ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten
Nr. 109 (117)
Die Stadt der Marionetten von H. G. Ewers
Auf den Stützpun...
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ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten
Nr. 109 (117)
Die Stadt der Marionetten von H. G. Ewers
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Mitte Oktober des Jahres 2842 – eines Jahres, dessen erste Hälfte recht turbulent verlief, wie die vorangegangenen Ereignisse eindeutig bewiesen. Jetzt herrscht in der Galaxis relative Ruhe. Der Aufbau des Solaren Imperiums geht kontinuierlich voran. Es gibt im Augenblick weder im Bereich des Inneren noch im Bereich des Äußeren Schwierigkeiten von Bedeutung. Kein Wunder daher, daß Perry Rhodan, der Großadministrator, Staatsgeschäfte Staatsgeschäfte sein läßt und zusammen mit seiner Frau Mory Abro, der Regierungschefin von Plophos, zu einer Expedition in ein weit entferntes Sonnensystem aufgebrochen ist. Dabei wäre, wie es sich plötzlich herausstellt, die Anwesenheit des Großadministrators und seiner Frau auf Plophos dringend erforderlich! Denn Plophos, das zu einem Transplantationszentrum ersten Ranges geworden ist, erlebt eine Invasion ganz besonderer Art. Doch die Spezialisten der USO, die auf Plophos tätig wurden, sind der unbekannten Macht, die für die Vorgänge verantwortlich ist, bereits auf der Spur. Mit dem Zirkusraumschiff, auf das sie sich einschmuggelten, erreichen »Pa« Folus und »Opa« Tanza die Welt des Mächtigen und betreten DIE STADT DER MARIONETTEN ...
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ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten
Die Hauptpersonen des Romans: Stuckey Folus und Thow Tanza – Die USO-Spezialisten betreten die Welt des Mächtigen und zahlen den Preis für die Freiheit. Gatchub und Torrik – Besatzungsmitglieder des Zirkusraumers COMOTOOMO. Toktar – Direktor des medizinischen Zentrums von Sverkon. Der Mächtige – Er spricht aus den Menschen von Sverkon.
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ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Stuckey vorwurfsvoll. »Mußte ich doch«, verteidigte sich Tanza. »Sonst hätte man mich gesehen.« »Früher hattest du eine recht brauchbare Spürnase, Opa«, meinte Stuckey. »Die habe ich auch jetzt noch«, erklärte Thow. »Aber seit wir bei den Viechern wohnen, trage ich Wattepfropfen in den Nasenlöchern. Anders halte ich den Gestank nicht aus.« Stuckey Folus dachte daran, daß er selbst Nasenpfropfen trug, und wechselte das Thema. »Gehen wir weiter oder warten wir, bis der Arzt und seine Assistentin wieder verschwunden sind?« überlegte er laut. »Ich denke, wir können es riskieren, weiterzugehen.« Er drängte sich an seinem Gefährten vorüber und huschte lautlos zum nächsten Antigravschacht. Dort steckte er den Kopf in die Öffnung und lauschte. Stuckey Folus war das Oberhaupt der »Familie«, wie die aus ihm, Thow Tanza und »Ma« Nancy Chessare bestehende USOSpezialistengruppe intern genannt wurde. Er und Thow Tanza waren nicht nur körperlich sehr verschieden, sondern auch psychisch. Während Stuckey – sein Alter betrug übrigens dreiundvierzig Jahre – 1,80 Meter groß, hager und schmächtig war, maß Thow nur 1,58 Meter, war breit und knochig gebaut und sehr muskulös. Trotz seines Alters von einundneunzig Jahren verfügte er noch über Bärenkräfte. Stuckey Folus war trotz seines hohen Intelligenzquotienten ein äußerst sensibler Mensch, der sich durch schüchternes Benehmen manchmal beinahe der Lächerlichkeit preisgab. Thow Tanza dagegen war aggressiv, unhöflich und nahm selten ein Blatt vor den Mund. »Nichts zu hören«, sagte Stuckey, nachdem er eine Weile in den schwach beleuchteten Antigravschacht gehorcht hatte. »Wenn du mit deinen ›Sonnensegeln‹ nichts hörst, dann muß der Schacht leer sein«, bemerkte Thow, auf die großen abstehenden Ohren Stuckeys anspielend. Stuckey merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Seine Ohren brannten. Seit seiner frühesten Kindheit wurde er wegen seiner
1. Thow Tanza blieb so plötzlich stehen, daß Stuckey Folus, der dicht hinter ihm ging, nicht mehr rechtzeitig stoppen konnte und gegen seinen Rücken prallte. Thow streckte die Arme aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren dann fuhr er herum, funkelte Stuckey wütend an und legte den Zeigefinger der rechten Hand auf seine Lippen. Stuckey Folus war einen Schritt zurückgetreten. Er blickte seinen Gefährten fragend an, sagte aber nichts, da Thows Geste eindeutig war. Offenbar hatte Tanza jemanden bemerkt. Die beiden Männer wußten, daß sie sich vorsehen mußten, um nicht von der Restbesatzung des Zirkus-Raumschiffs COMOTOOMO entdeckt zu werden. In diesem Falle wären sie zu Opfern einer gnadenlosen Jagd geworden, denn sie waren unerwünscht an Bord. Der größte Teil der regulären Besatzung sowie der Artisten waren auf einer einsamen Welt gewaltsam von Bord gebracht worden. Darunter waren auch Stuckey Folus und Thow Tanza gewesen. Aber sie hatten sich noch vor dem Start heimlich wieder an Bord geschlichen und sich seitdem in leeren Tiergehegen verborgen. Wenn man sie fing, würde man ihnen nicht mehr glauben, daß sie sich auf Smogoon II nur aus Liebe zum Zirkus hatten anwerben lassen. Da die Irregulären inzwischen wußten, daß sich die USO mit ihren Machenschaften befaßte, kamen sie vielleicht sogar auf die Idee, es könnte sich bei den beiden Neuen um USO-Spezialisten handeln – was den Tatsachen entsprochen hätte. Daran dachte Stuckey Folus, während er seinen Gefährten beobachtete, der sich wieder umgewandt hatte und um die nächste Ecke spähte. Sekunden später war das dumpfe Zuschlagen eines Schottes zu hören. Thow Tanza atmete auf, wandte sich an Folus und sagte: »Glück gehabt, Pa. Es war der Tierarzt mit seiner Assistentin. Sie wollen offenbar nach dem kranken Lroc sehen. Aber beinahe hättest du uns verraten.« »Wenn du so abrupt anhältst!« entgegnete 4
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Thow grinste. »Da bin ich aber gespannt.« Stuckey zupfte sich an der Nase. »Ich habe mir gedacht, wenn wir schon nicht zu dem Fleisch können, dann sollten wir das Fleisch vielleicht zu uns kommen lassen.« Thow riß die Augen weit auf. »Das Gefrierfleisch ...?« »Natürlich in aufgetautem Zustand«, erwiderte Stuckey Folus ernsthaft. »Wir beide haben doch die Vorstellung auf Smogoon II gesehen, Opa. Kannst du dich noch an den Auftritt von Haki und Baki erinnern?« Thow pfiff leise. »Haki und Baki, die beiden sprechenden Königskiller-Babys! Ja, ich erinnere mich recht gut, welchen Eindruck sie auf mich machten. Alle Zuschauer glaubten, sie könnten wirklich sprechen.« »Das können sie ja auch«, sagte Stuckey. »Nur waren sie eben keine echten Königskiller-Babys, sondern hervorragend maskierte Zirkusleute, wie wir erfuhren, als wir zum Personal gehörten. Traust du dir zu, mit einer dieser Masken umzugehen, Opa?« Thow Tanza reckte sich. »Es gibt nichts, was Opa nicht kann!« verkündete er. Im nächsten Augenblick wurde er blaß. »Was soll das heißen, Pa? Hast du etwa vor, uns in die Masken der Killer-Babys zu stecken?« Stuckey nickte. »Die Versorgungsautomatik hat ein relativ primitives Positronengehirn, Opa. Wenn in dem Käfig neben dem der Königskiller-Eltern zwei Junge auftauchen, kann es daraus nur den einen Schluß ziehen, daß die Killermama niedergekommen ist und die Neugeborenen durch die Klappe in den Nachbarkäfig geschlüpft sind. Damit werden wir zu Fütterungsobjekten. Da die Königskiller nur bestes Fleisch essen, wird man auch den Jungen nur das beste Fleisch geben.« Thow kratzte sich hinter dem rechten Ohr. »Hm, besser als das angefressene Fleisch, das wir den Raubtieren gestohlen haben, wird es auf jeden Fall sein. Du bist gar nicht so dumm, Pa.« Stuckey erwiderte nichts darauf, sondern winkte Thow Tanza, ihm zu folgen. Sie mußten ungefähr hundert Meter gehen, bevor sie
abstehenden Ohren aufgezogen, und wahrscheinlich hatte »Ma« Nancy sein diskretes Werben deswegen bislang ignoriert. Dennoch konnte er sich nicht dazu entschließen, sich durch eine kosmetische Korrektur verschönern zu lassen. Er war davon überzeugt, daß das naturgegebene Aussehen unlösbar zur Persönlichkeit eines Menschen gehörte und daß jeder Eingriff die Harmonie der Seele stören würde. Er schwang sich in den Schacht und schwebte zwei Decks tiefer, bevor er ausstieg. Thow Tanza folgte ihm. Stuckey blickte sich um. Er orientierte sich an der Beschilderung, die darauf hinwies, daß auf diesem Deck des Tiergeheges exotische Amphibien untergebracht waren. »Unter uns befindet sich die eine Hälfte der Spielkasinos«, flüsterte er. »Wenn es uns gelänge, diesen Sektor unbemerkt zu durchqueren, dann wären wir direkt in den Vorratskammern. Wir brauchten nicht länger von dem zu leben, was wir den Tieren stehlen, sondern könnten uns endlich eine anständige Mahlzeit zusammenstellen.« Thow verzog das Gesicht. »Leider sind in den Spielkasinos Androiden postiert«, erwiderte er. »Warum nimmst du nicht endlich Vernunft an und erlaubst mir, einen von den rinderähnlichen Warmblütern zu schlachten, Pa? Dann hätten wir genug frisches Fleisch. Wir könnten es in einem Futterautomaten garen.« Stuckey hob abwehrend die Hände. »Nein, das kommt nicht in Frage, Opa!« sagte er streng. »Wir Menschen müssen streng unterscheiden zwischen solchen Tieren, die uns durch ihre Anmut und ihre Leistungen erfreuen und solchen, die nur zu dem profanen Zwecke des Verzehrs aufgezogen werden. Letztere Kategorie ist auf diesem Schiff nicht vorhanden.« »Irrtum!« widersprach Thow. Er deutete mit dem Daumen auf den Boden. »Dort unten, unter den Kasinos, hängen viele Tonnen Gefrierfleisch, das für die Fleischfresser unter den Zirkustieren bestimmt ist. Wir kommen nur nicht heran.« Stuckey lächelte schüchtern. »Ich habe einen Plan, Opa«, verkündete er und wurde abermals rot. 5
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Thow murmelte eine unverständliche Zustimmung und folgte »Pa«, der zielsicher den Weg zu jenem Sektor des Geheges einschlug, in dem die alten Königskiller untergebracht waren. Nur wenige Decks unter ihnen dröhnten und summten schwere Maschinen. Sie versorgten die Klimaanlage des Schiffes mit Energie und sorgten für eine gleichbleibende künstliche Schwerkraft. Thow fragte sich, wie lange die COMOTOOMO noch durch den Weltraum fliegen würde – und was ihr Ziel sei, und erstmals fragte er sich außerdem, ob Pa und er sich nicht übernommen hatten, als sie an Bord zurückgeschlichen waren und sich versteckt hatten, um allein die Fahrt des Zirkusschiffes mitzumachen.
die Kammer erreichten, in der neben verschiedenen anderen Ausrüstungsteilen die beiden Königskiller-Masken aufbewahrt wurden. Die Masken hingen an großen Stahlhaken von der Decke und sahen aus wie erlegte Tiere, die man zum Abhäuten aufgehängt hat. Stuckey Folus überprüfte die Servomechanismen der Maske, die er sich ausgesucht hatte, und fand alles in Ordnung. Gewandt schlüpfte er hinein, verschloß die Maske von innen und aktivierte die Maschinerie. Es sah aus, als erwachte ein schlafendes Raubtier plötzlich zum Leben. Die Hinterbeine zuckten, der Rachen öffnete sich, und ein drohendes Fauchen erscholl. Dann sagte Stuckey: »Würdest du bitte die Hakenarretierung lösen, Opa?« Thow grinste. »Am liebsten würde ich dich so hängen lassen. Du siehst süß aus.« Er löste die Arretierung, und Stuckey fiel auf alle vier Tatzen. Danach kletterte Thow Tanza in seine Maske. Er hatte Schwierigkeiten, mit den Servoschaltungen zurecht zu kommen, weil er erheblich kleiner als ein Durchschnittsmensch war, aber mit einigen Verrenkungen schaffte er es schließlich doch. Nachdem Stuckey Thows Maske von den Haken gelöst hatte, vollführte »Opa« einige ungenügend koordinierte Sprünge und knallte mit dem Schädel gegen eine Wand. Es dröhnte hohl, und er fiel auf den Rücken. »Hast du dir weh getan?« fragte Stuckey erschrocken. Thow kicherte. »Du stellst ausgesprochen blöde Fragen, Pa. Der Babykopf ist doch hohl. Mein Denkzentrum befindet sich in Höhe des Brustkastens.« »Entschuldige, Opa«, sagte Stuckey Folus verlegen. Er blickte durch die künstlichen Augen seines Tieres, mit denen er mittels Kabel verbunden war, die in Saugnäpfen über seinen eigenen Augen endeten. »Gehen wir, bevor uns jemand sieht und Alarm schlägt. Auch Beeinflußte dürften etwas dagegen haben, wenn zwei Königskiller frei im Schiff herumlaufen.«
* Die beiden erwachsenen Königskiller waren in einem hausgroßen Käfig untergebracht, dessen Wände und Gitter aus molekularverdichtetem Stahlplastik bestanden. Normales Stahlplastik hätten ihren Zähnen und Krallen nicht widerstehen können. Obwohl Stuckey Folus die beiden Tiere nicht zum erstenmal sah, erschauderte er angesichts der mächtigen Muskelbündel, die sich unter dem schwarz und weiß gefleckten Fell der Riesentiere abzeichneten. Die Größe eines erwachsenen Königskillers entsprach ungefähr der eines terranischen Kaltblutpferdes, aber an Körperkraft hätte es jeder Königskiller mit zehn terranischen Elefantenbullen aufnehmen können. Die beiden Tiere hielten in ihrer freundschaftlichen Balgerei um einen männergroßen Saurierknochen inne, als sie die beiden Killerbabys erblickten. Die Augen richteten sich auf die »Kleinen«, und das Weibchen stieß ein Geräusch aus, das an das Hochfahrgeräusch eines mittleren Impulstriebwerks erinnerte. Stuckey stieß seinen Gefährten mit der Schulter an und bewegte sich auf den kleineren Käfig neben dem großen zu. Nach einigen Schwierigkeiten gelang es ihm, mit der rechten Tatze den Öffnungsmechanismus zu betätigen. Die starke Gitterwand glitt surrend zur Seite und gab den Zutritt frei. 6
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten zu unterscheiden?« »Das käme auf einen Versuch an«, erwiderte Stuckey. Er bewegte sich auf die Trichteröffnung des Fütterungsautomaten zu und steckte den Kopf hinein. »Hunger!« rief er. Von nebenan kam ein Prusten und Schnauben, dann zwängte eines der erwachsenen Tiere den Vorderlauf bis zur Schulter durch die Klappe. Die Pranke, so groß wie ein Suppenteller, stupste Thow Tanza an. Thow erschrak zuerst, dann, als ihm klar wurde, daß die Krallen der mächtigen Tatze eingezogen waren, ritt ihn der Teufel. Er biß spielerisch zu. Die Tatze zog sich zurück – mit Thow, dessen Maskengebiß sich in sie verbissen hatte. »Laß los, Opa!« rief Stuckey, als er sah, daß sein Gefährte auf die Klappe zugezogen wurde. »Ich kann nicht«, jammerte Thow. »Der Gebißmechanismus hat sich verklemmt. Hilf mir, Pa!« Stuckey Folus setzte seinem Gefährten mit einem ungeschickten Sprung nach und umklammerte dessen Rücken. Die Hinterpranken seiner Killerbabymaske stemmten sich in den Käfigboden. Doch was war das schon gegen die Kraft einer Königskillermama, die sich nach ihren Sprößlingen sehnte! Bevor es sich die beiden Spezialisten versahen, gab es einen Ruck, mehrere harte Schläge – und dann lagen sie in dem riesigen Nachbarkäfig. Stuckey sah über sich einen massigen Körper aufragen und roch die strengen Ausdünstungen der erwachsenen Königskiller. Er wagte weder, etwas zu sagen, noch sich zu rühren. Eine riesige nasse Zunge fuhr über das Gesicht seiner Maske, dann stöhnte die Killermama zärtlich. Sie hält uns tatsächlich für ihre eigenen Kinder! durchfuhr es Stuckey. Er wußte allerdings nicht, ob er darüber erleichtert oder besorgt sein sollte. Sie waren offenbar vorläufig nicht gefährdet, aber gegen den Willen der besorgten Eltern würden sie den großen Käfig auch nicht verlassen können. Plötzlich sprang »seine Mutter« auf und stieß ihn dabei um. Ein dumpfes Grollen und Fauchen ertönte, gefolgt von dem Anprall
Stuckey und Thow schlüpften in ihre neue Behausung. Thow ließ die Gitterwand wieder zufahren, nachdem er seine Pfote durch das Gitterwerk gesteckt hatte, das zusätzlich um die Schaltung herum angebracht war. Nebenan krachten zwei schwere Körper gegen die dicke Trennwand, in der lediglich ein kleines Gitterfenster war. Die Erschütterung des Anpralls ließ den Boden des Babykäfigs so erbeben, daß die Zähne der beiden USO-Spezialisten aufeinander schlugen. Stuckey musterte die Klappe dicht über dem Käfigboden. Sie war etwa fünfzig mal fünfzig Zentimeter groß, bestand ebenfalls aus molekularverdichtetem Stahlplastik und ließ sich von beiden Seiten aufdrücken. Voraussetzung dafür war allerdings, daß man über die Körperkraft eines Killerbabys verfügte, um die superstarken Haltefedern zu überwinden. Diese Kraft stand den beiden Männern in den Servomechanismen ihrer Masken zur Verfügung, aber keiner von ihnen verspürte das Bedürfnis, sie einzusetzen, um zu ihren »Eltern« zu gelangen. Thow Tanza blickte zu der Trichteröffnung des Fütterungsautomaten und meinte: »Eigentlich sollte man uns endlich einen Doppelzentner gut abgehangenes Fleisch servieren. Was meinst du, Pa?« Stuckey versuchte, sich mit einer Tatze hinter dem Ohr der Maske zu kratzen und fiel dabei auf die Seite. »Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Vielleicht müssen wir der Positronik des Versorgungsautomaten Zeit lassen, damit sie sich auf die Tatsache einstellen kann, daß plötzlich zwei Königskiller-Babys in dem bisher leeren Käfig vorhanden sind.« Thow wollte etwas erwidern, schwieg aber, als sich die Klappe in der Trennwand öffnete und die riesige Pranke eines der Elterntiere durch die Öffnung tastete. Abermals erscholl ein Geräusch wie das Donnern eines hochgefahrenen Impulstriebwerks. »Mama hat offenbar Sehnsucht nach uns«, meinte Stuckey. »Aber ich nicht nach ihr«, erwiderte Thow düster. »Sie würde mich in einem Stück verschlingen. Oder glaubst du, sie wäre nicht in der Lage, die Masken von echten Killerbabys 7
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten ne gekommen. Er hielt sich die Seite, die das Killerbaby getroffen hatte. »Die Tiere sind gefährlich, Gatchub«, erklärte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Keineswegs«, widersprach Gatchub. »Sie spüren nur genau, wer es gut mit ihnen meint und wer nicht.« Thow Tanza versuchte, die Lage auszunutzen und heimlich durch die Klappe in den Babykäfig zurückzukriechen. Die Pfote des Muttertieres schnellte mit eingezogenen Krallen vor und rollte den Flüchtling auf den Rücken. »Es sieht aus, als wollten die Babys nicht mehr bemuttert werden«, sagte Gatchub nachdenklich. »Ist das nicht sehr ungewöhnlich?« erkundigte sich Torrik, dessen Zorn inzwischen abgeklungen war, verdrießlich. »An sich schon«, antwortete Gatchub. »Aber ich habe gehört, daß es in seltenen Fällen vorkommt, daß Killerbabys sich schon am ersten Lebenstag selbständig machen.« Stuckey Folus erkannte Gelegenheiten, wenn sie sich darboten. Das war zweifellos eine, und sie würde nicht so bald wiederkehren. Er rollte sich zwischen den Beinen des Killerweibchens hindurch in Richtung Klappe. Aber das Weibchen durchschaute seine Absicht. Es senkte seine Zähne behutsam ins Nackenfell des Babys und zog es zurück. Stuckey schlug protestierend um sich, wobei er die Krallen ausfuhr. Das Weibchen knurrte verärgert, schüttelte ihn und ließ ihn schließlich fahren. Stuckey prallte gegen die Flanke des Männchens, das protestierend nach ihm schnappte. Der Spezialist fiel beinahe in Ohnmacht, als er die mächtigen Reißzähne des Killers aus solcher Nähe sah. In echter Panik schnellte er sich aus ihrer Reichweite und prallte mit dem Maskenschädel hart gegen die Gitterstäbe. Die Erschütterung übertrug sich auf seinen Kopf. Benommen stürzte er zu Boden. Das Killermännchen hob seinen Kopf und brüllte. »So geht das nicht weiter«, sagte Gatchub. »Ich muß die Jungen von den Alten trennen, sonst gibt es noch ein Unglück.« Er zog eine Hypnoselampe hervor und
zweier schwerer Körper gegen das Käfiggitter. Stuckey wälzte sich auf den Bauch und sah, daß draußen vor dem Käfig zwei Männer der Restbesatzung standen und hineinschauten. Der eine sprach beruhigend auf die erwachsenen Königskiller ein, und nach einiger Zeit hatte er Erfolg damit. Wahrscheinlich handelte es sich um den Betreuer der Königskiller. »Sie hat tatsächlich geworfen«, sagte der Mann, der der Betreuer zu sein schien, zu seinem Begleiter. »Was ist daran so ungewöhnlich, Gatchub?« fragte der andere Mann. Gatchub rieb nachdenklich sein Kinn. »Ich habe die beiden Tiere erst vor rund fünf Jahren zusammengebracht«, antwortete er. »Normalerweise dauert es aber acht Jahre, bis eine solche Verbindung Nachwuchs hervorbringt. Oder weißt du von ähnlichen Ausnahmen, Torrik?« Torrik schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber die Tatsachen sprechen schließlich für sich. Was wirst du mit den beiden Babys anstellen? Wir können sie eigentlich nicht gebrauchen, Gatchub.« Stuckey Folus war so empört über die Gedankengänge, die sich hinter Torriks Äußerung verbargen, daß er sich gegen die Gitterstäbe schnellte, eine Pfote hindurchsteckte und den Mann mit einem Schlag von den Füßen riß. Torrik kroch fluchend aus der Reichweite des Killerbabys. Gatchub dagegen blieb stehen, auch als sich Stuckeys Pfote ihm näherte. Stuckey legte ihm die Pfote auf die Schulter und ließ die Krallen eingezogen. Gatchub lächelte erleichtert und streichelte die Pfote, ohne zu merken, daß es sich nur um die Pfote einer perfekten Maske handelte. »Man könnte fast meinen, daß du alles verstehst, was wir reden, Baby«, sagte er. Sein Blick trübte sich. »Keine Sorge, ich werde euch beschützen. Wenn der Mächtige erst alles vereint hat, werde ich mehr Zeit für euch haben. Dann können wir zusammen arbeiten.« Stuckey erzeugte mit Hilfe der Servomechanismen ein schnurrendes Geräusch. Dann zog er seine Pfote zurück. Unterdessen war Torrik wieder auf die Bei8
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Die Futterautomaten an Bord der Zirkusschiffe waren Notgeräte, die dann eingesetzt wurden, wenn die positronisch gesteuerte zentrale Fütterungsautomatik einmal versagte. In solchen Fällen mußten Roboter oder Menschen die Nahrungsmittel selbst in die Futterautomaten stecken und das gewünschte Aufbereitungsprogramm einschalten. Stuckey Folus und Thow Tanza wählten ein Programm, nach dem ihre Fleischstücke mittels Mikrowellen innerhalb weniger Minuten gegart wurden. Der Vorratsbehälter des Automaten enthielt sogar feingemahlenes Steinsalz, so daß die beiden Männer ihr Fleisch würzen konnten. Sie öffneten ihre Killerbabymasken, aßen sich satt und schlugen das restliche Fleisch in Folien ein, die sie ebenfalls dem Futterautomaten entnahmen. Danach kehrten sie in die Ausrüstungskammer zurück, entledigten sich ihrer Killermasken und suchten sich ein neues Versteck.
schaltete sie ein. Stuckey sah blinkende farbige Lichter und schloß die Augen. Er hörte die Stimme Gatchubs zu den erwachsenen Killern sprechen. Unter Einsatz aller Willenskraft überwand er den Nebel in seinem erschütterten Gehirn und kroch abermals auf die Klappe in der Trennwand zu. Dort kam es zu einigen Schwierigkeiten, als Thow und er vor der Klappe zusammenstießen und beide gleichzeitig durch die Öffnung wollten. Dafür war sie allerdings zu klein. »Benehmt euch gefälligst nicht wie dumme Menschen, sondern wie vernünftige Tiere!« rief Gatchub ihnen zu. »Da hast du es!« sagte Thow Tanza leise und schubste »Pa« mit der Schulter zur Seite. Dann kroch er als erster durch die Klappe, stellte sich vor der Trichteröffnung des Fütterungsautomaten auf und jaulte kläglich. Stuckey folgte seinem Gefährten und biß ihn in die Flanke, bevor er sich ebenfalls vor dem Futtertrichter aufstellte. Thow jaulte stärker, diesmal vor Schmerz, denn die Zähne hatten ihn empfindlich ins Fleisch gekniffen. Gatchub lachte und schaltete seine Hypnoselampe ab, mit der er die Eltern in Schach gehalten hatte. »Ich werde dafür sorgen, daß ihr euer Futter bekommt!« rief er den Killerbabys zu, bevor er mit Torrik wegging. Thow stöhnte und lehnte sich gegen die Wand. »Das hätte schiefgehen können, Pa«, sagte er matt. »Es ist aber nicht schiefgegangen«, entgegnete Stuckey. »Wichtig ist schließlich für uns nur die Aussicht auf frisches Fleisch von bester Qualität.« »Mir ist der Appetit vergangen«, erwiderte Thow. Als wenig später zirka ein Doppelzentner bestes Frischfleisch aus dem Fütterungstrichter regnete, kehrte Thows Appetit allerdings sehr schnell zurück. Die beiden USO-Spezialisten verstauten etwa die Hälfte der Fleischbrocken in ihren Masken, dann verließen sie den Käfig auf dem gleichen Weg, auf dem sie ihn betreten hatten, und gingen zum nächsten Futterautomaten.
