalb des Hilfskassenwesens manche Mißstände herausgebildet.60 Es werden Kassen gegründet, deren Zweck im wesentlichen in der Bereicherung ihrer Protagonisten durch weit überhöhte Gehälter und Provisionen besteht. Kassen mit „hochpatriotischen Namen“, die ihre nationale Gesinnung und antisozialdemokratische Ausrichtung anpreisen, Kassen die vortäuschen unter besonderem staatlichen Schutz und „allerhöchster Protektion“ zu stehen, täuschen das Publikum und die Verwaltungsbehörden, verweigern unter bestimmten Vorwänden die Leistungen und brechen nicht selten schon nach kurzer Zeit zusammen.61 Während sich vor diesem Hintergrund zahlreiche Stimmen finden, die für eine Beibehaltung dieser Kassenform votieren und eine zweckentsprechende Reform des Hilfskassen59 Vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 52), 79 ff. 60 Eine Tatsache, die von keiner Seite bestritten wird; vgl.: Kleeis, Friedrich: Das neue Recht der Hilfskassen (der Krankenversicherungsvereine) ...Franfurt a.M. 1912, 3. 61 Vgl. insbesondere: Zorn, Leopold: Die Entwicklung der Hilfskassen. Leipzig 1912 (Diss. phil.), besonders: 40 ff.
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gesetzes verlangen, beschreitet die Reichsregierung einen anderen Weg. Bereits ein am 28. November 1905 dem Reichstag vorgelegter Gesetzentwurf sieht den „einfachsten und zweckmäßigsten Weg“, die Mängel von Grund aus zu beseitigen, in der Aufhebung des Hilfskassengesetzes und in der Ausdehnung des „Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen“ vom 12. Mai 190162 auf das Gebiet der „Eingeschriebenen Hilfskassen“.63 Trotz heftiger Gegenwehr, die namentlich auch auf den Hilfskassenkongressen der damaligen Zeit vorgetragen wird, beharrt die Regierung auch in den folgenden Jahren auf ihrem Standpunkt. Der schließlich zielführende „Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Aufhebung des Hilfskassengesetzes“ vom 28. Januar 191164 steht ganz in dieser Tradition. Mit dem Argument gegen „Schwindelkassen“ vorgehen zu müssen,65 werden die Hilfskassen mit dem „Gesetz, betreffend die Aufhebung des Hilfskassengesetzes“ vom 20. Dezember 191166 als „Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit“ den Vorschriften des Versicherungsaufsichtsgesetzes unterworfen. Die Sozialdemokratie vermutet, wie schon im Zusammenhang mit der zeitgleich ergehenden RVO, politische Motive hinter dieser von ihr abgelehnten Gesetzgebung und kann sich in diesem Punkt auf eine lange Tradition der Repression der „freien Kassenvereine“ beziehen. Die entsprechenden Vorwürfe werden auf der Bühne des Reichstags in der ersten und zweiten Beratung des Gesetzentwurfs vorgebracht. Der Sprecher der Sozialdemokratie betont, unter dem Vorwand „Schwindelkassen“ bekämpfen zu müssen, wolle man „...den Arbeitern den letzten Rest ihres Selbstverwaltungsrechts...“ nehmen und er fährt, eine Verbindung zur RVO herstellend, fort: „...nachdem Sie den Ortskrankenkassen die Selbstverwaltung genommen haben, machen Sie jetzt auch die Bude bei den Hilfskassen zu...“67 Es fehlt auch in diesem Zusammenhang nicht der Hinweis auf das Sozialistengesetz. Im Verlaufe der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs wird die Sozialdemokratie mit dem damals schon angejahrten und häufig wiederholten Vorwurf konfrontiert, sie übe Terrorismus aus, ein Vorwurf der zu heftigen Kontroversen mit dem Sprecher der „Wirtschaftlichen Vereinigung“ führt und in dessen Verlauf in besonderer Weise deutlich wird, daß „Hilfskassen“ im Umfeld freigewerkschaftlicher Unterstützungsaktivitäten eine weiterhin große Rolle spielen.68 Die dritte Beratung des Gesetzentwurfs hingegen verläuft ohne jede Diskussion. In das mit „großer Mehrheit“ angenommene Gesetz werden schließlich Vorschriften integriert, die sich an Formulierungen in der RVO anlehnen und die in den Kommissionsverhandlungen angenommen worden waren.69 Sie sollen offensichtlich Bedenken wegen der politischen Stoßrichtung des Gesetzes zerstreuen und sind doch gleichzeitig geeignet, einen 62 Vgl.: RGBl. 1901, 139. 63 Vgl. auch: Pelke, Fritz: Das neue Recht der eingeschriebenen Hilfskassen. Münster in Westfalen o.J. (1913) (Diss. jur.), 15. 64 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode. II Session. Band 278. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1911, Aktenstück Nr. 683. 65 Vgl. neben der offiziellen Begründung in der Drucksache auch: Der Entwurf eines Gesetzes über die Aufhebung der Hilfskassen. In: Soziale Praxis, 20(1910/11)20, Sp. 618 - 619. 66 Vgl.: RGBl. 1911, 985. 67 Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode. II. Session. Band 266. Stenographische Berichte. Berlin 1911, 6299. 68 Vgl. die Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode. II. Session. Band 268. Stenographische Berichte. Berlin 1911, 8167 ff. 69 Vgl. in diesem Zusammenhang den Bericht der 16. Kommission, wiedergegeben als Drucksache Nr. 1162 in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. 12. Legislatur-Periode. II. Session 1909/11. Drucksachen. Berlin 1911, 3 ff.
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Einblick in befürchtete und wohl auch nicht unbekannte Repressionsstrategien zu geben. Zugleich geben die fraglichen Bestimmungen mit der Betonung des (noch) erlaubten, deutliche Hinweise auf das „Unerlaubte“. Der diese Bestimmungen beinhaltende § 4 führt aus: „Bei den Versicherungsvereinen ... gelten die religiöse oder politische Überzeugung, ihre Betätigung außerhalb der Dienstgeschäfte und die Ausübung des Vereinsrechts seitens der Mitglieder, des Vorstandes oder der Angestellten, soweit nicht gegen die Gesetze verstoßen wird, an sich nicht als Grund zur Versagung der Erlaubnis zum Geschäftsbetriebe... Eine Gefährdung der Interessen der Versicherten oder ein Widerspruch des Geschäftsbetriebs mit den guten Sitten im Sinne der §§ 64, 67 des Gesetzes über die privaten Versicherungsunternehmungen darf nicht aus der religiösen oder politischen Überzeugung, ihrer Betätigung außerhalb der Dienstgeschäfte und der Ausübung des Vereinsrechts seitens der Mitglieder, des Vorstandes oder der Angestellten, soweit nicht gegen die Gesetze verstoßen wird, gefolgert werden.“ Der eigentlich „sensationelle“ Aspekt der Februarerlasse von 1890 liegt nicht in der Ankündigung des weiteren Ausbaues der „Arbeiter-Versicherungsgesetzgebung“ und der hier analysierte „Ausbau“ kann natürlich nicht als die „getreue“ Erfüllung eines kaiserlichen Plans verstanden werden. Der „sensationelle“ Aspekt liegt im Jahre 1890 in der Ankündigung der Weiterführung der Arbeiterschutzgesetzgebung, in der Ankündigung eines Bruchs mit den sozialpolitischen Prioritäten der Ära Bismarcks. Es handelt sich um eine Ankündigung, die im Unterschied zur Arbeiterversicherungspolitik gegen das Herrenrecht der Unternehmer in ihren Betrieben gerichtet ist und bei den potentiell davon Betroffenen geradezu einen „Februarschock“ auslöst. Die „mageren Ergebnisse“ der Berliner Arbeiterschutzkonferenz, der Verzicht auf eine Neuthematisierung der Haftpflichtverschärfung, der heftige Widerstand, der diesem Projekt entgegenschlägt, verhindert nicht, daß im Wege einer „Prüfung“ der Vorschriften der Gewerbeordnung einige, teilweise durch zahlreiche Ausnahmen durchlöcherte „Fortschritte“ gemacht werden. Auf der Ebene der Reichsregierung stehen Name und Wirken des ehemaligen Oberpräsidenten der Rheinprovinz, des Hans Hermann Freiherr von Berlepsch für diese Politik des „Neuen Kurses“. Er wird noch von Bismarck für das Amt des preußischen Ministers für Handel und Gewerbe unter anderem wegen seiner im Bergarbeiterstreik gezeigten Befähigung zur Konfliktschlichtung vorgeschlagen und übernimmt sein neues Amt am 6. Februar 1890.70 Das erste Produkt der „Ära Berlepsch“ ist jedoch nicht das häufig als Arbeiterschutzgesetz bezeichnete „Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung“ vom 1. Juni 1891.71 Es wird vielmehr die Gewerbegerichtsbarkeit fortentwickelt;72 ein Projekt, das schon zuvor im preußischen Handelsministerium unter der Ressortleitung Bismarcks vorbereitet worden war und das daselbst von Theodor Lohmann beeinflußt wurde.73 Diesem Vorhaben folgt, ganz im Stile der Trennung der Statusgruppen der Arbeiter und Angestellten und Jahre nach dem Ende der „Ära Berlepsch“, 1904 eine Neuregelung der Kaufmannsgerichtsbarkeit. Diese Gesetze gehören in den Entstehungszusammenhang des Arbeitsgerichtsgesetzes und anderer sozialpolitischer Projekte der Weimarer Republik. Wegen ihrer wegweisenden Bedeutung werden sie mitsamt ihrer langen Vorgeschichte im Zusammenhang mit der Entwicklung der „demokratischen Sozialpolitik“ der Weimarer Republik 70 Vgl. zu seiner Biographie: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 10), 36 ff., 49. 71 Zur Gewerbeordnungsnovelle vgl.: RGBl. 1891, 261. 72 Vgl.: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 10), 84 ff. 73 Vgl. denselben, ebenda, 92 f.
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thematisiert.74 Von Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung der Arbeiterbewegung im Kaiserreich ist allerdings aber die Tatsache, daß sich sozialdemokratische Kandidaten mit großem Erfolg bemühen, die paritätisch besetzten Beisitzergremien der Gewerbegerichte zu „erobern“ und dabei den christlichen und liberalen Arbeitervertretern empfindliche Niederlagen beibringen.75 Das heißt, das Gewerbegerichtsgesetz eröffnet für die sozialistische Arbeiterbewegung erneut eine mit erheblichem Engagement ergriffene Möglichkeiten, in staatlichen Institutionen aktiv zu werden, natürlich ohne daß den Verbänden von Arbeit und Kapital schon in der Sozialrechtsordnung des Kaierreichs ein Mitwirkungsrecht zugestanden worden wäre. Von einer befürchteten durchgängigen „Klassenkampfjustiz“ sozialdemokratischer Beisitzer kann keine Rede sein.76 Diese Institutionen haben vielmehr erwartungsgemäß einen den Klassengegensatz „mäßigenden“ Einfluß. Dieser wird punktuell, im Einzelfall, auf dem „neutralen“ Boden des Rechts und in einem „geordneten Verfahren“ außerhalb des Betriebes „gelöst“. Die Arbeiterbeisitzer werden zur Beachtung rechtlicher Gesichtspunkte „erzogen“. Auch der sensationelle Aspekt der Februarerlasse, die Ankündigung der Weiterentwicklung des von Bismarck bekämpften Arbeiterschutzes, des erweiterten Eingriffes in die betrieblichen Herrschaftsverhältnisse, die gesetzliche Regelung der Produktionsverhältnisse, die im Grundsatz auch von der Sozialdemokratie geforderten Maßregeln zugunsten der Lage der „gesunden und tätigen“ Arbeiter haben, jenseits der bereits erwähnten Maßnahmen bzw. ministeriellen Vorstöße und des Kinderschutzgesetzes von 1839, eine lange Tradition. Vorläufer der aus den entsprechenden Staatsrats-, Bundesrats- und langen Reichstagsverhandlungen hervorgehenden, von der Sozialdemokratie wegen vielerlei Unzulänglichkeiten abgelehnten Gewerbeordnungsnovelle sind einmal Vorschriften der vorindustriellen Zeit: etwa Verbote von „Überschichten“ im Bergbau, Vorschriften über den Dienstaustritt, zur „Heiligung“ von Sonn- und Festtagen, Maximal- und Mindestlohnvorschriften.77 Dazu gehörten bestimmte Vorschriften des Geflechts zünftiger Regelungen der „alten Zeit“. Zu erwähnen sind Gewerbe- und Arbeiterschutzgesetzgebungen der Einzelstaaten, insbesondere Sachsens. Auch die liberale „Allgemeine Gewerbeordnung“ vom 17. Januar 1945 enthielt Arbeiterschutzvorschriften. Diese fanden sich auch in der Notverordnung vom 9. Februar 1849. Die „Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund“ vom 21. Juni 1869 faßte diese Vorschriften zusammen und trug zur Verallgemeinerung bei. Sie wurde als Reichsgewerbeordnung im Jahre 1878 reformiert und bildete so den unmittelbaren Vorläufer der Vorschriften in der Gewerbeordnungsnovelle von 1891. Schließlich sorgten auch entsprechende Diskussionen seit der Pauperismusliteratur und ausländische Beispiele dafür, daß, wie bei jeder Reform, von einer „historischen Nullstunde“, von einem „absoluten Neuanfang“, keinesfalls die Rede sein kann.78 Nicht nur der Wegfall des blockierenden Einflusses Bismarcks, nicht nur die Tatkraft des Freiherrn von Berlepsch und seiner Mitarbeiter, zu denen Theodor Lohmann gehört,
74 Vgl. Kapitel 2.2.3 des Band II dieser Sozialstaatsgeschichte. 75 Vgl.: Berlepsch, Hans Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 10), 112. 76 Vgl. denselben, ebenda, 114 f. 77 Daß diese Reformen in einem anderen sozialökonomischen und politischen Umfeld durchgeführt wurden, versteht sich. 78 Vgl. in diesem Zusammenhang die Überlegungen zu einer Theorie der Reform in: Greiffenhagen, Martin (Hg.): Zur Theorie der Reform. Entwürfe und Strategien. Heidelberg, Karlsruhe 1978, bes. 7 ff., 35 ff.
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sondern wiederum die „hochgehende sozialistische Bewegung“79 wirken sich förderlich auf ein Projekt aus, daß durch staatliche Rechtsnormen Willkürhandlungen, Übervorteilungen, Strategien krasser Ausbeutung und Ruinierung der Arbeitskraft ausschließen und damit auch Streikanlässe in Form einer empörenden Handhabung der Herrengewalt des Unternehmers in Wegfall bringen möchte. Die Novelle des Jahres 1891 regelt im direkten Anschluß an die bisher geltenden Rechtsvorschriften und an politische Initiativen aus der zweiten Hälfte der 1880er Jahre den Arbeiterschutz als Ergänzung zur Arbeiterversicherung. Die Hegemonie des kompensatorischen, versicherungsförmigen Zugriffs, der Abgeltung erlittener Gesundheitsschäden wird im Ergebnis nicht in Frage gestellt. Es wird aber teilweise erfolgreich versucht, neben der Arbeiterversicherung ein arbeitsweltbezogenes, präventionsorientiertes Maßnahmebündel von stärker ausformulierten Betriebs- bzw. Arbeiterschutzvorschriften zu präzisieren und anzuwenden. Die an sich schon „heikle“ Strategie des Arbeiterschutzes, die vom Ansatz her die Unternehmer auf die Anklagebank setzt und demonstriert, daß die soziale Klasse der abhängig Beschäftigten in den Händen des (Wirtschafts-)Bürgertums keineswegs durchgängig „gut“ aufgehoben ist, stößt an ihre vorläufigen Grenzen, als tiefgreifende und höchst umstrittene Maßnahmen im Zuge der Umsetzung der Gewerbeordnungsnovelle verwirklicht werden sollen. Dennoch ist das Ergebnis der Arbeiterschutzpolitik bemerkenswert und obwohl die Gewerbeordnungsnovelle vom 1. Juni 1891 ältere Tendenzen des Arbeitsschutzes fortsetzt, ist ihre Bedeutung doch unvergleichlich. Sie bildet für Jahrzehnte die Grundlage für staatliche Interventionen in die krankmachenden und lebensbedrohenden Zustände in den Fabrikationsstätten der damaligen Zeit. Von besonderer Bedeutung sind zunächst einmal die unter dem „Titel VII“ versammelten Vorschriften über gewerbliche Arbeiter (Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, „Betriebsbeamte“, Werkmeister, Techniker, Fabrikarbeiter), die sich, zahlreiche Ausnahmen zulassend, detailliert mit der Einschränkung bzw. dem Verbot von Arbeit an Sonn- und Festtagen beschäftigen und eine bereits bestehende Rechtstradition differenziert fortsetzen. Diese Vorschriften schränken den zu dieser Zeit bereits traditionellen, aber im radikalen Sinne schon lange nicht mehr geltenden Grundsatz ein, daß die Festlegung der Arbeitsbedingungen „Gegenstand freier Uebereinkunft“ sei (§ 105). Es folgen Vorschriften über das Arbeitsbuch für „minderjährige Personen“, über das Arbeitszeugnis, die Lohnzahlung, den Schulbesuch von Arbeitern unter achtzehn Jahren, über den Besuch des „Gottesdienstes“ usw.; auch hier werden Rechtstraditionen fortgesetzt, ausgestaltet und ergänzt. Es schließen sich disziplinierend gemeinte Vorschriften für „Gesellen und Gehülfen“, die Lehrlingsverhältnisse, die Verhältnisse der „Betriebsbeamten“, der Werkmeister und Techniker an. Von besonderer Bedeutung sind allgemeine Vorschriften zum Schutz vor „Betriebsgefahren“, zur „Trennung der Geschlechter“ zur „Aufrechterhaltung der guten Sitten und des Anstandes.“ Der Bundesrat kann Vorschriften erlassen, welchen Anforderungen bestimmte Anlagen genügen müssen. Soweit solche Vorschriften durch den Bundesrat nicht erlassen sind, können dieselben auch durch Anordnung der Landeszentralbehörden oder durch polizeiliche Verordnungen der hierzu berechtigten Behörden erlassen werden. In diesen Fällen sind die Vorstände der Berufsgenossenschaften oder ihre Sektionen gutachtlich zu hören. 79 Ein gutes Bild der 1890/91 „hochgehenden“, dann abflauenden, langfristig aber wieder ansteigenden Streikaktivitäten bietet die Streikstatistik bei: Tenfelde, Klaus, Volkmann, Heinrich (Hg.): Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. München 1981, 294 ff.
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Von besonderer Bedeutung sind natürlich die Verordnungen des Bundesrates, die in großer Zahl ergehen und im Reichsgesetzblatt bekannt gemacht werden. Diese Verordnungen, die selbst nicht ohne Vorläufer und Vorbilder sind, beziehen sich auf die Gewerbebereiche bzw. Betriebe, von denen erhebliche Lebens- und Gesundheitsgefahren ausgehen. Manchen „Wunsch“ offen lassend, betreffen sie nun die immer wieder angesprochenen krankmachenden Verhältnisse in der Erwerbswirtschaft. Orientiert an der „Bedeutung“ der nachwachsenden Generation, an der wichtigen reproduktiven Rolle der Frauen und sicher auch an traditionellen Rollen- und Familienbildern, werden „Knaben“ oder „jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen“ und Frauen ganz allgemein als besonders schutzbedürftig begriffen und es erfolgen branchenbezogene Beschäftigungsverbote und Beschäftigungseinschränkungen. Es werden Arbeits-, Ruhe- und Pausenzeiten festgelegt. Insbesondere für Gewerbe, die mit Giften und mit unzuträglichen Stäuben produzieren, werden Vorschriften über die Raumgröße, die Abluft, die Ventilation, die Reinigung der Betriebsstätten, die Abdichtung der Apparate, die Gesundheitsüberwachung usw. erlassen.80 In erschreckender Weise machen die Schutzvorschriften für Frauen und Jugendliche auch deutlich, was „normalen Männern“ in den „Giftbuden“ der damaligen Zeit auf dem Gebiete der Gesundheitsschädigung „stillschweigend“ zugemutet wird.81 Die Gewerbeordnungsnovelle vom 1. Juni 1891 läßt auch weitere spezielle Arbeiter- bzw. Arbeitsschutzbestimmungen des Bundesrates zu, deren Geltungsdauer allerdings begrenzt ist und die deshalb gegebenenfalls erneuert werden müssen und die aus diesem Anlaß auch ergänzt werden können.82 Das „Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung“ vom 1. Juni 1891 treibt auch den Prozeß der „Konstitutionalisierung“ der inneren Ordnung der Betriebe voran. Für die Fabriken, die in der Regel mindestens zwanzig Arbeiter beschäftigen, muß eine (übrigens damals schon recht verbreitete) „Arbeitsordnung“ erlassen werden, die bestimmten inhaltlichen Anforderungen zu genügen hat. Als Ansatz zu einer innerbetrieblichen „Mitbestimmungsregelung“ spricht die Gewerbeordnungsnovelle von 1891 im Zusammenhang mit der Arbeitsordnung „ständige Arbeiterausschüsse“ an, d.h. sie statuiert ein Äußerungsrecht der Arbeiter bzw. Arbeiterausschüsse in dieser Frage. Vorstellungen, die schon im Rahmen der Pauperismusdiskussion etwa von Robert von Mohl, von Johannes Alois Perthaler entwickelt wurden, eine „Partizipation“ der Arbeiter an der Regelung innerbetrieblicher Fragen, erfahren damit erstmals eine reichsgewerberechtliche Ausgestaltung.83 80 Vgl. als entsprechende Vorschriften aus der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts z.B. die „Bekanntmachung, betreffend Betriebe, in denen Maler-, Anstreicher-, Tüncher-, Weißbinder- oder Lackiererarbeiten ausgeführt werden“ vom 27. Juni 1905 (RGBl. 1905, 555); „Bekanntmachung, betreffend die Einrichtung und den Betrieb der Bleihütten“ vom 16. Juni 1905 (RGBl. 1905, 545); die gesundheitsgefährdeten „Chromatarbeiter“ betreffend vgl. die Bekanntmachung vom 16. Mai 1907 (RGBl. 1907, 233); eine umfassende Aufzählung der Bekanntmachungen und weitere Aspekte des Arbeiterschutzes findet sich zusammen mit einem Überblick über die Arbeiterschutzgesetzgebung zahlreicher ausländischer Staaten unter dem umfangreichen Stichwort „Arbeiterschutzgesetzgebung“ in: Conrad, J., Lexis, W., Elster, L., Loening, Edg. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Erster Band. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Jena 1909, 591 ff. 81 Mehr oder weniger kritisch gesehen als Verhinderung der Arbeitsmarktfreiheit, als Stabilisierung der traditionellen Familienstrukturen und als eine „verweigerte“ Gleichberechtigung wird die Arbeitsschutzgesetzgebung bzw. die gesamte Sozialpolitik heute aus der Sicht der „Frauenforschung“; vgl. den Beitrag von Karin Hausen in: Gerhard, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. München 1997, 713 - 758. 82 Vgl. z.B. die „Bekanntmachung, betreffend die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Glashütten“ vom 11. März 1892 (RGBl. 1892, 317) 83 Vgl. auch: Stegmann, Franz-Josef: Der soziale Katholizismus und die Mitbestimmung in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Jahre 1933. München, Paderborn, Wien 1974, 68ff.; vgl. desweiteren den historischen Aufriß bei: Teuteberg, Hans Jürgen: Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Tübingen 1961.
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Die schon bestehenden, von zahlreichen sozialreformerischen Vereinigungen und Unternehmerverbänden bereits seit einiger Zeit zur Verbreitung empfohlenen Ausschüsse (etwa auch in Form von Betriebskrankenkassenvorständen oder von Vorständen ähnlicher Betriebswohlfahrtseinrichtungen) finden eine gesetzliche Bestätigung. Diese Elemente eines „konstitutionellen Systems im Fabrikbetriebe“84, diese Maßregeln zur Verwandlung der „alten Despotie der Hauswirtschaft in eine öffentliche Anstalt“ (G. Schmoller), die als Instrumente der „Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ im zweiten Februarerlaß angedeutet sind, bleiben freiwillig. Konkret wird mit ihnen die Hoffnung verbunden, der Arbeiterschaft durch Teilnahme von Arbeitern an der „praktischen Verwaltung“ den „politisch-emanzipatorischen“ Impuls, die Neigung zum Streik zu nehmen.85 Diesem Ziel dienen darüber hinaus Maßregeln gegen den „Kontraktbruch“. Zahlreiche, insbesondere schwerindustrielle Unternehmer können sich aber zu einer derartigen Sicht der Ausschüsse nicht durchringen und stehen ihnen strikt ablehnend gegenüber.86 Mit den bereits angesprochenen Gesetzen und mit dem „sozialpolitischen Programm“ von 1890/91, das erhebliche Widerstände mobilisiert, dennoch einige Erweiterungen durch nachgeordnete administrative Verfügungen, durch weitere Novellen zur Gewerbeordnung vom 26. Juli 1897, vom 30. Juni 1900, vom 28. Dezember 1908, durch das „Gesetz über Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben“ vom 30. März 1903 und andere Gesetze und Maßnahmen erfährt, sind die Grenzen der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ beinahe erreicht. Zwar wären jenseits dieser Bereiche noch sozialpolitische Maßnahmen für den streikgeschüttelten Bergbau zu erwähnen (seit 1905 obligatorische Arbeiterausschüsse in Betrieben mit mehr als 100 Bergarbeitern), den der eine „kaiserliche“ Erlaß vom Februar 1890 zu „Musteranstalten“ entwickelt sehen wollte.87 Hinzuweisen wäre auch auf das „Hausarbeitsgesetz“ vom 20. Dezember 1911,88 ein „...Rahmengesetz mit Ermächtigungen, den Betriebs- und Gesundheitsschutz zu fördern,“89 und mit Bestimmungen, die den Lohnschutz betreffen. Es fehlt auch nicht an weiteren sozialpolitischen Bekanntmachungen. Eine weitergehende Analyse hätte darüber hinaus gerade bei Rechtsnormen, die gegen soziale, insbesondere betriebliche Herrschaftsverhältnisse und entsprechend autokratische Ansichten gesetzt sind, die Vollzugsdefizite, die Strategien des Umgehens und Verschleierns zu berücksichtigen, sie hätte den tatsächlichen Fortschritt des Arbeiterschutzes gegenüber dem, was auf dem „Papier“ steht, auszumessen.90 „Neuartige“ Formen sozialpolitischer Strategien werden nicht mehr realisiert. Vollzugsdefizite sind gerade auch für das „Hausarbeitsgesetz“ festzustellen, das mit seinem Inhalt zum „Türöffner“ für eine „andere“ sozialpolitische Zukunft hätte werden können, wären bestimmte Strategien noch im Kaiserreich umgesetzt worden. Aus diesem Grunde wird es an späterer Stelle, im Zusammenhang mit der „demokratischen Sozialpolitik“ der Weimarer Republik noch einmal angesprochen.
84 So der Titel der Schrift des Unternehmers Heinrich Freese aus dem Jahre 1900. Freese war als nichtstimmberechtigter Sachverständiger an den Verhandlungen des preußischen Staatsrats über das Arbeiterschutzgesetz beteiligt. 85 So: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 10), 304. 86 Weitere Details und wichtige Zusammenhänge können hier nicht wiedergegeben werden; vgl. dazu die vorzüglichen Ausführungen bei demselben, ebenda, 127 ff. 87 Vgl. dazu denselben, ebenda, 64 ff., 396 ff.; vgl. das „Gesetz, betreffend die Abänderung einzelner Bestimmungen des Allgemeinen Berggesetzes“ vom 14. Juli 1905( Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten, 1905, 307). 88 Vgl.: RGBl. 1911, 976. 89 Neuloh, Otto (Berab.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 17), 175. 90 Ansatzpunkte dazu finden sich verstreut bei: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“ ...a.a.O. (=Anm. 10).
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Dieser Befund beinhaltet auch, daß wesentliche Möglichkeiten integrativer Politik bis in das Kriegsgeschehen der Jahre 1914/18 überhaupt nicht ergriffen werden. Die sozialreformerische Diskussion jedoch geht weiter und weist fortlaufend auf erhebliche „Defizite“ auch der nachbismarckischen sozialpolitischen Entwicklung hin. Ausgehend von der Auffassung, daß Zwang und Gewalt zwar Erfolge erreichen und äußere Symtome treffen können, niemals aber Gesinnungen ändern können,91 weisen Stimmen aus der 1901 bis 1920 von v. Berlepsch geleiteten „Gesellschaft für Soziale Reform“92 aber auch aus anderen sozialreformerischen Vereinigungen darauf hin, daß dem Gleichberechtigungsstreben in der Arbeiterbewegung Raum gegeben werden müsse. Auf dem zwölften Evangelisch-sozialen Kongreß, abgehalten in Braunschweig vom 28. bis 30. Mai 190193, betont von Berlepsch in seinem Kongreßbeitrag: „...wirksame Sozialreform d.h. eine solche, die nicht nur die materielle Lage der Arbeiter bessert, sondern auch den Haß, das Mißtrauen, die Unversöhnlichkeit aus ihren Herzen nimmt, die die in vielen Herzen abgebrochenen Brücken zwischen ihnen und ihren Mitbürgern, dem Staat, der Nation, dem Vaterland, der Kirche wieder herstellt, kann nur und unbedingt nur unter dem Zeichen der Anerkennung der Gleichberechtigung der Arbeiter betrieben werden, wie sie der allerhöchste Erlaß vom Februar 1890 verheißt.“94 Eine derartige Zielperspektive und Integrationsmethode95, die immer auch mit Blick auf die nichtsozialistische Arbeiterbewegung formuliert wird, steht in ausgeprägtem Gegensatz zur insbesondere in Preußen, Sachsen und anderen nord- und mitteldeutschen Staaten sichtbaren Herrschaftspraxis der Zeit vor 1914. Des Kaisers Interesse hat sich schon bald von der Sozialpolitik als Herrschaftsmethode abgewendet. Bereits vor der Mitte der 1890er Jahre gerät er unter den Einfluß großindustrieller Kreise, vornehmlich unter den seines Freundes, des saarländischen Schwerindustriellen von Stumm-Halberg.96 Aus dem Jahre 1905 ist von ihm die bezeichnende Aussage überliefert: „Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig per Blutbad, und dann Krieg nach außen. Aber nicht vorher und nicht à tempo!“97 Daß sich nunmehr, nach der Überwindung der durch Bismarck ausgeprägten und garantierten Tabuzonen und Grenzen auf dem Gebiet der Sozialpolitik, neue Barrieren für die sozialpolitische Perspektiven eröffnen, die mit den Möglichkeiten einer „Gleichberechtigung“ und „Anerkennung“ der Arbeiter bzw. Arbeiterbewegung bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse argumentieren, und die von einer solchen „Emanzipation von oben“ entscheidende „Fortschritte“ auf dem Weg der Integration und Festigung des Kaiserreichs erwarten, kann kaum überraschen. Sie erklären sich einmal aus dem erheblichen Widerstand insbesondere großindustrieller Kreise gegen derartige Strategien. Zum anderen kann die Arbeiterbewegung ihre anschwellende parlamentarische Stellung auch nicht annähernd 91 Vgl.: Berlepsch, (Hans-Hermann) Freiherr von: Warum betreiben wir die soziale Reform? Jena 1903, 30. 92 Vgl. dazu: vom Bruch, Rüdiger: Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich. In: Derselbe (Hg.): „Weder Kommunismus noch Kapitalismus“ ...a.a.O.(=Anm.4), 61 - 179, hier: 130 ff. 93 Vgl. zu dieser Vereinigung: Schick, Manfred: Kulturprotestantismus und soziale Frage. Tübingen 1970, 76 ff. 94 von Berlepsch-Seebach: Soziale Entwicklungen im ersten Jahrzehnt nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes. In: Verhandlungen des zwölften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Braunschweig vom 28. bis 30. März 1901. Göttingen 1901, 92 - 122, hier: 114 f. 95 Später wiederholt von Berlepsch diese Ansichten in seiner Schrift: Sozialpolitische Erfahrungen und Erinnerungen. Mönchen-Gladbach 1925, 174. 96 Vgl. die Hinweise bei: Heyde, Ludwig: Abriss der Sozialpolitik. 12. Auflage. Heidelberg 1966, 43. 97 Reichskanzler Berhard von Bülow über die von Kaiser Wilhelm II. in seinem sogenannten Silvesterbrief vom 31. Dezember 1905 geäußerten Gedanken zur außen- und innenpolitischen Vorbereitung eines Krieges des Deutschen Reiches. Zit. aus: Herrschaftmethoden...a.a.O.(=Anm. 3), 95.
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in politischen Einfluß umsetzen. Bis zum Weltkrieg bleibt die Objektstellung und die Isolation der Sozialdemokratie auf Reichsebene beinahe vollständig erhalten. In immer neuen Anläufen und bei zunehmenden Schwierigkeiten werden auf der Ebene des Reichstags Koalitionen bzw. Blöcke gegen den Einfluß des „Umsturzes“ geschmiedet und antisozialistische Strategien ersonnen.98 Justiz, Polizei, Verwaltung, Kirche, Schule und Militär, Presse, Zeitschriftenvereine, Krieger- und Propagandavereine werden mit ihren jeweils spezifischen Mitteln durchgängig gegen den Einfluß der Sozialdemokratie mobilisiert.99 Vor diesem Hintergrund droht zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts (auch) auf dem Gebiet der staatlichen Sozialpolitik ein allgemeiner und umfassender „Stillstand“, wenn nicht gar ein Rückschritt. Eine ganz besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang eine Schrift von Ludwig Bernhard mit dem Titel „Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik.“100 Der unter skandalösen Umständen an die Berliner Universität berufene Ordinarius, der zuvor in aufsehenerregender Weise zum deutsch-polnischen Nationalitätenkampf und zur preußischen Polenpolitik Stellung bezogen hat, versucht in seiner Schrift den Nachweis der Schädlichkeit des „staatlichen Reglementierens“ in der „privaten Wirtschaft“. Bernhard greift die ausufernde Diskussion um die „Rentenneurose“ bzw. die „Rentensucht“ in der sozialversicherten Bevölkerung auf und beklagt die „Parteiherrschaft“ im Sozialstaat. Zwar seien die verschiedenen „Ämter der Arbeiter“ sorgfältig mit „Kautelen“ umgeben, die „Parteienherrschaft“ verhindern sollten, jedoch lehre die Praxis, „...daß die Parteipolitik fast immer und überall Mittel und Wege findet, sich einzuschleichen.“101 Dabei sei bekannt, daß die Ermöglichung der Teilnahme der Arbeiter an der Verwaltung sozialpolitischer Einrichtungen deshalb von der Regierung gefordert worden sei, weil man sich davon eine Abkehr der Arbeiter von der Sozialdemokratie erwartet habe.102 Bernhards erstmals 1912 veröffentlichte Schrift hat „...den begeisterten Beifall der in vorderer Linie gegen die Arbeiterbewegung im Kampfe stehenden Arbeitgeberverbandssyndici gefunden. Eine neue Zeit schien sich auf den deutschen Hochschulen anzubahnen. Der Einfluß Schmollers auf die Besetzung der Lehrstühle war gebrochen. Es wurde mit einer gewissen Plötzlichkeit fühlbar, daß die neue Generation vorwiegend weltwirtschaftlich oder werturteilsfrei-soziologisch orientiert war und den sozialpolitischen Fragen...zum Teil kühler... gegenüberstand...“103 Kühl und weltwirtschaftlich orientiert zeigt sich auch der damalige Leiter des für die Sozialpolitik zuständigen Reichsamts des Innern Clemens Delbrück bei seinem berühmten Auftritt am 20. Januar 1914 im Reichtag. Er verweist auf die „Reichsversicherungsordnung“ mit der die sozialpolitische Gesetzgebung zu einem gewissen Abschluß gelangt sei. Zwar spricht auch er noch unerledigte sozialpolitische Materien an, wie etwa die fehlende „gesetzliche Regelung des Tarifvertrags.“ Sodann prägt er das Sprachbild einer „verständi98 Grundlegend in diesem Zusammenhang: Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1974, hier besonders: 81 ff. 99 Vgl. etwa: Saul, Klaus: Der Staat und die „Mächte des Umsturzes“. Ein Beitrag zu den Methoden antisozialistischer Repression und Agitation vom Scheitern des Sozialistengesetzes bis zur Jahrhundertwende. In: Archiv für Sozialgeschichte, 12(1972), 293 - 350. 100 Vgl.: Bernhard, Ludwig: Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik. Dritte, unveränderte Auflage. Berlin 1913 (Erstauflage: 1912); vgl. auch die Ausführungen bei: Born, Karl Erich u.a. (Bearb.): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. IV. Abteilung. 4. Band. 3. Teil. Darmstadt 2002, LIV. 101 Bernhard, Ludwig: Unerwünschte Folgen...a.a.O.(=Anm. 100), 100. 102 Vgl. denselben, ebenda, 101. 103 Heyde, Ludwig: Abriss der Sozialpolitik. 9. umgearbeitete und ergänzte Auflage. Heidelberg 1949, 47.
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gen Sozialpolitik.“ Eine solche Sozialpolitik sei eine „Kraftquelle für das Deutsche Reich“, die man niemals ungestraft vernachlässigen dürfe. Unter einer „verständigen Sozialpolitik“ verstehe er eine Sozialpolitik, die auch dem Arbeitgeber dasjenige Maß von wirtschaftlicher und auch „moralischer Ellbogenfreiheit“ gebe, das notwendig sei, um die großen Aufgaben zu erfüllen, die „unsere Industrie bisher gelöst hat“ und in viel höherem Maß als bisher werde erfüllen müssen, „...wenn wir die führende Stellung in der Welt behalten wollen, die wir stolz sind augenblicklich inne zu haben... eine verständige Sozialpolitik muß sich in den Grenzen des wirtschaftlich Möglichen halten.“104 Die „Belastung“ der deutschen Wirtschaft durch die staatliche Sozialpolitik ist in diesen Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch außerhalb des Parlaments ein vieldiskutierter Gegenstand. Ein erster Blick in das Reichsgesetzblatt scheint den Eindruck von einem „Stillstand“ oder einem „gewissen“ Abschluß der staatlichen Sozialpolitik in den letzten Vorkriegsjahren nicht zu bestätigen. Die Zahl der sozialpolitischen Rechtsquellen schnellt in den Jahren 1911 bis zum August 1914 sogar in die Höhe. Sozialversicherungsabkommen105 zeugen davon, daß sich die unterschiedlichen nationalen Sozialstaaten auf spezifische Weise mit dem Auslandsbezug ihrer Versicherten auseinandersetzen. Es erfolgen zudem noch einige Bekanntmachungen des Bundesrates auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes. Sie schränken die Arbeit von Jugendlichen und von Arbeiterinnen in weiteren gesundheitsgefährdenden Branchen ein. Ganz wesentlich aber trägt die „Mammutaufgabe“ der Aus- und Durchführung der „Reichsversicherungsordnung“ und des „Angestelltenversicherungsgesetzes“ zu einer Häufung sozialpolitischer Rechtsetzungsakte in der Form zahlreicher Bekanntmachungen und einiger Verordnungen bei. Diese bieten inhaltlich jedoch „nichts Neues“ und unterstreichen auf diese Weise die sozialpolitische Stagnation in den letzen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Da der parlamentarische Beratungsprozeß der RVO und des AVG bewußt beschleunigt worden war, enthalten diese Gesetze vielerlei „Unklarheiten“, die nun im Nachgang „bearbeitet“ werden müssen, ein Verfahren, das die Ministerialverwaltung ein weiteres Mal erheblich belastet.106 Haben schon „vorwärtsweisende“ bürgerlich-sozialreformerische Strategien vor diesem Hintergrund kaum eine Chance, so gilt das erst recht für die vor allem von der Sozialdemokratie getragenen Vorstöße, vor dem Hintergrund wachsender sozialistischer Wahlerfolge, das Reichswahlrecht, das „gleiche“ Wahlrecht zu verallgemeinern. Vor allem die gewaltige sozialistische aber auch die bürgerlich-demokratische Wahlrechtsbewegung führt zwar zu Regierungsaktivitäten, das „unhaltbare“ Dreiklassenwahlrecht in Preußen aus abwieglerischer Motivation zu modifizieren,107 diese vor allem 1908 und 1910 sichtbaren Aktivitäten, die mit dem Wirken des Innenministers bzw. Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg verbunden sind, erweisen sich als völlig unzureichend. Diese gescheiterten Vorstöße hätten keineswegs zu einer verfassungsrechtlichen Gleichstellung der Ar104 Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. I. Session. Band 292. Stenographische Berichte. Berlin 1914, 6641. 105 Vgl. dazu schon den „Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und den Niederlanden über Unfallversicherung“ vom 27. August 1907 (RGBl. 1907, 763); vgl. darüber hinaus das „Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und Belgien über Unfallversicherung“ vom 6. Juli 1912 (RGBl. 1912, 23) sowie das „Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und dem Königreich Italien über Arbeiterversicherung“ vom 31. Juli 1912 (RGBl. 1912, 171). 106 Vgl.: Born, Karl Erich u.a. (Bearb.): Quellensammlung zur Geschichte...IV. Abteilung. 4. Band. 3. Teil... a.a.O.(=Anm. 100), LII. 107 Vgl.: Groh, Dieter: Negative Integration...a.a.O.(=Anm. 98), 128 ff.
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beiter mit den übrigen Bürgern der deutschen Monarchie geführt. An Schritte, das Regierungssystem durchgreifend zu parlamentarisieren und die extrakonstitutionelle Stellung des Monarchen abzuschaffen bzw. zur Republik überzugehen, ist nicht gedacht. Die sozialistische Gewerkschaftsbewegung unterliegt nach der Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes fortdauernder und erheblicher Repression. Kristallisationspunkte innerstaatlicher Gewaltausübung und einer Klassenjustiz ausgeprägten Charakters sind Streiks. Gerade der „Fall“ des Sozialistengesetzes wird zum Anlaß genommen, die Arbeiterbewegung um so entschiedener mit den Mitteln des „gemeinen Rechts“, des „jus commune“ zu bekämpfen.108 In Fortsetzung einer unseligen Tendenz (und sieht man von Ausnahmen ab) wird gegen gewerkschaftliche Streikbewegungen ein ganzes Ensemble von Maßnahmen angewendet, das nunmehr die Koalitionsfreiheit beinahe zur Farce werden läßt. Hervorgehobener Ansatzpunkt für die Repression ist weiterhin der § 153 der Gewerbeordnung. Durch eine exzessive Auslegung und Anwendung des §153 verbunden mit einer ebenso exzessiven Anwendung des Strafrechts, flankiert mitunter durch zivilrechtliche Beschränkungen und ergänzt durch eine entsprechende Handhabung des öffentlichen Vereins- und Versammlungsrechts, durch höchstrichterliche Gesetzesuminterpretationen, durch amtliche Verordnungen und durch die Außerachtlassung fundamentaler Rechtsprinzipien, kommt es weiterhin und fortgesetzt zu zahlreichen die Arbeiter empörenden Prozessen und harten Verurteilungen.109 Insbesondere in den ersten Jahren nach dem „Fall“ des Sozialistengesetzes, aber auch später, nach der Aufhebung des Verbindungsverbotes durch das Notgesetz vom 11. Dezember 1899110 und der wenig spürbaren Erleichterung der gewerkschaftlichen Organisation durch das mit reaktionären und restriktiven Kautelen versehene Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908,111 wird der § 153 der Gewerbeordnung in der Vorkriegszeit mehr und mehr zu einem „Ersatz-Sozialistengesetz“ umfunktioniert.112 Diese an sich schon deutliche Konturierung des Staatshandelns gegenüber der Arbeiterbewegung, diese Betonung des Klassencharakters des damaligen Staates wird dadurch verstärkt, daß es nicht an spektakulären Versuchen fehlt, die bestehenden Rechtsgrundlagen des staatlichen Kampfes gegen die Arbeiterbewegung drastisch zu verschärfen. Eine „Kontraktbruchnovelle“ aus den Jahren 1890/91 will in Erweiterung der Strafdrohung des §153 der Gewerbeordnung Gewerkschaftsfunktionäre mit Gefängnis nicht unter einem Jahr bedenken.113 Aus Anlaß des Attentats auf den fränzösischen Präsidenten Marie Francois Sadi 108 Vgl. den konzeptionellen Beitrag von: Schäffle, (Albert): Die Bekämpfung der Sozialdemokratie ohne Ausnahmegesetz. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 46 (1890)2, 201 - 287. 109 Grundlegend dazu: Schultze, Werner: Öffentliches Vereinigungsrecht im Kaiserreich - 1871 bis 1908 -. Ein Beitrag zur Handhabung des Vereins-, Versammlungs- und Koalitionsrechts gegenüber sozialdemokratischen Arbeitervereinigungen. Diss. jur. (MS.). Frankfurt a.M. 1973; zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Kontraktbruch Paragraph 124 b des Arbeiterschutzgesetzes von 1891, dessen Bedeutung freilich gering ist; vgl. dazu umfassend: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O. (=Anm. 10), 327 ff.; wertvolle Differenzierungen zum Thema „Klassenjustiz“ bietet: Schröder, Rainer: Die strafrechtliche Bewältigung der Streiks durch obergerichtliche Rechtsprechung zwischen 1870 und 1914. In: Archiv für Sozialgeschichte, 31 (1991), 85 - 102; vgl. als gründliche sozialhistorische Studie: Saul, Klaus: Staat, Industrie und Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Düsseldorf 1974. 110 Vgl.: RGBl. 1899, 699. 111 Vgl.: RGBl. 1908, 151. 112 Vgl. illustrativ aus der Sicht der betroffenen Gewerkschaft die Schrift von Legien, C.(arl): Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter in Theorie und Praxis. Denkschrift der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands. Hamburg 1899. 113 Vgl.: Schultze, Werner: Öffentliches Vereinigungsrecht...a.a.O.(=Anm. 109), 216 ff.; Quellen gerade zu diesen Fragen finden sich bei: Rassow, Peter, Born, Karl Erich (Hg.): Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutschland 1890 1914. Wiesbaden 1959.
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Carnot erfolgt vor dem Hintergrund von erneuten Staatsstreichplänen durch die Vorlage eines „Entwurfs eines Gesetzes betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs und des Gesetzes über die Presse“ (sog. Umsturzvorlage) am 5. Dezember 1894 ein weiterer vergeblicher Versuch mit neuen Rechtsgrundlagen noch einschneidender gegen die Sozialdemokratie vorgehen zu können. Der Reichstag läßt auch diesen Vorstoß scheitern.114 Nach wiederholten vergeblichen Anläufen auch auf dem vereins- und versammlungsrechtlichem Gebiet gegen die Arbeiterbewegung „voranzukommem“,115 erfolgt im Jahre 1899 die Vorlage des berüchtigten „Entwurfs eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses“.116 Diese „Zuchthausvorlage“ ist „...der schwerste und gleichzeitig letzte unmittelbare und großangelegte Angriff auf die Koalitionsfreiheit der Arbeiter durch die Regierungskreise.“117 Initiiert durch den großen Hamburger Hafenstreik von 1896, wird erneut der in § 153 der Gewerbeordnung festgeschriebene „Arbeitswilligenschutz“, der schon im Zuge der Arbeiterschutzgesetzgebung der Jahre 1890/91 verschärft werden sollte,118 zum Ausgangspunkt genommen. Der Entwurf wird, unter anderem in mehreren Kaiserreden frühzeitig angekündigt,119 am 26. Mai 1899 dem Reichstag vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf umgibt den Streik und sein Kernstück, die Herstellung und Erhaltung der Solidarität, mit derart vielen und drastischen Strafen, daß er bei Annahme einer weitgehenden Aufhebung und schweren Sanktionierung der Arbeiterbewegung gleichgekommen wäre.120 Er hätte die Arbeiter mit „gefesselten Armen“ endgültig den Unternehmern und bei einem Streik der Polizei, der Justiz und dem Militär ausgeliefert, sie „zur erbärmlichen Knechtschaft verurteilt“, er hätte, so die Gewerkschaftssicht, die Arbeiterbewegung „...für Ausübung ihrer natürlichsten Rechte mit Verbrechern auf eine Stufe...“ gestellt.121 Dieser Vorstoß, mit dem Namen des damaligen Staatssekretärs im Reichsamt des Innern, Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, verbunden,122 löst eine Welle der Entrüstung nicht nur in der sozialistischen Arbeiterbewegung aus. Die endgültige Diskreditierung des Staates als Klassenstaat wird befürchtet. Die „Zuchthausvorlage“ scheitert in der zweiten Lesung am 20. November 1899 endgültig im Reichstag.123 v. Posadowsky-Wehner nähert sich nach diesem Debakel der sozialreformerischen Herrschaftslinie und ist, obwohl auch er zu einer kategorialen Weiterentwicklung der staatlichen Sozialpolitik nicht beiträgt, als „großer Sozialpolitiker“ in die Historiographie eingegangen.124 So fallen zwar diese markanten Vorstöße einer Rückkehr zu einem extremen Repressionskurs den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag zum Opfer, der Zuchthaus- und Gefängniskurs, die Klassenjustiz mit ihren teilweise mehrjährigen Zuchthaus- und Gefängnis114 Vgl.: Schultze, Werner: Öffentliches Vereinigungsrecht...a.a.O.(=Anm. 109), 219 ff. 115 Vgl. denselben, ebenda, 222 ff. 116 Vgl. denselben, ebenda, 224 ff. 117 Derselbe, ebenda, 224. 118 Hierauf bezieht sich die Begründung des Gesetzes. Beides - Gesetzentwurf und Begründung - findet sich in: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 9(1899)22, 121 f. 119 Vgl.: Die Beseitigung des Koalitionsrechts in Sicht. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 8(1898)38, 241 - 242. 120 Vgl. ebenda, 241 f. 121 Vgl. die Argumentation ebenda, 242. 122 Vgl. zu seinem Lebenslauf: Jeserich, Kurt G. A., Neuhaus, Helmut (Hg.): Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648 - 1945. Stuttgart, Berlin, Köln 1991, 245 - 249. 123 Vgl.: Schultze, Werner: Öffentliches Vereinigungsrecht...a.a.O.(=Anm. 109), 234.; über ähnliche Vorstöße und Regelungen im Ausland informieren sich die Reichsbehörden fortlaufend; vgl.: Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (BA Potsdam) 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 1958, 1959,1960. 124 Vgl. etwa: Born, Karl Erich: Staat und Sozialpolitik...a.a.O. (=Anm. 16), 142 ff.
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strafen bleiben. Vom Auslaufen des Sozialistengesetzes bis 1912 werden von deutschen Gerichten allein gegen „im Dienste der Arbeiterbewegung tätige Personen“ 1.209 Jahre Gefängnis und 111 Jahre Zuchthaus verhängt.125 Nicht weniger bedrohend sind die antigewerkschaftlichen und antisozialdemokratischen „Abwehrmaßregeln“ vieler Unternehmer. Diese setzen sich weiterhin z.B. mit Hilfe von Verbandsbildungen, der Förderung der „gelben Arbeiterbewegung“, der Aussperrung, der Kündigung, mit „schwarzen Listen“, mit der Herbeischaffung von „Arbeitswilligen“, mit von ihnen beherrschten Arbeitsnachweisen, mit Betriebswohlfahrtseinrichtungen gegen das kollektive Aufbegehren und unerwünschte politische Aktivitäten zur Wehr.126 Das bis zu diesem Punkt gezeichnete Bild der begrenzten Weiterentwicklung staatlicher Sozialpolitik und des erheblichen repressiven Aufwands gegen die Arbeiterbewegung wird der Vielgestaltigkeit der Epoche seit dem Auslaufen des Sozialistengesetzes nicht gerecht. Neben diesem monolithisch wirkenden Repressions- und mitunter: Vernichtungswillen des Staates, der durch zahlreiche „beunruhigende“ Äußerungen prominenter Herrschaftsträger, durch Vorstöße, sich des Reichstagswahlrechts zu entledigen, durch Bürgerkriegsplanungen, durch einschlägige Polizeiverfügungen, durch Maßnahmen zur Eindämmung des gelehrten „Kathedersozialismus“ an den Universitäten127 usw. usf. noch unterstrichen werden könnte, neben der vorherrschenden politischen Praxis, hausen, trotz aller Bedrängnis, die um die Begriffe „Anerkennung“ und „Gleichberechtigung“ kreisenden vorwärtsweisenden integrativen Ansätze und es gibt auch eine integrative Praxis. Dort, wo die staatliche Sozialpolitik nicht „vorankommt“ und der Repressionskurs einen - stets bedrohten - Raum läßt, vollziehen sich theoretische und praktische sozialreformerische Entwicklungen, die der staatlichen Sozialpolitik im kaiserlichen Deutschland weit voraneilen und von größter Bedeutung für die sozialpolitische Zukunftsentwicklung werden. Schließlich ist auch das Staatshandeln widersprüchlich: „...Klassenjustiz gegen Streikende, aber auch Einigungsverhandlungen zur Beilegung von Arbeitskonflikten vor staatlichen Gewerbegerichten, der demonstrative Einsatz von Maschinengewehren gegen streikende Bergarbeiter in Mansfeld 1909 und im Ruhrgebiet 1912 und die erfolgreiche staatliche Vermittlung während der Bauarbeiteraussperrung 1910...“128 gehören „zusammen“. Wendet man den Blick weg vom Staat und den von ihm praktizierten Herrschaftsmethoden, so relativiert sich auch das Bild eines „Stillstands“. Die Kräfte, die einen evolutionären, reformerischen Weg in die Zukunft sehen und bevorzugen, gehören zu den kundigen Beobachtern der Arbeiterbewegung, die sich nicht vom äußeren „Schein“ sozialdemokratischer Wahl- und gewerkschaftlicher Organisationserfolge schrecken lassen. Ihr Interesse an einer „erschütterungsfreien“ Weiterentwicklung der „Societät“, an einem Einfluß auf die „Arbeitermassen“, läßt sie, nicht unähnlich der politischen Polizei, zu kundigen „Sachverständigen“ für die inneren Verhältnisse und die Aktionen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung werden. Nicht zuletzt suchen sie auch den direkten Kontakt zu dieser Bewe125 So eine Berechnung auf der Basis sozialdemokratischen Materials, zit. nach: Ritter, Gerhard A., Tenfelde, Klaus: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. Bonn 1992, 682 (Fußn.9). 126 Vgl. in diesem Zusammenhang den Beitrag von: Saul, Klaus: Staat, Gewerkschaften und Arbeitskampf im kaiserlichen Deutschland 1884 bis 1914. In: Tenfelde, Klaus, Volkmann, Heinrich (Hg.): Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland...a.a.O.(=Anm. 79), 209 - 236, sowie seine Schrift: Staat, Industrie und Arbeiterbewegung...a.a.O.(Anm. 109),51 ff. 127 Vgl. dazu z.B.: Bruch, Rüdiger vom: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890 - 1914). Husum 1980, 294ff. 128 Saul, Klaus: Staat...a.a.O. (=Anm. 109), 209.
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gung und haben über nichtsozialdemokratische, über christliche, konfessionelle, liberale und „nationale“ Arbeitnehmerorganisationen ein „Standbein“ in der „Welt der Arbeit“. Bezogen auf die Sozialdemokratie bildet der nun nicht mehr hintangehaltene gleichwohl durch den Repressionskurs gefährdete „Mauserungsprozeß“ einen hervorragenden Gegenstand der Diskussionen und von politisch-strategischen Überlegungen. Diese „Mauserung“, d.h. die alte mit aller Sozialreform verbundene Erwartung und Erscheinung des langsamen Aufgebens alternativer Gesellschaftsanalysen und -entwürfe sowie der revolutionären Gesinnungen und Bestrebungen, wird überall dort zur „Hoffnung“, wo sich der bedingungslose „Herr-im-Hause-Standpunkt“ in Verbindung mit einer stockreaktionären Grundhaltung nicht findet, bei Teilen des „modernen“ handwerklichen und industriellen Unternehmertums, in Teilen der Bürokratie, bei den Sozial- und Linksliberalen, bei gesellschaftspolitisch konservativ denkenden Kreisen, bei der christlichsozialen und sonstigen sozialreformerischen Bewegung. Diese, durch die bisherige staatliche Sozialpolitik keineswegs „zufriedengestellten“ Kreise, betätigen sich insbesondere nach der Jahrhundertwende als Kommentatoren und Interpreten der Erweichung von Klassenkampfpositionen, der „Aufgabe“ der marxistischen Weltanschauung und Lehre, des „internationalistischen“, „vaterlandslosen“, „pazifistischen Standpunkts“. Sie begrüßen die beobachtbare Hinwendung zu nationaler Denkweise und „Vaterlandsverteidigung“, zu den „vernünftigen“, „gemäßigten“, mit der „Gegenwartsgesellschaft“ und parlamentarischen Formen und Verfahren verträglichen Auffassungen.129 In der Tradition aller bisherigen Reformdiskussionen seit dem Vormärz stehend, beklagen sie den Repressionskurs der NachBismarck-Zeit unbeirrt als die Arbeiterbewegung letztlich stärkend und radikalisierend, mithin als „verfehlt“, mitunter auch als verspätet und nicht mehr möglich. Die „Umwandlung“ der Sozialdemokratie in eine Partei ohne „Klassenhaß“ und „Vernichtungskrieg“ gegen das Bestehende erscheint als lohnende Perspektive. Sie bekennen sich deshalb weiterhin und gerade jetzt zu einem „energischen“ Fortschreiten auf dem Weg einer „systemverträglichen“ Sozialreform130 und berufen sich dabei immer und immer wieder auf die Passage der Februarerlasse, die von einer „Gleichberechtigung“ und Beteiligung von Arbeitervertretern an der „Regelung gemeinsamer Angelegenheiten“ der Arbeitswelt handelt. Sie sehen dieses Versprechen weder durch die als unwirksam kritisierten Arbeiterausschüsse, noch durch die Errichtung der paritätisch besetzten Gewerbegerichte erfüllt. Auch die letztlich scheiternden Initiativen mit dem Ziel der Errichtung von Arbeits- bzw. Arbeiterkammern, die manche mit dieser Passage der „Februarerlasse“ in Verbindung bringen, kann ihr Verlangen nach konsequenter Sozialreform nicht stillen.131 129 Vgl. als Zeitzeugnis die Artikelserie: Wandlungen in der Sozialdemokratie. In: Soziale Praxis, 7(1898) Nr. 25, Sp. 641 - 646; Nr. 26, Sp. 667 - 672; Nr. 28, Sp.725 - 731; Nr. 29, Sp. 745 - 752; desweiteren z.B.: Borgius, W.: Der Kampf um den Klassencharakter in der Sozialdemokratie. In: Die Hilfe, 10(1904)12, 3-5; Martin, Lindsay: Die Nationalisierung der deutschen Sozialdemokratie. In: Die Gegenwart, 36(1907)37, 161 - 163; Heile, Wilhelm: Der Mannheimer Parteitag. In: Die Hilfe, 18(1912)41, 646 - 647; vgl. zusammenfassend mit zahlreichen weiteren Nachweisen: Kaulisch, Baldur: Auseinandersetzungen um die Taktik gegenüber der Arbeiterbewegung. Einige Aspekte der Beurteilung des Opportunismus durch die herrschende Klasse im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Geschichte, 15(1977), 289 - 327. 130 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den aus DDR-Sicht verfaßten Beitrag von: Fricke, Dieter: Bürgerliche Sozialreformer und deutsche Sozialdemokratie. Zu Briefen Werner Sombarts von 1899. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 23(1975), 929 - 945; aus der Sicht der Parteilinken vgl.: Die „deutsche Wissenschaft“ hinter den Arbeitern. In: Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke. Band 1. 1893 bis 1905. Erster Halbband. Berlin 1974, 767 - 790. 131 Vgl.: Born, Karl-Erich u.a. (Bearb.): Quellensammlung...IV. Abteilung. 4. Band. 3. Teil...a.a.O.(=Anm.100), LVI f.
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Nicht selten verbunden mit Parteispaltungs- und Konkurrenzgründungsabsichten und entsprechenden Initiativen, gehören sie teilweise zu den Kräften, die sich eine Überwindung des Klassenwahlrechts vorstellen können und es fehlt nicht an Spekulationen über neuartige Zukunftsmehrheiten im Reichstag unter Einschluß einer natürlich weiter „gemauserten“ Sozialdemokratie. Durch den „Fehlschlag“ des Sozialistengesetzes belehrt und durch die Differenzierung und „Mäßigung“ der sozialdemokratischen Bewegung ermutigt, ist ihnen, bei allen Auffassungsunterschieden, die Sozialreform „Waffe und Hoffnung“132 im Rahmen einer Strategie des gerade jetzt zu beschleunigenden „Identitätsverlusts“ dieser Bewegung. Eine derartige Strategie setzt immer auch eine schon bei der Arbeiterschutzgesetzgebung des „Neuen Kurses“ beobachtbare graduelle Annäherung an sozialpolitische „Gegenwartsforderungen“ und Praktiken der Arbeiterbewegung voraus. Angestrebt wird ein Anknüpfen an reformerische Elemente des freigewerkschaftlich-sozialdemokratischen Bewußtseins und die Einschmelzung in eine bürgerlich-sozialreformerische Konzeption bzw. Ideologie. Erleichtert wird diese Annäherung durch die „Mauserung“, d.h. die partielle Aufgabe einer „proletarischen Klassenlinie“, von Emanzipations-, Absonderungs-, Selbsthilfe-, Machtgewinnungs- und Solidaritätsbildungszielen auf diesem Gebiet durch die Arbeiterbewegung selbst. Als Beispiel sei auf das „große Fehlstück“ der Arbeiterversicherungspolitik, auf das Gebiet der schon damals vieldiskutierten Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenunterstützung hingewiesen.133 In buntscheckiger und, rein technisch betrachtet, unzureichender Form existieren der Arbeitsvermittlung dienende Arbeitsnachweise um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Trägerschaft vor allem von Innungen, Gewerbe- und Fabrikantenvereinen, landwirtschaftlichen Vereinen, gemischten (von Unternehmern und Arbeitern gebildeten) Vereinen, von religiösen Vereinen, gemeinnützigen und wohltätigen Vereinen, von Gemeinde- und Provinzialverbänden, von Gewerkschaften und bei Privatherbergen.134 Diese Vermittlungsaktivitäten, die in Preußen einmal durch die Gesindeordnung vom 8. November 1810 geregelt waren, wurden durch die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 für „frei“ erklärt.135 Das „Stellenvermittlergesetz“ vom 2. Juni 1910136 unterwirft die Vermittlung von Arbeitskräften zahlreichen Bestimmungen. Diese sollen vor allem schwerste „Mißbräuche“ ausschließen. Dazu zählen namentlich hohe, mitunter „ungeheure“ Provisionen und Nebengeschäfte der verschiedensten Art sowie „Nebenabsichten“ im Zuge der Konflikte zwischen Arbeit und Kapital. Zudem zieht das Gewerbe der Stellenvermittlung offensichtlich „gescheiterte“ und unzuverlässige Gewerbetreibende geradezu magisch an. Vor diesem Hintergrund erscheint freigewerkschaftlichen Kräften schon damals eine Vereinheitlichung, Verstaatlichung, paritätische Verwaltung und „gemeinnützige“ Ausgestaltung der Arbeitsvermittlung als vorstellbar. Diese und andere Aspekte der „Stellenver-
132 Vgl.: Berlepsch, (Hans Hermann) Freiherr von: Warum...a.a.O.(=Anm. 91), 30. 133 Einen lesenswerten Überblick über die historische Entwicklung gibt: Uhlig, Otto: Arbeit - amtlich angeboten. Der Mensch auf seinem Markt. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970; vgl. als ältere Arbeit: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenversicherung in Deutschland. Teil I. München 1949. 134 Vgl. etwa: Hüber, Reinhard: Arbeitslosenunterstützung der Gewerkschaften. In: Heyde, Ludwig (Hg.): Internationales Handbuch des Gewerkschaftswesens. 1. Band. Berlin 1931, 106-116.; vgl. als neuere Untersuchung: Schönhoven, Klaus: Selbsthilfe als Form von Solidarität. Das gewerkschaftliche Unterstützungswesen im Deutschen Kaiserreich bis 1914. In: Archiv für Sozialgeschichte, 20(1980), 149-193. 135 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 17), 218 f. 136 Vgl.: RGBl. 1910, 860.
