Das neue Abenteuer 231
Gerhard Beutel: Stadthauptmann Karst Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 231
Gerhard Beutel: Stadthauptmann Karst Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1965
Lizenz Nr. 303 (305/81/65)
ES 9 A
Umschlag und Illustrationen: Gerhard Goßmann
Typografie: Walter Leipold
Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland,
Berlin
Groß und einsam, auch nicht vom Zipfelchen einer Wolf ke bedeckt, stand die Mondscheibe am Himmel und tauchte die schlafende Stadt in ihr silbriges Licht. Matt schimmerten die hohen spitzgiebligen Fachwerkhäuser. In der Altstadt sprangen die oberen Stockwerke oft so weit vor, daß sie einander beinahe berührten; die krummen, schmalen Gassen blieben bei Mondlicht wie bei Sonnenf schein dunkel und düster. Ein ganz anderes Bild bot die Neustadt, die hauptsächlich von Bauern bewohnt wurde. Die Fassaden der Häuser waren gerade und schmucklos, mächtige Tore führten in die Wirtschaftshöfe mit den Stallungen. Die Straßen waren breit und gerade angelegt. Starke trotzige Türme, die die Stadtmauer verstärkten, reckten sich in den nächtlichen Himmel. Quedlinburg war eine wehrhafte Stadt, deren Bürger, gleich, ob sie Kauff leute, Handwerker oder Bauern waren, ihre Freiheit zu
schützen wußten. Durch ein Bündnis mit den Städten Halberstadt und Aschersleben waren sie stärker und selbstbewußter geworden. Dennoch gab es Feinde, die sie trotz starker Türme und Mauern zu fürchten hatten. Die Regensteiner Grafen haßten die aufstrebende Stadt und suchten sie zu bedrängen, denn immer mehr der ihnen zu Frondiensten verpflichteten Bauern verließen ihre Höfe und suchten Schutz hinter den Stadtmauern. Regenf steinsche Reisige überfielen Kaufleute, die nach Quedlinf burg wollten, plünderten sie aus und schleppten sie mit sich. Viele der Gefangenen starben in den Kerkern auf dem Regenstein, noch ehe das geforderte Lösegeld eingef troffen war. In regelmäßigen Abständen klapperten die Schritte der Wachen über das schlechte, holprige Pflaster. Sonst waren kaum Geräusche zu vernehmen. Nur drüben in der Neustadt brüllte hin und wieder ein Stück Vieh. Es war kurz nach Mitternacht, als vom Markt her leises Stimmengewirr vernehmbar wurde. Kurz darauf bogen zwei Männer der Stadtwache in die Breite Straße ein. Ohne sich umzusehen, hasteten sie vorwärts. Keuchend erreichten sie schließlich die Bockstraße und bogen um die Ecke. Vor dem Haus des Schmiedemeisters Hannes Karst, der auch Vorsteher seiner Innung war, blieben sie endlich stehen. Einer setzte den schweren Klopfer in Bewegung, der mit dumpfem Geräusch herunterfiel, aber sein Bef gleiter ließ es damit nicht genug sein und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Haustür. Ein Fenster wurde aufgestoßen. Der struppige Kopf des alten Karst erschien in der Öffnung. "Was, zum Teufel, ist los, wollt ihr mir die Haustür einschlagen?" "Meister, schnell, schnell", der Atem des Wächters ging pfeifend, "weckt Euren Sohn, den Stadthauptmann."
Ein weiteres Fenster wurde geöffnet. "Was ist, Männer?" fragte eine jugendlich helle Stimme. "Kommt, Stadthauptmann! Mord - ein Unbekannter, er liegt ." "Ich komme", unterbrach Hans Karst den Wächter. Der alte Meister warf das Fenster zu. Mord? Was sollte man davon wieder denken? Bis jetzt war jeder hinter den Stadtmauern seines Lebens sicher gewesen, auch wenn er nach Mitternacht auf die Gasse ging. Die beiden lehnten noch immer erschöpft an der Hausf wand, als die Tür geöffnet wurde und der Stadthauptmann heraustrat. Er war mit einem Lederkoller bekleidet, barf häuptig und nur mit einem kurzen Dolch bewaffnet. Das blonde Haar stand wirr um seinen Kopf. "Wo liegt der Tote?" "In der Nische neben dem Rathausportal. Er wurde off fenbar erst dorthin geschleift, über das Pflaster zieht sich eine längere Blutspur." Der Stadthauptmann sah den beiden Wächtern in die etwas verstörten Gesichter. "Ich gehe allein. Lauft ihr zu den Rottenmeistern. Sie sollen sofort zum Rathaus komf men, wir wollen versuchen, den Mörder zu fassen." Schon von weitem hörte Karst das Gesumm aufgeregter Stimmen. Ein rötlicher flackernder Schein stand über dem Marktplatz. Trotz des hellen Mondlichts hatte die Stadtwache Fackeln entzündet. Die Männer verstummten und traten zur Seite, als sie den Hauptmann erblickten. Hans Karst sah die schmale Blutspur. Er nahm eine Fackel und hielt sie gegen die Nische neben dem Sandsteinportal, zu dem einige ausgetretene Stufen hinaufführten. Seinen Augen bot sich ein grausiger Anblick. Der Tote saß gegen die Wand gelehnt, die Arme hingen schlaff herunter, die
gebrochenen Augen waren weit geöffnet. Weder am Gef sicht noch am Körper waren Wunden zu sehen. Erst als Karst die Fackel auf den Boden legte, den Toten bei den Schultern packte und über dessen Rücken fuhr, wurde seine Hand klebrig. Von hinten erstochen. Der Hauptmann ließ den Toten langsam zurückgleiten, nahm die Fackel wieder auf, um sich die leblose Gestalt näher anzusehen. Gut gekleidet war der Unbekannte, und an seinem Gürtel hing eine lederne Tasche, wie sie zumeist von reisenden Kaufleuten getragen wurden. Er mochte wenig älter als zwanzig Jahre sein.