* Stuckey Folus hatte fest geschlafen. Er erwachte durch die Veränderung der Geräuschkulisse, die innerhalb der letzten Tage völlig gleich geblieben war. Als er sich aufrichtete, stieß er an einen Fuß Tanzas, der quer über seinem Bauch gelegen hatte. Er schob den Fuß behutsam weg. Thow Tanza grunzte im Schlaf und wälzte sich auf die andere Seite. Nachdem Stuckey eine Weile gelauscht hatte, erkannte er, daß die Veränderung der Geräuschkulisse vom Schweigen des Linearkonverters hervorgerufen worden war. Demnach befand sich die COMOTOOMO nicht mehr im Zwischenraum, sondern war in den Normalraum zurückgefallen. Der USO-Spezialist erhob sich leise und zog seine Stiefel an. Er fragte sich, ob er seinen Gefährten wecken sollte, brachte es aber nicht über sich, ihn aus dem besten Schlaf zu reißen. Mit nach vorn gestreckten Armen ging er auf den hellen Fleck zu, der die Position der Öffnung des künstlichen Alvonen-Baues kennzeichnete. Alvonen waren große Gliedertiere, die von 9
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Stuckey entschloß sich nun doch, seinen Gefährten zu wecken. Er tastete sich den Weg zurück, was etwas schwieriger war, da ihm hierbei keine helle Öffnung den Weg wies. Als er glaubte, noch ungefähr zwei Schritte von Tanza entfernt zu sein, trat er auf eine Erhöhung des Bodens. Im nächsten Moment fuhr Thow Tanza mit einem Schmerzenslaut hoch. »Was ist?« fragte Stuckey. »Warum schreist du so, Opa?« »Weil du auf meiner Hand stehst!« gab Thow wütend zurück. »Weil du mein Vorgesetzter bist, brauchst du noch lange nicht auf mir herumzutrampeln.« Stuckey trat bestürzt einen Schritt zurück. »Das tut mir leid, Opa«, versicherte er. »Wirklich, ich ahnte nicht, daß ich auf deiner Hand stand.« »Dann stell endlich deinen Kommunikator ab und laß mich schlafen!« sagte Thow unwirsch. »Aber du darfst nicht weiterschlafen!« erwiderte Stuckey. »Das Schiff befindet sich im Normalraum und bremst ab oder beschleunigt.« Thow Tanza schwieg einige Sekunden lang, dann erkundigte er sich: »Was tut es nun wirklich: abbremsen oder beschleunigen?« »Das weiß ich doch nicht«, entgegnete ihm Stuckey. »Jedenfalls werden die Impulstriebwerke hochgeschaltet – und das kurz nach dem Rücksturz in den Normalraum.« Diesmal wurde Thow hellwach. Er sprang hoch und suchte nach seinen Stiefeln. »Warum hast du das nicht gleich gesagt, Pa«, murmelte er dabei. »Womöglich steht eine Landung kurz bevor, und ich bin noch nicht rasiert.« Stuckey lachte unsicher, weil er nicht wußte, ob sich Thow einen Scherz erlaubt hatte oder ob sein vom Schlaf benommenes Gehirn noch nicht richtig funktionierte. »Was gibt es da zu lachen?« schimpfte Thow. »Hilf mir lieber, meine Stiefel zu finden!« Er rannte mit dem Schädel gegen einen Wandvorsprung des Alvonen-Baues, stöhnte tief und trat vor Zorn mit dem Fuß gegen die Wand. Es gab ein scharfes Knacken, dann
manchen Artistengruppen als Fänger am Trapez abgerichtet wurden. Früher mußte auf der COMOTOOMO auch eine solche Gruppe gewohnt haben, aber das war vor dem Erscheinen der beiden USO-Spezialisten gewesen. Da Alvonen fast so groß wie Menschen waren, hatten Stuckey Folus und Thow Tanza sich den verlassenen Bau als neues Versteck ausgesucht. Die spezifisch justierte Klimaanlage arbeitete noch und füllte den Bau mit angenehm kühler sauerstoffreicher Luft. Stuckey steckte den Kopf durch die Öffnung des Baues. Draußen lag in rötlicher Helligkeit ein Gehegeabschnitt, in dessen Käfigen zur Zeit nur ein Paar iskanische Tlakons untergebracht waren, große spinnenähnliche Tiere mit Schildkrötenpanzern und langen einziehbaren Rüsseln. Ein Blick auf die nächstliegende Informationstafel an der Korridorwandung bewies dem Mann, daß sein Gehör ihn nicht getäuscht hatte. Das Symbol auf der elektronischen Scheibe bedeutete, daß die COMOTOOMO den Zwischenraum verlassen hatte und in den Normalraum zurückgekehrt war. Das allein besagte jedoch nicht allzuviel. Es war durchaus denkbar, daß das Zirkusschiff nur ein Orientierungsmanöver durchführte und in wenigen Stunden wieder zum Linearflug überging. Stuckey hoffte allerdings, es möchte endlich sein Zielgebiet erreicht haben und auf einem Planeten landen. Das Versteckspiel an Bord der COMOTOOMO war nicht nur äußerst unbequem, sondern auch nervenaufreibend. Wenn sie von den Beeinflußten entdeckt wurden, solange sie sich noch an Bord befanden, war ein Entkommen unmöglich. Niemand konnte sich für unbegrenzte Zeit auf einem Raumschiff verstecken, wenn seine Anwesenheit erst einmal bekannt geworden war. Als er das charakteristische Röhren hörte, wie es beim stufenlosen Hochschalten der Impulstriebwerke entstand, amtete er auf. Für ein Orientierungsmanöver war die Zeitspanne seit dem Rücksturz in den Normalraum zu kurz gewesen. Wenn die Normaltriebwerke dennoch schon jetzt hochgeschaltet wurden, konnte das nur bedeuten, daß das Schiff ins Zielgebiet gesteuert wurde. 10
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Öffnung und lauschten. Der Schacht leitete die Schallwellen von den insgesamt vierzehn Impulsstrahltriebwerken, aber es war nicht festzustellen, ob das Schiff mit positiver oder negativer Beschleunigung flog, da seine Bauweise keine Schubumkehr erlaubte. Wollte die COMOTOOMO verzögern, mußte das Heck mit den Abstrahldüsen in Fahrtrichtung geschwenkt werden, und die Impulstriebwerke arbeiteten danach praktisch genauso, als wenn das Schiff positiv beschleunigte. Thow Tanza zuckte die Schultern. »Nichts zu machen, Pa. Du hättest mich nicht zu wecken brauchen. Jetzt stehen wir nur herum und dürfen raten.« Drei elektronische Gongschläge hallten dicht hintereinander durch den Antigravschacht. Gleich darauf ertönte von oben ein polterndes Geräusch. Stuckey Folus blickte hinauf und kniff die Augen zusammen, um in dem Halbdunkel des Schachtes etwas zu erkennen. Im nächsten Moment zuckte er zusammen. »Die Androiden aus dem oberen Kasinodeck!« flüsterte er und zog seinen Gefährten mit sich am Arm zurück. »Wir müssen uns verstecken.« Sie kehrten um und liefen durch den Stichkorridor. Als sie den künstlichen AlvonenBau erreichten, blieben sie stehen. »Weiter!« flüsterte Stuckey. »Wenn die Androiden nach uns suchen, entdecken sie uns hier sehr bald.« »Und woanders etwas später«, flüsterte Thow zurück. Er kam dennoch mit, als sein Gefährte weiterlief. Nach einigen Minuten erreichten sie das Ende des Stichkorridors und damit die gegenüberliegende Schiffswandung mit dem rundum laufenden breiteren Korridor. Sie folgten ihm eine kurze Strecke, dann wandten sie sich nach rechts und eilten in einen fünfzig Meter langen, blind endenden Gang. Vor einem Käfig, in dem Hunderte von schlanken grünen Schlangenkörpern einen »Bienenkorb« von etwa drei Meter Grundflächendurchmesser und vier Metern Höhe umwimmelten, hielten sie abermals an. »Wir haben keine andere Wahl«, erklärte Stuckey. »Die Androiden haben eine uner-
steckte sein Bein zur Hälfte in dem Loch, das er in die Wand getreten hatte. »Was ist mit dir, Opa?« erkundigte sich Stuckey, der sich keinen rechten Reim auf die verschiedenen Geräusche machen konnte. »Ich kriege mein Bein nicht heraus«, klagte Thow. »Wo nicht heraus?« fragte Stuckey. »Aus dem Stiefel?« »Nein, da soll es ja hinein«, erwiderte Thow ungeduldig. »Aber es steckt statt dessen in der Wand.« »Solche dünnen Wände hat doch der Bau nicht«, erwiderte Stuckey nachdenklich. Dann stutzte er. »Mit einer Ausnahme, der Wand zur Gelegekammer. Hast du einen etwa kopfgroßen Wandvorsprung bemerkt?« »Allerdings«, antwortete Thow und betastete die Schwellung, die sich an seinem Schädel bildete. »Dann steckt dein Bein in der Wand zur Gelegekammer. Moment, ich helfe dir.« Stuckey Folus kroch auf allen vieren um seinen Gefährten herum, richtete sich vor der Wand auf – und rannte ebenfalls mit dem Schädel gegen den bewußten Wandvorsprung. Er setzte sich und ließ sämtliche Sterne des Universums in der Dunkelheit kreisen, die seinen Schädel auszufüllen drohte. Nach einiger Zeit vermochte Stuckey wieder halbwegs klar zu denken. Mit Thows Hilfe kam er wieder auf die Beine, und ihren gemeinsamen Anstrengungen gelang es schließlich, Thows Bein zu befreien. »Ich glaube, ich habe eine Beule unter meinem Fuß«, klagte Tanza, nachdem er endlich seine Stiefel angezogen hatte. »Es drückt ziemlich stark.« »Sei nicht so empfindlich, Opa«, erwiderte Stuckey. »Wir haben keine Zeit. Später kannst du nachsehen, aber jetzt müssen wir herausbekommen, ob das Schiff irgendwo landet.« Sie krochen aus ihrem Versteck. Die Wandung des walzenförmigen Mittelschiffes war nicht weit entfernt, und sie war von zahlreichen Antigravschächten durchzogen, die normalerweise dazu dienten, Besucher der Spielkasinos zügig zu befördern. Beide Männer traten an den nächsten AGSEinstieg, steckten die Köpfe durch die ovale 11
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten »Dann nichts wie 'raus hier!« erklärte Thow. Stuckey hielt ihn fest. »Nein, wir warten noch, Opa!« entschied er. »Unmittelbar nach der Landung wird im Schiff die größte Betriebsamkeit herrschen. Wenn sie nachläßt, können wir uns aus unserem Versteck wagen. Hier sind wir sicherer als draußen.« »Pah!« protestierte Thow Tanza schwach, als abermals elektrische Entladungen knisterten und überall Funken und Flämmchen tanzten. Sekunden später wogten zahllose grüne Schlangenkörper durch die Öffnung in den Korb. Sie zogen Fladen einer nicht identifizierbaren Masse mit sich. Ein grauenhafter Geruch breitete sich aus. »Fütterungszeit!« sagte Thow erstickt und preßte sich ein Tuch auf Mund und Nase. Stuckey mußte sich ebenfalls ein Tuch auf Mund und Nase halten, um den Geruch und den dadurch ausgelösten Brechreiz in halbwegs erträglichen Grenzen zu halten. Die Pteromyden ballten sich um ihn und seinen Gefährten zu einer bebenden, zuckenden Masse von Leibern, die knirschende, schlürfende und knackende Geräusche von sich gaben. Stuckey und Thow waren dem Wogen dieser Masse hilflos ausgeliefert. Sie konnten sich kaum noch rühren und waren fast bewußtlos, als sich die Masse wieder auflöste und der größte Teil der Pteromyden den Korb verließ. Thow Tanza kroch auf allen vieren aus dem Korb, und diesmal hinderte Stuckey Folus ihn nicht daran, sondern folgte ihm. Draußen sah er, daß das Gesicht seines Gefährten kalkweiß und schweißbedeckt war. Er selber fühlte sich nicht besser und schnappte mit offenem Mund nach frischer Luft. Einige Minuten lang lagen sie reglos auf dem Käfigboden, dann hatten sie sich so weit erholt, daß sie aufstehen konnten. Sie wankten zur Tür, gingen hinaus und lehnten sich draußen an die Gangwand. »Das mache ich nicht noch einmal mit, Pa«, flüsterte Thow nach einiger Zeit matt. »Woher kam bloß dieser grauenhafte Gestank?« »Pteromyden haben eine Kollektivverdauung«, antwortete Stuckey. »Aber der für uns
klärliche Scheu vor den Pteromyden. Keiner von ihnen würde sich ohne ausdrückliche Programmierung in ihren Käfig wagen.« Er öffnete die schmale Tür, die in die Gitterwand eingelassen war, stieg in den Käfig und zog seinen Gefährten hinter sich her. Dann schloß er die Tür sorgfältig wieder. Die Pteromyden, trotz ihrer äußeren Ähnlichkeit mit terranischen Schlangen keine Reptilien, sondern warmblütige Säugetiere, deren Heimat die windstillen Sandwüsten von Custers Planet waren, wogten gleich Seetang in einer plötzlichen Meeresströmung auf die beiden Männer zu. Die Luft im Käfig war plötzlich von schwachen knisternden Entladungen erfüllt, dann wogten die Schlangenkörper zurück. Das Knistern der Entladungen erlosch. Stuckey Folus und Thow Tanza konnten ungehindert den »Bienenkorb« erreichen und sich durch die schmale, halbrunde Öffnung zwängen. Auch im Innern gab es zahllose Pteromyden, aber sie verhielten sich ebenso neutral wie ihre Artgenossen. Die kurze Untersuchung, deren Begleiterscheinung die elektrischen Entladungen gewesen waren, hatte die beiden Menschen als Nichtwesen im Sinne der Pteromyden ausgewiesen. Soviel wußte Stuckey, und er nahm an, daß die Scheu der Androiden vor diesen Tieren sich darauf gründete, daß bei ihnen eine solche Untersuchung anders ausgefallen wäre. Stuckey und Thow verhielten sich still und negierten die schleifenden und knackenden Geräusche, die von den Pteromyden verursacht wurden. Innerhalb des Korbes war es fast völlig dunkel. Pteromyden benötigten kein Licht, um sich zu orientieren. Sie bedienten sich dazu elektrischer Impulse. Als eine halbe Stunde vergangen war, ohne daß die Androiden erschienen waren, stellte sich Erleichterung bei den beiden Männern ein. »Offenbar galt die plötzliche Aktivität nicht uns«, flüsterte Thow Tanza. Ein schwaches Rütteln durchlief das Schiff und teilte sich auch dem Boden des riesigen Korbes mit. »Die COMOTOOMO ist in eine Planetenatmosphäre eingetaucht«, stellte Stuckey Folus sachlich fest. 12
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten eines Hilfsaggregats wahr. »Die Hauptmaschinen sind desaktiviert«, erklärte Stuckey. »Das bedeutet, daß der Aufenthalt auf dieser Welt zumindest einige Tage betragen wird. Wahrscheinlich haben die meisten Besatzungsmitglieder das Schiff inzwischen verlassen.« »Sehen wir uns weiter oben um?« fragte Thow. Stuckey nickte. Er wußte, daß sein Gefährte mit »weiter oben« die fünfhundert Meter durchmessende Kommandokugel des Zirkusschiffes meinte. Schiffe dieses Typs setzen sich stets aus dieser Kommandokugel mit den Haupt- und Nebenzentralen, den Beiboothangars, Mannschaftsräumen und dem Hospital sowie den Geschützständen und einem Observatorium zusammen. In der darunter befindlichen Walze von vierhundert Meter Länge und dreihundert Meter Durchmesser waren die Tiergehege mit den Futterräumen und Versorgungsanlagen, die Spielkasinos und die Ausrüstungsräume der Artisten untergebracht. Darunter wiederum befand sich ein zweihundertfünfzig Meter langer und achthundert Meter durchmessender Trichter, der gleichzeitig als Landeteller und nach der Landung als Zirkusarena diente. Es war allerdings nicht damit zu rechnen, daß diesmal die Zuschauertribünen ausgeschwenkt worden waren. Stuckey und Thow begaben sich zum großen Achslift, der praktisch das gesamte Schiff durchzog. Die Kontrollampen vor dem nächsten Einstieg glommen in düsterem Rot, was bedeutete, daß die Antischwerkraftmaschinen abgeschaltet waren. »Das sieht danach aus, als wäre die gesamte Restbesatzung ausgestiegen«, sagte Thow Tanza verwundert. »Sollten sie nicht einmal eine Wache an Bord gelassen haben?« »Wahrscheinlich besteht auf diesem Planeten keine Gefahr, daß Unbefugte an Bord zu schleichen versuchen«, meinte Stuckey Folus. »Ich denke, daß wir direkt zur Hauptzentrale hinaufsteigen können.« Sie benutzten die schmale Wendeltreppe, die im Zwischenraum der doppelten Schachtwandung untergebracht war, und stiegen die rund dreihundertfünfzig Meter von ihrem Standort bis zum Mitteldeck der Kommando-
abstoßende Geruch kam wahrscheinlich von der Nahrung, die der Fütterungsautomat den Tieren lieferte. Zweifellos war es für sie eine Delikatesse.« »Ich danke für eine solche Delikatesse«, erwiderte Thow. Aber diesmal grinste er bereits wieder schwach, ein Zeichen dafür, daß er sich erholt hatte. Abermals wurde das Schiff von einem schwachen Rütteln durchlaufen, dann verstummten die Triebwerksgeräusche und machten einem satten Summen Platz. »Die Antigravprojektoren«, sagte Thow Tanza. »Man hat von den Impulstriebwerken auf die Antigravprojektoren umgeschaltet. Ein sicheres Zeichen dafür, daß das Schiff bald Bodenkontakt haben wird. Ich bin gespannt darauf, was das für ein Planet ist.« »Wir müssen uns ein neues Versteck suchen«, sagte Stuckey. Thow schüttelte den Kopf. »Ohne mich, Pa. Du kannst meinetwegen nach diesem Einsatz ein Disziplinarverfahren gegen mich beantragen, aber ich gehe nicht wieder in einen Käfig. Ich habe vom letzten genug.« »Du weißt genau, daß kein Mitglied der Familie Außenstehenden gegenüber schlecht über ein anderes Familienmitglied reden wird, Opa«, entgegnete Stuckey vorwurfsvoll. Er seufzte. »Also schön, warten wir hier.« 2. Die COMOTOOMO hatte vor zehn Minuten auf dem Boden einer fremden Welt aufgesetzt, einer Welt, von der die beiden USOSpezialisten weder wußten, wie sie hieß, noch wo sie sich befand. Stuckey Folus und Thow Tanza verhielten sich ruhig, während vielfältige Geräusche aus anderen Schiffssektionen sie erreichten. Sie konnten nicht mehr tun als abzuwarten, ob das Schiff nach einiger Zeit wieder starten würde oder ob es stehenblieb. Ungefähr eine Stunde verging, ohne daß jemand in ihre Nähe gekommen wäre. Dann liefen die Hauptreaktoren aus. Es wurde beinahe unheimlich still. Erst nach einiger Zeit nahmen die Männer das schwache Summen 13
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Stuckey deutete mit einer schwachen Kopfbewegung auf die Teleaugen der Bordpositronik. Thow runzelte die Stirn, dann nickte er verstehend. Er hatte begriffen, was Stuckey meinte. Keiner von ihnen wußte, welche Aktivitäten die Bordpositronik als erlaubt und welche sie als illegal einstufen würde. Dazu hätten sie wissen müssen, welche Programmierung die Beeinflußten vorgenommen hatten. Nach einem letzten Rundblick verließen sie die Kommandozentrale wieder. Draußen blieben sie stehen und warteten, bis sich das Panzerschott wieder geschlossen hatte. »Das Schiff ist verlassen«, sagte Thow. Stuckey nickte. »Das läßt eigentlich nur einen Schluß zu, nämlich den, daß die COMOTOOMO vorläufig ihre Endstation erreicht hat. Folglich müßte sich auf diesem Planeten die Zentrale der geheimnisvollen Macht befinden, die für die Verbreitung der Pseudo-Kaschkarits verantwortlich zeichnet.« Thow lächelte schief. »Womit wir am Ziel unserer Wünsche wären, Pa.« »Aber um etwas zu erreichen, müssen wir das Schiff verlassen«, erwiderte Stuckey. Sie blickten sich vielsagend an, erstens, weil sie wußten, daß sie draußen auf unbekannte Gefahren stoßen mußten und zweitens, weil ihnen vor dem Abstieg über die Nottreppe durch die halbe Kommandokugel, die ganze Walze und den gesamten Trichter graute. »Uns bleibt nichts weiter übrig, als unsere Leistungen im Wendeltreppensteigen zu steigern«, meinte Stuckey ironisch. »Wir können die Antigravaggregate nicht aktivieren, ohne daß die Bordpositronik das registriert und möglicherweise einen Alarmimpuls an die abwesende Besatzung ausstrahlt.« Thow Tanza seufzte, fügte sich jedoch ins Unvermeidliche. Als sie die neunhundert Meter Höhenunterschied überwunden hatten, standen die beiden USO-Spezialisten schwankend im Stützfuß des Antigravschachts. Der Abstieg über die stark gewendelte Treppe hatte ihren Gleichgewichtssinn erheblich gestört, und es dauerte fast zehn Minuten, bis sie sich nicht mehr an einen Halt
kugel hinauf. Vor dem Panzerschott der Kommandozentrale zögerten sie. Die grüne Leuchtplatte darüber zeigte an, daß das Schott nicht elektronisch verriegelt war. Das bedeutete, daß sie ungehindert eintreten konnten, es mochte aber auch bedeuten, daß sich doch noch einige Angehörige der beeinflußten Restbesatzung an Bord befanden. »Wenn jemand in der Zentrale ist, müssen wir es mit einem Bluff versuchen«, sagte Stuckey schließlich. »Wir können nicht ewig hier stehenbleiben.« Er legte seine Handfläche auf die Stelle, an der sich das Thermoschloß befand. Im nächsten Moment klickte es, dann glitten die beiden Schotthälften zur Seite. Stuckey und Thow traten rasch hindurch und sahen sich um. Die Kommandozentrale lag im düsterroten Licht der Notbeleuchtung. Dennoch wäre den Spezialisten niemand vor dem Hintergrund der stetig leuchtenden Kontrollampen entgangen. »Niemand zu Hause«, stellte Thow Tanza erleichtert fest. Sie traten tiefer in die riesige Halle hinein, in deren Mittelpunkt das klobig wirkende »Herz« der Bordpositronik stand, umgeben von den Kartentischflächen und Schaltanlagen. Hinter ihnen schloß sich das Panzerschott wieder. Die Bildschirme der Rundsichtanlage waren desaktiviert. In ihren schwarzen Flächen spiegelten sich die Lichter der Kontrollampen. Und nicht nur sie ... Stuckey Folus wirbelte herum. Die rotglühenden Teleaugen der Positronik blickten ihn an und doch wiederum nicht an. Das Bordgehirn schien die Anwesenheit der beiden Männer zwar zu registrieren, aber nicht als bedrohlich einzustufen, andernfalls hätte es längst Alarm gegeben. Stuckey atmete auf. Als er sich nach Thow umwandte, sah er, daß sein Gefährte sich dem Schaltpult näherte, von dem aus die Rundsichtanlage aktiviert werden konnte. »Das würde ich nicht tun!« sagte er eindringlich. Thow blieb stehen und blickte seinen Vorgesetzten fragend an. 14
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten aber nichts mehr, sondern folgte seinem Vorgesetzten mit hängenden Schultern. Da die beiden Männer gut ausschritten, erreichten sie die gegenüberliegende Seite der COMOTOOMO bereits nach gut zwanzig Minuten. Sie gelangten dabei vom Schatten des Schiffes in die Sonne, und sie erkannten an der Veränderung des Sonnenstandes, daß es in diesem Gebiet des unbekannten Planeten tatsächlich früher Vormittag war. Vor sich, in einem Winkel, der sich von Nordost bis Südwest erstreckte, erblickten die beiden USO-Spezialisten die Silhouette einer mittleren Stadt, deren Baustil eindeutig darauf hinwies, daß die Erbauer beziehungsweise Konstrukteure und Bauherren Arkoniden gewesen waren. Die Trichterform überwog bei weitem. Allerdings waren auch architektonische Formen zu sehen, wie sie von Terranern auf wenig besiedelten Planeten bevorzugt wurden, nämlich Bungalows und Landhäuser zahlloser unterschiedlicher Typen, die aber eines gemeinsam hatten: ein großes Gartenbzw. Parkgrundstück, dessen Bepflanzung geschickt gegen Einblick von außen schützte. Allerdings gab es auch Kuppel- und Turmbauten, doch handelte es sich dabei in erster Linie um Verwaltungsgebäude und Einkaufszentren. Thow Tanza schnaufte. »Wirkt etwas müde, der Betrieb«, sagte er. Stuckey Folus mußte seinem Gefährten recht geben. Außer der COMOTOOMO und den Prospektorenschiffen lagen noch einige Frachter auf dem Raumhafen, und zwischen den Schiffen standen kleinere Personengruppen. Aber es herrschte eine beinahe unheimliche Stille. Nichts erinnerte an den normalen Betrieb, wie er auf solchen Raumhäfen zu herrschen pflegte. Keine Robotmaschinen schwebten herum, um Schiffe zu entladen und andere Schiffe mit Fracht zu versorgen. Nirgends waren Fluggleiter zu sehen, die als Transportmittel für wenig durchtechnisierte Welten unentbehrlich waren. Stuckey ging weiter um den Landetrichter der COMOTOOMO herum – und nach knapp hundert Metern erstarrte er. Etwa drei Kilometer entfernt stand, bisher
klammern mußten, um nicht umzufallen. Die vierhundert Meter bis zum gegenüberliegenden Außenschott des Schiffes, der bei Gastspielen als Arenaeingang diente, waren ein Kinderspiel, verglichen mit dem Abstieg. Das Schott war geöffnet, und die beiden Männer genossen den Strom warmer und reiner Luft, der ihnen entgegenwehte. Es war Tag. Als Stuckey Folus und Thow Tanza durch das haushohe Arenator nach draußen traten, erblickten sie vor sich ein kleines Landefeld von höchstens zwanzig Kilometern Durchmesser. Von den gegenüberliegenden Kontrolltürmen und Verwaltungsgebäuden waren nur die riesige Hyperkomantenne und die Großantennen von Hypertastern zu sehen. Zwischen dieser Seite der COMOTOOMO und den Antennen standen zwei kleine Prospektorenschiffe. Sie machten einen verlassenen Eindruck. »Niemand zu sehen«, stellte Thow überflüssigerweise fest. »Jedenfalls hier nicht«, erwiderte Stuckey. »Gehen wir ein wenig spazieren, Opa!« Er wandte sich nach rechts und schickte sich an, längs der Außenwand des Trichters entlangzugehen. »Willst du etwa zu Fuß um das Monstrum herumwandern?« rief Thow hinter ihm her. »Hast du einen besseren Vorschlag?« fragte Stuckey über die Schulter zurück. Thow warf die Arme in die Luft und schrie: »Der Fuß des Trichters hat einen Umfang von rund zweieinhalb Kilometern. Wahnsinniger!« Stuckey Folus blieb stehen, wandte sich um und erwiderte lächelnd: »Es sind genau zweitausendfünfhundertzwölf Meter, Opa. Gerade die richtige Strecke für einen Morgenspaziergang, meinst du nicht auch?« Thow Tanza ließ seufzend die Arme sinken. »Außerdem«, fügte Stuckey seiner Belehrung hinzu, »hat es nicht jeder so gut wie wir, daß er seinen Morgenspaziergang bezahlt bekommt – noch dazu mit Spesen. Normalterraner müssen ihre Spaziergänge außerhalb der Dienstzeiten absolvieren.« Thow machte ein entrüstetes Gesicht, sagte 15
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten gefallen würde.