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mittlung“ gehören in die Vorgeschichte der Neu- und Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in der Weimarer Republik und werden an gegebener Stelle wieder aufgegriffen.137 Dieses Beispiel der Erweichung der Linie einer „radikalen Sozialpolitik“ gibt den Blick frei auf die Gewerkschaftsbewegung und damit auf Organisationen, an die Teile der sozialreformerischen bürgerlichen Kräfte beinahe schon euphorische Hoffnungen knüpfen. Diese Hoffnungen beziehen sich nicht nur auf die nichtsozialistischen sondern auch auf die Freien Gewerkschaften. Diese werden häufig genug auf Kongressen und in Schriften der „Utopisterei“ und der „Unvernunft“ der politischen Arbeiterbewegung entgegengesetzt. An die Freien Gewerkschaften knüpft sich die Erwartung, daß sie „...Motor, Stütze und Garant des Umbildungsprozesses innerhalb der SPD...“ darstellen könnten.138 Ein erheblicher Teil dieser Hoffnungen auf „reformerische Überwindung“ der Klassenspaltung, des gestörten Verhältnisses zwischen den beiden großen, „entgegengesetzten“ Gesellschaftsklassen, richtet sich ausgerechnet auf die Praxis, die im Zuge des Zuchthaus- und Gefängniskurses teilweise mit erheblicher Repression bedacht wird: auf Gewerkschaftsaktivitäten einschließlich des Streikgeschehens mit dem Ziel der Verbesserung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, des Schutzes vor Lohnunterbietung, vor Überfüllung des Arbeitsmarktes (etwa durch „Lehrlingszüchterei“), der „Statussicherung“. Dieses sich aus dem traditionellen Unterschichtenprotest herausschälende Konfliktgeschehen, daß vor allem in der Wahrnehmung der Zeitgenossen immer auch überschießende, die politische und ökonomische Grundordnung „störende“ Elemente kennt, wird insbesondere nach der Jahrhundertwende zunehmend mit dem Ziel verbunden, das Verhandlungsbzw. Konfliktergebnis in einem (Arbeits-) Tarifvertrag zu fixieren. Unübersehbar ist die sich herausbildende Tendenz, die Gewerkschaftsaktivitäten aller Richtungen auf dieses Ziel hin zu rationalisieren und die Gefährdung der Gewerkschaftsorganisation auf ein „vernünftiges“ Maß zu reduzieren. Ausgehend von den Buchdruckern als Pionieren der Tarifpolitik seit 1848139 haben sich Tarifvertäge über die Bauindustrie bis 1914 mit zunehmender Geschwindigkeit auch auf bestimmte andere Gewerbezweige ausgedehnt, der im Kaiserreich garnicht mehr zustandekommenden „begleitenden“ Gesetzgebung weit vorauseilend. Die „Tarifdichte“ ist unterschiedlich hoch. Im Jahre 1909 wird vermutet, daß in München schon 60 - 70 % der gesamten Arbeiterschaft Tarifverträgen unterstehen. Insgesamt sind im Deutschen Reich im Jahre 1913 für 13,2 % aller Arbeiter Tarifverträge abgeschlossen.140 In den Freien Gewerkschaften sind die Tarifverträge mit ihren Begleiterscheinungen lange umstritten. Sie gelten „zielbewußten Marxisten“ als „Verrat“ am „Dogma“ vom Klassenkampf, lediglich als „zeitweiliger Waffenstillstand im Klassenkampf“ sind sie akzeptabel. Ein Paktieren mit dem Kapital, eine wechselseitige Anerkennung und der mit den Tarifverträgen typischerweise einhergehende zeitliche Streikverzicht, gelten als mehr oder
137 Vgl. die Ausführungen zum Ersten Weltkrieg und das Kapitel 2.2.4 im zweiten Band. 138 Vgl.: Ratz, Ursula: Sozialreform und Arbeiterschaft. Berlin 1980, 185; es sind dies Hoffnungen, die in den Freien Gewerkschaften zu erheblichen Irritationen führen und vor 1914 zusammen mit anderen Faktoren eine weitgehendere Annäherung an die „Gesellschaft für Soziale Reform“ verhindern. 139 Vgl. hierzu: Ullmann, Peter: Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914. Frankfurt a.M., Bern, Las Vegas 1977, 23 ff. 140 Vgl. denselben, ebenda, 98, sowie: Prévôt, René: Der Tarifvertrag in München. In: Die Hilfe, 15(1909)16, 247. Zur Rationalisierung des Konfliktverhaltens vgl.: Volkmann, Heinrich: Organisation und Konflikt. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und die Entwicklung des Arbeitskonflikts im späten Kaiserreich. In: Conze, Werner, Engelhardt, Ulrich (Hg.): Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Stuttgart 1979, 422-438.
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weniger unannehmbar.141 Diese Verfahrensweise wird als Gegenteil der „Aufhebung des Lohnsystems“ und der Erkämpfung der „sozialistischen Gesellschaft“ kritisiert. Diese Position befindet sich jedoch auf verlorenem Posten. Mit übergroßer Mehrheit wird auf dem Stuttgarter Gewerkschaftskongreß, der vom 8. bis zum 13. Mai 1899 tagt, der Tarifvertrag als Mittel einer pragmatischen, reformorientierten Gewerkschaftspolitik akzeptiert.142 Die Hirsch-Dunckerschen und die zwischenzeitlich gegründeten Christlichen Gewerkschaften bejahen Tarifverträge von vornherein als Mittel möglichst friedlichen Interessenausgleichs. Aus dem Gründungsaufruf der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine von 1868 stammt schließlich der Wahlspruch und die Forderung nach „Gleichberechtigung“, nach „Vereinbarung“ und „Schiedsgerichten“.143 Die große Verbreitung der Tarifverträge insbesondere nach der Jahrhundertwende läßt sich nicht nur aus der Stärke der reformorientierten Arbeiterbewegung erklären. Sie resultiert auch daraus, daß bestimmte Unternehmergruppen in den Tarifverträgen eine Förderung ihrer Interessen sehen: kampflose Tarifbewegungen, Streikverzicht während der Laufzeit, Begrenzung der „Schmutz-“ bzw. Preiskonkurrenz durch Verallgemeinerung der Lohnkostenstandards, Kalkulierbarkeit der Betriebsabläufe, geregelte Verfahren der tarifpolitischen Konsensfindung und Tarifüberwachung, größere Akzeptanz für Regelungen, die unter Mitwirkung der Arbeitervertreter zustandegekommen sind.144 Während es dementsprechend schon früh durchaus bejahende Stimmen, wie etwa aus dem tariffreundlichen Deutschen Buchdrucker-Verein gibt, fehlt es nicht an kritischen Stellungnahmen, die eine „Unflexibilität“, die Aufhebung der unternehmerischen Dispositionsfreiheit, eine „Gleichmacherei“, eine „Behinderung des technischen und organisatorischen Fortschritts“ beklagen, ohne daß eine völlig einheitliche ablehnende Linie sichtbar wird. Am eindeutigsten negativ äußert sich der „Centralverband Deutscher Industrieller“ und die mit ihm verflochtene ebenfalls großindustriell beherrschte damals tariffeindliche „Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände.“145 Bei den diesen Verbänden angehörenden Unternehmen finden diese „modernen“ Formen der „Klassenbeziehungen“ auch keine Verbreitung. Insgesamt ergibt sich folgendes Bild: 146
141 Vgl. relativ detailliert dazu: Ullmann, Peter: Tarifverträge ...a.a.O.(=Anm. 139), 139 ff.; vgl. auch: Zimmermann, Waldemar: Tarifvertrag. In: Conrad, J., Elster, L., Lexis, W., Loening, Edg. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Siebenter Band. Jena 1911, 1094 - 1133, hier: 1103; vgl. als frühe bejahende und rechtfertigende Stellungnahme aus dem freigewerkschaftlichen Bereich: Tarife und Tarifgemeinschaft im gewerkschaftlichen Kampfe. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 7(1897)22, 121 - 123. 142 Vgl. Ullmann, Peter: Tarifverträge...a.a.O.(=Anm. 139), 146. 143 Vgl. denselben, ebenda, 153ff. 144 Differenzierter: ebenda, 159. 145 Vgl. ebenda, 187 ff. 146 Vgl.: Imle, Fanny: Klassenkampf oder Zusammenwirken der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen zur Hebung der Gewerbe. In: Monatsschrift für christliche Sozialreform, 28(1906), 377-388. Zu den folgenden Zahlen vgl. Reichs-Arbeitsblatt, 12(1914)1, 62; 16(1918)4, 301. Diese Statistik zieht ab 1912 die von verschiedenen Verbänden mit demselben Arbeitgeber geschlossenen Tarifverträge in je eine Tarifgemeinschaft zusammen, um so Doppelzählungen der Betriebe und erfaßten Personen zu vermeiden.
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Tabelle 4: Die Entwicklung der Tarifverträge in den Jahren von 1907 - 1914 Bestand am Jahresende
Tarifverträge Tarifgemeinsch.
Betriebe
Personen
1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914
5.324 5.671 6.578 8.293 10.520 10.739 10.885 10.840
111.050 120.401 137.214 173.727 183.232 159.930 143.088 143.650
974.564 1.026.435 1.107.478 1.361.086 1.552.827 1.574.285 1.398.597 1.395.723
Nur wenn man berücksichtigt, daß diese Form der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, daß das Erstreben eines Tarifvertrages ein Projekt ist, in dem beide Seiten eine Förderung ihrer Interessen sehen können, kann man die schnelle Ausbreitung und die große Bedeutung verstehen, die diese Form der Regelung der Klassenbeziehungen zunächst vor allem im handwerklich-kleingewerblichen Bereich erlangt. Angesichts der beschriebenen Gewerkschaftspraxis, der Stärke dieser Bewegung und um den Klassenhaß zu tilgen, wird von dem überwiegenden Teil der bürgerlichen Sozialreform die Frage, ob Gewerkschaften als Strukturelemente einer zeitgemäßen Arbeitsverfassung eine integrative Bedeutung haben und unverzichtbare Mittel der sozialen und kulturellen „Hebung“ der Arbeiter sind, mit einem „Ja“ beantwortet. Selbst beunruhigende Erscheinungen wie die „Parallelität“ von russischer Revolution (1905) und höchsten Streikaktivitäten im Deutschen Reich können daran grundsätzlich nichts ändern, das Bild von den Gewerkschaften als „Hydra der Revolution“ verblaßt in diesen Kreisen. Diese Haltung insbesondere aus dem späten Kaiserreich kündigt sich schon im Stichwort „Strike“ in Hermann Wageners Staats- und Gesellschafts-Lexikon von 1865 an. Dort ist mit Blick auf das im Konfliktgeschehen und in der Konfliktregelung vorangeschrittene England von dem mäßigenden Einfluß der Koalitionsfreiheit und der Gewerkschaftstätigkeit die Rede.147 Auf der Gründungsversammlung des „Verein für Socialpolitik“ am 6. und 7. Oktober 1872 äußert sich Gustav Schmoller, allerdings mit Blick auf die (Hirsch-Dunckerschen) Gewerkvereine, positiv zur Koalitionsfreiheit und zu „gut“ organisierten Gewerkvereinen „unter tüchtigen und anständigen Führern.“ Durch Organisation des „Arbeiterstandes“ und des „Fabrikantenstandes“ könne man die massenhaften unüberlegten „Strikes“ beseitigen, es müßten „dauernde Verbände mit höheren Zwecken“ sich bilden, „...statt socialdemokratischer Strikevereine müssen die Gewerkvereine die Arbeiter um ihre Fahne sammeln.“148 Der sozialliberal orientierte Lujo Brentano, der in seinem 1871/72 erscheinenden Werk über die englischen Gewerkvereine, deren „conservativen Charakter“ und deren Resistenz gegen jegliche „Utopien“ und Glücksverheißungen er ausdrücklich lobt,149 einen fundierten 147 Stichwort: Strike. In: Wagener, Hermann (Hg.): Staats- und Gesellschafts-Lexikon. Zwanzigster Band. Berlin 1865, 109 - 115, hier: 112. 148 Schmoller, G.(ustav): Arbeitseinstellungen und Gewerkvereine. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 19(1872), 293 - 320, hier: 305. 149 Vgl.: Brentano, Lujo: Die Arbeitergilden der Gegenwart. 2 Bände. Leipzig 1871/72.
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Einblick in das Geschehen im Mutterland der Industrialisierung bietet, wird, unter Einbeziehung der Freien Gewerkschaften, aus ähnlicher Motivation zu einem Verfechter der Anerkennung der „Gleichberechtigung“ der Arbeiterorganisationen und er wird mit seinen Ansichten auch in Kreisen der „sozialistischen Arbeiterwelt“ zustimmend erwähnt.150 Die bald massenhafte Fortbildung des individuellen freien Arbeitsvertrags durch Tarifverträge,151 die Herstellung von, wie es in Kreisen der Sozialreform heißt, „wirklicher Gleichberechtigung“, die Überwindung der Machtlosigkeit des vereinzelten Arbeiters durch das kollektive Aushandeln der Lohn- und Arbeitsbedingungen, wird nach der Jahrhundertwende Gegenstand intensiver und auch „positiv“ ausgerichteter rechtswissenschaftlicher Bemühungen152 und sogar vereinzelter „vorwärtsweisender“ Rechtsprechung. Aus der Überzeugung heraus, daß „die Aera des freien Arbeitsvertrages naturgemäß den Kulminationspunkt der Streiktendenz“ bildet,153 aus ihrer konfliktvermeidenden oder konfliktbeendenden Funktion heraus, geraten die Tarifverträge aus sozialreformerischer Sicht, trotz des im späten Kaiserreich hochgehenden Streikgeschehens, zu „gewerblichen Friedensdokumenten.“154 Die „soziale Frage“ erscheint mitunter beinahe schon im Selbstlauf der Organisierung der Arbeitsmarktparteien und durch ihre vernünftige, „gleichberechtigte“ Kooperation lösbar, wenn nur nicht der hinhaltende Widerstand bestimmter Industriellenkreise, der Repressionskurs und die Verweigerung der staatlichen Anerkennung und der „Gestaltung“ der Tarifverträge und der sie tragenden Organisationen gewesen wäre155. Die Gewerkschaften werden geradezu als Instrumente der Disziplinierung der „arbeitenden Massen“ und der Kontrolle der Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital betrachtet. Das immer wieder erwähnte englische Beispiel, aber auch in Deutschland beobachtbare zahlreiche konfliktfreie „Tarifbewegungen“, „friedliche Vergleiche“ im Rahmen „geordneter (Einigungs- und Schlichtungs-)Verfahren“, das Abklingen des „Hasses“, die „Achtung gegenseitigen Rechtes“ geben Anlaß zu „euphorischen“ sozialreformerischen Hoffnungen und Entwürfen. Neben der Arbeiterversicherung und dem Arbeiterschutz, neben den beiden Hauptgebieten der die Autorität des Betriebsunternehmers nicht erschütternden, neben der in diesem Sinne „nichtdemokratischen“ Arbeiterpolitik, gerät die Ausbildung eines „erzieherischen“, „zähmenden“, möglichst konfliktminimierenden und regulierenden Berufsvereins-, Koalitions-, Tarifvertrags- oder Arbeitsrechts geradezu zu einem unverzichtbaren und besonders 150 Vgl. z.B. die zahlreichen Hinweise auf sozialreformerische Autoren, besonders die Hinweise auf Lujo Brentano bei: Legien, C.(arl): Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter ...a.a.O.(=Anm. 112), 4 ff.; das allmähliche Schwinden der Militanz und die Zunahme streikloser Tarifbewegungen im Zuge des Organisationsaufbaues wird auch belegt von: Volkmann, Heinrich: Modernisierung des Arbeitskampfes? Zum Formwandel von Streik und Aussperrung in Deutschland 1864 - 1975. In: Kaelble, Hartmut u.a. (Hg.): Probleme der Modernisierung in Deutschland. 2. Auflage. Opladen 1979, 110 - 170. 151 Vgl. in diesem Zusammenhang: Brentano, Lujo: Über Arbeitseinstellungen und Fortbildung des Arbeitsvertrages. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik. Band XLV. Leipzig 1890, IX - LXXVIII. 152 Eine juristische Sichtweise und die entsprechende Literatur bietet: Oertmann, Paul: Zur Lehre vom Tarifvertrag. In: Zeitschrift für Socialwissenschaft, 10(1907), 1 - 29; im Jahre 1908 befaßt sich der 29. Deutsche Juristentag mit der Tarifvertragsfrage; vgl.: Ramm, Thilo: Die Arbeitsverfassung des Kaiserreichs. In: Triffterer, Otto, Zezschwitz, Friedrich von (Hg.): Festschrift für Walter Mallmann. Baden-Baden 1978, 191 - 211, hier 191 (Fußn.2); vgl. auch: Zimmermann, Waldemar: Rechtsfragen des Arbeitsvertrags. Jena 1913 (=Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform, Heft 42/43). 153 Lanske, Eugen: Streik und Sozialpolitik. In: Monatsschrift für Christliche Sozialreform, 29(1907), 540 - 549, hier: 543. 154 So die beachtenswerte Schrift: Imle, Fanny: Gewerbliche Friedensdokumente. Jena 1905. 155 Vgl. die Schlußbetrachtung bei derselben, ebenda, 566.
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erfolgversprechenden „dritten Schritt“ sozialreformerischer Konzeptionen und Forderungen.156 Als eine Form der Selbsthilfe und „paritätischen Mitbestimmung“ über die Lohnund Arbeitsbedingungen, möglicherweise einschließlich des Arbeitsschutzes und betrieblicher Wohlfahrtseinrichtungen, handelt es sich um die bedeutendste politische Herausforderung an den „uneinsichtigen“, vor allem in der Schwerindustrie verbreiteten, auf „Autorität, Zucht und Disziplin“ bauenden absoluten „Herr-im-Hause-Standpunkt“. Unter der Bedingung einer mangelhaften „Synchronisierung“ der gesellschaftlichen und verfassungspolitischen Entwicklung einschließlich des vorherrschenden großindustriell-junkerlichen Interessenkartells scheitert in dieser Vorkriegszeit ein substantieller weiterer „Fortschritt“ der Sozialpolitik. Um so erstaunlicher ist die Tatsache, daß sich im „Hausarbeitsgesetz“ vom 20. Dezember 1911 der Hinweis findet, dort vorgesehene „Fachausschüsse“ hätten u.a. „...Vorschläge für die Vereinbarung angemessener Entgelte zu machen, ...auch sonst den Abschluß von Lohnabkommen oder Tarifverträgen zu fördern.“ Bis zum Ende des Kaiserreichs bleiben diese Bestimmungen bekanntlich „reine Theorie.“ Im „vorstaatlichen Raum“ aber haben die Gewerkschaften in bestimmten Gewerbebereichen schon lange vor 1914 ihre „Anerkennung“ und „Gleichberechtigung“ bzw. „Parität“ erreicht, haben sie mit der Schaffung zahlreicher Verfahren, mit Schieds-, Einigungs- und Überwachungsinstitutionen eine von der Arbeiterbewegung selbst ausgehende „Institutionalisierung des Klassenkonflikts“ (Th. Geiger) durchgesetzt. Die Regierung, die diesen Schritt noch nicht nachvollzieht und „gestaltet“, bleibt durch ständige Beobachtung, statistische Bemühungen, vereinzelte schlichtende Tätigkeit auf Fühlung. Die massenhafte „Umwandlung“ des individuellen, „freien“ Arbeitsvertrags, die gleichzeitig immer auch eine „Umfundamentierung“ der Arbeiterversicherung und des Lebensschicksals der Arbeiter und ihrer Familien beinhaltet,157 dieses Abrücken vom einseitigen Diktat der Lohn- und Arbeitsbedingungen als Ausfluß des Herrenrechts des Unternehmers, wird nicht nur durch die gewerkschaftsfeindlichen Rahmenbedingungen, sondern auch durch den vorhandenen bzw. unterstellten „Revolutionarismus“ in den Freien Gewerkschaften zurückgehalten. Tatsächlich sind die Elemente der Rohheit, der Gewalt, der Unberechenbarkeit, des Bedrohlichen, des „Umstürzlerischen“ im Arbeitskampf noch keineswegs erloschen. Unter den Bedingungen des Kaiserreichs nach 1890 haben sich die Gewerkschaften noch nicht samt und sonders zu stabilen und verläßlichen Organisationen entwickelt, die sich als Mittler zwischen Arbeit und Kapital an Verträge halten, gegenüber den Mitgliedern Erziehungs-, Ordnungs- und Führungsfunktionen übernehmen können und den Streik als „Ultima ratio“ betrachten, auch wenn Carl Legien dieses Bild der Gewerkschaftsbewegung schon 1899 skizzieren möchte.158
156 Insbesondere hat sich die „Gesellschaft für Soziale Reform“ diesem Projekt verschrieben; vgl. Pkt. 1, I, b der Satzung dieser Vereinigung, abgedruckt z.B. bei: Ratz, Ursula: Sozialreform...a.a.O.(=Anm. 138), 263. Zum „antidemokratischen“ Gehalt der Vorkriegssozialpolitik vgl. den lesenswerten kurzgefaßten Beitrag von: Brentano, Lujo: Der Geist der deutschen Sozialpolitik. In: Das Blaubuch, 5(1910)13, 289 - 292. 157 Diesen Aspekt betont: Flesch, Karl: Die Tragödie des Arbeitsvertrags. In: Süddeutsche Monatshefte, 2(1905), 239-243. 158 Vgl. dazu: Legien, C.(arl): Das Koalitionsrecht...a.a.O.(=Anm. 112), 4-9 (Kapitel: „Werth und Bedeutung der Gewerkschaften“); vgl. insgesamt den interessanten Beitrag von: Müller-Jentsch, Walther: Versuch über Tarifautonomie. Entstehung und Funktionen kollektiver Verhandlungssysteme in Großbritannien und Deutschland. In: Leviathan, 11(1983)1, 118-150 und die dort angegebene neuere Literatur.
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5.2 Arbeiterfrage, Sozialreform und „Weltpolitik“ Erkennbar ist die jüngere staatliche Sozialpolitik stets als Politik der Nation für die Nation gedacht und manche Planungen, Initiativen, Strukturmerkmale und ideologische Verbrämungen, die Herausbildung einer regelrechten Bismarck- und Sozialstaatsmythologie lassen sich als Niederschlag einer solchen Absicht interpretieren. Das „Nationale“ hat nun im Verlaufe der Entwicklung des Kaiserreichs einen stets bedeutsameren Stellenwert erhalten. In der Ära des Imperialismus, etwa ab dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, bietet sich der „nationale Gedanke“ im Deutschen Reich (und mit Modifikationen: in anderen europäischen Nationalstaaten) in übersteigerter Form, als nationale Selbstüberschätzung, als krasse Abwertung anderer Nationen und Völker dar. Ideale und humane Sinnelemente des Begriffs „Nation“ werden zunehmend verdrängt. Schließlich steigert sich das „nationale Selbstgefühl“ in den herrschenden Kreisen und ihrer Anhängerschaft zu einer ungeduldigen außengerichteten Gewaltbereitschaft. Ein vor allem auch wirtschaftlich motivierter Wettlauf um die letzten noch „freien“ Territorien auf dem Erdball, ein Wettlauf um koloniale Erwerbungen setzt ein. Nationale Geltung allein im Rahmen des europäischen Staatensystems gilt als ungenügend. Die mit der Reichsgründung erlangte kontinentale Machtstellung wird als „perspektivlos“ und „unhaltbar“ verstanden. Nur den Nationen sei eine Zukunft beschieden, die sich zu Weltreichen erweitern. „Weltpolitik“ wird als notwendige Konsequenz der Reichsgründung begriffen. Sie sei eine Frage von „Aufstieg“ oder „Niedergang“, von „Selbstbehauptung“, von „Sein“ oder Nichtsein“. Die ausschließliche Existenz als europäische Kontinentalmacht wird als bloßer „Durchgangszustand“, beinahe schon als „Schande“ empfunden.159 Die dementsprechenden „Machtinteressen“ der Nation, der „Nationalegoismus“ steht nicht nur in der zeitgebundenen Ideologie, sondern auch im (außen-)politischen Handeln „obenan“ und führt zu tiefgreifenden Krisen im auch zuvor schon und an sich keineswegs spannungsfreien europäischen Staatensystem. Schließlich wird der große europäische Krieg nicht nur vorbereitet, sondern in Deutschland auch als unabwendbar, mitunter als „einzige Möglichkeit“ der Erlangung eines „Platz an der Sonne“ (von Bülow) angesehen. Der übersteigerte Nationalismus, insbesondere in Kreisen des Bürgertums verbreitet, vor den Arbeitern und der Arbeiterbewegung nicht halt machend, führt als verheerende Großideologie des 19. und 20 Jahrhunderts zu einer beängstigenden Akkumulation unheilvoller sozialer, politischer und militärischer Energien, die im Ersten Weltkrieg ihre zerstörerische Freisetzung finden. Die Frage, ob dieser übersteigerte Nationalismus, ob die Kriegsbereitschaft und „Weltmachtversessenheit“ die Ausgestaltung der staatlichen Sozialpolitik auch nur annähernd so intensiv geprägt haben, wie das bei der NS-Sozialpolitik nach 1933 mit Blick auf einen erneuten „Waffengang“ um die „Weltherrschaft“ durchaus geschehen ist, muß nach den bislang nachvollzogenen Entwicklungspfaden der „Sozialreform“ verneint werden. Es fehlt der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ vor 1914 die Tendenz, die Arbeiterklasse durch den Aufbau einer Apparatur der Arbeitskräftelenkung zu einem Werkzeug des Militärstaats zu machen. Bis in das Jahr 1914 hinein wird die „obrigkeitsstaatliche Sozialpolitik“ nicht als direkter Bestandteil der kriegsvorbereitenden Militärpolitik betrieben. Der 159 Vgl. dazu als kurze, international orientierte Einführung: Mommsen, Wolfgang J.: Das Zeitalter des Imperialismus. Frankfurt a.M. 1990, 10 ff.; den ganzen Ungeist dieser Epoche atmet auch: Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede. Freiburg i. Br. und Leipzig 1895; einen guten Einblick in die damalige „Gemütslage“ bietet eine Schrift, die im europäischen Ausland vielfach geradezu als deutsche „Kriegsansage“ aufgefaßt wird: Bernhardi, Friedrich von: Deutschland und der nächste Krieg. Stuttgart und Berlin 1912.
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hohe instrumentelle „Wert“ bestimmter noch „unterentwickelter“ Felder staatlicher Sozialpolitik für einen modernen industriellen Massenkrieg muß erst noch entdeckt werden.160 Staatliche Sozialpolitik ist als „Betätigung“ des Staates gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft bzw. gegenüber den beiden großen Gesellschaftsklassen bis 1914 primär dem allgemeinen Ziel verpflichtet, eine Stärkung des inneren Zusammenhalts der Gesellschaft und eine Festigung staatlicher Herrschaft zu erreichen. Dabei wird zwar schon sehr früh auch an den „Zustand des Krieges“ gedacht und ein militärpolitischer Vorteil gesellschaftlicher Integration gesehen. Dies wird jedoch lange Zeit eher beiläufig thematisiert, um das Projekt des „Sozialstaats“ nicht zu desavouieren.161 Die im Zeichen der imperialistischen Staatenkonkurrenz losbrechende Debatte über „Krieg und Sozialpolitik“ wird für die reale sozialpolitische Entwicklung im Kaiserreich nicht prägend. Die sozialpolitische Entwicklung verbleibt - trotz aller repressiven „Momente“ - auf der bereits analysierten „Spur“ einer integrativen, erste Ansätze von „Arbeiterpartizipation“ praktizierenden, auf „Hebung“ und „Schutz“, ansatzweise auch schon auf Konfliktregulierung abhebenden Strategie. Während sich die sozialpolitische Staatspraxis bis zum Ersten Weltkrieg mithin in herkömmlichen Bahnen bewegt, läßt sich in der sozialpolitischen Diskussion durchaus ein nunmehr unübersehbarer Einbruch nationalistischen, militär- und „weltpolitischen“ Denkens registrieren. Vertreter einer Diskussion über den Zusammenhang von Arbeiterfrage, Sozialreform und „Weltpolitik“ finden sich unter anderem im preußisch-deutschen Militärapparat, in Kreisen der Verwaltung und Regierung, des „Linksliberalismus“ und in der freien sozialreformerischen Diskussion. Diese Diskussion und der sich in ihr dokumentierende Bewußtseinsstand, ohne den die spätere, die Kriegssozial- und Kriegsinnenpolitik zumindest schwerer zu verstehen ist und als weitgehend voraussetzungslos erscheinen muß, soll hier auf der Ebene der Veröffentlichungen entsprechender Publizisten und Funktionsträger „gegriffen“ und zusammenfassend dargestellt werden. Bei der sprichwörtlichen Rückständigkeit des preußisch-deutschen Offizierkorps, bei der Feindschaft gegenüber den neuen politischen Emanzipationsbewegungen, bei der Abstinenz gegenüber politischen und sozialen „Tagesfragen“, der Fixierung auf Werte der Adelswelt, der Verachtung alles Zivilen, bei den erstaunlichen „Bildungslücken“ und der durchgängig erzreaktionären Haltung162 mag es überraschen, in diesen Kreisen Vertreter auch genuin sozialreformerischer Anschauungen zu finden. Eine höhere Verflechtung mit den übrigen „Eliten“ des Kaiserreichs und deren Problemsichten, eine erkennbare Bemühung den erwarteten und vorbereiteten „Zukunftskrieg“ gedanklich zu durchdringen und ganz besonders die spezifische, intensive Auseinandersetzung mit dem „Sozialismusprob-
160 Dabei sollte man die Bemühungen der damaligen Militärwissenschaft, das Wesen und die Erfordernisse des kommenden „Massenkrieges“ gedanklich vorwegzunehmen und aus historischen, sozusagen tendenziell immer „moderner“ werdenden Kriegen zu entschlüsseln, nicht unterschätzen. 161 Vgl. zusätzlich zur bereits im Kapitel 1.1 aufbereiteten Literatur als Kurzfassung: Wiese, L.(eopold) von: Sozialpolitik. In: Elster, Ludwig, Weber, Adolf, Wieser, Friedrich (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage. Siebenter Band. Jena 1926, 612 - 622. 162 Vgl. dazu neuerdings: Ostertag, Heiger: Bildung, Ausbildung und Erziehung des Offizierkorps im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918. Frankfurt a.M., Bern, New York 1990, zusammenfassend: 305 ff.; vielen Zeitgenossen allerdings ist der Offizier ein Zeitideal, ein Idol und Vorbild; vgl. als Studie des Alltagslebens und der gesellschaftlichen Stellung: Derselbe: Der soziale Alltag eines Offiziers im Kaiserreich 1913 - Ein militärsoziologisches Zeitbild. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 38(1990)12, 1069 - 1080; vgl. insgesamt auch die gründliche Studie: Schulte, Bernd F.: Die deutsche Armee 1900 - 1914. Zwischen Beharren und Verändern. Düsseldorf 1977.
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lem“ im Heer163 bei den publizistisch aktiven Spitzenmilitärs haben zu dieser Erscheinung beigetragen. Das sich mit den großen Heeresvermehrungen und dem Anschwellen der Sozialdemokratie unausweichlich stellende „Sozialismusproblem“ hat Abschirmungs-, Bekämpfungsund Ausschließungsstrategien sowie besondere „Behandlungskonzepte“ gegenüber sozialdemokratisch orientierten Rekruten hervorgebracht.164 Die allerdings aus vielfältigen Gründen scheiternden Bestrebungen Heer und Sozialdemokratie „getrennt“ zu halten und durch die „Schule der Nation“ den sozialdemokratischen Geist umstandslos und vollständig zu besiegen, haben, zusammen mit der Einsicht, daß der prinzipiell auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht beruhende „Zukunftskrieg“ in besonderer Weise ein Krieg der „Massen-“ beziehungsweise „Millionenheere“ sein werde, eine vielschichtige Diskussion ausgelöst, die beinahe schon zwangsläufig bei sozialpolitischen Einsichten angelangen muß. Das beinhaltet, daß „Zukunftskriegs-“ und „Massenheerfragen“ nicht nur mit Blick auf die militärische Strategie und Taktik, auf die damit aufgeworfenen Führungs-, Kommunikations-, Ausrüstungs-, Transport-, Verproviantierungs- und Unterbringungsfragen diskutiert werden.165 Es wird auch einbezogen, daß der alte „Lehrsatz“, nach dem die auf die „unteren Klassen“ erstreckte, die allgemeine Wehrpflicht dasjenige System ist, „...nach welchem der Staat die höchste militärische Kraft des Volkes als Armee für den Krieg organisiert“,166 nur insoweit und solange gilt, als in der Armee begeisterter „Patriotismus“, Opfer-, Einsatzund Gehorsamsbereitschaft, der „Wille zum Sieg“ vorhanden sind. Vorweggenommen wird, daß hier allein schon wegen der zerstörerischen Gewalt der „modernen Kriegsmittel“, wegen der „Schrecken“ des Massenkrieges, besondere Probleme sich ergeben könnten: „Es gehört ein starkes Geschlecht dazu, um den Krieg der Zukunft erfolgreich zu führen.“167 Das alte, das vornapoleonische Kriegsbild, die Kriegführung mit einer kleinen „narbenvollen, abgehärteten Kriegerrotte“ (von Clausewitz), einer gedungenen, vom Kriegsherren ausgehaltenen Söldnertruppe, spielt, schon seit der Vorbereitung der Freiheitskriege des Jahres 1815 obsolet, keine Rolle mehr. Eine sich an „geschlagenen Schlachten“ und gesellschaftlichen „Umbrüchen“ abarbeitende Militärwissenschaft168 erahnt neben den allgemeinen Schrecken des „Zukunftskrieges“ und den daraus erwachsenden Problemen auf dem 163 Vgl. hierzu als Materialsammlung: Höhn, Reinhard: Sozialismus und Heer. Drei Bände. Bad Harzburg 1959, 1969 (insbes. den III. Band). 164 Vgl. in diesem Zusammenhang neben der Schrift von Höhn: Hiekmann, Ernst: Armee und Sozialismus. Warmbrunn i.(n) Schles.(ien), o.J. (1896); Die Sozialdemokratie im Heere. Reform des deutschen Heeresdienstes zur Abwehr des Sozialismus. Jena, o.J.(1901); Loebell, A.(rthur Robert) von: Wie ist der Sozialdemokratie im Heere entgegenzuwirken? Berlin 1906; zusammenfassend: Deist, Wilhelm: Armee und Arbeiterschaft 1905-1918. In: Francia, 2(1974), 458 - 481 sowie derselbe: Militär, Staat und Gesellschaft. München 1991, 107 ff. 165 Vgl. dazu z.B.: Freytag-Loringhoven,(Hugo) Freiherr von: Über das Anwachsen der Heere. In: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde, 3(1906)1, 1 - 21; derselbe: Detachementkrieg und Massenkrieg. In: Ebenda, 6(1909), 628 - 639; von Wannisch: Ueber Millionenheere. In: Deutsche Revue, 36(1911), 198 - 203; Falkenhausen, (Ludwig) Freiherr von: Die Massen im Kriege. In: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde, 8(1911)1, 1 - 18. 166 Stein, Lorenz von: Die Lehre vom Heerwesen als Theil der Staatswissenschaft. Neudruck der Ausgabe 1872. Osnabrück 1967, 46. 167 Falkenhausen, (Ludwig) Freiherr von: Die Massen...a.a.O.(=Anm. 165), 18; vgl. auch: Rothe: „Wehrkraft“. In: Deutsche Revue, 28(1903), 15 - 26. 168 Vgl. neben den zahlreichen Darstellungen in militärwissenschaftlichen Fachzeitschriften etwa auch: Bodart, Gaston (Hg.): Militärhistorisches Kriegs-Lexikon (1618 - 1905). Wien und Leipzig 1908.; vgl. auch: Höhn, Reinhard: Revolution, Heer, Kriegsbild. Darmstadt 1944; vgl. kritisch das Kapitel „Auswertung zeitgenössischer Kriege“ bei: Schulte, Bernd F.: Die deutsche Armee...a.a.O.(=Anm. 162), 162 ff.
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Gebiet der „inneren Haltung“ der Soldaten ganz allgemein auch das besondere „Wagnis“ eines Krieges, der aus Gründen der „militärischen Effizienz“ unter Einschluß der Arbeiterklasse geführt werden muß. Zahlreich sind die Hinweise auf die sich hieraus zusätzlich ergebenden Gefahren der „Untergrabung kriegerischen Sinns“, der „seelischen Wehrfähigkeit“, der „inneren Disposition des Heeres“. Die von der Sozialdemokratie ausgehenden pazifistischen, internationalistischen, gesellschafts- und staatskritischen Einstellungen, der Haß gegen das Militär, insbesondere gegen das Offizierskorps, werden aufmerksam registriert. Während die Gewinnung des Bürgertums für das Militär durch und seit den preußischen Militärreformen der Jahre 1807 bis 1813 als geglückt gilt, bleibt die „Gewinnung“ der für sozialdemokratische Anschauungen anfälligen „Arbeiterelite“, die „Nationalisierung“ des Herzstücks des industrialisierten Krieges, für die Militärs eine dringend zu erfüllende Aufgabe, deren „unbefriedigende Lösung“ nur zu oft eingestanden wird. Es finden sich jedoch auch „optimistische“ Auffassungen. Ähnlich wie der Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart (1863 - 1941) schon 1896 mutmaßt, daß die sozialistische Bewegung jederzeit unter dem Eindruck äußerer Bedrohung zum Erliegen gebracht werden könne,169 vertritt im Jahre 1906 auch der Militärschriftsteller und Generalmajor Arthur Robert von Loebell170 die allerdings untypische Auffassung, daß sich das „Sozialismusproblem“ im Falle eines Krieges gar nicht in aller Schärfe stellen werde. Fahre die Regierung mit der Sozialpolitik und der Unterstützung der christlichen Arbeitervereine fort, so grabe sie den „sozialdemokratischen Parteiführern“ das Wasser ab und erhöhe damit die „Wehrkraft des Volkes“.171 Hinzu tritt nach seiner Auffassung das ganz und gar unrevolutionäre Wesen des deutschen Volkes: „Patriotismus und Frömmigkeit brechen beim Deutschen mit alles bezwingender Gewalt in der Stunde der Gefahr wieder durch, dagegen sind die sozialdemokratischen Führer machtlos, sie werden mit fortgerissen oder überrannt. Das sehen auch die denkenden Sozialdemokraten ein“.172 Derartige, den Krieg betreffende „Spekulationen“, die Auffassung, daß nicht der Sozialismus sondern der Nationalismus in der „Stunde der Gefahr“ regieren werde, an denen besonders irritiert, daß sie von zwei Autoren geäußert werden, die sich ihrer persönlichen Kontakte zur sozialistischen Arbeiterbewegung rühmen, sind nicht vorherrschend. Im Rahmen der allgemein unbestrittenen und immer wieder betonten Einsicht, daß der „notwendige und unvermeidliche Krieg“ gegen eine „feste Phalanx von Feinden“ unbedingte Hingabe, Einheit und Einmütigkeit des ganzen Volkes mit seiner Regierung voraussetzt,173 werden solche „optimistischen“ Annahmen meistens nicht gemacht. Um so deutlicher wird die Pflicht des Staates (und implizit aller staatstragenden Kräfte) betont, „...alle Bestrebungen, die sich der vollen Entwicklung der Wehrkraft entgegenstemmen, rücksichtslos zu brechen“174 bzw. ihnen in geeigneter Weise entgegenzuwirken. Kasernen- und Quartiersrevisionen nach sozialistischer Literatur, Postüberwachung, Wirtshausverbot für die Mannschaften, Erfassung und Überwachung der im Heer dienenden Sozialdemokraten, „schwarze Listen“, Verbot der Teilnahme an sozialdemokratischen Versammlungen, Aktivierung 169 Vgl.: Brocke, Bernhard vom: Werner Sombart (1863-1941). Capitalism - Socialism - His Life, Works and Influence Since Fifty Years. In: Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, 1992 Heft 1, 113 - 182, hier: 123. 170 Die Funktionsbezeichnungen beziehen sich, falls nicht anders vermerkt, auf den Zeitpunkt, dem die geschilderte Aktivität bzw. Auffassung entstammt. 171 Vgl.: Loebell, A.(rthur Robert) von: Wie ist der Sozialdemokratie...a.a.O.(=Anm. 164), 59. 172 Derselbe, ebenda, 60. 173 Vgl.: Bernhardi, Friedrich von: Deutschland...a.a.O.(=Anm. 159), 330 ff. 174 Derselbe, ebenda, 128.
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„christlichen Geistes“ etwa in Form der „patriotischen Predigt“, ein bald wieder eingestellter „sozialpolitischer Unterricht“, „vaterländischer“ Geschichtsunterricht, die Verbreitung einer spezifischen Legende von der sozialen Wirksamkeit des Hauses Hohenzollern, eine auf Treue, Liebe zum Kaiser, auf die Bedeutung von „Ehre und Eid“ abzielende „Erziehung“ sind Mittel, die zu diesem Zweck in der Armee versucht werden.175 Die eigentliche Sozialpolitik wirkt im Lichte ihrer militärischen Verfechter eher im Hintergrund und außerhalb der Kasernen. Die Wirkungen der Sozialpolitik werden mit Blick auf die „Wehrkraft“, mit Blick auf das Potential und die Spielräume der militärischen Gewaltanwendung „nach außen“ qualifiziert. Die Wirkungen werden in eine physische und eine psychische Komponente zerlegt. Ausgehend von der großen Bedeutung der „körperlichen, geistigen und sittlichen Eigenschaften“ der Menschen für die Kriegführung vermerkt exemplarisch ein General der Infantrie: „So kommen auch die dankenswerten humanitären Bestrebungen, die den Gesundheitszustand eines Volkes zu heben, die Menschen kräftiger, widerstandsfähiger zu machen, die Sterblichkeit zu mindern, die Zunahme der Bevölkerung zu steigern, ihr Sorgen abzunehmen und ihre Lage zu verbessern suchen, in höchstem Maße der Wehrkraft des Landes zugute und müssen auch in deren Interesse dringend gefördert werden.“176 Nicht selten werden in den Betrachtungen der Militärs alle bedeutsamen Maßnahmen, Zustände und Entwicklungen des industrialisierten Deutschlands mit Blick auf die „militärische Kraft“ und die „Riesenkämpfe der Zukunft“ analysiert. Die Bedingungen eines „erfolgreichen Krieges“ erscheinen dann in großer Komplexität, wenngleich rein militärische Fragen immer noch stark im Vordergrund stehen. Sie umfasssen die Politik, den Entwicklungsstand der Wirtschaft, den Vorrat an „materiellen Hülfsmitteln“, den Stand der Wissenschaft, des Verkehrs- und Kommunikationswesens (Faktoren, die schon im deutschfranzösischen Krieg mehr als je zuvor dem „mordenden Völkerkampfe“ gedient hatten177 ), die Zahl der Kämpfer, deren „Qualität“ und militärische Handhabung.178 Dementsprechend wird auch die „Menschenfrage“, die Frage nach der „kriegerischen Tüchtigkeit eines Volkes“179 in umfassender Weise aufgeworfen und schon bald auch klassen- und schichtenspezifisch „beantwortet“.180 Entspricht bereits die Betonung der physischen Wirkung der Sozialpolitik jenen Anschauungen, die an der Wiege der preußischen Sozialpolitik, der Kinderschutzgesetzgebung von 1839, gestanden haben, so hält sich in der nach Bevölkerungsschichten und Klassen differenzierenden Militärwissenschaft aus jener frühen Zeit auch das Urteil, daß der „militärische Werth“ (von Blume) der „kernigen Landbevölkerung“ im allgemeinen dem der städtischen Bevölkerung überlegen sei.181 Dementsprechend gilt nicht nur die staatliche Sozialpolitik, insbesondere jene bismarckische Strategie der „Hebung der unteren Volksklassen“ als Förderung der „Wehrhaftigkeit der Nation“, sondern auch das Bemühen, den 175 Vgl.: Höhn Reinhard: Sozialismus...a.a.O.(=Anm. 163). 176 Rothe: „Wehrkraft“...a.a.O.(=Anm. 167), 22. 177 Vgl. den pionierhaften und kritischen Beitrag: Der Krieg und die sociale Frage. Aphorismen. In: Historischpolitische Blätter für das katholische Deutschland, 67(1870/1871), 279 - 295, hier: 281. 178 Vgl. auch schon: Goltz, Colmar Freiherr von d.(er): Das Volk in Waffen. Vierte umgearbeitete und verbesserte Auflage. Berlin 1890. 179 Vgl. die bemerkenswerte Schrift des Generals der Infantrie: Blume, (Wilhelm Hermann) von: Die Grundlagen unserer Wehrkraft. Berlin 1899, 28 ff. 180 Vgl. denselben, ebenda, 51 ff. 181 Vgl. denselben, ebenda, 51.
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ländlichen Bevölkerungsanteil zu erhalten. Weitere Faktoren, wie der „militärische Tugenden fördernde“ Schulunterricht, der Schulsport, die militärische Beeinflussung der „nichtdienenden“ Bevölkerung usw. usf. treten hinzu.182 Eine ausgeprägte, durch die Aktivitäten der Sozialdemokratie verschärfte „Zivilisations-“ und „Stadtfeindschaft“ herrscht vor, die Zunahme der Stadtbevölkerung gilt als „Gefahr für unser Volksleben“, vor der abträglichen Wirkung „großstädtischen Genußlebens“ wird gewarnt, von wachsender „Selbstsucht“ und „Verweichlichung“ ist die Rede. In den Schriften der Militärs liegt die Angst verborgen, der von vornherein als gigantischer Kampf gedachte, ganze Nationen gegeneinander aufbietende Krieg, der Kampf mit dem „Schwerte für unsere Weltmachtstellung“ (von Bernhardi), die „Entfesselung der Nationalkraft“, die man rückblickend sowohl an den napoleonischen Heeren aber auch an den Japanern im russisch-japanischen Krieg von 1904/05 bewundert, könne im deutschen Reich am „Unwillen“ der Bevölkerung oder an revolutionären, von der Sozialdemokratie ausgehenden inneren Unruhen scheitern. Während man von den Kriegsverheerungen derart destabilisierende Wirkungen erwartet, teilt man nicht die damals verbreitete kritische Auffassung, der „Zukunftskrieg“ sei „vernünftigerweise“ wegen seiner insgesamt gigantischen, katastrophalen und alles vernichtenden Folgen unführbar geworden. Geradezu trotzig gesteht der preußische General und Militärschriftsteller Friedrich von Bernhardi, er sei überzeugt, wenn die Truppe „...demnächst zu den Waffen gerufen werden sollte, werden ihre Leistungen die Welt in Erstaunen setzen, falls sie nur einigermaßen gut und entschlossen geführt wird.“183 Das offene Eingeständnis einer regelrechten „Revolutionsfurcht“ wäre gegenüber einer Welt von „Feinden ringsum“184, von „Neidern in Ost und West“, angesichts der „gefährlichen deutschen Mittellage“ in Europa in den Augen der Militärs eine „unverantwortliche Schwächung“ der deutschen politischen und militärischen Position gewesen.185 Dennoch ist sie, nicht nur als Folge der inneren Vorgänge im Reich, der Verhandlungen und Aktivitäten der „rothen Internationale“, sondern auch angesichts der revolutionären Folgen des deutsch-französischen und russisch-japanischen Krieges stets erkennbar. Ausgehend von der realistischen Annahme, daß der „kriegerische Wert der Heere“ sehr viel mehr als früher durch den „Charakter“ und durch das „Wesen“ der Nationen selbst bedingt sei, kommt von Bernhardi zu der Einsicht, daß die Armee eines Volkes, „...das physisch geschwächt, revolutionär verseucht... oder sich bei steigender Wohlhabenheit der Waffen entwöhnt hat“ vergleichsweise wenig Widerstandsfähigkeit gegen „erschütternde moralische Einflüsse“ aufweist.186 Weit entfernt von der optimistischen Annahme und Hoffnung des Generalmajors von Loebell, daß einmal im Kriegsfall die Begeisterung für das Vaterland „jedes Opfer“ leicht machen werde und alle „sozialdemokratischen Gedanken“ weggefegt sein würden, 187 grübelt von Blume angesichts des russischen Beispiels 182 Vgl.: Blume, (Wilhelm Hermann) von: Inwiefern haben sich die Bedingungen des Erfolges im Kriege seit 1871 verändert. In: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde, 5(1908), 407 - 458, hier bes.446f. 183 Bernhardi, Friedrich von: Deutschland...a.a.O.(=Anm. 159), 324. 184 So der Titel und Inhalt des Beitrages: Feinde ringsum! Zum neuen Jahre 1906. In: Grenzboten, 65(1906)1, 1- 8. 185 Die Empfindlichkeit gegenüber Kritik an der Wehrfähigkeit und Kriegsbereitschaft ist damals außerordentlich groß. So wird einer kritischen, anonym erscheinenden Schrift mit dem Titel „Sind wir kriegsbereit?“ ein Zettel beigelegt mit zwei Stellungnahmen führender Militärs, aus denen vor allem hervorgeht, daß der Verfasser kein Soldat sei und ihm deshalb die Anschauung fehlte; vgl.: Sind wir kriegsbereit? In: Grenzboten; 65(1906), 529-542, hier: 529. 186 Vgl.: Bernhardi, Friedrich von: Vom heutigen Kriege. Erster Band. Grundlagen und Elemente des modernen Krieges. Berlin 1912, 67. 187 Vgl.: Loebell, A.(rthur Robert) von: Wie ist der Sozialdemokratie...a.a.O.(=Anm. 164), 62 f.
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einer kriegs(mit)bedingten Revolution über die Rückwirkung eines „unglücklich verlaufenden Krieges“ auf den „Volksgeist“ und von dort zurück auf den „Heeresgeist“.188 Er glaubt erkennen zu müssen: „Sozialdemokratische und anarchistische Propaganda haben breite Schichten des Volkes vergiftet und arbeiten mit besonderem Eifer daran, den militärischen Geist in Volk und Heer zu vernichten.“189 Angesichts eines „Zukunftskrieges“ über dessen Dauer, Gestalt und Folgen die Meinungen durchaus auseinandergehen, werden in diesem Zusammenhang Grundelemente und „Denkvoraussetzungen“ für die für die „politische Kultur“ der Weimarer Republik so extrem verhängnisvolle „Dolchstoßlegende“190 geschaffen. So spricht im Jahre 1908 von Blume von den militärisch abträglichen Folgen einer kriegsbedingten „schweren wirtschaftlichen Krisis“ und entwirft am russischen Beispiel das Szenario eines „demütigenden Friedensschlusses“, wenn nicht gar eines Verlusts der „staatlichen Selbständigkeit“.191 Der Publizist, Kolonialexperte und Wirtschaftspolitiker Arthur Dix (1875 - 1935) informiert seine militärisch interessierten Leser vergleichsweise noch realistischer und umfassender über die Bedeutung der Volkswirtschaft für die Kriegführung und macht die volle Nutzung aller militärischen Kräfte nach außen davon abhängig, „...daß nicht in ihrem Rücken etwa auf Grund einer verzweifelten Wirtschaftslage schwere innere Unruhen ausbrechen, deren Niederhaltung einen Teil der militärischen Kräfte erfordern und letzten Endes auch die Stoßkraft des Volkes in Waffen beeinträchtigen könnte. In dieser letzteren Beziehung wird man mit einer kurzen Formel sagen können: Keine Hungersnot, keine Revolution!“192 Die zunehmenden internationalen Rivalitäten, das Gefühl einer „zu spät“ und „zu kurz“ gekommenen Nation mit blockierten „weltpolitischen“ Entwicklungsmöglichkeiten anzugehören, wirken sich in der sozialpolitischen Publizistik auch dahingehend aus, daß man insbesondere das „Riesenwerk“ der „Bismarckschen Arbeiterversicherung“ international vergleichend betrachtet. Daß Deutschland auf diesem Gebiet der „Welt voran“ sei und eine „Kulturmission“ erfüllt bzw. zu erfüllen habe, wird stolz vermerkt. Orte mitunter sehr chauvinistischer Präsentation von des „Eisernen Kanzlers“ oder des „Heldenkaisers Werk“ sind offensichtlich Weltausstellungen und sonstige Anlässe nationaler Repräsentation im internationalen Rahmen. Die im Ausland durchaus verbreitete Auffassung, daß sich das zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur ersten Industriemacht des europäischen Kontinents aufsteigende Deutsche Kaiserreich mit seiner Sozialpolitik auch kriegsbedeutsame Vorteile auf dem Gebiet der industriellen Produktivität, der „Volkskraft“ und der inneren Stabilität verschaffen wolle oder verschafft habe,193 findet in den Broschüren und anderen Aktivitäten zur Präsentation deutscher Sozialpolitik im oder für das Ausland genügend Anhaltspunkte. „Möge, wie bisher, so auch fürder, und je länger, je mehr das segensreiche Werk der Arbeiterversicherung des Deutschen Reichs wachsen und gedeihen, seinen Kaisern zur Ehre, dem Deutschen Volke zum Heil, den anderen Kulturstaaten, denen als erster das Deutsche Reich in 188 Blume, (Wilhelm Hermann) von: Inwiefern...a.a.O.(=Anm. 182), 448. 189 Derselbe, ebenda, 446. 190 Vgl. dazu: Feldman, Gerald D.: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Berlin/Bonn, 1985, 401 ff. 191 Vgl.: Blume, (Wilhelm Hermann) von: Inwiefern...a.a.O.(=Anm. 182),455. 192 Dix, Arthur: Volkswirtschaftliche Kriegsvorsorge. In: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde, 10(1913)3, 441 - 452, hier: 441 f. 193 Vgl. dazu etwa: Hollenberg, Günter: Englisches Interesse am Kaiserreich. Die Attraktivität Preußen-Deutschlands für konservative und liberale Kreise in Großbritannien 1860 - 1914. Wiesbaden 1974, 222 ff.
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kraftvollem Entschluß vorangegangen ist, zum Vorbild!“ schallt es dem Leser einer mit heraldisch-allegorischem Zierrat überladenen Informationschrift entgegen, die für die Weltausstellung zu Paris im Jahre 1900 erstellt worden ist.194 Drohend ist der Ton in einer Denkschrift zur „Entwicklung und Wirkung der Deutschen Arbeiterversicherung“, von leitenden Mitarbeitern des Reichsversicherungsamtes ebenfalls für die Pariser Weltausstellung verfaßt. Nachdem man sich die Pionierrolle Deutschlands von einem amerikanischen Autor hat bestätigen lassen, fährt die Schrift fort: „Seither überzeugte man sich mehr und mehr, welche Errungenschaften die Arbeiterversicherung dem Deutschen Reiche einbringt, man merkt, wie sehr die Arbeitskraft und Wehrkraft der Deutschen Nation für den internationalen Wettstreit gestärkt wird, wie sehr das Reich gegenüber solchen Staaten, deren Arbeiterschaft eine ausreichende Fürsorge versagt bleibt, mit der Zeit ein wirtschaftlich, geistig und politisch bedeutsames Uebergewicht erlangen muß.“195 Die neue, die bismarcksche Wendung der staatlichen Sozialpolitik gerät, da die „übrigen Kulturvölker“ dem deutschen Vorbild zahlreich folgten, zu einer weltgeschichtlichen Wendung der Sozialpolitik. Es zeige sich, so wird die Begrüßungsrede des Staatssekretärs des Innern, Graf von Posadowsky-Wehner, auf dem Internationalen Arbeiterversicherungskongreß in Düsseldorf im Jahre 1902 wiedergegeben, der Vorzug der monarchischen Regierung in Deutschland: „...sie gibt die Kraft zur zielbewußten Durchführung der als notwendig erkannten sozialen Reformen gegenüber den sich entgegenstellenden Mächten politischer Kurzsichtigkeit, herzloser Gleichgiltigkeit, träger Gewohnheit oder wirtschaftlicher Unbesonnenheit...“196. Das einheitlich gestaltete Vorwort in den Informationsschriften zur Weltausstellung von St. Louis im Jahre 1904 schließt: „Für das heiße Wettringen der Nationen gilt das in diesem Zusammenhange doppelt bedeutsame Wort eines jüngst verstorbenen deutschen Schriftstellers und Patrioten in seinem den Vereinigten Staaten von Nordamerika gewidmeten, letzten Werke: Die Siegespalme wird schließlich derjenigen Nation am sichersten sein, die über die größten Reserven an Volksgesundheit und Kraft gebietet.“197 Auch in Kreisen des „Linksliberalismus“ und bei führenden Vertretern der „weltpolitisch“ orientierten freien sozialreformerischen Diskussion ist das wilhelminische Reich als „Pioniernation“ auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung, als Lehrmeisterin der „zivilisierten Völker“ nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt, ein „großes Thema“. Hier findet sich bei einer Gesamtschau des inneren Entwicklungsstandes typischerweise „tiefe Besorgnis“. Das „Dilemma“ des zeitlichen Zusammentreffens der zunehmend antagonistischen Beziehungen zwischen einzelnen Nationalstaaten und Bündnisgruppen, einer kriegsbereiten (Welt-)Machtpolitik und der Verschärfung der Spannungen und Gegensätze zwischen Un194 Vgl.: Klein, G.(ustav) A.(dolf) (Bearb.): Die Leistungen der Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches. Für die Weltausstellung zu Paris im amtlichen Auftrage bearbeitet. Berlin 1900, 20. 195 Lass, Ludwig, Zahn, Friedrich (Bearb.): Einrichtung und Wirkung der Deutschen Arbeiterversicherung. Denkschrift für die Weltausstellung zu Paris 1900. Berlin 1900, 244; man bezieht sich auf die Schrift des Amerikaners Graham Brooks: Compulsory Insurance in Germany. Washington 1893; die Auffassung von der „bahnbrechenden“ Rolle des Deutschen Reiches bei der Arbeiterfürsorge findet sich u.a. in der im November 1906 verlesenen Botschaft zum 25. Jubiläum der Kaiserlichen Botschaft vom 17. Nov. 1881; das Original und der Vorgang sind enthalten in: BA Abt. Potsdam. 07.01 Reichskanzlei Nr.810. 196 Zahn, Friedrich (Bearb.): Die deutsche Arbeiterversicherung als soziale Einrichtung. Im Auftrage des ReichsVersicherungsamts dargestellt für die Weltausstellung in St. Luis 1904. Heft V. Arbeiterversicherung und Volkswirtschaft. O.O.,o.J. (1904), 35 f. 197 Vgl. z.B.: Klein, G.(ustav) A.(dolf) (Bearb.): Die deutsche Arbeiterversicherung als soziale Einrichtung. Im Auftrage des Reichs-Versicherungsamts dargestellt für die Weltausstellung in St. Louis 1904. Heft II. Statistik der Arbeiterversicherung. O.O., o.J. (1904), 4.
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Arbeiterpolitik in der Ära des Imperialismus
ternehmern und Staat auf der einen und der Arbeiterbewegung auf der anderen Seite soll bei ihnen allerdings durch beschleunigten, tiefgreifenden, krisenpräventiven „sozialpolitischen Fortschritt“ gelöst werden. Sie fragen sich, den Überlegungen der Militärs durchaus entsprechend, „...ob man Machtpolitik, Geschichtspolitik mit einem Volke treiben kann, dessen Mehrzahl proletarisiert ist.“198 Die Antwort lautet, daß die von ihnen traditionell geforderte „fortschrittliche“ Sozialpolitik ein „Ja“ rechtfertigen könne und mithin zur optimalen Kriegsvorbereitung und zur Förderung kontinental- und „weltpolitischer“ Ambitionen tauge. Sie repräsentieren mit dieser Auffassung den Gegenpol zu den Kräften, die angesichts der Möglichkeit des „großen Krieges“ mit besonderem Nachdruck den Bürgerkrieg gegen die gesamte sozialistische Bewegung, zumindest die Ausschaltung der Führer der Arbeiterbewegung und ein Verbot ihrer Organisationen planen und verlangen.199 Sehr weit entfernt sind sie auch von jenen Kreisen, die gerade in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn mit gesteigerter Vehemenz behaupten, die Sozialpolitik habe versagt oder die unter Zustimmung besonders bestimmter Teile des Unternehmertums zu belegen suchen, daß die staatliche Sozialpolitik ein „unmännliches, hysterisches, simulierendes“ von „maßlosen Ansprüchen erfülltes“ Geschlecht erziehe, eine Position für die beispielhaft die Schriften und das Wirken des Mediziners Willy Hellpach, des Philosophen Max Scheler und des bereits erwähnten „Staatswissenschaftlers“ Ludwig Bernhard stehen mögen.200 Darüber hinaus sind sie „Antipoden“ der Auffassung, daß ein geschickt inszenierter Krieg das „sozialistische Gespenst“, den „Umsturz“ verscheuchen und den Status quo zuverlässig und langfristig festigen werde. Eher hegen sie, wie die bereits angeführten Militärs und im Sommer 1914 selbst der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, die Befürchtung, daß die „Sozietät“ und die politische Herrschaftsstruktur am und im Krieg zerbrechen, „Throne stürzen“, ein Zeitalter zuende gehen und die Macht der Sozialdemokratie gewaltig steigen könne.201 Sie, die ebenfalls eine spezifische „Selbstbehauptung“ der Nation bejahen, vor der Perspektive rücksichtsloser Interessenvertretung nach außen nicht zurückschrecken, verbinden in besonders nuancierter Weise innen- bzw. sozialpolitische mit außenpolitischen Denkansätzen und adaptieren dabei militärwissenschaftliches Gedankengut. Ziel ihrer herrschaftsstrategischen Überlegungen ist stets, die „inneren Hemmungen kraftvoller Außenpolitik“202 durch staatliche Sozialpolitik rechtzeitig zu beseitigen. Wenn sie ihren „sorgenvollen Blick“ auf das „Massenvolk der Proletarier“ richten und unter Veranschlagung der staatlichen Sozialpolitik den grundlegenden Zusammenhang zwischen imperialistischer Aggressivität und Sicherung sowie Effektivierung der politischen Machtausübung im In-
198 Naumann, F.(riedrich): Das politische Erbe Bismarks. In: Derselbe: Die Politik der Gegenwart. Wissenschaftliche Vorträge. Gehalten in Hamburg und Heidelberg. Berlin-Schöneberg 1905, 3 - 11, hier: 9. 199 Vgl.: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918. Erster Teil. Bearbeitet von Wilhelm Deist. Düsseldorf 1970, XXXIII ff.; Vgl. dazu auch die instruktiven Hinweise bei: Schulte, Bernd F.: Die deutsche Armee...a.a.O. (=Anm. 162), 258 ff., 535 ff. 200 Vgl. dazu grundlegend: Kirchenberger, Stefan: Anspruchsverhalten und Neurose - Zur Entstehung und Funktion einer sozialpolitischen Argumentationsfigur. In: Zeitschrift für Sozialreform, 28(1982)2, 65 - 89, Heft 3, 151 - 159, Heft 4, 215 - 234. 201 Vgl.: Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871 - 1918. 4., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage. Göttingen 1980, 199. 202 So der treffende Titel des Vortrages vor dem „Alldeutschen Verband“, gehalten im Juni 1918: Bodelschwingh, Franz von: Innere Hemmungen kraftvoller Außenpolitik. Hannover 1918.