Zögernd traten einige Männer der Stadtwache mit hochf erhobenen Fackeln näher. Sie sahen, wie Hauptmann Karst niederkniete, um die Tasche am Gürtel des Ermordeten zu
öffnen. Vielleicht gab ihr Inhalt Aufschluß über seine Person. Nachdem die Riemen gelöst waren, wurde eine schwere Geldbörse sichtbar. Hans Karst wog sie erstaunt in der Hand. Als er sie öffnete, fiel ein Goldstück heraus. Klirrend sprang es über das Pflaster. Viele solcher harten Goldstücke enthielt die Börse. Langsam erhob sich Karst, verwahrte den Lederbeutel hinter seinem Gürtel. "Des Goldes wegen wurde er nicht ermordet. Wenn sich der Mörder Zeit nahm, sein Opfer hierherzuschleifen, konnte er es auch berauben." Er hatte leise vor sich hin gesprof chen, dennoch hatte einer der Wächter seine Worte gehört. "Kann er nicht im letzten Augenblick gestört worden sein, Hauptmann?" Karst antwortete nicht, ihn beschäftigte schon wieder ein anderer Gedanke. Warum war der Tote überhaupt hierherf gebracht worden? Die Ankunft der Rottenmeister brachte ihn wieder auf seine Aufgabe zurück. Der Mörder mußte gefunden werf den. Im Halbkreis umstanden ihn die Rottenmeister und Stadtwächter, warteten auf seine Befehle. Noch überlef gend ging er der feinen Blutspur nach. Sie zog sich quer über den Marktplatz und noch ein Stück in die Hohe Straf ße hinein. Oft mußte er sich tief bücken, um sie wiederzuf finden. Schweigend waren die Männer dem Hauptmann gefolgt. Das flackernde Licht ihrer Fackeln warf bizarre Schatten auf Straße und Häuserwände. Plötzlich hörte die Blutspur auf. Der Hauptmann sah sich um. War das Verf brechen hier geschehen? Sein Blick fiel auf das Haus des Kaufherrn Caspar Melchior. Zwei Stockwerke war es hoch, und darüber schwang sich noch der spitze Giebel empor. Das Fachwerk war ebenso wie die schwere zweif flügelige Tür reichlich mit Schnitzereien versehen. Im
oberen Stockwerk glitzerte eine stattliche Fensterreihe im kalten Licht des Mondes, während sich in den unteren Fenstern der rötliche Schein der Fackeln widerspiegelte. Alles an diesem Hause, auch der kunstvoll geschmiedete Türklopfer, sollte den Reichtum seines Besitzers zur Schau stellen. Karsts Blick glitt auch über die Fenster der niedrif ger liegenden Lagerräume. Warum sollte sich dort nicht der Mörder verbergen? Er streckte seine Hand nach dem Türklopfer aus. Meines Vaters Arbeit, dachte er, ehe er ihn herunterfallen ließ. Ein Fenster klirrte. "Der Stadthauptmann, macht auf!" Als sich die Tür knarrend öffnete, stellte der Hauptmann zu seinem Erstaunen fest, daß sich Caspar Melchior selbst bemüht hatte. Er trat einen Schritt vor, musterte den Hauptmann mit scheelen Blicken. Auch die kostbaren Kleider, die er trug - offenbar hatte er noch nicht gef schlafen -, vermochten nicht die Magerkeit seines Körf pers zu verbergen. Auf dürrem sehnigem Halse saß ein kleiner, spitz auslaufender Kopf. Aus dem Gesicht mit den dünnen eingekniffenen Lippen sprang die Nase wie ein scharfer Schnabel hervor. Der alte Kaufherr und der junge Hauptmann waren einf ander nicht gerade freundlich gesinnt. Caspar Melchior war ein ergebener Freund der stolzen Jutta von Kranichf feld, die als Äbtissin das Stift "Gottgeweihter Jungfrauen" auf der Quitilingaburg regierte und zugleich Landesherrin der Quedlinburger war. Das Anliegen der Fürstin, für die Stadt einen adligen Hauptmann zu bestellen, der ihr Verf trauen besaß, hatte Melchior zu seinem eigenen gemacht und vertrat es mit Nachdruck im Rat beider Städte. Das gesamte Patriziat war bemüht, sich das Wohlwollen der Landesherrin zu sichern. Daran, daß Melchior seinen Eifer
oft übertrieb, nahm niemand Anstoß. Verlangte Karst einen Ausbau des Mauerrings, bezichtigte ihn Melchior, das Geld der Bürger zu verschleudern. Übte er vor den Toren die Männer rottenweise im Gebrauch der Waffen, wollte Melchior wissen, daß das die Landesherrin gegen die Stadt aufbringe. Nun standen sich die beiden gegenf über. Der Kaufherr schien hochfahrender und galliger als sonst. Karst zwang sich zur Ruhe. "Laßt Eure Lagerräume öffnen, wir müssen sie durchsuchen." "Seid Ihr von Sinnen?" begann Melchior zu keifen. "Zu nächtlicher Stunde wollt Ihr meine Lager durchsuchen? Was gibt Euch das Recht dazu, Hauptmann?" "Ein Mord ist geschehen, Caspar Melchior." Die Stimme des Kaufherrn schien sich nach diesen Worten überschlagen zu wollen. "Sucht Ihr den Mörder vielleicht bei mir?" Mit seiner dürren Greisenhand wies er auf die kleinen schmalen Fenster der Lagerräume, durch die sich kaum ein Mensch hätte zwängen können, zudem waren sie durch starke Eisenstäbe gesichert. "Seht Euch die vergitterten Fenster an und sagt mir, Hauptmann, wie da ein Mensch eindringen sollte." Karst fühlte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Der alte Melchior hatte recht, der Mörder konnte nach der Tat wahrhaftig nicht durch eines dieser Fenster gestiegen sein, um sich zu verbergen. Wie hatte er diesen Umstand nur übersehen können? Sollte er seinen Fehler zugeben und sich bei Melchior für die nächtliche Störung entschuldif gen? Schon wollte er nachgeben, als er den hämischen Ausdruck in Melchiors Gesicht bemerkte. Barsch fuhr er den Alten an: "Öffnet, wir haben nicht die Absicht, bis zum Morgen hier zu verweilen." Den Wächtern gab er einen Wink, näher zu treten.
Widersinnig war der Befehl, den er gab, das wußte er nur zu gut. Wäre es jeder andere gewesen, er hatte eingelenkt, aber diesem alten Schreihals und Hetzer wollte er zeigen, daß auch er einem Befehl des Stadthauptmanns zu gehorf chen halte. Melchior trat in das Haustor zurück. Aus dem dunklen Flur drang seine keifende Stimme. "Ich weiche der Gewalt. Aber in der Ratssitzung werdet Ihr mir Rede und Antwort stehen." Zusammen mit einigen Wächtern trat der Hauptmann in den Hausflur, von dem ein Seitengang nach den Lagerf räumen hinüberführte. Plötzlich, niemand hätte sagen könf nen, wer sie so schnell gerufen hatte, waren zwei mürrif sche Knechte da; sie gingen voran, um die Türen zu öfff nen. Als letzter betrat Hans Karst den Gang. Hätte er sich noch einmal umgedreht, wäre er über das vor Haß verf zerrte Gesicht des alten Melchior erstaunt und erschrocken gewesen. Sie traten in das geräumige Lager. Bis zur Decke gestaf pelt lagen die großen Tuchballen. Die meisten waren verpackt und verschnürt. Auf den grauen Hüllen trugen sie die Warenzeichen ihrer Hersteller. Viele der Ballen hatten eine weite Reise hinter sich, nicht wenige stammten aus Augsburg, der Stadt der Tuchmacher. Auch Fäßchen und Säckchen mit kostbaren Gewürzen wurden in dem zitternf den Lichtschein sichtbar. Wie reich muß dieser Mann sein! dachte der Hauptmann. Caspar Melchior beobachtete die Männer mit stechenden Blicken. Sein Raubvogelgesicht stieß gegen den Hauptf mann vor. "Anzünden werdet Ihr mir noch meine kostf baren Waren, wenn Ihr nicht bald mit Eurer sinnlosen Schnüffelei aufhört." Es ist wahr, ging es Karst durch den Kopf, was suche ich
eigentlich hier. Statt jeden Winkel in der Altstadt zu durchstöbern, verliere ich hier wertvolle Zeit. Schon wollte er sich zurückziehen, da gewahrte er im Fußboden des Lagers eine Öffnung. "Was ist das?" wandte er sich an einen der mürrischen Knechte. "Dort unten lagern auch noch Waren." Rasch bückte sich Karst und hob den Deckel der Luke auf. Warum tue ich das, fragte er sich wiederum, während er die ausgetretenen Steinstufen in das Gewölbe hinf unterstieg. Auch hier unten lagen die Waren bis zur Decke gestapelt. Krachend warf er die Luke zu, als er wieder oben stand. "Kommt", sagte er, zu den Wächtern gewandt. Schon wollte er sich bücken, um durch die niedrige Tür wieder hinaus auf den Gang zu treten, da zwang ihn ein merkwürdig pfeifender Laut, sich noch einmal umf zudrehen. Der Kaufherr lehnte an der Wand und rang nach Luft. Er schien maßlos erregt. Der Adamsapfel hüpfte krampfhaft unter der faltigen Haut auf und ab, die Hände tasteten an der Wand entlang, als suchten sie eine Stütze. Hans Karst machte sich bei diesem Anblick Vorwürfe. Ich hätte doch nicht auf einer Durchsuchung bestehen sollen, der Alte hat sich so aufgeregt, daß er aussieht, als sollte ihn der Schlag treffen. Die Gesichter der beiden Knechte wurden noch finsterer, während sie den Hauptf mann und die Wächter hinausgeleiteten. Auf der Gasse holte Karst erst einmal tief Luft. Mit der Hand fuhr er sich durch den blonden Schopf. Was nun? Die Rottenmeister hätten nicht auf ihn gewartet, erfuhr er von einem zurückgelassenen Stadtwächter, sondern damit begonnen, die Stadt zu durchstreifen, um jeden Verdächtif gen festzunehmen. Die Nacht schlich wie ein Dieb davon, der Morgen