durch das Riesengebilde der COMOTOOMO verdeckt, ein zweites Weltraum-Zirkusschiff. Sein Name war wie die Namen aller Zirkusschiffe in riesengroßen selbstleuchtenden Lettern an der Walze angebracht. Er lautete ORBAG MANTEY! »Hier also treffen wir uns endlich!« entfuhr es ihm. Vor rund einem Monat hatten Thow und er auf Plophos versucht, Ermittlungen an Bord des Zirkusschiffes ORBAG MANTEY aufzunehmen, um herauszufinden, ob ihr Verdacht zutraf, daß die verhängnisvollen Gallertkügelchen, die äußerlich positronischen Speichererbsen glichen, von Androiden der Weltraumzirkusse nach Plophos transportiert wurden. Damals waren sie zu spät gekommen. Die Beeinflußten der ORBAG MANTEY mußten gewarnt worden sein und hatten das Gastspiel auf Plophos vorzeitig abgebrochen. Das Schiff war im Weltraum untergetaucht und hatte über Hyperfunk die beiden anderen Zirkusschiffe gewarnt, die noch zu den Transporteuren der Kaschkarits zählten. Eines der Schiffe, die TERKMAS, war später auf dem Planeten Targros im Quuleut-System gestellt worden. Das zweite Schiff, die COMOTOOMO, hatte von den Beeinflußten nicht rechtzeitig gewarnt werden können, weil die Hyperkomanlage gerade zu dieser Zeit repariert wurde. Als dann doch der Warnruf der ORBAG MANTEY einging, war die COMOTOOMO im Alarmstart geflohen – und mit ihnen anfangs unfreiwillig die beiden USO-Spezialisten. Thow Tanza trat neben Folus und sagte: »So ist das also!« »Ja, so ist das!« bestätigte Stuckey. »Die Anwesenheit der ORBAG MANTEY ist der letzte Beweis dafür, daß sich auf diesem Planeten die Zentrale der unbekannten Macht befinden muß, die mit Hilfe von Zirkusandroiden die programmierten Gallertkügelchen nach Plophos transportierte.« Unter diesen Umständen, überlegte er leicht verwundert, ist es eigentlich erstaunlich, daß der Raumhafen offenbar unbewacht ist. Die Logik sagte ihm jedoch, daß es dafür eine plausible Erklärung geben mußte – und daß diese Erklärung ihm und »Opa« kaum
* »Wenn wir die Feuerleitzentrale der COMOTOOMO besetzen und die ORBAG MANTEY kampfunfähig schießen, können wir vielleicht ein Ultimatum stellen«, überlegte Thow Tanza laut. Stuckey Folus blickte seinen Gefährten von der Seite an. »Wem?« fragte er nur, aber in dieser Frage steckte bereits die ganze Problematik, der sie sich gegenübersahen. »Den Beeinflußten ein Ultimatum zu stellen, wäre zwecklos«, erläuterte er. »Sie stehen völlig unter dem Bann und Zwang der programmierten Gallertkugeln, die man ihnen einpflanzte, würden also auch in aussichtsloser Lage Widerstand leisten. Außerdem sind sie unschuldig, so daß es nicht zu verantworten wäre, sie in offenem Kampf zu stellen. Nein, Opa, wir müssen die Zentrale ausfindig machen und die Wurzel des Übels ausreißen.« »Gut gesprochen, Pa«, erwiderte Thow ironisch. »Weißt du vielleicht, wo wir diese ominöse Zentrale finden sollen? Wir können schließlich nicht die Beeinflußten fragen.« »Natürlich nicht«, sagte Stuckey. »Folglich müssen wir in die Stadt und erst einmal Informationen über diesen Planeten und das Sonnensystem sammeln, dem er angehört. Dafür sollte es genügend leicht erreichbare Hinweise geben.« Thow deutete auf die Personengruppen, die zwischen ihnen und der Stadt auf dem Raumhafen herumstanden. Ab und zu löste sich eine Person aus einer Gruppe und schlenderte entweder zu einer anderen oder ging in Richtung Stadt. »Wir würden auffallen, wenn wir plötzlich vom Landeplatz der COMOTOOMO her zwischen den Gruppen hindurchgehen würden, Pa.« Er runzelte die Stirn. »Aber noch etwas anderes bereitet mir Kopfzerbrechen. Wir befinden uns, nach dem Überwiegen der Trichterbauten zu urteilen, offenbar auf einem Kolonialplaneten der NeuArkoniden. Nun sind Neu-Arkoniden zwar erheblich aktiver als die degenerierten Alt16
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten fühlten sie sich erfrischt und unternehmungslustig. Sie kleideten sich wieder an und warteten, bis der Regen aufgehört hatte. Als sie ins Freie traten, wölbte sich der Himmel über dem Raumhafen so blau wie am Vormittag. Doch die Sonne stand bereits tief im Westen, so daß ihre Strahlen die Luft nicht mehr stark aufheizen konnten. »Niemand zu sehen«, meinte Thow. Der Raumhafen wirkte wie leergefegt. Auf ihm und auf den Hüllen der Raumschiffe glänzte und schillerte die Nässe im Sonnenschein. Einige große, rabenähnliche Vögel kreisten über dem weiten Areal. Sonst war kein lebendes Wesen zu entdecken. Stuckey blickte zu den Vögeln hinauf. »Sie sind gebaut und bewegen sich wie terranische Corvidae«, sagte er nachdenklich. »Corvidae ...?« fragte Thow gedehnt. Stuckey lächelte geistesabwesend. »Corvidae oder Rabenvögel werden trotz ihrer meist nur unmelodisch krächzenden Lautäußerungen zur Familie der Singvögel gezählt. Im Äußeren gedrungen gebaute, kräftige Vögel, Schnabel und Füße stark. Im allgemeinen gesellig, lebhaft, neugierig, besonders auffallenden Dingen gegenüber, begabt im Nachahmen fremder Laute und zweifellos intelligent.« »Hast du keine anderen Sorgen?« fragte Thow unwirsch. »Ich bin gewohnt, alles zu registrieren und in meinem organischen Computer zu speichern, was in irgendeiner Form bedeutsam sein könnte«, antwortete Stuckey. »Die Tatsache, daß es auf diesem Planeten Vögel gibt, die terranischen Rabenvögeln verblüffend ähneln, weist auf eine sehr ähnliche Evolution der beiden Faunen hin.« Thow grinste. »Es sei denn, die Vorfahren der Raben wurden irgendwann von Terra importiert beziehungsweise von Siedlern oder Raumfahrern mitgebracht«, sagte er sarkastisch. »Tja!« machte Stuckey resignierend und zuckte die Schultern. »Man muß eben alle denkbaren Möglichkeiten berücksichtigen«, sagte Thow Tanza. Er leckte sich über die Lippen. »Ich könnte etwas zu essen vertragen – und vor allem ein
Arkoniden, aber erstens noch längst nicht so aktiv wie andere galaktische Völker und zweitens so mit internen Problemen belastet, daß es absurd erscheint, sie könnten die Initiatoren der Pseudokaschkarit-Invasion sein.« Stuckey nickte. »Das stimmt zweifellos, Opa«, erwiderte er nachdenklich. »Es stimmt auch, daß wir auffallen würden, wenn wir jetzt plötzlich zwischen den Gruppen hindurchgingen. Ich schlage deshalb vor, wir warten die Dunkelheit ab und begeben uns erst dann in die Stadt. Sobald wir in einer größeren Menge untergetaucht sind, fallen wir nicht mehr auf. Schließlich tragen wir die Kleidung der Zirkusleute.« Dagegen hatte Thow Tanza nichts einzuwenden. Die beiden Männer lehnten sich bequem gegen die schräge Außenwandung des Schiffstrichters und beschränkten ihre Aktivität auf die Beobachtung der auf dem Raumhafen weilenden Personen sowie der Stadt. Stunde um Stunde verstrich. Es wurde gegen Mittag ziemlich heiß, besonders, da die Außenwandung des Trichters die Sonnenstrahlung reflektierte, so daß die beiden Spezialisten in Gefahr gerieten, von beiden Seiten »gebraten« zu werden. Deshalb zogen sich Stuckey Folus und Thow Tanza durch das Arenator auf ihrer Seite ins Innere des Trichters zurück. Unter den hochgeklappten Zuschauertribünen herrschte eine dumpfe warme Luft, die nach Stahlplastik, Fetten und Ozon roch. Zwar strichen durch die großen Arenatore weiterhin Luftströme, aber sie brachten keine frische Luft mehr herein wie am frühen Vormittag, sondern heißen Brodem, der sich über dem Platzbelag aufgeheizt hatte. Die beiden Männer waren gewohnt, sich Umständen, die sie nicht ändern konnten, weitgehend anzupassen. Also legten sie sich nieder und verschliefen die heißeste Zeit des Tages. Als am späten Nachmittag ein Gewitter über dem Raumhafen tobte und Regen auf den Platzbelag prasselte, kühlte sich die Luft schnell ab. Stuckey und Thow zogen sich aus und badeten in den kühlen Regenschauern. Danach 17
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Ärmel zurück. »Nicht hier«, flüsterte er ihm zu. »Vorerst sollten wir den Kontakt mit den hiesigen Menschen meiden. Ich schlage vor, wir suchen ein vollrobotisches Automatenrestaurant auf.« Thow zog eine entsagungsvolle Miene. »Aber bitte, bevor ich vor Schwäche ohnmächtig geworden bin«, erwiderte er. Er pfiff durch die Zähne, als eine junge Arkonidin an ihnen vorbeischritt: gertenschlank, biegsam, gut proportioniert, mit schmalem Gesicht und schulterlangem hellem Haar. »Da könnte ich meinen Hunger für eine Weile vergessen«, meinte er mit funkelnden Augen. »Reiß dich zusammen, Opa!« fuhr Stuckey ihn gedämpft an. »Du bist nicht zu deinem Vergnügen hier, sondern um harte Arbeit zu leisten!« »Eben das ...«, begann Thow, wurde aber von seinem Vorgesetzten unterbrochen. »Still! Schalte sofort auf die Großhirnrinde um! Wir werden von zwei Terranern argwöhnisch beobachtet.« Thow Tanza schluckte, machte ein desinteressiertes Gesicht und sah sich nach einer Weile unauffällig um. Er entdeckte die beiden Terraner, von denen Stuckey gesprochen hatte, neben einer Visiphonsäule. Die Männer waren mittelgroß und auf den ersten Blick eigentlich nur durch ihre blauschwarze Hautfarbe als Terraner zu erkennen. Sie trugen leichte und luftige RaumfahrerAusgehkombinationen sowie flache Mützen mit weit vorspringendem Schild. Ihre Arme waren lässig vor der Brust verschränkt, und sie blickten einmal hierhin und einmal dorthin. »Gefährliche Burschen«, meinte Thow. »Wir sehen lieber zu, daß wir aus ihrem Tasterbereich kommen.« Die beiden USO-Spezialisten schlenderten langsam weiter, scheinbar kaum an ihrer Umgebung interessiert. Erst nach einiger Zeit warf Stuckey vorsichtig einen Blick zurück. Die beiden Terraner standen nicht mehr neben der Visiphonsäule, sondern betraten gerade ein Speiserestaurant. Stuckey atmete auf. »Das ging noch einmal gut«, flüsterte er
großes Bier.« »Ich spüre ebenfalls Hunger«, meinte Stuckey. »Gehen wir also!« Nebeneinander gingen sie über den nassen Platzbelag auf die Silhouette der Stadt zu. Niemand begegnete ihnen. Die Raumfahrer, Zirkusleute und Einheimischen schienen sich alle in der Stadt zu befinden. Stuckey und Thow hatten den diesseitigen Stadtrand beinahe erreicht, als es Nacht wurde. Es gab jedoch ausreichend intakte Tiefstrahler auf dem Areal des Raumhafens, so daß es nie völlig dunkel werden konnte. Die Stadt selbst schließlich strahlte eine Aura von Helligkeit aus, die für jeden Menschen, der viel in der Einsamkeit des Weltraums und menschenleeren Planeten lebte, anziehend wirkte. Auch die beiden USOSpezialisten konnten sich dieser Anziehungskraft nicht entziehen. Sie vergaßen dabei jedoch nicht die Gefahr, in der sie ständig schwebten. Deshalb blickten sie sich immer wieder aufmerksam um, damit ihnen eventuelle Beschatter nicht entgingen. Doch sie erreichten die erste belebte Straße, ohne daß ihnen etwas in dieser Hinsicht aufgefallen wäre. Beim Anblick der Passanten schwand die Anziehungskraft der Stadt allerdings schlagartig. Die Menschen – hauptsächlich Arkoniden, aber auch Terraner und Angehörige anderer galaktischer Völker – waren normal gekleidet, wirkten aber im allgemeinen etwas ungepflegt. Vor allem aber verhielten sie sich seltsam ziellos, unkonzentriert und manchmal auch geistesabwesend. Wo sich eine Gruppe von Menschen zusammengefunden hatte, wurde kaum ein Wort gewechselt. Die Leute standen einfach so herum, ohne sich für die Auslagen der Geschäfte oder ihre Mitmenschen zu interessieren. Eine gewisse Ausnahme bildeten die Speiselokale. Hier herrschte ein normaler Betrieb. Den beiden USO-Spezialisten fiel jedoch auf, daß die Gäste sich nach dem Verzehr einer Mahlzeit wieder entfernten. Nirgendwo bildeten sich Gruppen vor den Theken, um miteinander zu sprechen und dabei Bier, Vurguzz oder andere Getränke zu trinken. Als Thow Tanza ein solches Speiselokal betreten wollte, hielt Stuckey Folus ihn am 18
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten »Das Positronengehirn dieses Lokals gehört verschrottet. Und für so etwas habe ich meine zehn Solar hingegeben.« Stuckey legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. »Pst!« flüsterte er. »Anscheinend sind sämtliche Automaten auf das eine Standardgericht umprogrammiert worden, weil Beeinflußte keine Sonderwünsche haben. Es wäre gefährlich, durch Proteste Aufsehen zu erregen, Opa.« Thow weinte fast. »Dennoch ist und bleibt es eine Gemeinheit, meine guten zehn Solar anzunehmen und dafür ein Gericht im Werte von höchstens zwei Solar herauszugeben«, sagte er. Stuckey zuckte die Schultern und begann zu essen. Nach einer Weile machte sich auch Thow über seine Mahlzeit her, und da er sehr hungrig war, schmeckte sie ihm sogar.
seinem Gefährten zu. »In Zukunft bitte ich mir ausschließlich Konzentration auf unsere Mission aus, du ...!« Den Rest verschluckte er aus angeborener Höflichkeit. Thow erwiderte nichts darauf, dafür blieb er plötzlich stehen und hielt Stuckey am Ärmel fest. Stuckey blieb stehen. »Was ist los?« fragte er ärgerlich. Thow deutete wortlos auf den Eingang eines Restaurants, über dem in Leuchtbuchstaben stand: ROBOTISCHES SPEISELOKAL – GALAKTISCHE SPEZIALITÄTEN. »Klingt das nicht vielversprechend, Pa?« erkundigte sich Thow Tanza. »Versuchen wir es«, meinte Stuckey. Sie betraten das Lokal, wechselten an einem der dafür bestimmten Automaten je zehn Solar in Zahlscheiben und musterten die dreidimensionalen und farbigen Angebotsprojektionen. Stuckey Folus zögerte nicht lange. Er entschied sich für ein Raumfahrersteak mit Standard-Gewürzsoße und Stärkeflocken. Dafür mußte er die Hälfte seiner Zahlscheiben einwerfen. Als das Tablett mit der Mahlzeit aus dem entsprechenden Spender kam, runzelte er die Stirn. Von einem Steak war nichts zu sehen, auch nichts von einer Gewürzsoße. Statt dessen fand er eine Schale mit SynthoProteinbrocken, einen Stärkemehlbrei und – in Silberfolie eingeschlagen – eine Gelatinekapsel vor die nach der Aufschrift zu urteilen eine Kombination von Vitaminen mit Spurenelementen enthielt. Thow lachte schadenfroh. »Das kommt davon, wenn man eine Standardmahlzeit wählt. Ich habe mich inzwischen für gegrillte Echsenschwänze nach Arkonidenart, einen vandusischen Kräutersalat und Mandelmarkklöße entschieden.« Er mußte alle seine Zahlscheiben einwerfen, um die Robotik zum Ansprechen zu bringen. Als sein Tablett im Spender erschien, wurde er zuerst blaß, dann rötete sich sein Gesicht. Er hatte genau das gleiche erhalten wie Stuckey Folus. »Das ist doch allerhand!« schimpfte er.