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Arbeiterfrage, Sozialreform und „Weltpolitik“
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nern ebenso formulieren203, wie die Notwendigkeit der Stärkung der „Volkskraft“, so leisten sie gedankliche Vorarbeit mit erheblicher Aussagekraft für die innere bzw. sozialpolitische Entwicklung vor allem im Ersten aber auch im Zweiten Weltkrieg, mag auch der große, unter europäischen Militärstaaten geführte Krieg noch beinahe wie eine „unerklärliche rätselhafte Sphinx“ (von Bernhardi) hinter der Schwelle zur Zukunft lagern. Die „weltpolitisch“ orientierten Sozialreformer werden durch die zunehmend explosive Situation im Vorkriegseuropa wesentlich in ihren Aktivitäten angeregt. Gleichzeitig wird die von ihnen vorgeschlagene Variante der inneren Absicherung der außengerichteten Gewaltanwendung durch den kostspieligen (Schlacht-) Flottenbau, die allgemeine Hochrüstung und Heeresvermehrungen und durch den außenpolitischen Aktionismus nicht gerade gefördert.204 Im Gegensatz zu den Vorstellungen der „modernen Militärs“, die sich auf ähnlichen Bahnen bewegen, sind die Vorstellungen der Sozialreformer sozialpolitisch qualifizierter und stoßen zu „progressiven“, ja „radikalen“ Konsequenzen vor, die den Repräsentanten des kaiserlichen Heeres nicht über die Lippen gekommen wären. Als Beispiel der nur scheinbar paradoxen Verbindung von imperialistischen Positionen mit „innenpolitischer Radikalität“ mögen Programmatik und Aktivitäten des sozial- bzw. „linksliberalen“, des von 1896 bis 1903 bestehenden „Nationalsozialen Vereins“ dienen.205 Die in diesem Verein zusammengeschlossenen und mit seiner Ausrichtung sympathisierenden Kräfte, zu denen führende Vertreter der Sozialreform gehören, erstreben in ihrem Gründungsprogramm eine „...Politik der Macht nach außen und der Reform nach innen.“206 Um eine „feste und stetige auswärtige Politik“, die der Ausdehnung „deutscher Wirtschaftskraft“ und „deutschen Geistes“ dienen solle, zu ermöglichen, tritt der Verein nicht nur für eine Vermehrung der Kriegsmittel ein, sondern auch für eine Verteidigung und eine Ausdehnung des allgemeinen Wahlrechts auf die Landtage und Kommunalvertretungen. Diese „präventive Verfassungspolitik“ richtet sich zwangsläufig gegen die herrschenden Kräfte des Bürger- und Junkertums,207 die darüber hinaus angemahnte „progressive“ Regelung der Gewerkschaftsrechte, die intendierte „Neuorganisation der Industriegesellschaft“ gegen die - vor allem - schwerindustriellen Vertreter des „Herr-im-Hause-Standpunkts“. Die von diesen „sozialreformerisch-weltpolitisch“ orientierten Kräften angestrebte sozialpolitisch-massendemokratisch durchstrukturierte Gesellschaft und der sich so insbesondere auf die industriellen Massen stützende Staat erscheinen als weltpolitisch „leistungsfähiger“ und „belastbarer“. Dreh- und Angelpunkt dieser Ansichten sind, neben den damit verwobenen politischen Ambitionen der entsprechenden Akteure, den Bekämpfungs-, Spal-
203 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Müller, Gerhard: Die Gesellschaft für soziale Reform. Konzeptionen, Methoden und Wirksamkeit bürgerlicher Sozialreformer im junkerlich-bourgeoisen deutschen Imperalismus (1897/98 - 1914). Diss. Jena 1982 (MS) hier bes.: 341. 204 Vgl.: Witt, Peter-Christian: Innenpolitik und Imperialismus in der Vorgeschichte des 1. Weltkrieges. In: Holl, Karl, List, Günther (Hg.): Liberalismus und imperialistischer Staat. Göttingen 1975, 7 - 34, hier: 16 f. 205 Vgl. dazu als Ausarbeitung des Sekretärs dieses Vereins: Wenck, Martin: Die Geschichte der Nationalsozialen von 1896 bis 1903. Berlin-Schöneberg 1905; vgl. desweiteren: Düding, Dieter: Der Nationalsoziale Verein 1896 1903. München, Wien 1972. 206 Vgl.: Düding, Dieter: Der Nationalsoziale Verein...a.a.O.(=Anm. 205), 200; Protokolle dieses Vereins mit internen Auseinandersetzungen und Abgrenzungen gegenüber der Sozialdemokratie finden sich im BA Abt. Potsdam. Nachlaß (NL) Naumann, 90 Na 3, Nr. 53. 207 Vgl. auch noch den Aufruf auf dem Titelblatt: Zum Neuen Jahr! Zum neuen Kampf! In: Die Hilfe, 14(1908) 1; durchaus zutreffend wird die Ausrichtung dieser Bestrebungen auch erkannt in der ansonsten fragwürdigen Schrift von: Craemer, Rudolf: Der Kampf um die Volksordnung. Hamburg 1933, 222 ff.
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Arbeiterpolitik in der Ära des Imperialismus
tungs- und Umwandlungsabsichten gegenüber der Sozialdemokratie, vor allem wiederum Einsichten in die Natur der „gewaltsamen Mittel“ der „Weltpolitik“. Mit den ihm eigentümlichen, bemerkenswerten sprachlichen Mitteln hat der Vorsitzende des politisch nicht sehr erfolgreichen „Nationalsozialen Vereins“, der Theologe, politische Publizist und spätere liberale Parlamentarier Friedrich Naumann (1860 - 1919)208 das Neue der „Weltsituation“ und des „Zukunftskrieges“ auf den Begriff gebracht. Militärisch beruhe der Staat heute schon auf der Industriebevölkerung, auch wenn die bäuerliche Landwirtschaft noch weit über dem Durchschnitt die Soldaten liefere, schreibt er im Jahre 1909. Zwar sei der preußisch-deutsche Staat militärisch emporgewachsen als ein Landheerstaat auf der Grundlage bäuerlicher Rekruten und adliger Offiziere. Der Krieg von morgen werde ein völlig anderer sein wie der von gestern, ein volkswirtschaftliches Organisationsproblem allerschwerster Art und eine technische Leistung, wie sie noch nie gefordert worden sei. Nur das Volk, das die beste Technik in den militärischen Dienst stellen könne, werde den Sieg erringen.209 Vieles, was von Naumann und anderen Mitgliedern des „Nationalsozialen Vereins“ gefordert und formuliert wird, nach der Auflösung dieses „Vereins“ in andere Gruppierungen übergeht, verweist zurück auf ein Geflecht von Mitgliedschaften, von Berater- und Vortragsaktivitäten, auf Verkehrs-, Kommunikations- und Bekanntschaftskreise des „sozialreformerischen Engagements“, in ein intellektuelles und soziales Milieu des Kaiserreichs, in dem die Einsicht äußerst lebendig ist, daß man nicht die unterdrücken und rechtlos stellen dürfe, auf deren „Mithilfe“ man im Zuge der „Weltpolitik“ angewiesen sei. So ist der „nationalsoziale Standpunkt“ schon zu finden im sozialpolitisch-nationalpolitischen Tenor des bürgerlich-liberalen Nationalökonomen und Soziologen Max Weber (1864 - 1920). In seiner 1895 publizierten berühmt-berüchtigten akademischen Antrittsrede bekennt er: „Nicht Weltbeglückung ist der Zweck unserer sozialpolitischen Arbeit, sondern die soziale E in ig u n g der Nation, welche die moderne ökonomische Entwicklung sprengte, für die schweren Kämpfe der Zukunft.“210 Vielfach und vielfältig drückt sich auch im Rahmen der sozialreformerischen Diskussion die Hoffnung aus, daß die staatliche Sozialpolitik die „kriegerische Disposition“ verstärkt haben möge, daß mit der „größeren Zufriedenheit“ auch der Opferwille steige.211 Für den bekannten Nationalökonomen und Sozialreformer Heinrich Herkner (1863 - 1932) ergibt sich aus der internationalen Konkurenz um die letzten noch „freien Gebiete“ der Erde ebenfalls das Gebot der Aussöhnung mit der sich wandelnden, zu „realistischeren Positionen“ gelangenden Sozialdemokratie durch Fortführung der Sozialreform einschließlich der günstigeren Gestaltung des Wahlrechts für Landtag und Gemeinde - insbsondere in Preußen und Sachsen. Hauptsache bleibe die „Freude“ eines Volkes an seinem Staatswesen, „...die großmütige, unbeugsame Entschlossenheit, alles für dessen Erhaltung und Größe jederzeit 208 Vgl. zu diesem und der Ausbildung und Wandlung seiner Anschauungen: Theiner, Peter: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Baden-Baden 1983, sowie: Derselbe: Friedrich Naumann und der soziale Liberalismus im Kaiserreich. In: Holl, Karl, Trautmann, Günter, Vorländer, Hans (Hg.): Sozialer Liberalismus. Göttingen 1986, 72 - 83; vgl. als Primärquelle: Wenck, Martin: Friedrich Naumann. Ein Lebensbild. Berlin 1920. Sein aufschlußreicher Nachlaß findet sich im BA Abt. Potsdam. NL Naumann, 90 Na 3. 209 Vgl.: Naumann, Friedrich: Der Industriestaat. In: Die neue Rundschau, 4(1909), 1377 - 1396; vgl. als weitere wichtige innenpolitisch orientierte Schrift: Derselbe: Demokratie und Kaisertum. Berlin-Schöneberg 1905, sowie: Barth, Theodor, Naumann, Friedrich: Die Erneuerung des Liberalismus. Berlin-Schöneberg 1906. 210 Weber, Max: Der Nationalstaat...a.a.O.(=Anm. 8), 32 f. 211 Vgl. z.B. Mangoldt, Karl von: Der sociale Fortschritt als Glück für die oberen Classen. In: Die Zeit Nr. 256 vom 26. August 1899, 131 - 133, hier: 132.
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Arbeiterfrage, Sozialreform und „Weltpolitik“
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aufzuopfern. Das ist aber eine Gesinnung, welche heute ohne Teilnahme der Arbeiter an der politischen Gewalt nur schwer gedeihen kann.“212 Für den Berliner Nationalökonomen Ernst von Halle (1868 - 1909), der erkennt, daß die Gegner der Sozialreform ausgerechnet in dem Lager beheimatet sind, das am entschiedensten zur „Weltpolitik“ drängt,213 sind die Fortführung der Sozialreform und die „energische Betretung der Bahnen der Weltmachtpolitik“ unzertrennliche „Funktionen“ ein und desselben „Faktors“ der Entwicklung.214 Im Wettstreit der Nationen müsse Deutschland beide Richtungen betätigen oder es verliere die Möglichkeit des „gleichwerthigen Fortschritts“ mit den anderen Nationen. Zustimmend referiert er Auffassungen, nach denen die Sozialreform im Inneren die Beseitigung von „Reibungsgefahren“ und „Hemmungen“, einen wirksameren „Betrieb der volkswirtschaftlichen Maschinerie“ bedeute,215 eine Form der Erhaltung der Überlegenheit gegenüber den „mitbewerbenden Volkswirthschaften“ sei. Wirtschaftliche Höhe und Zusammenfassung der nationalen Kräfte seien ohne Sozialreform ebenso unmöglich wie Sozialreform ohne den Zugriff zu den „Produkten der Tropensonne“ und zu den anderen Gütern und Schätzen der Erde. Mit Blick auf England und englischen Sprachgebrauch sowie unter Einbeziehung anderer „Weltmacht-Mitbewerber“ schließt er: „Das größere Deutschland kann nur, auf die Arme und Herzen des ganzen, durch die Sozialreform aufs neue harmonisch gegliederten Volkes gestützt, wachsen und gedeihen.“216 Die Lösung der sozialen und „nationalen Frage“ falle in eins zusammen. Ihm erscheine die Sozialpolitik nur als „Magd der Nationalpolitik“, bekennt ein anderer Publizist. Soldaten von immer besseren geistigen und körperlichen Fähigkeiten, Soldaten von nationaler Gesinnung, Bevölkerungsvermehrung, ein Zurückgehen revolutionärer Elemente, ein Vertrauen der Massen in die Regierungen und manches andere kann auch er sich nur von einem „Fortschreiten der sozialen Reform“ versprechen.217 Auf dem „Elften Evangelisch-sozialen Kongreß“, abgehalten zu Karlsruhe Anfang Juni 1900, stellt der kolonialpolitisch engagierte Ökonom Karl Theodor Rathgen (1856 1921) die Frage nach dem Zusammenhang von „Weltpolitik“ und „innerer Sozialpolitik“. Auch er sieht positive Rückwirkungen auf die „sittliche Kraft“: „Keine Weltpolitik ohne soziale Gesundheit.“218 Auf einem späteren Kongreß wird eine besondere Facette von einem Befürworter der Gleichberechtigung und Anerkennung der Gewerkschaftsbewegung und des Tarifvertragswesens in die „weltpolitische“ Diskussion eingespeist: Die die Arbeitermassen diziplinierende Funktion der „vernünftigen“ Arbeiterbewegung und ihre „kuturfördernde“ und erzieherische Funktion wird betont und mit Blick auf die Rivalen England und Amerika wird festgehalten, daß sich deren „kolossale Macht“ daraus ergebe, daß sie mit den in den Arbeiterorganisationen vereinigten Massen rechnen könnten. Auch die deut-
212 Herkner, Heinrich: Die Arbeiterfrage. Eine Einführung. Fünfte, erweiterte und umgearbeitete Auflage. Berlin 1908, 59; vgl. zu Herkners „demokratietheoretischen“ Anschauungen auch seinen Beitrag: Sozialreform und Politik. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 51(1895)4, 575 - 596. 213 Vgl.: Halle, Ernst von: Weltmachtpolitik und Sozialreform. In: Soziale Praxis, 8(1899)20, Sp. 521 - 526, Teil II: Heft 21, Sp. 553 -559, hier: Sp. 523. 214 Vgl. denselben, ebenda, Sp. 526. 215 Vgl. ebenda, Sp. 555. 216 Ebenda, Sp. 559 (im Original gesperrt gedruckt); in erweiterter und überarbeiteter Form findet diese Arbeit sich in: Halle, Ernst von: Weltwirthschaftliche Aufgaben und weltpolitische Ziele. Berlin 1902, 203 - 241. 217 Vgl.: Martin, Rudolf: Mehr Lohn und mehr Geschütze. In: Preußische Jahrbücher (1896), 282 - 296. 218 Die Verhandlungen des Elften Evangelisch-sozialen Kongresses abgehalten zu Karlsruhe am 7. und 8. Juni 1900. Göttingen 1900, 146.
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Arbeiterpolitik in der Ära des Imperialismus
sche Kultur könne und müsse auf den Massen beruhen, „...die durch die Organisationen zu Persönlichkeiten erzogen sind.“219 Neben Friedrich Naumann muß Ernst Francke (1852 - 1921) als Exponent der Verbindung „weltpolitischen“ und sozialrefomerischen Denkens angesprochen werden. Als langjähriger Herausgeber der Zeitschrift „Soziale Praxis“ und Generalsekretär der „Gesellschaft für Soziale Reform“ ist er eng in das Geflecht sozialpolitisch denkender Kreise des Kaiserreichs eingebunden und pflegt Beziehungen bis in den Bereich der „großen Politik“ hinein. Ursprünglich erfolgreich im Bereich des Journalismus tätig und bei Lujo Brentano promoviert, engagiert er sich stark in der Flottenpropaganda, wird vor allem wohl hierfür im Juni 1900 mit dem Professorentitel geehrt.220 Von hier liegt bei ihm die Forderung nach einer Verbindung von „arbeiterfreundlicher“ Innen- und forcierter „Weltpolitik“ nahe, wie er sie vor allem in der „Sozialen Praxis“221 aber auch an anderer Stelle entfaltet.222 Wenn er auf jener berühmten, gegen den „Stillstand“ der staatlichen Sozialpolitik in der Vorkriegszeit gerichteten öffentlichen Kundgebung in Berlin am 10. Mai 1914 seinen rund 5.000 Zuhörern unter „stürmischem, anhaltenden Beifall“ zuruft: „Nun erst recht soziale Reform, zum Besten von Volk und Vaterland“,223 so ist das zunächst und in erster Linie auf den sozialliberalen, mit den Februar-Erlassen von 1890 in Verbindung gebrachten Entwicklungspfad der Selbsthilfe, der „Gleichberechtigung“ und „Anerkennung“ der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung bezogen. Der „Weltpolitiker“ Francke denkt aber auch an eine Geburtenbzw. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik, Ernährungs- und Wohnungspolitik, innere Kolonisation, Bodenreform zur Ansiedlung zahlreicher Bauernfamilien usw., denn: „Eine starke Wehrmacht und ihre gewaltigen Geldforderungen können nicht auf tönernen Füßen Bestand haben, sondern bedürfen als ehernen Unterbau ein gesundes, kräftiges, zahlreiches Volk und ein blühendes, ertragreiches Wirtschaftsleben.“224
219 Vgl.: Die Verhandlungen des Sechszehnten Evangelisch-sozialen Kongresses abgehalten in Hannover am 13. und 14. Juni 1905. Göttingen 1905, 41; die nationale Parole hat u.a. auch schon den Evangelisch-sozialen Kongreß von 1896 „bewegt“; vgl.: Der Evangelisch-soziale Kongreß. In: Die Grenzboten, 55(1896)2, 481 - 487; die Rolle der „Massen“ für die „Weltpolitik“ betont auch: Nitzsche, M.: Sozialreform und Machtpolitik. In: Das freie Wort, 3(1904), 286 293. 220 Biographische Hinweise finden sich bei: Schmoller, Gustav: Charakterbilder. München und Leipzig 1913, 291 293; mit weiteren Quellenangaben: Ratz, Ursula: Sozialreform...a.a.O.(=Anm. 138), 22 f. 221 Vgl. z.B.: Francke, E.(rnst): An der Jahrhundertwende! In: Soziale Praxis, 9(1900)14, Sp. 337 - 341; derselbe: Der Wechsel im Reichskanzleramt und die Sozialpolitik. In: Soziale Praxis, 18(1909)43, Sp.1121 -1126; derselbe: Reichsmacht und Sozialreform. In: Soziale Praxis, 22(1913)29, Sp. 833 - 836. 222 Vgl. z.B. Francke, Ernst: Weltpolitik...a.a.O. (=Anm. 2); vgl. seinen Beitrag in: Oeffentliche Kundgebung für Fortführung der Sozialreform. Veranstaltet am 10. Mai 1914 in Berlin von der Gesellschaft für Soziale Reform. Jena 1914, 12 - 26. 223 Vgl. denselben, ebenda, 26.; Pressestimmen zu dieser Kundgebung finden sich in der Sozialen Praxis, 23(1914)34, Sp. 951 - 953; Heft 35, Sp. 973 - 975. 224 Francke, E.(rnst): Reichsmacht...a.a.O.(=Anm. 221), Sp. 835.
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Der „Burgfrieden“ als sozialpolitische Grundsatzentscheidung und Methode
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6 Der Erste Weltkrieg als Entwicklungsbedingung staatlicher Sozialpolitik
„Sie haben gelesen, meine Herren, was Ich an Mein Volk vom Balkon des Schlosses aus gesagt habe. Hier wiederhole ich: Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur Deutsche. (Langanhaltendes brausendes Bravo.) Zum Zeichen dessen, daß Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschiede, ohne Stammesunterschiede, ohne Konfessionsunterschiede durchzuhalten mit Mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere Ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und Mir das in die Hand zu geloben.“1 „Die Spaltung in der sozialdemokratischen Partei werde weitergehen und wenn die Regierung die Mittel unbenutzt lasse, welche eine ihr günstige Entwicklung in der Partei unterstützten, so lade sie damit eine ernste Schuld auf sich. Bei der zunehmenden Schwierigkeit der Kriegführung sei diese Frage von der allergrößten Bedeutung. Die Gewerkschaften legten auf die in Aussicht genommene Änderung des Vereinsgesetzes den größten Wert. Sie gehörten ja aber gerade zu den verständigen Elementen unter den Sozialdemokraten und aus diesem Grunde sei es besonders angezeigt ihren Wünschen entgegenzukommen.“2 „Es ist klar, daß, wenn die Industriellen die Arbeitnehmer und ihre Organisationen für eine gemeinsame Industriepolitik gewinnen wollen, dies nur dann erreichbar ist, wenn wir für diese Mithilfe, die wir von den Arbeitnehmern erwarten, einen Gegendienst leisten, und diese Gegengabe mußte bestehen und wird weiter bestehen müssen in einem Entgegenkommen in sozialen Fragen, vor allem in den Arbeitsbedingungen. Das ist das große Opfer, daß die Unternehmerschaft gebracht hat und das sie bringen mußte.“3
6.1 Der „Burgfrieden“ als sozialpolitische Grundsatzentscheidung und Methode der Stabilisierung der Kriegsgesellschaft 6.1 Der „Burgfrieden“ als sozialpolitische Grundsatzentscheidung und Methode So betritt das Kaiserreich die „Arena“ des Ersten Weltkrieges tatsächlich in einer Phase des „Stillstandes“ der Sozialreform und einer in weiten Kreisen gegen die Fortführung der Sozialpolitik eingenommenen öffentlichen Meinung. Auch die Spannungen zwischen Regierung und organisierter Arbeiterschaft und zwischen Arbeit und Kapital erscheinen als vertieft. Die Befürchtung der Sozialreformer, die „Weltpolitik“ könne schon bald aus Gründen des sozialpolitischen „Stillstandes“ scheitern, erweist sich jedoch als zu vordergründig und „pessimistisch“. Der „Stillstand“ wird vielmehr relativ rasch überwunden und unter dem unmittelbaren und mittelbaren Einfluß des Ersten Weltkrieges kommt die deut1 So Wilhelm II. nach der Verlesung der Thronrede am 4. August 1914 bald nach 13.00 vor den im Schloß versammelten Reichstagsabgeordneten und Bundesratsbevollmächtigten; vgl.: Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte . XIII. Legislaturperiode. II. Session 1914. Berlin 1916, 2. 2 Diskussionsbeitrag des Präsidenten des Königlichen Staatsministeriums und Reichskanzlers, Theobald von Bethmann Hollweg, auf einer Sitzung des Staatsministeriums vom 11. Dezember 1915; vgl.: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA Merseburg), Rep. 90a, Titel III 2b, Nr.6, Abt. B, Bd. 164, 351. 3 So der Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, Jacob Reichert, am 30. Dezember 1918; vgl.: Derselbe: Entstehung, Bedeutung und Ziele der „Arbeitsgemeinschaft“. Berlin 1919, 7.
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Der Erste Weltkrieg als Entwicklungsbedingung staatlicher Sozialpolitik
sche, in Friedenszeiten bereits vorgedachte staatliche Sozialpolitik zu ihrem grundsätzlichen „Abschluß“, zu ihrer „Vollendung“. Die „Vollendung“, die damals erreicht wird, hat bleibende Bedeutung für die sozialpolitische Entwicklung bis in die Bundesrepublik: Seitdem erscheint der schon vor 1914 entfaltete „sozialreformerische Phantasiehorizont“ als grundsätzlich erschöpft.4 Die Konzeptionen der Militärs, die Äußerungen aus Regierungskreisen und „bürgerlicher Sozialreform“, die einen Zusammenhang zwischen Arbeiterfrage, Sozialreform und „Weltmachtpolitik“ hergestellt haben, lassen erahnen, welche Kräfte und Ideen, welche Interessen, welche sozialen und ökonomischen Zustände unter der Herrschaft des Krieges, welche Antriebskräfte den Geschichtsprozeß in Richtung auf die „volle Ausbildung“ staatlicher Sozialpolitik erneut in Gang gesetzt und beschleunigt haben können. Die im folgenden zu belegende Tatsache, daß sich der Erste Weltkrieg, im Sinne der sozialreformerischen Bestrebungen und Konzeptionen der Vorkriegszeit, als der „große Schrittmacher der Sozialpolitik“ erwiesen hat,5 kann sich schon auf den ersten Blick nicht auf das Niveau staatlicher Sozialleistungen, auf die damals herrschende Lebenslage der abhängig Beschäftigten beziehen. Bereits mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges sinkt die Lebenshaltung, nach der Kriegsniederlage ist Deutschland bitter arm geworden. Krieg und Inflation haben die Daseinsbedingungen der „kleinen Leute“ ruiniert. Der Staat, schreibt Herkner, habe das böse Wort Nietzsches vom „kältesten aller kalten Ungeheuer“ wahr gemacht, die Arbeiter habe er um den Lohn ihrer Arbeit, die Greise, Witwen, Waisen, Kriegsbeschädigten und Unfallverletzten um die kargen Sicherungen, auf die sie ein Recht besaßen, mittelbar oder unmittelbar geprellt.6 Deutschland wird Ziel internationaler Hilfe, Empfänger „ausländischer Liebesgaben“, die zunächst vor allem von den Ländern ausgehen, die vom Kaiserreich und seinen Verbündeten nicht mit Krieg überzogen wurden.7 Es kann sich also „nur“ um eine „kategoriale“ Weiterentwicklung und um eine entsprechende „Vollendung“ der staatlichen Sozialpolitik handeln. Die Analyse des Zusammenhangs von Krieg und staatlicher Sozialpolitik zwingt zu der Einsicht, daß ein Ereignis, das schon allein ausgereicht hätte, das 20. Jahrhundert zu einem Trauerspiel, zur Apokalypse, zu einem „Menschenschlachthaus“8, zu dem entsetzlichsten Säkulum der Menschheitsgeschichte werden zu lassen, eine „positive“ Wirkung gehabt hat: die „Vollendung“ der Sozialreform. Primär ethische Fragen und Betrachtungen oder die Formel, daß der Krieg eben doch der „Vater aller Dinge“ sei, könnten sich aufdrängen. Sie sind jedoch nicht der Gegenstand der folgenden Analyse, die das unvollendete Projekt der Aufklärung am Gegenstand des Krieges und der Sozialpolitik vorantreiben möchte. Es geht auch nicht, was naheliegen könnte, darum, die staatliche Sozialpolitik mit dem Hinweis auf ihren „Geburtshelfer“ zu denunzieren, schon garnicht soll dem Krieg „positiver Sinn“ abgewonnen werden. Er ist ein enthumanisiertes, verwerfliches Mittel der Interessendurchsetzung.
4 Vgl.: Bruch, Rüdiger vom: Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich. In: Derselbe (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Stuttgart 1987, 61-179, hier: 144 f. 5 So die Ausdrucksweise bei: Preller, Ludwig: Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Kronberg/Ts., Düsseldorf 1978 (Erstmals: 1949), 85. 6 Vgl.: Herkner, Heinrich: Unbestrittene und bestrittene Sozialpolitik. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 48 (1924), 201 - 218, hier: 201 f. 7 Umfangreiches Material findet sich BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 9105, 9106. 8 So der Titel der bekannten Antikriegsschrift von: Lamszus, Wilhelm: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg. Hamburg und Berlin 1913 (Erstauflage: 1912).
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Der „Burgfrieden“ als sozialpolitische Grundsatzentscheidung und Methode
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Der Erste Weltkrieg ist eine Wegmarke der Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, ihr Versagen auf dem Gebiet der Friedensicherung hat, insbesondere im Rahmen der DDR-Historiographie, von einem „gefestigten Standpunkt“ aus zu harten moralischen Urteilen geführt. Vom „Verrat“ der sozialdemokratischen Führung an ihren Prinzipien und an den Massen ist die Rede.9 Andere Autoren betonen den Charakter des sich herausbildenden Kooperationskurses von Arbeiterbewegung, Staat, Unternehmertum und Militär als Fortsetzung innergewerkschaftlicher oder innerparteilicher Entwicklungen10 einschließlich situativer Zwänge und gelungener Inszenierungen der herrschenden, zum Krieg treibenden Kreise.11 Soweit und solange diese Publikationen sich den Quellen beugen und diese angemessen interpretieren, tragen sie ihren Wert in sich. Sie geben Aufschlüsse von großer Bedeutung auch für die Abklärung der unmittelbaren Wirkungen des Ersten Weltkrieges auf die staatliche Sozialpolitik. Zentral für diese ist nämlich die Entstehungsgeschichte, die Form und der Inhalt des Kooperationskurses, entscheidend sind die Motivationen der daran beteiligten Kräfte sowie die Natur des Krieges. Vor die Tatsache des Krieges und seines Verlaufs gestellt, den Verlust der Massenloyalität und die Möglichkeit des „Umsturzes“ als Kriegsfolge fürchtend, geraten auch die antisozialstaatlich eingestellten „Eliten“ des Militärstaats des Kaiserreichs zunehmend in den Bannkreis der traditionellen Mittel und Ideen der gesellschaftlichen Integration durch staatliche Sozialpolitik und nähern sich jenen Überlegungen, die einen Zusammenhang zwischen „Weltpolitik“ und „Sozialreform“ hergestellt haben. Die gegen die Fortsetzung der Sozialpolitik vorgebrachten Argumente und Ideologien sind vor dem Hintergrund eines dringenden Handlungsbedarfs in einer ebenso spannungsreichen wie bald auch konfliktbelasteten Kriegsgesellschaft chancenlos. Der Zeitpunkt für die „große Alternative“, für die Fortsetzung des „Stillstands“ in der Sozialpolitik flankiert durch den Bürgerkrieg, der Zeitpunkt für den Krieg „nach innen“, um ihn dann um so erfolgreicher nach außen führen zu können, ist „verpaßt“. Dennoch „flackert“ diese Strategie, die nicht nur den „überforderten“, sprunghaften, eitlen und unberechenbaren deutschen Kaiser bewegt, zu Kriegsbeginn noch einmal kurz auf. Wiederum nicht im Sinne einer „Eins-zu-eins-Umsetzung“ von sozialreformerischen Ideen in Politik, sondern im Sinne einer konflikthaften, durch diese Ideen strukturierten und angetriebenen Entwicklung, zeitigt der Erste Weltkrieg ganz spezifische sozialpolitische Folgen. Diese sind demzufolge bis zu einem gewissen Grade auch „vorhersehbar“.12 Die sozialpolitischen Folgen des ersten Weltkrieges unterscheiden sich mit ihrem spezifischen Vergangenheitsbezug in wesentlichen Aspekten deutlich von der „völkischen Sozialpolitik“ im „Dritten Reich“.13
9 Vgl. etwa: Richter, Werner: Gewerkschaften, Monopolkapital und Staat im Ersten Weltkrieg und in der Novemberrevolution (1914 - 1919). Berlin 1959; Bartel, Walter: Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen Militarismus und Krieg. Berlin 1958, 160 ff.; Wohlgemuth, Heinz: Burgkrieg, nicht Burgfriede! Berlin 1963, 43 ff. 10 Vgl. zusammenfassend: Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Düsseldorf 1974. 11 Vgl.: Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1974, bes. 617 ff.; neuerdings: Groh, Dieter, Brandt, Peter: „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860 - 1990. München 1992, bes. 158 ff. 12 Auf der Basis von gedruckten Quellen habe ich dazu die folgenden, den Stand der Forschung enthaltenden Beiträge vorgelegt: Krieg und staatliche Sozialpolitik. In: Leviathan, 17(1989)4, 479-526; Die Weltkriege und die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik. Thesen zu einem Zusammenhang. In: Krieg und Literatur, 3(1991)5/6, 259-274; Der Krieg als Entwicklungsbedingung staatlicher Sozialpolitik. In: Voigt, Rüdiger (Hg.): Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat? Baden-Baden 1993, 307-329. 13 Vgl. dazu Band II dieser Sozialstaatsgeschichte, Kapitel 3 und 4.
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Der Erste Weltkrieg als Entwicklungsbedingung staatlicher Sozialpolitik
Am Anfang des erwähnten Kooperationskurses steht der „Burgfrieden“.14 Im Bewußtsein von der überragenden Bedeutung der Volksmassen für den „modernen Krieg“ sollen gesellschaftliche Spannungslinien, insbesondere solche, die von der Arbeiterbewegung ausgehen, „überdeckt“ werden. Je näher nun die Stunde des Krieges rückt, desto gebieterischer verlangt vor allem die „Arbeiterfrage“ nach Auffassung der herrschenden Kreise unter den gegebenen Bedingungen eine praktische Antwort. Mit großem Gewicht stellt sich neben die „militärische, wirtschaftliche und finanzielle Rüstung“ die Notwendigkeit einer innenpolitischen Grundsatzentscheidung. Während nun am Beginn der von vornherein an Aufrüstung und militärischer Aggression orientierten NS-Herrschaft die gewaltsame Zerschlagung der Arbeiterbewegung steht, versuchen die entscheidenden politischen Kräfte im Deutschen Kaiserreich eine „Zustimmung“ der Arbeiterbewegung zur beabsichtigten Kriegführung zu erreichen. Zur gleichen Zeit, in der das Reich aus Furcht, von den potentiellen Kriegsgegnern überrüstet zu werden und die „militärische Option“ zu verlieren, die Krise zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, wo am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie ermordet wurden, zur Verschärfung der internationalen Lage nutzt und dem Ziel eines Krieges in einem „günstigen Zeitpunkt“ zustrebt,15 agiert die politische Führung vor allem mit drei Mitteln zur Sicherung der „inneren Geschlossenheit“ der Nation: Sie verhindert weitgehend erfolgreich, daß die Militärbefehlshaber in den Armeekorps- und Festungsbereichen mit der Verhängung des Kriegszustandes die geplanten Repressivmaßregeln gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ergreifen. Damit soll verhindert werden, daß diese von vornherein in eine grundsätzliche Opposition getrieben wird.16 Darüber hinaus nehmen Repräsentanten der Reichsregierung, vor allem auch der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, Kontakt zu kooperationswilligen Führern der Arbeiterbewegung auf, um die Absichten auf dieser Seite zu erkunden, um sie von der „Friedensliebe“ des Reiches zu überzeugen, um sie also insgesamt „günstig“ zu beeinflussen. Durch die Manipulation des „diplomatischen Spiels“, durch die Vorlage geschickt verfälschter Akten und anderer Informationen, durch einen regelrechten Propagandakrieg soll, drittens, in der Bevölkerung ganz allgemein und damit auch in der Sozialdemokratie die Überzeugung geweckt und gefestigt werden, daß das Deutsche Reich einen Verteidigungskrieg gegen das insbesondere in der Arbeiterbewegung verhaßte Rußland führen müsse. Das Argument, man führe einen „Verteidigungskrieg“, wird damals von allen kriegsbeteiligten Staaten unabhängig vom tatsächlichen Kriegsgeschehen ergriffen. „Alle Staaten wollen die Angegriffenen sein“,17 um das „Recht der Notwehr“, die „Moralität“ für sich reklamieren zu können und um den jeweiligen Gegner als unmoralisch, als angriffs- und
14 Vgl. zur ursprünglichen Bedeutung dieses Begriffs das Stichwort: Burgfriede. In: Ersch, J.(ohann) S.(amuel), Gruber, J.(ohann) G.(ottfried) (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste... Dreizehnter Theil. Leipzig 1824, 66 f. 15 Diese Darstellung berührt eine umfassende und insbesondere in der Vergangenheit erbittert ausgetragene Kontroverse um die Rolle Deutschlands beim „Ausbruch“ des Ersten Weltkrieges, die vor allem durch die Arbeiten des Hamburger Historikers Fritz Fischer ausgelöst wurde und hier nicht entfaltet werden kann. Vgl. zusammenfassend: Schöllgen, Gregor: Griff nach der Weltmacht? 25 Jahre Fischer-Kontoverse. In: Historisches Jahrbuch, 106(1986), 386-406; vgl. als wichtige Arbeit auch: Groh, Dieter: Negative Integration ...a.a.O.(=Anm. 11), bes. 617 ff. 16 Vgl.: Groh, Dieter: Negative Integration...a.a.O.(=Anm. 11), 626 ff. 17 Vgl.: Lederer, Emil: Zur Soziologie des Weltkrieges. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 39(1915), 347-384, hier: 371.
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Der „Burgfrieden“ als sozialpolitische Grundsatzentscheidung und Methode
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eroberungssüchtig hinstellen zu können,18 um die nun „fälligen“ Opfer von „Gut und Blut“ und die Gewaltanwendung zu „erleichtern“ und zu legitimieren, kurz: um psychische Hemmungen abzubauen, die einer außengerichteten Gewaltpolitik, dem Umschlag von „Zivilisation“ in Barbarei entgegenstehen. Dementsprechend zeigt sich auch und insbesondere im Deutschen Reich, daß der Krieg weder die Stunde der Wahrheit noch jene der analytischen Vernunft ist. Schon die unmittelbare Kriegsgefahr erweist sich als Fundamentalereignis, das das ganze Leben ergreift und Besitz von den Gefühlen und Instinkten nimmt. Nach der von der deutschen Regierung als Kriegsgrund herbeigesehnten russischen Generalmobilmachung, mit der darauf folgenden Kriegserklärung des Reichs an Rußland am 1. August 1914, unter dem Eindruck von Gerüchten und Falschmeldungen über Sabotage und Angriffshandlungen im Osten und Westen, verbreiten sich Angst, Entsetzen, Verzweiflung, Bedrücktheit aber auch eine vor allem im „Bildungsbürgertum“ verankerte „Kriegsbegeisterung“.19 Kriegshetzerische und chauvinistische Parolen schlagen sich, anknüpfend an die Rußlandfeindschaft der Vorkriegszeit, sogar in der sozialdemokratischen und freigewerkschaftlichen Presse nieder20, die mit Verhängung des Kriegszustandes und der Anwendung des „Gesetz über den Belagerungszustand“ vom 4. Juni 1851 einer unterschiedlich praktizierten Zensur untersteht.21 Von „russischem Blutzarismus“, vom „millionenfachen Verbrecher an Freiheit und Kultur“, von „halbbarbarischen Horden“ ist zum Beispiel in der sozialdemokratischen Essener „Arbeiter-Zeitung“ die Rede.22 Der antidemokratische, „heimtückische und grausame Zarismus“, die „Hauptgefahr für die Kultur“, wird an anderer Stelle gegeißelt.23 Ein Aufruf des sozialdemokratischen Parteivorstandes vom 31. Juli 1914 läßt die rechtfertigende Tendenz erkennen, daß das „internationale Proletariat“ bis zur letzten Minute alles versucht habe, den Krieg, die „fürchterliche Selbstzerfleischung der europäischen Völker“, zu verhindern.24 Tatsächlich haben sowohl die entscheidenden Vertreter der Sozialdemokratie als auch jene der Freien Gewerkschaften sich stets geweigert, sich in ihren internationalen Zusammenschlüssen auf eindeutige, unumgehbare und möglicherweise kriegserschwerende oder -verhindernde Aktionen festlegen zu lassen.25 Die bedeutenden Antikriegsdemonstrationen der unmittelbaren Vorkriegsphase werden, wie ein führender Sozialdemokrat der Reichsregierung schon Ende Juli 1914 zugesichert hat, nicht ausgeweitet, sondern „rechtzeitig“ beendet. Ein ernsthafter Versuch, den Ausbruch des Krieges durch Massenaktionen zu stoppen, wird nicht unternommen und von den entscheidenden
18 Vgl. zur Funktion derartiger Rechtfertigungen die Gedanken Nietzsches bei: Krippendorff, Ekkehart: Staat und Krieg. Frankfurt a.M. 1985, 163 f. 19 In „vollkommener Form“ wird die offizielle Version des „Kriegsausbruchs“ vom Reichskanzler in der berühmten Sitzung des Reichstags vom 4. August 1914 dargeboten; vgl.: Stenographische Berichte... a.a.O.(=Anm. 1), 5 ff. 20 Vgl. mit Belegen auch: Groh, Dieter: Negative Integration...a.a.O.(=Anm. 11), 705 ff.; vgl. dazu auch: Liebknecht, Karl: Klassenkampf gegen den Krieg. Berlin o.J.(1915), 9 ff. 21 Vgl. zum Gesetz: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1851, Nr. 26, 451; auf die Zensur weist der „Vorwärts“ ausdrücklich hin; vgl: An unsere Leser! In: Vorwärts vom Sonnabend, den 1. August 1914,1. 22 Vgl.: In ernster Stunde! In: Arbeiter-Zeitung Nr. 178 vom Montag, den 3. August 1914,1. 23 Vgl.: Der Krieg und die Arbeiterbewegung. In: Metallarbeiter-Zeitung Nr. 32 vom 8. August 1914, 1 24 Vgl.: Arbeiter-Zeitung...a.a.O.(=Anm. 22),2 25 Vgl. zur Diskussion in der II. Internationalen die vom Herausgeber verfaßte Einleitung in: Lademacher, Horst (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz. I. Protokolle. The Hague, Paris 1967, XXI-LXI.
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Kräften der Freien Gewerkschaften nicht einmal erwogen.26 Ein Aufruf der Generalkommission der Gewerkschaften vom 2. August, dem Tag, an dem die deutsche Kriegsmaschine endgültig in Bewegung gesetzt wird, mahnt zur Organisationstreue auch im Kriege und verspricht materielle Unterstützung bei „bitterster Not“. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, daß die Schwächung der Arbeiterbewegung im Kriege nicht ausgenutzt werde, die Löhne zu drücken und „unwürdige Anforderungen an die Arbeiterschaft“ zu stellen.27 Skeptische Stimmen, die die offizielle Version der Kriegsursachen, die die Legende vom gerechten Verteidigungskrieg in Frage stellen, können weder die Integration in die nationale „Einheitsfront“, noch die Ereignisse wenden, die in schneller Abfolge auf die Arbeiterbewegung hereinbrechen. Markanter Höhepunkt und weitere Frucht dieser Burgfriedenspolitik, dieser Politik einer innenpolitischen Integration und „Beruhigung“, um erfolgreich nach außen Krieg führen zu können, ist der Beschluß der Vorständekonferenz der Freien Gewerkschaften vom 2. August 1914, alle Streiks und Streikgeldzahlungen einzustellen.28 Schon vor diesem Beschluß hatte die Generalkommission im Reichsamt des Innern über die Lage der Gewerkschaften verhandelt und die „überraschende“ Zusicherung erhalten, daß die Gewerkschaften im Falle des Wohlverhaltens von den Behörden nichts zu befürchten haben.29 Diese gewerkschaftliche Entscheidung wirkt sich präjudizierend auf die Haltung der Sozialdemokratie aus. Diese stimmt, keineswegs durch eine durchgängig kriegsbegeisterte „Basis“ gezwungen, aus fortbestehender Furcht vor grausamer staatlicher Unterdrückung und Zerschlagung der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen und aus anderen Motiven zum blanken Entsetzen der weiterhin pazifistisch und internationalistisch orientierten linken Kräfte am Dienstag, den 4. August 1914, unter Anwendung der Fraktionsdisziplin geschlossen den Kriegskrediten zu.30 Wie beinahe alle sozialdemokratischen Organisationen im Ausland, denen die eigene nationale „Wendung“ durch die sie enttäuschende Politik der deutschen Sozialdemokratie sicher erleichtert wird, stellen sich damit auch die herrschenden Kräfte in der Arbeiterbewegung des deutschen Kaiserreichs auf den „nationalen Standpunkt“. Der sicher teilweise auch mit „Vorbehalten“ und aus persönlicher Opportunität geteilte „Patriotismus“ siegt damit im August des Jahres 1914 über den Internationalismus, der Burgfrieden über den Klassenkampf. An die Stelle des alten inneren Feindes Staat und Unternehmertum tritt der äußere Feind, der Geist des Internationalismus, der Völkerversöhnung und der Friedensliebe erleidet eine schwere Niederlage. Es erweist sich in Europa als Illusion, daß im Jahre
26 Vgl.: Potthoff, Heinrich: Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution: Kontinuität und Wandel. In: Matthias, Erich, Schönhoven, Klaus (Hg.): Solidarität und Menschenwürde. Bonn 1984, 107-131, hier: 108. 27 Vgl.: An die Mitglieder der Gewerkschaften! In: Bergarbeiter-Zeitung Nr. 33 vom 15.08.1914, 2; dieser Aufruf ist auch abgedruckt bei: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914-1919. Köln 1985 (=Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert. Band 1), 84. 28 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Teil I. Hamburg 1981, 85 ff. 29 Vgl. die Fußnote 3 bei: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften ...a.a.O.(=Anm. 27), 74. 30 Vgl. dazu grundlegend: Miller, Susanne: Burgfrieden...a.a.O.(=Anm. 10), 31 ff.; als Primärquelle: Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918. In Verbindung mit Erich Matthias bearbeitet von Susanne Miller. Düsseldorf 1966 (=Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien...Band 4), bes. 3-13; die große Bedeutung der Angst vor Verfolgung für die Entscheidung des 4. August betont auch: Borchardt, Julian: Vor und nach dem 4. August 1914. Hat die deutsche Sozialdemokratie abgedankt? Berlin-Lichterfelde 1915, 6; vgl. insgesamt auch: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 28), 73 ff.
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1914 die „Beherrschten“, die „Unterworfenen“ aller Länder den „Beherrschern der Welt“ ihren Willen aufdrücken können.31 In dieser Situation wird der Vorwurf der Sozialdemokraten des Auslands vom „Verrat“ der deutschen Sozialisten an der Internationale empört zurückgegeben. Sozialdemokraten aller Länder seien in „patriotischer Entflammung“ zur Fahne ihres Landes geeilt. Führende Vertreter des Gedankens der Insurrektion und des Massenstreiks und erklärte internationalistische Marxisten seien, eben noch Todfeinde ihrer Regierung, in hohe Regierungsämter gelangt und beteiligten sich nun an der „Niederringung der Deutschen“.32 Wenn, so formuliert der rechte Sozialdemokrat Konrad Haenisch sehr pauschalierend, undifferenziert und die Ausnahmen unterschlagend, die deutsche Sozialdemokratie an der Internationalen Verrat geübt haben sollte, so hätten die Arbeiterparteien des Auslands solchen Verrat tausendfach verübt und zwar wie in Deutschland „...ohne jeden Unterschied der Richtung, Revisionisten wie Marxisten, Opportunisten wie Radikale.“33 Kein Zweifel: mit Beginn des Krieges haben Kriegsbegeisterung, Nationalismus,34 das verheerende Gift des Chauvinismus und Völkerhasses35 nicht nur in bürgerlichen Kreisen, sondern auch in Teilen der Arbeiterbewegung Platz ergriffen. Die vom „Blutzarismus“ ausgehenden Schrecknisse werden in den Augen führender Gewerkschafter bald um die Gefahren ergänzt, die von den Westmächten unter dem Beifall der dortigen Sozialisten ausgehen sollen: Blinder Haß, militärische Besetzung, Reparationen, Reduzierung des deutschen Staatsgebiets, Zerstückelung des restlichen Deutschland in Kleinstaaten, Ausschaltung des deutschen Handels auf dem Weltmarkt und als Folge von allem: Arbeitslosigkeit, Lohnreduktion, Ausschaltung der Tarifverträge, Anarchie in den Arbeitsverhältnissen, die gewerkschaftlichen Organisationen um jeden Einfluß gebracht, Massenelend und Auswanderung werden von einem führenden Gewerkschafter beschworen.36 Ohne hochentwickelte Industrie verliere auch die Arbeiterbewegung an Kraft, der Krieg werde nicht nur im Interesse der Kapitalisten ausgefochten, auch für die Emanzipation der Arbeiter sei ein deutscher Sieg notwendig, auch die Arbeiterklasse kämpfe um ihre Existenz auf den Schlachtfeldern Europas.37 Die Unterstützung des Kriegskurses durch die dem Fraktionszwang und der besonderen historischen Situation unterworfenen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten reicht jedoch weit über die Bewilligung der Kriegskredite hinaus. Als der Reichskanzler 31 Vgl. ähnlich mit rechtfertigender Tendenz: Renner, Karl: Marxismus, Krieg und Internationale. Stuttgart 1917, 354; das Zerbrechen der sozialistischen Internationale löst schon im Krieg einige Publikationen aus. Vgl z.B.: Poetzch, Hugo: Der Friede und die Internationale. Berlin-Karlshorst 1915; Trotzky, Leo R.: Der Krieg und die Internationale. München o.J. (1914). 32 Vgl. besonders pointiert: Haenisch, Konrad: Krieg und Sozialdemokratie. Drei Aufsätze. Hamburg 1915, 10 ff.; vgl. auch: Fendrich, Anton: Der Krieg und die Sozialdemokratie. Stuttgart und Berlin 1915, 13. 33 Haenisch, Konrad: Krieg...a.a.O.(=Anm. 32), 14. 34 Vgl. etwa die Schrift von: Braun, Lily: Die Frauen und der Krieg. Leipzig 1915, sowie die Ansichten Ludwig Franks; vgl. dazu: Ludwig Frank. Aufsätze, Reden und Briefe ausgewählt und eingeleitet von Hedwig Wachenheim. Berlin 1925. 35 Vgl. dazu die gegen den Völkerhaß argumentierende aber dennoch davon nicht freie Schrift von: Severing, Carl: Sozialdemokratie und Völkerhaß. Berlin-Karlshorst 1915. 36 Vgl. insgesamt: Jansson, Wilhelm (Hg.): Arbeiterinteressen und Kriegsergebnis. Ein gewerkschaftliches Kriegsbuch. Berlin-Karlshorst 1915, hier besonders den Beitrag des Herausgebers, der Redakteur des Correspondenzblattes und Mitglied der Generalkommission ist; vgl. ähnlich: Haenisch, Konrad: Der Arbeiter und sein Vaterland. BerlinKarlshorst 1915, 23. 37 Vgl. dazu: Mai, Gunther: Burgfrieden und Sozialpolitik in Deutschland in der Anfangsphase des Ersten Weltkrieges (1914/15). In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 20(1976)2, 21 - 50, hier: 37.
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unter Berufung auf das „Notwehrrecht“ gegen ein vorgeblich den Frieden brechendes Frankreich mitteilt, daß deutsche Truppen Luxemburg besetzt und vielleicht schon (neutrales) belgisches Gebiet betreten hätten,38 erhebt sich hiergegen kein Protest. Die Sozialdemokraten stimmen darüber hinaus im Verein mit sämtlichen anderen Reichstagsabgeordneten auf der Nachmittagssitzung des 4. August 1914 einer ganzen Reihe von Kriegsgesetzen zu, die den Rechtsverkehr an die Kriegsgegebenheiten anpassen sollen, zu denen aber auch ein Gesetz zur Verschlechterung des Arbeiterschutzes gehört.39 Damit steht der in der Gewerbeordnung und in Bundesratsverordnungen verankerte Arbeitsschutz in weitem Umfang zur Disposition. Die Sozialdemokratie stimmt auch dem ebenfalls zum Gesetzgebungspaket gehörenden „Ermächtigungsgesetz“, dem „Gesetz über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen und über die Verlängerung der Fristen des Wechsel- und Scheckrechts im Falle kriegerischer Ereignisse“ zu,40 einem Gesetz zur Entmachtung des Reichstags. Dieses Gesetz befaßt sich zunächst mit der kriegsbezogenen Regelung des Wechsel- und Scheckrechts. Der § 3 dieses Gesetzes ermächtigt sodann den Bundesrat, „...während der Zeit des Krieges diejenigen gesetzlichen Maßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe wirtschaftlicher Schädigungen als notwendig erweisen.“ Schließlich trägt die Sozialdemokratie mit der einstimmigen Unterstützung des Antrags, betreffend die Vertagung des Reichstags bis zum 24. November 1914 zu einem weiteren Einflußverlust des Reichstags bei. Während die teilweise aus dem Sommerurlaub zur Reichstagssitzung zusammengerufene Sozialdemokratie im Zusammenspiel mit sämtlichen anderen Parteien eine Entmachtung des Reichstags betreibt, verwandelt sich die sozialistische Gewerkschaftsbewegung, die - ähnlich wie die Sozialdemokratie -41 gegen Anfang August immer noch von der Möglichkeit eines Verbots ausgeht und entsprechende Maßnahmen dagegen diskutiert,42 unmittelbar in eine sozialpolitisch aktive, die Auswirkungen des Krieges aus eigenen Mitteln abmildernde, „positive Kriegsarbeit“ leistende Kraft. Unsicherheit über die Haltbarkeit des „Burgfriedens“ herrscht zu Kriegsbeginn übrigens auch auf Seiten der Regierung. Die Befürchtung, daß sich die Gewerkschaften, auf die es besonders angekommen sei, nicht loyal verhalten würden, erweist sich aber als völlig unnötig.43 Diese Entwicklungen dokumentieren, daß die sozialistische Arbeiterbewegung mit der geschickt und verschlagen agierenden, kriegsbereiten Reichsregierung im August 1914 ihren „Meister“ gefunden hat, der offensichtlich über das „Innenleben“ dieser Bewegung bestens und hinreichend realistisch informiert ist. Diese Informationen resultieren nicht bloß aus der sozialreformerischen Diskussion der Vorkriegszeit. Hinzu kommt, daß die Regierung über Spitzel- und Polizeiberichte mit der „Welt der Arbeit“ Fühlung hält. Darüber hinaus steht mit Clemens von Delbrück als Staatssekretär im Reichsamt des Innern 38 Vgl.: Stenographische Berichte...a.a.O.(=Anm. 1), 6. 39 Vgl. das Gesetz, betreffend Ausnahmen von Beschäftigungsbeschränkungen gewerblicher Arbeiter vom 4. August 1914, RGBl. 1914, 333. 40 Vgl.: RGBl. 1914, 327. 41 Als am 30. Juli 1914 gegen 14.30 die Falschmeldung von der deutschen Mobilmachung verbreitet wird, verlassen führende Vertreter der SPD auf Beschluß des Parteivorstandes mit der Parteikasse Berlin in Richtung Schweiz; vgl.: Groh, Dieter: Negative Integration...a.a.O.(=Anm. 11), 655 f. 42 Vgl. das Protokoll der Konferenz der Verbandsvorstände vom 2.8.1914 in: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution...a.a.O.(=Anm. 27), 74 - 85, hier: 74. 43 Vgl.: Brentano, Lujo: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands. Jena 1931, 312; recht wenig irritiert ist wohl der Reichskanzler; vgl. seinen Beitrag auf der Sitzung des Königlichen Staatsministeriums vom 30.7.1914; GStA Merseburg, Rep. 90a, Abt. B.III. 2b Nr. 6, Bd. 163, 126.
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neben Reichskanzler von Bethmann Hollweg eine Persönlichkeit an der Spitze des Staates, die die Arbeiterbewegung ebenfalls als wichtigen Posten in der politischen Rechnung führt und benutzt. Im Zuge der Reichssozialpolitik hatte er Kontakt zu Vertretern der Arbeiterbewegung bekommen und auch ihm hatte sich „ein ganz anderes Gesicht“ dieser Bewegung enthüllt, eine Erfahrung, die ihn zu einem kundigen Vertreter der Burgfriedenspolitik werden läßt.44 Der „Burgfriede“ beinhaltet für den kriegführenden Staat nicht nur, daß auf sonst übliche Formen des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes verzichtet wird, auf Aktionen, die die „militärische Kraft“ der Nation im Krieg beeinträchtigt hätten. Er beinhaltet auch, daß der Staat in der Arbeiterschaft mit Hilfe der Arbeiterführer mitregieren kann und mitregiert. Dies macht, solange und soweit die Partei- und Gewerkschaftsführer den Einfluß auf die „Massen“ nicht verloren haben, den besonderen kriegswirtschaftlichen und herrschaftsstrategischen Wert dieser Integrationsstrategie aus. Dieser Vorteil ist insgesamt nicht gering zu veranschlagen. Nicht nur die Freien Gewerkschaften, sondern auch die anderen Gewerkschaftsrichtungen und Angestelltenorganisationen stellen sich in den „Dienst des Vaterlandes“. Ende 1913 sind immerhin 4.631.361 arbeitende Menschen in diesen Institutionen vereint,45 die zusätzlich über erhebliche sozialpolitische Fachkunde, Finanzmittel und eine bedeutende Anzahl von Unterstützungs- und sonstigen Einrichtungen verfügen. Dem geschickten Schachzug, Rußland als Angreifer erscheinen zu lassen, dieser bewußten Instrumentalisierung des traditionellen Zorns der Sozialdemokratie gegen den Zarismus und der schon vor 1914 mehrfach bekundeten Bereitschaft, einen Verteidigungskrieg mitzutragen,46 hat die Partei- und Gewerkschaftsopposition zunächst wenig entgegenzusetzen. Die sich bald konsolidierende „burgfriedensfeindliche“ und kriegsgegnerische Opposition hat sich nicht nur mit den einflußreichen kooperationswilligen Führern der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften auseinanderzusetzen,47 sondern wird in besonderem Maße auch von Repressionsmaßnahmen der Militärbefehlshaber betroffen. Seit der Erklärung des Kriegszustandes führen diese als stellvertretende kommandierende Generale in den Armeekorpsbezirken, als Gouverneure größerer Festungen, als Festungskommandanten48 zwar nicht die ursprünglich geplanten Repressionsmaßnahmen (insbesondere: die 44 Vgl.: Delbrück, Clemens von: Die wirtschaftliche Mobilmachung Deutschlands 1914. München 1924, bes. 27 ff.; vgl. zu seiner Biographie: Henning, Hansjoachim: Clemens von Delbrück. In: Jeserich, Kurt G.A., Neuhaus, Helmut (Hg.): Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648-1945. Stuttgart, Berlin, Köln 1991, 265-268. 45 Zahlenangaben nach: Brentano, Lujo: Mein Leben...a.a.O.(=Anm. 43), 312. 46 Vgl. ingesamt: Wette, Wolfram: Kriegstheorien deutscher Sozialisten. Marx, Engels, Lassalle, Bernstein, Luxemburg. Ein Beitrag zur Friedensforschung. Stuttgart, Berlin Köln, Mainz 1971; vgl. als frühe Warnung an die Sozialdemokratie, die Kriegsunterstützung am „Verteidigungscharakter“ des Krieges festzumachen: Michels, Robert: Die deutsche Sozialdemokratie und der internationale Krieg. In: Morgen, 1(1907)10, 299 - 304; als mit der historischen Kontinuität der Auffassungen der Sozialdemokratie übereinstimmend wird die „Politik des 4. August“ dargestellt bei: David, Eduard: Sozialdemokratie und Vaterlandsverteidigung. Bielefeld o.J.(1915); derselbe: Die Sozialdemokratie im Weltkrieg. Berlin 1915; vgl. insgesamt auch : Kuczynski, Jürgen: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. Berlin 1957, 65 ff. 47 Vgl. zusammenfassend: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 28), 260 ff., sowie: Miller, Susanne: Burgfrieden...a.a.O.(=Anm. 10); vgl. als gegen die Opposition gerichtete Schriften prominenter Sozialdemokraten: Stampfer, Friedrich: Sozialdemokratie und Kriegskredite. Berlin 1915; Winnig, August: Der Burgfrieden und die Arbeiterschaft. Berlin-Karlshorst 1915. 48 Einzelheiten dazu finden sich in: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 - 1918. Erster Teil, bearbeitet von Wilhelm Deist. Düsseldorf 1970 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Zweite Reihe...Band 1/I). XL ff.
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Verhaftung der Führer und die Unterdrückung der Presse) gegen die Arbeiterbewegung durch,49 sie engagieren sich aber gleichwohl insbesondere im weiteren Kriegsverlauf im Abwehrkampf gegen die „Radikalen“ bzw. die „Oppositionellen“. Von vornherein gilt auch für militärische Stellen der „Burgfrieden“, der vor allem die sozialistische Arbeiterbewegung, aber auch die „nationalen Minderheiten“ (Polen, Dänen, Elsässer, Lothringer) und ihre Organisationen in die Kriegsanstrengungen integrieren soll, als ein zu „pflegender“ Grundzustand von höchstem militärischen Wert.50 Da die immediaten, nur dem fernen Obersten Kriegsherren unterstehenden Militärbefehlshaber, es handelt sich, von Bayern abgesehen, um insgesamt 57, im Krieg einen äußerst breiten Zuständigkeitsbereich haben, der wichtige Aspekte der „Arbeiterfrage“ mit umfaßt,51 ergeben sich vielfältige Möglichkeiten aus militärischen Überlegungen heraus mit der Arbeiterbewegung zu kooperieren und ein „burgfriedensfreundliches“ Verhalten zu praktizieren. Dabei ergeben sich als Folge der bizarren, ja geradezu „byzantinischen“52 deutschen Militärorganisation erhebliche Abweichungen. Insgesamt jedoch scheitert der „Burgfrieden“ nicht an der Aufsplitterung der militärischen Gewalt in der „Heimat“. Für die „Pflege“ des „Burgfriedens“ spricht die Tatsache, daß sich die herrschenden Kreise nicht sicher sind, ob sie den militärischen Wert der Organisationen der Arbeiterbewegung dauerhaft und uneingeschränkt für ihre Kriegszwecke beanspruchen können. Verunsichernd wirkt, daß der Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine Häufung schwerer Konflikte und Revolutionen geprägt ist.53 Hinzu kommt, daß die Sozialdemokraten und Freien Gewerkschaften konkrete Reformforderungen als „Preis“ für ihre Kriegsarbeit einfordern und mit Hinweis auf ihre „nationale Haltung“ legitimieren. Die Einordnung in das System der Kriegspolitik erscheint manchem sogar als Garant der inneren Demokratisierung und der Überwindung der Diskriminierung der Arbeiterbewegung. Das, was die gesamte Arbeiterbewegung „versäumt“ hat, nämlich den Machthabern im Juli/August 1914 ein weitreichendes, komplettes Programm als Bedingung des „Burgfriedens“ und der Kriegsunterstützung zu präsentieren,54 wird nun in Form zahlreicher Vorstöße nachgeholt. Der preußische Innenminister Friedrich Wilhelm von Loebell erkennt gegen Ende des Jahres 1915 in seinem (Geheim-)Bericht über die innenpolitische Entwicklung während des Krieges: „So ist in Liberalismus und Demokratie die Hoffnung aufgelebt, daß nach dem Kriege eine durch Reformen im liberalen Sinne hervorstechend gekennzeichnete Ära beginnt. Die alten Forderungen und Wünsche werden aufs neue laut und neue viel weiter greifende Ansprüche werden erhoben. Dazu verlangt die Sozialdemokratie die Aufhebung aller der Bestimmungen und Gesetze, die geschaffen waren mit dem Zweck, der Ausbreitung sozialdemokratischer Propaganda Grenzen zu setzen. Alle diese Änderungen, Reformen und Neuerungen würden dem innerpolitischen Zustande Preußen-Deutschlands nach 49 Die Richtlinie, die den Repressionskurs verhindert und damit den Burgfrieden sicherstellen hilft, findet sich in: Militär und Innenpolitik...a.a.O.(=Anm.48), Dokument (Dok.) 77, 188 - 192. 50 Vgl. z.B. ebenda, Dok. 78, 192 f., Dok. 79, 193 f., Dok. 80, 194 ff. 51 Vgl. dazu: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Band 1. Berlin 1968, 413 ff.; Deist, Wilhelm: Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte. München 1991 (=Beiträge zur Militärgeschichte, Band 34), 90, 126 ff. 52 So die Bezeichnung von: Herwig, Holger H.: The Dynamics of Necessity: German Military Policy during the First World War. In: Millett, Allan R., Murray, Williamson (Hg.): Military Effectiveness. Volume I: The First World War. Boston, London, Sydney, Wellington 1988, 80 - 115, hier: 81. 53 Vgl. die Aufzählung bei: Lensch, Paul: Die deutsche Sozialdemokratie und der Weltkrieg. Berlin 1915, 5. 54 Dies wirft ihr besonders vor: Rovan, Joseph: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Frankfurt a.M. 1980, 107f.; insofern, so Rovan, hätten die Sozialdemokraten auch als Reformisten versagt.