dämmerte herauf. Vom Wipertikloster herüber tönte bef reits der Klang der Glocke, die zur Matutin (Morgengebet) rief, als sich die Männer mit bleichen müden Gesichtern wieder um den Hauptmann sammelten. Ihre Suche war erfolglos geblieben. Da sich auch in den Kleidern des Toten, den man inzwischen in das Beinhaus gebracht hatte, nichts fand, was Aufschluß über seine Person geben konnte, blieb der Mord vorerst unaufgeklärt. Im schmutf ziggrauen Zwielicht suchten die Rottenmeister und Stadtwächter ihre Wohnungen auf. Vorher drückten sie alle dem Hauptmann die Hand. "Es wird schon ans Licht der Sonne kommen", versuchte ihn einer zu trösten. Der nächste Tag war ein Markttag. Schon am frühen Morgen waren die Bauern gekommen, um ihre Waren auszubreiten. Da die Männer und Frauen nicht nur aus der Neustadt kamen, sondern auch von Dietfurt und anderen kleinen Flecken, hatte es der Marktmeister nicht immer leicht, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er schritt würdef voll, einen langen Stab in der Hand tragend, durch die Reihen der Verkäufer und fuhr diejenigen barsch an, die mit ihren Nachbarn stritten oder nach besseren Plätzen drängten. Bald erschienen die ersten Hausfrauen, die meisten bef gleitet von ihren Mägden. Ihre Blicke glitten über die primitiven Stande, die bunte Warenfülle kritisch musternd. Sie hoben ein Bund Möhren hoch, wählten wohl ein Dutf zend oder mehr schöner großer Eier aus, die sie der Magd in den Korb legten, oder bückten sich zu den Hühnern, die mit zusammengebundenen Beinen am Boden lagen und ängstlich mit den Flügeln schlugen, wenn man nach ihnen griff. Die knusprigen Laibe der flachen runden Brote
verbreiteten einen angenehmen, den Gaumen kitzelnden Geruch. Das bunte Bild, das sich auf dem Markt bot, wurde einf gerahmt vom Rathaus, hinter dem sich der Turm der Marktkirche erhob, von den Häusern am Schuhhof und von der Blasiikirche. Dahinter waren die Spitzen der vier höchsten Tortürme zu sehen, von denen einer der "Schrekf kendüvel" hieß, weil sich in ihm die Folterkammer und das Verlies für schwere Verbrecher befanden. Über allem spannte sich ein makellos blauer Himmel. Plötzlich begann sich das Bild auf dem Marktplatz zu verändern. Irgendeine Frau oder auch mehrere, die durch ihre Männer von dem nächtlichen Mord wußten, hatten zu anderen darüber gesprochen. Schnell bildeten sich kleine Gruppen, und mit gedämpften Stimmen wurde über Einf zelheiten des grausigen Ereignisses gesprochen. Der gef waltsame Tod des jungen Mannes berührte jeden, hatte er ihn doch innerhalb der Stadtmauern ereilt. Am gleichen Tag, noch während die ersten Käufer auf dem Markt erschienen waren, war Caspar Melchior mit schweren Schritten aus seinem Hause getreten, war die Hohe Straße hinuntergegangen und hatte schließlich die Stadt durch das Altetopftor verlassen. In seiner Begleitung befand sich ein Knecht, der eine hölzerne, mit Kupferbef schlägen verzierte Schatulle im Arm trug. Den Torwächf tern war der Anblick Melchiors und auch der Weg, den er nahm, nichts Neues. Wahrscheinlich wollte der Alte wief der einmal zu der Äbtissin hinauf, um ihr und ihren Daf men kostbare Stoffe und Gewürze anzubieten. Der Kaufherr war von hochfahrender Natur, zäh und verbissen kämpfte er um die Vorherrschaft der Patrizier. Auf die Handwerker und Bauern sah er als Menschen
niederen Standes herab. Es erregte seinen Zorn, daß die Innungen und Bruderschaften der Handwerker bestimmte Rechte forderten, daß die Neustädter Bauern gar einen eigenen Bürgermeister hatten. Wer anders als die Landesf herrin, Jutta von Kranichfeld, konnte einen Verfall der Macht der Patrizier aufhalten? Caspar Melchior, der hochf mütig und hart gegen Handwerker und Bauern, gegen seine Knechte und Mägde war, gab sich unterwürfig vor der schönen stolzen Fürstin, und er fand reichlich Gef legenheit, dieser Frau kostbare Geschenke darzubringen. Huldvoll geruhte die hohe Frau, diese Gaben anzunehmen, und hörte sich ganz nebenbei die Sorgen und Wünsche des Kaufherrn an. Wuchtig erhoben sich die Mauern und Türme der Stiftsf kirche über dem Sandsteinfelsen. Mit den schmalen rundf bogigen Fenstern, den starken flachgedeckten Türmen wirkte sie trotzig und wehrhaft. Bereits um das Jahr achtf hundert hatte dort oben eine langgestreckte stattliche Königshalle gestanden, die kleine Kapelle neben ihr war der Vorläufer der mächtigen Stiftskirche gewesen. Später war an die Stelle der hölzernen Königshalle eine steinerne Burg getreten, deren starke Mauern Schutz vor jedem Angriff boten. Auch als die Burg in ein adliges Stift verf wandelt wurde, hörte sie nicht auf, ein Herrschersitz zu sein. Damit den Damen aus fürstlichem Geblüt auch fürstf liche Einnahmen zuflössen, war ihnen eine große Zahl von Dörfern im Harzgau und in Thüringen zu Frondiensten und Abgaben verpflichtet. Ein großes Gebiet beiderseits der Mulde nannten sie neben anderen, über das ganze Reich verstreuten Landstrichen ihr Eigentum. So nahm es weiter nicht wunder, daß der Anblick der Stiftskirche statt an Gott oder die Heiligen, deren Altäre sie beherbergte,
vielmehr an den Machtanspruch des Adels gegenüber allen anderen Bürgern erinnerte. Keuchend stieg Caspar Melchior den steilen Weg empor, am Weggang vorbei, trat durch das Burgtor und stand endlich vor dem Portal des Stifts "Gottgeweihter Jungf frauen". Außer Atem gekommen, zupfte er mit zittrigen Händen seine Kleidung zurecht. Der Knecht halte sich unterdessen bemerkbar gemacht, und die Pförtnerin kam heraus, als sie den reichen Kaufherrn aus der Stadt bef merkte. Die Äbtissin, bedeutete sie ihm, befinde sich drüben in der Kirche, um ein Gebet zu verrichten. Er solle ruhig hinübergehen, denn Jutta von Kranichfeld verweile in letzter Zeit auch häufig außerhalb der Messen und Gebete dort, da sie sich mit größeren Bauvorhaben trage. Das Licht der Sonne ließ die farbigen Gläser in den Fenf stern der Stiftskirche aufglühen und verlieh den Malereien, mit denen die Wände geschmückt waren, eine starke Wirkung. Jutta von Kranichfeld war ganz allein. Ihr Blick durchf streifte das innere der Kirche, nur hier und da kurz verf weilend. Der Hochaltar war geschmückt mit einem großen goldef nen Kreuz. Dort standen auch zwei Reliquienschreine, deren Wände und Deckel mit silbernen Platten und Elfenf beinschnitzereien verziert waren. Auch auf den anderen Altären leuchteten goldene und silberne Kreuze, schimf merte goldgelber Bernstein, funkelten Kristallschalen und anderer Zierat. Alles, nicht zuletzt die Loge über der Vorf halle, von der kostbare Teppiche herabhingen, atmete Reichtum und Größe. Aber hatte in Juttas Augen für kurze Zeit ein stolzer Glanz gelegen, so seufzte sie nun auf. Wie lange war es her, seit die Mitglieder des kaiserlichen Hofes
diese Loge nicht mehr betreten hatten, wieviel Zeit war vergangen, seit die letzte Reichsversammlung hier abgef halten worden war. Auch die kaiserlichen Schenkungen, und das war fast noch schlimmer, blieben aus. Den stolzen Kaufleuten unten in der Stadt aber konnte man das Geld nicht so einfach aus den Truhen nehmen. Da gab es eif gentlich nur einen, der sich die Gunst der Äbtissin etwas kosten ließ. Die anderen wollten zwar Rechte, die sie ihnen als Landesherrin bestätigen sollte, aber sie wollten dafür nichts zahlen. Die Einnahmen aus den Besitzungen des Stiftes nahmen von Jahr zu Jahr ab, weil die Grafen, die sie als Vögte verwalteten, hauptsächlich in die eigene Tasche wirtschafteten. Auch Graf Albrecht von Regenf stein, der hiesige Schutzvogt, war nicht besser. Ja, es ließ sich nicht leugnen, der Reichtum hier drinnen, all der goldene und silberne Glanz, die leuchtende Farbenf pracht der Teppiche, Tapeten und Malereien, stand im krassen Gegensatz zur Lage des Stiftes. Jutta ließ ihre Blicke auf der flachen Balkendecke der Basilika ruhen. Wollte sie ihre Pläne für einen Umbau verwirklichen, mußte sie sich zum Verkauf eines Teiles der Güter entschließen. Ein scharrendes Geräusch unterbrach sie in ihren Gef danken. Sie drehte sich um, und sofort zeigten sich über ihrer Nasenwurzel zwei Falten, wie immer, wenn sie erf zürnt war. Hatte sie der Pröpstin nicht gesagt, daß sie allein sein wollte? Und ausgerechnet dieser alte Krämer. Sicher würde er wieder jammern und sich über die Frechf heit der Handwerker und Bauern verbreiten. Caspar Melf chior spürte den kalten Blick, der auf ihm ruhte. Mit unf tertanig gebeugtem Rücken schlurfte er näher: "Verzeiht, Fürstin, daß ich hier eingedrungen bin, aber ."