* Nach dem Essen verließen Stuckey und Thow das vollrobotische Lokal wieder und schlenderten durch die Straßen. Die Szene hatte sich kaum verändert. Immer noch standen überall kleine Gruppen von Menschen, hauptsächlich Arkoniden, herum, ohne daß eine echte Kommunikation stattfand. Andere schlenderten wie die beiden Spezialisten einfach nur durch die Straßen, ohne sich für etwas Bestimmtes zu interessieren. »Ich schlage vor, wir suchen eine öffentliche Bibliothek auf«, sagte Stuckey. »Dort dürften wir am ehesten etwas mehr über diesen Planeten und seine galaktische Position erfahren.« »Einverstanden«, antwortete Thow. Sie schlugen die Richtung zum Stadtzentrum ein, wo sich erfahrungsgemäß die öffentlichen Institutionen befanden. Da auf Terra und den meisten anderen zivilisierten Planeten der Milchstraße die öffentlichen Bibliotheken vollpositronisch verwaltete Informationszentren waren, die Tag und Nacht geöffnet hatten, durften sie hoffen, auch hier Einlaß zu finden und Fragen stellen zu können, ohne Mißtrauen zu erregen. Unterwegs musterten sie wiederum unauf19
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten ein kluger Kopf.« Stuckey seufzte. »Uns interessiert zur Zeit nicht der Admiral Sverkon, sondern dieser Planet, Opa«, sagte er mit mildem Vorwurf. »Mir sagt der Name der Stadt nichts. Dir vielleicht?« Thow schüttelte den Kopf. »Gehen wir!« sagte Stuckey. Sie gingen um den Platz herum, da er völlig menschenleer war und sie alles Aufsehen vermeiden mußten. Nur am Rand standen noch einige Personengruppen. Am Haupteingang der Stadtbibliothek standen zwei stationäre Kontrollroboter. Sie erfüllten allerdings nur registrierende Funktionen und verlangten keine Identifizierung der Besucher. Die hell erleuchtete Vorhalle enthielt mehrere Übersichtstafeln, nach denen der Besucher sich orientieren konnte. Thow und Stuckey entschieden sich dafür, zuerst einmal die Abteilung für Stadtgeschichte aufzusuchen, die sich im sechsten Stock befand. Sie schwebten in einem Antigravschacht nach oben, der ebenso leer war wie die Vorhalle. Offensichtlich interessierten sich Beeinflußte nicht mehr für das Informationsangebot der Bibliothek. Nachdem sie den Antigravschacht verlassen hatten, hallten ihre Schritte hohl durch einen Wandelgang, dann betraten sie die gesuchte Abteilung. Auch hier hielt sich niemand außer ihnen auf. Ansonsten wirkte alles völlig normal. In der Mitte des Saales stand der säulenartig geformte Auskunftsroboter, und in einer Art Rundumbord waren dicht nebeneinander transparente Kabinen angeordnet, in denen bequeme Liegen dafür sorgten, daß der Besucher sich entspannen konnte, während er sein Gehirn mit Informationen berieseln ließ. Stuckey Folus und Thow Tanza begaben sich in eine Doppelkabine, streckten sich auf den Liegen aus und warteten, bis die Servoschaltung ihrer Kabine sich nach ihren Wünschen erkundigte. Es dauerte danach nicht mehr lange, bis sie wußten, daß sie sich auf dem Planeten Wagtmeron, dem zweiten von insgesamt sechs Planeten der Sonne Kargnickan, befanden und daß dieser Planet von Neu-Arkoniden mit
fällig die Passanten, die ihnen begegneten. Sie suchten nach Anzeichen dafür, daß jemand nicht von den Pseudo-Speichererbsen beeinflußt war. Aber alle Gesichter, die sie sahen, wirkten irgendwie leer und ausdruckslos, beziehungsweise geistesabwesend. »Wie Androiden ohne aktives Programm«, stellte Thow Tanza erschaudernd fest. Stuckey Folus dachte, daß diese Definition wahrscheinlich den Kern der Sache traf. Jemand, beziehungsweise eine Organisation, beabsichtigte, nach und nach alle intelligenten Lebewesen der Galaxis mit den programmierten Gallertkügelchen aus Plasma zu verseuchen, um eine Art Androiden aus ihnen zu machen, die einem zentralen Willen gehorchten. Allerdings, so überlegte er weiter, zeugte das bisherige Vorgehen der geheimnisvollen Macht nicht gerade von hoher Intelligenz. Andernfalls wären die Beeinflußten auf Plophos niemals so vorgegangen, daß sie unweigerlich auffallen mußten. Sie erreichten den Zentralplatz der Stadt, eine Stunde, nachdem sie das Lokal verlassen hatten. Es handelte sich um einen mit bunten Platten belegten Platz, dessen Mittelpunkt vom obligatorischen Denkmal des Gründers der Kolonie geziert wurde. Am Rand des Platzes standen die typisch arkonidischen Verwaltungsbauten und dazwischen lagen Grünflächen. Eines der Gebäude wurde durch ein arkonidisches Symbol und eine Leuchtschrift als »Stadtbibliothek von Sverkon« ausgewiesen. Damit erhielten die beiden USO-Spezialisten die erste Information. »Die Stadt heißt also Sverkon«, sagte Thow und fuhr mit den Fingern der rechten Hand durch die melierte Lockenpracht, die seinen runden Schädel bedeckte. »Ich kenne einen Admiral Sverkon, der ein vorzügliches Werk über ›Das Gewohnheitsrecht in der Galaktonautik‹ geschrieben hat. Wahrscheinlich gründete er diese Kolonie.« »Du kennst ihn persönlich?« fragte Stuckey. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Thow. »Nur aus seinen kosmojuristischen Werken, die ich während meines Studiums des Weltraumrechts durcharbeiten mußte. Sverkon war 20
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten meron gelöscht worden. Ich denke, wir sollten nach dem medizinischen Zentrum der Kolonie suchen.« Er blickte sich um. Ungefähr fünfzig Meter von ihnen entfernt standen drei Arkoniden beisammen, ohne ein Wort zu sagen. »Wahrscheinlich ist es ungefährlich, sich bei ihnen nach dem medizinischen Zentrum zu erkundigen«, meinte Stuckey. Die beiden Männer setzten sich wieder in Bewegung. Unmittelbar neben den drei Arkoniden blieben sie stehen. Als keine Reaktion erfolgte, räusperte sich Stuckey und sagte auf Interkosmo: »Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich die Herren bei wichtigen Überlegungen störe, aber würde einer von Ihnen die Freundlichkeit besitzen, uns zu erklären, wie wir zum medizinischen Zentrum dieser Kolonie kommen?« Drei Köpfe wandten sich unendlich langsam um; drei blicklose Augenpaare richteten sich auf Stuckey Folus, ohne daß der Spezialist den Eindruck hatte, sie würden ihn wirklich sehen. Das änderte sich allerdings im nächsten Moment schlagartig. Mit den drei Arkoniden ging eine überraschende Wandlung vor. Ihre eben noch blicklosen Augen sprühten vor Vitalität, und die bisher ausdruckslosen Gesichter verzerrten sich zu erschreckenden Grimassen. Bevor Stuckey und Thow es sich versahen, hatten die Arkoniden sich auf sie geworfen und versuchten sie zu überwältigen. Sie entwickelten dabei Körperkräfte, die über das normale Maß weit hinausgingen. Stuckey Folus glaubte im ersten Augenblick, Roboterhände hätten ihn gepackt. Er schrie vor Überraschung und Schmerz, als ihm die Arme wie mit stählernen Klammern an den Leib gepreßt wurden. Dann aber besann er sich auf seine Dagor-Ausbildung. Er ließ sich fallen, während er seinem Körper durch geübte Fußarbeit gleichzeitig einen starken Drehimpuls um die vertikale Achse gab. Sein Gegner wurde herumgewirbelt, verlor den Halt unter den Füßen, und sein Kinn kam Stuckeys hochzuckendem Knie auf halbem Weg entgegen. Ächzend löste der Arkonide seinen Griff.
dem Ziel der Kolonisation besiedelt worden war. Das Sonnensystem Kargnickan befand sich im südlichen Randgebiet des galaktischen Zentrums. Weiterhin erfuhren sie, daß die Kolonie von Admiral Sverkon gegründet worden war, einem Arkoniden, der sich in vieler Hinsicht für das einst von Lordadmiral Atlan entwickelte Programm zur Revitalisierung des arkonidischen Volkes eingesetzt hatte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die insbesondere auf mangelnder technischer Hilfe von Arkon beruhten, erlebte die Kolonie eine bescheidene Blüte. Sie wurde wirtschaftlich autark, wenn sie auch noch nie eine Bedeutung für den galaktischen Handel gehabt hatte. Immerhin brauchten die Kolonisten ihren Bedarf an technischer und medizinischer Ausrüstung nicht mehr durch teure, oft sogar unerschwingliche Importe zu decken. Als die Bildton-Übertragung sich ausschaltete, richteten die beiden USO-Spezialisten sich auf und sahen sich vielsagend an. Sie schwiegen jedoch, bis sie sich wieder außerhalb der Bibliothek befanden. »Wagtmeron ist also auch in medizinischer Hinsicht autark«, sagte Tanza bedeutungsvoll. Stuckey nickte. »Und zum Aufbau einer medotechnischen Industrie gehören Fachwissenschaftler, die wahrscheinlich von Welten angeworben wurden, auf denen hervorragende Ausbildungsstätten existieren«, sagte er. »Möglicherweise hat einer dieser Wissenschaftler oder eine Gruppe von Wissenschaftlern die besondere Situation auf Wagtmeron ausgenutzt, um verbotene Experimente durchzuführen. Ein Spezialist auf seinem Fachgebiet dürfte hier von niemandem kontrolliert worden sein, weil es niemanden gab, der seine Arbeit durchschaute.« »Sollen wir noch einmal in die Bibliothek gehen und uns Informationen über die entsprechenden Fachwissenschaftler verschaffen?« erkundigte sich Thow. Stuckey Folus überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Wenn unsere Vermutung zuträfe, hätte das wenig Sinn. In diesem Falle wären die entsprechenden Informationen nach der Machtübernahme der Gallertkügelchen auf Wagt21
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten bei den drei Arkoniden gewesen sein.« »Woraufhin sie den Zwangsbefehl erhielten, uns festzunehmen«, ergänzte Stuckey. Er blickte sich um und sah, daß sich von zwei Seiten mehrere Personen ihrem Standort näherten. Sie bewegten sich nur langsam, als wüßten sie noch nicht genau, was sie eigentlich wollten, dennoch wirkte es bedrohlich. »Verschwinden wir«, sagte er, »bevor wir eingekreist sind. Wir müssen erst einmal untertauchen, um eine Denkpause zu erhalten.« Sie schlugen sich in die Büsche des benachbarten Parks, liefen über eine Wiese und gingen wieder normal, als sie eine kaum belebte Nebenstraße erreichten. Niemand verfolgte sie, und niemand hielt sie auf. Erleichtert setzten sie ihren Weg fort.
Stuckey tänzelte ein paar Schritte zur Seite und sondierte die Lage. Sein Partner hatte unterdessen den zweiten Arkoniden kampfunfähig gemacht, doch der dritte schien ebenfalls etwas von Nahkampftaktik zu verstehen. Er empfing Thow, der ihn mit gesenktem Schädel rammen wollte, mit einem Doppelschlag gegen Kinn und Schläfe und holte dann zu einem Handkantenschlag in den Nacken aus. Stuckey schnellte sich mit beiden Füßen ab, flog zwei Meter durch die Luft und packte das wallende Gewand des Gegners. Es gab ein reißendes Geräusch, dann landete Stuckey Folus sehr unsanft auf dem Rücken. Seine Hände hielten einen großen Fetzen Stoff aus dem Gewand des Arkoniden umklammert. Von dem harten Aufprall halb betäubt, versuchte Stuckey, sich aus der Gefahrenzone zu rollen, denn er hatte aus den Augenwinkeln gesehen, daß der Arkonide eine Strahlenwaffe aus seinem Gewand riß. Vielleicht wäre Folus verloren gewesen, wenn Thow sich nicht inzwischen aufgerafft hätte und den letzten Gegner durch einen Handkantenschlag in die Seite ausgeschaltet hätte. Der betäubte Arkonide ließ seine Strahlenwaffe fallen. Sie rutschte genau neben Stuckeys rechte Hand und der Spezialist steckte sie schnell in seinen Gürtel. Dann stand er auf. Thow Tanza schüttelte benommen den Kopf und betastete die Schwellung, die sich an seinem Kinn bildete und sich allmählich verfärbte. »Das müssen Verrückte gewesen sein, Pa«, lallte er. Stuckey Folus bewegte vorsichtig die Beine, und das Taubheitsgefühl aus Rücken und Gesäß milderte sich. »Nicht verrückt, sondern beeinflußt und dadurch zu absoluter Höchstleistung stimuliert«, gab er zurück. »Wenn wir es mit gleichwertigen Kämpfern zu tun gehabt hätten, lägen wir jetzt an ihrer Stelle auf dem Boden.« Thow reckte sich vorsichtig. »Es scheint, daß die Gallertkügelchen der Beeinflußten spüren, wenn sich Unbeeinflußte in der Nähe befinden«, meinte er. »So muß es
3. Im Norden der Stadt stießen die beiden USO-Spezialisten auf ein Trichterhaus, das verlassen zu sein schien, denn im Unterschied zu allen anderen Trichterbauten leuchtete bei diesem keine Kontrollplatte neben dem Haupteingang. »Hier gibt es wahrscheinlich genügend Kleidungsstücke, die die ehemaligen Bewohner zurückgelassen haben, so daß wir unser Äußeres verändern können«, sagte Stuckey. »Wir müssen nur hineinkommen«, meinte Thow. »Leider führen wir nur ein Minimum unserer Spezialausrüstung mit, weil wir auf den Start der COMOTOOMO nicht vorbereitet waren.« »Es muß genügen«, erwiderte Stuckey. Er hantierte an seinem Chronographen, bis er sich um hundertachtzig Grad drehte. Die Unterseite sah wie die eines gewöhnlichen Chronographen aus, enthielt aber in der Bodenschicht aus Isoplast vorzüglich getarnte sogenannte Leitkerne, die in diesem Fall als Impulssender und -empfänger dienten. Als Stuckey die Unterseite seines Chronographen gegen die Arkonitstahlfüllung der Tür preßte, wurde im Innern des Gerätes ein Komplex aktiviert, der im wesentlichen aus einer Submikropositronik bestand. Arkonidische Türpositroniken verfügten über hochwertige Kristallschwingungsspeicher, die für die abweichungsfreie Erhaltung 22
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten lange nach Kleidungsstücken zu suchen. Normalerweise wurden Hausbewohner und Gäste bei Bedarf von robotischen Dienern versorgt, da sich in dem Haus aber keine aktivierten Roboter befanden, bedienten die USO-Spezialisten sich selbst. Stuckey fiel es nicht schwer, passende arkonidische Kleidung für sich zu finden. Er wählte, da er körperliche Bewegungsfreiheit für wichtig hielt, keines der togaähnlichen Kleidungsstücke, sondern eine RaumfahrerFreizeitkombination und dazu einen kurzen Schulterumhang. Die erbeutete Strahlenwaffe steckte er in die Halfter des breiten Elastometallgürtels, der zu der Kleidung gehörte. Thow dagegen sah sich wegen seiner geringen Körpergröße von nur 1,58 Meter vor ernsthafte Schwierigkeiten gestellt. Er konnte auch keines der für männliche Jugendliche bestimmten Kleidungsstücke anlegen, da er dafür zu breit gebaut war. Schließlich blieb ihm nichts weiter übrig, als in die Kleidung zu schlüpfen, die ehemals einer nichtarkonidischen Hilfskraft des Hauses beziehungsweise des Hausherrn gehört hatte und die ungefähr seine Maße aufwies. Mit einem Unterschied allerdings: Die Hilfskraft war weiblichen Geschlechts gewesen. Da die Kleidung aus Hose, Stiefeln Hemd und Blousonjacke bestand, merkte Thow Tanza die markanten Unterschiede erst, als er die unausgefüllten Erweiterungen in Brusthöhe sah. Er stieß einige Verwünschungen aus und wollte sich die Kleidungsstücke wieder vom Leib reißen, doch konnte Stuckey ihn dazu überreden, sie zu behalten. Es fand sich genügend Schaumstoff, mit dem sich die Lücken ausfüllen ließen. Nur die Hose war und blieb zu weit, und zwar hinten. »Ich sehe aus wie eine Karikatur meiner selbst«, jammerte Thow, während er sich vor einem normalen Kristallspiegel drehte. Die Feldspiegel funktionierten wegen der desaktivierten Kraftstation nicht. »So übel siehst du gar nicht aus Opa«, versuchte Stuckey ihn zu trösten. Er räusperte sich. »Oder sollte ich ab sofort nicht lieber ›Oma‹ zu dir sagen?« Seinem Partner traten fast die Augen aus den Höhlen.
des einprogrammierten Impulskodes sorgten, mit dem allein der Öffnungsmechanismus einer solcherart abgesicherten Tür zu aktivieren war. Die superempfindlichen Leitkerne im Boden von Stuckeys Chronographen sandten Tasterimpulse aus, die nur mit Spezialgeräten anzumessen waren. Diese Impulswellen trafen auf die Gedächtnisschwingungen der arkonidischen Türpositronik und wurden von ihnen moduliert. In kurzen Intervallen schickte die Apparatur in Stuckeys Chronographen den normal lichtschnellen Tasterimpulsen überlichtschnelle Kurzimpulse nach, die von dem modulierten Energiemuster der ersten Impulse reflektiert und von anderen Leitkernen empfangen wurden. Aus der Veränderung des Energiemusters der normal lichtschnellen Tasterimpulse ermittelte dann die Submikropositronik im Chronographen den Impulskode mit Schlüsselfunktion. Danach sandte sie diesen Impulskode aus – und wenn er stimmte, wurde die Öffnungsautomatik aktiviert. Er stimmte nicht immer, denn das winzige Gerät in Stuckeys Chronographen konnte beispielsweise keine dimensional übergeordneten Verzerrungsimpulse ausfiltern, wie sie bei Türpositroniken von Geheimobjekten verwendet wurden. Ein Wohnhaus aber war normalerweise kein Geheimobjekt. Dennoch waren die beiden Männer froh, als die Tür des Trichterhauses sich leise summend auf einer Mittelachse drehte und derart zwei getrennte Öffnungen freigab. Dahinter schimmerte nur das trübrote Licht der Notbeleuchtung, ein weiterer Beweis dafür, daß das Haus tatsächlich verlassen war und daß die Bewohner nicht nur ausgegangen waren. Die Kraftstation mit dem Fusionsmeiler, der sonst das Haus mit Energie versorgte, war demnach ausgeschaltet. Stuckey Folus und Thow Tanza beabsichtigten nicht, sich längere Zeit in dem Trichterhaus aufzuhalten. Deshalb verzichteten sie darauf, die hauseigene Kraftstation zu aktivieren. Die Notbeleuchtung reichte für ihre Zwecke völlig aus. Da sie sich in der Raumaufteilung arkonidischer Häuser auskannten, brauchten sie nicht 23
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten denkleidung jedem wachsamen Augenpaar aufgefallen. Nachdem beide Männer sich noch an Konserven gütlich getan hatten, verließen sie das Haus wieder. Da Stuckeys Submikropositronik den Impulskode für die Tür gespeichert hatte, konnten sie aber jederzeit zurückkehren. Sie betrachteten das Trichterhaus als ihren »schlafenden« Stützpunkt. Es war Mitternacht vorüber, als sie auf die Straße traten. In den meisten Gebäuden brannten keine Lichter mehr. Auch Beeinflußte schienen einem mehr oder weniger regelmäßigen Tagesablauf zu unterliegen. »Wir hätten noch bis zum Morgen schlafen sollen«, meinte Thow Tanza. Stuckey schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt ist die günstigste Zeit, um nach dem hypothetischen medizinischen Zentrum zu suchen. Am Tage laufen zu viele Leute herum. Ich kann mir nicht helfen, aber ich bin überzeugt davon, daß der Zwischenfall mit den drei Arkoniden irgendwo registriert worden sein muß. Folglich ist auch eine Reaktion erfolgt.« Thow »klimperte« mit den künstlichen Wimpern, die er sich mit Hilfe von Biomolplast an die Lider geheftet hatte und die einen gewissen »weiblichen« Ausgleich zu seinem männlich-derben Kinn bilden sollten. »Niemand kann uns wiedererkennen, Pa. Aber meinetwegen. Hast du schon eine Vorstellung davon, wo ungefähr dieses medizinische Zentrum liegen dürfte?« »Nein ...«, antwortete Stuckey gedehnt. »Aber die Stadt Sverkon ist relativ klein, deshalb werden alle kommunalen medizinischen Einrichtungen an einer Stelle zusammengefaßt sein. Wenn ein Notfall vorläge, dann erschiene sicher ein Krankentransportgleiter und brächte die betreffende Person in die Klinik – und dort würden wir sicher finden, was wir suchen.« Thow grinste plötzlich. Er deutete nach vorn. »Dort kommt unser Notfall, Pa!« flüsterte er. »Wo?« fragte Stuckey. Er blickte in die Richtung, in die sein Partner gezeigt hatte, konnte aber nur einen einzelnen Mann erblicken, der eben aus einer
»Bist du wahnsinnig, Pa!« Stuckey hob entschuldigend die Hände. »Ich wollte dich keineswegs kränken«, erklärte er. »Aber da du die Kleidung einer Frau trägst ...« »Einer Dame, bitte!« unterbrach Thow ihn. »Also, gut! Da du die Kleidung einer Dame trägst, brauchst du einen weiblichen Namen – aber keinen arkonidischen, denn du gehörst nur zu den Hilfsvölkern.« »Wie wäre es mit ›Nancy‹?« erkundigte sich Thow unschuldig. »Untersteh dich, ihren Namen in den Schmutz deiner häßlichen Gestalt zu ziehen!« empörte sich Stuckey. Seine Augen funkelten zornig. »Na, gut!« meinte Thow beschwichtigend. »Dann heiße ich eben Bruthilde, nach der Königstochter aus dem Lohengrin-Epos.« Stuckey Folus schluckte. »Bei allen Neutronensternen! Was bist du nur für ein Kulturbanause, Opa! Die Dame hieß Brunhilde und kam in der terranischen Siegfried-Sage vor. Sie soll Kräfte wie ein Ertruser gehabt haben.« »Dann ist es der richtige Name für mich. Wir werden ihn allerdings in der kurzen Fassung ›Bruni‹ gebrauchen. Einverstanden, Pa?« »Einverstanden, Bruni«, antwortete Stuckey. Er war erleichtert darüber, daß die Umbenennung relativ glatt gelaufen war. Dann fiel sein Blick auf das Gesicht seines Partners. »Allerdings mußt du deinen Bart noch entfernen«, meinte er. »Ich werde nachsehen, ob hier irgendwo Bartentfernungscreme herumliegt.« Sie suchten beide und fanden schließlich eine noch gutgefüllte Spraydose. Thow bediente sich zuerst, da er unbedingt für längere Zeit bartlos bleiben mußte. Sie hatten beide die Gesichter voller Bartstoppeln, da sie ihre letzte Behandlung mit Bartentfernungscreme verpaßt und an Bord der COMOTOOMO keine Gelegenheit gefunden hatten, sie nachzuholen. Als Thows Gesicht glatt war, bediente sich auch Stuckey. Anschließend suchte und fand er eine weißhaarige Arkonidenperücke. Mit seinem Bürstenhaarschnitt wäre er in Arkoni24
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten delte sich um einen untersetzt gebauten Mann mit mongolischem Einschlag und demnach um einen Terraner oder um einen Mischling mit starkem terranischen Erbgut. Erst nach dem zweiten Blick erkannte er den Mann. »Das ist Torrik!« entfuhr es ihm. Thow bückte sich und starrte in das Gesicht des Mannes. »Tatsächlich, das ist der Kerl, der die beiden ›neugeborenen‹ Killerbabys töten lassen wollte. So ein Schuft! Schade, daß ich nicht härter zugeschlagen habe.« »Wie lange wird er bewußtlos bleiben?« erkundigte sich Stuckey. »Eine halbe Stunde etwa.« »Das genügt nicht. Wenn er erwacht, wird er berichten, was wirklich geschehen ist. Ich habe hier zwar noch keine Ordnungskräfte gesehen, aber eigentlich müßten sich einige Leute wundern, warum jemand einen Passanten niederschlägt und dann den Krankentransport alarmiert.« Er suchte in seinem Unterzeug, das noch aus seinem Eigentum stammte, und förderte bald darauf eine kleine Injektionskapsel zutage. Mit kurzem Ruck preßte er die Kapsel in Torriks Nacken. »Was war das, Pa?« fragte Thow. »Hochprozentiger Alkohol mit einer Verstärkungskomponente«, antwortete Stuckey. »Der Rausch wird mindestens zehn Stunden vorhalten. Sollte man ihm in der Klinik ein Absorbermittel injizieren, tritt eine vorübergehende Amnesie ein. Das gibt uns Zeit genug.« Der Bewußtlose begann übergangslos zu schnarchen. Sekunden später senkte sich ein blauer Fluggleiter herab und landete neben den Männern. Die Heckklappe öffnete sich. Zwei Medoroboter stiegen aus, legten den Bewußtlosen auf eine Trage und hoben ihn in den geräumigen Transportraum. Aus einem Lautsprecher im Seitenteil der Pilotenkabine ertönte eine Automatenstimme und fragte: »Befindet sich hier eine verwandte Person des Patienten?« Thow und Stuckey blickten in die Kabine. Sie war leer. Demnach wurde das Fahrzeug
Nebenstraße gekommen war und sich in ihre Richtung bewegte. »Er ist doch nicht krank«, meinte er. »Im Gegenteil, er schreitet ziemlich kräftig aus.« »Das wird sich gleich ändern«, versicherte Thow Tanza und eilte leichtfüßig davon. Stuckey Folus wollte seinem Partner nachlaufen, zögerte aber, weil er fürchtete, daß jemand – wer immer das sein mochte – es falsch auslegen könnte, wenn er nachts einer Person nacheilte, die weiblichen Geschlechts zu sein schien. Bevor er seine Schüchternheit überwunden hatte, erreichte Thow den einzelnen Nachtwandler. Der blieb überrascht stehen, als er eine Dame auf sich zulaufen sah. Im nächsten Augenblick stürzte er auf den Straßenbelag. »Abscheulich!« sagte Stuckey tadelnd. Thow drehte sich winkend um. »Er ist nur ein bißchen ohnmächtig, Pa. Sei doch nicht immer so zimperlich.« Er untersuchte sein »Opfer« kurz, dann ging er zur nächsten, nur wenige Meter entfernten, Visiphonsäule und drückte auf die Aktivierungsplatte. Als die Robotvermittlung sich meldete, sagte er: »Notfall! Ein Passant liegt bewußtlos auf der Straße. Allem Anschein nach ist er gestürzt und dabei mit dem Schädel aufgeschlagen.« »Registriert und lokalisiert«, antwortete eine schnarrende Roboterstimme. »Krankentransport wird soeben verständigt. Sie werden ersucht, bei dem Bewußtlosen zu warten, bis der Gleiter eingetroffen ist. Ihnen steht eine Entschädigung für die aufgewendete Zeit zu. Würden Sie zum Zweck der entsprechenden Buchung bitte Ihre ID-Karte vor die Aufnahmelinse halten!« »Ich verzichte auf die Entschädigung«, erwiderte Thow. »In diesem Falle habe ich Ihnen im Namen der Bürgerschaft von Sverkon verpflichtenden Dank auszusprechen. Ende.« Thow drehte sich zu Stuckey um und meinte lächelnd: »Noch eine solche ›gute Tat‹, und ich werde Ehrenbürger der Stadt Sverkon.« Stuckey erwiderte nichts darauf, sondern blickte auf den Bewußtlosen herab. Es han25