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dem Kriege ein anderes Gesicht geben, als die innere Politik vor dem Kriege zeigte.“55 Der Innenminister meint sogar beobachten zu können, daß einige führende Sozialdemokraten es gegenwärtig für richtig hielten, mit dem selbstsicheren Hinweis auf ihre infolge des Krieges alsbald gewaltig anschwellende Macht, die weitestgehende Verwirklichung sozialdemokratischer Forderungen als selbstverständlich hinzustellen und der Regierung anzudeuten, sie befände sich in dieser Beziehung gleichsam schon in einer Zwangslage.56 Aus der preußischen Sicht des Jahres 1915 ist jedoch demgegenüber der Korridor für mögliche Maßnahmen, die den „Burgfrieden“ befestigen sollen, die dem Kaiserwort „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche“ fortlaufend bei den Massen Widerhall verschaffen sollen, gering. Die Kräfteverhältnisse, die in der Vorkriegszeit zu einer verfassungs- und sozialpolitischen Stagnation geführt haben, sind durch die „Burgfriedens-“ und Kriegssituation zwar modifiziert, aber nicht aufgehoben. von Loebell drückt das sich daraus ergebende „Dilemma“ in seinem Bericht über die „innerpolitische Lage“ folgendermaßen aus: „Ganz nach rechts kann sich die Regierung nicht legen, weil dann der unbedingt notwendige Versuch zu einer Eingliederung der Sozialdemokratie in das nationale politische Leben unterbleiben müßte und andere notwendige Reformen undurchführbar blieben. Ebensowenig vermag sich die Regierung ganz nach links zu halten, weil die demokratischen Zugeständnisse ihre Grenzen an den staatlichen, verfassungsgemäßen Notwendigkeiten finden müssen und weil ein grundsätzlicher und dauernder Bruch mit den konservativen Elementen bei gleichzeitigem Verzicht auf konservative Tendenzen in der Politik ein so radikaler Bruch mit der bisherigen politischen Entwicklung sein würde, daß eine völlige Desorganisation des politischen Denkens die Folge wäre. Ein solches Wagnis kann aber ein monarchisch geordnetes Staatswesen nicht eingehen...“57 Dieser Auffassung entspricht auf der Ebene der Reichsregierung die Tendenz, insbesondere auf dem Gebiet der Verfassungsreform bzw. bei der Wahlrechtsfrage das Ziel anzustreben, mit einer „hinhaltenden Politik“ möglichst weit zu kommen,58 tunlichst bis in die Nachkriegszeit.59 Dem Ziel, eine „... Reform der Sozialdemokratie nach der nationalen und monarchischen Seite anzubahnen“,60 der Absicht eine Entwicklung zu unterstützen, die nach der Auffassung von Delbrücks sowieso schon von den Reformisten in der Partei angestrebt werde,61 können aus dieser Blickrichtung nur „kleine Mittel“, kleine Konzessionen dienen. Daß diese „kleinen Mittel“ möglicherweise in Zukunft den Rahmen der massenpsychologisch gezielten Deklarationen und Inszenierungen, bei denen dem Kaiser und dem Hohenzollernhaus ein erheblicher Stellenwert zukommt,62 überschreiten können, läßt von 55 Bericht über die innerpolitische Entwicklung während des Krieges vom 22. November 1915. GStA Merseburg, Rep. 90a, Tit. I1, Nr. 2, Abt. D, Band 268, Bl. 193 ff., hier: 202. 56 Vgl. ebenda, Bl. 204 f. 57 Ebenda, Bl. 203. 58 So von Delbrück an von Bethmann Hollweg in einem Schreiben vom 13.09.1914; BA Abt. Potsdam. 07.01 Reichskanzlei, Nr. 2476, 108. 59 Begründet wird dies - den Auffassungen von Loebells durchaus entsprechend - auch damit, daß durch die Inangriffnahme weitreichender und kontroverser Reformforderungen, die die Grundlagen der Staatstätigkeit und des Staatsaufbaus tangieren, die „Geschlossenheit“ und „Einmütigkeit“ des Volkes im Krieg gefährdet werden könnte; vgl. dazu die Erklärung des Vizepräsidenten des Staatsministeriums vom 21. Oktober 1914; GStA Abt. Merseburg, Rep. 90a, Tit. I1, Nr. 2, Abt. D, Band 268, Bl. 84. 60 von Delbrück an von Bethmann Hollweg...a.a.O.(=Anm. 58),Bl. 107. 61 Den Hang zur Monarchie sieht er bei „Leute(n) wie Südekum“; vgl. ebenda, Bl. 107. 62 Aufschlußreich für das Zustandekommen derartiger „Kundgebungen“: Harnack, Axel von: Der Aufruf Kaiser Wilhelm II. beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In: Die Neue Rundschau, (1953), 612 - 620; diese „Kundgebun-
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Loebell erkennen. Er hält fest, daß ein großer Teil der gesetzlichen Bestimmungen, die der Einschränkung der Sozialdemokratie dienten, fallen könne. Eine Reihe sozialpolitischer und anderer gesetzgeberischer Neuerungen, werde auch die Erfüllung spezifisch sozialdemokratischer Wünsche in sich aufnehmen müssen. „Die Verwaltungsorgane bis hinab zum Subalternbeamten werden anzuweisen sein, die Vertreter sozialdemokratischer Anschauungen als gleichberechtigt dienstlich und persönlich zu behandeln. Das Gefühl, unter einer polizeilichen Sonderkontrolle zu stehen, muß den Sozialdemokraten genommen werden, und es ist hierzu eine Änderung der Praxis nach dem Kriege erforderlich und vielleicht während des Krieges anzukündigen.“63 Die führenden Vertreter der Sozialdemokratie dürften bei offiziellen gesellschaftlichen und öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr übergangen werden.64 Eine Aufzeichnung des Staatssekretärs des Innern Clemens von Delbrück von Ende Mai 1915 zur versprochenen „Neuorientierung der inneren Politik“ befaßt sich wesentlich mit Fragen einer möglichen Veränderung des Vereinsrechts bei Kriegsende, läßt aber immerhin auch erkennen, welche Maßnahmen zur „Pflege“ der inneren Stabilität bei „kraftvoller Außenpolitik“ bereits getroffen wurden: „..die Regierungen sowohl des Reiches wie der Bundesstaaten haben bei der Anwendung der Gesetze und bei der Handhabung der zu ihrer Ausführung erlassenen Anordnungen den Verhältnissen Rechnung getragen, die der Ausbruch des Krieges gezeitigt hat. Insbesondere ist die Verwaltungspraxis darauf bedacht gewesen, alle diejenigen Bestimmungen ohne Härte und Schärfe zu handhaben, die bisher für notwendig erachtet wurden, um den staatsgefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, der Dänen und Polen die erforderlichen Schranken zu ziehen.“65 Von Delbrück äußert sich darüber hinaus, es könne zweifelhaft sein, „...ob bei längerer Dauer des Krieges nicht doch ein näheres Eingehen auf die seitens der Parteien geäusserten Wünsche notwendig werden wird.“66 Diese Ausführungen von Delbrücks verweisen auf einen Hintergrund, der unbedingt zusätzlich zu veranschlagen ist, um erklären zu können, warum der Erste Weltkrieg zu einem „Erwecker“ der staatlichen Sozialpolitik geworden ist.67 Mit der Mobilmachung verwandelt sich Deutschland in ein riesiges Militärlager. Auf der Basis der Wehrpflicht, dieser unbedingten Grundlage der Massenheere, des großen, „modernen“ Krieges und des Massensterbens, wird das Heer in kurzer Zeit auf die volle Kriegsstärke gebracht. „Während das rund 2,4 Millionen Mann starke Feldheer an der West- und Ostfront aufmaschierte, verblieb das Ersatzheer in Stärke von über 1,4 Millionen Mann in Deutschland.“68 Diese enorme Mobilisierung und der unmittelbare Kriegsbeginn führen zu tiefgreifenden, in den Kriegsvorbereitungen nicht angemessen berücksichtigten69 bzw. prinzipiell nicht begen“ finden sich in zahlreichen kriegsverherrlichenden und rechtfertigenden Publikationen; vgl. z.B.: Kranzler, Wilhelm (Hg.): Für Vaterland und Ehre. Hamburg o.J. 63 Bericht über die innerpolitische Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 55), Bl. 205. 64 Vgl. ebenda, Bl. 205. 65 Schreiben des Staatssekretärs des Innern an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 24. (?) Mai 1915; BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsamt des Innern, Nr. 6111, Bl. 35 f. 66 Ebenda, Bl. 36. 67 So die Ausdrucksweise im: Tätigkeitsbericht über das Jahr 1915 des Büro für Sozialpolitik (unpag.), 1; Historisches Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG, 152 (4). 68 Gutsche, Willibald, Klein, Fritz, Petzold, Joachim: Der Erste Weltkrieg. Köln 1985, 47. 69 Vgl. in diesen Zusammenhang etwa die, den Zustand der „Unfertigkeit“ spiegelnde „Aufzeichnung über das Ergebnis der am 13. März 1914 im Reichsamt des Innern abgehaltenen Sitzung der ständigen Kommission für die Fragen der wirtschaftlichen Mobilmachung“; BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Nr. 1022, Bl. 3 ff.
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herrschbaren Wirtschaftsstörungen: Ausfuhr und Einfuhr kommen weitgehend zum Erliegen, die Inlandsnachfrage nach gewerblichen Gütern stockt, trotz der bedeutenden Einberufungen kommt es zu einer großen Arbeitslosigkeit. Bestimmte Betriebe können zum Beispiel wegen fehlender Rohstoffe oder Vorprodukte, wegen der Einberufungen, andere wegen dauernden Verfalls der Nachfrage oder des Ausbleibens ausländischer Arbeitskräfte nicht mehr in vollem Umfang oder garnicht mehr produzieren, die Transport- und Kommunikationswege und die entsprechenden Einrichtungen dienen vorrangig militärischen Zwecken, Versorgungsstörungen treten ein.70 Aus dieser Situation der Störung und teilweise Zerstörung der Ökonomie heraus, erfolgt, begleitet von einem Netz staatlicher Regulierungen, dem sogenannten Kriegssozialismus,71 eine Ausrichtung und Reformation der Ökonomie und Beschäftigungsmöglichkeiten hin auf die „Bedarfe“ des großen Krieges. Das Gefühl, mit einem Krieg, von dem schon vor Kriegsbeginn angenommen wird, daß er wirtschaftliche Probleme zeitigen werde, „...für deren Lösung es Beispiele und Vorgänge nicht gibt“,72 möglicherweise eine „schiefe Bahn“ betreten haben, wird durch den Kriegsverlauf, der schon bald in krassem Gegensatz zu den Militärplanungen steht, verschärft. Als offensiver „Blitzkrieg“, als große „Vernichtungsschlacht“ geplant und unter der Zugrundelegung des Schlieffen-Plans begonnen, soll der Krieg im Westen innerhalb weniger Wochen zu einer Entscheidung gebracht werden. Durch eine schnelle Entscheidung im Westen soll nicht nur ein langdauernder Zweifrontenkrieg vermieden werden. Es soll auch verhindert werden, daß sich der Krieg zu einem für den Fall einer mehrjährigen Kriegsdauer befürchteten menschen- und materialverschlingenden Monstrum entwickelt, zu einer Katastrophe für die Gesellschaft, für die besonders verletzliche industrielle, international verflochtene Ökonomie, den preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat und für das in Deutschland damals noch in höchstem Ansehen stehende Militär.73 Schon nach wenigen Wochen jedoch scheitert die deutsche Westoffensive an der Marne und nach „...dem vergeblichen Versuch, die Front der Alliierten im Norden zu umfassen, erstarrte der Krieg zum Stellungskrieg.“74 Dadurch, daß das Deutsche Reich schon bald einen unvorhergesehenen Krieg führt, bricht nicht nur eine ganze Welt militärischer Annahmen und Gewißheiten weg, erweist sich nicht nur die Hoffnung als Illusion, den Krieg innerhalb einiger Monate (noch einmal) in Form großer Schlachten als „ureigenste“ Angelegenheit der Militärs, der Regierung und der Diplomatie führen zu können, ohne die ganze Nation über Jahre zu einem „riesigen Hilfsreservoire der Militärmaschine“75 mit dem Ziel der höchstmöglichen Steigerung der Destruktivität umformen zu müssen.
70 Hinweise auf die Wirkung des Krieges auf den Arbeitsmarkt finden sich in den Monatsberichten und Jahresübersichten des Reichs-Arbeitsblattes. Zum Jahr 1914 vgl.: Der Arbeitsmarkt im Jahre 1914. In: Reichs-Arbeitsblatt, 13(1915)1, 2 - 10; bezogen auf die Arbeitslosigkeit der Gewerkschaftsmitglieder vgl.: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland 1902 - 1927. Berlin 1990 (=Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 73), 119 f. 71 Vgl. dazu: Köppe, H.: Schriften über den Kriegssozialismus. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 8(1919), 76 - 105. 72 So die: „Denkschrift, betreffend Fragen der wirtschaftlichen Mobilmachung. (Mit Ausnahme der Fragen der finanziellen Mobilmachung.)“; BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Nr. 1022, Bl. 21 ff., hier: Bl. 21. 73 Vgl.: Geyer, Michael: German Strategy in the Age of Machine Warfare, 1914 - 1945. In: Paret, Peter (Hg.): Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age. Princeton New Jersey 1986, 527 - 597, hier: 530 74 So in knapper Zusammenfassung: Geiss, Imanuel: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg. München, Wien 1978, 28. 75 So durchaus zutreffend: Ruge, Wolfgang: Deutschland 1917 - 1933. Berlin 1974, 11 f.
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Der unvorhergesehene Krieg beginnt nun tatsächlich das befürchtete tiefgreifende und fortdauernde Zerstörungswerk nach innen. In der Heimat macht sich trister Kriegsalltag breit. Der Krieg, der über alle legitimen Rechte des Individuums zerstörend hinwegschreitet, der mit dem Anspruch auftritt, den Einzelnen zum unbedingt abhängigen Werkzeug der Kriegführung zu machen, der täglich demonstriert, daß der Militärstaat das höchste Recht gegen jeden einzelnen hat, gebiert seine auflösenden, den Staat und das Militär schließlich unterminierenden Folgen. Der Krieg als ein menschenverachtendes Zerstörungswerk auch nach innen, schafft in unterschiedlichem Ausmaße Knappheits-, Verelendungs- und Ausbeutungssituationen. Der Menschen und Material „fressende“ Stellungskrieg im Westen, aber auch der Krieg im Osten, die „Hungerblockade“ der Kriegsgegner läßt den Lebenstandard dauerhaft sinken, schafft auf der anderen Seite jedoch ein die Massenstimmung zersetzendes „Kriegsgewinnlertum“.76 Während es manchem offenkundig auch im Krieg an nichts fehlt, müssen die Vielen für die Kriegführung leiden, kämpfen, sterben, Verwandte und Freunde verlieren, allein sein, die Zerstörung ihrer materiellen Lebensgrundlagen hinnehmen.77 Die Herrschaftsproblematik einer „Klassengesellschaft im Krieg“ stellt sich bald in verschärfter Form. Die Chancen, nach anfänglichen Wirtschaftsstörungen, nach dem „Kriegsstoß“, mit nur kurzfristig wirksamen kriegswirtschaftlichen Maßnahmen, mit Bevorratungen, Magazinierungen, Improvisationen und dem Überdauern nur eines Kriegswinters sowie mit mehr oder weniger symbolischen Zugeständnissen an die und wohlwollender Behandlung der Arbeiterbewegung zum „Siegfrieden“ zu kommen, schwinden. Damit schwindet auch die Chance zum Status quo ante bzw. zu einer reaktionären „Neugeburt“ des Deutschen Reiches aus dem Geist des Krieges und des aggressiven Nationalismus zu gelangen.78
6.2 Die sozialpolitischen Ergebnisse der „Burgfriedenspolitik“ Unwillig und in der Hoffnung schon bald wieder zum „alten Regime“ zurückkehren zu können, sehen sich die Spitzen von Regierung und Verwaltung im Deutschen Reich schon im August 1914 zu ersten Zugeständnissen an die Arbeiterbewegung gedrängt. Ministrabel, wie etwa in Frankreich, wo es ebenfalls den Plan der Verhaftung der Arbeiterführer gab und eine dem „Burgfrieden“ ähnliche „Union sacrée“ geschlossen wird, sind deutsche Sozialdemokraten zu Kriegsbeginn noch lange nicht. Ausgehend von dem tief empfundenen Sachzwang, keinerlei Mißklänge in die „jetzige Einhelligkeit“ hineinbringen zu dürfen,79 um dem „militärischen Interesse“ nicht zu schaden, wird die Diskriminierung der Sozialdemokratie gelockert. Sozialdemokratische Forderungen und dringender Handlungsbedarf führen dazu, daß „vernünftigen“ Sozialdemokraten, daß „einwandfreien Leuten“ der Zugang in ein mittelba76 Darauf hebt z.B. ab die von Richard Merton verfaßte Denkschrift aus dem Jahre 1917; vgl.: Historisches Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG, 282(1); vgl. in diesem Zusammenhang auch: Ratz, Ursula: „Der Krieg ist keine Gelegenheit zum Geldverdienen“. Richard Mertons Denkschriften aus dem Ersten Weltkrieg. In: MG-Information, Heft 2/85, 12 - 15. 77 Vgl. hierzu grundlegend: Kocka, Jürgen: Klassengesellschaft im Krieg. Göttingen 1973, bes. 33 ff. 78 Die gravierenden Planungsmängel betonen als mehrjährige verantwortliche Mitarbeiter des preußischen Kriegsministeriums und späteren Kriegsamtes: Sichler, Richard, Tiburtius, Joachim: Die Arbeiterfrage, eine Kernfrage des Weltkrieges. Berlin o.J., 5 ff. 79 Vgl. das Protokoll der Sitzung des Königlichen Staatsministeriums vom 15. August 1914; GStA Abt. Merseburg, Rep. 90a, Tit. III 2b, Nr.6, Abt. B, Band 163, Bl. 131 ff.
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Die sozialpolitischen Ergebnisse der „Burgfriedenspolitik“
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res Staatsamt, etwa als Magistratsmitglied, als Mitarbeiter bei der Schulaufsicht, als Gemeindevertreter eröffnet wird.80 Der schon vor 1914 teilweise, unter Vorbehalt und bei erheblichem Widerwillen zugelassene „Drang“ der reformistischen Sozialdemokratie bzw. der Freien Gewerkschaften in die staatlich regulierten Institutionen sozialpolitischer Art, etwa in die Krankenkassen, in die Beisitzergremien der Gewerbegerichte aber auch schon z.B. in städtische Armenkommissionen, in Arbeitsnachweisstellen, in Wohnungskommissionen, in Bauarbeitsschutzkommissionen,81 wird um neue Möglichkeiten erweitert. Seit August 1914 wird im Einzelfall und auf „höchste Anweisung“ die für die Übernahme eines mittelbaren Staatsamtes notwendige Bestätigung der Regierung nicht mehr generell versagt. Dieses Vorgehen, daß den konservativen Gesamtcharakter der preußisch-deutschen Bürokratie keineswegs in Frage stellt, ist keinesfalls unumstritten. Die Befürchtungen, es könnten Dämme brechen, die Sozialdemokratie könnte nunmehr den gesamten Staat systematisch unterwandern, werden ebenso ausgesprochen, wie der Vorbehalt, daß diese Maßnahmen doch wohl nur für die als kurz veranschlagte Zeit des Krieges gelten könnten: „Nach dem Kriege würden allerdings wohl mancherlei Disziplinarverfahren nicht zu vermeiden sein. Die daraus erwachsenden Kämpfe würden nicht erspart werden können, dann aber geringere Erschütterungen hervorrufen als jetzt, wo alle Veranlassung sei, jede Erschütterung fern zu halten.“82 Die radikale Verwirklichung dieser „Vision“ bleibt freilich den Nazis vorbehalten, die den „personellen und ideellen Niederschlag“ der hier skizzierten Politik der Integration der Arbeiterbewegung im Rahmen ihrer terroristisch-revolutionären Machtergreifung, ihrer Beamtenpolitik und Nazifizierung rückgängig machen.83 Eine ähnliche innenpolitische Stoßrichtung haben Maßnahmen wie die Ende August verfügte widerrufliche Aufhebung des Verbots des Haltens und Verbreitens sozialdemokratischer Schriften in Kasernen und sonstigen Dienstlokalen (sie bezieht sich nur auf die zensierten, nichtoppositionellen, nach dem 31. August 1914 erscheinenden Druckwerke), die Aufhebung des Verbots, sozialdemokratische Schriften auf Bahnhöfen zu verkaufen und eine Niederschlagung bestimmter Strafverfahren wegen politischer Betätigung.84 Darüber hinaus zeigen sich weitere „eigenartige“ Maßnahmen zur Befestigung des „Burgfriedens“, deren sensationeller Charakter vor allem darin liegt, daß sie einige Zeit zuvor noch völlig undenkbar gewesen wären. In Berlin besichtigen am Vormittag des 14. November 1914 die Spitzen der Reichsund preußischen Behörden, der Oberbürgermeister der Stadt, die Präsidenten des Reichstags und des Herrenhauses sowie eine Anzahl von Mitgliedern verschiedener Parteien auf Anregung des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Burgfriedensvertreters Albert Südekum gewerkschaftliche und genossenschaftliche Einrichtungen, um - wie es offiziell heißt - sich ein Bild ihrer Tätigkeit auf dem Gebiet der „Kriegsfürsorge“ zu ma-
80 Vgl. das Protokoll der Sitzung des Königlichen Staatsministeriums vom 31. Dezember 1914; ebenda, Bl. 300 ff. 81 Vgl.: Saldern, Adelheid von: SPD und Kommunalpolitik im Deutschen Kaiserreich. In: Archiv für Kommunalwissenschaft, 23(1984)2, 193 - 214, hier: 204. 82 So der Handelsminister auf der Sitzung des Königlichen Staatsministeriums vom 31. Dezember 1914; GStA Abt. Merseburg...a.a.O.(=Anm. 80), Bl. 306; ähnliche Vorgänge ergeben sich z.B. auch auf dem Gebiet der Dienstrechtsvorschriften bei den preußisch-hessischen Staatseisenbahnen; vgl.: BA Abt. Postdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 1962/1, Bl. 69 ff. 83 Vorbildhaft in diesem Zusammenhang die Aufarbeitung bei: Tennstedt, Florian, Leibfried, Stephan: Sozialpolitik und Berufsverbote im Jahre 1933. In: Zeitschrift für Sozialreform, 25(1979)3, 129 - 153. 84 Deutschland...a.a.O.(=Anm. 51), 420 f.
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chen.85 Zu einer ebenfalls „anerkennend-vereinnahmenden“ Tat rafft sich das Stadtparlament von Minden/Westf. auf. Die bürgerlichen Parteien bieten der nicht im Rat vertretenen Sozialdemokratie einen Sitz an, der von einem Arbeitersekretär wahrgenommen wird.86 Ausgerechnet das Königreich Sachsen, das, unter dem lauten Protest der sächsischen Sozialdemokratie und der sozialdemokratischen Presse, mit Verordnung vom 10. Juni 1914 das Streikrecht der Arbeiter durch einen radikalen „Schutz der Arbeitswilligen“ (d.h. der Streikbrecher) verschlechtert hatte,87 entschließt sich im November 1914 zu einer „Prämierung“ der Freien Gewerkschaften. Der „Deutsche Buchdruckerverband“ erhält den sächsischen Staatspreis. Durch Ehrenpreise ausgezeichnet werden der Buchbinderverband „...und die sozialdemokratische Presse Deutschlands für hervorragende gewerbliche Leistungen.“88 In diesem Zusammenhang punktueller und symbolischer Aktionen ist schließlich auf den weitbeachteten Ansatz hinzuweisen, sich über die Möglichkeit und die Bedingungen „...einer geistigen Arbeitsgemeinschaft zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Geisteswelt klar zu werden“, d.h. auf den von Carl Legien und dem Bibliotheksdirektor des Herrenhauses, Friedrich Thimme, herausgegebenen Band „Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland“,89 der einschlägige Beiträge bürgerlicher und sozialdemokratischer „Gebildeter“ enthält.90 Unter dem Eindruck des Krieges und des „Burgfriedens“ werden Sozialdemokraten bzw. Gewerkschafter aber auch in Ehrenämter gewählt, sei es in der Gemeinde, sei es beim Roten Kreuz, sei es in andere Fürsorgeorganisationen. Selbst als Redner sind sie ab dem August 1914 sehr begehrt.91 Der „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“, die von der Schwerindustrie und den Agrariern finanzierte antisozialistische Kampforganisation, teilt auf Druck der Reichsleitung die Einstellung ihrer Tätigkeit mit.92 Gefragt und „anerkannt“ werden sozialistische Partei- und Gewerkschaftsführer, aber auch die Repräsentanten der anderen Gewerkschaftsrichtungen, als Sachverständige und Sprecher der abhängig Beschäftigten von prinzipiell allen zivilen und militärischen Behörden. Sie gehen schon bald nach dem „Kriegsausbruch“ in den Regierungsbüros „ein und aus“. Sozialpolitische Vorlagen werden nunmehr mit den Gewerkschaften besprochen. Militärbehörden kümmern sich auch um die Beschäftigung explizit sozialdemokratisch-freigewerkschaftlicher Arbeiter und treten für Arbeiterrechte ein. Offiziere sprechen auf Arbeiterversammlungen über Lohnund Preisfragen, Gewerkschafter werden zu Polizeidiensten herangezogen,93 Versuche der preußischen Polizei, die Gewerkschaften als politische Vereine unter Polizeiaufsicht zu 85 Vgl.: Studium der Kriegsfürsorge. In: Volksstimme vom 17. November 1914, 3; Minister im Gewerkschaftshaus. In: Bergarbeiter-Zeitung Nr. 48 vom 28. November 1914, 2 f.; Gewerkschaftliche und genossenschaftliche Entwicklung während des Krieges. In: 1. Beilage des „Vorwärts“ Berliner Volksblatt vom 15. November 1914, 10; zur Urheberschaft des Besuchs vgl.: Das Kriegstagebuch...a.a.O.(=Anm. 30), 67. 86 Vgl.: Kommunales. Während des Krieges. In: Arbeiter-Zeitung Nr. 283 vom 16. November 1914 (unpag.), hier auch ein weiterer Hinweis darauf, daß die Wahl sozialdemokratischer Gemeindebeamter nicht mehr von der Regierung beanstandet wird. 87 Vgl.: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 1962/1, Bl. 52 ff. 62 f. 88 Vgl.: Prämiierte freie Gewerkschaften. In: Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 48 vom 28. November 1914, 3. 89 Vgl.: Thimme, Friedrich, Legien, Carl (Hg.): Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland. Leipzig 1915, Zitat von S. III. 90 Zum Zustandekommen, zur beachtlichen Rezeption und zur Wirkung dieses Bandes vgl.: Ratz, Ursula: „Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland.“ Eine bürgerlich-sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft aus dem Jahre 1915. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 13(1971), 1 - 17. 91 So: Eichhorn, K.(onrad): Sozialdemokratie und Arbeiterpolitik nach dem Kriege. Hildesheim 1915, 3. 92 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 28), 117. 93 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 5), 34.
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Die sozialpolitischen Ergebnisse der „Burgfriedenspolitik“
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stellen, werden eingestellt, bereits eingeleitete Maßnahmen werden formell zurückgenommen.94 Auch die Hoffnungen der Gewerkschaften auf ein „verständigeres“ Verhältnis zu den Unternehmern bestätigen sich teilweise. Schon bald aber zeigt sich Widerstand gegen diese „verkehrte Welt“ vor allem bei den großindustriell-konservativen Kräften, bei jenen Kräften, die den Krieg mit der Hoffnung und der Absicht verbunden hatten, den gesellschaftlichen Status quo zu festigen und längst angemahnte Reformen, insbesondere die politische Gleichberechtigung und die Beteiligung der Arbeiterbewegung an der Regelung der Arbeitswelt hinauszuzögern. Im Krieg verbindet sich auf dieser Seite das schlichte Programm sozialpolitischer Reaktion mit der Neigung zu einer Gewaltpolitik nach innen und außen zur Erreichung maßloser „weltpolitischer“ Kriegsziele. Dementsprechend konzentriert sich die praktische Anerkennung der Gewerkschaften durch das Unternehmertum bis weit in den Krieg hinein im wesentlichen auf die Branchen, die auch schon vor dem Krieg gegenüber den Gewerkschaften eine „Verhandlungs- und Vertragspolitik“ betrieben haben. Die Tore der Groß- und Schwerindustrie sowie des Bergbaus bleiben insbesondere der freigewerkschaftlichen Arbeiterbewegung weiterhin verschlossen. Es lassen sich sogar Ansätze beobachten, den gewerkschaftlichen Einfluß auch dort zurückzudrängen, wo er vor Kriegsbeginn zu Tarifverträgen geführt hatte. Eng hiermit verbunden ist die insgesamt nicht sehr verbreitete Neigung, dem Appell der Gewerkschaften folgend, Kriegsarbeitsgemeinschaften zu bilden. Der zeitliche Ausgangspunkt dieser Aktivitäten ist ebenfalls der August 1914. Auch derartige „Gemeinschaften“, die vor allem die Aufgabe haben sollen, die Arbeitslosigkeit zu überwinden, eine Fortgeltung der Tarifverträge sicher zu stellen, die Kriegsbeschädigten zu integrieren, die Betriebe weiterzuführen bzw. wieder zu eröffnen, gedeihen nur in bestimmten Branchen, eben in jenen, in denen Klein- und Mittelbetriebe vorherrschen und wo schon zu Friedenszeiten tarifvertragliche Abmachungen bestanden haben. Vor dem Hintergrund bereits bestehender Arbeitsgemeinshaften legt Theodor Leipart auf der Konferenz der freigewerkschaftlichen Verbandsvorstände vom 15. September 1914 den Plan einer umfassenden „Kriegsarbeitsgemeinschaft gegen Arbeitslosigkeit“ vor. Er entwirft eine paritätisch besetzte und ebenso finanzierte „arbeitsgemeinschaftliche“ Gesamtorganisation mit Reichszentrale, Landeszentralen und Ortskommissionen in möglichst allen Städten des Reiches. Die mit dieser Initiative verknüpfte Vorstellung, die erste Kriegsphase, der „Burgfrieden“, sei ein günstiger Zeitraum, mit den Industriekreisen ins Gespräch zu kommen, die bislang den unumschränkten Herrschaftsanspruch und Gestaltungswillen des Unternehmers vertreten haben, erfüllt sich nicht. Allgemeines Desinteresse an dieser Form der Regelung „gemeinsamer“ Belange herrscht vor und strahlt auch auf die Bereiche aus, in denen derartige Arbeitsgemeinschaften „vorstellbar“ oder gar eingeführt worden sind. Viele Arbeitsgemeinschaften „versanden“ bzw. „verebben“ und nach der „Aufsaugung“ der Arbeitslosigkeit durch Kriegsgeschehen und Kriegsindustrie, läßt auch das Interesse der Gewerkschaften nach. Die sozialpolitische Intransigenz bestimmter Kapitalgruppen gegenüber der Gewerkschaftsbewegung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Kriegsbeginn eine Hochphase auch (arbeitgeber-)verbandlicher und betrieblich-sozialpolitischer Aktivitäten ist. Zahlreiche Maßnahmen, unter anderem auch solche, die nicht unerhebliche Kosten verursacht haben, sind bei Kriegsbeginn zu beobachten: Vermeidung von Entlassungen, der Abbau von Überstunden, die Reduzierung der regulären täglichen Arbeitszeit, Unterstüt94 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 28), 118.
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zungszahlungen an die Familien eingezogener Mitarbeiter, Lohnfortzahlungen, die „freiwillige“ Verpflichtung „heimkehrende Krieger“ wieder am „alten Arbeitsplatz“ zu beschäftigen, die Erhaltung der Werkswohnung, Arbeitsstreckung und Arbeitsbeschaffung. Diese Beispiele von „Arbeitgeber-Sozialpolitik“ sind nur zu verstehen, wenn man die Bemühungen der Regierungs- und Verwaltungsstellen berücksichtigt, durch eigene Maßnahmen wie etwa Notstandsarbeiten und durch die Einwirkung auf die Unternehmen und die Wirtschaftsverbände Arbeitslosigkeit möglichst zu vermeiden. Hinter diesem Bestreben steht bei Kriegsbeginn vor allem die alte Furcht vor dem revolutionären Gehalt dramatischer Erwerbs- und Ernährungslagen. Vor dem Hintergrund einer zunächst auf wenige Monate berechneten Kriegsdauer, treten auf der Seite der Unternehmer betriebsegoistische bzw. betriebswirtschaftliche Gründe hinzu.95 Die Kräfte sozialpolitischer Intransigenz gegenüber der Arbeiterbewegung und ihre parlamentarischen Repräsentanten können zwar die letztlich kriegsbedingten Konzessionen zunächst auf die Ebene der „kleinen, widerrufbaren Mittel“ beschränken, sie können den Mechanismus, der unablässig sozialpolitische Strategien hervorbringt, jedoch nicht zerstören. Die Burgfriedenspolitik „bewährt“ sich auch noch, nachdem sich die Kriegslage fundamental verändert hat und die „Heimatfront“ Risse zeigt. Den herrschenden Kreisen dokumentiert sich unter diesen Bedingungen die mit dem Krieg gegebene „doppelte Bedrohung“ und damit die besondere Zerbrechlichkeit der bestehenden ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse, verursacht einmal durch das „eigene Volk“ und zum anderen, wenn und soweit sich das „Zerbrechen des inneren Friedens“ auf die bewaffneten Streitkräfte auswirkt, durch die gegnerischen Staaten, die wegen des Zusammenbruchs bzw. der abnehmenden Kampfkraft die Chance erhalten, ihr Herrschaftssystem und ihren schon bald erkennbaren Deutschland betreffenden Willen (bzw. ihre Kriegsziele) auf das Reich ausbreiten zu können. Andererseits stärkt diese Entwicklung die Einsicht, daß Verweigerung und revolutionäre Entwicklungen nur zu verhindern sind, wenn die kooperationsbereiten Kräfte der Sozialdemokratie und Gewerkschaften Rückhalt bei den Massen behalten. Dieser Zustand könne, insistieren besonders die sozialreformerisch orientierten Kräfte,96 nur dann erhalten bleiben, wenn die Arbeiterbewegung Leistungen aufweisen oder auf staatliche Initiativen verweisen könne, in denen die Arbeiter eine Wahrnehmung und Förderung ihrer Interessen erkennen könnten.97 Tatsächlich weist die kooperationsbereite Partei- und Gewerkschaftsführung von Anfang an gegenüber den Mitgliedern gern auf sozialpolitische Initiativen und Fortschritte hin, später insbesondere auch um Streikaktionen der Opposition zu untergraben.98 Selbstverständlich kann diese Sozialpolitik das Zerstörungswerk des Krieges nach innen nur „abfedern“ und konturieren, nicht jedoch verhindern. 95 Vgl. ausführlicher denselben, ebenda, 116 ff., 131 ff.; vgl. zum Plan der „Kriegsarbeitsgemeinschaft gegen Arbeitslosigkeit“ das Protokoll der Verbandsvorständekonferenz vom 15.9.1914 in: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 27), 106 - 126, hier: 118 ff.; vgl. zu dem Vorgang auch: Richter, Werner: Gewerkschaften...a.a.O. (=Anm. 9), 60 ff. 96 Auch diese gewinnen vor dem Hintergrund der Kriegssituation und der inneren Zustände im Kaiserreich durchaus an Einfluß. 97 So die (nicht überall geteilte) Grundtendenz der Aussagen zahlreicher interner Dokumente von Regierungs- und Militärstellen der damaligen Zeit. 98 Vgl. exemplarisch den gegen Streikaktionen gerichteten Aufruf des Parteivorstandes und der Generalkommission: Arbeiter und Arbeiterinnen! In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 26(1916)31, 329 f; vgl. auch die folgenden Aufrufe aus dem Jahre 1914: An die Mitglieder der Gewerkschaften. In: Ebenda, 24(1914)32, 485; An die örtlichen Gewerkschaftskartelle und die Zweigvereine der Centralverbände! In: Ebenda, 24(1914)50, 641 f.
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Die sozialpolitischen Ergebnisse der „Burgfriedenspolitik“
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Die „gemäßigte“ Arbeiterbewegung ist seit Kriegsbeginn zu einem hinreichend berechenbaren Faktor innerstaatlicher Herrschaftsstabilisierung geworden und zu einem, wenngleich umstrittenen, Bestandteil des öffentlichen Lebens avanciert. Die auf der Ebene der Bundesstaaten, der Regionen und Kommunen vermutlich äußerst zahlreichen Akte der „Pflege“ des Burgfriedens dürften dabei nicht nur - wie dies bei der Reichsspitze der Fall ist - Ergebnis kalt kalkulierender Herrschaftstechnik gewesen sein. Erhebliche Emotionalität darüber, daß sich das „rothe Gespenst“ gegenüber „einer Welt von Feinden ringsum“ als harmlos erwiesen hat, daß auch Arbeiter glühende „Patrioten“ sein können, denen man in der Vergangenheit „Unrecht“ getan habe, wird in zahlreichen Äußerungen deutlich. Auf der Seite der Arbeiterbewegung hat, zusätzlich zur emotionalisierend wirkenden Kriegssituation, das Gefühl aus einer langdauernden Isolierung, Diskriminierung und wirkungslosen Opposition „erlöst“, gefragt und „anerkannt“ zu sein, Wirkungen hinterlassen.99 Die „bürgerliche Sozialreform“ insbesondere in Gestalt der „Gesellschaft für Soziale Reform“, sieht in der skizzierten Politik des kriegführenden Staates gegenüber der Arbeiterbewegung, erst recht in den noch zu analysierenden direkt arbeiterpolitischen Maßnahmen, eine glänzende Bestätigung seiner Vorkriegskonzeptionen und Bestrebungen. Hans Hermann Freiherr von Berlepsch sieht als Vorsitzender dieser Vereinigung zum Beginn des Jahres 1915 gar ein „Morgenrot wirklicher Sozialreform“ anbrechen.100 Tatsächlich entspricht die unter vielerlei Vorbehalten stehende und begrenzte Überwindung der sozialpolitischen Stagnation der unmittelbaren Vorkriegszeit, die Heranziehung der Gewerkschaften, die eine faktische „Anerkennung“ impliziert, der Abbau der Diskriminierung dieser Bewegung und der Partei und vieles mehr, den alten sozialreformerischen Vorstellungen. Die „Welle des Patriotismus“, die auch durch Partei und Gewerkschaften läuft, die beginnende „Abstoßung“ der „Linken“ (die endgültige „Mauserung“) und damit: das Heranrücken an die übrigen sozialpolitisch aktiven Parteien und die nichtsozialistischen Gewerkschaften, die nun mögliche und beobachtbare „allseitige“ Zusammenarbeit werden begrüßt. Euphorisch feiert der „Weltpolitiker“ Ernst Francke Mitte August 1914 die „Auferstehung“, die „Wiedergeburt“ der Nation und sieht „Hader und Zwist“ durch den „Flammenatem der nationalen Glut“ wie restlos verzehrt.101 Der Erste Weltkrieg bietet der Sozialreform nicht nur Gelegenheit zu „vaterländischen“ Stellungnahmen, zur Verbreitung der Legende vom „aufgezwungenen Verteidigungskrieg“, vom „Vernichtungsfeldzug“ gegen das Deutsche Reich, der nunmehr durch die Maßnahmen der teils von Deutschland angegriffenen, teils aufgrund von Bündnisverpflichtungen dem Krieg beigetretenen Nationen fortlaufend neue „Evidenz“ findet. Der Erste Weltkrieg ist besonders für die „Gesellschaft für Soziale Reform“ ein Höhepunkt ihrer beratenden, informierenden, fördernden Aktivitäten und der Mitarbeit in den zahlreichen, sich ausdehnenden sozialpolitischen Institutionen der Nation im Krieg.102 Das ergibt sich geradezu sachzwanghaft aus der innenpolitischen Strategie während des Ersten Weltkrieges: Ein Krieg, der unter Einschluß und Mitwirkung der Arbeiterbewegung geführt 99 Vgl. etwa: Groh, Dieter, Brandt, Peter: „Vaterlandslose Gesellen“...a.a.O.(=Anm. 11), 160 ff. 100 von Berlepsch an von Brentano am 21.1.1915, zitiert nach: Krüger, Dieter: Ein „Morgenrot wirklicher Sozialreform.“ Die ‘Gesellschaft für Soziale Reform’ und die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen im Ersten Weltkrieg. In: Mai, Gunther (Hg.): Arbeiterschaft in Deutschland 1914 - 1918. Studien zu Arbeitskampf und Arbeitsmarkt im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf 1985, 29 - 75, hier: 29. 101 Fr.(ancke), E.(rnst): Sozialpolitik im Kriege. In: Soziale Praxis, 23(1914)46, Sp. 1241 - 1244. 102 Einen kleinen Eindruck davon vermitteln die Tätigkeitsberichte des „Büro für Sozialpolitik“; vgl.: Historisches Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG, Mappe 152 (4), (5), (6).
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wird, bietet naturgemäß den Kräften Einflußmöglichkeiten, die als Experten auf dem Gebiet der „Behandlung“ der Arbeiterbewegung bzw. der „sozialen Frage“ angesehen werden. Organisatorische „Hülle“ der „bürgerlichen Sozialreform“ ist das in Berlin ansässige „Bureau für Sozialpolitik“. Dieses Büro wurde 1903 auf Anregung von Ernst Francke, der wiederum in Frankreich durch das dort bestehende „Musée social“ inspiriert worden war,103 ins Leben gerufen. Es umfaßt als Berliner Sekretariat des „Instituts für Gemeinwohl“ (Frankfurt a.M.) unter anderem die „Soziale Praxis GmbH.“ und die Geschäftsführung der „Gesellschaft für Soziale Reform“. Dieses Büro, das zu dem Kreis der von dem Gründer der in Frankfurt a.M. ansässigen Metallgesellschaft, der von Wilhelm Merton geförderten sozialpolitischen Initiativen gehört, unterhält Beziehungen zu den Gewerkschaften und auch zu höchsten militärischen und zivilen Stellen und Entscheidungsträgern im deutschen Kaiserreich.104 So gewinnt ein „bürgerlich-sozialistisches Kooperationsmodell“ an organisatorischer Struktur und finanziellem Rückhalt,105 das gleichzeitig nicht nur „nach oben“ sondern auch „nach unten“, zur politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung „vermitteln“ und über sie informieren kann.106 Erster Kristallisationspunkt einer Sozialpolitik im Sinne von staatlicher Arbeiterpolitik ist der „Kriegsstoß“, die durch die Mobilisierung und den Kriegsbeginn verursachte Wirtschaftsstörung. Einen erheblichen Stellenwert haben in den „dilettantisch“ wirkenden, extrem unfertigen und erst im März 1914 wieder anlaufenden Bemühungen der ständigen Kommission für die Fragen der wirtschaftlichen Mobilmachung107 und anderer Stellen die mit dem Krieg zu erwartenden Versorgungsprobleme der verschiedensten Art und die zu erwartenden Betriebseinschränkungen bzw. -stillegungen verbunden mit den Problemen der Arbeitslosigkeit und der Arbeitskräfteverteilung. Mit Blick auf den Zeitpunkt des Kriegsbeginns rückt die „Bergung und Sicherung“ der Ernte in den Rang einer dringend zu bewältigenden Hauptaufgabe. Damit sind Bereiche staatlicher Sozialpolitik angesprochen, die sich eines besonderen Entwicklungsrückstandes „erfreuen“: die Gebiete des Arbeitsnachweiswesens und der Arbeitslosenunterstützung. Eine ganze Fülle von staatlichen und nichtstaatlichen Initiativen richten sich gleich zu Kriegsbeginn auf diese Fragen der Regelung des Arbeitsmarktes.108 Die Gewerkschaften werden durch die Einberufung eines erheblichen Teils ihrer Mitglieder und durch die Arbeitslosigkeit an den Rand ihrer Existenz gebracht. Die Freien Gewerkschaften, die vor Kriegsbeginn 2,5 Millionen Mitglieder hatten, zählen Ende 1916, dem Tiefpunkt ihrer Existenzkrise, noch 944.575 Mitglieder. Allein von Ende Juli bis Ende Dezember 1914 verlieren sie rund eine Million Mitglieder, wesentlich durch Einberufungen, die statutenmäßig ein Ruhen der Mitgliedschaft zur Folge haben.109 Trotz des beispiel103 Vgl. die Denkschrift von Ernst Francke vom 22. Februar 1903 in: Historisches Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG, 152 (3); der Gründungsvertrag befindet sich ebenda, 152 (1). 104 Vgl. auch: Bruch, Rüdiger vom: Bürgerliche Sozialreform...a.a.O.(=Anm. 4), 146 ff. 105 Vgl.: Saldern, Adelheid von: Wilhelminische Gesellschaft und Arbeiterklasse. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 13(1977), 469 - 505. 106 Vgl.: Bruch, Rüdiger vom: Bürgerliche...a.a.O.(=Anm. 4), 147. 107 Diese, am 13. März 1914 erneut zusammentretende Kommission, hatte zuletzt im November 1912 getagt; vgl.: BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Nr. 1022, Bl.4. 108 Vgl. etwa: Die Regelung des Arbeitsmarkts sowie die Erhaltung und Beschaffung von Arbeitsgelegenheiten während des Krieges. In: Reichs-Arbeitsblatt, 12(1914)9, 690 - 707; vgl. auch: Wermel, Michael T., Urban, R.(oswitha): Arbeitslosenfürsorge in Deutschland. Teil II. München 1949, 5 ff. 109 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 28), 99 f., dort auch Hinweise auf die anderen Gewerkschaftsrichtungen sowie eine eingehende Analyse weiterer Gründe für die Mitgliederverluste und die
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losen Niedergangs, der Lähmung und des Zerfalls der Gewerkschaftsorganisation insbesondere auf den unteren Ebenen, eine Erscheinung, die die innergewerkschaftliche Demokratie weitgehend zum Erliegen bringt und die Politik der „Instanzen“ einleitet,110 organisieren die Freien Gewerkschaften ein umfängliches Unterstützungswesen vor allem für die Arbeitslosen, aber auch für die Angehörigen der Einberufenen, für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene und helfen so, wie zahlreiche andere Organisationen auch, das Kriegsgeschehen und die Kriegsfolgen unzureichend, aber dennoch spürbar „sozial abzufedern“.111 Personalkündigungen, Gehaltsverzichte der Gewerkschaftsbeschäftigten, „Extrabeiträge“, der Verzehr von Vermögensmassen sind die Kehrseite dieser Medaille. Bemerkenswert ist ein aus dieser Situation der „positiven Kriegsarbeit“ unternommener Vorstoß des Vorsitzenden der „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“. In einer Eingabe an das Reichsamt des Innern vom 26. August 1914 kumulieren Bestrebungen, den großen Einsatz der Gewerkschaften bei der Unterstützung ihrer Mitglieder und den Hinweis auf die drohende Überforderung ihrer Mittel dazu zu benutzen, als die Organisationen anerkannt zu werden, die eine aus öffentlichen Mitteln gespeiste Arbeitslosenversicherung durchführen sollen. Zur Einrichtung eines solchen Systems der Arbeitslosenunterstützung sei eine Zusammenarbeit aller Gewerkschaftsrichtungen erforderlich.112 Diese aus der Vorkriegszeit überkommene Forderung, die Gewerkschaften mit der Durchführung einer aus öffentlichen Geldern gespeisten Arbeitslosenunterstützung zu betrauen (das sog. Genter System), wird auch von der „Gesellschaft für Soziale Reform“ unterstützt.113 Carl Legien verknüpft mit seinem Vorstoß unter anderem auch noch die arbeitsmarktpolitisch begründete Forderung nach einer generellen „Verkürzung der Arbeitszeit auf acht Stunden“ und gibt Hinweise, derart, durch Vermeidung von Überanstrengung, die Kriegswirtschaft effektivieren zu können. Die gewerkschaftliche Initiative trifft allerdings auf großindustriellen Widerstand und auch die staatlichen Stellen verhalten sich abweisend.114 Andere Initiativen der Gewerkschaften aus den ersten Kriegsmonaten richten sich z.B. darauf, die Geltung der reaktionären Gesindeordnung für die Arbeiter, die Arbeit in der Landwirtschaft aufnehmen, zu verhindern. Dies geling in Verhandlungen mit der Regierung, die schon am 2. und 3. August 1914 stattfinden.115 Sie setzen sich aber auch in Beschwerden für angemessene Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen, für effektive Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, gegen bewußt aktivierte „gelbe Praktiken“ auch
Erklärung von Sondererscheinungen, aufgefächert nach Branchen und Betrieben. Diese zeigen, wie vielgestaltig auch dieser Aspekt gewesen ist. 110 Vgl. dazu auch: Potthoff, Heinrich: Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution: Kontinuität und Wandel. In: Matthias, Erich, Schönhoven, Klaus (Hg.): Solidarität und Menschenwürde. Bonn 1984, 107 - 131, hier: 110. 111 Vgl. die zahlreichen Hinweise bei: Umbreit, Paul: Der Krieg und die Arbeitsverhältnisse. Die deutschen Gewerkschaften im Kriege. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1928. 112 Vgl. das Schreiben C. Legiens an das Reichsamt des Innern vom 26.8.1914; BA Abt. Potsdam. 15.01/55 Reichsministerium des Innern, Nr. 1023, Bl. 23 ff. 113 Vgl.: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm.70), 123. 114 Vgl. denselben. ebenda, 123 f. 115 Vgl. die Notiz in der Bergarbeiter-Zeitung Nr. 33 vom 15.8.1914, 2; der landwirtschaftliche Arbeitskräftebedarf, der vor Kriegsausbruch für so bedeutsam gehalten wird und zu dessen Befriedigung zahlreiche Organisationen und auch Schulen mobilisiert werden, erweist sich zumindest stellenweise als bald gedeckt; vgl. das Schreiben des Schlesischen Arbeitsnachweisverbandes vom 10. August 1914; vgl. auch den Erlaß des Ministers für Handel und Gewerbe vom 15. August 1914; BA Abt. Potsdam. 15.01/55 Reichsministerium des Innern, Nr. 1022, Bl. 126 f., 135 f.
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während des Krieges ein.116 Nach dem Fehlschlag ihrer Intervention, die Gewerkschaften mit der Gestaltung und Auszahlung von öffentlich finanzierter Arbeitslosenunterstützung zu beauftragen, drängen sie darauf, daß auf kommunaler Ebene eine flächendeckende Arbeitslosenunterstützung eingeführt wird. Dabei gelingt es, zumindest etwas Bewegung in die Sache zu bringen. Es erscheint aus gewerkschaftlicher Sicht als Erfolg, daß es nun Ansätze gibt, die, um die „Massen“ nicht zu verbittern, eine öffentliche Arbeitslosenunterstützung aus der „entehrenden“ und „entrechtenden“ Armenpflege lösen wollen. 117 Die Landesversicherungsanstalten stellen aus ihrem Vermögen Mittel für die Erwerbslosenhilfe und für Notstandsarbeiten bereit118, einzelne Länder und Gemeinden folgen diesem Beispiel, durchgreifende Maßnahmen allerdings unterbleiben. In dieser Situation drohen am 5. November 1914 prominente SPD-Vertreter damit, ohne Konzessionen in der Arbeitslosenunterstützungsfrage, die von der Reichsregierung gewünschte diskussionslose Annahme der Kriegskreditvorlage nicht mehr garantieren zu können.119 Diese spektakuläre Initiative, die in eine Regierungsvorlage mündet, die bei Annahme zu einem Durchbruch zu einer reichsweiten, flächendeckenden, öffentlichen Arbeitslosenhilfe geführt hätte, scheitert an den Bundesstaaten. Am 18. Dezember 1914 werden demgegenüber Bestimmungen des Bundesrats über die Gewährung von Beihilfen zur Kriegswohlfahrtspflege veröffentlicht. Diese jedoch lassen die Verpflichtung für alle Gemeinden, eine Abeitslosenunterstützung einzuführen, vermissen. Sie sehen eine abgemilderte Bedürftigkeitsprüfung vor und stellen die Regelung der Voraussetzungen, der Höhe und der Art der Fürsorge in das Ermessen der Gemeinde.120 Ein unvollständiges, buntscheckiges und vielfach unzulängliches „System“ der Arbeitslosenunterstützung ist die Folge. Manche Gemeinden gewähren nur Sachleistungen in Gestalt von Speisemarken für Volksküchen, Anweisungen auf Kleidung und Brennmaterial. Sehr viele Gemeinden leisten Mietunterstützungen, die letztlich den Hauseigentümern zugute kommen. Vielfach werden Sozialversicherungsbeiträge weitergezahlt und Hilfen in außerordentlichen Notfällen gewährt.121 Anläßlich der Beratung des zweiten Nachtragsgesetzes zum Reichshaushaltsetat stellt das Reich 200 Millionen Mark zur Unterstützung der Gemeinden bei ihren vom 1. Januar 1915 an gemachten Aufwendungen auf dem Gebiet der Kriegswohlfahrtspflege zur Verfügung. Mit diesem Geld soll sowohl die Tätigkeit der Gemeinden „angeregt“ werden, als auch verhindert werden, daß die durch den Krieg in Not geratenen Personen nur nach den „harten Grundsätzen“ der Armenpflege behandelt werden. Darüber hinaus soll durch diese „freiwillige“ Initiative des Reiches vermieden werden, daß der Reichstag detaillierte Bestimmungen in den Etat hineinschreibt. Die Ausführungsbestimmungen, so der Unterstaatssekretär Arnold Wahnschaffe in einem Telegramm vom 22. November 1914, sollten so gehalten sein, daß nicht der erste Schritt zur Arbeitslosenversicherung gemacht, sondern nur eine „Notstandsaktion“ eingeleitet werde. 122 116 Vgl. dazu die Aktenstücke in: BA Abt. Potsdam. 15.01/55 Reichministerium des Innern, Nr. 1023, z.B. Bl. 183, 209 ff., 300 ff.; vgl. auch die Gemeinschaftsinitiative zur Beschäftigung von arbeitslosen Frauen; ebenda, 15.01/56, Reichsministerium des Innern, Nr. 1026. 117 Vgl. ausführlich: Kriegswirtschaftliches. II. Teil. In: Reichs-Arbeitsblatt, 13(1915)2, 133 - 142. 118 Vgl. zu entsprechenden Initiativen: Reichs-Arbeitsblatt, 12(1914)10, 779 ff. 119 Vgl.: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm.70), 126 f. 120 Die Bestimmungen sind teilweise abgedruckt und kommentiert bei: Wermel, Michael T., Urban, R.(oswitha): Arbeitslosenfürsorge...a.a.O.(=Anm.108), 9 f. 121 Vgl. dieselben, ebenda, 11. 122 Vgl. zum Telegramm: BA Abt. Potsdam. 07.01 Reichskanzlei, Nr. 2473, Bl. 44 f.
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Es ist bezeichnend für die Tragfähigkeit dieser politischen Linie, daß trotz der Tatsache, daß die düpierten Sozialdemokraten bald zu ihrer Kritikfähigkeit zurückfinden, von einer grundsätzlichen Weiterentwicklung der Arbeitslosenunterstützung in dieser Phase des „Burgfriedens“ nicht mehr die Rede sein kann. Hinzu kommt, daß die Arbeitslosigkeit nach kurzer Zeit rapide zurückgeht. Waren Anfang September 1914 von den Mitgliedern der Freien Gewerkschaften 21,2% arbeitslos,123 und werden dadurch bedingt im Jahre 1914 rund 23,7 Millionen Mark allein an freigewerkschaftlicher Arbeitslosenunterstützung fällig,124 so sinkt diese Zahl der Arbeitslosen schon ab September rasch zusammen. Von Mai 1915 ab bleibt im Reichsdurchschnitt das Angebot von arbeitssuchenden Männern ständig hinter der Zahl der offenen Stellen zurück. Nur noch für Sondergruppen sind Maßnahmen erforderlich und vorgesehen, an die Stelle der „Arbeitsbeschaffung“ mit ihren vielfältigen Maßnahmen, tritt die „Arbeiterbeschaffung“.125 Schon die Vorwegnahme der Auswirkungen des Kriegsbeginns auf die inneren Verhältnisse im Deutschen Reich, erst recht die mit dem Kriegsgeschehen sich rasch wandelnde Arbeitsmarktsituation, verweist die „Macher“ dieses barbarischen „Völkerringens“, der sich bald offenbarenden „entsetzlichen Menschenschlächterei“126 auf jene Institutionen der Arbeiterpolitik, die ebenfalls noch auf einem archaischen Entwicklungsniveau verharren, auf die Arbeitsnachweise als Instrumente der Arbeitsvermittlung. Noch bevor deutlich wird, daß im Weltkrieg zur Ausrüstung und zur „Auffüllung“ der Millionenheere über Jahre erhebliche, der Intention nach alle ohne Gefährdung des „inneren Friedens“ und „physischen Überlebens“ verfügbaren ökonomischen und sozialen Ressourcen eingesetzt werden sollen, und daß deshalb auch arbeitsmarktbezogene Beherrschungs- und Lenkungsapparaturen sowie Erzwingungsmittel „unverzichtbar“ sein werden, geraten die „urtümlichen“ Arbeitsvermittlungseinrichtungen als „unzureichend“ in das Blickfeld der planenden militärischen und zivilen Leitungsinstanzen.127 Die Arbeitsnachweise sind zu Kriegsbeginn immer noch unzureichend verbreitet, interessenpolitisch zersplittert und instrumentalisiert und weit entfernt von einem für machtpolitische Zwecke problemlos benutzbaren System aufeinander abgestimmter öffentlicher Einrichtungen und Maßnahmen. In den Februarerlassen des Jahres 1890 gar nicht angesprochen, als „werbendes Agitationsmittel“ auf der einen und „antisozialistisches Kampfmittel“ auf der anderen Seite im Extremfall betrachtet, eine Vielzahl weiterer Interessen berührend, hatte sich dieser Bereich einer wirksamen staatlichen Intervention entzogen. Dieser Konfliktstoff des Kaiserreichs wurde durch Verstaatlichung nicht entschärft. Der Plan, den Arbeitern den „Friedensschluß“ mit der herrschenden Wirtschaftsordnung durch eine „ausreichende Schutzwehr gegen den Abgrund der Arbeitslosigkeit“128 d.h. auch durch eine Effektivierung der Arbeitskräftevermarktung zu erleichtern, war zwar geläufig, wurde 123 Vgl.: Die Arbeitnehmerverbände und der Krieg. In: Reichs-Arbeitsblatt, 12(1914)10, 785 - 794, hier: 785; hinreichend zuverlässige Arbeitsmarktstatistiken fehlen für diese Zeit, so daß man auf derartige Hilfsgrößen angewiesen ist. 124 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, R(oswitha): Arbeitslosenfürsorge...a.a.O.(=Anm.108), 9. 125 Vgl. dieselben, ebenda. 126 So Reichskanzler von Bethmann Hollweg in einem „ganz vertraulichen“ Schreiben an den Chef des Geheimen Zivilkabinetts vom 9.12.1915; zit. aus: Militär und Innenpolitik ...a.a.O.(=Anm.48), 275. 127 So mehrfach in der Aufzeichnung über das Ergebnis der am 13. März 1914 abgehaltenen Sitzung der ständigen Kommission für Fragen der wirtschaftlichen Mobilmachung...a.a.O.(=Anm.107). 128 Vgl. in diesem Zusammenhang: Faust, Anselm: Arbeitsmarktpolitik in Deutschland: Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsvermittlung 1890 - 1927. In: Pierenkemper, Toni, Tilly, Richard (Hg.): Historische Arbeitsmarktforschung. Göttingen 1982, 253 - 273; das Zitat entstammt der Feder Heinrich Herkners, vgl. ebenda, 259.
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aber nicht realisiert. Es zeigt sich, daß die Mißbräuche und „Mängel“ auf dem Gebiete der allseits kritisierten gewerbsmäßigen Stellenvermittlung durch das Stellenvermittlergesetz vom 2. Juni 1910 nicht wirksam eingedämmt werden konnten.129 Allerdings lassen sich im vorstaatlichen Raum, auf dem Gebiet der öffentlichen, typischerweise kommunal organisierten Arbeitsnachweise beachtenswerte Initiativen beobachten. Aus dem Wunsch nach politischer Stabilität, nach Förderung des Wirtschaftswachstums und Minderung sozialer Notlagen, entwickeln sich zunächst besonders in Süddeutschland, dann auch im Norden, zahlreiche neue und zum großen Teil auch paritätisch verwaltete, öffentliche Arbeitsnachweise und es kommt unter dem Einfluß dieser Initiativen zu einer gewissen örtlichen Zentralisation der häufig in Großstädten sehr zahlreichen Arbeitsnachweise der verschiedensten Art.130 Es bildet sich auf der Grundlage dieser öffentlichen und gemeinnützigen Arbeitsnachweise, dieser Arbeitsämter, wie man sie teilweise schon bezeichnet, eine nennenswerte interlokale Organisation: Arbeitsnachweisverbände auf Bezirks- und Landesebene werden ins Leben gerufen.131 Während die Arbeitsnachweise die konkrete Arbeitsvermittlung vor Ort abwickeln, kommt den Arbeitsnachweisverbänden vor allem eine arbeitsmarktausgleichende, eine fördernde, beratende, statistische und interessenpolitische Aufgabenpalette zu. Als organisatorische Spitze und Zentralausgleichsstelle der öffentlichen Arbeitsnachweise fungiert ein schon in der Vorkriegszeit gegründeter „Verband Deutscher Arbeitsnachweise“. 1912 werden mit Hilfe von 1.985 in die Erhebung einbezogenen Arbeitsnachweisen rund 3.600.000 Stellen besetzt. Am Ende dieses Jahres existieren im Deutschen Reich 16 Landes- und Provinzialverbände, die sich im „Verband Deutscher Arbeitsnachweise“ zusammengefunden haben.132 Seit 1909 werden die Bestrebungen des Verbandes, die vor allem auch auf eine vollständige Ausbildung der kommunalen oder gemeinnützigen Arbeitsnachweisorganisation gerichtet sind, aus Reichsmitteln unterstützt.133 In der geschilderten Form wird das buntscheckige und lückenhafte Arbeitsnachweiswesen in den Ersten Weltkrieg einbezogen.134 Zunächst finden sich Maßnahmen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit und zur Einbringung der Ernte auf der Tagesordnung der entsprechenden Institutionen. Die Gewerkschaften erfahren unter den chaotischen Bedingungen des „Kriegsstoßes“ auch auf dem Gebiet der Arbeitsmarktorganisation ein Zeichen ihrer „Anerkennung“. In dieser Lage der ersten Augusttage, die auch deshalb so desolat ist, weil die Mobilisierung einschließlich der begleitenden Maßnahmen weitgehend ohne jede Rücksicht auf die Bedürfnisse des zivilen Lebens und der Produktion erfolgt, werden sie, wie die Arbeitgeber, an einer bereits am 5. August 1914 im Reichsamt des Innern eingerichteten „Reichszentrale der Arbeitsnachweise“ beteiligt.135 Diese Reichszentrale soll die 129 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Preller, Ludwig: Sozialpolitik…a.a.O.(=Anm. 5), 6 ff. 130 Vgl.: Thiemann, Albert: Arbeitsmarkt und Arbeitsnachweis im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Köln 1925 (Diss. rer. pol.), 23 ff. 131 Vgl. denselben, ebenda, 25 f. 132 Vgl. dazu die Etatsnotiz. Betr.: Arbeitsnachweis vom 9. Januar 1914. BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Nr. 1020 Bl. 13 ff. 133 Vgl. ebenda Bl. 15 RS; ebenda auch die Liste der Unterverbände, Bl. 168 f; die Unterstützung aus Reichsmitteln wird vor allem den Arbeitsnachweisverbänden zugewendet; vgl. ebenda das Schreiben des Reichsamt des Inneren vom 11. Mai 1915 an den Verband Deutscher Arbeitsnachweise, Bl. 186. 134 Auch hier, bei der „Einbindung“ der lückenhaften Arbeitsnachweise, scheint es erst unmittelbar vor Kriegsbeginn zu höchst unzulänglichen und völlig verspäteten Initiativen des Reichs zu kommen; vgl. ebenda etwa Bl. 67 sowie das Schreiben des Reichskanzlers (Reichsamt des Innern) vom 21. Juli 1914 (Pag. unlesbar). 135 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 150.