Jutta von Kranichfeld gebot ihm mit einer Handbewef gung Schweigen. Melchiors Blicke umfingen die hohe schlanke Gestalt der Frau. Noch immer war das blasse, von der Haube eingerahmte Gesicht schön. Nur der herrschsüchtige Zug, der sich noch deutlicher als früher darin ausprägte, minderte diese Schönheit und mahnte den Alten, auf der Hut zu sein. "Ihr erwägt größere Umbauten, Fürstin?" begann er nach einer Weile von neuem. "Ja", entgegnete die Äbtissin mit harter, spröder Stimme, "und das kostet Geld, Caspar Melchior, viel Geld." "Ich werde im Rat beider Städte darauf dringen, Fürstin, daß dem Stift eine größere Summe zur Verfügung gestellt wird." "Und was verlangt Ihr als Gegenleistung?" Jutta kannte diese reichen Kaufherren. Nicht einen Taler gaben sie aus ihren Truhen heraus, wenn sie sich nicht einen Vorteil ausrechneten. Melchior zuckte unter dieser Frage zusammen, doch er durfte nicht zögern, mußte seine Zeit nutzen. "Der Stadtf hauptmann muß weg, Fürstin. Wenn man ihn hört, spricht er von neuen Mauern, Wehrgängen und Türmen, und selbst die Knechte holt er aus den Häusern, um sie im Gebrauch der Waffen zu üben. Gewiß ist Euch bekannt, wie viele leibeigene Bauern, die ihren Herren entlaufen sind, in der Neustadt wohnen. Wer weiß, gegen wen alle diese Menschen eines Tages die Waffen richten werden. Verlangt entschlossen seine Absetzung, Fürstin. Ja, laßt ihn in Gewahrsam nehmen, denn er versucht die Bürger gegen Euch und Euren Schutzvogt, den Grafen Albrecht von Regenstein, aufzuwiegeln." Überstürzt hatte der Alte diese Worte herausgebracht.
Erwartungsvoll blickte er aus seiner gebeugten Haltung zur Äbtissin auf.
Jutta von Kranichleid war bei den Worten, die sie gehört hatte, aufmerksam geworden. Die Bilder, die dieser Kräf mer da heraufbeschworen hatte, waren durchaus keine Hirngespinste. Die Bauern seufzten und stöhnten unter den Abgaben und Frondiensten. Die Regensteiner Grafen und ihre Untervögte kannten kein Mitleid. Sie fragten nicht
nach guter oder schlechter Ernte, nahmen den Bauern Korn und Vieh und kümmerten sich nicht darum, ob sie Hunger und Not litten. Und Jutta empfand eine gewisse Furcht bei dem Gedanken, daß die Bauern in der Stadt als freie Burger behandelt wurden. Es schien ihr gefährlich, wenn man ihnen Waffen gab und sie lehrte, diese Waffen zu gebrauchen. ,,Sagt mir, Melchior, wie stehen die übrigen Bürger zu dem Stadthauptmann?" "Ihr wißt, Fürstin, daß wir Kaufherren nie gebilligt haf ben, daß der Sohn eines Schmiedes dieses wichtige Amt erhält. Wir wurden damals im Rat beider Städte von den Zunftmeistern und Bauern überstimmt." Nach diesem kurzen Wortwechsel hüllte sich die Äbtisf sin in Schweigen. Für Caspar Melchior war die Stille in der gewaltigen Halle erdrückend. Warum sprach Jutta von Kranichfeld nicht, hatte sie ihren Plan, einen adligen Stadthauptmann zu bestellen, etwa fallenlassen? "Wir werden alles bedenken, Caspar Melchior, und daf nach unsere Entscheidung treffen", sagte die Äbtissin schließlich. Das Gesicht des Alten verlor nach diesen Worten alle Farbe, es glich dem eines Leichnams. Endlich, die Äbtisf sin wartete schon ungeduldig darauf, daß er sich verabf schiede, tat er den Mund auf. "Warum nicht sofort, Fürf stin, heute noch? Dieser Mensch ist gefährlich", stammelte er. Verwundert, mit hochgezogenen Brauen blickte ihn Jutta an. Wagte es dieser Mann etwa, sie zu einem Entschluß zu drängen? Wieder hob sie ihre schlanke Hand, diesmal als Zeichen seiner Entlassung. Mühsam nach Fassung rinf gend, verbeugte er sich tief und verließ mit schleppenden
Schritten die Kirche. Draußen stand noch immer der Knecht und hielt die hölf zerne Schatulle mit den Kupferbeschlägen im Arm. Als er seinen Herrn bemerkte, trat er sofort auf ihn zu. Mit Caspar Melchior ging eine seltsame Veränderung vor sich. Sein Gesicht bekam wieder Farbe, und blitzf schnell zog er den Verdutzten ganz nahe heran, um ihm hastig einige Sätze ins Ohr zu flüstern. "Hast du mich verstanden, Conrad?" fragte er leise. Der nickte, übergab seinem Herrn die Schatulle und ging, um sich beim Stiftsf hauptmann ein Pferd auszuborgen. Wenig später sprengte Conrad im Sattel eines schmukf ken Pferdes zum Burgtor hinaus. "Kehrt auf dem schnellf sten Weg zurück", rief ihm Caspar Melchior nach. Dann öffnete er das Kästchen und betrachtete einen Augenblick das kunstvoll gearbeitete Brustkreuz, das auf einem Stück scharlachroten Tuch lag. Als er die Pröpstin näher komf men sah, warf er rasch den Deckel zu. "Übergebt das der Frau Äbtissin, mich rufen dringende Geschäfte."