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Stuckey Folus nickte. »Wir müssen zu den Forschungslaboratorien«, erwiderte er. »Zwei Gebäude kommen dafür in Frage, wie ich von oben gesehen habe.« Sie wandten sich der nächsten von insgesamt drei Antigravschacht-Öffnungen zu und schwebten bis zum Erdgeschoß, ohne daß jemand oder etwas daran Anstoß nahm. »Hier herrscht wirklich eine angenehme Atmosphäre«, sagte Thow. »Auf Terra wollte ich mal eine Tante von mir im Krankenhaus besuchen. Dabei geriet ich versehentlich in den Wohntrakt der Schwesternschülerinnen.« Er verdrehte die Augen. »Die diensthabende Oberschwester hat mich von zwei Robotern an die Luft setzen lassen.« »Offenbar gibt es hier keine Schwesternschülerinnen«, erwiderte Stuckey trocken. Sie stiegen im Erdgeschoß aus und blickten sich um. Die Liftröhre endete frei in einer Halle, von der insgesamt sechs grünlich schimmernde Glastüren abgingen. Die Beschriftungen wiesen darauf hin, daß hinter allen sechs Türen nur weitere Abteilungen des Unfallkrankenhauses lagen. Mit Ausnahme einer Tür, an der »Ausgang« stand. Stuckey und Thow verließen das Gebäude des Unfallkrankenhauses. Als sie ins Freie traten, schwebte leise summend eine offene Schale heran und sagte: »Zu Diensten! Bitte, steigen Sie ein und nennen Sie Ihr Ziel!« Stuckey wollte sich auf einen Sitz des schalenförmigen Robotgleiters schwingen, besann sich aber noch rechtzeitig darauf, daß eine »Dame« in seiner Begleitung war. Er eilte an »Opas« linke Seite und half ihm galant in den Gleiter, erst dann stieg auch er ein. »Dankeschön!« sagte Thow-Bruni zuckersüß. »Bitte, zum Forschungslabor!« sagte Stuckey zu dem unsichtbar installierten Roboter des Gleiters. Im Grunde genommen handelte es sich ja um einen Roboter in Gleiterform und nicht um zwei gesonderte Geräte. »Verstanden«, erwiderte die Schale. Sie summte dunkel, als sie anschwebte,
allein durch den ferngelenkten Autopiloten unter der Aggregatehaube gesteuert. »Ich bin mit ihm befreundet«, sagte Thow Tanza, wobei er versuchte, seine Stimme höher klingen zu lassen. »Name?« schnarrte die Automatenstimme. »Bruni«, antwortete Thow. Er deutete auf Stuckey. »Und das ist mein Bruder Stuff.« »Verstanden«, antwortete der Autopilot. »Es steht Ihnen und Ihrem Bruder frei, den Patienten in die Klinik zu begleiten. In dem Fall steigen Sie bitte vorn ein.« Stuckey und Thow verständigten sich durch einen kurzen Blick, dann stiegen sie in die leere Pilotenkabine, die sich vor ihnen automatisch öffnete, und hinter ihnen wieder schloß. Danach hob der Gleiter mit summenden Aggregaten ab, wendete in dreihundert Metern Höhe und flog mit eingeschalteten Blinklichtern durch die Nacht. Erstmals sahen Stuckey und Thow die Stadt Sverkon unter sich liegen und erhielten annähernd einen Gesamtüberblick. Der Gleiter flog nach Osten. Bald kam ein hell erleuchteter Gebäudekomplex in Sicht. An der Anordnung und Bauart der Gebäude erkannten die beiden USO-Spezialisten, daß es sich um ein großzügig gestaltetes medizinisches Zentrum handelte, bestehend aus dem genormten Kern für neuarkonidische Kolonialwelten und mehreren Erweiterungsbauten. Der Gleiter landete auf der Dachplattform eines der Kerngebäude. Die Landefläche sank wenig später durch einen Schacht ins Gebäude hinab. Als sie anhielt, waren zwei andere Medoroboter mit einer Antigravtrage zur Stelle. Der Bewußtlose wurde umgeladen und sofort in einen Untersuchungsraum gebracht. Anschließend stieg der Krankentransportgleiter wieder nach oben. Vorher hatten die beiden Spezialisten die Pilotenkabine verlassen. Sie blickten sich um. Außer verschiedenen Robotertypen, wie sie in Kliniken gebraucht wurden, war niemand zu sehen. Die Tür des Untersuchungsraums hatte sich hinter Torrik und den beiden Medorobotern geschlossen. »In der Unfallstation werden wir kaum etwas entdecken, das uns weiterhilft«, meinte Thow. 26
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten und rechts rötliche Teleaugen auf, und eine beinahe menschliche Automatenstimme sagte: »Eintritt ist nur mit gültigem Impulskode gestattet. Besucher wenden sich gegebenenfalls an die Direktion des Medozentrums.« Thow gab seinem Partner ungeduldig Zeichen mit der Hand. Stuckey nickte und hantierte wieder an seinen Armband-Chronographen. Als er die Unterseite gegen die Metallplastikfüllung der Labortür preßte, klickte es schwach, dann glitten die Türhälften lautlos in die Wände zurück. Die beiden Männer blickten sich fragend und voller Zweifel an. Sie waren sich nicht sicher, ob die schnelle Öffnung der Tür auf ein störungsfreies Ansprechen von Stuckeys Submikropositronik zurückzuführen war oder ob es sich vielleicht um eine Falle handelte und die Türpositronik längst über Funk Alarm ausgelöst hatte. Doch dann entschlossen sie sich, das Risiko auf sich zu nehmen. Sie traten durch die Öffnung, hinter der sich eine in gelbes Licht getauchte kleine Vorhalle befand. In der halbkreisförmig geschwungenen Wand befanden sich drei Türen. Ebenso viele Teleaugen leuchteten von innen. Es handelte sich um halbkugelförmig vorgewölbte Augen, für die es in der Vorhalle keinen toten Winkel gab. Stuckey schluckte. Es war immer ein seltsames Gefühl, wenn man wußte, daß man von einer Positronik gesehen wurde, als wäre sie ein organisch lebendes Wesen. Unheimlich aber wurde es, wenn sie, wie hier, nicht wußten, ob die beobachtende Positronik sie als Freund oder Feind ansah und welche Gegenmaßnahmen sie in letzterem Fall ausgelöst haben mochte. Da keine der Türen eine Beschriftung trug, entschlossen sich die Spezialisten, eine nach Belieben auszuwählen. Wieder verständigten sie sich nur durch Blicke, damit die AkustikSensoren der Überwachungspositronik nichts Verdächtiges auffangen konnten. Als sie dicht vor der mittleren Tür waren, glitt sie lautlos zur Seite. Dahinter lag ein etwa fünf Meter langer Korridor, dessen Abschluß wiederum von einer Tür gebildet wurde. Auch sie trug keinen Hinweis darauf, was sich hinter ihr befand.
dann wurde das Summen wieder so leise, daß man es kaum noch hörte. Die Schale hielt sich strikt an die zahlreichen Plattenwege des Komplexes und schwebte nicht ein einziges Mal über Rasen oder Blumenrabatten. Es war anheimelnd still, wenn man vom leisen Plätschern und Rauschen mehrerer Springbrunnen absah. Vereinzelt flatterten Nachtinsekten lautlos durch die milde Luft und sammelten sich an den Leuchtflächen der auf schwach eingestellten Tiefstrahler, in deren Licht die Landschaft aussah, als würde sie von drei hellen Monden beschienen. Stuckey geriet in eine Stimmung, in der er beinahe die Größe der Gefahr vergaß, die von diesem Planeten ausging. Er erinnerte sich noch rechtzeitig an die grauenhaften Vorfälle auf Plophos und schüttelte diese Stimmung ab, doch er zweifelte daran, daß das medizinische Zentrum von Sverkon etwas mit der Verbreitung der hypnosuggestiv wirkenden Gallertkügelchen zu tun hatte. Als die Schale vor einem flachen Rundbau anhielt, sagte sie: »Das Forschungslabor, wie gewünscht.« Die USO-Spezialisten stiegen aus und die Schale verschwand mit leisem Summen auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war. Stuckey Folus musterte den Rundbau. Das Dach war leicht nach oben gewölbt und bestand aus semitransparentem Plastikmaterial. Die Wände waren praktisch nur Rahmen für die riesigen Fenster, die zwar Licht hindurchließen, von außen aber undurchsichtig waren. »Sollen wir uns die Beine in den Bauch stehen?« fragte Thow Tanza gereizt. Stuckey holte tief Luft und ging auf die breite Tür zu, die unter einem leuchtenden Vordach lag. »Umsehen können wir uns ja«, erwiderte er ohne große Hoffnungen. * An der Tür endete der Weg – jedenfalls vorläufig. Sie war verschlossen und offenbar durch ein Kodeimpulsschloß verriegelt. Außerdem verfügte die Türpositronik über einige Zusatzfunktionen. Als Thow die Tür abtastete, glommen links 27
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten ber noch erträglich. Stuckey rechnete die vom Außenthermometer angezeigten Werte um und kam auf minus achtunddreißig Grad Celsius. Beiden Spezialisten war jedoch klar, daß es sich bei diesem Raum noch nicht um die eigentliche Kältekammer handelte; er war praktisch nur eine große Pneumoliftkabine, auch wenn die zahlreichen Kontrollen an der Wandung noch auf andere Funktionen deuteten. Auf einer Schaltplatte waren untereinander zehn Knöpfe angeordnet. Da das Forschungslabor nur einstöckig war, konnte das nur bedeuten, daß sich neun weitere Etagen unter der Oberfläche befanden. Thow legte einen Finger auf den untersten Knopf und blickte seinen Partner fragend an. Stuckey nickte. Thow drückte den Knopf ein. Es zischte leise, dann glitt der Lift weich nach unten. Nacheinander leuchteten die Knöpfe auf. Als der unterste Knopf leuchtete, zischte es abermals, und die Liftkabine hielt an. Neben der Schaltplatte entstand eine Öffnung. Dahinter sahen die Männer in bläulichem Licht einen breiten Korridor mit zwei gegenläufigen Transportbändern, die sich aber nicht bewegten. Die Bewegungseinrichtungen waren nur durch die gelb leuchtenden Dreiecke an den Innenrändern der Bänder zu erkennen. Wieder verständigten sich Stuckey und Thow durch einen Blick, dann verließen sie die Liftkabine und traten auf das nächste Transportband, das von ihnen wegführte. Ein tiefes Brummen erscholl, wurde abgelöst von einem hellen Singen, das in leises Summen überging, als beide Transportbänder sich in Bewegung setzten. Die Geschwindigkeit betrug höchstens sechs Stundenkilometer. Für große Entfernungen schien demnach das Band nicht gedacht zu sein. Tatsächlich endete es nach rund fünf Minuten vor einem großen Schott. Stuckey und Thow sprangen ab und gingen auf das Schott zu. Sie bemühten sich dabei, die beiden Teleaugen, die links und rechts in den Wänden glommen, nicht anzustarren, sondern so zu tun, als sähen sie sie überhaupt nicht. Stuckey fragte sich, wie lange ihre Glückssträhne noch anhalten mochte. Es erschien
Immerhin öffnete sie sich ebenfalls automatisch vor Stuckey und Thow. Die Männer traten hindurch und sahen sich in einem mit Laborautomaten terranischer Herkunft angefülltem Raum, das heißt, an drei Wänden standen dicht an dicht die zirka drei Meter hohen, ein Meter breiten und einen halben Meter tiefen Geräte, deren unteres Drittel etwas vorstand und auf dem Vorsprung eine Schalt- und Kontrollplatte enthielt. Diesmal brauchten sie nicht zu raten, denn jeder aktivierte Laborautomat enthielt über der Schaltplatte eine Sichtleiste, auf der elektronische Schriftbilder über die Art und Weise des laufenden Versuchsprogramms Auskunft gaben. »Kosmostatika Nr. 334-BT-61 auf Tumorzellenkultur LP-K-8895«, las Thow von einer der Sichtleisten ab. »Medobiologisch höchst interessant, aber nicht für uns.« »Kultur von HKY-Kristall«, las Stuckey von einer anderen Sichtleiste. »Es scheint sich tatsächlich nur um normale Versuche zu handeln.« Nach rascher Überprüfung der übrigen Laborautomaten verließen die beiden Männer diesen Raum wieder. Sie kehrten in die Vorhalle zurück und wählten diesmal die Tür auf der rechten Seite. Dahinter lag ein rund zwölf Meter langer Korridor, und an seinem Ende befand sich wiederum eine Tür. Als sie sich öffnete, erkannten die Spezialisten allerdings, daß sie diesmal etwas Interessanteres gefunden hatten, denn sie war nur das Außenschott einer kleinen Schleusenkammer, in der Schutzanzüge hingen. »Kälteschutzanzüge«, stellte Thow Tanza nach einer kurzen Überprüfung fest. »Es wird ratsam sein, wenn wir je einen Anzug überziehen, bevor wir das Innenschott öffnen.« Stuckey Folus nickte schweigend. Nachdem sie in die Anzüge gestiegen waren und gemeinsam Thows Schwierigkeiten mit seinem viel zu großen Anzug behoben hatten, öffnete sich das Innenschott von selbst. Offenbar kontrollierte eine Automatik, ob die in der Kammer befindlichen Personen sich mit Schutzanzügen versehen hatten. In dem Raum dahinter war es zwar kalt, a28
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Datenspeicher in den verschiedensten Positroniken dienten – aber leider in modifizierter Form auch programmiert werden konnten, so daß sie Hypnosuggestivbefehle an ein beliebiges Trägergehirn weitergaben, wie die letzten Ereignisse bewiesen hatten. Stuckey erholte sich von dem ersten Schock, schaltete das Funksprechgerät seines Partners und sein eigenes ein und sagte leise: »Keine normale Klinik lagert ReserveKaschkarits für ihre Positronengehirne, Partner. Erstens sind die Dinger unverwüstlich, und zweitens liefert jeder Robotik-Service innerhalb von Minuten einwandfreien Ersatz.« »Also handelt es sich höchstwahrscheinlich um Pseudo-Kaschkarits«, erwiderte Thow Tanza ebenso leise. Stuckey wollte sich am Ohr kratzen, stieß gegen den Klarsichthelm seines Schutzanzugs und zog die Hand rasch zurück, damit sein Partner nichts merkte. »Aber warum bewahrt man sie dann tiefgekühlt und im Vakuum auf?« überlegte er laut. »Sie können doch nicht verderben. Oder sollten sie für einige Erreger anfällig sein?« Er ging zu dem halbkreisförmigen Schaltpult und musterte die verschiedenen Hinweise, die teils in Schriftbildern, teils in Symbolen gehalten waren. Dann hob er eine Klappe hoch, blickte in die dahinterliegende Röhre, ließ die Klappe wieder zufallen und sah sich im Raum um, bis er das Wandgestell mit den silbrig glänzenden Zylindern entdeckt hatte. »Jetzt ist mir klar, wozu dieser Raum dient«, erklärte er. »Er ist die interne Verteilerstelle für Pseudo-Kaschkarits, die durch ein Pneumo-Rohrpostsystem in alle Abteilungen des Medozentrums geschickt werden können.« Er deutete auf ein Schriftbild. »Es gibt sogar eine Versandverbindung zur Neugeborenenstation. Damit steht fest, daß in Sverkon schon die Neugeborenen mit Gallertkügelchen verseucht werden. Es ist grauenhaft; sie müssen sich unter diesen Umständen zu Menschen entwickeln, die faktisch Androiden sind.« »Dann sind sicher auch die Zirkusandroiden hier mit Gallertkugeln präpariert worden, bevor man sie nach Plophos beförderte, zer-
ihm undenkbar, daß zwei Unbefugte unbegrenzt lange in den Anlagen eines Medozentrums herumgehen konnten, ohne daß die Überwachungspositronik dieses Verhalten als ungewöhnlich einstufte und an höherer Stelle nachfragte. Diese »höhere Stelle« konnte eine qualitativ höherstehende und mit größeren Befugnissen ausgestattete Positronik, aber auch eine führende Person des Medozentrums sein. Vielleicht, überlegte sich Folus, liegt es daran, daß wir solange in Ruhe gelassen werden. Möglicherweise hat die Überwachungspositronik bereits versucht, bei einer Person nachzufragen – und diese Person befand sich nicht an ihrem Arbeitsplatz, weil sie beeinflußt war und von den Gallertkügelchen andere Aufgaben erhalten hatte. Allerdings war ihm klar, daß es sich dabei um bloße Spekulationen handelte. Er atmete auf, als die Schotthälften zur Seite glitten. Sie gaben allerdings wieder nur den Weg in eine Schleusenkammer frei. Hinter den beiden Männern schloß sich das Außenschott wieder. Danach sank die Temperatur rapide, bis die gasförmige Atmosphäre sich in Eiskristalle verwandelt hatte, die den Boden bedeckten und teilweise an den Wänden hafteten. In den Schutzanzügen blieb es dennoch angenehm warm, und auch die Atemluft aus den Hyperkompressionsflaschen wurde gut vorgewärmt, bevor sie durch das Mundstück gepreßt wurde. Als der Luftdruck auf Null gesunken war, öffnete sich das Innenschott. Dahinter verbreiteten Kaltlichtstrahler eine seltsam fahle Helle. Als Stuckey und Thow durch die Öffnung traten, sahen sie, daß es sich um einen geräumigen Keller handelte, an dessen Wänden einige Schränke mit durchsichtiger Vorderseite sowie ein halbkreisförmiges Schaltpult standen. Stuckey trat zu einem der Schränke, spähte durch die Frontscheibe – und fuhr erschrocken zurück. Thow bemerkte es, blickte ebenfalls durch die Scheibe und zog scharf die Luft ein. Er hatte ebenfalls die winzigen Kugeln aus Bioplasma gesehen, die in der Robotik als 29
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten kamen.« »Das leuchtet mir ein«, gab Thow zu. »Dennoch schlage ich vor, das Medozentrum schnellstens zu verlassen. Gib mir deinen Strahler!« Stuckey schüttelte den Kopf. »Du willst die Pseudo-Kaschkarits zerstrahlen. Das hat Zeit bis später.« »Bis noch mehr Menschen verseucht sind?« fragte Thow zornig. »Nein, Opa. Die unbekannte Macht muß stillhalten, sich sozusagen ducken, bis die Hetzjagd vorüber ist. Solange sind diese Kaschkarits für niemanden eine Gefahr. Vernichten wir sie aber, so ist die bisher unentdeckte Zentrale auf Wagtmeron gewarnt und weiß, daß wir dicht an der Lösung ihres Geheimnisses sind. Dann kommen wir hier nicht lebend heraus.« Er hob seine Stimme etwas. »Wir müssen aber lebend hinauskommen, um eine Hyperfunkanlage zu erreichen und einen Funkspruch an unsere Organisation abzusetzen. Bisher weiß niemand, wo wir sind und was wir entdeckt haben. Es wird Zeit, daß Atlan es erfährt.« Er wandte sich dem Schott zu. »Beeilen wir uns, ›Bruni‹.«
legte und die verseuchten Organe und Körperteile den Organbanken unterschob.« Stuckey trat einen Schritt zurück und nickte. »Vorher muß man die wichtigsten Personen auf den Zirkusschiffen verseucht haben, Opa. Ich nehme sogar an, daß die unbekannte Macht, die hinter allem steht, erst durch Gastspiele der drei betroffenen Weltraumzirkusse auf Wagtmeron auf den Gedanken kam, sich der Zirkusse und der Zirkusandroiden zu bedienen, um die Kügelchen auf den zivilisierten Welten der Galaxis zu verbreiten.« Thow Tanza blickte seinen Partner durch seine und dessen Helmscheibe nachdenklich an. »Bisher waren alle Personen verseucht, die direkt mit der Verbreitung der Plasmakügelchen zu tun hatten, Pa. Es ist anzunehmen, daß auch die Mediziner des hiesigen Medozentrums verseucht sind. Kannst du mir dann verraten, woher die Plasmadinger kommen? Es ist doch nicht anzunehmen, daß sich die Arkoniden freiwillig selbst damit verseuchen, oder?« Stuckey Folus preßte die Lippen zusammen. »Das wohl kaum«, antwortete er. »Die Plasmakügelchen werden ja hier auch nur gelagert und nicht hergestellt. Es muß demnach auf Wagtmeron eine Stelle geben, wo die Kügelchen fabriziert werden. Dort dürften auch die eigentlichen Drahtzieher sitzen, die die Lawine ins Rollen brachten, indem sie die Ärzte des Medozentrums von Sverkon verseuchten und sie damit zu den Marionetten ihrer Hypnosekugeln machten.« Thow holte tief Luft. »Dann schweben wir in höchster Gefahr, Pa. Es muß ein Überwachungssystem geben. Wahrscheinlich wissen die Drahtzieher bereits, daß wir hier sind.« »Nein!« erwiderte Stuckey entschieden. Er lächelte. »Ein Überwachungssystem ist offenbar nicht nötig, weil alle Bewohner dieses Planeten verseucht sind und dadurch unter permanenter Kontrolle stehen. Überlege einmal: Bevor die COMOTOOMO endgültig Kurs auf Wagtmeron nahm, wurden alle nicht Beeinflußten ausgesetzt. Warum wohl! Damit ausschließlich Beeinflußte nach Wagtmeron
4. Niemand hielt sie auf, als sie das Forschungslabor wieder verließen. Lediglich die Transportschale, die sie hergebracht hatte – oder eine andere des gleichen Typs –, erschien wieder und bot ihre Dienste an. »Bringe uns zu den Unterkünften für Besucher!« befahl Stuckey Folus, während er in der Schale Platz nahm. Thow Tanza warf ihm einen zweifelnden Blick zu, äußerte jedoch keinen Widerspruch, sondern setzte sich ebenfalls in die Schale. »Verstanden«, sagte der Transportroboter und schwebte mit leisem Summen davon. Die beiden USO-Spezialisten hatten ihre Schutzkleidung im Labor gelassen und sahen daher wieder genauso aus wie zuvor. In ihrer Maskierung fühlten sie sich einigermaßen sicher, und dieses Gefühl hatte sich verstärkt, seit es ihnen gelungen war, unbehelligt das Forschungslaboratorium wieder zu verlassen. 30
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten und ROBA an.« In der Öffnung eines Antigravlifts erschienen von unten zwei Roboter, schwebten bis auf gleiche Höhe mit der Öffnung und schwangen sich dann heraus. Sie waren aus blausilbernem Metallplastik und unverkleidet, wie das auf Arkonidenwelten üblich war. Der eine war allerdings zierlicher als der andere und besaß zwei schwache Wölbungen in Brusthöhe, eine rein symbolische Andeutung weiblicher Formen. Der zierliche Roboter ging auf Thow zu und sagte: »Mein Name ist ROBA. Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Gnädige Frau. Darf ich Sie zu Ihrem Appartment bringen?« Thow Tanza schluckte. »Ah, ja!« brachte er schließlich heraus. ROBA wandte sich um und trat in das Kraftfeld des nächsten Antigravschachts. Thow folgte ihm, winkte seinem Partner zu und rief: »Bis morgen, Pahaha ... Bruder!« »Bis morgen, liebe Schwester«, erwiderte Stuckey steif und sah zu, wie sein Partner nach oben entschwebte. Neben ihm sagte der andere Roboter: »Mein Name ist ROBO. Ich stehe Ihnen zur Verfügung, mein Herr. Darf ich Sie zu Ihrem Apartment bringen?« »Bitte!« antwortete Stuckey. Zweieinhalb Minuten später stand er in dem riesigen Wohnzimmer des Apartments. Es befand sich, wie alle arkonidischen Wohnungen, an der Innenseite des Trichterbaues. Eine große Terrasse ragte ein Stück ins Innere des Trichters hinein. Auf ihr wuchsen exotische Pflanzen. Antisichtschirme verhinderten, daß jemand von außen auf die Terrasse oder ins Apartment hineinsehen konnte. ROBO hatte den ihm anvertrauten Gast lediglich in sein Apartment gebracht und war wieder gegangen, nachdem Stuckey ihm erklärt hatte, daß er seine Dienste nicht weiter zu beanspruchen wünschte. Stuckey Folus trat auf die Terrasse hinaus und überlegte, wie er erfahren konnte, wo Thow untergebracht worden war. Das naheliegendste wäre gewesen, über die Videoverbindung die Positronik danach zu fragen. Er fürchtete allerdings, das Gehirn könnte ver-
Nachdem die Schale sie vor einem kleinen Trichterbau abgesetzt hatte, fragte Thow: »Was versprichst du dir hier, Pa?« »Ich möchte morgen mit dem Leiter des Forschungslabors sprechen«, antwortete Stuckey. »Unter den gegebenen Umständen dürfte er für uns die einzige Person sein, von der wir Hinweise auf die unbekannte Macht erhalten können. Immerhin lagern die PseudoKaschkarits in dem von ihm geleiteten Labor.« »Und bis dahin können wir uns ein wenig ausruhen, ohne das Gelände des Medozentrums zu verlassen«, überlegte Thow. »Eine gute Idee.« Sie betraten den Trichter. Im rund zehn Meter durchmessenden Stiel des Gebäudes befanden sich die Antigravlifts sowie der Kommunikationssektor der Hauspositronik. Die Stimme der Positronik hielt sie auf, als sie gerade einen der Lifts betreten wollten. »Sie sind nicht registriert«, sagte sie mit synthetischer Melodik. »Wer sind Sie?« Stuckey wandte sich um und ging langsam zurück, wobei er sich bemühte, unbefangen zu lächeln. »Wir sind Gäste des Laborleiters«, antwortete er. »Meine Schwester ist Professor Bruni Tanza, und ich bin Doktor Stuckey Folus. Wir wollten uns etwas ausruhen, um bei der Besprechung morgen frisch zu sein.« »Zwei Apartments können zur Verfügung gestellt werden.« »Eines würde uns genügen«, warf Thow aus dem Hintergrund ein. »Es verstieße gegen die Prinzipien des Hauses, zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts in einem Apartment unterzubringen«, entgegnete die Hauspositronik. »Oder besteht zwischen Ihnen ein Ehekontrakt?« Thow kicherte unterdrückt. »Professor Tanza ist meine Schwester!« sagte Stuckey steif und bemüht, seine Worte entrüstet klingen zu lassen. »Es besteht also kein Ehekontrakt?« erkundigte sich die Positronik, offenbar durch Stuckeys Bemerkung nicht zufriedengestellt. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Stuckey. »In diesem Falle wird das Angebot aufrechterhalten«, sagte die Positronik, »Bitte, vertrauen Sie sich der Führung von ROBO 31
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten solltest jetzt auch Schluß machen, Schwester! Morgen wird ein anstrengender Tag werden.« Thow zog eine Grimasse. »Eben deshalb, Bruder.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Meinst du denn, daß es hier Abhöranlagen gibt?« »Normalerweise nicht«, gab Stuckey ebenso leise zurück. »Aber die Verhältnisse sind nicht normal.« Laut fragte er: »Wo hat man dich untergebracht, Bruni?« Thow deutete mit dem Daumen nach oben. »Genau über dir, wie es sich für die ältere Schwester gehört.« Er seufzte und ließ sich in einen Sessel fallen. »Mir kommt alles so unwirklich vor. Dieser Gegensatz! Hier scheint alles in Ordnung zu sein – und doch ...« Stuckey nickte. »Es wird wieder in Ordnung kommen.« Er blickte auf seinen ArmbandChronographen, der auf planetarische Ortszeit eingestellt war. »Ich möchte die drei Stunden, die uns noch verbleiben, gern schlafen – und dir würde etwas Schlaf auch guttun. Gegen sieben Uhr melde ich mich bei dir. Einverstanden?« »Einverstanden«, antwortete Thow und erhob sich. »Meine Knochen sind so müde, daß sich ihr Gewicht verdoppelt zu haben scheint. Gute Nacht, Bruderherz – und nicht wieder am Daumen lutschen, ja!« Kaum hatte Thow das Apartment verlassen, kleidete Stuckey sich aus, nahm eine heiße Dusche und legte sich auf das riesige Pneumobett der schallisolierten Schlafzelle. Bevor er sich versah, war er eingeschlafen.