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Tätigkeit aller Arbeitsnachweisverbände und Arbeitsnachweise vereinheitlichen und planmäßig gestalten helfen. Für die Akteure der Kriegsgesellschaft rächt sich nun das „Reformdefizit“ und die Tatsache, daß man in der Vorkriegszeit bestenfalls theoretisch die Frage nach den arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen des fatalistisch erwarteten oder aktiv herbeigeführten Krieges behandelt hatte.136 Die bald in großer Zahl hereinbrechenden Kriegsaufgaben werden von den Arbeitsnachweisen mehr „schlecht als recht“ erfüllt. Der zur Unterstützung der Arbeitsvermittlung von der Reichszentrale zweimal wöchentlich publizierte „Arbeitsmarkt-Anzeiger“137 findet viel Kritik, gilt als ungeeignet und in Süddeutschland wird der Anzeiger nur äußerst mangelhaft zur Kenntnis genommen.138 Die Arbeit der Reichszentrale „leidet“ vor allem daran, daß ihr ein umfassender, homogener organisatorischer Unterbau fehlt. Ein realitätsangemessener Arbeitsmarktüberblick, annähernd zuverlässige Arbeitsmarktzahlen lassen sich so nicht gewinnen.139 Wird die Reichszentrale den elementaren Bedürfnissen der ersten Kriegswochen noch einigermaßen gerecht, so hört man schon Anfang 1915 kaum mehr etwas von ihr.140 In dieser Situation lassen sich politische Vorstöße ausmachen, zu einer gesetzlichen Regelung des Arbeitsnachweiswesens zu kommen. Bedeutsamer als das entsprechende Begehren des Regierungs-Präsidenten zu Düsseldorf141 ist zweifellos der Vorstoß der freigewerkschaftlichen Konferenz der Verbandsvorstände vom 9. Februar 1915 zur Organisation der Arbeitervermittlung.142 Diese Konferenz fordert eine „energische Reform im Interesse unserer gesamten heimischen Volkswirtschaft, auch schon während des Krieges.“143 Die freigewerkschaftlichen Leitsätze zur Arbeitsvermittlung plädieren für einen dreistufigen Aufbau der Arbeitsverwaltung in Form von lokalen Arbeitsämtern, Bezirksarbeitsämtern für bestimmte „Landesteile“ und einem Reichsarbeitsamt als organisatorischer Spitze. Die Verwaltung soll paritätisch von Vertretern der Arbeiter und Unternehmer geführt werden. Den lokalen Arbeitsämtern sollen alle Arbeitsnachweise des entsprechenden Gebietes unterstellt werden. Auch diese sollen eine paritätische Verwaltung einrichten. Die Leitung aller Verwaltungskörper soll durch einen „unparteiischen Vorsitzenden“ erfolgen. Diese Leitsätze sollen eine Gesetzesinitiative auf Reichsebene motivieren. Unter der Herrschaft eines derart ausgestalteten Gesetzes wären die gewerblichen Stellenvermittler und die in der Arbeiterbewegung unbeliebten „Kontroll- und Maßregelungsbüros“ der Unternehmer abgeschafft worden, aber auch die Nachweise der Gewerkschaften. Nur Spezialnachweise für besondere Gruppen sollen als tarifvertraglich vereinbarte oder öffentliche Einrichtungen erhalten bleiben. Ein Vermittlungsmonopol wird mithin angestrebt. Die Leitsätze zur Organisation der Arbeitsvermittlung, die unter „normalen“ Bedingungen - schon wegen der Aufgabe der gewerkschaftseigenen Arbeitsnachweise - in der Gewerkschaftsbewegung sicherlich äußerst umstritten gewesen wären, verzichten bewußt auf Formulierungen und Forderungen, die bei den übrigen Gewerkschaftsrichtungen auf Widerstand gestoßen wären. 136 Vgl. Hinweise bei: Uhlig, Otto: Arbeit - amtlich angeboten. Der Mensch auf seinem Markt. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970, 227 f. 137 Vgl.: Thiemann, Albert: Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm.130), 28. 138 Vgl.: Uhlig, Otto: Arbeit...a.a.O.(=Anm.136), 233. 139 Vgl.: Heyde, Ludwig: Der Stand des Arbeitsnachweises. In: Soziale Praxis, 25(1916)18, Sp. 413 - 418. 140 Vgl. ähnlich: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 150. 141 Vgl. das Schreiben des Regierungspräsidenten vom 17. November 1914. BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Nr. 1016, Bl. 198 ff. 142 Vgl. dazu das Protokoll der Verbandsvorstände vom 8./9.2.1915 in: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.27), 129 - 172, hier: 148 ff. 143 Vgl. ebenda, 148.
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Diesem durchaus kontrovers diskutierten Verzicht, diesem Abschleifen und Geschmeidigmachen freigewerkschaftlicher Vorstellungen zur Arbeitsvermittlung, das der Arbeiterbewegung ein „werbendes Agitationsmittel“ entwunden, ein Stück autonomer Selbsthilfe beendet hätte, liegt ein taktisches Kalkül zugrunde. Dieses Konzept, das andererseits einer am Unternehmerinteresse „gebrochenen“ Ausdehnung des Einflusses der Gewerkschaften Tür und Tor geöffnet hätte, will über die Zustimmung der anderen Gewerkschaftsrichtungen die Reichstagsfraktionen vor allem des Zentrums und der Freisinnigen Volkspartei gewinnen. Auf der Basis einer damit möglichen parlamentarischen Mehrheit soll die Regierung unter Druck gesetzt werden. Um die Durchsetzungschance dieser Initiative zu verbessern und um der Regierung nicht zuviel zuzumuten, d.h. auch: um die für die Kriegführung abträgliche Situation der „Anarchie der Arbeitsvermittlung“ sicher ausnutzen zu können, wird vorübergehend auf Betreiben Carl Legiens der Weg erwogen, „lediglich“ eine entsprechende Bundesratsverordnung zu fordern.144 Die ganze Aktion mündet schließlich nach weiteren Beratungen in der gemeinsamen Eingabe der Richtungsgewerkschaften einschließlich der „Polnischen Berufsvereinigung“ vom 3. März 1915 an den Bundesrat und Reichstag, die gesetzliche Regelung der Arbeitervermittlung betreffend.145 Die „Gesellschaft für Soziale Reform“ schreibt sich in diesem Zusammenhang zu, die Einigung der Gewerkschaftsrichtungen auf eine einheitliche Plattform gefördert zu haben. Von dieser Seite der „bürgerlichen Sozialreform“ wirken der „Weltpolitiker“ Ernst Francke, der Vorsitzende der Gesellschaft Freiherr Hans Hermann von Berlepsch und der neue Generalsekretär und Mitherausgeber der „Sozialen Praxis“ Waldemar Zimmermann an den Beratungen mit.146 Diese erste gemeinsame Aktion aller Gewerkschaftsrichtungen führt insofern zum Erfolg, als sich die Reichstagsmehrheit am 20. März 1915 der (Gemeinschafts-) Initiative anschließt. Damit ist dieser Vorstoß Ausgangspunkt einer parlamentarischen Mehrheitsbildung der „linken Mitte“. Von hier führt eine Linie zum interfraktionellen Ausschuß vom Frühjahr 1917 und zur Weimarer Parteikonstellation, zur „Weimarer Koalition“. Wegen der fortbestehenden und bald wieder sichtbar werdenden Interessengegensätze der Gewerkschaftsrichtungen147 und der ablehnenden Bestrebungen von Sondergruppen,148 sowie vor allem wegen des fortdauernden Widerstands der Industrie, insbesondere der schwerindustriell beeinflußten „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“, bleibt die Initiative weitgehend fruchtlos. Der erwähnte Arbeitgeberverband entwickelt sogar Bestrebungen zur Gründung neuer Arbeitgebernachweise.149 So bleiben auch auf diesem Gebiet, als Folge des noch funktionierenden Zusammenspiels der Kräfte der sozialpolitischen Stagnation, große Um- und Neuorientierungen aus. „Kleine Mittel“ jedoch, die die Grundsatzfragen sozialpolitischer Orientierung offen lassen, werden angebracht. Zur „Genugtuung“ der Arbeitgeber beschränkt sich der Bundesrat darauf, lediglich eine Anzeige- und Meldepflicht der nicht gewerbsmäßigen Arbeitsnachweise an das „Kaiser144 Vgl. ebenda, 157; zur Überarbeitung der Leitsätze vgl. ebenda, 171. 145 Vgl. ebenda, 173 ff. 146 Vgl.: Büro für Sozialpolitik. Tätigkeitsbericht über das Jahr 1915...a.a.O.(=Anm.67). 147 So: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 152. 148 Vgl. die Eingabe der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft der Kaufmännischen Verbände“ vom 17. März 1915 an den „Hohen Bundesrat Berlin“. BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Nr. 1016 (Seitenzahl unlesbar). Vgl. auch die Petition vom 29. November 1915. BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Nr. 1017, Bl. 40 ff. 149 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 154.
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liche Statistische Amt“ auf der Grundlage der Ermächtigung durch den § 15 des Stellenvermittlergesetzes des Jahres 1910 einzuführen. Angezeigt werden sollen gemäß dem preußischen Erlaß vom 26. Mai 1915 die Adresse und weitere Angaben zu den Arbeitsnachweisen (Trägerschaft, Geschäftsleiter, Geschäftsstunden usw.). Gemeldet werden sollen an zwei Stichtagen in der Woche die unerledigten Arbeitsgesuche und offene Stellen an die Abteilung für Arbeiterstatistik des „Kaiserlichen Statistischen Amtes“. Bestimmte, später deutlich eingeschränkte Befreiungen von dieser Meldepflicht sind vorgesehen.150 Mit Erlaß des preußischen Ministers für Handel und Gewerbe vom 21. Mai 1915151 soll die Zusammenarbeit der besonders in den Großstädten äußerst zahlreichen nicht gewerbsmäßigen Arbeitsnachweise dadurch verbessert werden, daß nach dem Beispiel Berlins und anderen entsprechenden Entwicklungen, Zentralauskunftsstellen oder ähnliche Einrichtungen auf örtlicher Ebene zur Nachahmung empfohlen werden, um so den kriegswirtschaftlichen Anforderungen und auch einer Regelung des Arbeitsmarktes bei Friedensschluß besser genügen zu können.152 Sowohl der Anzeige- als auch der Meldepflicht wird, wie ein Erlaß vom 14. Februar 1916 erkennen läßt,153 nicht entsprechend gefolgt. Das führt zur Anempfehlung der Verhängung von empfindlichen Strafen. Auch die Errichtung von Zentralauskunftsstellen im Deutschen Reich (der Reichskanzler selbst hatte die Bundesregierungen ersucht, dem Vorbild Preußens zu folgen) läßt zu wünschen übrig.154 Wiederum jede sozialpolitische Grundsatzentscheidung umgehend,155 wird durch eine Bundesratsverordnung, durch die „Bekanntmachung über Arbeitsnachweise“ vom 14. Juni 1916, die Möglichkeit eröffnet, daß Landeszentralbehörden oder die von ihnen bezeichneten Behörden die Gemeinden oder Gemeindeverbände verpflichten können, „...öffentliche unparteiische Arbeitsnachweise zu errichten und auszubauen sowie zu den Kosten solcher von anderen Gemeinden oder Gemeindeverbänden errichteten Arbeitsnachweise beizutragen; sie können Anordnungen über die Einrichtung und den Betrieb solcher Arbeitsnachweise treffen.“156 In einem Erlaß vom 25. Juli 1916 empfehlen der preußische Minister für Handel und Gewerbe und der preußische Minister des Innern, dem „unparteiischen“ Leiter des Arbeitsnachweises überall dort, wo die Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitern stark hervortreten, „...also namentlich in den größeren Städten, Arbeitgeber und Arbeiter beizuordnen, die unter seiner Leitung an einer kollegialen Verwaltung des Arbeitsnachweises teilnehmen.“157 Diese genuin sozialpolitische Idee vertiefend wird betont, selbstverständlich müsse der Grundsatz völliger Unparteilichkeit nicht nur hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses
150 Vgl. den entsprechenden Erlaß im Ministerial-Blatt der Handels- und Gewerbe-Verwaltung, 15(1915), 122 ff. 151 Vgl. ebenda, 124. 152 Das damals offensichtlich immer noch ein „Traum vom schnellen Frieden“ existiert und zu arbeitsmarktpolitischen Überlegungen führt, belegt auch: Uhlig, Otto: Arbeit... a.a.O.(=Anm.136), 237 f. 153 Vgl. das Ministeral-Blatt der Handels- und Gewerbe-Verwaltung, 16(1916), 55 f. 154 Näheres bei: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 154 f. Vgl. auch die Niederschrift einer Vorstandssitzung des „Verbandes Deutscher Arbeitsnachweise“ vom 12. November 1915. BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Nr. 1020, Bl. 288 ff. 155 Was nicht ausschließt, daß die „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ sich „bedrängt“ fühlt; vgl. die Eingabe vom 15. August 1916 und auch den Auszug aus dem Bericht über die Geschäftsführerkonferenz dieser Vereinigung am 23. August 1916, der auf die Anstrengungen des Verbandes verweist, neue Arbeitgebernachweise zu gründen. BA Abt. Potsdam. 15.01/65 Reichsministerium des Innern, Nr. 1067, Bl. 111 RS, 113 RS. 156 RGBl. 1916, 519. 157 Vgl.: Ministerial-Blatt der Handels- und Gewerbe-Verwaltung, 16(1916), 265 f.
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der Arbeiter untereinander sowohl zwischen organisierten und nicht organisierten, als auch zwischen den organisierten Arbeitern der verschiedenen Richtungen gelten.158 Vor diesem Hintergrund kann der Befund kaum überraschen, daß die gewaltige Arbeitsmarktumwälzung in der ersten Hälfte des Krieges wesentlich in Form der nichtöffentlichen Arbeitsvermittlung, der Umschau, der Zeitungsannoncen, der gewerblichen Stellenvermittlung, der ganz privaten Beziehungen und Kenntnisse vonstatten geht. Die großen Werke schicken ihre Werber in alle Gegenden Deutschlands und in die Grenzländer. In Brüssel wird im Mai 1915 sogar ein Arbeitsnachweis der „Nordwestlichen Gruppe“ des „Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller“ gegründet. Eine umfassende, annähernd rational aufgebaute, planmäßig auf den Krieg hin entwickelte und instrumentalisierte Arbeitsmarktorganisation steht erst den Nationalsozialisten zur Verfügung.159 Die damit angedeutete kriegsbezogene Instrumentalisierung der arbeitsfähigen deutschen Zivilbevölkerung, von Ausländern und Kriegsgefangenen unter Mitwirkung der Arbeitsmarktorganisation hat ihren Ursprung allerdings bereits im Ersten Weltkrieg.160 Ein erhebliches Gewicht gewinnt im Zuge des Aufbaues des „Kriegsarbeitsmarktes“ eine spezifische „militärische Sozialpolitik“, deren Ziel in besonders pointierter Weise die höchstmögliche Steigerung der Produktion von Gewaltmitteln und ihr effektiver Einsatz nach außen, gegen „eine Welt von Feinden“, ist. Das Signum eines nur begrenzten Fortschritts der Sozialpolitik im Sinne der Vorstellungen der reformistischen Arbeiterbewegung tragen auch die Maßnahmen, die die überkommenen Koalitionsrechtsbeschränkungen beseitigen sollen. Von vornherein war zu erwarten, daß es auf dem Gebiet der Gesetze und Bestimmungen, die geschaffen wurden, um der „sozialdemokratischen Propaganda“ Grenzen zu setzen, nicht mit vorläufigen und punktuellen Maßnahmen getan sein werde. Im Mittelpunkt von Bestrebungen der Gewerkschaften und der ihnen nahestehenden Parteien steht das Verlangen nach einer grundlegenden Reform des Vereinsgesetzes vom 19. April 1908, einer ständigen Quelle von Repression und Schikanen in der Vorkriegszeit. Wenngleich die gängige Praxis der Behandlung der Gewerkschaften als politische Vereine (mit der Folge entsprechender Polizeimaßnahmen und Offenbarungspflichten gegenüber den Obrigkeiten) unter der Wirkung des Krieges weitgehend beendet wird, bleibt doch der entsprechende Rechtsstandpunkt unangetastet. Neben dem Verlangen nach einer „Klarstellung“ auf diesem Gebiet, findet vor allem der damit verknüpfte Jugendlichen-Paragraph, demzufolge Jugendliche unter 18 Jahren nicht Mitglied einer als politisch qualifizierten Gewerkschaft werden und auf Versammlungen nicht anwesend sein dürfen und der Sprachenparagraph, der den Gewerkschaften den Gebrauch einer Fremdsprache untersagt, heftige Kritik. Der Sprachenparagraph behindert zu dieser Zeit vor allem die Polnischen Gewerkschaften, in denen sich Bergarbeiter im Ruhrgebiet und später auch in Oberschlesien zusammengeschlossen haben. Nachdem die „Generalkommission der Gewerkschaften“ schon in den ersten Kriegsmonaten einen entsprechenden Vorstoß unternommen hat, engagieren sich die mit den verschiedenen Richtungsgewerkschaften verbundenen Parteien im Reichstag und ersuchen den Bundesrat im März 1915, die gegen die Arbeiterbewegung gerichteten „gesetzlichen 158 Vgl. ebenda, 266. 159 Vgl. dazu: Reidegeld, Eckart: Krieg...a.a.O.(=Anm.12), 501, 514 ff. 160 Vgl.: Thiemann, Albert: Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm.130), 30 ff.; Sogemeier, Martin: Die Entwicklung und Regelung des Arbeitsmarktes im rheinisch-westfälischen Industriegebiet im Kriege und in der Nachkriegszeit. Jena 1922, 67.
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Ausnahmebestimmungen“ alsbald zu beseitigen.161 Im Reichstag wird am 27. August 1915 sogar ein entsprechender Gesetzentwurf angenommen. Dieser scheitert allerdings an der Ablehnung durch den Bundesrat. Trotz einer ersten „einsichtsvollen“ Reaktion des Vizekanzlers und Staatssekretärs des Innern, Clemens von Delbrück, möchte auch dieser, wie der Reichskanzler selbst, einer Änderung des Reichsvereinsgesetz im Kriege aus dem Wege gehen.162 Erst Ende 1915 und nun aus dem vorrangigen Motiv, den rechten SPD-Flügel und die kooperationsbereiten Gewerkschaften gegen die sich zunehmend bemerkbar machende Opposition zu stärken, kommt auf Regierungsebene etwas Bewegung in diese Frage. Die Regierung erkärt sich zu einer „...verbindlichen Klarstellung bereit, daß die Gewerkschaften nicht den politischen Vereinen gleichzustellen seien, selbst dies aber nur unter der Bedingung, daß die Sozialdemokratie auf die Einbringung weitergehender Anträge verzichtete.“163 Auch nachdem sich die Reichstagsfraktion gegen drei oppositionelle Stimmen auf eine derartige Strategie eingelassen hat, läßt der Gesetzentwurf wegen fortdauernder interner Differenzen in Regierung und Verwaltung auf sich warten. Die internen Auseinandersetzungen kreisen insbesondere um die Frage, ob ein solches Gesetz nicht die Maßnahmen gefährden könnte, die dazu dienen, Eisenbahner und andere Staatsarbeiter sowie Landarbeiter vom Gewerkschaftsbeitritt abzuhalten. Dementsprechend bringt die in dieser Situation erhobene Forderung der SPD, die Landarbeiter einzubeziehen, die Verhandlungen vorübergehend auf den „toten Punkt“.164 Gegen den Widerstand vor allem der Konservativen, gegen einen heftigen Proteststurm der Industrie, der Agrarier, der „Gelben“, aber auch der Kirchen, gegen das Argument, das beklagt, daß das Prinzip der Aufschiebung grundsätzlicher Reformen bis in die Nachkriegszeit durchbrochen sei, daß damit geradezu eine „Burgfriedensstörung“ herbeigeführt worden sei,165 bringt die Regierung einen Gesetzentwurf ein, der aus lediglich einem einzigen Paragraphen besteht. Diese Vorlage wird am 5. Juni 1916 gegen die Stimmen der Konservativen, der Antisemiten und des rechten Flügels der Nationalliberalen im Reichstag angenommen.166 Die SPD verzichtet in diesem Zusammenhang auf weiterreichende Forderungen, um das Scheitern der Novelle zu vermeiden. Das Gesetz stellt klar, daß einige Vorschriften über die politischen Vereine und deren Versammlungen auf Vereine von Arbeitgebern und Arbeitnehmern „...zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht aus dem Grunde anzuwenden (sind), weil diese Vereine auf solche Angelegenheiten der Sozialpolitik oder der Wirtschafspolitik einzuwirken bezwecken, die mit der Erlangung oder Erhaltung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen oder mit der Wahrung oder Förderung wirtschaftlicher oder gewerblicher Zwecke zugunsten ihrer Mitglieder oder mit allgemeinen beruflichen Fragen im Zusammenhange stehen.“ Dieses Gesetz hat unter den Bedingungen des Belagerungszustandes allerdings lediglich theoretische Bedeu161 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 170; vgl.: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.27), 226, Fußn.3. 162 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 170. 163 Derselbe, ebenda, 171. 164 Vgl. insgesamt auch die Dokumente Nr. 116, 117, 123 in: Militär und Innenpolitik ...a.a.O.(=Anm.48), 267 270, 284 - 286. 165 So: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 174. 166 Vgl. denselben, ebenda, 175; es handelt sich um das „Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes vom 19. April 1908 (Reichs-Gesetzbl. S. 151)“ vom 26. Juni 1916 (RGBl. 1916, 635); dieses Gesetz wird durch „Gesetz, betreffend Abänderung des Vereinsgesetzes vom 19. April 1908“ vom 19. April 1917 (RGBl. 1917, 361) einer weiteren Liberalisierung unterworfen. Es fällt der „Sprachenparagraph“ weg, der Verhandlungen nur in deutscher Sprache vorgeschrieben hatte.
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tung, da die Militärbehörden in ihren jeweiligen Bezirken beinahe „allzuständige Kriegsdiktatoren“ sind,167 die im Prinzip auch über Gewerkschaftsaktivitäten entscheiden können. Zu ähnlich hinhaltendem Widerstand kommt es, als die Freien Gewerkschaften versuchen, das bislang vorenthaltene Koalitionsrecht für Eisenbahner durchzusetzen. Auf diesem militärisch und kriegswirtschaftlich extrem wichtigen Gebiet können die Gewerkschaften, trotz des Verzichts auf die Ausübung des Streikrecht, erst in der zweiten Kriegshälfte zu nennenswerten Organisationserfolgen des am 14. Juni 1916 gegründeten „Deutschen Eisenbahner-Verbandes“ kommen. Zahlreiche Maßregelungen „von oben“, wie Versetzungen, Drohungen mit dem Schützengraben, Aufhebung der Reklamierung, Nichtbeantwortung von gewerkschaftlichen Eingaben und der Kampf gegen gegnerische Eisenbahnerorganisationen kennzeichnen die Frühgeschichte dieses Eisenbahnerverbandes.168 Wie eng der Spielraum für eine Politik ist, die die durch den Krieg geschaffene Situation für „Zugeständnisse“ nutzen möchte, bzw. die den gefährdeten Grundzustand des Kaiserreichs durch Reformen einzelner Strukturen um so sicherer befestigen will, wird im Jahre 1916 vor allem am Beispiel der preußischen Wahlrechtsfrage deutlich. Auf diesem zentralen Gebiet zeigt sich auch jetzt noch keine Bereitschaft der Vertreter des Status quo ernsthafte Abänderungen vorzunehmen. Divergierende Auffassungen in der preußischen Regierung, im Falle des Kultusministers die Angst, „wolle man in Preußen ein solch radikales Wahlrecht einführen, wie es im Reiche bestehe, so würde er darin das Ende erblicken,“169 führen auf diesem Gebiet nur zu sehr verschwommenen Andeutungen in des Kaisers Thronrede vom 13. Januar 1916,170 Andeutungen, die die politische Rechte alarmieren und der Sozialdemokratie und den Freien Gewerkschaften aus eigenem Antrieb, aber auch unter dem Druck der anwachsenden Opposition in den eigenen Reihen, zu konkreten Forderungen Anlaß geben. In einer Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 17. Januar 1916, in der sich die Sozialdemokraten für eine allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht in Preußen einsetzen und auf die zahllosen Haken und Ösen, Finessen und Tricks der Obrigkeiten auch auf den Gebieten hinweisen, wo es zu einer Umorientierung in der Diskriminierungspolitik bereits gekommen ist, wird ihnen vom konservativen Abgeordneten Ernst von Heydebrand und der Lase vorgehalten, daß der Zeitpunkt einer Diskussion der Wahlrechtsfrage unglücklicher und unverantwortlicher nicht hätte gewählt werden können. Es sei „...doch gar keine Frage, daß von einigen - sagen wir einmal - Schönheitsfehlern abgesehen, die Gestalt unseres preußischen Abgeordnetenhauses, unserer preußischen Volksvertretung, eine den Bedürfnissen des Landes, wie ich behaupte, fast ideal entsprechende ist.“171 Die sachlichen Meinungsverschiedenheiten auf diesem Gebiet seien „zur Zeit“ im wesentlichen noch die alten geblieben.172 Die Wahlrechtsdiskussion weitet sich zwar aus, doch bleibt es in der Phase des „Burgfriedens“ bei nebulösen Andeutungen und der Tendenz, eine ebenfalls unkonkrete „Neuori167 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die zusammenfassenden Ausführungen bei: Kielmansegg, Peter Graf: Deutschland und der Erste Weltkrieg. 2., durchgesehene Auflage. Stuttgart 1980, 150. 168 Vgl. zusammenfassend: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften ...a.a.O.(=Anm.28), 176 ff. 169 Vgl. das Protokoll der Sitzung des Königlichen Staatsministeriums vom 3. Januar 1916; GStA Abt. Merseburg, Rep. 90a, Titel III. 2b. Nr. 6, Abteilung B, Bd. 165, Bl. 10. 170 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 186. 171 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. 22. Legislaturperiode, III. Session 1916/17. 1. Band, Berlin 1917, Sp. 39. 172 Vgl. ebenda, Sp. 38.
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entierung“ für die Nachkriegszeit zu versprechen oder zu beabsichtigen. Mit dieser „Strategie“, die trotz aller persönlichen Momente ein Ausdruck der konkreten Kräfteverhältnisse ist, unterminiert der Reichskanzler von Bethmann Hollweg schon bald in beträchtlichem Ausmaß seine politische Stellung. Die Innenpolitik der „kleinen Mittel“ ist zwar einerseits hinreichend geeignet, die reformistische Arbeiterbewegung in die Kriegsarbeit zu integrieren und nicht über die Maßen zu empören, zumindest von einer „Insubordination“ abzuhalten. Auf der anderen Seite, auf der Seite der mehr oder weniger unbedingten Vertreter und Parteiträger der alten Ordnung, schafft schon diese Strategie eben doch erhebliche „Mißklänge“.
6.3 Die Sozialpolitik und die „Imperative des modernen Krieges“ Besondere Akzente erhält die staatliche Sozialpolitik durch das konkrete arbeiterpolitische Handeln der zahlreichen Militärbehörden.173 Ausgerechnet eine reichlich bizarre, widerspruchsvolle Organisation, ausgerechnet die „alte“ Todfeindin der Sozialdemokratie, ausgerechnet eine Herrenschicht, deren Einstellung zur „sozialen Frage“ vor 1914 eher unklar oder repressiv und vor allem völlig unerprobt war, deren Ethos in besonderer Weise auf den Krieg gerichtet ist und in ländlich-paternalistischen Verhältnissen wurzelt,174 wird zu einem besonders wirksamen „Motor der Sozialreform“. Dies gilt allerdings nur für bestimmte militärische „Heimatbehörden“. Ohne auf Spekulationen über Subjektstrukturen einzelner Militärbefehlshaber zurückgreifen zu müssen, lassen sich genügend Gründe finden, die die Militärbehörden zu sozialpolitischen Strategien greifen lassen. In besonders drastischer Weise wird den Militärs deutlich gemacht, daß der Verlauf des „unvorhergesehenen Krieges“ vor allem auch von der Handhabung der „Arbeiterfrage“ abhängig ist und das beinhaltet für die Militärs nicht nur das Problem der Sicherstellung der bloßen Folgebereitschaft und der Motivation der Massen. Der sich unter den Augen der Militärs entfaltende, vor 1914 nur erahnte, bestenfalls umschriebene aber keineswegs „hinreichend“ vorbereitete „moderne Krieg“ stellt an sie darüber hinaus ganz spezifische Anforderungen. Um den Preis der Erhaltung der „Schlagkraft“ des Feldheeres (und der sehr viel weniger bedeutsamen Marine und Luftwaffe), um den Preis auch der Absicherung der sozialen Schätzung und Position des Militärs, sehen sich die militärischen Heimatbehörden nicht nur gezwungen, die „öffentliche Ordnung“ aufrechtzuerhalten. Sie müssen auch das Ensemble der produktiven Kräfte so beeinflussen, daß möglichst ein Maximum an außengerichteter Gewaltanwendung erzielt werden kann. Wie tastend und unvollkommen diese „Linie“ auch immer verfolgt wird, welche Auffassungen das Handeln auch immer strukturieren, die unmittelbare Rückkopplung mit dem Frontgeschehen macht ihnen besonders drastisch deutlich, daß der „unvorhergesehene Krieg“ eine zweckrationale „Verknüpfung“ von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und militärpolitischer Strategie verlangt. „Massen-“ bzw. „Millionenheere“ und „Materialschlachten“ haben den „totalen Krieg“ (Ludendorff) in extremer Weise von der Heimat, vom zweckentsprechenden Einsatz der produktiven, kriegsverwendbaren Ressourcen abhängig gemacht. Aus dieser Erscheinung ergibt sich für sie in besonderer 173 Vgl. hierzu grundlegend: Feldman, Gerald D.: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Berlin, Bonn 1985. 174 So zutreffend derselbe, ebenda, 45 f.
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Weise das Erfordernis der „Menschenökonomie im Kriege“,175 d.h. die unter Berücksichtigung der Militärbedarfe zweckentsprechend zu organisierende Verteilung, Gewinnung und der Einsatz des durch Kriegführung und Mobilisierung verknappten Arbeitskräftepotentials.176 Die „Imperative des modernen Krieges“ verwickeln die Militärbehörden in viel direkterer Weise als das Reich, teilweise viel kleinräumiger, konkreter, unausweichlicher in die „Arbeiterfrage“. Die elementare Angewiesenheit auf das Menschen- und Arbeitskräftepotential der Nation, die Furcht vor Unruhen im eigenen unmittelbaren Zuständigkeitsbereich, die Heranziehung auch örtlicher Arbeiterfunktionäre, der „unerbittliche“ Druck des Kriegsverlaufs, die immediate Herrenstellung, die räumlich und zeitlich begrenzte Natur der Militärverordnungen, die stellenweise deutliche Verbindung zur „bürgerlichen Sozialreform“ und ihren Ideen, alle diese Faktoren schaffen für die Militärs in der „Heimat“ einen teilweise erheblichen sozialpolitischen Handlungsspielraum, und schon bald nach Kriegsbeginn halten reformorientierte Arbeiterfunktionäre (und „bürgerliche Sozialreformer“) die militärischen Stellen den Zivilbehörden als Muster vor.177 Der führende, reformistische Gewerkschafter Robert Schmidt bemerkt in einem Beitrag des Jahres 1915: „Erfreulicherweise kann überhaupt betont werden, daß die Militärverwaltung vielfach größeres Verständnis und Entgegenkommen, sowohl auf sozialpolitischem wie auf wirtschaftspolitischem Gebiet gezeigt hat, als die Zivilverwaltung“.178 Noch rückblickend wird von einem sozialdemokratischen Autor die „gerechte Einstellung“, die „Entschlossenheit“ der beteiligten Militärs gerühmt. Die Heeresverwaltung habe sich in jenen Jahren ja öfters weitblickender und unvoreingenommener erwiesen als die Zivilverwaltung.179 Geht man davon aus, daß die Annahme einer kurzen Kriegsdauer jede intensivere Beschäftigung der Militärverwaltung mit ökonomischen und Arbeiterfragen weitgehend hat fehlen lassen,180 so dokumentiert sich in der im folgenden darzustellenden „militärischen Sozialpolitik“ ein außerordentlich rascher Lernprozeß. Im Zusammenhang mit den zahlreichen, nur teilweise betriebswirtschaftlich zu rechtfertigenden Lohnkürzungen, die unmittelbar mit dem Kriegsbeginn, dem Beginn der Arbeitslosigkeit und dem Arbeitskampfverzicht der Gewerkschaften einsetzen, haben sich, ebenso wie die Zivilbehörden, die stellvertretenden Kommandierenden Generale verschiedentlich mit der Frage der „Berechtigung“ und der Wirkung dieser Maßnahmen auseinanderzusetzen. Es sind zahlreiche ablehnende Stellungnahmen der Militärs überliefert. Um zu erreichen, daß aus Lieferverträgen bzw. militärischen Aufträgen den Arbeitern bestimmte Rechte erwachsen, drohen die Militärs den Entzug der Aufträge bzw. die Nichtberücksichtigung bei zukünftigen Heeresaufträgen an. Verschiedentlich werden entsprechende Sanktionen auch praktiziert. In zahlreichen Verträgen des Militärs mit Lieferanten finden sich Lohnschutzvorschriften. So werden etwa Min-
175 Dieser Begriff entstammt internen Planungen, wird aber auch in der Wissenschaftspublizistik vor und während des Ersten Weltkriegs gern benutzt: vgl. etwa: Oestreich, Paul: Menschenökonomie! Zur Frage der Berufsberatung. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 41(1916), 805-814. 176 Ähnlich die Einleitung in: Mai, Gunther (Hg.): Arbeiterschaft in Deutschland 1914-1918. Düsseldorf 1985, 9. 177 Vgl.: Wrisberg, Ernst von: Heer und Heimat 1914-1918. Leipzig 1921, 82; Hiller: Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Heimarbeiterschaft bei öffentlichen Lieferungen. In: Soziale Praxis, 25(1916)22, Sp. 505509, bes. 507f.; Groh, Dieter, Brandt, Peter: „Vaterlandslose Gesellen“...a.a.O. (=Anm. 11), 163. 178 Schmidt, Robert: Kapitalismus und Sozialpolitik. In: Jansson, Wilhelm (Hg.): Arbeiterinteressen...a.a.O. (=Anm. 36), 1-10, hier: 6 f. 179 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 5), 36. 180 Vgl.: Sichler, Richard, Tiburtius, Joachim: Die Arbeiterfrage...a.a.O.(=Anm. 78), bes. 5 ff.
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destlöhne und Lohnbestandteile am Endpreis vereinbart.181 Eine Überprüfung, ob die Lieferanten sozialen Anforderungen gerecht werden, wird angeregt. Solche Maßnahmen stehen in der Tradition von sozialreformerischen Vorstößen und vereinzelter kommunalpolitischer Praxis, die darauf zielte, öffentliche Aufträge nur dann bzw. an den zu vergeben, der bestimmte sozialreformerische Vorstellungen, insbesondere bestimmte Lohnhöhen, zu realisieren bereit war.182 Um die Arbeiter zu beruhigen, ihre Forderungen zu kanalisieren und die Gewerkschaften einzubinden, entstehen an verschiedenen Orten Lohnkommissionen. Angesichts hartnäckiger und „unbegründeter“ Lohndrückerei, gegen die anfänglich sogar einzelne kleinere Unternehmerverbände aus tariffreundlichen Gewerben Stellung beziehen,183 fördern die militärischen Stellen, nicht selten in Kooperation mit oder auf Hinweis aus der Gewerkschaftsbewegung, die Anwendung des Tarifvertragsgedankens. In diesem Zusammenhang ist eine militärische Initiative beachtenswert und spektakulär, die zu einem prinzipiellen „sozialpolitischen Fortschritt“ führt. Das Kriegsbekleidungsamt des Gardekorps, das neue Lohnsätze und Bedingungen für Schneideranfertigungen aufgestellt hat, muß beobachten, daß die den Arbeitern vom Kriegsbekleidungsamt zugedachten Löhne, die zudem in einem Tarifvertrag entsprechend fixiert sind, nicht durchweg eingehalten werden. Das Bemühen einer Schlichtungskommission für das Militärschneidergewerbe, die Zahlung der Tariflöhne sicherzustellen, wird durch die Rechtsprechung des Gewerbegerichts Berlin und seine Oberinstanz nicht unterstützt. In Ermangelung eines Tarifvertragsgesetzes halten diese Institutionen „...vom Tarifvertrag abweichende Arbeitsverträge selbst von Mitgliedern tarifgebundener Verbände für rechtlich zulässig.“184 Der damit eintretenden „Unsicherheit“, die für die gesamte tarifpolitische Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt kennzeichnend ist, macht das Oberkommando in den Marken „im Interesse der öffentlichen Ordnung“ ein Ende, indem es unter dem 21. Dezember 1915 für seinen Bezirk bzw. für seine „Orte“ (d.h. wesentlich für Groß-Berlin), eine Bekanntmachung erläßt, die folgendes bestimmt: „Für alle von Bekleidungsämtern vom 1. Januar 1916 ab in Auftrag gegebenen und in Privatbetrieben obiger Orte erfolgenden Anfertigungen von Mannschaftsbekleidungsstücken ... dürfen keine Vereinbarungen getroffen werden, welche von den Lohnabreden in den vom Kriegsbekleidungsamt des Gardekorps in Berlin Lehrterstraße 57 am 15. Dezember 1915 herausgegebenen allgemeinen und besonderen Vertragsbedingungen abweichen ... Zuwiderhandlungen werden auf Grund des § 9b des Gesetzes über den Belagerungszustand bestraft.“185 Durch diesen, vom Oberbefehlshaber in den Marken, Generaloberst Gustav von Kessel ordnungsgemäß unterzeichneten Erlaß, ist erstmals im Deutschen Reich ein Tarifvertrag „unabdingbar“ geworden und eine alte gewerkschaftliche und bürgerlich-sozialreformerische Forderung erfüllt.186 Das Belagerungszustandsgesetz, mit dessen Paragraphen ein Vierteljahrhundert zuvor noch im Rahmen des Sozialistengesetzes gegen die Arbeiterbewegung gewütet wurde, stellt sich nunmehr mit der Sanktionsdrohung seines § 9b (Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr) auf die Seite der tarifgebundenen Arbeiter und Arbeite181 Vgl.: Mai, Gunther: Burgfrieden...a.a.O.(=Anm.37), 29 ff. 182 Vgl.: Sozialpolitik bei Rüstungslieferungen. In: Soziale Praxis, 22(1913)32, Sp. 919f. 183 Vgl.: Mai, Gunther: Burgfrieden...a.a.O.(=Anm.37), 39. 184 Vgl.: Militärische Unabdingbarkeit des Lohntarifs für das Militärschneidergewerbe - eine Errungenschaft der Schlichtungskommission. In: Soziale Praxis, 25(1915/16)12, Sp. 287 f. 185 Ebenda, Sp. 288. 186 Vgl. in diesem Zusammenhang: Hiller: Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse...a.a.O.(=Anm.177), Sp. 505-509.
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rinnen und der sozialreformerischen Bewegung. Verstöße gegen die Bekanntmachung, vermerkt ein Berliner Magistratsrat, seien darüber hinaus Zuwiderhandlungen gegen ein Verbotsgesetz und machten Verträge nach § 134 BGB nichtig.187 Nicht weniger spektakulär ist eine an diesen Vorgang sich anschließende Verfügung des Preußischen Kriegsministeriums. Um auf dem angesprochenen Gebiet, das durch Heimarbeit, Subunternehmertum und zahlreiche andere „Unseriösitäten“ geprägt ist, mehr „Rechtssicherheit“ zu schaffen und um die vereinbarten Löhne tatsächlich in die Hände der Heimarbeiter gelangen zu lassen, verfügt es mit Datum vom 23. Dezember 1915: „1. Den Arbeitern, welche die vom Auftragnehmer an das Amt gelieferten Gegenstände angefertigt haben, steht das Recht zu, gegen den Auftragnehmer auf Zahlung des Unterschiedes zwischen dem tatsächlich erhaltenen und dem im Tarif festgesetzen Lohn zu klagen. Ebenso kann das Amt auf Zahlung des Unterschiedes an die Arbeiter klagen. Die Arbeiter und das Amt haben daher Klagerecht auch dann, wenn erstere nicht in einem unmittelbaren Vertragsverhältnis zum Auftragnehmer stehen, sondern von einem Unterlieferanten oder Zwischenmeister oder dergleichen beschäftigt werden. 2. In jedem Fall der Unterschreitung des Lohntarifs verpflichtet sich der Unternehmer, an das Amt eine Vertragsstrafe in Höhe des Fünffachen des Unterschiedes zwischen der Gesamtsumme der gezahlten und den nach dem Tarif zuständigen Löhnen, mindestens aber in Höhe von 20 Mk. zu zahlen. Die Strafe ist auch dann zu entrichten, wenn der Unterlieferant oder Zwischenmeister den Verstoß begangen hat. Das Amt wird die Strafgelder zum Besten der durch Tarifverstöße geschädigten Arbeiter nach pflichtgemäßem Ermessen verwenden.“188 Durch eine Verfügung des Preußischen Kriegsministeriums vom 22. Februar 1916 werden einheitliche Lohnvorschriften für Verträge über Lieferungen von Ausrüstungsgegenständen durch das Lederausrüstungsgewerbe festgesetzt: „Soweit von der Heeresleitung anerkannte Lohntarifabmachungen bestehen, sind diese maßgebend“, wird zusätzlich verfügt.189 Durch diese „Allgemeingeltung des Sattlertarifs kraft heeresbehördlicher Verfügung“, ist erneut eine alte tarifrechtliche Forderung im Rahmen der Kriegswirtschaft erfüllt worden. Die prinzipielle Bedeutung und der „revolutionäre Charakter“ der arbeitsrechtlichen Vorschriften wird von dem prominenten Rechtsvertreter der Freien Gewerkschaften, Hugo Heinemann, ausführlich gewürdigt. Dieser Beginn der Tarifvertragsgesetzgebung im Krieg und durch die militärbehördliche „Notgesetzgebung“ habe bewirkt, daß die Forderungen der Gewerkschaften in Zukunft nicht mehr als unerfüllbare Illusionen beiseite geschoben werden könnten.190 Er beschließt seine Betrachtung der „militärischen Sozialpolitik“ mit den Worten: „Unsere Aufgabe ist es, den ungeheuren Fortschritt zu verwerten, der darin liegt, daß die militärischen Behörden angeordnet haben, daß der Tarifvertrag ohne weiteres a l s No r m a n S te l l e des individuellen Arbeitsvertrages tritt. Zeigt sich jetzt, daß diese weitgehende soziale Maßnahme durchgeführt werden kann, ohne den Bestand der deutschen Industrie zu gefährden, dann ist der wesentlichste gegen die Unabdingbarkeit des Tarifvertrages vorgebrachte Einwand beseitigt.“191 Der Stellenwert tarifvertraglicher Regelungen für die Gewerkschaften wird darüber hinaus verständlich, wenn man berücksichtigt, 187 Vgl.: Militärische Unabdingbarkeit...a.a.O.(=Anm.184), Sp. 288. 188 Zit. nach: Heinemann, Hugo: Fortbildung des Tarifvertragsgedankens. In: Arbeiterrechts-Beilage des Correspondenzblatt Nr. 3 vom 11. März 1916, 25-26, hier: 25. 189 Die Allgemeingeltung des Sattlertarifs kraft heeresbehördlicher Verfügung. In: Soziale Praxis, 25(1915/16)24, Sp. 567. 190 Vgl.: Heinemann, Hugo: Fortbildung des Tarifvertragsgedankens...a.a.O.(=Anm.188), 25. 191 Derselbe, ebenda, 26.
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daß diese „...neuen Formen der Willenbeziehungen zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft...“192 eine Verwirklichung des gewerkschaftlichen Gedankens eines „Mitbestimmungsrechts“, einer „wirtschaftlichen Gleichberechtigung“, die ihr Ergänzungsstück nach dem Willen der Freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in der „politischen Gleichberechtigung“ finden soll, darstellen.193 Diese zentrale „Episode“ der „militärischen Sozialpolitik“, die eine erstmalige rechtliche Anerkennung der „tarifschaffenden“ Gewerkschaftsarbeit enthält, die den juristischen Boden sichern hilft und die große „Fehlstelle“ der Vorkriegssozialreform ausbessert, verweist auf eine Behörde des Militärstaats, die auch auf anderen militärisch-sozialpolitischen Gebieten im wahrsten Wortsinn bahnbrechend vorangeht, auf das Preußische Kriegsministerium. In diesem Ministerium ist es das im Januar 1915 eingerichtete Referat für Zurückstellung Wehrpflichtiger bei der Fabriken-Abteilung (B5), das, mit dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens seines Leiters Richard Sichler gekennzeichnet, unter der Bezeichnung B 5 (S) auf sozialpolitischem Gebiet von sich reden macht. Im April des Jahres 1915 wird das Referat gegen den Wunsch seines Leiters mit der Ein- und Ausfuhrsektion zusammengelegt und firmiert, nunmehr als „Abteilung für Zurückstellungswesen“, unter dem Kürzel A.Z.(S). Unter dieser Bezeichnung erlangt es in der Kriegswirtschaft bei den Gegnern und Freunden seiner Aktivitäten geradezu „schlagwortähnliche Bekanntschaft.“194 Diese Abteilung, der zentrale Bedeutung für die Entwicklung der Sozialpolitik des Heeres zukommt, unterhält, wesentlich über den dort beschäftigten Sozialreformer Joachim Tiburtius vermittelt, engste Beziehungen zur „Gesellschaft für Soziale Reform“.195 Dieser Zusammenhang wird schon bald von den Groß- und Schwerindustriellen kritisch vermerkt und führt zu fortdauernden Konflikten, zumal, wie Tiburtius rückblickend bemerkt, die Grundanschauungen der „Gesellschaft für Soziale Reform“ von ihm allen Maßnahmen sozialpolitischer Art zugrunde gelegt wurden.196 Die Grundaufgabe der A.Z.(S) ist die „wirtschaftliche Verwendung der Menschenkräfte für Heeresersatz und Kriegsbedarfsherstellung“,197 jene „Menschenökonomie im Kriege“, die schon bald vor dem Hintergrund großer Arbeitskräfteknappheit stattfinden muß. Bedingt durch die anlaufende Kriegskonjunktur, die ungeheure Mobilisierung, die großen „Material-“ und „Menschenschlachten“, bleibt seit Mai 1915 im Reichsdurchschnitt das Angebot von arbeitssuchenden Männern ständig hinter der Zahl der offenen Stellen zurück.198 Die damit verbundene „Problematik“ wird verschärft, als die Schlachten bei Verdun und an der Somme im Jahre 1916 deutlich die Begrenztheit des deutschen und verbündeten Militärpotentials erkennen lassen und eine militärische Niederlage in den Bereich des Denkbaren rückt. Für die Zivil- und Militärbehörden rückt damit ein „Knappheits-“ und „Optimierungsproblem“ in den Vordergrund. Das Kriegsministerium und dort besonders die A.Z.(S) bzw. ihr Vorläufer und andere Militärbehörden beteiligen sich an der „Lösung“ 192 So das Vorwort in: Sinzheimer, Hugo: Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht. Berlin 1916. 193 Vgl. etwa: Legien, Carl: Die Gewerkschaften. In: Thimme, Friedrich, Legien, Carl (Hg.): Die Arbeiterschaft...a.a.O.(=Anm.89), 90-97, insbes. 97. 194 Vgl. zur Behördengeschichte und zu den zahlreichen organisatorischen Unzulänglichkeiten: Sichler, Richard, Tiburtius, Joachim: Die Arbeiterfrage...a.a.O.(=Anm.78), 12 ff. 195 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 76. 196 Vgl. ebenda, 76. 197 Vgl: Sichler, Richard, Tiburtius, Joachim: Die Arbeiterfrage...a.a.O.(=Anm.78), 5. 198 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, R.(oswitha): Arbeitslosenfürsorge...a.a.O.(=Anm.108), 18.
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dieses Problems mit einer Fülle von Verfügungen. Die Verfügungen des Kriegsministeriums haben allerdings gegenüber der dezentralisierten Militäradministration empfehlenden Charakter.199 Vor diesem Hintergrund ist die Zeit, in der sich auch die Militärbehörden um die Bewältigung des Massenproblems der Arbeitslosigkeit bemühen,200 bald vorbei. Arbeitslose werden zu gesuchten Kräften, die auch ein besonderes „Verwertungsinteresse“ der Militärbehörden wachrufen. Sie werden einbezogen in ein umfassendes „menschenökonomisches Kalkül“, das seinem Wesen nach eine Kategorisierung der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung nach ihrem „militärischen Wert“ beinhaltet. Es soll verhindern, daß der Front über das notwendigste Maß hinaus Soldaten entzogen werden. Entlassungen oder Beurlaubungen vom Militär, Zurückstellungen von Facharbeitern für die Heeresindustrie sollen durch rationellen Arbeitskräfteeinsatz und durch den Einsatz militärisch wertlosen „Menschenmaterials“ minimiert werden. Tendenziell soll der Einsatz auch militärisch „verwertbarer“ Arbeitskräfte auf „wirklich“ unabkömmliche Kräfte in der Kriegswirtschaft beschränkt werden.201 Jeder „kriegsverwendungsfähige Mann“ müsse der Front zugeführt werden, fordert eine grundlegende Richtlinie der A.Z.(S) vom 1. März 1916202 und fährt fort: jeder „Kriegsverwendungsfähige“, „...der der Erfüllung seiner Waffenpflicht entzogen wird, bedeutet eine Schwächung des Heeres, bedeutet eine Verzögerung des Sieges.“203 Erst wenn alle Mittel zur Beschaffung „militärfreier Leute“ nicht zum Ziel geführt haben, erst dann, aber auch nur dann, könne die Reklamation Wehrpflichtiger in Betracht kommen, und zwar lediglich solcher Wehrpflichtiger, „...die nur garnisons- oder arbeitsverwendungsfähig sind.“204 Frauen, Jugendliche, als dienstuntauglich entlassene Kriegsbeschädigte, nicht mehr kriegsverwendungsfähige Kriegsbeschädigte bei der Truppe oder im Lazarett, Kriegsgefangene,205 internierte Ausländer, Arbeiter aus besetzten Landesteilen, solche aus verbündeten Staaten und dem neutralen Ausland werden anempfohlen. Von diesem Standpunkt und dieser Problemstellung aus haben sich nunmehr auch die Militärbehörden intensiv mit den Arbeitsnachweisen zu befassen und versuchen deren Arbeitsweise zu effektivieren,206 wobei A.Z.(S), getreu der sozialreformerischen Linie, bei den Zentralauskunftsstellen der Arbeitsnachweisverbände, zur Verarbeitung und Verwertung von Arbeitsmarktinformationen, paritätisch besetzte „Beiräte“ empfiehlt.207
199 Diese Verfügungen und Richtlinien finden sich sowohl in den Akten der Zentralbehörden als auch in den Wirtschaftsarchiven. Von mir werden Bestände des Westfälischen Wirtschaftsarchivs Dortmund (WWA Dortmund) herangezogen. 200 Vgl. z.B. das Verbot von verlängerten Arbeitszeiten oder gar Nachtschichten und die Verpflichtung zur Einstellung neuer Arbeitskräfte bei Heereslieferungen durch Verfügung des Kriegsministeriums vom 25. September 1914; BA Abt. Potsdam. 15.01/55 Reichsministerium des Innern, Nr. 1023, Bl. 2. 201 Vgl. etwa die zahlreichen Militärverfügungen im WWA Dortmund, K3 (Handelskammer zu Bielefeld), Nr. 382. 202 Vgl.: Erlaß Nr. 116/3. 16.A.Z.(S). WWA Dortmund, K1(Handelskammer Dortmund), Nr. 201, 32 ff. 203 Ebenda, 32. 204 Ebenda, 33. 205 Zur Regelung der Arbeit von Kriegsgefangenen finden sich Richtlinien des Kriegsministeriums im: BA Abt. Potsdam. 15.01/55 Reichsministerium des Innern, Nr. 1023, Bl. 255 ff. 206 Vgl. z.B.: Erlaß des Kriegsministeriums Nr. 99/10.16.A.Z.(S) vom 14.11.1916. BA Abt. Potsdam. 15.01/65 Reichsministerium des Innern, Nr. 1067, Bl. 174 ff; vgl. auch BA Abt. Potsdam. 15.01/64 Reichsministerium des Innern, Nr. 1066, Bl. 210 RS. Weitere Materialien auch im Aktenband 1065. 207 Vgl. den Erlaß Nr. 99/10.16.A.Z.(S) vom 14.11.1916...a.a.O.(=Anm.206), Bl. 175.
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Hinter den „Fassaden“ dieser Anordnungen tobt ein wahrer Kampf um Arbeitskräfte, der sich insbesondere zwischen den rasch expandierenden Betrieben der Rüstungsindustrie bemerkbar macht. Die andere Seite dieser rücksichtslosen Rekrutierung für die Front ist, nach dem Abklingen der Kriegseuphorie, das teilweise verzweifelte Bestreben von Arbeitern, Angestellten, Beamten aber auch Selbständigen und Freiberuflern, insbesondere in den nicht zentral kriegswichtigen Betrieben und Branchen, um Zurückstellung von der Front. Die Zurückstellung bedeutet ganz allgemein eine bessere Chance die Kriegszeit „leidlich“ zu durchleben, nicht als Kranker, Verstümmelter oder gar auf dem Schlachtfeld zu enden. Für die Selbständigen und Freiberufler, für den Mittelstand, geht es auch um die Aufrechterhaltung der Firma, des Geschäfts, der Kanzlei usw. Dies alles ist der Hintergrund für weitere sozialpolitische Maßnahmen der A.Z.(S), die sich besonders immer dann alarmiert fühlt, wenn beabsichtigte Maßnahmen der Militärs in der „Welt der Arbeit“ die „moralischen Ressourcen“ bei den eigentlichen Trägern der Produktion, den Arbeitern, zu zerstören drohen und damit geeignet sind, die Grundlagen des „modernen Krieges“ zu unterminieren. In einem Krieg, der schon bald vom Umfang der laufenden Produktion von Kriegsmaterial abhängig geworden ist, der im Grunde „ganze Volkswirtschaften“ gegeneinander aufbietet, spielt die vor allem auch von der Motivation der dort Beschäftigten abhängige ökonomische Effizienz eine ausschlaggebende Rolle. Im Zusammenhang mit der Ausdehnung und Sicherung der Leistungsfähigkeit der Tod und Verderben produzierenden Rüstungsindustrie geht das Referat für Zurückstellungen Wehrpflichtiger von dem Ideal der „freien Arbeit“ aus. Jede Kommandierung Wehrpflichtiger, jede Beschäftigung zurückgestellter bzw. von der Front reklamierter Arbeiter auf der Basis der Dienstpflicht und des Dienstsoldes, jeder Arbeitszwang für Zivilpersonen in privaten Betrieben wird abgelehnt. Das Referat B 5 (S) lehnt damit Bestrebungen ab, die sich in Kreisen der Schwerindustrie und auch bei industrienahen Militärs durchaus finden.208 Es sei dem Referat gelungen, seinen Standpunkt im Kriegsministerium durchzusetzen und dem stellvertretenden Kriegsminister, Franz Gustav von Wandel, den folgenden Gedankengang annehmbar zu machen: „Die Arbeiter erfüllen gegenwärtig ihre Kriegspflicht auch daheim in der Berufsarbeit mit grösster Bereitwilligkeit. Hierin werden sie durch ihre Gewerkschaften bestärkt und angetrieben. Ein militärischer oder gesetzlicher Zwang zur Arbeit würde auf diesen Willen und auf die Hilfsbereitschaft der Gewerkschaften lähmend und zerstörend wirken.“209 Im Unterschied zur „Landesverteidigung“, wo alle Glieder ohne persönliche Vorteile nur für das „gemeine Wohl“ arbeiteten, entstehe in der Wirtschaft ein „Kapitalzins“. In diesem Verhältnis, das von den Arbeitern als ein Kampfzustand angesehen werde, könne der eine Teil nicht durch behördliche Anordnung zur Hergabe seiner Leistung gezwungen werden, „...während der andere dafür von derselben Behörde höchste Be z ah lung erhält.“210 Das würde vom Volk als Parteinahme zu Gunsten der Unternehmer empfunden. Gewarnt durch den Mißerfolg der Einführung des Arbeitszwangs in bestimmten Fabriken Österreichs, ist damit eine möglicherweise in der damaligen Situation „folgenschwere“ Entwicklung verhindert worden. Nicht alle Militärbehörden folgen einer sozialpolitischen Herrschaftstrategie. Erhebliche Spannungen gehen von Maßnahmen aus, die auf drastische Weise die Arbeitskräfte208 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 77 f. 209 Sichler, Richard, Tiburtius, Joachim: Die Arbeiterfrage...a.a.O.(=Anm.78),13. 210 Dieselben, ebenda, 14.
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fluktuation beenden und damit den ungestörten Ablauf der Rüstungsproduktion und die Profitmacherei sicherstellen möchten. Die Drohung mit dem Schützengraben gegenüber Arbeitern, die die Kriegskonjunktur zur Erlangung besserer Arbeitsbedingungen und höherer Löhne nutzen möchten, ist sprichwörtlich geworden.211 Sie wird auch im Falle von Streik oder streikähnlichen Aktionen angewendet. Beispielhaft für eine gänzlich „unsozialpolitische“ Herangehensweise aus der Anfangsphase des Krieges ist die Anordnung des industrienahen kommandierenden Generals des VII. Armeekorps, Egon Freiherr von Gayl. Er weist, ohne jeden sozialpolitischen Hinweis, mit seinem Erlaß vom 15. Februar 1915 die Bezirkskommandos erneut lediglich an, „...die sofortige Einstellung jedes Arbeiters in die Truppe zu veranlassen, der bei einer für das Heer oder die Marine arbeitenden Fabrik, Zeche, Gewerkschaft usw. die Arbeit niederlegt oder seine Entlassung veranlaßt, um bei einer anderen Firma Arbeit zu nehmen.“212 Auch in Berlin führt der Kampf der Firmen um den Arbeiter, insbesondere um den qualifizierten Facharbeiter, zur Fluktuation und zu Lohnsteigerungen. Die daraus erwachsenden Störungen der Kriegsproduktion veranlassen die dortigen Industriellen, einen drastischen Eingriff der Militäradministration in den Arbeitsmarkt zu erwirken.213 Der Widerstand, den der entsprechende Erlaß und die Umsetzung der Maßnahme bei den Arbeitern und in der Arbeiterbewegung auslöst, führt auf Initiative des Berliner Großindustriellen Ernst von Borsig, der zuvor auf den völlig mißglückten Eingriff der Militärbehörde gedrängt hatte, zu einer „wegweisenden Lösung“ des Problems der Fluktuation der Arbeitskräfte in der Kriegsindustrie: Unter seiner führenden Mitwirkung und der vermittelnden Hilfestellung von Feldzeugmeisterei, Kriegsministerium und Reichsamt des Innern, kommt es zu einer auf den 19. Februar 1915 datierten Vereinbarung zwischen der Feldzeugmeisterei, dem „Verband Berliner Metallindustrieller“ und dem „Deutschen MetallarbeiterVerband“ über einen „Kriegsausschuß für die Metallbetriebe Groß-Berlins.“214 Diese Vereinbarung enthält eine erhebliche Einschränkung der Freizügigkeit. Bei der Lösung von Arbeitsverhältnissen in der Berliner Metallindustrie soll ein „Abkehrschein“ erteilt werden. Eine Einstellung bei anderen Betrieben soll nur noch auf der Grundlage eines solchen Scheins erfolgen können: „Beabsichtigt der Arbeiter, das Arbeitsverhältnis zu lösen, und ist der Arbeitgeber damit nicht einverstanden, so kann er die Ausstellung des Scheins verweigern.“215 Der Schlichtung aller daraus entstehenden „Streitigkeiten“, insbesondere um „Lohndifferenzen“, soll der Kriegsausschuß dienen, der aus je drei Arbeitgeber- und drei Arbeitnehmervertretern besteht, die von den Verbänden bestellt werden sollen. Die Feldzeugmeisterei soll den Verhandlungen als Beobachter beiwohnen.216 Dieser in vielen Details nicht festgelegte, unter Vorsitz des Arbeitgebervertreters tagende Kriegsausschuß, der gegebenenfalls selbst „Abkehrscheine“ ausstellen kann und von dessen Entscheidung die Lohnhöhe und die Bindung bzw. Nicht-Bindung an einen Arbeitsplatz abhängt, hat sich schon bald mit Tausenden von Einzel- und zahlreichen Gruppenbe-
211 Vgl. die Hinweise bei: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 81. 212 Vgl. den Erlaß Nr. 18213 vom 15. Februar 1915. WWA Dortmund, K3 (Handelskammer zu Bielefeld), Nr. 382, Bl. 5. 213 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 78. 214 Vgl.: Metallarbeiter-Zeitung Nr. 9 vom 27.2.1915; vgl. auch: Ein Kriegsausschuß für die Arbeiterfragen in der Groß-Berliner Metallindustrie. In: Soziale Praxis, 23(1914/15)22, Sp. 506 f. 215 Metallarbeiter-Zeitung...a.a.O.(=Anm.214). 216 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm. 173), 79.