Heftige Schmerzen im rechten Oberarm weckten Hans Karst. Er schlug die Augen auf, pechschwarze Dunkelheit umgab ihn. Keine Wand, keine Decke, nichts war zu sef hen. Er wußte nicht, wie viele Stunden er hier schon gelef gen hatte. Konnte er doch nicht einmal feststellen, ob es Tag oder Nacht war. Während er versuchte sich aufzuf richten, raschelte unter ihm Stroh. Vorsichtig betastete er den schmerzenden Arm. Zu seiner Verwunderung fühlten seine Finger einen dicken Verband. Verwundet war er also, aber wann und wo? An welchem Ort befand er sich überf haupt? Als er sich ächzend erhob, glaubte er im ersten Augenf
blick, man habe ihm sämtliche Knochen zerschlagen. Schließlich stand er auf schwankenden Beinen. Sosehr er auch die Augen in die Dunkelheit bohrte, nicht die kleinste Einzelheit war zu erkennen. Mehr um sich zu stützen als zu fühlen, streckte Karst die Hand aus. Die tastenden Finger spürten nassen glitschigen Stein. Zögernd ging er weiter. An allen vier Wänden die gleichen feuchten Steine, keine Fenster, keine Luke, nichts, nur Steine. Die Decke konnte er auch mit ausgestreckter Hand nicht erreichen. Nicht lange vermochte er sich auf den Beinen zu hallen. Das Stroh, auf dem er sich wieder niederließ, war feucht und strömte einen dumpfen fauligen Geruch aus. Kein Zweifel, dies war ein Gefängnis, ein Kerker. Hatte man seinen Tod beschlossen? Hans Karst wollte und konnte nicht recht, daran glauben. Wenn er sterben sollte, trüge er sicher nicht diesen festen guten Verband. Sich lang auf dem Stroh ausstreckend, versuchte er sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was eigentlich geschehen war. Langsam, ganz langsam tauchten wie aus einem Nebel die Ereignisse auf. Nachts hatte ihn die Stadtwache aus dem Bett geholt. Ein Mord war geschehen. Ja, ein Mord an einem Unbef kannten. Bis zum Morgengrauen hatten sie die Stadt durchsucht, umsonst. Und was war am Tag danach gef schehen? Am späten Nachmittag waren zwei Bauern zu ihm gekommen. Sie hatten ihm von einer Bande von Wegelagerern berichtet, die sich in einem Forst in der Nähe der Altenburg herumtreiben sollte. Obwohl ihn die Stadtreiter wegen der fortgeschrittenen Tageszeit gewarnt hatten, Hans Karst erinnerte sich ganz deutlich daran, war er mit einer kleinen Schar aufgebrochen, um die Wegef lagerer dingfest zu machen. Ja, und sie hatten ebenso
vergeblich gesucht wie in der vergangenen Nacht nach dem Mörder. Sehr schnell, noch ehe sie den Forst an der Altenburg verlassen hatten, war die Dunkelheit hereingef brochen. Obwohl seine Glieder wie von einem Fieber gef schüttelt wurden, konnte Karst sich plötzlich wieder genau erinnern. Er schien den verhängnisvollen Ritt geradezu noch einmal zu erleben. Sie sprachen wenig. Da der Mond meist von dunklen Wolken verdeckt wurde, mußten die Reiter aufpassen, um im Sattel zu bleiben, denn die Pferde strauchelten häufig oder scheuten, wenn irgendein Nachttier über den Weg huschte. Plötzlich dröhnte ein lautes Krachen und Splittern durch den Wald. Kurz vor den Reitern schlug ein großer Baum hart auf den Boden. Die Pferde der beiden vordersten scheuten so, daß die Männer aus den Satteln geworfen wurden. Fluchend versuchten sie wieder auf die Beine zu kommen, um nicht von den Hufen zermalmt zu werden. Ehe der Hauptmann begriff, was geschehen war, ertönte wieder das Geräusch von splitterndem Holz, und es schlug hart hinter dem letzten Reiter ein zweiter Baum auf den Waldboden. Die Pferde wurden wild und brachen aus. Sie preschten vom Weg herunter und in das dichte Gestrüpp hinein. Die Männer konnten die Tiere nicht zum Stehen bringen, denn sie mußten mit den Händen die Zweige abwehren, die ihnen ins Gesicht peitschten. Dadurch wurde die Schar zerstreut. Karst hatte sein Pferd in der Gewalt behalten, aber den Weg zurück konnte er nicht, denn dort lag der Stamm mit seinem Gewirr von Ästen, die das Tier am Sprung hinderten. Also mußte er auch in das Gebüsch hinein, um das Hindernis zu umgehen. Da warf ihn unvermittelt ein Stoß mit dem stumpfen Schaft
einer Lanze aus dem Sattel. Noch im Fallen versuchte er sich festzuklammern, doch er konnte sich nicht mehr halten. Der Wald war erfüllt vom Schnauben der erregten Pferde und vom Stöhnen und Ächzen kämpfender Männer. Karst lag am Boden, einer sprang ihn an, dann ein zweiter. Als er nach seinem Jagdmesser greifen wollte, fühlte er einen scharfen Schmerz, dann sank der Arm wie leblos herab. Sie hatten ihn überwältigt. Eine Fackel tauchte auf. Man leuchtete ihm ins Gesicht "Das ist er", sagte eine Stimme, dann verlor Hans Karst das Bewußtsein. Ja, genauso war es gewesen. Das Stroh unter dem Gef fangenen, der sich nur mühsam wieder in die Gegenwart zurückfand, raschelte, und eine aufgescheuchte Ratte entfernte sich quiekend. Wessen Gefangener war er? Warf um hatte man ihm diese Falle gestellt? Kraftlos sank schließlich sein Kopf in das faulige Stroh. Wieder erwachend verspürte Hans Karst einen geradezu rasenden Durst. Glühend heiß brannten ihm Stirn und Wangen. Seine tastende Hand spürte zwischen den Steinen ein fadendünnes Rinnsal auf. Gierig brachte er die Lippen daran. Wieviel Zeit mochte vergangen sein, seit man ihn in diesen Kerker geworfen hatte. Und immer wieder drängte sich ihm die Frage auf, wer ihn und seine Schar überfallen hatte. Waren die Regensteiner im Spiel? Vieles sprach gegen diesen Verdacht. Zwischen den Quedlinburgern und Regensteinern gab es zur Zeit weder offene Fehde, noch deutete irgend etwas darauf hin, daß sie einen Überfall auf die Stadt vorbereiteten. Wer konnte sonst ein Interesse daran haben, den quedlinburgischen Stadthauptmann in Gefangenschaft zu halten? Die Äbtissin? Jutta von Kraf nichfeld war der Stadt, die sich ihrem Einfluß zu entziehen drohte, nicht eben freundlich gesinnt, aber Karst hielt
diese Frau für zu klug, um einen solchen Gewaltstreich zu wagen, der, wenn er offenbar würde, die Bürger noch mehr gegen sie aufbringen mußte. Zusammengesunken kauerte er in einem Winkel. Hungf rig und frierend, die Kehle ausgedörrt. Da ließ ihn ein Geräusch über seinem Kopf aufmerksam werden und die Augen heben. Der plötzlich einfallende Lichtstrahl blenf dete ihn so, daß er den gesunden Arm hochriß, um mit der Hand die Augen zu schützen. Vorsichtig durch die Finger blinzelnd gewahrte er, wie ein Seil mit einem Korb in der Öffnung pendelte. Langsam wurde es heruntergelassen. "Wenn Ihr essen und trinken wollt, bewegt Euch", befahl eine barsche Stimme. Hans Karst erhob sich. Von dem grellen Tageslicht noch immer geblendet, taumelte er auf den Korb zu. Mit zittriger Hand hob er einen runden Laib Brot und einen Krug mit Wasser heraus. Noch während er damit beschäftigt war, den Krug vorsichtig abzusetzen, um nur ja kein Wasser zu verschütten, wurde das Seil mit dem Korb hastig wieder nach oben gezogen. Polternd wurde die Öffnung verschlossen, und wieder umgab völlige Finsternis den Gefangenen. Erst nachdem er seinen Durst gestillt hatte, aß er von dem harten Brot. Er mußte wohl eine Weile geschlafen haben, als vorf sichtig die Luke zur Seite geschoben wurde, so daß nur ein schmaler Lichtstreifen in das Gelaß fallen konnte. Er blenf dete nicht so stark wie beim erstenmal, offensichtlich war die Abenddämmerung hereingebrochen. Eine Hand wurde sichtbar, und dann fielen ein halber Laib Brot und ein Stück Räucherfleisch herunter. "Eßt, Hauptmann, damit Ihr nicht völlig von Kräften kommt", flüsterte eine Stimf me. "Ich danke Euch, sagt mir nur schnell, wo ich mich bef
finde", antwortete Karst gedämpft, denn er konnte sich denken, daß heimliche Freunde am Werke waren, die nicht ertappt werden durften. "Ihr befindet Euch auf dem Regenstein", kam die Antf wort, dann wurde die Öffnung schnell, aber leise wieder verschlossen.