muten, er wolle seiner Schwester einen Besuch abstatten, und es würde Maßnahmen treffen, das zu verhindern. Die Programmierung der Positronik schien von einem Moralapostel vorgenommen worden zu sein, der andererseits nicht auf den Gedanken gekommen war, daß Geschwister ihre enge Verwandtschaft als Hindernis für die Aufnahme intimer Beziehungen zu betrachten pflegen. Als der Türmelder summte, fuhr Stuckey herum. »Wer ist da?« fragte er halblaut. »Deine liebe Schwester, kleiner Bruder«, wisperte es aus dem Kommunikator. »Mach schon auf, bevor ich von einem Tugendwächter gesehen werde!« Stuckey suchte die Blickschaltung, fand sie und löste über sie den Impuls aus, der den elektronischen Türöffner betätigte. Kurze Zeit darauf kam Thow Tanza ins Wohnzimmer, sah sich um und fragte: »Wo steht der Schnaps, Bruder?« Stuckey runzelte die Stirn. »Was für Schnaps?« Thow seufzte. »Du machst mich noch wahnsinnig! Wenn du noch keinen bestellt hast, dann hole es gefälligst nach, bitte! Ich komme um, wenn ich nicht bald etwas bekomme.« »Warum hast du dir nichts am Versorgungsautomaten deines Apartments getastet?« erkundigte sich Stuckey, während er zu seinem Versorgungsautomaten ging und einen arkonidischen Hjabar tastete. Thow nahm das Glas aus geschliffenem Kristall, in dem der wasserklare Hjabar in allen Regenbogenfarben funkelte, und goß die etwa fünfzig Kubikzentimeter in einem Zug durch seine Kehle. »Ah!« sagte er. »Das tut gut.« Er zwinkerte seinem Partner zu. »Natürlich habe ich es bei meinem Versorgungsautomaten versucht, aber das schärfste alkoholische Getränk, das man hier einer ›Dame‹ zugesteht, ist eine Art Milchshake.« Er verzog das Gesicht. »Beim bloßen Gedanken daran wird mir übel. Taste mir noch einen Hjabar – und trinke einen mit, Pa!« Stuckey runzelte unwillig die Stirn. »Ich trinke heute keinen Alkohol, und du
* Irgendwann erwachte er, aber während er noch überlegte, ob er sofort aufstehen oder noch eine Minute liegenbleiben sollte, schlief er wieder ein. Beim nächsten Erwachen riß er sich gewaltsam zusammen und schwang sich aus dem Bett. Der Kontakt mit dem hochelastischen dicken Schaumstoffboden ließ ihn straucheln. 32
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten und »Bruni« Thow Tanza erschien, frisch massiert, frisiert und geschminkt. »Da bin ich!« rief er aus. »Frisch wie der junge Tag!« Im Hintergrund seiner Augen war jedoch deutlich die Sorge zu erkennen, die ihn bedrückte. »Das freut mich, liebe Schwester«, erwiderte Stuckey. »Schreiten wir zur Tat!« Er bot »ihr« galant seinen Arm, und so schritten sie bis zum nächsten Antigravlift. Als sie durch die Halle im Stiel des Trichters gingen, rief ihnen die Hauspositronik nach: »Sie hatten hoffentlich einen angenehmen Aufenthalt!« Stuckey Folus drehte sich vor der Tür um und sagte: »Aber sicher, Madam!« Thow Tanza enthielt sich jeder Bemerkung über Folus' Einfall, eine Hauspositronik »Madam« zu nennen. Stuckey entnahm daraus, daß sein Partner mit den Gedanken bereits bei ihrem nächsten Schritt war. Draußen schwebte wiederum eine Transportschale heran. Die beiden USOSpezialisten ließen sich zum Forschungslabor bringen. Diesmal war die Tür offen, und daneben leuchtete die Servicescheibe eines Dienstautomaten. »Wir sind Frau Professor Tanza und Doktor Folus«, sagte Stuckey, »und wir möchten den Leiter des Forschungslabors sprechen.« »Bitte warten«, erwiderte der Automat. Es handelte sich offenbar um ein billiges Modell. Sekunden später sagte der Automat: »Direktor Toktar erwartet Sie. Folgen Sie dem grünen Pfeil.« Auf dem Fußboden der Vorhalle leuchtete ein grüner Pfeil auf. Er zeigte auf die linke Tür. Die beiden Spezialisten folgten ihm und gelangten in einen großen Raum, dessen Rückwand völlig von einer Positronik eingenommen wurde. Davor saß in einem Schalensessel ein hochgewachsener Arkonide mit schulterlangem Haar und grauen Augen. Die fehlende Rotfärbung der Augäpfel bewies, daß er zu den Neu-Arkoniden zählte, deren Gene bereits aus dem Sumpf der Degeneration herausgerissen waren. Sein Blick allerdings verriet, daß er unter dem Einfluß permanenter Hypnose stand –
Er setzte sich, allerdings sehr sanft. Danach blickte er auf seinen ArmbandChronographen. Er erschrak, denn es war bereits 7.30 Uhr, obwohl er gegen 7.00 Uhr bei Thow hatte sein wollen. »Verflixt!« sagte er und rappelte sich auf. »Ich hätte eine Weckzeit angeben sollen.« Er eilte zum Wohnzimmervisiphon, drückte auf den Zentraleknopf und sagte: »Bitte eine Verbindung zum Apartment meiner Schwester Professor Tanza!« Auf dem Bildschirm erschien das Symbol der Hauspositronik. Die synthetische Stimme sagte: »Bitte, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß Sie unbekleidet sind, Dr. Folus.« »Das weiß ich auch so«, entgegnete Stuckey ungehalten. »Die Verbindung, bitte!« »Die Programmierung des Hauses läßt die Herstellung der Verbindung nicht zu, solange Sie sich im Zustand der Nacktheit befinden, mein Herr.« Stuckey stöhnte. Da er jedoch wußte, daß er gegen die Programmierung einer Positronik nicht ankommen konnte, fügte er sich und hüllte sich in das togaähnliche Hausgewand, das in der Schlafzelle hing. Dann kehrte er zum Visiphon zurück. Diesmal erfüllte die Hauspositronik anstandslos seinen Wunsch. Er mußte allerdings fast fünf Minuten warten, bis Thows Gestalt, ebenfalls in eine Art Toga gehüllt, auf dem Bildschirm erschien. »Ist es schon sieben Uhr?« fragte Thow brummig. »Inzwischen ist es 7.40 Uhr«, antwortete Stuckey. »Wir haben verschlafen. In einer halben Stunde hole ich dich ab, klar?« »Bis dahin vielleicht«, meinte Thow und unterbrach die Verbindung. Stuckey Folus warf sein Gewand ab, eilte in die Naßzelle und duschte mit eiskaltem Wasser. Danach ließ er sich vom Massagerobot mit Alkohol einreiben, zog sich an und aß währenddessen ein dürftiges arkonidisches Frühstück. Es war genau 8.10 Uhr, als er den Knopf des Türmelders von Thows Apartment betätigte. Die Tür öffnete sich fast augenblicklich, 33
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten »Was soll das?« fragte er den Direktor. »Der Mächtige weiß alles«, versicherte Toktar mit gefühlloser Stimme. »Er will, daß Sie seiner Gnade teilhaftig werden. Diese beiden Freunde werden Sie zur Abteilung Chirurgie bringen. Der Eingriff ist unkompliziert und schmerzlos.« Stuckey blickte dem Arkoniden fest in die Augen und sagte eindringlich: »Unterdrücken Sie den fremden Einfluß, Toktar! Negieren Sie ihn einfach. Sie haben einen eigenen Willen. Aktivieren Sie Ihre Willenskraft und machen Sie sich frei von dem verderblichen Einfluß, der von den Pseudo-Kaschkarits in Ihnen ausgeht.« »Meine Macht ist unüberwindbar!« sagte Toktar mit völlig veränderter Stimme, einer Stimme, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Stuckey erschauderte. Er wußte, daß soeben der Mächtige selbst – oder einer der Mächtigen, falls es mehrere waren – durch den Mund Toktars zu ihm gesprochen hatte. »Wer sind Sie?« rief er. »Wir sind ermächtigt, mit Ihnen zu verhandeln.« »Verhandlungen wären Zeitvergeudung«, sagte das Fremde aus Toktars Mund. »Eines nicht mehr fernen Tages werde ich alles geeint haben, dann werden die Völker der Galaxis ein einziges Übergehirn bilden. Eine völlig neue Qualität des Denkens und der Kommunikation wird entstehen.« »Sie vergessen nur eines«, entgegnete Thow Tanza heftig. »Die Lehren der Geschichte der galaktischen Zivilisationen zu beachten. Eine dieser Lehren lautet, daß ein versklavtes Volk keine schöpferischen Leistungen vollbringen kann und deshalb von allen anderen Völkern überflügelt werden wird.« »Ich habe die schöpferischen Ideen!« behauptete das Fremde. Im nächsten Augenblick sagte Toktar mit seiner »normalen« Stimme zu den beiden Bewaffneten: »Bringt sie weg!« »Vorwärts!« befahl einer der Bewaffneten. »Die Hände über den Kopf!« Er begeht einen Fehler, den er sich USOSpezialisten gegenüber nicht erlauben dürfte!
jedenfalls dem Fachmann. Stuckey Folus war immerhin ein erfahrener Kosmopsychologe. Er ist also kein Verbrecher, sondern gehört zu den Opfern! schloß Stuckey. »Sie wollten mich sprechen«, stellte der Arkonide mit monoton klingender Stimme fest. »Aus welchem Grund?« Stuckey merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Ein falsches Wort konnte alles verraten. Sie mußten unbedingt den Anschein erwecken als wären sie Beeinflußte. Andererseits mußten sie der Wahrheit über die unbekannte Macht näherkommen, sonst wäre das Risiko, das sie mit der Vorsprache bei Toktar eingingen, unvertretbar gewesen. »Wir wurden damit beauftragt, in der Wildnis Wagtmerons nach eventuellen Spuren einer früheren Besiedlung zu suchen«, sagte er, jedes seiner Worte mit Bedacht wählend. »Der Mächtige, der eines Tages alles vereinen wird, will, daß wir die Instrumente seiner Macht mitnehmen, um alle Personen, die wir eventuell draußen treffen und die seiner Gnade noch nicht teilhaftig geworden sind, damit zu versehen. Sie, Direktor Toktar, verfügen über einen gewissen Vorrat und könnten uns etwas abgeben.« Der Arkonide blickte ihn weiterhin an, aber sein Blick wurde völlig geistesabwesend. Stuckey vermutete, daß er auf Suggestivbefehle lauschte, die seine Plasmakügelchen ihm unter Hypnose erteilten. Als der Blick Toktars wieder klar wurde, hielt Stuckey unwillkürlich den Atem an. »Was der Mächtige will, wird geschehen«, sagte der Arkonide. »Bitte, gehen Sie mit den beiden Freunden, die ich hergebeten habe. Sie werden dafür sorgen, daß Sie die Instrumente des Mächtigen erhalten.« Stuckey Folus war erleichtert darüber, daß Toktar so bereitwillig auf seine Bitte eingegangen war. Andererseits hatte er noch keine der erforderlichen Informationen von ihm erhalten. Er wollte deshalb eine Frage stellen, als er hörte, wie hinter ihm die Tür aufging. Stuckey blickte über die Schulter zurück – und sah zwei Männer, die Strahlenwaffen in den Händen hielten. Die flimmernden Mündungen der Waffen waren genau auf ihn und Thow Tanza gerichtet. 34
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten einmal zusammen. Sie rannten weiter, als sei nichts geschehen. Thow stieß eine Verwünschung aus und sagte: »Sie sind völlig in der Gewalt des Mächtigen. Wenn wir wenigstens einen Gleiter hätten!« Sie rannten nun ebenfalls los, und zwar in Richtung auf einen Park, der vom Gelände des Medozentrums nur durch einen schmalen Weg getrennt war. Unterdessen kamen auch aus dem Forschungslabor mehrere Frauen und Männer. Glücklicherweise waren auch sie unbewaffnet, so daß die Spezialisten nicht auf Unschuldige schießen mußten. Als sie den Weg überquerten, hörten sie ein tiefes Summen, das sich rasch zu einem pfeifenden Heulen steigerte. Gleich darauf erblickten sie den Gleiter, der sich ihnen aus Richtung der Unfallklinik näherte. Es handelte sich eindeutig um einen Krankentransportgleiter, deshalb beachteten ihn die beiden Männer nicht sonderlich. Erst als er sich zehn Meter vor ihnen schnell herabsenkte und jemand den Lauf einer Strahlenwaffe durch das geöffnete Seitenfenster der Pilotenkanzel schob, begriffen sie, daß von ihm ernste Gefahr drohte. Sie warfen sich nach entgegengesetzten Seiten hin, rollten sich einmal um sich selbst und schossen, als zwischen ihnen der grelle Blitz einer Energieentladung aufzuckte. Stuckey und Thow hatten beide auf die Stelle des Gleiters gezielt, an der das Antigravaggregat untergebracht war – und ihre Schüsse saßen genau im Ziel. Der Gleiter sackte durch und prallte so hart auf, daß der Schütze in der Pilotenkanzel seine Waffe fallen ließ. Sie landete im Gras. Im nächsten Moment waren die Spezialisten beim Gleiter, rissen die Türen auf, warfen den erschrockenen Schützen hinaus und schlossen die Türen von innen wieder. »Antigrav ausgefallen«, sagte Stuckey. »Vollumschaltung auf Pulsationstriebwerke! Ziel ist der Raumhafen!« »Verstanden, Ausführung läuft an!« erwiderte der Autopilot. Die Pulsationstriebwerke bauten knisternd ihre Saugfelder auf, saugten Luft in die trich-
dachte Stuckey frohlockend, als er sah, wie sich der Blick des Mannes auf die Waffe in seinem Gürtelhalfter richtete. Seine Hoffnung erfüllte sich. Die beiden Bewaffneten traten auseinander, um ihre Gefangenen durchzulassen, und einer von ihnen streckte tatsächlich die Hand nach der Waffe in Stuckeys Halfter aus. Dabei konnte er natürlich nur geringe Distanz halten, und Thow bewegte sich so, daß auch der andere Bewaffnete seine Distanz zu ihm verringern mußte. Die beiden Bewaffneten wußten nicht, wie ihnen geschah, als ihre Gefangenen sich durch eine unverhoffte Körperdrehung aus der Schußlinie brachten. Im nächsten Moment brachen sie bewußtlos zusammen. Stuckey und Thow hielten ihre Waffen in den Händen. Stuckey Folus schob seine eigene Waffe ins Gürtelhalfter zurück und richtete die andere auf den Direktor. »Wo finden wir den Mächtigen?« herrschte er ihn an, in der Hoffnung, Toktar dadurch einen Schock zu versetzen, der die hypnosuggestive Beeinflussung wenigstens vorübergehend unterbrach. Aber Toktar reagierte überhaupt nicht. Er saß stocksteif in seinem Schalensessel und blickte mit glasigen Augen an Stuckey vorbei. Sein Unterkiefer hing leicht zitternd herab. »Er ist paralysiert«, meinte Thow. »Verschwinden wir, bevor noch mehr Helfer des Mächtigen auftauchen!« * Als sie das Forschungslabor verließen, erblickten sie als erstes eine lockere Gruppe von ungefähr zwanzig Frauen und Männern, die aus dem benachbarten Gebäude in ihre Richtung liefen. »Sie sind unbewaffnet«, sagte Stuckey. »Aber es wird nicht lange dauern, bis Bewaffnete erscheinen.« Er gab aus seiner Strahlenwaffe einen Schuß über die Köpfe der Menge ab. Die sonnenhelle Energiebahn heulte durch die Luft und entlud sich in der Krone eines mächtigen Baumes. Das Krachen der Entladung hätte normalerweise jeden Zivilisten zutiefst erschreckt, doch diese Personen zuckten nicht 35
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Der Gleiter neigte den Bug leicht nach unten und flog so dicht über das Dach eines Hochhauses, daß die Männer glaubten, er würde mit der Unterseite dagegen prallen. Anscheinend hatte nicht eine Positronik, sondern ein Beeinflußter die Fernsteuerung unternommen, und Beeinflußte neigten offensichtlich zu Fehlleistungen. Davon zeugte auch der Landeanflug. Er erfolgte in zu steilem Winkel, so daß der Gleiter kurz vor dem Aufsetzen noch einmal abrupt hochgerissen werden mußte. Dabei streifte das Heck den Boden und riß eine breite Furche in die Grasnarbe. Eine Wolke von Grasballen und Erde wurde hochgewirbelt, dann setzte die ganze Unterseite des Gleiters hart auf. Es gab einen höllischen Lärm, als die Pulsationstriebwerke auf Schubumkehr geschaltet wurden. Stuckey und Thow wurden durcheinandergeschüttelt, behielten aber den Überblick über die Lage. Sie hatten die Seitenfenster schon beim Landeanflug geöffnet. Als der Gleiter zum Stehen kam und das Tosen der Triebwerke verstummte, feuerten sie mit breitgefächerten Energiestrahlen auf die Menge. Die Getroffenen schrien, als die Hitze ihnen Haut und Haare ansengte. Der Instinkt gewann vorübergehend die Oberhand über die hypnosuggestiven Zwangsimpulse und ließ die Frauen und Männer aus der Gefahrenzone flüchten. Dann traf ein gebündelter Energiestrahl das Heck des Gleiters und verwandelte es in glühende Trümmer, die sich unter der Hitzeeinwirkung rasch verformten. Die beiden Spezialisten sprangen aus dem Fahrzeug, warfen sich zu Boden und suchten den Schützen auszumachen. Thow Tanza entdeckte ihn, als er den zweiten Schuß abgab, der diesmal die Pilotenkanzel des Gleiters traf. Thow stellte seine Strahlenwaffe auf normale Bündelung, zielte und schoß. Neben dem Fenster, aus dem auf das Fahrzeug geschossen war, glühte die Hauswand auf. Der Schütze stellte sein Feuer ein. Die Hitze konnte auch ein Beeinflußter nicht aushalten, wenn er nicht umkommen wollte. Aber damit war die Gefahr noch nicht vorbei. Aus einem anderen Haus schossen zwei
terförmigen Öffnungen, erhitzten sie auf die Temperatur sonnenheißen Plasmas und stießen sie durch die Felddüsen wieder aus. Der Gleiter schoß mit dumpfem Donnern in der Art eines startenden Düsenjets davon, richtete nach etwa zweihundert Metern den Bug im Winkel von vierzig Grad empor und gewann schnell an Höhe. »Nicht zu hoch steigen!« befahl Thow Tanza. »Dicht über den Häusern bleiben!« »Flughöhe für Gleiter mit reinem Pulsationsantrieb ist mit zweitausend Metern vorgeschrieben«, erklärte der Autopilot. »Es handelt sich um einen Notfall«, warf Stuckey ein. »Verstanden«, antwortete die Maschine. »Umschaltung auf Notfall ist erfolgt. Gerät wird in Fernsteuerung übernommen.« Der Gleiter legte sich nach Steuerbord auf die Seite und beschrieb eine weite Kurve. »Er fliegt zur Klinik zurück«, sagte Thow erschrocken. »Da hast du etwas angerichtet, Pa.« Stuckey zuckte die Schultern. »Wäre er auf zweitausend Meter gestiegen, hätte man uns abgeschossen, Opa. Warten wir es ab. Wir sind immerhin bewaffnet und können mit unseren Waffen umgehen.« Als sein Partner ihn vieldeutig ansah, seufzte er und meinte: »Ja, ich weiß, wir dürfen nicht auf Unschuldige mit tödlich wirkenden Waffen schießen. Dann müssen wir die Thermostrahler eben auf maximale Streuung stellen.« »Damit halten wir Beeinflußte nicht auf«, nörgelte Thow. Stuckey schwieg und spähte hinaus. Der Gleiter hatte das Wendemanöver inzwischen beendet und hielt Kurs auf das Gelände des Medozentrums. Mindestens zweihundert Menschen liefen dort unten durcheinander, dann kam System in die Menge. Sie eilten zu einer großen Rasenfläche und bildeten einen weiten Kreis darum, der an einer Seite offen war, damit der Gleiter nach Flugzeugart landen konnte. »Die Gallertkugeln scheinen miteinander in Verbindung zu stehen, sonst könnten ihre Träger die Aktivitäten nicht koordinieren«, bemerkte Stuckey. »Hm!« machte Thow. 36
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten tun zu können. Es ist furchtbar.« »Wenn wir wenigstens die Organisation benachrichtigt hätten«, sagte Stuckey niedergeschlagen. »Wir haben einen großen Fehler begangen, als wir nach der Landung auf Wagtmeron nicht als erstes versuchten, an die Hyperfunkanlage der COMOTOOMO heranzukommen und einen Ruf abzusetzen.« »Ich halte Selbstvorwürfe dieser Art für ungerechtfertigt, Pa«, erwiderte Thow. »Erstens wissen wir, daß die Hyperfunkanlage der COMOTOOMO nicht völlig in Ordnung ist und zweitens hätte ihre Aktivierung bestimmt Alarm ausgelöst. Zu dem Zeitpunkt aber wußten wir noch nicht genug für einen Bericht.« Stuckey Folus seufzte. »Du hast recht, Opa.« Er wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick erschienen vier Medoroboter, lösten ihre Tragen aus den Gestellen und schoben sie vor sich her in einen großen Operationssaal, in dem vier Operationstische standen. Über zweien der metallisch blinkenden Tische waren die Laserspirallampen eingeschaltet. Zwei Roboter schnallten Stuckey los und hoben ihn auf einen der Tische. Das Licht stach dem Spezialisten grell in die Augen, wurde aber gleich darauf so geschaltet, daß es ihn nicht mehr blenden konnte. Der Chirurg, der den Eingriff an ihm vornehmen sollte, trat in Stuckeys Blickfeld. Sein Gesicht wirkte maskenhaft starr, und seine Bewegungen glichen denen eines Roboters. Dennoch, es waren ungemein routinierte Bewegungen, die von großem fachlichen Können zeugten. Mit leiser Stimme gab der Chirurg Anweisungen an seine Helfer, während er Stuckeys rechte Hand hochhob und prüfend abtastete. Dann trat der Chirurg zurück und setzte sich auf den erhöhten Platz vor den Kontrollen der robotischen Anlage. Seine Finger glitten über Schaltsensoren. Etwas sprühte auf Stuckeys rechte Hand. Sekunden später hatte der USO-Spezialist das Gefühl, als wäre seine rechte Hand verschwunden. Er war nahe daran, in Panik zu geraten, nicht, weil er tatsächlich glaubte, der Chirurg hätte ihn amputiert, sondern weil er wußte, daß er bald nicht mehr Herr seines