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schwerden zu befassen217 und findet zur Lösung der anstehenden Interessendifferenzen nicht selten einen Kompromiß, der den Beschwerdeführer, bei teilweiser Berücksichtigung seiner Forderungen, an den Arbeitsplatz bindet.218 Rückblickend vermerkt der „Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller-Berlin“ eine „gute beruhigende“ und „stabilisierende Wirkung“ des Berliner Kriegsausschusses und behauptet sogar, „...dass bezeichnender Weise niemals eine Abstimmung vorgenommen zu werden brauchte, da immer eine Einigung zwischen den Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer herbeigeführt werden konnte...“219 Für die metallindustriellen Arbeitgeber in Berlin einzig erfolgversprechender Weg, gerät der Kriegsausschuß in den Augen der Gewerkschaften, der „Deutsche Metallarbeiter-Verband“ handelt beim Abschluß der Vereinbarung im Namen auch der anderen Gewerkschaftsrichtungen und sonstiger betroffener freier Gewerkschaftsverbände,220 wiederum zu einem Präzedenzfall für die Anerkennung und Parität verbürgende Gestaltung der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen in zukünftigen Friedenszeiten. Außerdem gelingt es so den Gewerkschaften, außer Kontrolle geratende Forderungen der Belegschaften umzubiegen, ein Punkt der damals von einiger Bedeutung ist.221 Überraschenderweise greift das Kriegsministerium dieses Modell der „Institutionalisierung des Klassenkonfliktes“ (Th. Geiger), das direkt „vor seiner Haustür“ praktiziert wird und so eminent sozialreformerischen Vorstellungen entspricht, zunächst nicht auf. Die sozialpolitischen Empfehlungen, die in den „Richtlinien für die Behandlung der Arbeiterfrage in den für Kriegsbedarf tätigen Gewerbezweigen“ von Juni 1915 enthalten sind,222 bewegen sich unter Verzicht auf jede „Institutionalisierung“ ganz auf der Linie von Verhaltensanweisungen zur „geschickten Arbeiterbetreuung“. Im Rahmen der Entfaltung und Differenzierung des „menschenökonomischen Instrumentariums“ werden, am Primat der Sicherung des störungsfreien Fortgangs der Kriegsindustrie orientierte, nicht weniger bemerkenswerte und gezielt auf die Psyche von Arbeitern und Arbeiterbewegung berechnete sozialpolitische „Fingerzeige“ gegeben. Die Heeresverwaltung müsse mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln darauf hinwirken, daß die Arbeitsbedingungen in den für Kriegsbedarf tätigen Betrieben den berechtigten Wünschen der Unternehmer und der Arbeiter gerecht würden.223 Wehrpflichtige Arbeiter, die für eine bestimmte Arbeitsstelle zurückgestellt seien, müßten, wenn ihr Austritt aus dem entsprechenden Betrieb gemeldet werde, wesentlich schneller als bisher eingezogen werden. Hierbei dürfe die Arbeiterschaft keinesfalls den Eindruck gewinnen, es handele sich um eine „Aufhebung der Freizügigkeit“. Es müsse daran festgehalten werden und gegebenenfalls sei das zum Ausdruck zu bringen, daß solche Maßnahmen in der Notwendigkeit jederzeitiger militärischer Kontrolle über alle zurückgestellten Militärpersonen begründet 217 Vgl. dazu: Müller, Dirk H.: Gewerkschaften, Arbeiterausschüsse und Arbeiterräte in der Berliner Kriegsindustrie 1914-1918. in: Mai, Gunther (Hg.): Arbeiterschaft...a.a.O.(=Anm.100), 155-178, hier: 166 ff. 218 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 79. 219 Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller - Berlin. Bemerkungen zu § 9,3 des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst. BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 2809, 60 ff., hier: 61, 75; zu ähnlich „positiven“ Einschätzungen kommt von Borsig, vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee... a.a.O.(=Anm.173), 79 f. 220 Vgl.: Müller, Dirk H.: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.217), 165. 221 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 79 f. 222 Von diesen Richtlinien existieren offensichtlich verschiedene Fassungen. Eine auf den 15.6.1915 datierte Fassung findet sich in: Militär und Innenpolitik...a.a.O.(=Anm.48), 461. Zugrundegelegt wird von mir die in den hier zitierten Passagen wortgleiche Fassung, die sich im WWA Dortmund, K1 (Handelskammer Dortmund), Nr. 201, 54 ff. befindet. 223 Vgl. ebenda, 55.
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seien. Aus diesem Grund müsse es grundsätzlich abgelehnt werden, „...auf Ersuchen einer Firma Leute, über die sie sich aus irgendeinem Anlaß beschweren zu müssen glaubt, von der Arbeitsstelle w eg einzuziehen.“ Der militärische Eingriff dürfe immer nur „...aus militärischen Gründen erfolgen, niemals aber als Disziplinarmaßregel im Interesse einer Firma Anwendung finden.“224 Um Streiks vorzubeugen, empfehle es sich nach mehrfachen Erfahrungen des Kriegsministeriums, Verhandlungen der Parteien anzuregen. Zu diesen sei ein Vertreter der Militärbehörde zu entsenden. Immer müßten Arbeiter und Unternehmer dabei den Eindruck haben, daß die Militärbehörde sich um ein objektives Urteil bemühe und beide Teile anhöre. Außer der Heranziehung von Arbeiterausschüssen wird in diesem Zusammenhang die Hinzuziehung von Gewerkschaftsvertretern empfohlen, falls die Arbeiter gewerkschaftlich organisiert seien: „Eine unter deren Mitwirkung getroffene Vereinbarung bindet dann nicht nur die Arbeiter des einzelnen Werkes, sondern als Bürgen für deren Vertragserfüllung auch den Verband, wenn auch nicht rechtlich ... so doch moralisch in meist ausreichender Stärke. Damit wird den Arbeitern der beteiligten Firma die Aussicht genommen, im Falle eines Bruches der getroffenen Abmachung von ihrem Verbande Streikunterstützungen zu erhalten, und so Gewähr für einen dauerhaften Ruhestand und ungestörten Fortgang der Arbeit geschaffen.“225 Die Tatsache, daß das Preußische Kriegsministerium sich zunächst nicht entschließen kann, das „Erfolgsmodell“ des Berliner Kriegsausschusses ausdrücklich zur Verallgemeinerung zu empfehlen, ergibt sich aus internen Auseinandersetzungen, die in Regierungs- und Militärbehörden und in der Unternehmerschaft über derartige Formen der Konfliktschlichtung geführt werden.226 Selbst die erwähnten viel weniger weitgehenden Richtlinien des Ministeriums zur Behandlung der Arbeiterfrage sind geeignet, abwehrenden Protest und Ärger bei den Industriellen auszulösen. Vorstöße, das Kriegsministerium von seiner politischen Linie abzubringen und den direkt verfügten Arbeitszwang als Instrument in der Kriegswirtschaft einzusetzen, werden jedoch vom stellvertretenden preußischen Kriegsminister, Franz Gustav von Wandel, mit Schreiben vom 31. Juli 1915 schlechthin als Mittel zur Desmotivation der Arbeiter, zur Beeinträchtigung der Arbeitsqualität und -quantität, als Weg zu Streiks, Sabotage und Kooperationsverweigerung der Gewerkschaften abgelehnt. Auch das Reichsamt des Innern sträubt sich nunmehr gegen eine solche Politik, die die sozialen Spannungen vermutlich erheblich verschärft hätte.227 Erst nachdem sich die politischen Fronten endgültig geklärt haben, verstärkt sich, durchaus im Sinn einer Intervention des Metallarbeiterverbandes, der Druck der militärischen Stellen, Kriegsausschüsse oder weniger aufwendige Schiedsstellen im ganzen Reich zu gründen. Seit dem 10. Februar 1916 existieren sogar Leitlinien des Kriegsministeriums, die Errichtung von Kriegsausschüssen betreffend.228 Diese betonen in extremer Weise die Bedeutung der Gewerkschaften. Den sich nicht immer erfolglos wehrenden Industriellen insbesondere der Eisen- und Stahlbranche drängt sich der Eindruck auf, einem Komplott der Gewerkschaftsführer und Sozialreformer ausgesetzt zu sein. Es keimt die Angst, trotz entsprechender zeitlicher 224 Ebenda, 55. 225 Ebenda, 55. Vgl. in diesem Zusammenhang die auf den 28.7.1916 datierten Leitsätze des Kriegsministerium zur Bekämpfung von Streiks in der Rüstungsindustrie, auszugsweise wiedergegeben bei: Blanke, Thomas u.a. (Hg.): Kollektives Arbeitsrecht. Quellentexte zur Geschichte des Arbeitsrechts in Deutschland. Band I 1840 1932. Reinbek bei Hamburg 1975, 159 f. 226 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 82 f. 227 Vgl. ebenda, 84 f; das Schreiben findet sich in: Wrisberg, Ernst von: Heer... a.a.O.(=Anm.177), 229 ff. 228 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 87.
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Beschränkungen dieser die Unternehmermacht berührenden Maßnahmen, könnte es sich - wie die Gewerkschaftsführer hoffen - um Präjudizien für die sozialpolitische Entwicklung in der Nachkriegszeit handeln.229 Genau in diesem Punkt, in der wegweisenden „Erschütterung“ des ausgeprägten „Herrim-Hause-Standpunkts“ unterscheiden sich diese sozialpolitischen Eingriffe des Kriegsministeriums von jenen anderen sozialpolitischen Maßnahmen im Kriege, auf die im folgenden hingewiesen werden soll.230 Von Interesse sind zunächst einmal die Maßnahmen, die auf dem Gebiet der Sozialversicherung vorgenommen werden. Das Recht der Arbeiter- und Angestelltenversicherung war auf „...der Voraussetzung friedlicher Zustände aufgebaut und ließ von vornherein die Möglichkeit einer Änderung dieses Zustandes unberücksichtigt.“231 Umso dringlicher erweisen sich aus der Sicht der Akteure des politisch-administrativen Systems nun zweckentsprechende „Anpassungsregelungen“. Diese Regelungen sind schon in den „Kriegsgesetzen“ zu finden, die am 4. August 1914 einstimmig verabschiedet wurden. Sie ergehen darüber hinaus als Bundesratsverordnungen auf der Grundlage des „Ermächtigungsgesetzes“, das bekanntlich ebenfalls auf den 4. August datiert ist. Das „Gesetz, betreffend Erhaltung von Anwartschaften aus der Krankenversicherung“ vom 4. August 1914232 paßt die Krankenversicherung von Reichsangehörigen an kriegsbedingte Auslandsaufenthalte zur Ableistung von Kriegs-, Sanitäts- oder ähnlichen Diensten an. Es enthält neue Wartezeitregelungen und verbessert die Möglichkeiten zum Wiedereintritt in die Krankenversicherung für Personen, die militärische Dienste geleistet haben. Eine Verordnung vom 14. Dezember 1916 unterstellt, da der Geltungsbereich der deutschen Sozialversicherung an den Grenzen des Reiches seine Schranke findet, Deutsche, wie auch Angehörige verbündeter und neutraler Staaten, der reichsgesetzlichen Krankenversicherung, „...wenn sie im besetzten Ausland von deutschen Unternehmern für Zwecke des deutschen Heeres oder der Marine beschäftigt wurden.“233 Das ebenfalls auf den 4. August 1914 datierende „Gesetz, betreffend Sicherung der Leistungsfähigkeit der Krankenkassen“234 soll „für die Dauer des gegenwärtigen Krieges“ durch Eingriffe in die Finanzwirtschaft und das Leistungsspektrum dem Ziel dienen, eine Funktionsstörung oder gar einen Zusammenbruch der Krankenkassen zu vermeiden. Die Tatsache, daß bereits im Ersten Weltkrieg in bedeutendem Umfang „fremde“ Arbeitskräfte in die Kriegswirtschaft einbezogen werden, spiegelt sich in der „Bekanntmachung, betreffend Krankenversicherung von Ausländern während des Krieges“ vom 2. November 1916.235 Diese Bundesratsverordnung bezieht „diejenigen seit Beginn des gegenwärtigen Krieges in Deutschland befindlichen Angehörigen feindlicher Staaten, welche als solche durch Anordnung deutscher Behörden in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt und deshalb als unfreie Personen nicht nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung über die Krankenversicherung versicherungspflichtig oder versicherungsberechtigt 229 Vgl.: Reidegeld, Eckart: Krieg...a.a.O.(=Anm.12), 485. 230 Einen knappen Überblick bietet: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm.5), 34 ff.; über die Maßnahmen für Kriegsopfer informiert: Schweyer, Franz: Die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen. In: Handbuch der Politik. Vierter Band. Dritte Auflage. Berlin und Leipzig 1921, 18-23.; Zur Kriegsopferfrage besteht eine reichhaltige Aktenüberlieferung in den Beständen des BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium. 231 Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939. Stuttgart 1957, 140. 232 Vgl.: RGBl. 1914, 334. 233 Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 231), 141; zur Verordnung vgl.: RGBl. 1916, 1383. 234 Vgl.: RGBl. 1914, 337. 235 Vgl.: RGBl. 1916, 1247.
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sind...“ in die Krankenversicherung ein. Durch eine „Bekanntmachung über Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung von Angehörigen feindlicher Staaten“ vom 25. Januar 1917236 wird diese Regelung erweitert. Sie bezieht diejenigen Angehörigen feindlicher Staaten, welche, ohne Kriegsgefangene zu sein, auf Grund von Maßnahmen der deutschen Heeresverwaltung zum „...Zwecke ihrer Beschäftigung nach Deutschland gekommen oder überführt worden sind...“ und die wegen ihres „Zwangsarbeitsverhältnisses“ nicht der RVO unterliegen in die Kranken- und Unfallversicherung ein und „befreit“ sie von der Versicherungspflicht in der Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung. Die Bekanntmachung trifft darüber hinaus Bestimmungen zugunsten der Kranken- und Krankenhauspflege der Heeresverwaltung. Ergänzende Vorschriften zur vorteilhaften Anrechnung von Militärdienstzeiten und zur Erhaltung von Anwartschaften betreffen die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung237 und die Angestelltenversicherung.238 Die „chaotischen“ und „Auslandsaufenthalte“ bedingenden Kriegsverhältnisse werden auch durch eine angemessene Verschiebung von Terminen berücksichtigt. Während einerseits die „...Auswirkungen des Krieges auf die Gesundheit der Bevölkerung ... die Renten für die Invaliden und Hinterbliebenen stark in die Höhe“ treiben,239 beinhaltet das „Gesetz, betreffend Renten in der Invalidenversicherung“ vom 12. Juni 1916240 die Erfüllung einer alten sozialpolitischen Forderung in einer Formulierung, die noch einmal an die alte „Version“ erinnert, nach der das IVG vor allem eine Invaliditätsversicherung sein sollte: „Altersrente erhält der Versicherte vom vollendeten fünfundsechzigsten Lebensjahr an, auch wenn er noch nicht invalide ist.“ Durch dieses Gesetz wird auch die Verpflichtung nach Artikel 84 des „Einführungsgesetzes zur Reichsversicherungsordnung“ erfüllt, der bekanntlich die Verpflichtung zu einer Überprüfung der Altersgrenze beinhaltete. Eine Art demonstrativen „Entgegenkommens“ gegenüber den Wünschen bestimmter Arbeiter- und Arbeiterinnenkreise beinhaltet eine „allerhöchste Verordnung“ vom 3. Oktober 1917.241 Durch diese Maßnahme soll die Transparenz der Löhnung erhöht und der Lohnschutz verbessert werden. Dem Lohnschutz dienen auch Verordnungen, die die Lohnpfändung umgestalten.242 Ein besonderes Augenmerk widmet der Verordnungs- bzw. Gesetzgeber der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Leistungsträger und ihrer Organe. Bereits durch das „Gesetz, 236 Vgl.: RGBl 1917, 79; vgl. auch die „Bekanntmachung über Unfallversicherung von Angehörigen feindlicher Staaten“ vom 30. März 1917 (RGBl. 1917, 301); für deutsche Kriegsgefangene in „feindlicher Kriegsgefangenschaft“ wird mit dem „Gesetz über Fürsorge für Kriegsgefangene“ vom 15. August 1917 (RGBl. 1917, 725) eine auf die Zeit nach der Gefangenschaft bezogene sozialpolitische Regelung getroffen. Dieses Gesetz befaßt sich auch mit der Fürsorge für „feindliche Militärpersonen“ in deutscher Kriegsgefangenschaft. 237 Vgl. die „Bekanntmachung über die Anrechnung von Militärdienstzeiten und die Erhaltung von Anwartschaften in der Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung“ vom 23. Dezember 1915 (RGBl. 1915, 845); vgl. auch die „Bekanntmachung über die Anrechnung militärischer Dienstleistungen in der Arbeiterversicherung“ vom 26. November 1914 (RGBl. 1914, 485). 238 Vgl. die „Bekanntmachung, betreffend die Angestelltenversicherung während des Krieges“ vom 26. August 1915 (RGBl. 1915, 531); vgl. auch die den Kreis der Begünstigten erweiternde, gleichnamige Bekanntmachung vom 2. August 1917 (RGBl. 1917, 680). Schließlich gelten auch die in österreichisch-ungarischen Diensten zurückgelegten Dienstzeiten als anrechnungsfähig; vgl. die Bekanntmachung vom 18. März 1915 (RGBl. 1915, 181). 239 Neuloh, Otto: Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 231), 142. 240 Vgl.: RGBl. 1916, 525. 241 Vgl. die „Allerhöchste Verordnung über die Inkraftsetzung der §§ 3,4 des Hausarbeitsgesetzes vom 20. Dezember 1911 (Reichs-Gesetzbl. S. 976)“ vom 3. Oktober 1917 (RGBl. 1917, 893). 242 Vgl.: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 1. München, Wien 1993, 166.
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betreffend die Wahlen nach der Reichsversicherungsordnung“ vom 4. August 1914243 wird der Bundesrat ermächtigt, die Amtsdauer der Vertreter der Unternehmer und der Versicherten bzw. der „nichtständigen Mitglieder“ bei Versicherungsbehörden und Versicherungsträgern über den 31. Dezember 1914 hinaus bis spätestens zum 31. Dezember 1915 zu verlängern. Durch Bundesratsverordnung vom 17. September 1914244 erfolgt eine solche Verlängerung der Amtsdauer auch für Beisitzer der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte. Die Tatsache, daß dann bald erneut verschoben werden muß und schließlich für die Wahlen nach der RVO die Regelung gefunden wird, das Ende der Amtsdauer auf den Schluß des Kalenderjahres festzusetzen, „...das dem Jahre folgt, in welchem der Krieg beendet ist,“245 mag darauf hindeuten, daß auch die damaligen „Experten des Sozialstaats“, ebenso wie die „Reichsleitung“, irrtümlich von einer nur kurzen Kriegsdauer ausgegangen sind. Im letzten Kriegsjahr reagiert der Bundesrat auch auf dem Gebiet der Arbeiter- und Angestelltenversicherung auf die vom Krieg und seiner Finanzierung ausgehenden „Teuerung“. Obwohl diese „Teuerung“ viele Parameter der Sozialversicherung betrifft und diese unzweckmäßig werden läßt, geschieht dies zunächst nur durch Zulagen zu den Geldleistungen und es geschieht erstaunlich spät und in ungenügendem Umfang. Durch eine Verordnung vom 3. Januar 1918246 werden Zulagen an Empfänger einer Invaliden-, Witwen- oder Witwerrente aus der Invalidenversicherung gezahlt. Sie betragen monatlich acht Mark für die Empfänger einer Invalidenrente und vier Mark für die Empfänger einer Witwen- oder Witwerrente. Mit einer Verordnung vom 17. Januar 1918247 werden auch zu den Verletztenrenten der Unfallversicherung Zulagen gewährt. Dieses geschieht schließlich auch auf dem Gebiet der Verletztenrenten aus der Unfallfürsorge für Gefangene.248 Auf die Tatsache, daß steigende Nominallöhne ein Ausscheiden aus der Versicherungspflicht beinhalten, reagiert auf dem Gebiet der Angestelltenversicherung eine Bundesratsverordnung vom 28. August 1918.249 Weitere Anpassungen der Sozialversicherung an den Krieg beinhalten Vorschriften vom 28. März 1918 über die Anrechnung militärischer Dienstzeiten und Dienstleistungen in der Arbeiterversicherung. Die im Dienste verbündeter oder befreundeter Mächte zurückgelegten Militärdienstzeiten werden in der Invalidenversicherung „aufgewertet“. Sie werden nunmehr so vorteilhaft bewertet, wie die in österreichisch-ungarischen Diensten zurückgelegten Militärdienstzeiten.250 Fristen der Angestelltenversicherung werden durch eine weitere Verordnung vom 28. März 1918 bis auf die Zeit weit nach dem Kriegsende verlängert.251 Angesichts der „Imperative“ des „modernen“ industriellen Massenkrieges und angesichts der Tatsache, daß bereits mit einem Gesetz vom 4. August 1914 praktisch der gesamte Arbeiter- bzw. Arbeitsschutz zur Disposition gestellt wurde, mag es verwundern, daß es 243 Vgl.: RGBl. 1914, 348. 244 Vgl. die „Bekanntmachung über die Wahlen nach dem Gewerbegerichtsgesetz und nach dem Gesetz, betreffend Kaufmanngerichte“ vom 17. September 1914 (RGBl. 1914, 409) 245 Für die Wahlen nach der RVO vgl. die Bekanntmachung vom 11. Januar 1917 (RGBl. 1917, 39). 246 Vgl.: RGBl. 1918, 7. 247 Vgl. die „Bekanntmachung über die Gewährung von Zulagen zu Verletztenrenten aus der Unfallversicherung“ vom 17. Januar 1918 (RGBl. 1918, 31). 248 Vgl. die „Bekanntmachung über die Gewährung von Zulagen zu Verletztenrenten aus der Unfallfürsorge für Gefangene“ vom 3. Oktober 1918 (RGBl. 1918, 1227). 249 Vgl.: RGBl. 1918, 1085. 250 Vgl. die „Bekanntmachung über Erhaltung von Anwartschaften und Antragsrechten in der Invalidenversicherung“ vom 28. März 1918 (RGBl. 1918, 165). 251 Vgl.: RGBl. 1918, 167.
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überhaupt staatliche Maßnahmen gibt, die als „Innovationen“ auf dem Gebiet des staatlichen Arbeiterschutzes interpretiert werden können. Dazu gehört das „Nachtbackverbot“ vom 5. Januar 1915.252 Dieses Verbot versteckt sich in der „Bekanntmachung über die Bereitung von Backware“ und diese Bekanntmachung beinhaltet im wesentlichen detaillierte Vorschriften zur Bezeichnung und zur Zubereitung von Brot und Kuchen und verweist auf Maßnahmen zur Mehlrationierung. Weist schon dieses und weisen zahlreiche sozialversicherungsrechtliche Vorschriften immer auch auf Probleme und Zerrüttungsphänomene in der Kriegsgesellschaft hin, so gilt dies auch für das „Nachtbackverbot.“ Es geht im wesentlichen um die Regulierung der „Ernährungswirtschaft“ im Kriege durch die „Streckung“ der vorhandenen Vorräte unter anderem auch durch eine Einschränkung der Arbeitszeit. Dasselbe Ziel verfolgt die „Bekanntmachung, betreffend die Einschränkung der Arbeitszeit in Spinnereien, Webereien und Wirkereien“ vom 12. August 1915.253 Der Einschränkung des Materialverbrauchs soll auch die „Bekanntmachung über das Verbot des Anstreichens mit Farben aus Bleiweiß und Leinöl“ vom 14. Oktober 1915 dienen.254 Die „Bekanntmachung, betreffend die Ersparnis von Brennstoffen und Beleuchtungsmitteln“ vom 11. Dezember 1916255 enthält den „Siebenuhr-Ladenschluß“ und verfügt daneben eine Fülle weiterer Beleuchtungs- und Betriebseinschränkungen. Sie trägt ihren Hauptzweck sozusagen „auf der Stirn.“ In der einen oder anderen Weise verweisen schon diese Vorschriften ebenso wie ähnlich gelagerte „Interventionen“ auf „Störungen“ in einer bürgerlichen Gesellschaft unter der Wirkung des „modernen“ Krieges. Die damit angesprochenen „Zerrüttungserscheinungen“ spiegeln sich auch in den nie „ausreichenden“ Bemühungen um eine angemessene Kriegswohlfahrtspflege im Sinne einer Verbesserung der Fürsorge für die Familien der Kriegsteilnehmer, für die Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen. In diesen Zusammenhang gehören auch die Aktivitäten und Bestimmungen, die den Wucher und die Vorenthaltung von Waren verhindern sollen. Unter der katastrophalen Wirkung des zunehmend nach innen zerstörerisch wirkenden Krieges haben diese Maßnahmen ihr Ziel nicht erreichen und wenig zur Festigung des Herrschaftsgefüges beitragen können.
6.4 Die sozialpolitische Bedeutung des Hilfsdienstgesetzes Nach den Materialschlachten des Jahres 1916 wird am 29. August die 3. Oberste Heeresleitung (OHL) unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff eingesetzt. Diese OHL zieht aus der sich gerade jetzt mit aller Macht aufdrängenden Beobachtung, daß die „wirtschaftliche Leistung“ den Kriegsausgang bestimmen wird, daß vor allem von der Ökonomie her das Maß der Kraft bestimmt wird, das die Heere zu entwickeln vermögen, daß ein „Munitionsaufwand ohne gleichen“, hergestellt in den Werkstätten nicht nur der direkten Kriegsgegner, sondern „der ganzen Welt“ die Kämpfer an der Somme überschüttet habe,256 den Schluß, daß eine neue
252 Vgl.: RGBl. 1915, 8. 253 Vgl.: RGBl. 1915, 495; diese Verordnung verlangt eine Beschäftigung an höchstens fünf Tagen in der Woche und sie begrenzt die Arbeitszeit auf höchstens zehn Stunden ausschließlich der Pausen. 254 Vgl.: RGBl. 1915, 671. 255 Vgl.: RGBl. 1916, 1355; vgl. ergänzend eine Verordnung vom 26. April 1917 (RGBl. 1917, 379). 256 So einige Sprachbilder aus der damaligen Zeit; vgl. etwa den Vortrag Stresemanns auf der Mitgliederversammlung des Verbandes Sächsischer Industrieller, wiedergegeben in: Sächsische Industrie, 13(1916)3/4, 17-23,
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Phase der Organisation der (Kriegs)Wirtschaft einzuleiten sei. Im Rahmen des in enger Kooperation mit der Industrie entwickelten „Hindenburg-Programms“ wird eine Erhöhung der Waffen- und Munitionsproduktion um das Zwei- bis Dreifache gefordert.257 Dieses Programm, das den Sieg „erzwingen“ soll, rückt nunmehr zwangsläufig Fragen der „Menschenökonomie“, der Nutzbarmachung „jeden Kopfes“ und „jeder Hand“ mit neuer Dringlichkeit in den Vordergrund. Nach intensiven Auseinandersetzungen um die erneut aufgeworfene Frage der Anwendung eines reinen, eines drastischen zivilen oder militärischen Zwangs über die Arbeitskräfte, Gedanken, die zunächst von der OHL und fortdauernd von Kreisen der Schwerindustrie vertreten werden,258 setzt sich bald wieder eine sozialpolitische Sichtweise der „Menschenökonomie“ durch. Getragen wird diese Auffassung vom Reichskanzler, vom Leiter des im Zusammenhang mit dem „Hindenburg-Programm“ gegründeten Kriegsamts,259 Generalleutnant Wilhelm Groener, und vom Preußischen Kriegsministerium. Dabei geht der bei der Arbeiterbewegung bald in hohem Ansehen stehende Groener besonders weit. Er ordnet alle Bedenken dem Ziel unter, die Arbeitnehmerorganisationen regelrecht in den „Dienst des Staates“ zu stellen, um dadurch auf die Führung der Arbeiterschaft dauernd bestimmenden Einfluß zu erhalten. Groener geht sogar schon von der Perspektive einer möglichen „revolutionären Entwicklung“ aus, eine Entwicklung, die die Stärkung des Einflusses der Gewerkschaften auf die Massen durch die Erfüllung sozialpolitischer Forderungen verlange.260 Eine absehbar „extrem“ sozialpolitische Richtung erhält die „Sache“, die stark von „menschenökonomischen“ und kriegswirtschaftlichen Maßnahmen Englands beeinflußt wird (Munitions of War Act 1915, Errichtung eines Ministry of Munitions), als die OHL offenbar in Fehleinschätzung der politischen Situation in der Heimat verlangt, ein Hilfsdienstgesetz über den Reichstag zu verabschieden, um einen propagandistischen Effekt, insbesondere mit Blick auf das damals diskutierte, von den „Eliten“ innen- und außenpolitisch für völlig verfehlt gehaltene „Friedensangebot“ der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 zu erzielen.261 Die verschiedenen Gewerkschaftsrichtungen und die wichtigsten Angestelltenorganisationen verständigen sich vor dem Hintergrund dieser äußerst „günstigen“ Situation auf einen Katalog von „Garantien“ gegen „Auswüchse und Mißbrauch“ bei einer Beschränkung der Arbeitsmarktfreiheit, die in einen inzwischen vorliegenden, lediglich vier Paragraphen umfassenden Entwurf eines Gesetzes, betreffend den vaterländischen Hilfsdienst einzuarbeiten seien.262 Sie benutzen mithin, nicht zufällig, sondern gezielt und im bewußten Gegensatz zum Geschehen um den 4. August 1914, ein existenzielles „Problem“ des Kriegsstaates als „Schwimmer“, um an diesem eine ganze Reihe sozialer und auch politischer Forderungen „aufzuhängen“ und sie auf diese Weise „durchzubringen“. Zwar gehen die Forderungen der Gewerkschaften nicht so weit, bzw. in die Richtung, wie jene der inzwischen konstituierten oppositionellen „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ (SAG): Diese möchte u.a. den „8-Stunden-Tag“, das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit, die Aufhebung der kriegsbehier: 18; vgl. auch: Das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst. In: Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, 16(1916)26, 209-210. 257 Vgl. detailliert dazu: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 134 ff. 258 Vgl. denselben, ebenda, 148 ff. 259 Vgl. zu diesem Amt denselben, ebenda, 164 ff. 260 Vgl.: Mai, Gunther: Das Ende des Kaiserreichs. Politik und Kriegführung im Ersten Weltkrieg. München 1987, 99. 261 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 171 262 Dieser Entwurf einschließlich der Begründungen und Richtlinien findet sich in: Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session. Band 320. Anlagen, Nr. 509.
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dingten Arbeiterschutzverschlechterungen, das Ende aller Diskriminierungen aus religiösen, politischen und gewerkschaftlichen Gründen, sowie die „Verstaatlichung“ bestimmter industrieller und landwirtschaftlicher Betriebe durchsetzen.263 Dennoch zählt das am 2. Dezember 1916 bei zahlreicher Abwesenheit von Abgeordneten mit 235 gegen 19 Stimmen (der SAG) bei acht Enthaltungen vom Reichstag angenommene „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ (HDG)264 zu einem der bemerkenswertesten Dokumente der deutschen Rechtsgeschichte. Die Verhandlungen zu diesem Gesetz stellen das einzige Beispiel dafür dar, „...daß die organisierte Arbeiterbewegung für eine wesentliche Kriegsmaßnahme ihre Zustimmung von weitreichenden (sozial)politischen Gegenleistungen und rechtlichen Garantien abhängig machte, unnachgiebig auf diesen beharrte und schließlich erfolgreich und fast vollständig durchsetzen konnte.“265 So ist durchaus „zutreffend“, was der Stellvertreter des Reichskanzlers, Karl Helfferich, in der Sitzung des preußischen Staatsministeriums über das Ergebnis der zweiten Lesung des HDG seinen Zuhörern auseinandersetzt. Vor dem Hintergrund eines inzwischen völlig überarbeiteten Entwurfs, der allseits in diesem Gremium auf Ablehnung stößt, führt er aus, „man könne fast sagen, die Sozialdemokraten, Polen, Elsässer und Arbeitersekretäre hätten das Gesetz gemacht.“266 Das in konflikthaften Reichstagsverhandlungen zustandegekommene und auch in der reformistischen Arbeiterbewegung nicht unumstrittene HDG, eines der, wegen des Drucks der OHL, am raschesten entstandenen und durchgeführten Gesetze der Rechtsgeschichte, ruft eine erneute, nunmehr besonders ungestüme Auflehnung vor allem groß- und schwerindustrieller Kreise gegen die Kriegssozialpolitik hervor, denn erstmals macht ein Reichsgesetz dezidiert vor dem „Betriebsfeudalismus“ und der „betriebsherrlichen Eigenmächtigkeit“ keinen Halt mehr. Die vordergründige und mühsam erreichte Einigkeit der im Reichstag anwesenden Parteienvertreter von der Sozialdemokratie über das Zentrum und die Fortschrittliche Volkspartei bis hin zum linken Flügel der Nationalliberalen und sogar bis zur Deutschen Fraktion, die außergewöhnliche und nur aus der historischen Situation erklärliche Zustimmung des Bundesrates, demonstrative positive Entschließungen und loyalitätsbekundende Telegramme an Kaiser und sonstige Herrscherhäuser auch von Industriellenvereinigungen sind nicht „echt“, sie sollen anläßlich der Verabschiedung des HDG Einigkeit und Geschlossenheit der Nation gegenüber dem feindlichen Ausland demonstrieren. Das HDG ist das Gesetz der Kriegszeit, das neben offenen Gegnern eine besonders große Anzahl „falscher Freunde“ hat. Tatsächlich bejaht wird es in unterschiedlichem Ausmaß von der Mehrheit der traditionell sozialreformerischen Bewegung. Aus dem Kreis der kriegstragenden Arbeiterbewegung lassen sich sogar euphorische Stimmen vernehmen.267 Die bürgerliche Kölner Zeitung hingegen bezeichnet es abfällig, aber nicht ganz unzutreffend, als „sozialpolitisches Versuchskarnickel“ für alle im Frieden stecken gebliebenen sozialpolitische „Experimente“.268 Schwerindustrielle Stellungnahmen apostrophieren das HDG als „Gewerkschafts-Hilfsgesetz“, als „Schutzgesetz für die Arbeiterschaft“ und „sozialpolitisches Ausnahmegesetz ... gegen die
263 Vgl. das Aktenstück Nr. 534, ebenda. 264 Vgl.: RGBl. 1916, 1333. 265 Mai, Gunther: Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung in Württemberg 1914 - 1918. Stuttgart 1983, 199. 266 Vgl. das Dok. 203 in: Militär und Innenpolitik...a.a.O.(=Anm.48), 527. 267 Vgl. dazu die Ausführungen bei: Mai, Gunther: Kriegswirtschaft...a.a.O.(=Anm.265), 197 ff. 268 Wiedergegeben nach W.Z. (i.e. Waldemar Zimmermann): Kriegsarbeitspflicht-Kriegsarbeitsrecht. In: Soziale Praxis, 26(1916)10, Sp. 189-194, hier: Sp. 193
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Unternehmer.“269 Von der oppositionellen Arbeiterbewegung hingegen wird das HDG als „Arbeiterzwangsgesetz“ abgelehnt. Es wird vor Illusionen über Unternehmertum und Staat gewarnt. Das Prinzip des Klassenkampfes müsse weiter vertreten werden. Das verabschiedete Gesetz entspricht auch nicht den Vorstellungen der OHL.270 Das HDG verpflichtet alle männlichen Deutschen vom vollendeten siebzehnten bis zum vollendeten sechzigsten Lebensjahr, die nicht zum Militär einberufen sind, zum vaterländischen Hilfsdienst während des Krieges. Als im Hilfsdienst tätig gelten alle männlichen Deutschen, die bei „Hilfsdienstbetrieben“ beschäftigt sind. Das sind Behörden, behördliche Einrichtungen, Betriebe, sonstige Organisationen und Berufe, die für Zwecke der Kriegführung und Volksversorgung von mittelbarer oder unmittelbarer Bedeutung sind. Eine Stelle bei einem „Hilfsdienstbetrieb“ darf unter normalen Bedingungen nicht verlassen werden und der Hilfsdienstleistende darf aus der Stelle nicht herausgezogen werden, es sei denn, daß die Zahl der dort beschäftigten Personen „das Bedürfnis übersteigt.“ In einem solchen Fall können überschüssige Kräfte herausgezogen und einer anderen Hilfsdiensttätigkeit zugewiesen werden.271 Von der Regierung wird auf Verlangen der entsprechenden Organisationen anerkannt, daß auch die Gewerkschaften und Angestelltenorganisationen zur Aufrechterhaltung der Kriegswirtschaft notwendig sind: „Es ist also nicht zu befürchten, daß den Gewerkschaften die zur Aufrechterhaltung der Organisationen erforderlichen Kräfte entzogen werden.“272 Die Gewerkschaften gelten nach herrschender Auffassung gemäß § 2 des HDG als „sonstige Berufe oder Betriebe, die für Zwecke der Kriegführung oder der Volksversorgung unmittelbar oder mittelbar Bedeutung haben.“273 Die nicht in einem „Hilfsdienstbetrieb“ beschäftigten oder überhaupt nicht arbeitenden männlichen Deutschen können gemäß § 7 des HDG jederzeit zum vaterländischen Hilfsdienst herangezogen werden. Das Gesetz schreibt vor, zunächst eine Aufforderung zur freiwilligen Meldung zu erlassen. Erst subsidiär soll, unter möglichster Berücksichtigung sozialer Kriterien, Zwang ausgeübt werden. Diesem Zwang verleihen gegebenenfalls erhebliche Strafen Nachdruck, Sanktionen, die sich auch gegen andere „Vergehen“ gegen die Vorschriften des HDG richten, z.B. gegen das „unbefugte“ Verlassen des Hilfsdienstes oder die „verbotswidrige“ Beschäftigung von Hilfsdienstpflichtigen. Hieran wird schon deutlich, daß die Qualifizierung als „kriegswichtig“ oder nicht, durchaus zu einer Frage des Fortbestandes der entsprechenden Organisationen bzw. Betriebe, Behörden usw. werden kann. Das Besondere am HDG ist nun, daß die zahlreichen Entscheidungen und Eingriffe in die Gesellschaft, die weit über den Bereich dessen hinausgehen, was bislang als legitim angesehen wurde, von Ausschüssen getroffen oder veranlaßt werden. Diese stellen die eigentlichen Organe der „Menschenökonomie“ im Ersten Weltkrieg dar. Diese besondere Form, die im Gegensatz zur hierarchisch-bürokratischen Grundstruktur der „Menschenökonomie“ im „Dritten Reich“ steht, ist notwendige Konsequenz der sozialpolitischen Absicht, Arbeit und Kapital am Vollzug des HDG zu beteiligen und dem Mitbestimmungs- und Anerkennungsstreben der Gewerkschaften aus herrschaftsstrategischen Erwägungen heraus entgegenzukommen.
269 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 301. 270 Vgl.: Militär und Innenpolitik...a.a.O.(=Anm.48), LXIII. 271 Bei der Darstellung des Inhalts des HDG folge ich den Ausführungen der beiden leitenden Juristen des Kriegsamtes: Schiffer, Eugen, Junck, Joh.(annes) (Hg.): Der vaterländische Hilfsdienst. Erläuterungen und Materialien ... Berlin 1917, 9 ff. 272 Bauer, Gustav: Der neue Rechtszustand. In: Arbeiter-Zeitung Nr. 285 vom 5. Dezember 1916, 1. 273 Schiffer, Eugen, Junck, Joh.(annes) (Hg.): Der vaterländische Hilfsdienst... a.a.O.(=Anm.271), 20.
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Über die Frage, ob ein Beruf, eine Organisation oder ein Betrieb „Hilfsdienstbetrieb“ im Sinne des § 2 ist und ob die Zahl der dort beschäftigten Personen das „Bedürfnis“ übersteigt, entscheiden „Feststellungsausschüsse“ (§ 4(2) HDG).274 Im Bereich der Behörden und behördlichen Einrichtungen werden diese Fragen allerdings bürokratisch unter Beteiligung des Kriegsamtes entschieden. Als Beschwerdeinstanz dient eine beim Kriegsamt zu errichtende Zentralstelle. Wird der Aufforderung zur freiwilligen Meldung zum Hilfsdienst nicht in ausreichendem Maße entsprochen, so erfolgt die Heranziehung zum Hilfsdienst durch schriftliche Aufforderung oder Überweisung durch „Einberufungsausschüsse“ (§ 7(2) HDG). Die „Feststellungsausschüsse“ dienen in diesem Zusammenhang als Beschwerdestellen. Bemerkenswert an diesen Ausschüssen ist ihre Zusammensetzung. Unter dem „Regime“ von Offizieren und Beamten wirken in gleicher Zahl Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit. In ähnlicher Form waren die beiden angesprochenen Ausschüsse allerdings schon in den Richtlinien angesprochen, die dem Entwurf des „Gesetzes, betreffend den vaterländischen Hilfsdienst“ beigegeben waren. Insofern ist die „Regelungsmaterie“ durch den Prozeß der Gesetzgebung „lediglich“ auf die Ebene und in die Form des verabschiedeten Gesetzes transformiert worden. Der Arbeitsplatzwechsel im Rahmen des Hilfsdienstes wird grundsätzlich erschwert. Die sich daraus ergebenden Konflikte werden den „Schlichtungsausschüssen“ zugewiesen.275 Diese „Schlichtungsausschüsse“ entsprechen dem „Erfolgsmodell“ des Berliner Kriegsausschusses und den Kriegsausschüssen, die auf Druck des Kriegsministeriums entstanden sind. Die bereits bestehenden Kriegsausschüsse werden in die neue „menschenökonomische Apparatur“ übernommen. Der Arbeitsplatzwechsel im Hilfsdienst setzt demzufolge einen „Abkehrschein“ des jeweils letzten Arbeitgebers voraus. Eine Möglichkeit des Arbeitsplatzwechsels ist auch dann gegeben, wenn eine Karenzzeit von zwei Wochen nach der letzten Beschäftigung im Hilfsdienst zurückgelegt wurde. Zuwiderhandlungen werden mit schweren Strafen bedroht, die sich gegen den Unternehmer richten. In einer Situation, in der schon ein wachsendes Lohngefälle zwischen einzelnen Wirtschaftsbereichen, Branchen und Betrieben zusammen mit einem erheblichen inflationären Anstieg der Lebenshaltungskosten einen außerordentlichen Fluktuationsanreiz bildet und in der nun erst recht eine große Konkurrenz um Arbeitskräfte herrscht, wird der § 9(2) des HDG bedeutsam.276 Er eröffnet den Hilfsdienstpflichtigen im Falle der Verweigerung des „Abkehrscheins“ durch den Unternehmer den Weg zu den „Schlichtungsausschüssen“. Diese bestehen aus einem Beauftragten des Kriegsamts als Vorsitzendem sowie aus je drei Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Bei Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ für den Arbeitsplatzwechsel muß der Ausschuß einen „Abkehrschein“ ausstellen. § 9(3) bestimmt: „Als wichtiger Grund soll insbesondere eine angemessene Verbesserung der Arbeitsbedingungen im vaterländischen Hilfsdienst gelten.“ Diese Vorschrift, die zu den umstrittensten des ganzen Gesetzes gehört und fortlaufend ablehnende Stellungnahmen hervorruft,277 wird vor allem zunächst stark zugunsten der Arbeitsplatzwechsler interpretiert. Sie setzt, trotz gewisser Gegenmaßnahmen, den Arbeitsmarkt 274 Zur Arbeit dieser Ausschüsse einschließlich der Besonderheiten der süddeutschen Militärorganisation vgl.: Mai, Gunther: Kriegswirtschaft...a.a.O.(=Anm.265), 218 ff.; vgl. auch: Ueber die Bedeutung der Feststellungsausschüsse. In: Kriegsamt, (1917)7, 10-11. 275 Vgl. zur angesonnenen konfliktvermeidenden, integrationistischen Funktion dieser Ausschüsse: Schlichtung von Arbeits- und Lohnstreitigkeiten in Betrieben, die dem vaterländischen Hilfsdienstgesetz unterstehen. In: Kriegsamt, (1917)9, 7-9. 276 Vgl. Mai, Gunther: Kriegswirtschaft...a.a.O.(=Anm.265), 277. 277 Vgl. z.B.: Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller-Berlin. Bemerkungen zu § 9(3) des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst...a.a.O.(=Anm.219), 60 ff.
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und die Löhne in Bewegung. Mit neuer Intensität konkurrieren insbesondere die Rüstungsbetriebe um Arbeiter und versuchen sie sich gegenseitig vor allem durch Lohnerhöhungen abzujagen.278 Der Anwendungsbereich der entsprechenden Vorschriften ist sehr weit. Er umfaßt auch die Reklamierten, deren Zahl gewaltig steigt und zu spürbaren Herabsetzungen der Stärke von Truppenteilen führt.279 Von hier wird in zweifacher Weise der Zweck des HDG in Frage gestellt. Die Tätigkeit der „Schlichtungsausschüsse“ umfaßt auch die Landwirtschaft, die übrigens wegen der vergleichsweise sehr attraktiven Lohnbedingungen der Rüstungsindustrie bald extrem unter „Leutenot“ leidet.280 Damit hat der Einfluß der Arbeiterbewegung erstmals auch ein Gebiet erreicht, das ihr in besonderer Weise bis zu diesem Zeitpunkt verschlossen war. Für sämtliche Ausschüsse nach dem HDG, für die „Feststellungsausschüsse“, sogar bei der Zentralstelle im Kriegsamt, für die „Einberufungsausschüsse“ und die „Schlichtungsausschüsse“281 ist vorgeschrieben, daß für die Berufung der „...Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in die Ausschüsse ... durch das Kriegsamt ... Vorschlagslisten wirtschaftlicher Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzuholen“ seien.282 Der „sensationelle Aspekt“ dieser Vorschrift liegt darin, daß, nachdem die Einbeziehung von Arbeitern in gemischte Gremien der verschiedensten Art damals sozusagen zur beinahe schon 100jährigen Tradition „moderner“ staatlicher Sozialpolitik gehört, nunmehr die bis 1914 mehr oder weniger geächteten Arbeiterorganisationen durch ein Reichsgesetz anerkannt und nunmehr auch „offiziell“ zu „Mitarbeitern“ in der komplizierten Apparatur der „Menschenökonomie“ gemacht worden sind. Die Leitung des Hilfsdienstes obliegt in Preußen dem beim Kriegsministerium errichteten Kriegsamt. Bayern, Sachsen und Württemberg besitzen eine ähnliche Kriegsamtsorganisation.283 Das preußische Kriegsamt hat nach der Kabinettsordre vom 1. November 1916 neben „Angelegenheiten der Beschaffung, Verwendung und Ernährung der Arbeiter“ auch noch die Beschaffung von Rohstoffen, Waffen und Munition zur Aufgabe, soweit alle diese Aufgabengebiete mit der Gesamtkriegführung zusammenhängen. Dieses sich zu einer gewaltigen Behörde entwickelnde Amt hat damit eine sich in vielen Verwaltungsvorschriften niederschlagende Gestaltungsbefugnis. Das Kriegsamt verfügt über Kriegsamtsstellen in den jeweiligen Armeekorpsbezirken. Diese neue Behörde, die ganze Departements und Abteilungen aus dem Kriegsministerium übernimmt, wird nun zum Sitz bürgerlich-sozialreformerischen Sachverstands. Richard Sichler wird wissenschaftlicher Referent im „Kriegs-Ersatz- und ArbeitsDepartement“. Tiburtius wechselt ebenfalls ins Kriegsamt. Für besondere Aufträge in Industrie und Arbeiterfrage, für Presse-Angelegenheiten und für die „Frauen-Arbeitszentrale“ zeichnet im Stab des Kriegsamtes Rittmeister Richard Merton verantwortlich.284 Er ist der 278 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 304; weitere Hinweise auf vielfältige Gründe des Arbeitsplatzwechsels enthält: An die deutschen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. In: Kriegsamt, (1917)5, 1415. 279 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 304; zur Geltung des HDG auch für Reklamierte vgl. den Erlaß des Kriegsministers vom 2. Dezember 1916. BA Abt. Potsdam...a.a.O. (=Anm.219), 30. 280 Vgl. dazu den für sämtliche Landgemeinden entwickelten Aufruf Groeners, der dem „Abwandern“ entgegenwirken soll in: Kriegsamt, (1917)7, unpag. 281 Ein Verzeichnis dieser Ausschüsse findet sich in der Anlage zu der Nr. 7 des „Kriegsamts“ von 1917. 282 Vgl. § 10(2) HDG. 283 Zu Details: Kriegsamtorganisation in Bayern, Sachsen und Württemberg. In: Kriegsamt, (1917)3, 1-2. 284 Vgl.: Ratz, Ursula: „Der Krieg ist keine Gelegenheit zum Geldverdienen“...a.a.O.(=Anm.76); Hinweise auf seine Tätigkeit im Ersten Weltkrieg enthält seine Autobiographie: Merton, Richard: Erinnernswertes aus meinem Leben, das über das Persönliche hinausgeht. Frankfurt a.M. 1955, 5 ff.
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Sohn des am 15. Dezember 1916 verstorbenen Gründers der Frankfurter Metallgesellschaft, des Kaufmanns und Industriellen, des Förderers der Sozialreform Wilhelm Merton. Auch der als technischer Referent im Kriegsamt beschäftigte Wichard von Moellendorff vertritt sozialreformerische Standpunkte. Unter dem Vorsitz des Professors der Nationalökonomie Max Sering arbeitet eine wissenschaftliche Kommission einschließlich von rund 200 Sachverständigen mit beratender Funktion. Das „Bureau“ bzw. wie man bald schreibt „Büro für Sozialpolitik“ ist auch im Rahmen des Kriegsamtes aktiv.285 Ab Anfang November 1915 leitet das Büro darüber hinaus eine sich über mehr als drei Jahre erstreckende, „...an die maßgebenden militärischen und zivilen Instanzen des Reiches und der Bundesstaaten gerichtete Berichterstattung über die ‘Stimmung im sozialdemokratischen Lager’ ein.“286 Die in dekadischer Folge erscheinenden Berichte werden seit September 1917 durch kürzere monatliche Berichte „über gewerkschaftliche Vorgänge“ ergänzt. Diese sind speziell für das Kriegsamt bestimmt. Im und für das Kriegsamt sind jedoch nicht nur „Anwälte“ und „Sachverständige“ der Arbeiterbewegung tätig. Die Tendenz, die gesamte Arbeiterbewegung zu einem „Mitarbeiter“ in der Kriegswirtschaft zu machen, findet seinen Niederschlag auch in den Reihen des leitenden Personals: Nicht ohne dadurch heftige Kritik in den Reihen der Freien Gewerkschaften hervorzurufen, rückt als Verkörperung der Politik des 4. August und als Vertreter der Arbeiterund Angestelltenschaft Alexander Schlicke, der Vorsitzende des Metallarbeiterverbandes, in das Kriegsamt ein. Das „beherzte“ Ergreifen der sich letztlich kriegsbedingt ergebenden Machtchancen durch die reformistischen Kräfte der Arbeiterbewegung führt nicht nur zu einer höchst integrativen, Anerkennung und „Parität“ für die Gewerkschaften verbürgenden Ausgestaltung des HDG. Die Reichstagsmehrheit nutzt das HDG auch als Chance, einer Parlamentarisierung der politischen Verhältnisse näher zu kommen. Sie schafft regelrecht staatsrechtliches Neuland, indem mit dem § 19 des HDG eine spektakuläre Einschränkung der bislang exklusiven Exekutivbefugnisse des Bundesrates eingeführt wird. Der Bundesrat behält zwar die Befugnis, die zur Ausführung des Gesetzes nötigen „Bestimmungen“ zu erlassen, allgemeine Verordnungen bedürfen jedoch „...der Zustimmung eines vom Reichstag aus seiner Mitte gewählten Ausschusses von fünfzehn Mitgliedern.“ Dieser Ausschuß tritt im Rahmen des HDG an die Stelle des Reichstages, er ist dem Bundesrat gegenüber gleichberechtigter Faktor der Gesetzgebung. Das Kriegsamt wird verpflichtet, „...den Ausschuß über alle wichtigen Vorgänge auf dem laufenden zu halten, ihm auf Verlangen Auskunft zu geben, seine Vorschläge entgegenzunehmen und vor Erlaß wichtiger Anordnungen allgemeiner Art seine Meinungsäußerungen einzuholen. Der Ausschuß ist zum Zusammentritt während der Unterbrechung der Verhandlungen des Reichstags berechtigt.“287 Für die Sozialdemokraten werden die Abgeordneten Friedrich Ebert, Gustav A. Bauer und Carl Legien, für die SAG der Abgeordnete Wilhelm Dittmann in den Ausschuß gewählt.288 Während nun bestimmte Regelungen, insbesondere jene zu den bereits erwähnten Ausschüssen und Verfahrensweisen die Signatur des Krieges deutlich zeigen und ohne den Hintergrund des dramatischen und für Deutschland ungünstigen Kriegsgeschehens funktionslos 285 Angaben nach: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 163; Bericht des Büro für Sozialpolitik Berlin vom 20. 10.1917. In: Historisches Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG, 152 (5), 5. 286 Vgl. ausführlich dazu: Ratz, Ursula: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung, bürgerliche Sozialreformer und Militärbehörden im Ersten Weltkrieg. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Heft 1/1985, 9-33, hier: 6. 287 Vgl. den § 19 des HDG sowie: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 204 f. 288 Vgl.: Der vaterländische Hilfsdienst. In: Abendblatt der Frankfurter Zeitung Nr. 337 vom 5. Dezember 1916, 3.
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wären, existieren auch Regelungen anderer Art. Sie sollen einmal den im Hilfsdienst beschäftigten Menschen aus sozialpolitischen Gründen allgemeine „Arbeiterrechte“ sichern. Dazu gehört die Vorschrift, daß den im Hilfsdienst beschäftigten Personen das ihnen gesetzlich zustehende Vereins- und Versammlungsrecht nicht beschränkt werden darf (§ 14 HDG). Zwar bleiben weiterhin einschränkende Verordnungen der Militärbehörden in Kraft, doch eine ergänzende Verfügung des Kriegsministeriums von Anfang 1917 will die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit lockern. Hierdurch und durch andere Ermutigungen, mäßigend auf die immer unzufriedener werdende Arbeiterschaft einzuwirken, kommt es zu regelrechten „Fluten“ von Versammlungen und anderen Gewerkschaftsaktivitäten. Das führt nicht selten zu einem Einschreiten der Behörden, was wiederum die Stimmung der Massen nicht „hebt“.289 Darüber hinaus wird im HDG bestimmt, daß die auf Grund dieses Gesetzes in die Landwirtschaft überwiesenen Arbeiter nicht den jeweiligen landesgesetzlichen Bestimmungen über das Gesinde unterliegen. Damit ist der Geltungsbereich der von der Arbeiterbewegung traditionell abgelehnten patriarchalischen und stark repressiven Gesindeordnung auf die traditionell in der Landwirtschaft tätigen Menschen eindeutig beschränkt. Von größter grundsätzlicher Bedeutung sind die Vorschriften des HDG über die Arbeiterund Angestelltenausschüsse (§§ 11-13, 15). Diese aus den Reichstagsverhandlungen hervorgegangenen Paragraphen erfüllen eine traditionelle, vielerörterte sozialpolitische Forderung der Arbeiterbewegung auf dem Gebiet der „Hilfsdienstbetriebe“, eine Forderung, die, nachdem solche Ausschüsse zunächst als scheinkonstitutionelle Einrichtungen und „bequeme und billige Unternehmerpolizei“ abgelehnt worden waren, auch aus Kreisen der Freien Gewerkschaften erhoben wurde.290 In das „Herz“ der kapitalistischen Betriebsverfassung, des „Fabrikabsolutismus“ zielend, bestimmt der § 11 des HDG, daß in allen gewerblichen Hilfsdienstbetrieben mit mindestens fünfzig beschäftigten Arbeitern ständige „Arbeiterausschüsse“ bestehen müssen. Wo derartige Ausschüsse nicht bereits nach dem § 134 h der Gewerbeordnung oder nach den Berggesetzen bestehen, müssen solche nunmehr errichtet werden. Die Mitglieder dieser obligatorischen Ausschüsse müssen aus der Mitte der Belegschaft in unmittelbarer und geheimer Wahl gewählt werden. In „Hilfsdienstbetrieben“ mit mindestens einundfünfzig versicherungspflichtigen Angestellten ist zusätzlich bzw., wenn die Zahl der Arbeiter weniger als fünfzig beträgt, ausschließlich ein Angestelltenausschuß zu errichten. Die Arbeiter- bzw. Angestelltenausschüsse sind also, im Gegensatz zu den bereits erwähnten „Feststellungs-“, „Einberufungs-“ und „Schlichtungsausschüssen“, auf betrieblicher Ebene angesiedelt. Die Arbeiterausschüsse sind extrem sozialpartnerschaftlich bzw. „arbeitsgemeinschaftlich“ konzipiert, sie sollen nämlich, so eine wegweisende Bestimmung „...das gute Einvernehmen innerhalb der Arbeiterschaft des Betriebes und zwischen der Arbeiterschaft und dem Arbeitgeber...fördern.“291 Kommt es in auschußpflichtigen Betrieben bei Streitigkeiten zwischen Ausschuß und Arbeitgeber zu keiner Einigung, so kann einverständlich ein Gewerbegericht, ein Berggewerbegericht, ein Einigungsamt einer Innung oder ein Kaufmannsgericht angerufen werden. Von jedem Teil kann ein „Schlichtungsausschuß“ nach § 9(2) HDG angerufen werden, von hier ergibt sich die Möglichkeit, einen „Abkehrschein“ zu erlangen. Für Hilfsdienstbetriebe, für die Arbeiter- bzw. Angestelltenausschüsse nicht bestehen (müssen) wird nachdrücklich bestimmt, daß bei Streitigkeiten der Weg zu der erwähnten vielgestaltigen Schlichtungsapparatur ebenfalls offen steht. Für industrielle Betriebe der Hee289 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 328 ff. 290 Vgl. zu den Arbeiterausschüssen denselben, ebenda, 313 ff. 291 § 12 HDG
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res- und Marineverwaltung sind durch die zuständigen Dienstbehörden entsprechende Vorschriften zu erlassen, bestimmt § 15. Die Kommentierung des HDG betont, daß das Hilfsdienstgesetz keinesfalls eine erschöpfende Aufzählung der Wege für die „Streitschlichtung“ habe geben wollen.292 Rasche freie „Selbstverständigung der Parteien und ihrer Vertrauensinstanzen“, tarifvertraglich vereinbarte Schlichtungs- und Einigungsämter sollten nicht beeinträchtigt oder gar ausgeschaltet werden. Alles komme darauf an, Streitigkeiten zwischen „Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ auf das rascheste beizulegen, ja mehr noch, dem offenen Ausbruch des Konflikts „nach Möglichkeit vorzubeugen“. Das sei eine „Lebensfrage“ für die erfolgreiche Wirksamkeit des vaterländischen Hilfsdienstes.293 Als Ausführungsbestimmungen zum Hilfsdienstgesetz ergehen bereits am 21. Dezember 1916 wichtige Verordnungen zur Ausgestaltung der im Gesetz vorgesehenen Ausschüsse.294 Mit einer Verordnung vom 30. Januar 1917 folgen nähere Bestimmungen zu den Abkehrscheinen.295 Das Verfahren bei den auf Grund des Hilfsdienstgesetzes gebildeten Ausschüssen wird durch eine umfangreiche „Anweisung“ vom gleichen Tag geregelt.296 Der effektiven Erfassung, Meldung und dem Einsatz der Hilfsdienstpflichtigen soll u.a. eine „Bekanntmachung“ vom 1. März 1917 dienen.297 Schließlich bleibt oder wird die Beschäftigung im „vaterländischen Hilfsdienst“ den Vorschriften der „reichsgesetzlichen Arbeiter- und Angestelltenversicherung“ unterworfen.298 Auch Tätigkeiten im „vaterländischen Hilfsdienst“, die im Ausland abgeleistet werden, ziehen sozialversicherungsrechtliche Regelungen nach sich.299 Die teilweise aus Mitteln des Reiches finanzierte „Kriegswochenhilfe“300 wird unter bestimmten Bedingungen auf „Wöchnerinnen“ erstreckt, deren Ehemann im „vaterländischen Hilfsdienst“ beschäftigt ist301 und die nicht bereits nach den allgemeinen Bestimmungen anspruchsberechtigt sind. Trotz der zahlreichen, detaillierten und reichseinheitlichen Vorschriften wird das HDG wohl in sehr unterschiedlicher Weise in die Tat umgesetzt.302 Es erweist sich z.B. für die Behörden als schwierige Aufgabe, diejenigen Unternehmer zur Bildung von Arbeiterausschüssen oder zur Abhaltung von Wahlen zu diesen Ausschüssen anzuhalten, die schon traditionell 292 Vgl.: Schiffer, Eugen, Junck, Joh.(annes): Der vaterländische Hilfsdienst... a.a.O.(=Anm.271), 65. 293 Vgl.: Schlichtung von Arbeits- und Lohnstreitigkeiten in Betrieben, die dem vaterländischen Hilfsdienstgesetz unterstehen. In: Kriegsamt, (1917)9, 7-9, hier: 7. 294 Vgl. die beiden Bekanntmachungen vom 21. Dezember 1916 (RGBl. 1916, 1410, 1411). 295 Vgl.: RGBl. 1917, 85. 296 Vgl. die „Anweisung über das Verfahren bei den auf Grund des Hilfsdienstgesetzes gebildeten Ausschüssen“ vom 30. Januar 1917 (RGBl. 1917, 87). 297 Vgl.: RGBl. 1917, 202; vgl. auch die „Bekanntmachung, betreffend weitere Bestimmungen zur Ausführung des § 7 des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst“ vom 13. November 1917 (RGBl. 1917, 1040); abgeändert durch die Verordnung vom 28. März 1918 (RGBl. 1918, 155). 298 Vgl. die „Verordnung über Versicherung der im vaterländischen Hilfsdienst Beschäftigten“ vom 24. Februar 1917 (RGBl. 1917, 171). 299 Vgl. die „Bekanntmachung über die Ausführungsbehörden und die Ausführungsbestimmungen für die Unfallversicherung von Tätigkeiten im vaterländischen Hilfsdienst im Ausland“ vom 19. Januar 1918 (RGBl. 1918, 49) 300 Vgl. die „Bekanntmachung, betreffend Wochenhilfe während des Krieges“ vom 3. Dezember 1914 (RGBl. 1914, 492); vgl. auch die „Bekanntmachung über Krankenversicherung und Wochenhilfe während des Krieges“ vom 28. Januar 1915 (RGBl. 1915, 49) sowie die „Ausdehnungsverordnung“ vom 23. April 1915 (RGBl. 1915, 257) und weitere Rechtsgrundlagen. 301 Vgl. die „Bekanntmachung über Wochenhilfe aus Anlaß des vaterländischen Hilfsdienstes“ vom 6. Juli 1917 (RGBl. 1917, 591). 302 Fallstudien zur Umsetzung des HDG existieren kaum; einige sind enthalten in: Mai, Gunter (Hg.): Arbeiterschaft...a.a.O.(=Anm.176).
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ihre innerbetrieblichen Herrschaftsbefugnisse unter keinen Umständen weder mit staatlichen Organen, noch mit der Arbeiterbewegung teilen wollten.303 Um sich der Wirkung des Hilfsdienstgesetzes zu entziehen, werden gerade von dieser Seite teilweise „uralte“, schon lange inaktive, aber unternehmerhörige Arbeiterausschüsse wiederbelebt. Mit der Verabschiedung des HDG und den dadurch gegebenen Einflußchancen, mit den eröffneten neuen „Agitationsmöglichkeiten“ kann der bedrohliche Mitgliederverlust der Gewerkschaften gestoppt und eine Aufwärtsbewegung der Mitgliederzahlen eingeleitet werden. Die entsprechenden Zahlen steigen von 967.000 im Jahre 1916 auf 1.107.000 im Jahre 1917.304 Über die Besetzung der „Arbeiter-“ und „Angestelltenausschüsse“ gewinnen die Gewerkschaften und Angestelltenorganisationen, trotz aller Abwehrmaßnahmen, ein verstärktes „Standbein“ in den Betrieben und dringen auch in Bereiche der Wirtschaft ein, die ihnen zuvor weitgehend verschlossen waren. Sehr zu ihrem Ärger müssen die Schwerindustriellen mit ansehen, wie die drei großen Richtungsgewerkschaften vereint gegen die „gelben“, unternehmergeförderten Werkvereine vorgehen und diesen schwere Niederlagen zufügen. Das Kriegsamt unternimmt wenig, um diese zu schützen.305 Dieses Verhalten verweist auf eine weitere Auswirkung des Hilfsdienstgesetzes. Während die kriegswirtschaftliche Effizienz des HDG unterschiedlich, insgesamt aber wegen der Umgehungsmöglichkeiten, wegen der Begrenztheit des Potentials an Fachkräften, wegen sonstiger Krisen, Fehlentscheidungen und Verwerfungen in der Kriegsgesellschaft als gering zu veranschlagen ist,306 festigt es erneut das „Bündnis“ zwischen reformorientierter Arbeiterbewegung und bestimmten militärischen Heimatbehörden durch gegenseitige Konsultation und Zugeständnisse. Das Kriegsamt sieht sich zur Handhabung des Hilfsdienstgesetzes verschiedentlich Gewerkschaftswünschen und Forderungen gegenüber und es hat, aus der Sicht der Freien Gewerkschaften, „...im allgemeinen den berechtigten Anforderungen der Gewerkschaften und Angestelltenverbände Rechnung getragen.“307 Intern nicht umstritten, setzt sich vor allem der sozialreformerisch beratene Generalleutnant Groener für eine enge und verstärkte Zusammenarbeit mit der rechten Gewerkschaftsführung ein. Der aus innen- und außenpolitischen Gründen vertiefte „Bund“ zwischen Militär und Arbeiterbewegung dokumentiert sich spektakulär auf der großen Gewerkschaftskundgebung in Berlin vom 12. Dezember 1916. Unter Anwesenheit und Beteiligung höchster Staatsrepräsentanten finden Groeners Ausführungen den „warmen Applaus der Delegierten.“308 Auch unter bald deutlich erschwerten Bedingungen engagiert er sich fortgesetzt für die Akzeptanz der Gewerkschaften als „berufene Vertreter“ der Arbeiter und möchte sie auf allen möglichen sozialen Gebieten beteiligt sehen. Er mahnt verschiedentlich „unparteiliches und gerechtes Verhalten“ der Militärbehörden an, unterstützt kollektive Lohnabkommen und kritisiert wiederholt die Industriellen wegen ihrer rücksichtslosen und die „Massen“ verbitternden Profitmacherei und sozialpolitischen Unein-
303 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 256 f.; zur näheren Ausgestaltung der Ausschüsse vgl.: Die innere Organisation der nach dem Hilfsdienstgesetz errichteten Arbeiterausschüsse. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 28(1918)7, 59-62. 304 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 258. 305 Vgl. ebenda, 259f.; vgl auch: Bericht der Generalkommission für das Jahr 1916. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 27(1917)13, 129-133, hier: 130. 306 Vgl. dazu: Mai, Gunther (Hg.): Arbeiterschaft...a.a.O.(=Anm.176), 14 ff. 307 Vgl. den Bericht der Generalkommission für 1917. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 28 (1918)19, 179 - 181, hier: 180, hier aber auch Hinweise auf entsprechende Schwierigkeiten. 308 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 255.