Nun wußte der Hauptmann zweierlei. Er kannte den Ort, an dem er gefangengehalten wurde, und er hatte die Gef wißheit, selbst auf dem Regenstein Freunde zu haben. Es mußten unerschrockene Männer sein, die es wagten, mit einem Gefangenen in Verbindung zu treten. Ungehorsam bei ihren Untertanen pflegten die Regensteiner grausam zu bestrafen. Konnte er hoffen, daß ihm die Unbekannten
helfen würden, von der Burg zu entfliehen? Er begann die Möglichkeiten einer Flucht zu überdenken. Da er recht gute Kenntnisse über die Anlage der Burg hatte, fiel ihm das nicht weiter schwer. Die Gefängnisse lagen ausf schließlich auf der Oberburg. Hier befanden sich auch die Wohnung des Burgvogts, der für die Bewachung der Gef fangenen verantwortlich war, die Wohnräume des Grafen Bernhard und der Festsaal. Die Oberburg lag auf einem steil abfallenden Felsen, gegen jeden Angriff gesichert, aber ebensowenig wie ein Angreifer vermochte ein Flüchtender diesen Felsen zu bezwingen. Es mußte schon schwer genug sein, das Gefängnis überhaupt unbemerkt zu verlassen. Da waren der Vogt und seine Knechte, die bestimmt in der Nacht ihre Runde machten. Die Bedienten des Grafen konnten jederzeit auftauchen oder Späher, die ihm wichtige Nachrichten brachten. Noch schwieriger war es, die Unterburg zu erreichen, denn dazu mußte ein Tor passiert werden. Auf der Unterburg befanden sich die Wohnungen der Reisigen und Knechte, Ställe, die Waffenf kammer und die verschiedensten Wirtschaftsräume, wie Speicher und Küche. Dort würde sich vielleicht für ein paar Stunden ein Versteck finden, aber es gab kein Hinausf kommen, denn das Burgtor war zu jeder Stunde von schwerbewaffneten Reisigen bewacht. Ein wenig mutlos ließ der Gefangene den Kopf sinken. Auch wenn ihm die Freunde helfen wollten, das Gelingen einer Flucht mußte höchst zweifelhaft erscheinen. Ein schmales Mädchenantlitz tauchte vor ihm auf, Barbara. Wie gern hätte er jetzt ihre warmen Hände in den seinen gehalten. Zum Teufel, er wollte nicht in diesem Kerker verfaulen, leben wollte er, leben und glücklich sein. Barf baras Gesicht verschwand. Plötzlich stand der kantige
Schädel seines Vaters mit den grauen struppigen Haaren vor seinen Augen. Würde er sie wiedersehen, Barbara, den Vater, seine Freunde und die Stadt? Sicher ahnten sie nicht einmal, wo er sich befand. Drei Tage hörte Karst nichts von seinen Freunden. Es erschien nur jeweils das Seil mit dem Korb, dem Laib Brot und dem Krug mit Wasser. War man seinen heimlichen Freunden auf die Spur gekommen? Wurde sein Gefängnis besonders bewacht? Am vierten Tage war es endlich wieder soweit. Durch einen Spalt der Luke fiel ein Streifen verblassenden Taf geslichts, und eine flüsternde Stimme drang zu ihm hinf unter. "Wie geht es Euch, Hauptmann?" "Ich glaube, das Fieber ist vorüber. Langsam kommen die Kräfte wieder. Aber könnt Ihr mir nicht sagen, unbef kannter Freund, warum mich die Regensteiner gefangenf halten?" ,.Das weiß ich freilich sowenig wie Ihr selbst", antworf tete der Unbekannte. "Ist Euch nichts aufgefallen, was mit meiner Gefangenf nahme zusammenhängen könnte?" fragte Karst hartnäckig weiter. "Zum Teufel, woher soll ich wissen, was mit Eurer Gef fangennahme zusammenhängt." Hans Karst gab es nicht auf, er wollte Licht in das Dunf kel bringen. "Erzählt mir schnell, was zu dieser Zeit auf dem Regenstein geschah, was Ihr beobachtet habt." Eine Weile blieb es oben still. Wahrscheinlich vergewisserte sich der unbekannte Freund, daß keiner der Regensteinf schen Reisigen oder gar der Burgvogt in der Nähe war. Schließlich begann er, wiederum im Flüsterton, folgendes zu berichten. "An dem Tage, an dem sie Euch in das Verf
lies brachten, es geschah im Morgengrauen, war gegen Mittag ein Bote hier gewesen, der sein Pferd beinahe zu Tode gehetzt hatte. Er verlangte mit dem Grafen selbst zu sprechen. Ich stand in der Nähe und unterhielt mich mit einem Knecht, der Holz hackte, deshalb konnte ich ihr Gespräch nicht verstehen, nur einmal hörte ich einen Namen - Caspar Melchior." Karst zuckte zusammen, als er diesen Namen hörte, aber ihm blieb keine Zeit, denn der Mann berichtete weiter. "Am Tag zuvor war der Sohn eines Kaufmanns hier, wollte seinen Vater auslösen. Er kam zu spät. Der Alte lag bereits im Brunnenschacht, aus dem keiner wieder herausf kommt. Zu Tode betrübt und ergrimmt verließ er die Burg. - Wir müssen jetzt gehen, Hauptmann." In Karsts Hirn krallte sich ein Gedanke fest, ließ ihn nicht mehr los. Nur eine Frage sollte ihm der Unbekannte noch beantworten. "Könnt Ihr mir den Sohn des Kauff manns beschreiben?" "Hier oben fällt jeder Fremde auf, Hauptmann." Nach diesen Worten folgte eine Beschreibung, die Hans Karst gewaltig erregte. Plötzlich ein Scharren. "Der Burgvogt." Geschlossen war die Luke, verstummt die flüsternde Stimme. Der Gefangene war wieder mit sich allein. Kein Wort war über eine mögliche Flucht gesprochen worden. Er lehnte an der kalten, feuchten Steinmauer, verspürte weder Hunger noch Durst. Nach der Beschreibung gab es keinen Zweifel, der junge Kaufmann, der vergeblich verf sucht hatte, seinen Vater auszulösen, war der Tote, der neben dem Rathausportal gelegen hatte. Der Hauptmann dachte jetzt nicht an sein eigenes Schicksal, er wurde bef herrscht von dem Gedanken: Ich bin dem Verbrechen auf der Spur. Vorsichtig begann er die Ereignisse, soweit sie