Energiestrahlen auf die Spezialisten zu, entluden sich in geringer Entfernung im Boden und gaben dabei soviel Hitze frei, daß Stuckey und Thow nichts anderes übrig blieb, als mitten durch die Menge zu flüchten. Sie kamen nicht weit. Kaum waren sie in der Menge untergetaucht, als sich von allen Seiten Frauen und Männer auf sie stürzten, ihre Arme und Beine umklammerten und sie zu Fall brachten. Als sie erst einmal am Boden lagen, wurden sie allein durch das Gewicht der auf ihnen liegenden Menschen wehrlos gemacht. Man fesselte sie, richtete sie wieder auf und führte sie zu dem Gebäude, das die Abteilung Chirurgie beherbergte. Vor dem Portal wartete Direktor Toktar auf sie. Doch wieder war es nicht Toktar der zu ihnen sprach, sondern das Fremde, das ihn beherrschte. »Niemand kann mir entgehen«, sagte es. »Bald werdet ihr auch für das große Ziel der Vereinigung aller Intelligenzen dieser Galaxis arbeiten – und wenn uns diese Galaxis gehört, wenden wir uns der nächsten Galaxis zu, bis das ganze Universum vereint ist.« »Schon mancher ist erstickt, weil er seinen Mund zu voll nahm«, entgegnete Thow Tanza, aber er konnte nicht verhindern, daß seine Stimme vor Furcht vibrierte. 5. Sie lagen angeschnallt auf breiten Tragen, die ihrerseits fest mit Gestellen verbunden waren. Vor wenigen Augenblicken hatten sie die beiden Ärzte, die sie untersuchten, verlassen, um die letzten Vorbereitungen zu dem »kleinen Eingriff« zu treffen, wie sie sich ausgedrückt hatten. »Ich wollte, ich hätte mich umgebracht, bevor wir landeten«, erklärte Thow tonlos. »Wie fühlt man sich als Beeinflußter?« fragte Stuckey. »Du hast dich auf Plophos ja schon einmal freiwillig mit einem Stück präparierter Haut verseuchen lassen.« »Es ist die Hölle«, antwortete Thow. »Nicht, daß man Schmerzen hätte oder so, aber ab und zu merkt man, daß man nicht aus eigenem Willen handelt, ohne etwas dagegen 37
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Schmerzen spüren, müssen Sie aber schon früher kommen. Doch ich denke nicht, daß es zu Komplikationen kommen wird. Der Eingriff war minimal.« »Ja, Doc«, erwiderte Stuckey. Er blickte auf und sah, daß nebenan ein weiterer Glücklicher vom Operationstisch stieg. Vage erinnerte er sich daran, daß er mit diesem Wesen früher auf eine besondere Art verbunden gewesen war. Doch das hatte keine Bedeutung mehr. Er war nun mit allen denkenden Wesen verbunden – und das durch die Gnade des Mächtigen, der alles einigen würde. Warum starrte ihn der andere Mann – Thow Tanza hieß er, wie Stuckey sich erinnerte – so seltsam an? Doch kaum hatte er diesen Gedanken gedacht, vergaß er ihn wieder. Er zuckte die Schultern und verließ den Operationssaal. Niemand hielt ihn auf. Warum auch? Er gehörte jetzt zur großen Gemeinschaft, war nur ein Teil des Ganzen und handelte im Sinne des Ganzen. Im Freien wandte er sich dem Ausgang des Medozentrums zu. Weiter vorn sah er die Trichter und Türme der Stadt. Dort wartete eine Aufgabe auf ihn. Mit den Bewegungen eines Roboters schritt Stuckey Folus aus ...
eigenen Willens sein würde. Er versuchte, sich selbst zu beruhigen, sich zu sagen, daß es aus jeder Situation immer einen Ausweg gäbe und daß es doch eigentlich unmöglich sei, daß ihm etwas Unwiderrufliches zustieße. Doch er wußte genau, daß er sich nur etwas vormachte. Mit bitterer Selbstironie dachte er, daß ein zu hoher Intelligenzquotient in auswegloser Lage von Nachteil war, weil er einem keine Selbsttäuschung erlaubte. Etwas klickte. Ein metallisch blitzender Gerätearm schwenkte in Stuckeys Sichtbereich durch die Luft und verschwand wieder, als er sich herabsenkte. Der Chirurg sprach in ein kleines Mikrophon, das an einem Schwenkarm vor seinem Mund hing. Aus einem Lautsprecher, den Stuckey nicht sehen konnte, kam Antwort. Der Spezialist verstand sie nicht. Kurz darauf hob sich der Gerätearm wieder in Stuckeys Sichtfeld, schwenkte zurück und rastete klickend ein. Stuckey hatte das Gefühl, als würde seine Kehle zusammengepreßt. Er wollte schreien, weil er spürte, wie etwas Fremdes von ihm Besitz ergriff. Aber im nächsten Moment sah er alles in einem völlig anderen Licht. Es war gut, daß man seine lächerlichen Einwände nicht beachtet hatte und ihn endlich in die große Gemeinschaft aufgenommen hatte. Nur wenn alle denkenden Wesen ihre Gedanken, Gefühle und Absichten durch eine Art Übergehirn koordinierten, gab es eine qualitative Weiterentwicklung. »Fertig!« sagte der Chirurg. Wieder traten zwei Medoroboter neben Stuckey. Sie lösten die Anschnallgurte und kippten den OP-Tisch so, daß der Patient mühelos absteigen konnte. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der Chirurg. Stuckey hob die rechte Hand und sah, daß sich eine dünne rote Linie über den Daumenballen zog. Darüber lag eine Schicht Gewebeplasma. »Ausgezeichnet«, antwortete er. Der Arzt klopfte ihm auf die Schulter. »Kommen Sie in zwei Tagen zur Nachuntersuchung, Mister Folus«, sagte er. »Falls Sie
* »Fertig!« sagte der Chirurg. Zwei Medoroboter traten neben Thow. Sie lösten die Anschnallgurte und kippten den OP-Tisch so, daß der Patient mühelos absteigen konnte. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der Chirurg. Thow hob die rechte Hand und sah, daß sich eine dünne rote Linie über den Daumenballen zog. Darüber lag eine Schicht Gewebeplasma. »Gut«, antwortete er mechanisch. Etwas blitzte in seinem Gehirn auf und wollte ihm sagen, daß er sich durchaus nicht gut fühlte, doch es war zu schnell wieder fort, als daß Thow Tanza etwas damit anfangen konnte. Wozu auch? Der Arzt tätschelte ihm beruhigend die 38
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten auf und ging mit steifen Schritten in den Gang, der zu den Toiletten und Waschräumen führte. Dort beugte er sich über ein Becken und erbrach sich würgend. Als er sich danach im Spiegel besah, erschrak er über die Totenblässe seines Gesichts. Noch mehr aber erschrak er über den eigentümlich starren Blick seiner Augen. Und plötzlich wußte er mit schmerzender Klarheit, daß der Mann draußen im Restaurant sein Partner Stuckey Folus war und daß sie beide im Medozentrum von Sverkon Pseudo-Kaschkarits eingepflanzt bekommen hatten und dadurch zu einem willenlosen Werkzeug des Mächtigen geworden waren. Nicht ganz! Wäre er vollkommen verseucht, könnte er nicht darüber nachdenken. Aber wie kam es, daß ausgerechnet er dem Einfluß der Plasmakügelchen Widerstand leistete – jedenfalls zeitweise. Die Infizierung auf Plophos! Er hatte sich damals freiwillig infizieren lassen und wäre ein ohnmächtiges Werkzeug des Mächtigen geworden, wenn seine Freunde ihn nicht gerettet und ihm das mit Plasmakügelchen infizierte Hautstück wieder entfernt hätten. Sein Körper mußte im Verlaufe der Infektion Immunkörper erzeugt haben, die wahrscheinlich im Laufe der Zeit von der Wirkung des Plasmas zerstört worden wären. Nur hatte in seinem Fall die Infektion nicht lange genug gedauert, daß das Plasmakügelchen die Immunreaktion niederkämpfen konnte. Es war demnach der gleiche Effekt wie bei einer Grippe-Schutzimpfung aufgetreten. Die Immunkörper hatten sich vermehren können und waren inzwischen so zahlreich geworden, daß sie von Zeit zu Zeit eine Barriere zwischen das Plasmakügelchen in seiner Hand und seinem Gehirn errichten konnten. Wahrscheinlich ... Thows Gedankengang brach ab. Er wusch sich Hände und Gesicht und kehrte zu seiner angebrochenen Mahlzeit zurück. Danach verließ er das Speiserestaurant und schlenderte auf den Zentralplatz. Der Mächtige hatte zur Zeit noch keine konkrete Aufgabe für ihn, doch er hoffte, daß sich das bald ändern würde.
Wange. »Mancher ist etwas nervös nach dem Eingriff, aber das vergeht sehr schnell. Melden Sie sich in zwei Tagen zur Nachuntersuchung, Mister Tanza.« »Ja, Doc«, erwiderte Thow. Als er aufblickte, sah er, daß nebenan eine andere Person von einem Operationstisch stieg. Stuckey »Pa« Folus! Das Erkennen schwand ebenso rasch, wie es gekommen war. Aber es blieb etwas zurück, das Thow nicht identifizieren konnte. Er versuchte es abzuschütteln, doch da war nichts mehr, was es abzuschütteln gab. Thow holte tief Luft. Zum erstenmal empfand er Erleichterung darüber, daß er nicht mehr allein war, sondern Teil eines unbeschreiblichen Ganzen. Er summte Mozarts Kleine Nachtmusik vor sich hin, während er den Operationssaal verließ und mit dem Antigravlift nach unten fuhr. Als er das Gebäude verließ, sah er etwa fünfzig Meter vor sich einen Mann, der sich in Richtung Stadt entfernte. Ohne zu wissen, warum folgte Thow diesem Mann. Es war als gäbe es ein unsichtbares Band, an dem dieser Mann ihn hinter sich her zog. Später erreichte Thow hinter dem Mann den Zentralplatz von Sverkon. Er sah, daß der Mann ein großes Speiserestaurant betrat und verspürte im nächsten Augenblick Hunger. Thow betrat das Restaurant ebenfalls. Er setzte sich an einen Tisch, von dem aus er den Mann sehen konnte, zugleich aber etwa zehn Meter von ihm entfernt war. Mechanisch drückte er eine Bestelltaste des Servotisches. Wenig später öffnete sich der Lamellenverschluß in der Tischmitte, und die Liftplatte mit dem Speisentablett schob sich nach oben. Thow Tanza griff zu, ohne zu wissen, welche Speisen er zu sich nahm. Es interessierte ihn überhaupt nicht. Irgendwo in einem Winkel seines Geistes war die Gewißheit, daß alles, was ihm vorgesetzt wurde, gut war, weil die Zubereitung von anderen Teilen des Ganzen überwacht wurde. Aber mitten in seiner Mahlzeit wurde es Thow übel. Er legte das Besteck aus der Hand, stand 39
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Er setzte sich auf den Rand eines Springbrunnens und sah zu, wie die Wasserfontänen auf und nieder tanzten und dabei im Sonnenlicht funkelten. Er blickte hoch, als ein Schatten lautlos über sein Gesicht huschte. Ein großer Rabenvogel mit blauschwarzem Gefieder hatte sich in geringer Entfernung auf dem Brunnenrand niedergelassen, legte den Kopf schief und blickte Thow an. Plötzlich schien das eine Auge des Vogels riesengroß zu werden. Thow Tanza erstarrte, während in seinem Gehirn ein unsichtbarer Kampf stattfand. Er erinnerte sich wieder der Gedankengänge im Waschraum des Speiserestaurants. Diese Gedankengänge waren plötzlich abgebrochen, als hätte etwas sie abgeschaltet. Intervallimmunität! Der Begriff stand plötzlich direkt plastisch vor seinem Bewußtsein – und war im nächsten Augenblick wieder wie weggewischt. Thow sprang auf und schlug nach dem Vogel, der sich krächzend erhob und davonflog. »Bald wird es soweit sein«, sagte jemand leise neben ihm. Thow wandte sich um und sah, daß es eine Frau war, die zu ihm gesprochen hatte. »Ja, bald wird es soweit sein«, erwiderte er mechanisch. Er legte einen Arm um ihre Schultern, und zusammen gingen sie fort. Als Thow Tanza nach einer Weile auf den Zentralplatz zurückkehrte, wußte er gar nicht, daß er allein war. Blinzelnd schaute er zur Sonne, die den Zenit bereits überschritten hatte. Als er den Blick wieder senkte, sah er alles wie durch rosa Schleier. Und mitten durch diese rosa Schleier schritt der Mann. Welcher Mann? Ein dumpfes Stöhnen entrang sich Thows Kehle. Er fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes wildes Tier, ohne sich dieses Gefühl erklären zu können. Und wieder überfiel ihn die Erkenntnis seines wahren Zustandes mit schmerzlicher Klarheit. Er wußte, daß er verseucht war und dem Mächtigen gehorchte, was immer es auch war – bis auf kurze Zeitspannen der Immunität, die intervallartig wiederkehrten.
Sie werden von Intervall zu Intervall kürzer! schoß es ihm durch den Kopf. Er hob seine rechte Hand und starrte auf die rote Linie des Daumenballens, die bereits schwächer geworden war. Plötzlich spürte er einen unbändigen Haß auf diese Hand, die ihn dem Einfluß des Mächtigen auslieferte. Bald wird dieser Einfluß die Immunität ganz überwunden haben! Im nächsten Moment war es, als drehte jemand einen Schalter in seinem Kopf. Thow wußte nichts mehr über seine Intervallimmunität. Aber der Haß auf seine rechte Hand war geblieben, wenn auch ins Unterbewußtsein verdrängt, wo er unerreichbar war für den Einfluß des Mächtigen ... * Thow Tanza blieb stehen, als er an dem Schild neben dem Portal erkannte, daß er sich vor einer Polizeistation befand. Ein Uniformierter saß auf den Stufen neben der Tür und war damit beschäftigt, einem etwa vier Jahre alten Kind die triefende Nase zu putzen. Thow ging an ihm vorbei, ohne daß der Mann ihn beachtet hätte. Im Vorraum blinkten die Informationsroboter dienstbereit. Er ging an ihnen vorbei und sah eine Weile dem Uniformierten zu, der in ein Funkgerät sprach und seinem Gesprächspartner die Anweisung erteilte, die scharfe Überwachung des Raumhafens, besonders der großen Hyperfunkstation, bis auf Widerruf beizubehalten. Das war verständlich. Schließlich konnte es nicht zugelassen werden, daß Menschen, die noch nicht der Gnade des Mächtigen teilhaftig geworden waren, in ihrer Unwissenheit die Kräfte alarmierten, die gegen das große Ziel der Vereinigung der Gehirne arbeiteten. Nach einiger Zeit schlenderte Thow weiter. Er kam an die offene Tür eines Bereitschaftsraums und sah, daß sich dort drei Männer auf Liegen ausruhten. Im Hintergrund des Raumes stand ein Polizeiroboter; er war desaktiviert. Thows Blick heftete sich auf die Waffen, die auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lagen. Er kannte sie. Es handelte sich um drei gewöhnliche Schockblaster, um zwei handli40
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten gegen die Wand gelehnt. Als er wieder zu sich kam, war es dunkel. Sofort merkte er, was mit ihm los war. Die Macht hatte keine Gewalt über ihn. Doch er wußte auch, daß dieser Zustand der Freiheit nicht lange anhalten würde. Vielleicht würde er sogar nie wiederkehren, wenn er diese Chance verpaßte. Thow hob die rechte Hand dicht vor seine Augen. Er spürte im Zustand der Klarheit keinen Haß mehr, doch er erinnerte sich an den Haß, der ihn getrieben hatte, den Thermostrahler an sich zu nehmen. Thow erschauderte, aber er riß sich zusammen, weil er wußte, daß es Dummheit gewesen wäre, Furcht zu empfinden. Er stellte den Thermostrahler auf schärfste Bündelung und geringe Intensität ein, nahm ihn in die linke Hand und richtete die Mündung auf das rechte Handgelenk. Dann drückte er ab. Der Hochenergiestrahl war dünn und scharf wie ein Skalpell und durchtrennte Fleisch und Knochen wie Butter. Thow preßte die Zähne zusammen, doch er verspürte keinen Schmerz. Dennoch schlugen seine Beine zitternd gegen den Fußboden. Der Gestank von verbranntem Fleisch – seinem eigenen Fleisch – drang ihm in die Nase und erzeugte Brechreiz. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, als das Unbekannte abermals zuschlug und ihm seinen Willen nehmen wollte. Aber dieser Schrei wurde niemals ausgestoßen, denn vorher fiel die abgetrennte Hand zu Boden. Der Hochenergiestrahl fraß unheimlich rasch ein kleines, aber tiefes Loch in den Boden, bevor Thow den Zeigefinger vom Abzugshahn nehmen konnte. Er achtete nicht weiter auf seinen Armstumpf, denn er wußte, daß die große Hitze für absolute Sterilität der Wunde und den sofortigen Verschluß aller Blutgefäße gesorgt hatte. Er konnte weder verbluten noch sich infizieren. Doch etwas anderes war zu tun, und zwar schnell. Thow Tanza betätigte mit dem linken Daumen den gerillten Drehknopf zwischen Abzugshahn und Kolben, mit dem sich Inten-
che Euphoriegaswerfer und um einen Thermostrahler. Die Finger von Thows linker Hand spreizten sich und krümmten sich dann krallenartig zusammen. Wieder stieg der Haß aus seinem Unterbewußtsein herauf. Er ballte die rechte Hand zur Faust und schlug damit gegen den Türrahmen, wieder und wieder, bis die Haut über den Knöcheln aufplatzte und rotes Blut über Handrücken und Finger rann. Einer der Polizisten setzte sich auf, blickte herüber und rief: »Was ist los mit dir?« Thow riß sich gewaltsam zusammen und versteckte die rechte Hand hinter seinem Rücken. »Nichts weiter«, antwortete er gepreßt. »Dann laß uns in Ruhe«, sagte der Polizist und sank auf sein Lager zurück. »Ja, natürlich«, erwiderte Thow. Mit drei Schritten war er beim Tisch, hatte den Thermostrahler an sich gerissen und stürzte wieder hinaus. Hinter ihm ertönte ein überraschter Ausruf. Thow Tanza sah weder nach links noch nach rechts, als er die Polizeistation verließ und die Straße hinablief. Er wußte nicht mehr, wie lange er gelaufen war, als er das alte Stadtviertel erreichte. Im alten Stadtviertel standen noch viele der ersten Bauten, die auf Wagtmeron errichtet worden waren, Standardhäuser aus billigem Plastikmaterial, ohne Hauspositroniken, ja nicht einmal mit Türpositroniken. Vor einiger Zeit hatten Robotmaschinen damit begonnen, die alten, längst nicht mehr bewohnten Häuser abzureißen und das Gelände für den Bau neuer Gebäude vorzubereiten. Irgendwann waren dann alle Maschinen abgeschaltet worden. Sie standen herum wie urweltliche Saurier, die bei einem Kälteeinbruch zu glasharten Statuen gefroren waren. Thow stieß die Tür eines Hauses mit der Schulter auf, wankte in den Raum dahinter und lehnte sich keuchend an die Wand. Seine Zähne mahlten knirschend aufeinander, und in den Mundwinkeln stand Schaum. Nach einer Weile verdrehte er die Augen und sank langsam an der Wand zu Boden, bis er mit leerem Gesichtsausdruck dasaß, den Rücken 41
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten der Arbeit, dachte er ein wenig ironisch, ist erst erreicht, wenn der Verlust meiner Hand durch die Wiedererlangung der Freiheit vieler Menschen aufgewogen wird. Langsam erhob er sich ganz. Er schob die Waffe unter seinen Gürtel und stellte sich ans Fenster. Die Rabenvögel waren verschwunden, nur ein paar flaumige Federn segelten durch die Luft. Plötzlich horchte Thow auf. Hatte da nicht jemand geschrien? Er lauschte, konnte aber nichts hören. Als er schon dachte, seine überreizten Nerven hätten ihm einen Streich gespielt, nahm er – und diesmal deutlich – ein dünnes Weinen wahr. Thow schob den Armstumpf unter seine Bluse – er trug noch immer die Kleidung von »Bruni«, wenn ihm im Medozentrum auch die Brustfüllungen entfernt worden waren – und ging auf die Straße. Lauschend wandte er den Kopf. Wieder hörte er das Weinen, diesmal noch deutlicher. Es schien aus einem halb abgebrochenen Haus zur Rechten zu kommen, vor dem eine robotische Abbruchmaschine mit hochgereckter Zertrümmerungsbirne stand. Staub wirbelte hoch, als Thow über die Trümmer zu einer ehemaligen Innentür stieg. Dann schlug ihm ein Geruch entgegen, bei dem sich sein Magen umzudrehen drohte. Dennoch drang Thow weiter in die Ruine ein. Er entdeckte ein in Lumpen gehülltes Kind, das neben einem weiblichen Leichnam, wahrscheinlich seiner Mutter, lag und vor Entkräftung nur noch ab und zu einen dünnen Schrei ausstieß. Nach kurzer Untersuchung stellte Thow fest, daß die Frau, die sehr ärmlich gekleidet war, an den Folgen eines Strahlenschusses gestorben war, der ihre linke Seite getroffen hatte. Sie mußte sich schwerverletzt mit ihrem Kind in diese Halbruine geschleppt haben, wohl in der Hoffnung, sich wieder erholen zu können. Der USO-Spezialist konnte den Verwesungsgeruch nicht länger ertragen. Er raffte das Kind hoch und flüchtete mit ihm auf die Straße. Dort atmete er einige Male tief ein, dann