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sichtigkeit.309 Dem entspricht eine „vernünftige“ Haltung der entscheidenden Führer der Arbeiterbewegung, die sich dem Wunsch nach Einschränkung der Arbeitskräftefluktuation ebensowenig verschließen, wie sie sich gegen „störende“ politische Aktionen der „Massen“ und „unvernünftige“ Forderungen zur Wehr setzen. Mit dem Jahr 1917 wird jedoch dieses „Bündnis“ und das HDG in seiner Funktion als sozialpolitisches Instrument gegen herrschaftsbedrohende „Zersetzungserscheinungen“, gegen gesellschaftliche Spannungen und Gefährdungen der Gesellschaftsordnung, arg strapaziert.310
6.5 Das Ende der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ Es ist eine Vielzahl von Gründen, die dazu beitragen, daß es im Jahre 1917 zu einer ernsten Belastungsprobe der von der Schwerindustrie vehement kritisierten „Arbeitsgemeinschaft“ zwischen Regierung, militärischen Heimatbehörden und Gewerkschaftsführung kommt. Eine hervorragende Rolle spielt der schon seit „alter Zeit“ beargwöhnte Hunger als Ursache revolutionärer Entwicklungen. Die Tatsache, daß nach einer Kette von Versorgungsengpässen und versorgungspolitischen Fehlschlägen seit 1915, nach Rationierungs- und Zwangsbewirtschaftungsmaßnahmen, nach dem zweifelhaften „Genuß“ von zahllosen Ersatznahrungsstoffen,311 nach dem schrecklichen „Kohlrübenwinter“ von 1916/17 auch noch die Brotrationen gekürzt werden sollen, läßt zu Beginn des Jahres 1917 eine Streikbewegung anschwellen, die im April dieses Jahres ihren Höhepunkt erreicht und zu insgesamt „unruhigeren“ inneren Verhältnissen überleitet, die sich zunehmend politisieren.312 Hinzu kommt, daß die von der deutschen Regierung geförderte revolutionäre Entwicklung in Rußland destabilisierend auf die inneren Verhältnisse im Deutschen Reich zurückwirkt.313 Unter dem Eindruck dieser und einer ganzen Reihe weiterer zur „Radikalisierung“ drängender Faktoren,314 zu denen auch der unbeirrte Kooperationskurs der reformistischen Arbeiterbewegung gehört, gründet sich, nachdem die SAG aus der SPD ausgeschlossen worden ist, im April 1917 die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD). Eine kleine, sich u. a. um Rosa Luxemburg scharende Gruppe innerhalb dieser heterogenen Partei, setzt auf Massenstreik und revolutionären Umsturz. Durch diese Vorgänge verringert sich die Fähigkeit der kooperationsbereiten Gewerkschafts- und Parteiführer, die „Massen“ fest in der Hand zu behalten. Sie sehen sich der Konkurrenz der „Radikalen“ und den nun weitgehend unerfüllbaren Erwartungen aus dem Militär309 Vgl. ebenda, 256 ff. 310 Vgl. in diesem Zusammenhang die Analyse der wissenschaftlichen Auffassungen zur staatlichen Sozialpolitik im Kapitel 1.1 dieses Bandes. 311 Es existieren, aus Ersatzstoffen hergestellt, rund 11.000 verschiedene Produkte, darunter 837 fleischlose Wurstsorten; vgl.: Burchardt, Lothar: Die Auswirkungen der Kriegswirtschaft auf die deutsche Zivilbevölkerung im Ersten und Zweiten Weltkrieg. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 15(1974)1, 65 - 93. 312 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 441 ff. 313 Vgl.: Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1984, 269ff.; neuerdings mit zahlreichen Abbildungen und Dokumenten: Heresch, Elisabeth: Das Zarenreich. Glanz und Untergang. Bilder und Dokumente von 1896 bis 1920. München 1991, bes. 185ff. 314 Diese sich vermehrenden Gründe für die „Radikalisierung“ werden umfassend erörtert in den Berichten des Büros für Sozialpolitik; vgl. insbesondere den Bericht vom 1. Februar 1918, der auf die Januarstreiks Bezug nimmt. Der Bericht findet sich im Bayerischen Hauptstaatsarchiv-Kriegsarchiv (BayHStA Abt. IV Kriegsarchiv), Mkr. 14029. Weitere Berichte, die die dramatische Entwicklung des Kriegsendes und der Revolution spiegeln, befinden sich im BA Abt. Potsdam. 39.01, Reichsarbeitsministerium, Nr. 3446; sowie im Historischen Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG, Mappe 152 (7).
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und sonstigen Staatsapparat ausgesetzt. Von den Reaktionären werden sie umstandslos für die Unruhen verantwortlich gemacht. Sie drohen in den Augen dieser Kräfte zu „kriegswirtschaftlich wertlosen, weil einflußlosen Faktoren“315 zu werden. Bei ihren streikverhindernden Aktionen werden sie gleichzeitig „von unten“ mit dem Verdacht konfrontiert, Regierungskommissare oder Anhänger General Groeners zu sein. Von den Vertretern der reformistischen Arbeiterbewegung und von sozialreformerisch denkenden bürgerlichen Kreisen ausgehende Vorstöße, die Position dieser Bewegung bei den „Massen“ durch die Erfüllung weiterer „ersehnter Reformen“ zu festigen, führen vor allem auf dem Gebiet der Revision der Verfassung des Kaiserreichs zu keinem nennenswerten Fortschritt. So verspricht die „kaiserliche“ Osterbotschaft des Jahres 1917 in bewußt unklar gehaltener Diktion eine Wahlrechtsreform nach dem Kriege und betont, daß für das „Klassenwahlrecht in Preußen kein Platz mehr“ sei. Festzuhalten ist, daß eine Wahlrechtsreform versprochen wird, keine entschlossene Parlamentarisierung, Demokratisierung oder gar die Republik. Das liegt immer noch weit jenseits dessen, was sich Regierungskreise als „Konzession“ vorstellen können. Es ist die höchst geringe Wirkung dieser „kaiserlichen Worte“, die zu weiteren herrschaftstaktischen Erörterungen auf der politischen Ebene Anlaß gibt.316 Gleichzeitiges hartes Durchgreifen bei Streikbewegungen, eine durchgreifende Repression gegen „Radikale“,317 eine intensivierte, nicht immer erfolgreich wirkende Propaganda,318 sind nicht geeignet, die erschütterte „Klassengesellschaft im Krieg“ (J.Kocka) mehr als nur vorübergehend zu „befrieden“ und den politischen Zielen der Opposition in der Arbeiterbewegung die Attraktivität zu nehmen.319 Lange bevor sich der „Umsturz“ im vierten Kriegswinter in Form der Januar-Streiks des Jahres 1918 erneut regt und zu harten militärischen Eingriffen führt,320 scheint sogar der gesamte Bauplan der bisherigen Innenpolitik in Gefahr zu geraten. Die Stellung des Architekten der „Burgfriedenspolitik“, des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg, wird gegen Mitte des Jahres 1917 grundsätzlich erschüttert. Die zahlreichen Konflikte und Feindschaften, die er sich mit seiner Innenpolitik bei den extrem reaktionären Kräften eingehandelt hat, sein belastetes Verhältnis zur 3. OHL und schließlich die von ihm ausgehende Enttäuschung der Reichstagsmehrheit, die mit der Forderung nach einem Verhandlungsfrieden und tiefgreifendem Verfassungsumbau auftritt, unterminieren seine Position. Nachdem Ludendorff, von Hindenburg und der damalige preußische Kriegsminister General Hermann von Stein ihren Rücktritt androhen, falls der Kanzler nicht entlassen würde, 315 So die Formulierung im um Verständnis für die schwierige Lage der Arbeiterbewegung werbenden Bericht des „Bureau für Sozialpolitik“ vom 21.12.1917; BayHStA Abt. IV, Kriegsarchiv, MKr. 14029, 7. 316 Vgl. in diesem Zusammenhang die höchst kontroversen Erwägungen im Königlichen Staatsministerium vom 8. Juli 1917; GStA Merseburg, Rep. 90a, Titel III, 2b, Nr. 6, Abt. B, Band 166, 165 ff. oder die Sitzung des Kronrats vom 9. Juli 1917; BA Abt. Potsdam. 07.01, Reichskanzlei, Nr. 2015, Bl. 6 ff. 317 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O. (=Anm.173), 271 f. 318 Zahlreiche Propagandaplakate der damaligen Zeit finden sich in: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 1962; zu den „unglücklichen“, die Stellung der kooperationsbereiten Arbeiterbewegung eher unterminierenden Propagandaaktionen gehört der berühmte „Hundsfott-Aufruf“ General Groeners vom 27. April 1917; vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O. (=Anm.173), 276 f.; zur Propaganda insgesamt siehe auch die Dokumente in: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 - 1918. Zweiter Teil. Bearbeitet von Wilhelm Deist. Düsseldorf 1970, 803 ff. 319 Die Ziele und die Propaganda der „Opposition“ sind reichhaltig dokumentiert und aus DDR-Sicht kommentiert in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Reihe II: 1914 - 1945. Band 1,2,3. Berlin 1958. 320 Interessante Aspekte zur Strategie der Militarisierung der Betriebe Anfang 1918 und zu weiteren Streikreaktionen enthalten: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 2810, Bl. 291 ff.; Nr. 1962/1, Bl. 93, 96 f., 99, 127, 132 ff.
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nimmt ein „sehr erleichterter“ Kaiser am 13. Juli 1917 das Entlassungsgesuch von Bethmanns entgegen.321 Tief in Konflikte mit der OHL, der Schwerindustrie, dem preußischen Kriegsminister und zahlreichen stellvertretenden Generalkommandos verstrickt, beginnt auch die Position des Leiters des Kriegsamtes, die Position Groeners unhaltbar zu werden. Die Schwerindustrie ist fortlaufend wegen des HDG verstimmt. In einer umfangreichen Denkschrift des „Vereines deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller“ (VdESI), mit der sich diese einflußreiche Vereinigung an die OHL und den neuen Reichskanzler Georg Michaelis wendet322, wird die ganze Stoßrichtung des Kriegsreformismus in Frage gestellt. Die kooperationsbereiten Kräfte in der Gewerkschaftsbewegung werden als weiterhin klassenkämpferisch, radikal, als machtversessen und auf den eigenen persönlichen oder organisatorischen Vorteil bedacht hingestellt. Durch Zugeständnisse sei der „soziale Frieden“ nicht zu gewinnen. Die ganze Psychologie, die hinter sozialreformerischen Vorstellungen unzweifelhaft steht, wird verneint. Geduld, Abwarten, Nachgiebigkeit und Zugeständnisse seien gegenüber den „Klassenkämpfen“ fehl am Platz. Die Behinderung der „gelben“ Arbeitervereine wird beklagt. „Ruhe und Ordnung“ seien durch „Strenge“ zu sichern. Das HDG und seine Handhabung werden als Ursache von Konflikten und das Gesetz wird als, im Gegensatz zum ursprünglichen Entwurf, völlig mißraten hingestellt. Mit Blick auf die Eingabe der Richtungsgewerkschaften und Angestelltenverbände vom 30. Juni 1917 an den Bundesrat und an den Reichstag mit Forderungen zur Übergangswirtschaft werden deutliche Warnungen ausgesprochen.323 Die darin enthaltene Forderung nach Überführung der im HDG festgeschriebenen „Arbeiter-“ und „Angestelltenausschüsse“ und der Schlichtungsapparatur in die Übergangsund Friedenswirtschaft wird strikt abgelehnt. Als völlig verfehlt gilt auch die vom Metallarbeiterverband verlangte Aufhebung des § 153 der Gewerbeordnung. Allerdings befürchtet die Industriellen-Denkschrift, daß es nicht schwer werden dürfte, im Reichstag eine Mehrheit für die Erfüllung dieses Gewerkschaftswunsches zu finden. Diese und andere Interventionen tragen, vermutlich beschleunigt durch das Bekanntwerden einer aus der Feder Richard Mertons stammenden Denkschrift „Ueber die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs zur Regelung der Unternehmergewinne und Arbeiterlöhne“ vom 12. Juli 1917,324 zu den Intrigen bei, denen Groener, zum lebhaften Bedauern der reformorientierten Arbeiterorganisationen,325 am 16. August 1917 zum Opfer fällt. Er wird als Kommandeur an die Westfront versetzt und bewußt von seinem ebenfalls an die Westfront versetzten sozialpolitischen Berater, von Richard Merton getrennt.326 Neuer Chef des Kriegsamts wird Generalmajor Heinrich Scheüch.
321 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 291; vgl. auch: Kielmansegg, Peter Graf: Deutschland...a.a.O.(=Anm.168), 454 ff. 322 Vgl. die Denkschrift über „Arbeiterpolitik und Arbeiterunruhen im Kriege“ vom August 1917; WWA Dortmund K 2 (Handelskammer zu Bochum), Nr. 75 (unpag.). Dort auch weitere einschlägige Eingaben. 323 Diese Eingabe findet sich als Dokument 42 in: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften... a.a.O.(=Anm.27), 360 ff. 324 Diese Denkschrift, die Maßnahmen gegen die „demoralisierenden Folgen der Kriegswirtschaft“ motivieren soll, findet sich als nachträgliche Veröffentlichung ihres Verfassers im Historischen Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG, Mappe 282 (2), 10 ff. 325 Zur Resonanz der Entlassung Groeners in der Arbeiterbewegung vgl. den Bericht des „Büros für Sozialpolitik“ vom 1. September 1917; BayHStA, Abt. IV, Kriegsarchiv, Mkr. 14029, 10 ff. 326 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 321 f.; vgl. auch: Ratz, Ursula: „Der Krieg...a.a.O. (=Anm.76), 15.
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Zweifellos sind seit der Aprilkrise des Jahres 1917 und der Beseitigung zweier Repräsentanten einer Kooperation mit der „gemauserten“ Arbeiterbewegung und einer innenpolitischen „Neuorientierung“ die Möglichkeiten sozialreformerischen Handelns ungünstiger geworden, entsprechende Forderungen werden wirksamer abgeblockt. Wenn nun durch den Einfluß der OHL und der ihr nahestehenden Kräfte die innerpolitischen Verhältnisse sich „verhärten“, so bleibt doch die große Wende zu einer extrem repressiven Variante der Innenpolitik aus. Während sich die staatlichen Abwehrmaßnahmen wesentlich auf die USPD und die Gewerkschaftsopposition konzentrieren,327 bleiben zahlreiche Verknüpfungspunkte zwischen der MSPD, den Richtungsgewerkschaften und Zivil- und Militärbehörden intakt. Die Situation, der es schon bis zu diesem Zeitpunkt nicht an „Unübersichtlichkeit“ mangelt, gestaltet sich noch „vieldeutiger“. Die Führer der Gewerkschaften setzen sich weiterhin gegenüber den Mitgliedern für „Ruhe und Ordnung“ in einem Krieg ein, dessen ersehnter erfolgreicher Ausgang immer noch in den Kreisen ihrer Gegner die Hoffnung nährt, dann wieder zum Status quo ante zurückkehren und nach alter Art regieren zu können. Als „Gefangene des Burgfriedens“ mit eigenen Kriegszielen und teilweise annexionistischen Vorstellungen, fahren sie fort, sich als „wertvolle Verbündete“ in einer unübersichtlicher und labiler werdenden Situation zu profilieren. Die Gewerkschaftsführer prangern „Streikhetzer“ beim Heer an, sie bemühen sich um „Streikbeilegung“ und die Disziplinierung der „radikalen Bewegung“, sie richten vertrauliche Berichte an Behörden und stehen mit ihnen in Informationsaustausch, sie leisten gegenüber staatlichen Stellen Streikanalysen und Streikprognosen und versuchen, den nicht selten bewußt verbreiteten Verdacht zu bekämpfen, selbst Urheber „radikaler“ Aktionen zu sein, während sie durchaus kleineren „berechtigten“ Aktionen Sympathie entgegenbringen und über ihre Basisorganisationen an ihnen beteiligt sind.328 Mitunter beschwörend werden sie weiterhin von der bürgerlichen Sozialreform unterstützt. Die intern nicht unumstrittenen Berichte des „Bureau für Sozialpolitik“ möchten den bisherigen Kurs der Innenpolitik beibehalten sehen: Nachdrücklich mahnen auch sie weiterhin sozialpolitische Herrschaftsstrategien an und fordern zur Differenzierung zwischen „radikaler Opposition“ und „gemäßigter“ Bewegung auf.329 Zur „Vieldeutigkeit“ der Situation gehört auch ein Schreiben von Hindenburgs an den Reichskanzler vom 17. Februar 1918. Darin heißt es, daß die Gewerkschaftsführer und sozialdemokratischen Abgeordneten zu einer klaren Stellungnahme zu den Streiks aufgefordert werden müßten. Ganz unter dem Eindruck der Januarstreiks stehend, die Reformisten hatten sich widerstrebend und um das Gesicht nicht zu verlieren an ihnen „beteiligt“, fährt von Hindenburg fort: „Verurteilen sie den Streik rückhaltlos, so kann man von ihnen fordern, daß sie mit allen Mitteln gegen den Streik auftreten. Sollte er dann noch ausbrechen, so wäre jedenfalls ihre Machtlosigkeit erwiesen, während sie sich jetzt immer auf ihre Macht und auf ihre Führung berufen. Lehnen sie die grundsätzliche Verurteilung der Streiks ab, so sind sie als Landesverräter anzusehen...“330 Völlig in Übereinstimmung mit den Ansichten der Schwerindus327 Vgl. zusammenfassend den Beitrag von: Deist, Wilhelm: Armee und Arbeiterschaft 1905 - 1918. In: Francia, 2(1974), 458 - 481, hier: 475 f. 328 Vgl. etwa die Dokumente Nr. 38 und 39 in: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Gewerkschaften...a.a.O. (=Anm.27), 350 ff; vgl. mit zahlreichem Material insbesondere aus dem Jahr 1918: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reicharbeitsministerium, Nr. 1962/1.298) Vgl. etwa den Bericht vom 1. September 1917...a.a.O. (=Anm.325), 12 ff. 329 Vgl. etwa den Bericht vom 1. September 1917...a.a.O.(=Anm.325), 12 ff. 330 Schreiben von Hindenburgs an den Reichskanzler und Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums Herrn Grafen von Hertling vom 17.2.1918. BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 1962/1, 154 - 157, hier: 155.
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triellen folgert von Hindenburg, nur durch „Stärke und Festigkeit“, nicht durch Eingehen auf die Wünsche der Streikenden, könne es gelingen, auf Dauer größere Streiks zu verhindern.331 Diese Stellungnahme, deren Konsequenz, der Übergang zu radikalem Repressionskurs, aus herrschaftstaktischen Motiven der Ablehnung verfällt, darf nicht vergessen machen, daß es während des Jahres 1917 Gespräche zwischen der OHL und Vertretern der verschiedenen Arbeiterorganisationen gibt. Überraschend wird deutlich, daß Ludendorff „Verständnis“ für gewerkschaftliche Probleme und Vorstellungen entwickeln kann. Ein Hauptgrund für dieses „Verständnis“ ist allerdings die Einsicht, daß er die Hilfe der Arbeiterorganisationen in der Demobilmachungsphase und beim Übergang zur Friedenswirtschaft benötigen werde. Diese Einsicht wird „insgeheim“ auch von einigen führenden Vertretern der Schwerindustriellen geteilt, die ab Sommer 1917 u.a. zur Besprechung entsprechender Probleme Kontakt mit Arbeiterführern aufnehmen.332 Bald nach seiner Bestellung gelingt es dem neuen Kriegsamtschef Scheüch, die Gewerkschaften von seinem „Verständnis“ zu überzeugen und insgesamt bewegt sich auch seine Amtsführung auf dem sozialreformerischen Pfad.333 Nachdem Michaelis, der sich seiner Aufgabe als nicht gewachsen erweist, seiner Ämter enthoben, und der 74jährige bayrische Ministerpräsident und ehemalige Zentrumsführer Graf Georg von Hertling am 1. November 1917 vom Kaiser zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt worden ist, eröffnet sich sogar eine Chance für reichsgesetzliche sozialpolitische Entwicklungen.334 Das erste Mal in der Geschichte des Reichs bei der Ernennung eines Kanzlers konsultiert, gelingt es den „neuordnungsorientierten“ Parteien, diesen Kanzlerwechsel mit einem Programm der „Erneuerung des Burgfriedens“, mit Forderungen also zu verknüpfen, von denen zwei im engeren Sinne arbeiterpolitischer Natur sind: Es soll ein Gesetzentwurf zur Errichtung von Arbeitskammern eingebracht werden und es soll der alte § 153 der Reichsgewerbeordnung, der berüchtigte „Boykottparagraph“, geändert bzw. aufgehoben werden.335 Unter dem abwehrenden Protest vor allem schwerindustrieller Interessenvertreter beginnt die letzte Etappe der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik im Kriege. Diese Kräfte halten bis weit in das Jahr 1918 an ihrem offiziellen Obstruktionskurs336 und an ihren eigenen nichtstaatlichen sozialpolitischen Initiativen der Bindung der Arbeiter an den Betrieb, der Streikprävention und der Beherrschung des Arbeitsmarktes durch eigenständige Arbeitsnachweise fest,337 und befassen sich erst allmählich mit befürchteten staatlich sozialreformerischen Projekten, etwa dem Tarifvertragsrecht und auch mit dem erneut diskutierten 331 Vgl. denselben, ebenda, 157. 332 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Armee...a.a.O.(=Anm.173), 350 ff. 333 Vgl. denselben, ebenda, 355. 334 Vgl.: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Band 2. Januar 1915 bis Oktober 1917. Berlin 1968, 778. 335 Die Einigung auf diese und andere Punkte (sie betreffen die Papstnote als Grundlage der Außenpolitik, die Milderung und Abänderung der Zensur, die Wahlrechtsreform) erfolgt im „Interfraktionellen Ausschuß“, der sich am 6. Juli 1917 aus 17 Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei, der Mehrheitssozialdemokratie, des Zentrums und der Nationalliberalen konstituiert. Das „Fünf-Punkte-Programm“ wird erstmals auf der Sitzung vom 22. 10. 1917 diskutiert und auch auf einer folgenden Sitzung behandelt; vgl.: Matthias, Erich, Morsey, Rudolf (Bearb.): Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18. Erster Teil. Düsseldorf 1959 (=Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe. Band 1/I), 242 ff., 336; vgl auch die Hinweise auf Seite 573 ff. 336 Vgl. dazu: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 384 ff,; vgl. auch: Zunkel, Friedrich: Industrie und Staatssozialismus. Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland 1914 - 1918. Düsseldorf 1974, 167 f.; vgl. auch die Denkschrift der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände vom März 1918; WWA Dortmund, K 3(Handelskammer zu Bielefeld), Nr. 503, Bl. 52 f. 337 Vgl.: Zunkel, Friedrich: Industrie...a.a.O.(=Anm.336), 169 f., sowie: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 411 ff.
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Das Ende der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“
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Projekt der Arbeitskammern, um gegebenenfalls vorbereitet zu sein und um das „Schlimmste“ besser abwehren zu können.338 Bezeichnenderweise handelt es sich bei den Arbeitskammern wiederum um ein Projekt mit jahrzehntealter Vorgeschichte, das, wie erwähnt, im Zuge der Verhärtung der innenpolitischen Fronten in der Vorkriegszeit gescheitert war. Der Gedanke der Arbeitskammern knüpft an die Tatsache an, daß Handel und Gewerbe körperschaftliche Interessenvertretungen in den Handels- und Gewerbekammern, den Innungen und Handwerkskammern hatten und daß auch Landwirtschaftskammern bereits existierten. Aus der Tatsache, daß es sich in allen diesen Fällen im wesentlichen um Interessenvertretungen der Unternehmer handelte, die zudem machtvoll bei der Gewerbegesetzgebung „mitwirkten“, wurde bald der Schluß gezogen, daß der „Arbeiterschaft“ eine solche Vertretung nicht versagt werden könne, um auch sie mit dem Ziel der Erreichung des „sozialen Friedens“ aus der Rolle eines bloßen Objekts von Staatsmaßnahmen zu „befreien“. Bald schon waren es Vorbilder im europäischen Ausland, die diese Diskussion zusätzlich beflügelten.339 Bereits 1871 beschäftigte sich der Ökonom und Sozialreformer Gustav Schönberg mit solchen Vorstellungen und forderte die Errichtung von „Arbeitsämtern“ von den Machthabern des neuen deutschen Reiches. Die Sozialdemokraten brachten 1877 einen Gesetzentwurf ein, der spätestens zum 1. Januar 1879 paritätisch besetzte „Gewerbekammern“ errichtet sehen wollte. Das Erfurter Programm enthielt eine entsprechende Forderung. Dann sprachen die kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar 1890 entsprechende Organe und Interessenvertretungen der Arbeiter zur „Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ an. Daraufhin kam die Angelegenheit zunächst stärker in Fluß und namentlich das Zentrum aber auch die Nationalliberalen wurden aktiv. 16 Jahre nach den Februarerlassen brachte das Reichsamt des Innern am 4. Februar 1906 beim Bundesrat einen Gesetzentwurf ein. Der Entwurf erwies sich als sehr umstritten. Er beschäftigte auch noch den Reichstag. Er wurde wegen des Schlusses der Session jedoch nicht mehr behandelt. Ein neuer Gesetzentwurf vom 11. Februar 1910 scheiterte, da eine Einigung zwischen Reichstag und Regierung nicht zu erzielen war. Damit war ein allerdings sehr stark gegen die Interessen der Gewerkschaften gerichteter Versuch an sein Ende gekommen, Arbeitern und Unternehmern unter öffentlichrechtlicher Garantie eine Gremium zu Regelung ihrer Angelegenheiten und zur Einwirkung auf die Politik zu schaffen. Zwischenzeitlich forderten die Organisationen der Angestellten ebenfalls vergeblich gesetzliche Interessenvertretungen, die als „Kaufmannskammern“ bezeichnet wurden.340 338 Vgl.: Zunkel, Friedrich: Industrie...a.a.O.(=Anm.336),168; Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O. (=Anm.28), 408 ff. Die Auseinandersetzung um die Tarifverträge verblaßt in der zweiten Hälfte des Krieges. Sieht man von einigen militärischen und zivilen Interventionen zur Förderung des Tarifvertrages ab (vgl. ebenda, 411), so bleibt bemerkenswert, daß die Gewerkschaften „Leitsätze“, aber keinen eigenen Gesetzentwurf erarbeiten. Sie überlassen das nahestehenden Sozialreformern; vgl. als Ergebnis: Sinzheimer, Hugo: Ein Arbeitstarifgesetz...a.a.O.(=Anm.192), sowie eine nichtveröffentlichte Denkschrift von Brentano, besprochen bei demselben: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands. Jena 1931, 340 ff. 339 Vgl. z.B.: Harms, Bernhard: Arbeitskammern. In: Conrad, J., Lexis, W., Elster, L., Loening, Edg. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Erster Band. Jena 1909, 1058 1065. 340 Einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte und weiterführende Literatur bietet: Bohnstedt, Werner: Arbeiterausschüsse, Arbeiterkammern, Arbeitskammern. In: Heyde, Ludwig (Hg.): Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens. 1. Band. Berlin 1931, 64 - 68; zahlreiches Material zur Vorkriegsentwicklung enthält: Rassow, Peter, Born, Karl Erich (Hg.): Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutschland 1890 - 1914. Wiesbaden 1959, 344 ff.; neuerdings: Grabherr, Stephan: Die Arbeitskammervorlagen der kaiserlichen Regierung
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Die Forderung nach einer solchen Form der Interessenvertretung findet sich bereits im November 1917 auch in dem sozialpolitischen Arbeiterprogramm der Freien Gewerkschaften. Im Dezember 1917 beteiligen sich die Gewerkschaftszentralen mit einem eigenen Gesetzentwurf an den Bundesrat und den Reichstag an der sozialpolitischen Kontroverse. Dieser Entwurf knüpft an die Vorkriegsauseinandersetzungen an und möchte zusätzlich sozialpolitische „Errungenschaften“ des HDG (die betrieblichen Ausschüsse und Schlichtungseinrichtungen) durch die Regelung im Arbeitskammergesetzentwurf in die Nachkriegszeit retten.341 Auch der kaiserliche Obrigkeitsstaat blickt bei dieser sozialpolitischen Aktion auf das bald erwartete Kriegsende und es ist hier gleichfalls die Zielsetzung nachweisbar, durch Sozialpolitik die schon vorhandenen und erst recht die bei der Demobilisation der „Millionenheere“ und die bei der Umstellung der Kriegswirtschaft auf die Friedenswirtschaft zu erwartenden Spannungen zu mildern. Dennoch kann sich die Regierung zu einem demonstrativen Entgegenkommen gegenüber den Gewerkschaftswünschen nicht entschließen. Ein bald vorliegender Regierungsentwurf wird unter dem Eindruck der Januarstreiks und des industriellen Widerstands intern mehrfach zuungunsten der Gewerkschaften umgearbeitet und am 19. April 1918 dem Parlament zugeleitet.342 Dieser Entwurf sieht, in der Tradition seiner Vorläufer stehend, paritätisch aufgebaute, rechtsfähige Kammern vor, die „berufen“ sein sollen, den „wirtschaftlichen Frieden“ zu pflegen. Sie sollen die gemeinsamen Interessen von Arbeit und Kapital wahrnehmen. Das „gedeihliche Verhältnis“ zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern soll gefördert, das gewerbliche Einigungswesen soll gepflegt werden. Den Arbeitskammern wird die Erstattung von Gutachten und die Durchführung von Erhebungen übertragen. Sie sollen Veranstaltungen und Maßnahmen zur Hebung der Arbeiterverhältnisse anregen bzw. daran mitwirken. Sie sollen sich beim Abschluß von Tarifverträgen engagieren, die gewerblichen Arbeitsnachweise fördern, die Arbeitsbeschaffung für Kriegsbeschädigte unterstützen usw. Weniger dieser „Pflichtenkatalog“, als vielmehr die Änderungen, die die reformorientierten Kräfte im Gesetzgebungsverfahren an diesem Entwurf vornehmen, markieren die im Entwurf enthaltenen gewerkschaftsfeindlichen „Finessen“. Die „Umarbeitung“ sieht vor, daß der Aufbau der Kammern auf territorialer, nicht auf fachlicher Basis erfolgen soll. Die Landarbeiter werden einbezogen, Sonderbestimmungen für Bahn und Post beseitigt. Die Arbeitnehmervertreter bekommen das Recht auf selbständige Tagungen und Verlautbarungen, wie im Ursprungsentwurf, wieder zuerkannt, um nur einige Punkte zu nennen. Auch im Zusammenhang mit der Arbeitskammervorlage der Regierung spielt die Beibehaltung der Arbeiter- und Angestelltenausschüsse des HDG eine Rolle. Zu diesem Problem, das die Reformkräfte im Arbeitskammergesetz geregelt sehen möchten, legt die Regierung jedoch einen eigenen Gesetzentwurf Ende Juli 1918 vor343, ein weiterer Schritt in Richtung auf das spätere Betriebsrätegesetz. Über beide Gesetzesinitiativen geht, nachdem die militärische Niederlage unabwendbar geworden ist, die Revolution hinweg.
von 1908/1909. Interessenvertretung der Arbeiterschaft oder staatliche Schlichtungsinstanz? In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 26(1990)2, 141 - 157. 341 Vgl. zum Gewerkschaftsentwurf: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften... a.a.O.(=Anm.28), 390 ff. Zum sozialpolitischen Arbeiterprogramm der Freien Gewerkschaften vgl.: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften...a.a.O. (=Anm.27), 407ff.; als Kommentar der Arbeitgeber vgl.: Die sozialpolitischen Forderungen der deutschen Gewerkschaften. In: Der Arbeitgeber, (1918)3, 19. 342 Dieser Entwurf findet sich an verschiedenen Stellen so u.a. auch in: Der Arbeitgeber, (1918) 9, 55 - 61. 343 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 402 ff.
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Das Ende der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“
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Mit anderem Ergebnis verläuft die Auseinandersetzung um den § 153 der Gewerbeordnung, ein Paragraph, der im Krieg seine Bedeutung verloren hat. Weder führen die Gewerkschaften „reguläre“ Streiks, noch setzen die Gerichte ihre alten „Schikanen“ gegen die Gewerkschaften in gewohnter Weise fort. Zudem bietet das Gesetz über den Belagerungszustand genügend Handhabe. Darüber hinaus beinhalten bekanntlich andere gesetzliche Grundlagen, etwa der Erpressungsparagraph des Strafgesetzbuchs, strafrechtliche Neben- und Polizeigesetze, Gesindeordnungen, Sonderrechte der Land- und Forstarbeiter, Möglichkeiten der Repression, die auch für den Fall des Kriegsendes fortbestehen sollen.344 Zur Erbitterung der Schwerindustrie, die nunmehr, trotz der geringen realen Bedeutung des § 153 der Gewerbeordnung, den Weg für „jeden Terrorismus“ frei sieht,345 wird das vermutlich kürzeste Gesetz der Sozialrechtsgeschichte zum „letzten entscheidenden Wort“ des Kaiserreichs zur Arbeiterfrage. Gegeben im Großen Hauptquartier am 22. Mai 1918, verordnet Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags urkundlich unter seiner „Höchsteigenhändigen Unterschrift“ und beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel: „ Der § 153 der Gewerbeordnung wird aufgehoben.“346 So stößt die „obrigkeitsstaatliche Sozialpolitik“ des Kaiserreichs nicht nur zeitlich, sondern auch von den (noch) herrschenden Kräfteverhältnissen her, gegen Mitte des Jahres 1918 an ihre Grenzen. Sie gleicht zu dieser Zeit aber bereits einer „zerschossenen Festung.“ Ihre große Zeit ist offenkundig bereits mit dem Beginn des Krieges vorbei. Auf vielen Gebieten ist schon jetzt der Einfluß der Verbände, namentlich der Gewerkschaften unübersehbar. Schließlich wird diesen „Massenkräften“ sogar erstmals durch die Reichsgesetzgebung Rechnung getragen. Damit ist schon im Ersten Weltkrieg die „klassische Phase“ des Wirkens und der Existenz der Arbeiterbewegung beendet, eine Zeit in der sie bestenfalls geduldet, ganz überwiegend jedoch als Fremdkörper, Feind und „Umsturz“ angesehen wurde und in der sie in der Rechtsordnung und im Sozialstaat keinen „Ort“ gefunden hat. Diese Auffassungen sind natürlich nicht völlig verschwunden, sondern in die Defensive geraten, so daß die Arbeiterbewegung bereits im Krieg die „Würde“ einer umstrittenen, teilweise auch verhaßten halböffentlichen Institution erlangt hat. Mit dieser Entwicklung ist der „Kriegsmechanismus“ als sozialstaatsbildende Kraft erschöpft.347 Doch schon bald setzt der „Zusammenbruchs-“ und „Revolutionsmechanismus“ ein. Zwischen beiden Triebkräften staatlich-sozialpolitischer Entwicklung bestehen jedoch vielfältige „Verknüpfungen“. In der kurzen aber bewegten Zeit von der Übergabe der Kanzlerbefugnisse durch den letzten kaiserlichen, aber schon einem parlamentarischen Regierungssystem vorstehenden Kanzler Prinz Max von Baden348 an den Führer der Mehrheitssozialdemokraten, Friedrich Ebert, am 9. November 1918349, bis zum Ende dieses Schicksalsjahres 344 Vgl.: Zur Reform des Koalitionsrechts. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 27(1917)39, 365 - 367. 345 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm.28), 390. 346 So die Formeln, die die Gesetze des Kaiserreichs umgeben. Zum Gesetz vgl.: RGBl. 1918, 423. 347 Allenfalls wäre noch an den „allerhöchsten Erlaß“ vom 4. Oktober 1918 über die Errichtung des Reichsarbeitsamts als sozialpolitischer Zentralinstanz zu erinnern, an den Vorläufer des Reichsarbeitsministeriums; vgl.: RGBl. 1918, 1231. 348 Vgl. dazu: Matthias, Erich, Morsey, Rudolf (Barb.): Die Regierung des Prinzen Max von Baden. Düsseldorf 1962 (=Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe. Band 2). 349 Vgl.: Miller, Susanne, Potthoff, Heinrich (Bearb.): Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19: Erster Teil. Düsseldorf 1969 (=Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe. Band 6/I), 3 ff.
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Der Erste Weltkrieg als Entwicklungsbedingung staatlicher Sozialpolitik
wird nun das Projekt der staatlichen Sozialpolitik im Sinne von Arbeiterpolitik kategorial vollendet. Das beinhaltet, daß nunmehr auch die Kräfte der sozialpolitischen Reaktion diese Bahn sozialpolitischer Zugeständnisse und des Verhandelns mit der Arbeiterbewegung betreten. Insgesamt hat der Erste Weltkrieg wahrhaft epochale Auswirkungen. Er endet als ein Konflikt, der schließlich auf drei Erdteilen, in Europa, Asien und in Afrika ausgetragen wird. Die Monarchien der Hohenzollern und der Romanows werden durch Revolutionen beseitigt, das Imperium der Habsburger zerfällt. Das Osmanische Reich geht seinem Untergang entgegen. Die weltpolitischen Gewichte verschieben sich. Der Krieg hat in zahlreichen Staaten seinen industriellen Charakter offenbart und damit die „Arbeiterfrage“ auf die Tagesordnung der beteiligten Staaten gesetzt. Neue korporatistische Beziehungen zwischen dem Staat, der Wirtschaft und den Gewerkschaften sind nicht nur in Deutschland entstanden. Die „Kriegsanstrengungen“ der Nationen haben schreckliche waffentechnologische Entwicklungen hervorgebracht. Die Anfänge des Luft- bzw. Bombenkrieges sind mit ihm verknüpft. Er greift tief in des „Seelenleben“ der Epoche ein. Er wird mit seinen Folgen, wie kein zweites Ereignis dieser Zeit, Kristallisations- und Flammpunkt weltanschaulicher Kontroversen. An ihm als „Anschauungsobjekt“ arbeiten sich die politischen Strömungen und wissenschaftliche Analysen ab. Aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wird in Deutschland nicht nur die Folgerung „Nie wieder Krieg“ gezogen. Im Krieg wurzelt bereits und aus ihm und seinen Folgen erwächst auch die Auffassung, es in einem erneuten „Zukunftskrieg“ besser machen zu wollen und bestimmte „Fehler“ zu vermeiden. Als geradezu traumatische Erfahrung wirkt das Zerbrechen der „Heimatfront“ als vermeintliche Ursache der Kriegsniederlage noch Jahre und Jahrzehnte nach. Die durch solche Erfahrungen in besonderer Weise mitgeprägten innen- und sozialpolitischen Strategien des „Dritten Reiches“ sind Bestandteil des zweiten Bandes dieser Sozialstaatsgeschichte. Für die in diesem Regime wirksamen Kräfte ist die staatliche Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg in weiten Bereichen ein „Negativbeispiel“ par excellence.
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Rückblick und Ausdeutung
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7 Rückblick und Ausdeutung Rückblick und Ausdeutung
Die beiden miteinander verwobenen Fundamentalereignisse Krieg und Revolution, gewaltsame zwischenstaatliche Verhältnisse und innere Erschütterungen also, stehen am Anfang und am Ende dieser Untersuchung. Beide Ereignisse haben in außerordentlicher Weise zu Veränderungen im Geistesleben und im Staats- und Gesellschaftsaufbau Deutschlands beigetragen. Sie führen zunächst zu einer Freisetzung der kapitalistischen Wirtschaftsform, zu einer institutionellen Trennung der Sphären von Politik und Ökonomie und zu einer Teilmodernisierung des traditionellen Obrigkeits- und Militärstaats. Schließlich leiten Krieg und Revolution zu einer „Vollendung der Sozialreform“ und zur Herausbildung der Republik über. In die damit angedeutete Zeitspanne von 1789 bis 1918 ist der evolutionäre Prozeß der deutschen „Sozialstaatsbildung“, der Vorgang der Genese der „modernen“, lohnarbeitszentrierten staatlichen Sozialpolitik eingebunden. Dieser Prozeß, so konnte gezeigt werden, läßt sich aus den Bau- und Bewegungsgesetzen der „neuen Zeit“ im Sinne einer nachzeichnenden „historischen Theorie“ erklären. Die wesentlichen ökonomischen, politischen, sozialen und ideengeschichtlichen Entwicklungen, Wechselwirkungen und Abhängigkeiten, die zur „vollen Ausbildung“ der staatlichen Sozialpolitik geführt haben, sollen an dieser Stelle rückblickend, typisierend und zusammenfassend erörtert werden. Die Französische Revolution prägt die gesellschaftlich-politische Realität in Deutschland in nachhaltiger Weise und stellt die Grundkoordinaten hin zur vollen Ausbildung der staatlichen Sozialpolitik. Dieses Schlüsselereignis labilisiert die inneren Zustände in Deutschland und leitet zu einer „Epoche“ revolutionärer Erhebungen über. Es schärft in erheblicher Weise das Bewußtsein von inneren Spannungen und „Gefahren“. Es belebt innerstaatliche Feindmarkierungen, die „Gespenster“ des „Socialismus“ und „Communismus“ erheben ihr Haupt. Als Folge einer spezifischen Wertung der Revolutionsereignisse entfalten sich in Deutschland Vorstellungen einer planvollen, von „oben nach unten“ zu führenden, graduellen, friedlichen Umgestaltung, einer „Reform“. Es entwickeln sich Auffassungen zu einem „positiven“ deutschen Gegenstück zu den beunruhigenden, an Entgleisungserscheinungen reichen Ereignissen jenseits des Rheins. Im Zuge der auf die Revolution folgenden Kriege wird die schon morbide Struktur Altdeutschlands zerbrochen, und dieses Ereignis, insbesondere die militärische Niederlage Preußens, wirkt als Katalysator tiefgreifender Umgestaltungsprozesse. Die Konfrontation der alten Militärmacht Preußen mit einem überlegenen Kriegsgegner und einer neuen, auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Heeresorganisation, mit Soldaten, die von „Patriotismus“ und revolutionärem „Enthusiasmus“ erfüllt sind, bringt in (Rest-)Preußen als Programm der Regeneration eine „Revolution von oben“, eine Reformwelle in Gang. Diese soll eine wirtschaftliche, politische und militärische Anpassung an die „neue Zeit“ bewirken. Die darin eingeschlossene „Freisetzung“ der Wirtschaft in Stadt und Land beschleunigt den Niedergang der alten, der vergleichsweise statischen, der gebundenen Ordnungen des Wirtschaftens und der gegenseitigen Hilfeleistungen. Diese Formen und Trümmerstücke der spätmittelalterlichen Wirt-
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schafts- und Lebensordnung waren zu dieser Zeit schon lange einem Verfalls- und Zersetzungsprozeß unterworfen und an die Grenze ihrer Zulänglichkeit geraten. Obwohl den preußischen Reformen eine staatliche Sozialpolitik im engeren Sinne fremd ist, sind sie für die Entwicklung dieses Politikbereichs von großer Bedeutung. Sie forcieren in Form der „Freisetzung“ der Wirtschaft eine kapitalistische Umwälzungsdynamik, ohne sie inhaltlich auf ein bestimmtes Ziel hin festzulegen, durch die Herstellung einer „angemessenen“ staatlichen Rahmenordnung. Durch die Gewährung einer vom Staat gelösten Sphäre der wirtschaftlichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit entsteht nach und nach eine am wirtschaftlichen Individualinteresse orientierte, konkurrenzgeprägte Wirtschaftsform. Die damit in Gang gesetzte Umwälzungsdynamik bringt wiederum das Objekt der späteren staatlichen Sozialpolitik, den „freien Lohnarbeiter“ hervor. Die spätere „klassische Sozialwissenschaft“ spricht in diesem Zusammenhang von der Herausbildung der „Massenerscheinung“ des rechtlich freien, vermögenslosen, wirtschaftlich selbstverantwortlichen Menschen, der als einzelner seine Arbeitskraft zu Marktbedingungen unter der Herrschaft der reinen Ökonomie von Angebot und Nachfrage veräußern muß, und der unter den historischen Bedingungen der damaligen Zeit typischerweise ruinösen und unsicheren Arbeitsbedingungen und Lebensumständen ausgesetzt ist. Schon bald nach dem Wirksamwerden der preußischen Reformen entfaltet sich eine erste, eine (früh-)sozialpolitische Debatte in Deutschland. Sie speist sich aus den zeitgenössischen Krisenerfahrungen: aus der nunmehr „naturwüchsig“, krisenhaft und unumkehrbar ablaufenden Umgestaltung der sozialen Physiognomie der Gesellschaft zu ihrer industriellkapitalistischen Form, aus der Erfahrung mit und der Möglichkeit einer Revolution, aus der gesellschaftlichen Labilität und Neigung zu Unterschichtsunruhen innerhalb und außerhalb Deutschlands, aus der alles umfassenden und alles überschattenden Erscheinung des Pauperismus. Der Pauperismus wird als die Verbreitung von Lebenslagen in den unteren Volksklassen begriffen, die in höchstem Maße notdürftig, unsicher und scheinbar unabänderlich sind und sich mit Widersetzlichkeit paaren. Diese erste sozialpolitische Debatte knüpft an die ältere Armenwesen- und Armenpflegeliteratur an. Sie argumentiert typischerweise vom Standpunkt (klein-)bürgerlicher Moral- und Arbeitsamkeitsvorstellungen. Sie entfaltet sich mit und neben Auffassungen, die in die Vergangenheit zurück oder in eine andere Zukunft revolutionär vorwärts stürmen möchten; Debatten also, die vom Pathos des „Neuen“ und „Anderen“, des „Guten“, „Freien“ und „Gerechten“ oder von jenem der traditionellen, der „bewährten“, der „geheiligten“ Ordnung zehren. Die (früh-)sozialpolitischen Erörterungen und Kontroversen möchten, idealtypisch betrachtet, durch handlungspraktische Anweisungen die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse festigen, ohne daß das „eigentliche Projekt der Moderne“, die neue, marktbezogene, konkurrenzgeprägte, gewinnorientierte, freigesetzte, politisch nicht beherrschte Wirtschaftsweise grundsätzlich aufgehoben oder zur Disposition gestellt werden soll. Diskutiert werden Reformen im Rahmen, nicht gegen den selbst in eine zukunftsoffene Bewegung geratenen jeweiligen „Status quo“. Die (früh-)sozialpolitische Debatte gehört damit letztlich auch zu den zahlreichen geistig-politischen Lehren und Strömungen, die durch das große Laboratorium der Französischen Revolution verstärkt und freigesetzt oder ausgeformt worden sind. Diese (früh-)sozialpolitische Diskussion, deren schwer zu ermittelnden tatsächlich religiösen und philantrophischen Antriebe bei der von mir gewählten herrschaftsorientierten Vorgehensweise außer Ansatz geblieben sind, geht zum einen von der zum „Umsturz“
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reizenden Kraft des „Hungers“ und der extremen sozialen Ungleichheit aus. Sie gewinnt Einsichten in die Gefahren für die politische Stabilität und soziale Ordnung, die von einer massenhaft verbreiteten Unmöglichkeit einer ausreichenden Sicherung der körperlichen Selbsterhaltung, von höchster menschlicher Not bei gleichzeitig deutlich sichtbarem Reichtum ausgehen. Die Debatte erkennt andererseits die werbende Kraft, die in solchen Situationen von Bildern und Ideologien einer „neuen, heilen Welt“, vom Versprechen der Erfüllung menschlicher Glücksträume ausgehen. Sie sieht das Reform- und Umsturzproblem also mit allerlei „radicalen“ Wirtschafts- und Sozialideen verbunden, die sich im Pauper selbst und im Umfeld, zur Beeinflussung des Paupers, ausbilden. Aus der heterogenen Großgruppe der Pauperen sich abhebend, wird als Voraussetzung und Folge des Kapitalismus bereits frühzeitig der gewerbliche (aber auch der landwirtschaftliche) Lohnarbeiter identifiziert. Die soziale Klasse der Lohnarbeiter gilt bereits als mit dem Schicksal des Kapitals verkettete Erscheinung. Der Lohnarbeiter wird schon als der dauerhaft und ausschließlich auf das Lohnarbeitsverhältnis verwiesene Mensch begriffen, der als Folge der Kommerzialisierung der Gesellschaftsbeziehungen als „Ware“, als „kostender Betriebsstoff“ (G. Briefs) in der Rechnung des Kapitals geführt wird. Nach der frühsozialpolitischen Auffassung ist er weit davon entfernt, als „Stand“ mit „befriedetem Dasein“ in die neue Gesellschaft eingegliedert zu sein. Er gilt auch nicht als eine nur leidende, stumme, duldende Masse elender Einzelexistenzen. Vor diesem Hintergrund formuliert die frühsozialpolitische Debatte ihre Reformpläne als Methoden zur Überwindung des Pauperismus bzw. zur „Befriedung“ des Paupers. Schon lange vor der Revolution von 1848/49 lassen sich in Deutschland darunter auch speziell auf die Lohnarbeiter berechnete Strategien, Elemente von Arbeiterpolitik also, isolieren, Ansätze, die bereits bevor der Kapital-Lohnarbeits-Gegensatz zum Brennpunkt der sozialen Spannungen wird, die „Befriedung“ des Proletariats (im engeren Sinne) auf der Grundlage des Lohnarbeitsverhältnisses anstreben. Das vielkritisierte und verunsichernde französische „Schauspiel“ des revolutionären Exzesses und des leichten Wechsels der Staatsform, die jenseits des Rheins demonstrierte Möglichkeit überlieferte Rechtszustände wegzuwischen, der Blick auch auf andere Staaten und ihre inneren Verhältnisse haben die Sensibilität der frühen Sozialreformer für gesellschaftliche Spannungen geschärft und erheblich zu der Fähigkeit beigetragen, im Gegenwärtigen das Zukünftige zu erfassen. Schon von hier wird einsichtig, warum die Instrumente der Reform typischerweise zusammen mit ihrer (vermutlichen) Wirkung auf die „unzufriedene Gesellschaft“ diskutiert werden. In Erkenntnis, daß jede „revolutionäre Tat“, jede Unruhe der Massen zumindest ein Motiv haben muß, daß mitunter ein ausgemaltes Ziel, eine „Gesellschaftsutopie“, ein visionäres oder revolutionäres Ordnungsbild hinzutreten kann, geht es meistens weder primär um die Verbreitung von „Wohlfahrt“, noch von „Fürsorge“, noch um „Soziales“ an sich, sondern um die Beseitigung der politisch und sozial destabilisierenden Folgen prekärer Soziallagen. Das erste Ziel ist die Beseitigung der Empörung gegen die „Reichen“, gegen den Staat, die Tilgung der Feindschaft gegen das „Kapital“, die Immunisierung gegen die Lehren des „Communismus“ und „Socialismus“, die Abschwächung von Verzweiflung, Verbitterung, Neid, Haß, Groll, die Vermeidung des Zusammenbruchs von Handlungshemmungen und zivilisatorischer Substanz im Falle ebenso massenhafter, wie äußerster Lebensnot. Die „Erweichung“ der Lage des Paupers bzw. des „proletarischen Lebensschicksals“ erscheint schon zu dieser Zeit als Mittel zum Zweck. Die neue, die kapitalistische Wirtschaftsordnung gilt in ihrer naturwüchsigen Form als ein politisch und sozial
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destabilisierender Faktor, wenn und soweit sie nicht in das Projekt einer stabilisierenden Reform einbezogen wird. Mit diesen Argumentationsmustern sind wichtige Grundkoordinaten sozialpolitischer Diskussion und sozialpolitischen Handelns bereits im Deutschland des Vormärz ausgeprägt. Daß es jenseits dieser „herrschaftsstrategisch“ bzw. politisch denkenden Autoren bereits Kräfte und Stimmen gibt, die vom Standpunkt wirtschaftlicher und militärischer Effizienz zur Sozialpolitik Stellung beziehen, sei mit Blick auf die hohe Bedeutung des Krieges für die Sozialpolitik ebenso angemerkt, wie die Tatsache, daß neben der staatlichen Sozialpolitik auch militärische, polizeiliche und strafrechtliche Strategien der Herrschaftssicherung diskutiert und angewendet werden. Insgesamt gesehen betritt die praktische Staatspolitik in den unruhigen Zeiten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts den Pfad der Sozialreform nur zögernd. Vor dem Hintergrund noch „präsenter“ Reste und geistiger Traditionen einer vergangenen Sozialverfassung und eines überforderten Armenwesens, stellt die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings auch keine „sozialpolitische Wüste“ dar, aus der nur das preußische Kinderschutzregulativ des Jahres 1839 hervorragt; ein Regulativ übrigens, dessen reale Bedeutung häufig überschätzt und das nicht selten auch heute noch zu einem Monument „moderner“ borussischer „Sozialstaatlichkeit“ stilisiert wird. Die damals praktizierten Formen sozialpolitischer Maßnahmen lassen Jahrzehnte vor der Herausbildung einer nennenswerten Arbeiterbewegung nicht selten einen direkten Bezug zu sozialen Unruhen, zum „Druck von unten“ in bemerkenswerter Ausprägung erkennen. Teilweise kreisen sie explizit um die neuartige, bedrohlich wirkende Auftritte probende Sozialfigur des „freien Arbeiters“. Maßnahmen, wie die Reform der auf eine statische Welt zugeschnittenen Armenrechtsregelung im Jahre 1842, atmen den Geist des „Geheimratsliberalismus“, indem sie die „Arbeitsmarktfreiheit“ ermöglichen, den Warencharakter der „freien Arbeit“ fördern helfen sollen, um so den „Abfluß“ des „Gärungsstoffes“ zu bewirken, der sich auf dem „platten Land“ in gewerblich unterentwickelter Gegend angehäuft hat. Eine schon aus der „alten Zeit“ herrührende obligatorische, staatsbeaufsichtigte Sozialversicherung im Bergbau, eine Eisenbahnerverordnung aus dem Jahre 1846, die einen Mikrokosmos von Arbeiterschutz, Arbeiterüberwachung und materieller „Absicherung“, medizinischer Versorgung und gewählter Arbeitervertretung vorsieht, eine Verordnung des Jahres 1849, die ein Truckverbot und eine „paritätische“ Vertretung der „Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ in bestimmten Abteilungen der Gewerberäte enthält, zeugen von frühem staatlich-sozialpolitischem Denken und einschlägiger Praxis. Freilich ist der „sozialpolitische Komfort“ dieser Epoche einer beinahe „malthusianischen Übervölkerungskatastrophe“ zwangsläufig ebenso begrenzt, wie die erhoffte integrative Wirkung sozialpolitischer Strategien. Dennoch zeigen schon die angesprochenen Maßnahmen, daß Potentiale für „sozialpolitische Umbildungen“ und Integrationsstrategien nicht nur auf der Ebene der entstehenden Sozialwissenschaft bzw. der sozialreformerischen Diskussion vorhanden sind. Eine Einbeziehung der zahlreichen sozialpolitischen Initiativen in den Fabriken dieser frühindustriellen Entwicklungsepoche würde diesen Eindruck noch verstärken. Sie würde über die erwähnten Ansätze von Arbeiterüberwachung, Arbeiterversicherung, Kinder- bzw. Arbeiterschutz hinaus Anfänge und Umrisse einer vom Fabrikherrn gewährten Betriebs- und Arbeitsverfassung erkennen lassen. Schließlich liegt auch der Beginn des Tarifvertragswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So wird diese Epoche zur eigentlichen „Sattelzeit“ der sozialpolitischen „Moderne“. Der revolutionäre, „unheimliche“ Gehalt dieser Zeit, die rastlose Unruhe der entfesselten, krisenhaft voran-
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schreitenden Wirtschaftsdynamik, die schließlich einen „Ausweg“ aus der Übervölkerungskatastrophe eröffnet, hat nicht nur mit seiner Sozialwissenschaft und seinen ersten Sozialreformorganisationen eine Diskussions- und Erwägungskultur gesellschaftsstabilisierender Eingriffe, sowie kundige Beobachter der sozialen Bewegung geschaffen, auch praktisch sind wichtige Pfade der Sozialreform bereits beschritten. Ohne das Neue des Säkularereignisses der „eigentlichen deutschen Sozialstaatswerdung“, der „Bismarckschen Sozialreform“, unterschlagen zu wollen, läßt sich festhalten, daß einzelne Merkmale und Merkmalsgruppen, bestimmte Institutionen, Verfahren und Strukturen der späteren Arbeiterversicherung schon im vormodernen „Kontext“ realisiert wurden und bis in die 1880er Jahre eine eigenständige Geschichte hinter sich gebracht haben. Das gilt insbesondere für die Krankenversicherung. Gewisse Anfänge verlieren sich sogar im Dunkel der mittelalterlichen Produktions- und Lebensweise. So existiert auf der Schwelle zur „neuen Zeit“ bereits ein vielgestaltiges, ursprüngliches Kassen- und Versicherungswesen, das sich unter dem Einfluß mathematischer, juristisch-administrativer und kaufmännischer „Erfindungen“ teilweise rationalisiert. Schon der Beginn des 19. Jahrhunderts ist eine Zeit, in der man (beinahe) alles zu „assecurieren“ versteht. Der Plan einer umfassenden „Armenassekuranz“ ist bereits erdacht. Gemeinsam ist den „Frühsozialpolitikern“ und den sozialpolitisch argumentierenden (Sozial-)Versicherungsfachleuten die Auffassung von der im höchsten Maße „vorteilhaften“, d.h. beruhigenden und zum Fleiß anspornenden Wirkung einer solchen Form der Stabilisierung der Lebenslage des Paupers bzw. der „arbeitenden Armen“ durch versicherungsförmig arbeitende Institutionen. Das ursprüngliche und immer auch „urtümliche“, das „vorbismarcksche“ Kassenbzw. Sozialversicherungswesen ist ein Gebiet, das von vornherein eng mit den Organisations-, Emanzipations- und Selbsthilfebestrebungen der Handwerksgesellen und der ersten „freien“ Lohnarbeiter verbunden ist. Diese „Verbindung“, die die ganze hier dokumentierte Zeit anhält, fordert bereits den alten Obrigkeitsstaat mit seiner spezifischen „BehördenAngst“ vor den Emotionen und Taten der „unteren Volksklassen“ in spezifischer Weise heraus. Eine „Durchnormierung“ und Beaufsichtigung dieser Kassen findet sich schon im vorrevolutionären Altdeutschland. Diese Erscheinungen bleiben stilbildend für die preußische bzw. reichsdeutsche Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik im 19. Jahrhundert. Daneben wird schon früh eine Vermehrung der Kassen von den Staatsorganen als erstrebenswert angesehen. Die auf die Revolution von 1848/49 reagierende Normgebung verfährt besonders restriktiv gegenüber den Emanzipationsbestrebungen der Lohnarbeiter und möchte insbesondere die paritätische Einbeziehung der „Fabrikherren“ in die Verwaltung der Kassen voranbringen, um das Band zwischen den beiden sich herausbildenden Gesellschaftsklassen „enger“ zu knüpfen. An der Kassengesetzgebung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird deutlich, wie vergleichsweise früh und „sensibel“ der preußische Staat von der Herausbildung der Arbeiterklasse Kenntnis nimmt und auch kassenpolitisch repressiv auf diese Entwicklung reagiert. Der eine Zweck dieser „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ bzw. Kassengesetzgebung, die Ausdehnung des Arbeiterversicherungswesens, wird allerdings dadurch weitgehend verfehlt, daß es den Ortsbehörden überlassen bleibt, ob sie kassenpolitisch initiativ werden möchten. Erst mit der Gesetzgebung des Jahres 1854 können die preußischen Regierungen bei „obwaltendem Bedürfnis“ aktiv werden und die Kassenbildung anordnen. Schließlich entwickelt sich mit der Zeit auch im Rahmen dieser „liberalstaatlichen Sozialpolitik“ eine bemerkenswerte Anzahl von Zwangskassen. Die Gesetzge-
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bung richtet sich also aus herrschaftstechnischer Motivation ausdrücklich gegen die autonomen Bildungen und Aktivitäten der „unteren Volksklassen.“ Das Kassenwesen spielt im unruhigen Jahr 1848 auch eine hervorgehobene Rolle im Rahmen der Forderungen der Gesellen, Gehilfen und Arbeiter. Richten sich entsprechende Forderungen zunächst an den Staat bzw. an die „Revolutionsorgane“, so macht sich vor dem Hintergrund des Scheiterns der Revolution und der einsetzenden Repression wieder der alte Selbstverwaltungs-, Selbstgestaltungs- und Selbsthilfewille bemerkbar. Er führt zu Erörterungen und Aktivitäten, die auch das Gebiet der Alters-, Invaliditäts-, Witwen- und Waisenunterstützung berühren. Bereits in diesen frühindustriell-handwerklich geprägten Sozial- und Wirtschaftsverhältnissen wird die Möglichkeit erkannt, durch die Gründung von vorteilhaften Kassen für Mitglieder die Attraktivität der „radicalen“ Handwerker- und Arbeiterbewegung zu fördern. Als Gegenstrategie machen andere Kräfte den Beitritt zu einer attraktiven Kasse vom Beitritt zu einem religiösen oder bürgerlichen (Arbeiter-)Verein abhängig. Die Arbeiterbewegung tendenziell schwächend wirkt auch das Betriebswohlfahrtswesen der größeren Fabriken mit seinen zahlreichen Kassen für Arbeiter. Mit dem Jahre 1854 setzt eine bis in die Mitte der 70er Jahre dauernde Stagnation der Kassengesetzgebung ein. In dieser „ruhigen Zeit“ entwickeln sich jedoch weitere wichtige Rahmenbedingungen. Dazu gehört vor allem die Bildung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die Reichsgründung und die Entdeckung der „kleinen Leute“ als Mittel der Politik. Herrschafts- bzw. wahltaktische Absichten führen vor dem Hintergrund des preußischen Verfassungskonfliktes bei Bismarck zu einer sporadischen Auseinandersetzung mit der „sozialen Frage“ zu Beginn der 1860er Jahre. Ein gegen den Liberalismus gerichtetes allgemeines, gleiches und direktes (Männer-) Wahlrecht im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich und ein mit zahlreichen Kautelen versehenes nicht für alle Arbeiterschichten geltendes Koalitionsrecht wurzeln ebenfalls in diesen Zusammenhängen. Die dieses Koalitionsrecht normierende Gewerbeordnung von 1869 sieht darüber hinaus Schiedsgerichte als Institutionen der Konfliktschlichtung vor. Mit dieser Gewerbeordnung endet für Deutschland die Zeit der Gewerkschaftsverbote und es beginnt so etwas wie eine Zeit der „Gewerkschaftsduldung“ (F. L. Neumann) im gewerblichen Bereich.1 Diese „Koalitionsfreiheit“ kennt zahlreiche Grenzen und den Vereinbarungen zur Erlangung „günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen“ wird jeder Schutz vorenthalten. Immerhin eröffnet sich für solche Rechtsgebilde ein gewisser Spielraum. Auf dem Gebiet des Kassenwesens bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften bis zum Erlaß eines für die Zukunft angekündigten „Bundesgesetzes“ in Kraft. Es wird allerdings ein wegweisender Schritt weg von den Zwangskassen getan. Der Kassenzwang kann sich fürderhin in der Mitgliedschaft zu vielerlei Kassen realisieren. Die daraufhin „erblühenden“ freien, selbstverwalteten Kassen der Gewerkschaften und Gewerkvereine sehen sich fortlaufend mit dem Vorwurf konfrontiert, eigentlich „Streikkassen“ zu sein. Das Kassenwesen wird durch die Kassengesetzgebung des Jahres 1876 ein letztes Mal im Rahmen der „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ geregelt, nunmehr aber schon reichseinheitlich. Die anwachsende Arbeiterbewegung hat sich wiederum mit der „ewigen Tendenz“ dieser Gesetzgebung, mit ihrem kontrollierenden und reglementierenden Charakter, mit ihrer Verstaatlichungstendenz auseinanderzusetzen.