ihm bekannt geworden waren, aneinanderzureihen. Ein Kaufmann, der nach Quedlinburg will, wird von den Ref gensteinern überfallen und auf die Burg geschleppt, um ein Lösegeld zu erpressen. Als der Sohn mit dem Lösegeld eintrifft, liegt sein Vater bereits mit zerschmetterten Glief dern in einem alten Brunnenschacht. Der Sohn begibt sich nach Quedlinburg und wird dort ermordet. Der Stadtf hauptmann, der das Verbrechen aufklären will, wird in eine Falle gelockt und auf den Regenstein verschleppt. Soweit kannte der Hauptmann nun die Ereignisse. Viel blieb freilich noch unaufgeklärt. Wohin war der junge Kaufmann gegangen, als er vom Regenstein zurückkehrte? In der Hohen Straße hatte ihn der Mörder niedergestreckt, denn dort begann die Blutspur. Dort stand auch das Haus Caspar Melchiors. Hans Karst erinnerte sich, daß der Alte mitten in der Nacht völlig angekleidet gewesen war, als sie an seine Tür geklopft hatten. War der betrübte und erf zürnte Jüngling etwa bei Melchior gewesen, bevor er starb? Und wennschon, das gab noch keinen Hinweis auf den Mörder. Doch warum war der Kaufherr so maßlos erregt gewesen, als seine Lagerräume durchsucht wurden? Wußte er vorher schon von dem Tod des jungen Mannes? Schließlich blieb noch die Tatsache, daß der Bote, der vor dem Überfall auf den Hauptmann auf die Burg gekommen war, Melchiors Namen genannt hatte. Erschöpft fiel der Hauptmann endlich auf das Bund Stroh, das ihm als Lager diente. Undeutlich zeichneten sich die Umrisse der Oberburg auf dem Regenstein gegen den nächtlichen Himmel ab, und nur wenn der heulende Sturm, der die Wipfel der Bäume wild hin und her bog, die Wolken auseinanderriß, wurde der graue Felsen vom Mond in bleiches Licht gef
taucht. Hinter den Fenstern des Festsaals, der wie die gesamte Oberburg in die Wände des Felsens gehauen war, schimf merte Lichtschein. Der Regensteiner hatte Gäste geladen, unter denen sich auch sein Bruder Albrecht, der Schutzf vogt Jutta von Kranichfelds, befand. Wie der Lärm, der bis auf den Burghof drang, bewies, ging es bereits hoch her. Zwei Männer huschten über den Burghof. Sie befanden sich auf dem Wege zur Karsts Gefängnis. Von einem Wächter hatten sie erfahren, daß der Hauptmann am nächf sten Tag in das untere Verlies gebracht werden sollte. Das untere Verlies war jener Brunnenschacht, der für jeden, den man hinunterließ, zum Grab wurde. Nun wollten sie versuchen, den Hauptmann zu retten. Während Bertram, so gut es ging, das Seil, das er mitgenommen, unter seif nem Wams zu verbergen trachtete, blickte sich Jan, er trug ein Bündel unter dem Arm, nach allen Seiten um. Wenn nur der Vogt oder seine Gehilfen nicht gerade jetzt auf den Gedanken kamen, eine Runde zu machen. Aber sicher saßen auch die bei einer Kanne Wein zusammen. Jan und Bertram waren Söhne höriger Bauern aus einem Flecken in der Nähe von Dietfurt. Sie hatten erlebt, wie die Bauern von den Vögten der Grafen geschunden und ausgepreßt wurden. Jans Eltern waren früh gestorben, sein Bruder lebte seit Jahren mit Frau und Kindern in Quedlinf burg. Auch Bertram hatte Verwandte in der Stadt, Bauern, die jetzt dort als freie Bürger lebten. Beide wußten, mit wieviel Respekt in den umliegenden Dörfern der Name des Hauptmanns genannt wurde. Es war bekannt, wie er sich in der Stadt für die Bauern einsetzte. Dieser Mann sollte nicht sterben. Vorsichtig gingen die beiden weiter. Endlich hatten sie
Karsts Gefängnis erreicht. Nachdem sie die Luke geöffnet hatten, legte sich Bertram lang auf den Boden. "Hauptf mann, wir werfen Euch jetzt ein Seil hinunter. Bevor Ihr nach oben steigt, zieht Euch diese Kleider an." Karst, der schnell den Schlaf abgeschüttelt hatte, war aufgesprungen und hob das Bündel auf. So rasch es in der Dunkelheit möglich war, zog er das Wams, die Beinkleider und die langen Reiterstiefel an. Dann ergriff er das Seil, und die Beine gegen die Wand stemmend, kletterte er hinauf. Schwer atmend stand er vor seinen Rettern, konnte ihnen zum erstenmal in die Augen sehen. Jan ergriff ihn beim Arm. "Hört, Hauptmann, Ihr müßt in dieser Nacht die Burg verlassen, morgen sollt Ihr in das untere Verlies gebracht werden. Wenn die Gäste, die der Regensteiner geladen hat, heimkehren, mischt Ihr Euch unter das Gefolf ge. Ein Pferd steht unten für Euch bereit." Er zog den Hauptmann mit sich. "Kommt, wir wollen sehen, ob das Gelage noch nicht zu Ende geht." Bertram verschloß das Gefängnis wieder und versteckte das Seil unter einem Felsvorsprung. Während sich die beiden anderen eng an den Felsen preßten, wagte sich Jan bis zu der Tür, die zum Festsaal führte, und spähte durch einen Spalt. Um einen großen wuchtigen Tisch saß etwa ein Dutzend Männer eng beisammen. Ihre Gesichter waren stark geröf tet, die Augen glasig vor Trunkenheit. Von den Fackeln, die in eisernen Haltern an den Steinwänden steckten, kam schwaches unruhiges Licht, das den Raum nur spärlich beleuchtete. Der Sturm, der an den bleigefaßten Fensterf scheiben rüttelte, fuhr auch in den Kamin, so daß Jan den beißenden Qualm spürte, der durch die Türspalten zog. Jan erblickte den Burgherrn. Dessen Gesicht erhielt durch das eckig vorspringende Kinn einen brutalen Zug,
der durch das feuchte Haar, das ihm tief in die Stirn hing, noch verstärkt wurde. Lachend trank er seinem Bruder Albrecht zu. Plötzlich fuhr Jan zurück. Der Regensteiner hatte sich erhoben und ging an seinen Zechkumpanen vorbei zur Tür. "Graf Bernhard kommt heraus", flüsterte Jan. Die beiden anderen hörten die Warnung und duckten sich in den Schatten der Felswand. Jan behielt die Tür im Auge. Der Burgherr trat heraus und holte tief Luft. Sein Bruder Albrecht folgte ihm, und beide gingen mit schweren unsif cheren Schritten bis zu der Umfassungsmauer, hinter der ein steiler Abgrund gähnte. Dort unten im Tal lag Bernf hards Zollstation. Jeder Kauffahrerzug, der sie passieren wollte, wurde von seinen Gesellen aufgehalten, und wehe denen, die sich weigerten, den Zoll zu entrichten, oder bei denen die Beute zu niedrig ausfiel. Keiner, außer dem Burgvogt, wußte die Zahl derer anzugeben, die in den gräßlichen Kerkern der Burg verfault waren. Die drei Männer, die von ihrem Versteck aus den Burgf herrn und seinen Bruder beobachteten, konnten, obwohl der Sturm einzelne Wortfetzen wegriß, dem Gespräch folgen. Der Regensteiner zeigte nach unten. "Nicht ein Wagenf zug hat in den letzten Tagen die Station passiert." Albrecht klopfte ihm auf die Schulter. "Es gibt keine andere Straße, die die Kaufleute benutzen könnten. Die Beute kann dir also nicht entgehen." Nach einer Weile, Bernhard hatte keine Antwort gegeben, war wiederum Albrechts Stimme zu vernehmen. "Da wir gerade von Kaufleuten sprechen, hat Caspar Melchior schon die letzte Rechnung mit uns beglichen?" "Laß mich mit diesem alten Esel in Ruhe. Nach all dem,
was geschehen ist, werden wir uns einen anderen Mann suchen müssen, der unsere Waren umsetzt."