sität und Bündelung des Waffenstrahlers einstellen ließen. Er verstellte die Einstellung auf mittlere Bündelung und geringe Reichweite, rückte von der Hand mit dem Plasmading darin ab und zerstrahlte sie innerhalb weniger Sekunden. Dann erst drang der Schmerz aus dem Armstumpf in sein Bewußtsein vor. Thow stöhnte laut, ließ seine Waffe fallen – und stürzte schwer zu Boden. Gnädige Bewußtlosigkeit umfing sein Gehirn ... 6. Als er diesmal zu sich kam, war es bereits wieder Tag. Thow Tanza spürte einen stetigen Schmerz im Armstumpf. Er ließ sich jedoch ertragen. Schlimmer – jedenfalls für den ersten Augenblick – war, daß ihm die rechte Handfläche juckte, obwohl er keine rechte Hand mehr besaß. Er setzte sich auf und blickte zu den getrübten Glassitscheiben der Fenster. Es war totenstill in diesem verlassenen Stadtbezirk. Nur ein paar der Rabenvögel flogen krächzend umher. Thow versuchte, das Jucken seiner nicht vorhandenen Hand zu ignorieren. Da er die Ursachen derartiger Phänomene kannte, fiel es ihm relativ leicht, sich darüber hinwegzusetzen. Danach zog er Bilanz. Er wußte, daß »der Mächtige« keinen Einfluß mehr auf ihn nehmen konnte. Sein Machtinstrument waren die winzigen Plasmakugeln gewesen, die man ihm im Medozentrum in den Handballen eingepflanzt hatte. Dieses Machtinstrument existierte nicht mehr – allerdings war auch die rechte Hand verloren. Aber Thow wußte, daß ihm kein Preis zu hoch war für die Freiheit. Nichts konnte zwar die echte Hand voll ersetzen, aber es gab gute Prothesen, die sich ans Nervensystem anschließen ließen und die Funktion der menschlichen Hand ersetzen konnten. Doch er war kein normaler Bürger, sondern ein USO-Spezialist, und als solcher durfte er nicht nur an sich selbst denken. Rationalität 42
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten und wahrscheinlich außer kräftigender Kost auch medizinische Betreuung, alles Sachen, die er ihm nicht geben konnte. Eine Klinik! Thow schreckte noch davor zurück, aber er konnte logisch denken. Deshalb zweifelte er nicht daran, daß er das Kind der Verseuchung preisgeben mußte, um es zu retten. Da der Mächtige es noch nicht für seine Zwecke einsetzen konnte, würde die Beeinflussung in der ersten Zeit minimal sein. Und daß sie bald ganz aufhörte, dafür hatte er, Spezialist Thow Tanza, eben zu sorgen. Er preßte die Lippen zusammen und wandte sich um. Langsam ging er durch die alten Straßen, bis er die neueren und belebten Viertel erreichte. Niemand kümmerte sich darum, daß er ein Kind auf den Armen trug. Es verdeckte zudem seinen Armstumpf, so daß er auch dadurch keinen Verdacht erregen konnte. Als er in die Nähe einer Polizeistation kam, drückte er sich in eine Nische und wartete ab. Dort rührte sich nichts. Allerdings gab sich Thow keinen Illusionen hin. Der Mächtige wußte, daß sich ein Mann seinem Einfluß entzogen hatte. Er würde sicher dafür gesorgt haben, daß dieser Mann so bald wie möglich wieder eingefangen wurde. Das Kind in seinen Armen wimmerte aber so herzzerbrechend, daß Thow es nicht länger aushielt. Es benötigte dringend Hilfe. Er stieß sich von der Wand ab und schritt steifbeinig auf das Portal der Polizeistation zu, immer gewärtig, daß jemand ihn in den Rücken schoß oder daß plötzlich Polizisten aus dem Tor gelaufen kamen, um ihn einzufangen. Aber nichts dergleichen geschah. Vor dem Portal angekommen, bückte sich Thow und legte das Kind behutsam auf die oberste Stufe, weit genug vom Rand entfernt, daß es nicht bei einer Bewegung hinabstürzen konnte. Dann wandte er sich ab und eilte auf die andere Straßenseite. Dort mischte er sich unter die Passanten und zog sich langsam weiter zurück. In etwa hundert Metern Entfernung blieb er stehen und wartete. Kurz darauf erschien ein Polizist bückte sich und hob das Kind auf. Er
flüsterte er dem Kind beruhigende Worte zu. Währenddessen dachte er über seinen Fund nach. Die Frau war ungefähr seit vier Tagen tot. Das bedeutete, daß sie zu einer Zeit angeschossen worden war, als über Wagtmeron längst die Plasmakugeln herrschten. Das bedeutete aber auch, daß auf Wagtmeron nur zwischen zwei Parteien Schüsse gewechselt werden konnten: zwischen Beeinflußten und Unbeeinflußten. Die Frau mußte unbeeinflußt gewesen sein. Das eröffnete völlig neue Aspekte, denn noch vorhin hatte Thow annehmen müssen, der einzige Unbeeinflußte auf diesem ganzen Planeten zu sein. Das konnte er nun nicht mehr, denn wenn es einer Mutter mit ihrem Kind gelungen war, sich der Verseuchung mit Plasmakugeln zu entziehen, dann mochte das auch anderen Personen gelungen sein. Das ließ die Frage nach Thows weiterem Vorgehen wieder akut werden. Ob es auf Wagtmeron noch andere Beeinflußte gab oder nicht, er mußte um jeden Preis versuchen, ein Hyperfunkgerät zu erreichen und die USO zu alarmieren. Sobald erst ein Flottenverband über Wagtmeron kreiste, waren die Bewohner so gut wie gerettet – und der Mächtige konnte vielleicht aufgespürt und verhaftet werden. Allein aber würde er diese Aufgabe nicht bewältigen können. Er brauchte seinen Partner. Allerdings wäre Stuckey Folus im gegenwärtigen Zustand nicht nur völlig unbrauchbar, sondern auch eine Gefahr für Thow gewesen. Unwillkürlich blickte Thow Tanza auf seinen Armstumpf, dann holte er tief Luft. Er hatte keine Wahl. Er würde seinen Partner ebenso amputieren müssen wie sich selbst. Es gab gar keine andere Möglichkeit, wenn die Galaxis vor einer grauenhaften Bedrohung gerettet werden sollte – und nicht nur diese Galaxis ... Die Frage war nur, was er mit dem Kind anfangen sollte. Er konnte es nicht ständig mit sich herumtragen. Erstens geriet er in der nächsten Zeit sicher mehrmals unter Beschuß und zweitens brauchte das Kind dringend intensive Pflege 43
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten ich dir noch etwas Wichtiges zeigen.« Er blieb stehen, runzelte auffällig die Stirn und blickte dem Partner ebenso auffällig in die Augen. »Du bist doch wirklich nicht mehr beeinflußt, oder?« fragte er unsicher. »Aber!« erwiderte Stuckey. »Dann hätte ich dich doch an die Polizei ausgeliefert, Opa!« »Dann bin ich beruhigt«, meinte Thow. »Na, also!« sagte Stuckey. »Was ist das Wichtige, was du mir zeigen möchtest?« »Ein geheimes Lager von Unbeeinflußten«, flüsterte Thow. »Mitten in der Stadt. Sie besitzen sogar hochwertige elektronische Ausrüstungen, mit denen es ihnen vielleicht möglich ist, den Mächtigen anhand der von ihm ausgehenden Suggestivbefehle anzupeilen.« Stuckey Folus stolperte und wäre gestürzt, wenn Thow ihn nicht gehalten hätte. Seine Bewegungen wirkten sekundenlang unkontrolliert, dann hatte er sich wieder gefaßt. Thow Tanza lächelte grimmig in sich hinein. Es war richtig gewesen, hinter dem Auftauchen seines Partners eine List des Mächtigen zu vermuten. Die Information über die elektronische Ausrüstung der Unbeeinflußten mußte den Mächtigen so schockiert haben, daß er für kurze Zeit die Gewalt über Stuckey verloren hatte. »Um welche elektronischen Geräte handelt es sich genau?« wollte Stuckey wissen. »Ich hatte nicht genug Zeit, um sie zu untersuchen«, antwortete Thow. »Deshalb will ich ja sofort wieder hin, damit ich nicht in einen leeren Bau komme.« »Wie das?« fragte Stuckey hastig. »Wieso in einen leeren Bau, Opa?« »Die Unbeeinflußten werden bestimmt ihr Quartier wechseln, wenn sie zurückkehren und sehen, daß das Kind nicht mehr dort ist. Ich konnte es aber nicht dort lassen, weil sie sich überhaupt nicht darum gekümmert haben. Noch ein Tag und es wäre verschmachtet.« »Du hast also nicht mit Unbeeinflußten gesprochen?« »Nein. Ich hörte nur das Kind schreien und ging ihm nach. Dabei fand ich den Unterschlupf. Du wirst staunen, Pa, was die Un-
trug es so behutsam in die Station, daß Thow sicher sein konnte, daß alles für das Kind getan werden würde. »Hallo, Opa!« Thow zuckte zusammen und fuhr herum. Ungefähr fünf Schritte von ihm entfernt stand Stuckey Folus und lächelte ihm zu. Aber er hielt die rechte Hand unter seinem kurzen Schulterumhang verborgen. Wahrscheinlich war dort eine Waffe. * »Ich habe dich lange vergeblich gesucht, Opa«, sagte Stuckey. Thow Tanza nickte bedächtig. Sein Armstumpf war unter der Bluse verborgen. Er konnte sich denken, daß der Mächtige zu dem Schluß gekommen war, daß keiner ihn, Thow, eher wieder einfangen konnte als der Mann, der ihn am besten kannte, nämlich sein Partner. »Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Pa«, erwiderte er freundlich, während er versuchte, in Stuckeys Zügen und Augen Anzeichen für die Beeinflussung zu finden. Es gelang ihm nicht. Stuckey lachte leise. »Wir sollten nicht so lange hier herumstehen, Opa. Gehen wir. Ich habe ein sicheres Versteck ausfindig gemacht – und eine Möglichkeit, die hypnosuggestive Kraft der Plasmakügelchen zu neutralisieren.« Vielleicht spricht er sogar die Wahrheit, überlegte Thow. Dann wäre es nicht nötig gewesen, daß ich meine Hand opferte. Stuckey war schon immer der intelligentere von uns beiden. »Wunderst du dich nicht, daß ich nicht versuche, dich an die Polizei auszuliefern?« erkundigte er sich. Stuckey schüttelte den Kopf. Er war inzwischen herangekommen und faßte den linken Arm seines Partners. »Nein, denn ich habe gesehen, wie du das Kind heimlich vor der Polizeistation abgelegt hast. Wärest du noch beeinflußt, hättest du ganz offen hineingehen können. Du mußt mir erzählen, wie du es geschafft hast. Unterdessen führe ich dich zu meinem Versteck.« »Ich werde dir alles berichten, Pa. Erst muß 44
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten rüstung der Unbeeinflußten bisher nicht geortet wurde.« Er spähte zu dem Gebäude hinüber. Thow Tanza zog seine Strahlenwaffe unter der Kleidung hervor und schlug seinem Partner das Griffstück gegen den Hinterkopf. Stuckey gab nur ein schwaches Ächzen von sich, bevor er zusammensackte. Thow fing den schlaffen Körper auf, faßte mit beiden Armen unter den Achseln hindurch und zog Stuckey in das Gebäude, neben dem sie standen. Er wußte, daß nunmehr alles sehr schnell gehen mußte. Drinnen ließ er seinen Partner zu Boden sinken, verstellte abermals die Bündelung seiner Waffe und schnitt die rechte Hand Stuckeys ab. Anschließend zerstrahlte er sie. Wie bei ihm selbst, wurden auch bei Stuckey die Blutgefäße am Stumpf durch die Hitze des Energiestrahls verödet, so daß praktisch überhaupt kein Blutverlust auftrat. Als die Hand mit den gefährlichen Plasmakügelchen restlos zerstrahlt war, nahm Thow den Zeigefinger vom Abzugshebel. Er war blaß geworden. Die Amputation von Stuckeys Hand war ihm fast noch schwerer gefallen als die seiner eigenen. Ein Stöhnen verriet ihm, daß sein Partner zu sich gekommen war, offenbar durch den Schmerz aus der Bewußtlosigkeit geweckt. Thow kniete neben ihm nieder. »Nicht schreien, Pa!« flüsterte er eindringlich. Stuckeys Augen blickten ihn durch einen Schleier hindurch an, dann hob Stuckey den rechten Arm, musterte seinen Stumpf und ließ den Arm wieder sinken. In seinen Augen blitzte Verstehen auf. Stuckey lächelte matt. »Hilf mir auf, Opa, dann wird es schon gehen.«
beeinflußten alles zusammengetragen haben.« Thow Tanza registrierte die Blicke, die ihm und seinem Partner von den anderen Passanten zugeworfen wurden. In der Nähe eines ehemaligen Einkaufszentrums blieb er stehen und blickte sich um. Zwei Männer verschwanden etwa fünfzig Schritt hinter ihnen rasch um eine Ecke. »Was hast du, Opa?« fragte Stuckey. »Jemand folgt uns«, antwortete Thow. »Das kann alles verderben. Wenn sich Unbeeinflußte in der Nähe befinden und sehen, daß wir verfolgt werden, sprengen sie vielleicht ihr geheimes Lager in die Luft. Bestimmt haben sie entsprechende Vorkehrungen getroffen.« »Dann müssen wir unsere Verfolger abschütteln«, erwiderte Stuckey. Der Mächtige hatte »gehört«, was er zu Stuckey gesagt hatte, und entsprechende Suggestivbefehle an ihre Verfolger gegeben. Thow grinste innerlich bei dem Gedanken daran, daß es ihm gelungen war, diesen Mächtigen zu bluffen. Andererseits unterschätzte Thow keineswegs die Gefahr, die den Zivilisationen der Galaxis drohte. Nein, sie durften nicht auf Wagtmeron scheitern, sondern mußten so bald wie möglich die USO zu Hilfe rufen, um die Zentrale des Mächtigen auszuheben, wie immer diese Zentrale auch aussehen mochte. »Ich denke, wir haben alle Verfolger abgeschüttelt«, sagte Stuckey. Thow entschied, daß er diese Versicherung, die ja indirekt vom Großen Drahtzieher kam, akzeptieren mußte. »Ich denke auch, Pa«, erwiderte er und blieb stehen. Er deutete auf den Ostflügel des Einkaufszentrums, dessen staubbedeckte Fenster und grauen Plastikwände unglaublich trist wirkten. »Dort drüben ist es. Neben einem demontierten Pneumo-Frachtlift geht eine Nottreppe in die Tiefe zu ehemaligen Lagerkellern. Einer der Kellerräume hat früher wahrscheinlich der Aufbewahrung radioaktiver Substanzen gedient. Er ist entsprechend abgeschirmt.« »Aha!« sagte Stuckey. »Das könnte die Erklärung dafür sein, daß die elektronische Aus-
* Als Thow seinem Partner aufhalf, rutschte aus Stuckeys Gewand ein Schockblaster und polterte zu Boden. »Damit solltest du mich paralysieren, wie?« meinte Thow. »Ja, ich war der Köder«, antwortete Stuckey. 45
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Ein Strahlenschuß traf den Bulldozer an der rechten Seite und schmolz einen Teil der Metallplastikverkleidung weg. Thow Tanza entdeckte den Schützen auf einem Flachdach und setzte ihn mit einem Schuß aus der Schockwaffe außer Gefecht. Dann war das Hindernis überwunden. Der Bulldozer raste durch die aufgewirbelte Wolke von Trümmerstaub hindurch. Sekundenlang konnten Stuckey und Thow nichts sehen, und als die Sicht nach vorn wieder frei war, war es zu spät. Jedenfalls für die Besatzung des Polizeigleiters, der sich genau vor den Bug des Bulldozers gesetzt hatte. »Lange geht das nicht so weiter«, meinte Stuckey und wischte sich mit dem rechten Ellbogen den Schweiß von der Stirn. »Das fürchte ich auch«, gab Thow zurück. Er hatte einen weiteren Polizeigleiter entdeckt, der sich aus zirka hundert Metern Höhe dem Bulldozer näherte. Der trichterförmige Lauf eines Narkosestrahlers schwenkte ständig hin und her, bemüht, dem unkontrollierten Schlingern der Baumaschine zu folgen. Thow lächelte grimmig, steckte die Linke mit dem Schockblaster ins Freie, zielte und drückte ab. Der Gleiter schwenkte hart nach links ab, verschwand hinter dem Stahlgerippe eines Hochhauses, das nie fertiggestellt worden war, und tauchte kurz darauf von hinten wieder auf. Der Bulldozer brach nach rechts aus, zertrümmerte mit dem Heck eine Schaufensterscheibe und raste zur anderen Straßenseite. Thow spürte ein Kribbeln im Genick, sah plötzlich Sterne vor seinen Augen funkeln und spürte jähe Übelkeit. Als er seinen Partner stöhnen hörte, schüttelte er seine Benommenheit gewaltsam ab. Verschwommen sah er, daß Stuckey zusammengesunken war und daß der Bulldozer geradewegs auf einen mit Schutt beladenen Transportgleiter zuhielt, der am Straßenrand stand. Er griff in die Steuerung und riß das Fahrzeug im letzten Moment aus dem verhängnisvollen Kurs. »Reiß dich zusammen, Pa!« schrie er. »Wir haben nur die Streuenergie des Narkosebe-
Er wollte mit der Rechten nach der Schockwaffe greifen und verzog schmerzhaft das Gesicht, als er mit dem Stumpf gegen das Griffstück stieß. Thow drückte ihm den Schockblaster in die linke Hand. »Du mußt dich vorläufig mit dieser begnügen, Pa«, erklärte er bedauernd. »Wenn alles gutgeht, wird man uns Prothesen verpassen, die sich äußerlich und funktionell kaum von richtigen Händen unterscheiden.« Er lächelte trübe. »Vielleicht funktioniert diese Maschine noch«, meinte Thow und deutete auf einen Wirbelfeld-Bulldozer, der mitten in dem Schutthaufen eines abgerissenen Hauses stand. Sie liefen zu der Maschine hin und kletterten in die Kabine. Stuckey drückte den System-Aktivierungsknopf. Nichts rührte sich. »Die drahtlose Energieversorgung wird abgeschaltet sein«, meinte Thow und drückte den Schalter für Reserve-SpeicherbankBetrieb. Mit leisem Heulen sprang der Antigravkissen-Generator an. Die schwere Maschine hob sich um etwa zehn Zentimeter. Stuckey schaltete bereits an den Steuertasten und -hebeln, wobei ihm die rechte Hand sichtlich fehlte. Immer wieder zuckte sein Stumpf nach vorn. Langsam schwenkte der Bulldozer herum und schwebte auf die Straße – aber da tauchten auch schon die ersten Beeinflußten auf. Thow Tanza tauschte seinen Strahler gegen den Schockblaster seines Partners und feuerte auf die Verfolger. Etwa zehn Frauen und Männer brachen stocksteif zusammen, einige andere Personen sprangen in die Deckung von Hauseingängen. »Schneller!« rief Thow seinem Partner zu. Der Bulldozer hatte inzwischen die Straße erreicht und wandte sich nach Nordosten. Dann beschleunigte er. Seine Höchstgeschwindigkeit lag allerdings bei nur dreißig Stundenkilometern. Aber immerhin war es besser, als zu Fuß zu gehen. Mit zusammengepreßten Lippen steuerte Stuckey den Bulldozer durch die Hindernisse hindurch, während Thow auf alle Personen schoß, die ihrem Fahrzeug zu nahe kamen. 46
ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten Antigravkissenprojektoren des Bulldozers stottern hörte. Gleich darauf brach ihr Arbeitsgeräusch völlig ab. Das Fahrzeug setzte auf und rutschte noch einige Meter, bevor es endgültig stand. »Was ...?« fing Thow an. »Die Speicherbank ist leer«, sagte Stuckey. »Die Einwohner von Sverkon haben in letzter Zeit vieles vernachlässigt. Aber das hat auch sein Gutes für uns.« »Wieso?« erkundigte sich Thow. Stuckey lächelte. »Meinst du, sonst wären wir noch frei, Opa?« fragte Stuckey Folus zurück. »Unter normalen Umständen würde es in dieser Gegend von Polizeigleitern wimmeln.« »Aber wir wollen uns nicht zu früh freuen. Erst in den Bergen dürften wir einigermaßen sicher vor Verfolgern sein.« »Und was sollen wir in den Bergen?« fragte Thow. »Was wir brauchen, ist ein starkes Hyperfunkgerät.« Stuckey nickte. »Richtig, Opa. Aber es gibt nur diese Berge in der Umgebung Sverkons, und da Observatorien und meteorologische Stationen stets auf Bergen errichtet werden, besteht eine gute Wahrscheinlichkeit dafür, daß wir eine solche Station finden. Wenn wir Glück haben, gibt es dort ein Hyperfunkgerät.« »Und wenn nicht?« »Müssen wir in die Stadt zurückkehren«, meinte Stuckey und verließ die Straße. Thow Tanza folgte ihm. »Du wirst aus unserer ›Familie‹ noch eine Wandergruppe machen!« murrte er. Doch er wußte genau, daß es zu Stuckeys Vorstellungen keine brauchbare Alternative gab.
schusses abbekommen, sonst würden wir nichts mehr fühlen und sehen. Lenke!« Stuckey streckte die Linke nach den Steuerschaltungen aus. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen, aber die Augen blitzten in wilder Entschlossenheit. »Nimm den Thermostrahler, Opa!« flüsterte er. »Schockwaffe ... zu gefährlich für Gleiter.« Thow begriff. Er hatte in der Hitze des Gefechts nicht daran gedacht, daß die Gleiterbesatzung verloren war, wenn er sie vollzählig durch Schockwaffenbeschuß paralysierte. Wenn er dagegen das Fahrzeug mit dem Thermostrahler nur beschädigte, konnte der Pilot es immer noch landen. Rasch vertauschte er abermals die Waffen. Als der Polizeigleiter erneut anflog, zielte Thow auf die Unterseite und drückte ab. Ein sonnenheller Energiestrahl schlug im Boden des Gleiters ein und brannte die Kraftfeldprojektoren weg. Der Pilot schaltete sofort auf Pulsationstriebwerk um. Die beiden Aggregate sprangen donnernd an, und in einer leichten Rechtskurve zog der Gleiter mit hitzespeienden Düsen davon. »Den sind wir los«, sagte Thow zufrieden. Er blickte nach vorn und sah, daß sie die Stadt verlassen hatten. Der Bulldozer schwebte über eine schmale Straße durch ein Gelände, das rechts durch Felder gekennzeichnet war und links langsam zu einem waldigen Vorgebirge anstieg, hinter dem sich in größerer Entfernung richtige Berge in den Himmel reckten. »Nach links, Pa!« rief er seinem Partner zu. »Nur zu Fuß«, erwiderte Stuckey. »Das soll übrigens gesund sein.« Thow wollte erregt protestieren, als er die
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ATLAN 109 (117) – Die Stadt der Marionetten
Weiter geht es in Band 109 (117) der ATLAN-ebooks mit:
Die Cosmidos von Hans Kneifel
Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2004, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt 48