1 Vgl.: Söllner, Alfons (Hg.): Franz L. Neumann. Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930 - 1954. Frankfurt a.M. 1978, 157 ff.
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Diese Hilfskassengesetzgebung fällt bereits in eine andere Zeit. Der Deutsch-Französische Krieg führt zur Reichsgründung, beide Ereignisse bewirken aber keineswegs einen unmittelbaren Schub der Weiterentwicklung staatlicher Sozialpolitik. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung wird zum „inneren Feind“ schlechthin. Es verstärkt sich damit eine Facette der politischen Kultur, ein „Freund-Feind-Gegensatz“, der über Jahrzehnte bestimmend bleibt und die sozialpolitische Entwicklung entscheidend prägt. Das „Schauspiel“ der Pariser Kommune, Streiks, Unruhen, später: die ökonomische Krise, der „Gründerkrach“ und sozialdemokratische Organisations- und Wahlerfolge, die Ahnung von einer „unwiderstehlichen Durchschlagskraft“ dieser Bewegung, führen zu einer umfassenden sozialpolitischen Debatte im nach innen nicht konsolidierten Reich. Die „sociale Frage“ steht damit nun unübersehbar auch auf der Tagesordnung des Kaiserreichs. Während sie in der Verfassung des Kaiserreichs überhaupt keine Erwähnung findet, wird sie im Rahmen der sich fortentwickelnden „socialen Wissenschaft“ unermüdlich thematisiert und problematisiert und durch das Anschwellen der „socialen Bewegung“, der Arbeiterbewegung, politisiert. Sie umschreibt, zunächst als industrielle „Arbeiterfrage“ verstanden, nicht das einzige Gebiet problematischer Sozialerscheinungen im Kaiserreich. Die industrielle „Arbeiterfrage“ wird allerdings sehr pointiert wahrgenommen, als bedrohlich interpretiert und als politische Herausforderung angenommen. Die Landarbeiter- und die Heimarbeiterfrage geraten erst in einem zweiten Schritt in den Bannkreis sozialpolitischer Maßnahmen. Auch die „soziale Frage“ der Angestelltenberufe hat in wesentlichem Umfang erst in einem zweiten Anlauf eine eingehende und spezifische sozialpolitische Berücksichtigung erfahren. Diese „Verspätungstendenz“ gilt im Grundsatz auch für eine stärkere Berücksichtigung der besonderen Lage der Frauen im Sozialversicherungsrecht des Kaiserreichs. Für die Ideen und Maßnahmen, die eine „realpolitische Lösung“ der mehr oder weniger so verstandenen „Arbeiterfrage“ beinhalten, bildet sich ursprünglich der Begriff der Sozialpolitik heraus. An der frühen sozialpolitischen Debatte im neugegründeten Kaiserreich hat, gestützt auf seine Mitarbeiter und wesentlich außenpolitisch motiviert, gleich zu Beginn der 70er Jahre Reichskanzler von Bismarck Anteil. Sowohl „seine“ Idee einer möglichen Verknüpfung von verschärfter Repression und Sozialreform, als auch der „nichtemanzipative“, patriarchalische Ansatz, die Arbeiter zu Klienten des Staates zu machen, stammen aus dieser Zeit kurz nach der Reichsgründung. Aus dieser Zeit datieren auch unüberhörbare Stellungnahmen und Hinweise aus der Sozialwissenschaft und aus Bismarcks Mitarbeiterstab, daß nur der Weg einer juristisch ausgestalteten „Anerkennung“ und „Gleichberechtigung“ der „vernünftigen“ Arbeiterbewegung zu einer erfolgreichen Meisterung der Integrations- und Herrschaftsprobleme im Deutschen Reich führen könne. Neben diesen Aspekten spielt schon seit den späten 60er Jahren die Diskussion um das spektakuläre Unfallgeschehen und um die möglichen Maßnahmen der Gesetzgebung eine hervorgehobene Rolle. Auf diesem Gebiet liegt ein weiterer, wenn nicht der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum Deutschland auf dem Gebiet der umfassenden öffentlichrechtlichen Sozialversicherung der Welt vorangegangen ist. Neben der Ausgestaltung der Haftpflicht nach dem Verschuldensprinzip, wie es sich im Haftpflichtgesetz von 1871 findet, werden andere Modelle der Regelung dieser Problemzone der industriellen Welt diskutiert. Hier stehen sich Ansätze bzw. Wortführer gegenüber, die von einer Verschärfung der Haftbarkeit gegenüber den verunglückten Arbeitern und von durchgreifender Prävention ausgehen und solche, die den Gedanken des Verschuldens und der Prävention hintanstellen möchten zugunsten einer Versicherungslösung, die die Opfer der Arbeit „billig“ entschädi-
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gen soll. Bekanntlich wendet sich der Reichskanzler gegen alle Ansätze, die durch Beweislastumkehr (zuungunsten der Unternehmer) oder Gefährdungshaftung, verschärfte staatliche Eingriffe in die Betriebe und verstärkte „Fabrikenaufsicht“ den Gedanken der Unfallvermeidung und der Sanierung der „industriellen Pathologie“ in den Mittelpunkt stellen wollen und nur in diesem Rahmen eine private, freiwillige Versicherung vorsehen. Zunächst jedoch bleibt die Auseinandersetzung „fruchtlos“. Die schon seit Beginn der 1870er Jahre von Bismarck betonte und mit dem Erlaß des Sozialistengesetzes wiederholt angesprochene „Verknüpfung“ von „Repression und Sozialreform“ treibt ihn keineswegs zu unmittelbarer sozialpolitischer Aktion. Eine unmittelbar mit dem Erlaß des Repressivgesetzes im Regierungs- und Verwaltungsapparat gestartete sozialpolitische Initiative wird von ihm sogar „gestoppt“. Der Weg zur deutschen „Sozialstaatsgründung“ unter Bismarck wird erst frei, als er von den (gar nicht so neuen) Gedanken Kenntnis nimmt, die der westdeutsche Großindustrielle Louis Baare auf Anregung seines (von ihm bald demissionierten) Handelsministers zu Papier gebracht hat. Bismarck, der die Leitung des Handelsministeriums vorübergehend selbst übernimmt, und der dann doch unter einen gewissen Handlungsdruck geraten ist, erkennt die Möglichkeit, unter weitgehender Zurückstellung des Präventions- und Haftungsgedankens ein Projekt auf den Weg zu bringen, das in Form einer öffentlichrechtlichen Unfallversicherung mehreren Zwecken dienen soll. Es soll - als Nahziel - den Wahlkampf „positiv“ beeinflussen, es soll mittel- und langfristig die Staatsloyalität der Arbeiter aus materieller Interessiertheit sichern, es soll der sozialdemokratischen Bewegung das Wasser abgraben, es soll die unfallbedingten Konflikte in den Betrieben durch verschuldensunabhängig geleistete „Renten“ dämpfen und somit die Effektivität und Rentabilität der Wirtschaft sichern, es soll den Unternehmer von der Anklagebank nehmen. Weitere politisch-taktische Motive Bismarcks treten hinzu. Damit trägt „Bismarcks Sozialreform“ Züge eines antiemanzipativ und entmündigend gedachten „Tauschgeschäftes“ zwischen Obrigkeit und arbeitenden Untertanen. An kleine Sicherheiten werden große Erwartungen sozialen und politischen Wohlverhaltens geknüpft. Staatsloyale Gesinnung und betrieblicher Frieden und die dadurch bewirkte „Gefahrenabwehr“ sind die Ziele dieser Sozialpolitik, dieses „Staatssozialismus“. Der bald absehbare „Mißerfolg“ dieser Spekulationen läßt das Interesse des Kanzlers rasch erlahmen. Um den Kern der Unfallversicherung gruppieren sich, bei abnehmendem Engagement des Kanzlers, die Krankenversicherungsgesetzgebung als Fortsetzung der Hilfskassengesetzgebung und als notwendige Ergänzung der Unfallversicherung sowie die Invaliditäts- und Altersversicherung als (vorläufiger) „Schlußstein“ der Arbeiterversicherungsgesetzgebung. Als Projekt männlicher Akteure auf der Bühne der Ministerien, des Bundesrates, des Reichstags und der Kommissionen geht die „obrigkeitsstaatliche Sozialpolitik“ in nur begrenztem Maße auf die spezifischen Belange von Frauen ein, obwohl es an Verständnis und Fürsprache nicht mangelt. Sie orientiert sich darüber hinaus an traditionellen Rollenmustern und räumt Frauen auch nur einen begrenzten Einfluß auf die Verwaltung des Sozialstaats ein. Erst im Zuge der Novellierungen der Grundgesetze der Bismarckschen Sozialreform werden diese Züge etwas abgeschliffen und weitere Personengruppen werden in den Bereich der Arbeiterversicherung bzw. der Sozialversicherung einbezogen. Von besonderer Bedeutung sind hier zweifellos die Reichsversicherungsordnung und das Angestelltenversicherungsgesetz. Im Wechselspiel der Kräfte und Ideen wird deutlich, daß Deutschlands „Voranschreiten“ auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung keineswegs einer in dieser Situation „fort-
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schrittlich“ wirkenden zweckfreien Staatstradition „sozialer Sorge“ und „guter Polizei“ entspringt. Deutschlands „sozialpolitischer Vorsprung“ vor der Welt erklärt sich vielmehr aus den Eigenarten des preußisch-deutschen Herrschaftssystems und den durchsetzungsfähigen Interessen. In gewisser Weise spiegelt das Zustandekommen der paternalistischen, antiliberalen und antisozialistisch orientierten Bismarckschen Sozialpolitik das alte Wunsch- und Idealbild vom „Königthum der socialen Reform.“ Dies insoweit, als Staatsinteressen im Vordergrund stehen und aus dem Zentrum der konstitutionellen Monarchie heraus agiert wird. In eine konkrete historische Situation eingebunden, liegt die treibende und gestaltende Kraft dieser Sozialpolitik jedoch nicht beim „Königthum“, sondern beim Kanzler, bei der Reichsbürokratie und bei den beiden „gesetzgebenden Faktoren“, namentlich beim Reichstag und seinen organisatorischen Gliederungen. Die Betonung der Rolle des Kaisers in der politischen Propaganda dient der Staffage, sein tatsächlicher Einfluß ist auf die Wirkung von Symbolhandlungen begrenzt. Mittel dieser Sozialpolitik sind die Gesetzgebung, ein teilweise neues System von „Verwaltungskörpern“ und die Judikatur in Form von Vorläufern der Sozial- und auch der Arbeitsgerichtsbarkeit. Von der „Verfassungsordnung“ noch unbemerkt, findet so die prekäre Sonderstellung der abhängig Beschäftigten in der bürgerlichen Gesellschaft ihren Niederschlag in Hunderten von Rechtsquellen und im Staatsaufbau der damaligen Zeit. Ein wirksamer Zugriff auf die Quellen der Not wird allerdings durch eine Arbeiterversicherung „verfehlt“, deren Ziel im wesentlichen eine Kompensation der Folgen von Unfall, Krankheit und Invalidität ist. Der Prozeß der juristischen Umschreibung und faktischen Herausbildung der Institutionen des „Sozialstaats“ zeigt darüber hinaus, daß es sich keineswegs um den Vorgang der Implementierung einer rein technisch richtigen, einer zweckmäßigen Bewältigung der anstehenden Aufgaben handelt. Die Einbeziehung von Vorläuferinstitutionen, um von deren Legitimität zu zehren und um so den Durchsetzungswiderstand zu minimieren, die Wirksamkeit von „sachfremden“, insbesondere ökonomischen und politisch-strategischen Interessen, zeigen, wie die Institutionen in die staatliche und gesellschaftliche Umwelt eingepaßt werden. Die Institutionen werden zu einem Bestandteil einer „Interessenlandschaft“. Die Strukturen der sozialpolitischen Organisationen und der sie umgebenden Gesellschaft und Politik stehen in einem nie spannungsfreien „Komplementaritätsverhältnis“. Sie werden so einerseits von den durchsetzungsfähigen Kräften in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik „getragen“, andererseits geraten sie aufgrund ihrer eben deshalb zersplitterten und wenig kompatiblen Struktur an die Grenzen der Funktionsfähigkeit gegenüber ihren „Klienten“. Hier wäre ein Ansatzpunkt einer noch kaum entwickelten Alltagsgeschichte staatlicher Sozialpolitik, einer Betrachtung des „Sozialstaats“ von unten. Bismarcks „Leistung“ auf dem Gebiet der Arbeiterversicherungsgesetzgebung liegt einmal in dem tatkräftigen Impuls, der zunächst von ihm ausgeht. Bismarck, der wirkungsvoll im Rahmen einer anachronistischen, vorparlamentarischen Verfassungsordnung agieren kann, hat darüber hinaus die „Sozialreform“ auf eine in Kreisen der Industrie bereits vorgedachte „Versicherungslösung“ der „sozialen Frage“ eingeengt. In durchaus nicht „totaler“ Übereinstimmung mit den einflußreichen Vertretern des Großbürgertums hat er sie in zentralen tragfähigen Prinzipien auch geprägt. Der öffentlich-rechtliche Charakter der Arbeiterversicherung und der ausgedehnte Versicherungszwang gehören in diesen Zusammenhang. Gerade diese Prinzipien sind Ausdruck seines staatspolitischen Denkens. Darüber hinaus trägt er persönlich entscheidend zur Legitimierung der Arbeiterversicherung bei, indem er ein beeindruckendes „staatssozialistisches“ Vokabular entwickelt, benutzt und
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verbreitet. Schließlich weist die Behauptung, die Arbeiterversicherung sei die ursprünglich beabsichtigte „soziale Seite“ des Repressionskurses, ebenfalls in diese Richtung. Die Unfallproblematik in der Arbeitswelt, die Abwehr von sozialpolitischen Alternativen, die grundsätzliche Zustimmung entscheidender Teile des großindustriellen Bürgertums, Bismarcks eigene Anschauungen und Aktivitäten, seine Hinneigung zu industriellen Interessen, seine „staatspolitischen Spekulationen“, die sich in der Traditionslinie der frühsozialpolitischen Diskussion bewegen, sind es vor allem, die Deutschland eine Pionierrolle auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung „beschert“ haben. Die Adressaten selbst und ihre Organisationen, die Arbeiter und die Arbeiterbewegung haben auf diesen Prozeß der „Sozialstaatswerdung“ einen nur vermittelten Einfluß. Weder ist diese Form der Arbeiterpolitik ursprünglich von dieser Seite gefordert worden, noch haben sie einen gestaltenden Einfluß gewonnen. Auch die vielfache, regierungsamtlich vorgenommene Verknüpfung von Sozialistengesetz und „Sozialreform“ darf zu keinen falschen Schlußfolgerungen führen. Die Arbeitergesetzgebung der 1880er Jahre ist keine „Errungenschaft“ der Arbeiterbewegung. Sie hat auf das „Wie“, auf die Ausgestaltung beinahe keinen Einfluß. Der kritische, protestgeprägte Gehalt ihrer Vorstöße, ihre Isolation im Reichstag, ihre „Verteufelung“ als Umsturzpartei bedingen geradezu, daß sozialdemokratische Anschauungen zunächst kaum Platz in der „Sozialreform“ finden. Anders zu beantworten ist die Frage nach dem Einfluß der Arbeiterbewegung auf das „Ob“ der Sozialpolitik. Die Arbeiterbewegung signalisiert durch ihre Existenz und ihr Wachstum, durch die von ihr ausgehende Agitation und durch ihre tendenziell wachsenden Wahlerfolge einen erheblichen Legitimationsbedarf der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung. Die „radikale“ Arbeiterbewegung ist ein Indikator mangelnder Massenloyalität, fehlender emotionaler Staatsbindung und für kollektive Identitäten, die in Form des „proletarischen Internationalismus“ den Horizont des Nationalstaates übersteigen. Diese von den staatstragenden Kräften als unerwünscht und gefährlich qualifizierten Erscheinungen haben die staatliche Sozialpolitik durchaus befördert. Neben diesem „Druck“ der Arbeiterbewegung darf die allgemeine Situation der Umorientierung der Politik, darf die übrige sozialreformerische Bewegung und dürfen die sich verzweifelt wehrenden Opfer der „industriellen Pathologie“ nicht vergessen werden. Die fortdauernde Objektrolle der Arbeiter und der Arbeiterbewegung, eine Folge der „Feinderklärungen“ des Kaiserreichs, wird an der verbissenen „Nachhaltigkeit“ deutlich, mit der der Obrigkeitsstaat versucht, auch weiterhin ein „Einsickern“ der Kräfte und Ideen der Arbeiterbewegung in die Organe und in die Verwaltung der rasch wachsenden Institutionen der Arbeiterversicherung zu verhindern. Soweit „Arbeitermitwirkung“ vorgesehen ist, ist von herrschender Seite an den ordentlichen, den loyalen, den vereinzelten, immer auch kündbaren Arbeiter gedacht, bestenfalls an den, der in den nichtsozialdemokratischen Vereinen seine „Heimstatt“ gefunden hat. Eine reichsgesetzliche Ermächtigung oder Verpflichtung zur Entsendung von Vertretern von Arbeiterorganisationen, die neben der „Anerkennung“ auch eine Einbeziehung der Arbeiterbewegung beinhaltet hätte, ist „unvorstellbar“. Die Gewerkschaften gelten überwiegend als Faktoren der Verschärfung der „sozialen Frage“ und noch nicht als Mittel zur Lösung dieser „Frage“. „Kassenmitglieder“, „Handlungsgehilfen“, „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ sollen im Rahmen der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ in nicht immer paritätischer Besetzung an der Verwaltung und an der Rechtsprechung mitwirken. Den Verbänden von Arbeit und Kapital fehlt jedes Vorschlags- und Repräsentationsrecht. Sozialdemokraten vor allem sollen im Sozialstaat keinen Halt finden.
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Sie werden als Objekte nicht als Subjekte in der „politischen Rechnung“ geführt. Verfolgungsmaßnahmen, repressive Bestimmungen innerhalb und außerhalb der Sozialgesetzgebung unterstreichen diese Intention. Vorschriften, die in indirekter Form auf die Existenz der Verbände hinweisen oder die die Herrschaftsbefugnisse der Betriebsunternehmer etwas einschränken, wie z.B. in der Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891 oder im Hausarbeitsgesetz vom 20. Dezember 1911, geraten, je nach Standpunkt und Interesse, zu unerhörten Ärgernissen bzw. zu wahren „Juwelen“ der Sozialreform. Was an politisch-sozialem Emanzipations- und Gestaltungswillen in der industriellen Gesellschaft in Form der Arbeiterbewegung vorhanden ist, erhält so durch staatliche Gesetze keine Verbindlichkeit, keinen ausreichenden Spielraum, nicht einmal eine aus konservativem Interesse gespeiste Überformung und Gestalt. Bis zum Kriegsbeginn im August des Jahres 1914 kommt die staatliche Sozialgesetzgebung über den „Phantasiehorizont“ der Arbeiter- und Angestelltenversicherung, der Errichtung von Rechtsprechungs- und Konfliktschlichtungsorganen und des Arbeiterschutzes nicht hinaus. Zwar ist die Zeit extrem segregativer Herrschaftstechniken und extrem paternalistischer Sozialreformen mit dem Auslaufen des Sozialistengesetzes und dem Übergang der amtlichen Führung der Sozialpolitik von Otto von Bismarck auf den neuen Handels- und Gewerbeminister Hans Hermann Freiherr von Berlepsch und auf dessen Nachfolger überwunden, nicht jedoch eine Sozialpolitik erreicht, die in der Arbeiterbewegung (und zwar auch in der sozialdemokratischen) einen positiven „Faktor“ der Sozialordnung erkennt. Nicht nur die Repressionsmaßnahmen, sondern auch die herrschaftsstrategischen Absichten, die hinter den privilegierenden Sonderbestimmungen für Angestellte stehen zeigen, daß von einer Einordnung der Arbeiterbewegung in das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Gefüge bis ins Jahr 1914 keine Rede sein kann. Dabei sind die sozialpolitischen Interventionen nicht unbedeutend und auch die auf der Grundlage der Gewerbeordnung von 1891 endlich vorgenommen spürbaren Interventionen in die krankmachenden und lebensbedrohenden Zustände der Betriebe dürfen nicht „kleingeredet“ werden. Sie zeigen mit ihren Bestimmungen zum Schutz von Sondergruppen und zur Einrichtung des Betriebes allerdings auch, was insbesondere den männlichen „Normalarbeitern“ zur damaligen Zeit alles zugemutet wird. So wie die Sozialdemokratie bis zur Parlamentarisierung im Herbst 1918 von der personellen Beteiligung an der Regierung und von der Führung der Reichsgeschäfte ausgeschlossen ist, insbesondere auch bis 1914 eine Randstellung in einem nur begrenzt machtvollen Parlament einnimmt, mithin keine wirksamen Möglichkeiten der Beeinflussung der Regierungsbildung und Regierungskontrolle besitzt, fehlt den Gewerkschaften ein vorbehaltlos anerkannter und ausgestalteter Handlungsspielraum in der Wirtschaftsgesellschaft. Durch Zögern und Zaudern, Halbheiten und Versäumnisse, Rückfälle in Reaktion und Stagnation, durch ein tief verwurzeltes Mißtrauen gegen die Arbeiterbewegung werden die gesellschaftlichen Spannungen, die von der „Arbeiterfrage“ ausgehen, nicht produktiv gelöst. Die Politik „minderen Rechts“ wird ebensowenig aufgegeben, wie die mißtrauische Beobachtung der eigenständig-freien, vorstaatlich organisierten „Selbsthilfe“. Die Arbeiterkoalitionen werden beschränkt, überwacht, bedrängt, die ihnen zustehenden Rechte werden eingeschränkt und verkürzt. „Vorwärtsweisende“ Staatsaktivitäten bleiben die Ausnahme. Entsprechend heftig artikuliert sich die Kritik gegen diese Politik. Mit Hilfe lediglich des allgemeinen Reichstagswahlrechts, der arg beschnittenen Koalitionsfreiheit, einer Arbeiterversicherung, die den Weg aus der diskriminierenden Armenpflege zunächst mehr andeutet, als wirklich eröffnet, mit Hilfe der Anfänge des Arbeiterschutzes und bestimmter Instituti-
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onen der Konfliktschlichtung, lassen sich die Konturen der Klassengesellschaft und läßt sich das Bild des Obrigkeitsstaates nicht so „modeln“, daß Entfremdung und Desintegration der „Volksklassen“ untereinander und daß die „Distanz“ der Massen zum Staat angesichts der imperialistischen Staatenkonkurrenz und der Möglichkeit des „großen Krieges“ allgemein als „hinreichend überwunden“ angesehen werden. Es ist vor dem Hintergrund der verbreiteten Auffassung von der Unvermeidbarkeit eines Krieges vor allem der explizit „weltpolitisch“ orientierte Flügel der „bürgerlichen Sozialreform“, der darauf drängt, vorwärtsweisende Wege der „Anerkennung“ der Arbeiterbewegung, der Konfliktvermeidung, der Streikbeilegung und der Bindung der Konfliktparteien zügig zu beschreiten. Der „moderne“, durch die „Massenkräfte“ geprägte Krieg bedarf nach dieser Meinung einer tatsächlich integrierenden und nationalisierende Sozialpolitik. Für die Fortentwicklung des Projekts der staatlichen Sozialpolitik, einer Politik, die sich auch im Krieg und gegen Ende 1918 als extrem vergangenheitsbestimmt erweist, die ständig „zurückblickt“ und das, was war sichert, ausbaut und gestaltet und insoweit mit der Gesetzmäßigkeit eines determinierten Systems voranschreitet, werden einige Entwicklungen entscheidend, die jenseits der Agenda der Staatspolitik stattfinden. Die Gewerkschaftspraxis führt seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur praktischen Ausbildung des Tarifvertrags und damit zu einer vorstaatlichen, produktiven Bewältigung des Klassenwiderspruchs. Durch Verhandlung und Vertragsabschluß zwischen Arbeitervereinigungen und Unternehmern bzw. Arbeitgeberverbänden entstehen in bestimmten Wirtschaftsbereichen auf dem Boden der „Gleichberechtigung“ und des (Kollektiv-)Vertrags Formen der Selbstverwaltung der Arbeit, die das Gebiet der Arbeitsverhältnisse in allen seinen Verzweigungen umfassen und der verbindlichen Ordnung durch Tarifverträge unterwerfen. Im Verlaufe dieser Entwicklung reifen im bürgerlich-sozialreformerischen Milieu Auffassungen und werden Beobachtungen gemacht, die von großer Tragweite sind. Die Gewerkschaften werden als legitime Schutzverbände und Kontrollorgane über die Arbeiter qualifiziert. Die Arbeitskämpfe werden mit Blick auf ihre regulierende Funktion gewertet. Diese Auffassungen erstrecken sich bald auch auf die Freien Gewerkschaften, bei denen man beobachtet, wie erfolgreiche, kontinuierliche Tarifarbeit den „Radikalismus“ verblassen läßt. Die Vertreter der „bürgerlichen Sozialreform“ erkennen, wie diese in Raum und Zeit des Kapitalismus wachsenden, von seinem Krisen- und Wachstumsprozeß geprägten Organisationen, im Kapitalismus ihren Daseinsgrund und ihre Funktion gefunden haben und typischerweise nicht mehr über ihn hinausstreben. Sie sehen gerade die Freien Gewerkschaften als „Kartelle“ an, die in Kritik und in einem Spannungsverhältnis zu ihrer Existenzgrundlage stehen, nicht mehr jedoch in „Todfeindschaft“. Sie befürworten die Veränderungen in den Lohn- und Arbeitsbedingungen, die von ihnen durchgesetzt werden. Sie, die Kräfte der Arbeiterbewegung, gelten als Faktoren des Wandels und als Mitträger der gegebenen Wirtschafts- und Sozialordnung mit einem Interesse an wirtschaftlicher Prosperität, der eigentlichen Erfolgsgrundlage ihrer Bestrebungen. Im Gegensatz zu radikalen Kräften in der Sozialdemokratie werden die Gewerkschaften aller Richtungen als „vernünftiger“ Teil der Arbeiterbewegung begriffen. Die Tendenz zur Ausbildung institutionell gebundener Verfahren zur Konfliktvermeidung, Konfliktbeherrschung und Konfliktrationalisierung, zur Konsens- und Kompromißfindung, zur Disziplinierung der Arbeiter, zur Vereinbarung geregelter Abläufe, in die die ungefesselte Gewalt wirtschaftlich-sozialer Kämpfe eingebunden wird, wird positiv gewertet. Derartige Konflikte werden als Lebens- und Entwicklungsprinzip der „modernen“ Gesellschaft und als legitimes Mittel der Besserung der Ar-
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beits- und Daseinsbedingungen, als Form der Regelung der Lohnfrage begriffen. Dieser Standpunkt beinhaltet die strikte Ablehnung aller unversöhnlichen Klassenkämpfe und politischen Streiks. Vernünftige, berechenbare, unpolitisch und professionell handelnde, den Konflikt zweckrational handhabende, von wirtschaftlicher Vernunft geleitete, tariftreue, gegen die Mitglieder durchsetzungsfähige Gewerkschaftsführer, die Erreichung sozialer Stabilität durch kommunikative Verfahren, Strategien zur Vermeidung spektakulärer Massenkämpfe verschmelzen zu einem vielgestaltigen sozialreformerischen Konzept. Von dieser „Plattform“ aus argumentieren die Kräfte der „bürgerlichen Sozialreform“ gegen die in der Staatspraxis des Kaiserreichs vorherrschende „Dummheit“ der Repressionspolitik, die lediglich zu einer Radikalisierung der Arbeiterbewegung führen würde. Sie fordern eine Legalisierung der Gewerkschaftstätigkeit und der prinzipiell unvermeidbaren Konflikte um der Radikalität Abbruch zu tun. Die Eckpfeiler dieses „Konzepts“, das vor dem Weltkrieg zunehmend ausgebaut und detailliert wird, lauten: Staatliche Anerkennung und Regulierung des Tarifvertragsgeschehens, Übertragung der Konfliktorganisation und Konfliktkontrolle an die Koalitionen und Zurücknahme der repressiven Staatstätigkeit auf diesem Gebiet; Einbeziehung der Funktionäre der Arbeiterbewegung in eine Vielzahl von schlichtenden und richtenden Institutionen und dadurch: Förderung der Stabilität, der Antizipier- und Berechenbarkeit der Gesellschaftsverhältnisse, Umwandlung der „rohen“ Klassenverhältnisse in geordnete und zivile. Solche Auffassungen richten sich einmal gegen den wirtschaftsliberalen Standpunkt, der die Gewerkschaften im Rahmen einer individualistischen Ordnung und Wirtschaftsmechanik nur als „Störfaktoren“ begreifen will. Sie sind eine Zumutung an den absoluten „Herr-im-Hause-Standpunkt“ bzw. an „betriebsfeudale“ oder „betriebsmilitaristische“ Auffassungen, die die Gewerkschaften als „unverantwortliche Instanz“, als „Zumutung“ oder zu vernichtende Feinde ansehen, die das „unveräußerliche Recht des Capitals“ betonen, mit der Arbeit „nach Belieben“ zu verfahren, die den Tarifvertrag als undurchführbar und höchst schädlich qualifizieren und am Ordnungsbild des „freien, individuellen Arbeitsvertrags“ festhalten. Die Anschauungen bürgerlich-sozialreformerischer Kreise sind auch eine Herausforderung an den „doktrinären Klassenkampfstandpunkt“, für dessen „Verblassen“ der Tarifvertrag geradezu einen Indikator darstellt. Insgesamt ist von der „bürgerlichen Sozialreform“ der in weiten Kreisen des Kaiserreichs „unerhörte“ Standpunkt eingenommen, daß die Gewerkschaften Institutionen der Integration, nicht der Klassenspaltung sind, daß sie der evolutionären, nicht der revolutionären Ungestaltung dienen, daß sie, bei geeigneter juristischer „Umzäunung“ und Überformung, geeignet sind, den stabilitätserzeugenden Mechanismus von Kontinuität und Wandel in den Entlohnungs-, Arbeits- und Lebensbedingungen angemessen zu „bedienen“. Diese insbesondere in der „Gesellschaft für Soziale Reform“ diskutierten Formen einer „praktischen Arbeiterpolitik“ gegen „socialdemokratische Zukunftsphantasien“, die die „vernünftige“, die „gemauserte“ Arbeiterbewegung, d.h. auch die Freien Gewerkschaften, als unersetzlich für das Funktionieren der Gesellschaft ansehen, hätten die umfassende Aufgabe autoritärer Betriebsordnungsansätze und -praktiken ebenso verlangt, wie eine direkte gesetzliche Anerkennung des Geltungs- und Gestaltungsdranges der Arbeiterbewegung. Ein solcher „dritter Schritt“ der Sozialreform nach der Arbeiterversicherung und dem Arbeitsschutz erweist sich vor dem Hintergrund des Einflusses schwerindustrieller Interessen auch in den liberaleren Phasen der Innenpolitik vor 1914 als nicht durchsetzbar. Nach der Verabschiedung der Reichsversicherungsordnung droht sogar ein regelrechter „Still-
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stand“ der Sozialpolitik. Die Vorkriegszeit, die Februarerlasse des Jahres 1890 bilden einen markanten Höhe- und Ankerpunkt, bleibt eine Inkubationszeit einer „versöhnenden Sozialreform,“ die Phase der Anwendung und Nutzbarmachung dieser Anschauungen der „deutschen Wissenschaft“ soll erst noch kommen. Schon in der Vorkriegszeit verbindet sich mit dieser sozialpolitischen Programmatik, die einen Zukunfts- und Möglichkeitsspielraum ausleuchtet, auf der Seite der bürgerlichsozialreformerischen Kräfte eine attraktive Anerkennungs-, Gleichheits- und Selbsthilfeprogrammatik, die mit ihrer „koalitionsfreundlichen Tendenz“, mit ihrer Stoßrichtung gegen den „Betriebsfeudalismus“, gegen das Gewerkschaften nicht kennende Herrenrecht des Betriebsunternehmers bzw. seines Agenten gegenüber „seinen Arbeitern“, auch in den Gewerkschaften als „reizvoll“ erscheint. Der freigewerkschaftliche Reformismus (von dem Reformismus der anderen Gewerkschaftsrichtungen ganz zu schweigen) und die im Prinzip „sozialliberale“ Sozialreform erweisen sich als zwei ineinander verzahnte und sich aufeinander zu bewegende Strömungen. Geradezu bildhaft dokumentiert sich das an der Anteilnahme der Arbeiterbewegung an der „Gesellschaft für Soziale Reform“. Für die nichtsozialdemokratischen Richtungsgewerkschaften ist die Beziehung von vornherein unproblematisch. Sie sind bereits lange vor 1914 Mitglieder dieser Vereinigung. Das Bemühen der „Gesellschaft für Soziale Reform“ um die beiden „Partner“ des angestrebten und im vorstaatlichen Raum teilweise schon verwirklichten Gebäudes einer gleichberechtigten Gestaltung der Arbeitswelt führt dazu, daß die Freien Gewerkschaften zunächst durch prominente Einzelmitglieder „vertreten“ werden und ab 1916 auch als Organisation Mitglied in dieser Gesellschaft sind. Neben diesen Anschauungen und Aktivitäten der „bürgerlichen Sozialreform“ gehört das Entstehen von Kontakten zwischen den Führern der Arbeiterbewegung und verantwortlichen Leitern der Reichspolitik im Gefolge von Verhandlungen über die Vorkriegssozialpolitik zu den Hauptbedingungen der sozialpolitischen Zukunftsentwicklung seit dem August 1914. Aus diesen Kontakten erwächst bei entscheidenden Leitern der Reichsadministration die nicht unumstrittene „Einsicht“ in die persönliche „Vernünftigkeit“ (auch) sozialdemokratischer Partei- und Gewerkschaftsführer und ein Bruch mit dem allzu schlichten „Freund-Feind-Denken“. Eng damit verwoben ist auch auf dieser Seite die übrigens nicht nur auf das Deutsche Reich beschränkte Einsicht, daß die Arbeiterführer nicht überwiegend lediglich „Diener“ radikaler und von ihnen radikalisierter „Massen“ sind, sondern in weitem Umfang auch ihre „Beherrscher“. Diese von Robert Michels in seiner Soziologie des Parteiwesens entfaltete „Mechanik“, die zu einer Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden führt, wird ergänzt um die Einsicht, daß man im Innern nicht fortlaufend die bedrücken könne, deren Mitwirkung für eine „freie und starke Politik nach außen“ (E. Francke) unerläßlich sei. Zu Kriegsbeginn erwächst hieraus die (umstrittene) Praxis, daß man sich der Gewerkschaftsbürokratie als Ordnungsmacht bedient, als Mittel der „Regierbarmachung“ der arbeitenden „Massen“ im Kriege. Es sind geradezu die Versäumnisse der Reichssozialpolitik vor 1914, die nunmehr einen „abrupten“ Kurswechsel erzwingen. Es entsteht auch die Einsicht, daß man einer solchen Ordnungsmacht nicht die Anerkennung verweigern und die Erfüllung aller Forderungen abschlagen könne. Während der Zeit, in der sich der Krieg als großer „Einheitsbildner“ der Nation erweist, in der die Klassengesellschaft vordergründig zur „Gemeinschaft“ wird, in der der chauvinistische Appell, der aufwallende Nationalismus,
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die Formel vom „gerechten Verteidigungskrieg“ ihre Wirkung entfalten, bleibt die „Zuwendung des Staates“ zaudernd und unfroh, die Anerkennung verharrt auf der Ebene des „Schmeichlerischen“, des jederzeit Widerrufbaren. Die staatliche Sozialpolitik wird auf die „kleinen Mittel“ beschränkt. Als sich die Bereitschaft zur gläubigen, geduldigen und widerspruchslosen Hinnahme der Kriegslasten zunehmend verflüchtigt und sich allgemein und besonders in bestimmten Branchen und Betrieben die Festigung der Gehorsamsdisposition und Arbeitsmotivation als „Problem“ herausstellt, erleben die Gewerkschaften eine bedeutende Aufwertung. Die schon im Rahmen der Diskussion um den Zusammenhang von Arbeiterfrage, Sozialreform und „Weltpolitik“ formulierte Dialektik von innerer Schwäche und Erobertwerden bzw. innerer Stärke und Geschlossenheit und erfolgreicher Kriegführung wird handlungsleitend. Dazu, daß dieser Kausalnexus zwischen Pazifizierungsfunktion des Staates nach innen und Krieg nach außen nicht zerbricht, trägt die Angst vor einem „Umsturz“, die Furcht, die Arbeiterbewegung in eine durchgängige, radikale, klassenkämpferische Antikriegspolitik zu treiben und die „Erfolgsunsicherheit“ einer gegebenenfalls gewaltförmig zu bewerkstelligenden „Handhabung“ und „Motivierung“ der „Massen“ bei. Darüber hinaus ist bekannt, daß ein gewaltsames Vorgehen Kräfte im Inneren binden würde, die im „großen Völkerringen“ fehlen würden. Es sind schließlich die Arbeiterführer selbst, die auf eine sozial- und verfassungspolitische Honorierung ihrer Kriegsunterstützung drängen. Sie hoffen, auf diese Weise aus ihrer jahrzehntelangen politischen „Pariastellung“ ausbrechen zu können. Mit der besonderen politischen „Mechanik“ des Kriegsstaates offensichtlich schon bald durchaus vertraut, benutzen diese gern den Hinweis, daß sie bei Nichterfüllung ihrer Forderungen in Gefahr geraten würden, ihren unentbehrlichen Einfluß auf die noch ruhigen bzw. schon bedenklich „unruhigen“ Arbeitermassen zu verlieren. Auf diese Weise entsteht die nur scheinbar paradoxe Situation, daß die „Instanzen“ der Arbeiterkoalitionen, obwohl die Organisationen selbst durch Einberufungen und durch kriegsrechtliche Vorschriften geschwächt sind, zu bedeutenden Faktoren der Kriegswirtschaft aufsteigen. Die „Gesellschaft für Soziale Reform“, vor dem Krieg als außerparlamentarisches Kontaktzentrum und unverbindliche Diskussionsplattform angesichts des reaktionären Blocks von Schwerindustrie und Junkertum auf gewisse Randgruppen der herrschenden Klassen als Ansprechpartner verwiesen, kann nun Einfluß auf die „militärische Sozialpolitik“ gewinnen. Um die Leiter der Arbeiterorganisationen als Funktionsträger mit Masseneinfluß nicht zu verlieren, um die unter dem Signum der unbedingten Sicherstellung der kriegswirtschaftlichen und militärischen Effizienz notwendige innere Geschlossenheit und um den „patriotischen Durchhaltewillen“ zu erhalten, werden Strategien einer explizit „entgegenkommenden“, beteiligenden und „anerkennenden“ Militär- und Staatspolitik gegenüber dem Reformismus praktiziert. Diese Politik bewegt sich, schon weil im Krieg die Mittel einer „hebenden“ und „schützenden“ Sozialpolitik, wegen der Verknappung der Zivilproduktion und der angestrebten „totalen“ Ausschöpfung der Arbeitskraft, weitgehend fehlen bzw. ihre Anwendung inopportun ist, auf der Linie der noch nicht betretenen Pfade der „bürgerlichen Sozialreform“. Hinzu kommt, daß die anerkennende, „gleichberechtigende“ und beteiligende Politik jene Strategie ist, die die Führer der „Massenkräfte“ am stärksten zu binden geeignet ist, kam doch alle bisherige Sozialpolitik ohne die organisierte Arbeiterbewegung aus und wollte sie diese in empörender Weise nach Möglichkeit sogar schädigen und vom Sozialstaat getrennt halten. Im Lichte der staatlichen und militärischen Sozialpolitik der Kriegszeit hingegen zeichnet sich schon bald die Möglichkeit und Perspektive der staatlichen Übertragung einer „positiven“ gesellschaftspoliti-
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schen Funktion an die Gewerkschaften ab. So beginnt im Ersten Weltkrieg der Weg der „Gewerkschaftsanerkennung“, der „Befestigung“ der Gewerkschaften (und der Arbeitgeberverbände) durch sozialpolitische Vorschriften und Aktionen. Normsetzungen von Militärbehörden und insbesondere das Hilfsdienstgesetz vom 5. Dezember 1916 stehen für diese Entwicklung. Das Ende der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ beginnt bereits im Krieg. Umrisse einer „demokratischen Sozialpolitik“, einer gegen „Zersetzungserscheinungen“ und revolutionäre Entwicklungen gerichteten Verbändebeteiligung werden bereits zu dieser Zeit praktiziert. Da diese neue staatliche Strategie nicht unumstritten ist, entfaltet sich mitten im Krieg ein Prinzipienstreit um diesen Anfang einer „versöhnenden Sozialreform“. Die Kriegszeit beinhaltet gleichzeitig auch einen Entscheidungskampf zwischen zwei verschiedenen Staats- und Verfassungsstrukturen, eine Auseinandersetzung um den alten „von oben“ legitimierten preußisch-deutschen Machtstaat und den „von unten“ zu legitimierenden „Volksstaat“. Während sich der Machtstaat mit dem ganzen Gewicht seiner Verfechter und Traditionen bis in den Herbst des Jahres 1918 gegen Parlamentarismus und Demokratie sträubt, bedingen die in der Kriegsgesellschaft wirksamen Kräfte vor dem Hintergrund kriegsspezifischer Erfordernisse und ebensolcher Gefährdungen des Herrschaftssystems wenigstens einen Anfang „anerkennender“ Arbeiterpolitik. Insoweit werden auf dem Gebiet der Kriegswirtschaft nicht nur „rein technisch zweckmäßige Lösungen“ von Problemen gesucht, sondern es geht dabei immer auch um eine Präformation der sozialpolitischen Nachkriegsordnung. So hat der militärische und politische Druck von außen die „Plastizität“ der Verhältnisse im Innern gefördert. Damit ist der Krieg nicht nur Ausdruck der Stufe der gesellschaftlichen Evolution, sondern er beeinflußt diese auch in erheblichem Umfang. Frei wird der Weg zur „industriellen“ und „politischen Demokratie“, zur weitgehenden Öffnung des politischen und industriellen Systems für die „Massenkräfte“, zu einer spezifischen Gleichberechtigung in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht erst als Folge der Katastrophe der menschenverachtenden auswärtigen, der militärischen Politik. Der in eine extreme Abhängigkeit von seinen „ökonomischen Potenzen“ und damit auch von der Arbeiterbewegung geratene kaiserliche Obrigkeitsstaat, sieht sich um den Preis der (dann doch nicht gelingenden) Selbsterhaltung gezwungen, den Niedergang einer sozialpolitischen Ordnung zu ermöglichen, zu erdulden bzw. herbeizuführen, deren gar nicht so geheimer Zweck es war, die Arbeiterbewegung zu bedrängen, sie vom Sozialstaat fern zu halten, den unternehmerischen Machtanspruch jedoch zu festigen. Von dieser Basis aus strebt die staatliche Sozialpolitik einer neuen Entwicklungsetappe entgegen. Der Zugewinn an menschlicher Würde und realer Freiheit, der durch staatliche Sozialppolitik im Kapitalismus durch die Modifizierung seiner „reinen“ Form prinzipiell möglich ist, kann jedoch während des Krieges nicht erzielt werden. Er ist an die Abwesenheit des Krieges und an das reibungslose Funktionieren dieser Wirtschaftsform sowie an andere Faktoren gebunden, Bedingungen, die allesamt fehlen. Der Strukturwandel der Sozialpolitik verbindet sich bereits im Kriege nicht mit „Sorgenfreiheit“, mit Prosperität und „Wohlstand“. Tote und Verstümmelte des Krieges, Hunger und Armut vermehren das Leid in unvergleichlichem Ausmaß. Höchste Not und ihre Begleiter wie Wucher, Inflation, Schwarzmarkt und Kriegsgewinnlertum treiben bereits im Kriege archaische Formen der Gegenwehr und Existenzsicherung hervor. Auf alle diese „Fragen“ kennt die auf „Normalzustände“ hin entwickelte staatliche Sozialpolitik keine Antworten. Schließlich, nachdem die militärische Niederlage bereits unabwendbar geworden ist, wird der Leidensdruck an
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Rückblick und Ausdeutung
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den Fronten und in der Heimat unerträglich und entlädt sich in einer gegen den Krieg und das politische System gerichteten revolutionären Bewegung. Die bis zu diesem Punkt fortgeführte Darstellung und theoretische Analyse der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik, die von relativ einfachen begrifflichen Bestimmungen und Thesen ausgegangen ist, zeigt, daß eine der ganz großen Tendenzen der Geschichte, daß die Herausbildung dieses Politikbereichs von einem äußerst komplexen Bedingungsgefüge abhängt. Die Ergebnisse schon dieses ersten Bandes zur deutschen Sozialstaatsgeschichte gehen nicht in einigen geläufigen „Großthesen“ und monokausalen Erklärungsmustern auf. Dennoch haben sich die Ansätze, die die staatliche Sozialpolitik als Herrschaftsinstrument interpretieren und die davon ausgehen, daß sie eine Reaktion auf „von unten“ ausgehenden „Druck“ sei, in spezifischer Form „bewährt“. Als zunächst „inhaltleere“ und „einseitige“ Ansätze, sind sie am historischen Material erprobt, relativiert, differenziert und um andere Sichtweisen ergänzt worden. Nicht nur Staatsinteressen, sondern auch Interessen des Unternehmertums, der abhängig Beschäftigten, der Arbeiterbewegung sowie zahlreicher anderer Akteure sind berührt und werden in Abhängigkeit von der Ausgestaltung der Maßnahmen gefördert oder auch verletzt. Es scheint geradezu eine „Erfolgsvoraussetzung“ sozialpolitischer Projekte der Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu sein, daß sie vielerlei Interessen berühren und mehr als eine Funktion haben. Die mit dem „Druck-Reaktions-Muster“ vor allen Dingen in älteren Darstellungen einhergehende große, heroische Erzählung von der einen, der leidenden, der kämpfenden und zielbewußten Klasse, die sich, indem sie staatliche Sozialpolitik erzwingt, unbeirrt ihr Lebensrecht im Kapitalismus und gegen den Kapitalismus erkämpft, konnte nicht bestätigt werden. Der herrschaftstheoretische bzw. politikwissenschaftliche Ansatz hat den Blick eher auf andere Akteure gelenkt, ohne daß der Druck „von unten“ nicht hinreichend in die Betrachtung einbezogen worden wäre. Der weitere Gang der Darstellung und Analyse der Geschichte der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland illustriert die erwähnten Theorieansätze mit neuem Material und macht weitere „Anbauten“ am Gebäude einer historischen Theorie der staatlichen Sozialpolitik unumgänglich.
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Rückblick und Ausdeutung
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8 Abkürzungsverzeichnis
a.a.O. Abt. ADAV ALR Anm. A.Z.(S) BA Abt. Potsdam BayHStA Bde. Bearb. B 5(S) Bl. CDI DDR DMA Dok. f., ff. GStA Abt. Merseburg HDG Hg., hrsg. HSTADdf. i. e. IfG IVG KVG MG MS MSPD NL Nr., No. NS NSDAP Rep.
am angegebenen Ort Abteilung Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Anmerkung Abteilung für Zurückstellungswesen (Sichler) im Preußischen Kriegsministerium Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam Bayerisches Hauptstaatsarchiv Bände Bearbeiter Referat für die Zurückstellung Wehrpflichtiger bei der Fabriken-Abteilung des Preußischen Kriegsministeriums Blatt Centralverband Deutscher Industrieller Deutsche Demokratische Republik Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung (Demobilmachungsamt) Dokument die folgende(n) Seite(n) Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Abteilung Merseburg) Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst (Hilfsdienstgesetz) Herausgeber, herausgegeben Hauptstaatsarchiv Düsseldorf id est Institut für Gemeinwohl Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter (Invaliditätsversicherungsgesetz) Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (Krankenversicherungsgesetz) Metallgesellschaft Maschinenschrift Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Mehrheitspartei Nachlaß Nummer, Numero Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Repertorium
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362 RGBl. RS SAG Sp. STAMS u.a. unpag. USPD UVG VdESI vgl. WWA Dortmund
Abkürzungsverzeichnis Reichsgesetzblatt Rückseite Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft Spalte Staatsarchiv Münster und andere Unpaginiert Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Unfallversicherungsgesetz Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller vergleiche Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund
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Verzeichnis der archivalischen Quellen
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9 Quellen- und Literaturverzeichnis
9.1 Verzeichnis der archivalischen Quellen 1. Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam 39.01 Reichsarbeitsministerium Akten Nr. 1958, 1959, 1960, 1962, 1962/1, 2809, 2810, 3446, 9105, 9106 07.01 Reichskanzlei Akten Nr. 810, 2015, 2473, 2476 15.01 Reichsministerium des Innern Akten Nr. 1016, 1017, 1020, 1022, 1023, 1026, 1065, 1066, 1067, 6111 Nachlaß Naumann 90 Na 3, Nr. 53 2. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz,Merseburg Rep. 90a, Titel I1, Nr. 2, Abt. D., Band 268 Rep. 90a, Titel III 2b, Nr. 6, Abt. B., Band 163, 164, 165, 166. 3. Bayerisches Haupstaatsarchiv - Kriegsarchiv - München Mkr. 14029 4. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Regierung Kleve Akten Nr. 116, 390, 391, 392, 394, 395, 396, 399 ff. Regierung Aachen Akten Nr. 6595, 6640, 6790, 7937 Regierung Düsseldorf Akten Nr. 25095, 25098, 25203 5. Staatsarchiv Münster Oberpräsidium Akten Nr. 120, 2693 I, 3803 Regierung Arnsberg Akten Nr. 1582 ff. Regierung Münster Akte Nr. 1659 Kreis Iserlohn, Landratsamt Akten Nr. 636, 638 Kreis Tecklenburg, Landratsamt Akte Nr. 244 Kreis Warendorf, Landratsamt
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Akte Nr. 416 6. Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund N 7/36 K 1 (Handelskammer zu Dortmund) Akte Nr. 201 K 3 (Handelskammer zu Bielefeld) Akten Nr. 382, 503 7. Historisches Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG Mappe 152, Bündel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 Mappe 154, Bündel 2 Mappe 282, Bündel 1 9.2 Verzeichnis der Literatur1 9.2 Verzeichnis der Literatur Abel, Wilhelm: Massenarmut und Hungerkrise im vorindustriellen Deutschland. Göttingen 1972. Abel, Wilhelm: Der Pauperismus in Deutschland am Vorabend der industriellen Revolution. Hannover 1970. Abelshauser, Werner (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Stuttgart 1987. Abendroth, Wolfgang: Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie. Vierte, erweiterte Auflage. Köln 1978. Achinger, Hans: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Frankfurt a.M. 1971. Achten, Udo u.a. (Hg.): Recht auf Arbeit - eine politische Herausforderung. Neuwied und Darmstadt 1978. Adler, Georg: Die imperialistische Sozialpolitik - D’Israeli, Napoleon III., Bismarck - Eine Skizze. Tübingen 1887. Allgemeine Deutsche Biographie. Achtundzwanzigster Band. Neudruck der 1. Auflage von 1889. Berlin 1970. Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner. Göttingen 1963. Anton, Günter K.: Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung bis zu ihrer Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung. Berlin 1963 (erstmals: Leipzig 1891). Das Armenwesen nach allen seinen Richtungen als Staatsanstalt und als Privatwerk und seine dermalige Gestaltung in civilisierten Staaten in und außer Europa...Weimar 1837. Die Armuth und die Mittel ihr entgegen zu wirken. Leipzig 1844. Aron, Raymond: Clausewitz. Den Krieg denken. O.O., o.J. Astfalck, Cäsar: Die Besiegung der Sozialdemokratie durch Bethätigung des sozialen Empfindens. Erster Teil...Charlottenburg 1899. Aubin, Hermann, Zorn, Wolfgang (Hg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Stuttgart 1976. Bachem, Julius (Hg.): Staatslexikon. 3., neubearbeitete Auflage. 1. und 2. Band. Freiburg i. Br. 1908. 1 Da die Literaturangaben in den Fußnoten ungekürzt sind, bzw. über die Verweisungen problemlos nachvollzogen werden können, beschränkt sich dieses Verzeichnis auf Monographien und herausgegebene Werke. Die Titelangaben verzichten weitgehend auf Untertitel, Reihenangaben und sonstige Hinweise. Verzichtet wird darüber hinaus auf die Angabe der Zeitschriften- und Zeitungsbände, die in geringem Umfang in Bibliotheken bzw. im Institut für Zeitungsforschung (Dortmund) ausgewertet wurden. Gesetzessammlungen, Quellenbände und Dokumentensammlungen werden, gegebenenfalls unter dem Namen des bzw. der Bearbeiter, nur in den Fußnoten angemerkt. Auch Protokolle und stenographische Berichte werden hier nicht angeführt.
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Verzeichnis der Literatur
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Personenregister
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10 Personenregister Personenregister
Albert, Hans 15 Albrecht, Gerhard 15 Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum 27 Amonn, Alfred 17f. Baader, Franz Xaver von 72-74, 100, 106, 113, 122 Baare, Louis 191f., 194f., 350 Babeuf, François-Noël 29 Baden, Prinz Max von 341 Baier, Horst 15 Bamberger, Ludwig 200 Bauer, Gustav A. 330 Baur, Franz 81 Bebel, August 18, 159, 165, 169-171, 224 Berlepsch, Hans Hermann Freiherr von 250f., 255, 299, 306, 353 Bernhard, Ludwig 256, 276 Bernhardi, Friedrich von 273, 277 Bernstein, Eduard 20 Bethmann Hollweg, Theobald von 246, 257, 276, 284, 289, 311, 335f. Beust, Friedrich Ferdinand Graf von 174 Biedermann, Karl 112, 122 Bismarck, Otto von 23, 25, 139, 146, 161-166, 168, 172-178, 186-195, 198, 200f., 203, 206-209, 212f., 219f., 224, 228, 230-232, 234, 237240, 244, 250f., 255, 348f., 350-353 Blanc, Louis 29 Blume, Wilhelm Hermann von 272-274 Bodemer, Heinrich 97 Bödiker, Tonio 203 Boetticher, Karl Heinrich von 196f., 199, 215 Borght, Richard van der 17, 127 Borsig, Ernst von 318
Bortkiewicz, Ladislaus von 16f., 127 Bosch, Johannes van den 107 Bosse, Robert 196, 200, 213, 220f. Bosse, Rudolf Heinrich Bernhard von 114 Boyen, Hermann von 31 Brentano, Lujo 265, 280 Briefs, Götz 126, 345 Brodersen, Carl Wilhelm 98 Bülau, Friedrich 103, 106, 139 Bülow, Bernhard Fürst von 268 Buß, Franz Josef Ritter von 81, 83, 85, 90, 93, 103 Cabet, Étienne 75 Carnot, Marie Francois Sadi 258f. Clausewitz, Carl von 36, 270 Darwin, Charles 57 Delbrück, Clemens von 256, 288, 291f. 309 Disraeli, Benjamin 48 Dittmann, Wilhelm 330 Dittrich, Johann Joseph 110f., 114, 122f. Dix, Arthur 274 Dohna, Graf zu 119 Dühring, Eugen 164 Duncker, Franz 156, 167 Ebert, Friedrich 330, 341 Ehling, Manfred 22 Engels, Friedrich 29, 44, 69, 101, 130 Favres, Julius 174 Ferber, Christian von 20 Fermat, Pierre de 136 Fichte, Johann Gottlieb 65, 119 Fischer, Fritz 24 Fourier, Charles 29, 75
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382 Francke, Ernst 280, 299f., 306, 356 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich-Ungarn 284 Franz, Friedrich Christian 91 Fregier, Honoré Antoine 99 Friedrich III. 214 Friedrich Wilhelm III. 51 Friedrich Wilhelm IV. 52 Gall, Ludwig 84, 119 Gaum, Friedrich Wilhelm 95 Gayl, Egon Freiherr von 318 Geiger, Theodor 15, 267, 319 Gneisenau, August Graf Neidhardt von 31, 36 Groener, Wilhelm 325, 333, 335f. Grolmann, Karl von 31 Haenisch, Konrad 287 Härlin, Johann Gottfried Benjamin 97 Halle, Ernst von 279 Hansemann, David Justus Ludwig 156 Hardenberg, Carl August Freiherr von 27, 31, 51, 61 Harkort, Friedrich 96, 101, 115f., 144 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 65, 100, 102 Heimann, Eduard 19, 23, 228 Heinemann, Hugo 314 Helfferich, Karl 326 Hellpach, Willy 276 Herder, Johann Gottfried von 62, 66 Herkner, Heinrich 278, 282 Hermbstädt, Sigismund Friedrich 96 Hertel, Robert 193 Hertling, Graf Georg von 338 Heyde, Ludwig 16, 24, 32, 104, 127 Heydebrand und der Lase, Ernst von 310 Heydt, August Freiherr von der 143f., 145 Hindenburg, Paul von 324, 335, 337f. Hippodamos von Milet 29 Hirsch, Max 156, 167, 181 Hitze, Franz 215, 243 Hobsbawm, Eric 9, 11 Hofmann, J.G. 85
Personenregister Hofmann, Karl von 191-193 Horn, Heinrich Wilhelm von 51 Huber, Viktor Aimé 74f. Humboldt, Wilhelm von 62 Itzenplitz, Heinrich Graf von 146, 174176 Kalle, Fritz 178-180, 191 Kant, Immanuel 62 Karl der Große 124 Kessel, Gustav von 313 Kocka, Jürgen 25, 126, 335 Krug, Leopold 88, 117 Kuczynski, Jürgen 79 Landmann, Robert 214 Lasker, Eduard 168 Lassalle, Ferdinand 159-162 Lavergne-Péguilhen, Moritz von 123 Legien, Carl 267, 296, 301, 306, 330 Legrand, Daniel 239 Leipart, Theodor 297 Lengerke, Alexander von 124 Leroux, Pierre 29 Lesse, Theodor Wilhelm 169 Liebknecht, Wilhelm 159, 165, 169 Liedke, Gottlieb S. 95f. Loebell, Arthur Robert von 271, 273 Loebell, Friedrich Wilhelm von 290-292 Lohmann, Theodor 174, 176f., 180, 190196, 206-209, 213, 231, 250f. Ludendorff, Erich 311, 324, 335, 338 Lüttwitz, Freiherr von 89, 96 Luxemburg, Rosa 20, 334 Maier, J.M. 102 Malthus, Thomas Robert 57, 88 Marx, Karl 19, 28f., 44, 69, 86, 101, 130 Maximilian II. 79 Merton, Richard 329, 336 Merton, Wilhelm 240, 300, 330 Michaelis, Georg 336, 338 Michels, Robert 356 Moellendorff, Wichard von 330 Mohl, Robert von 68-70, 79, 85f., 91,
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Personenregister 103, 110-114, 253 Moltke, Helmuth Graf von 189 Müller, Adam 65 Napoleon I. 29f., 35 Napoleon III. 163, 170 Naumann, Friedrich 278, 280 Neumann, Franz L. 348 Nietzsche, Friedrich 282 Owen, Robert 29, 75, 125, 239 Pascal, Blaise 136 Perthaler, Johann Alois 113f., 253 Phaleas von Chalcedon 29 Platon 29 Posadowsky-Wehner, Arthur Graf von 259, 275 Pribram, Karl 23, 63 Proudhon, Pierre-Joseph 29 Rathgen, Karl Theodor 279 Reden, Freiherr von 86, 110, 117 Reichensperger, Peter 144 Richter, Eugen 195, 208 Riehl, Wilhelm Heinrich von 62, 79 Rodbertus, Johann Karl 70-72, 85, 114 Saint-Simon, Graf Claude-Henri de Rouvroy de 29 Scharnhorst, Gerhard von 31 Scheler, Max 276 Scheüch, Heinrich 336, 338 Schippel, Max 184 Schlicke, Alexander 330 Schmidt, Friedrich 84 Schmidt, Robert 312 Schmoller, Gustav 178, 254, 256, 265 Schneer, Alexander 124 Schnell, Karl Ferdinand 96, 114 Schönberg, Gustav 239, 339 Schreiber, Wilfrid 15 Schulze-Delitzsch, Hermann 159, 161f., 167-169 Sering, Max 330 Sichler, Richard 315, 329
383 Singer, Paul 212 Simonde de Sismondi, Jean Charles Leȩnard 239 Smith, Adam 103 Sohm, Rudolf 17 Sombart, Werner 30, 46f., 271 Stein, Hermann von 335 Stein, Karl Freiherr vom und zum 31 Stein, Lorenz von 66-68, 79, 101, 125, 128, 230 Stolberg-Wernigerode, Otto Graf zu 189 Stromeyer, Franz 119 Stumm-Halberg, Carl Ferdinand Freiherr von 166, 169, 190f., 195, 213, 243f., 255 Südekum, Albert 295 Thimme, Friedrich 296 Tiburtius, Joachim 315, 329 Tönnies, Ferdinand 129 Treitschke, Heinrich von 189 Trimborn, Carl 243 Tzschirner, Heinrich G. 102 Veritas, Vincenz 112 Villeneuve-Bargemont, Jean Paul Alban de 91 Vollmar, Georg von 199 Wagener, Hermann 162f., 166, 175-177, 265 Wagner, Adolf 239 Wahnschaffe, Arnold 302 Wandel, Franz Gustav von 317, 320 Weber, Max 12, 135, 238, 278 Weddigen, Walter 15f. Wehler, Hans-Ulrich 42f. Weinhold, Carl August 106 Weisser, Gerhard 15 Wichern, Johann Hinrich 74-76, 92 Wiese, Leopold von 17 Wilhelm I. 159, 162, 186, 214 Wilhelm II. 214f., 238f., 336, 341, 351 Winterstein, Helmut 15 Woedtke, Erich von 213f. Wohlwill, Immanuel 113
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384
Personenregister
Zacher, Georg 226 Zimmermann, Waldemar 306 Zitelmann, Karl Ludwig 163 Zwiedineck-Südenhorst, Otto von 17
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