Hans Karst wäre beinahe aus seinem Versteck herausgef treten, um sich nur ja kein Wort entgehen zu lassen. Mit eisernem Griff wurde er von Jan zurückgehalten. Gespannt lauschte er weiter. "Wir haben uns lange nicht gesehen, Bruder", hörten sie Albrecht sagen, "wie war die Geschichte eigentlich? Mir hast du nur mitteilen lassen, daß sich der Quedlinburger Stadthauptmann in deinem Gewahrsam befindet." "Sicher erinnerst du dich an den Augsburger Kaufmann, dem wir alle seine Waren nahmen, weil seine Begleiter von den Waffen Gebrauch machten und einige unserer
Männer verletzten. Den Alten setzten wir hier oben gefanf gen und legten ein hohes Lösegeld fest. Die Waren gef langten auf dem üblichen Weg zu Melchior, der die Zeif chen des Herstellers auswechseln und dann die Stoffe verkaufen wollte. Bis dahin ging wie immer alles gut. Ich wartete indessen vergeblich auf das Lösegeld und ließ den Krämer in das untere Verlies werfen. Als der Sohn endlich kam, um ihn auszulösen, war es zu spät. Er begab sich von hier in die Stadt, um den Geschäftspartner seines Vaters aufzusuchen. In Melchiors Haus geschah dann das Unf glück, er entdeckte die Waren seines Vaters, die wir ihm abgenommen hatten. Statt den Knaben zu binden und heimlich hierherbringen zu lassen, ließ ihn Melchior, dieser Dummkopf, auf offener Straße erdolchen. Als in der Nacht der Stadthauptmann bei ihm anklopfte, um bei der Suche nach dem Mörder auch einen Blick in seine Lager zu werfen, verlor er völlig den Kopf. Er schickte mir einen Boten, behauptete, der Hauptmann habe Verdacht gegen ihn gefaßt und müsse rasch beseitigt werden, wenn nicht alles herauskommen sollte. Ich lockte den Hauptmann durch Reisige in den Forst bei der Altenburg, ließ ihn überfallen und hier auf die Burg bringen. Wenn er wirklich einen Verdacht hatte, hat er ihn niemandem mitgeteilt, denn Caspar Melchior ist bis zum heutigen Tage nichts geschehen. In der Stadt rechnet wohl keiner damit, daß der Hauptmann unser Gefangener ist, sonst hätte der Rat bestimmt versucht ihn auszulösen." "Ist er schon .?" "Noch nicht, morgen früh wird er in das untere Verlies gebracht." Der Burgherr zeigte keine Neigung, noch länger in Sturm und Kälte zu verweilen. Er stieß die Tür auf. Eine
Kanne flog ihm vor die Füße. Sie sprang einigemal schepf pernd auf, ehe sie liegen blieb. "Leer, alles leer", schrie eine heisere Stimme aus dem Saal. Die Tür fiel ins Schloß. Verlassen lag der Burghof wief der im trüben Mondlicht, nur der Sturm pfiff noch immer darüber hin. Die drei Männer in ihrem Versteck sahen einander an. Jeder wußte, was der andere dachte. Bertram sprach es aus. "Es sieht nicht so aus, als sollte das Gelage vor dem Morgengrauen ein Ende nehmen." Nicht vor dem Morgengrauen. Karst sah seine Hoffnunf gen schwinden. Nur im Schutz der Dunkelheit konnte er sich unter das Gefolge der Gäste mischen und die Burg verlassen. "Wir müssen noch warten", flüsterte Jan. Aber je weiter der Mond am Himmel wanderte, desto mehr sank auch seine Zuversicht. Endlich schlich er sich wieder zur Tür. Ganz nahe brachte er sein Gesicht an den Spalt. Bald kehrte er zu den anderen zurück. "Die meisten sind so betrunken, daß sie auf der Burg übernachten müssen. Bis die anderen aufbrechen, wird es so hell sein, daß jedes fremde Gesicht sofort auffällt. Wir müssen Euch verstekf ken, Hauptmann, viel Zeit bleibt uns nicht mehr." Bertram und Jan überlegten. In den Unterkünften, den Speichern und Ställen war ein ständiges Kommen und Gehen, dort war er nicht sicher. Mutlos blickten sie sich an. Sie hatten der Gefahr getrotzt und ihn aus dem Kerker befreit, sie hatten mit Geschick seine Flucht vorbereitet, und dennoch schien es kein Entrinnen für ihn zu geben. Auch Karst war sich der Gefahr, in der er schwebte, bef wußt. Fand der Burgvogt am Morgen sein Gefängnis leer, würden alle Reisigen und Knechte ihn suchen - und finf
den, mochte er sich verbergen, wo er wollte. Er stahl sich von den beiden Freunden fort. Langsam tastete er sich an den Felswänden entlang. Verzweifelt nach einer Fluchtf möglichkeit suchend, kam er schließlich zu der Umfasf sungsmauer, an der kurz vorher die beiden Regensteiner gestanden hatten. Sein Blick glitt an den schroffen Felsf wänden entlang, hinunter in den Abgrund. Er krallte seine Finger in die Steine der Mauer. Gab es denn wirklich keinen Ausweg? Er dachte sich um, und sein Blick fiel auf den großen Brunnen in der Mitte des Burghofs. Matt schimmerte die starke eiserne Kette. Ihr Anblick zog ihn an und weckte Erinnerungen. Er hockte an der Umfassung nieder. Was erzählte man sich doch im ganzen Harzgau? Während einer Belagerung habe der Regensteiner doch einen Weg gefunden, die Burg zu verlassen und Hilfe von seinem Bruder, dem Heimburger, zu holen. Mit der langen Brunnenkette hatte er sich im Schutz der Nacht hinunterf gelassen. Den Tod vor Augen, wagt ein Mensch viel, und der Hauptmann hatte noch einen weiteren Grund, der ihn drängte, in die Stadt zurückzukehren. Er wußte nun, welf che Rolle Melchior spielte, dieser Mann, der es ausgef zeichnet verstand, sich den Anschein eines guten Bürgers zu geben und mit den schlimmsten Feinden der Stadt und seines eigenen Standes paktierte. Karst stand auf und beugte sich noch einmal über die Umfassungsmauer. Warum sollte der Sohn eines Schmief des nicht ebensoviel Mut haben wie dieser Raubgraf? Er war entschlossen, den gefährlichen und jetzt einzigen Weg zum Verlassen der Burg zu benutzen. Würden die Freunde auf seinen Plan eingehen? Hastig weihte er sie ein. Trotz der Kalte stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Nun hing
alles von der Antwort dieser beiden Männer ab, die schon soviel für ihn gewagt hatten. "Wollt Ihr wirklich da hinunter?" fragte Jan ungläubig. "Mir bleibt kein anderer Weg", flüsterte Karst. "Bedenkt", wandte Bertram ein, "Ihr könnt kaum Euren rechten Arm gebrauchen, dabei müßt Ihr Euch an der Kette festhalten und so hinabgleiten lassen, daß Ihr Euch nicht an den Felsvorsprüngen verletzt. Sollen wir nicht doch versuchen, Euch zu verbergen?" "Wo?" fragte Karst zurück. "Glaubt ihr, es gäbe einen Winkel auf der Burg, in dem ich sicher wäre?" Die Männer schüttelten die Köpfe. Sie konnten sich aber auch nicht vorstellen, wie der Hauptmann mit seinem verletzten Arm den Abgrund bezwingen wollte. Dennoch, es war nicht mehr weit vor Tagesanbruch; wenn er den Abstieg über den Felsen versuchen wollte, mußten sie handeln. "Versuchen wir es", sagte Jan. Hans Karst fühlte Freude in sich aufsteigen, die Freiheit war nahe. Der Sturm hatte nachgelassen, dafür begann ein feiner Sprühregen zu fallen. Am Brunnen angekommen, begannen die Männer vorsichtig, die schwere Kette zu lösen. Karst wurde als Beobachter aufgestellt. Er bohrte seine Blicke in die Dunkelheit, ließ besonders die erf leuchteten Fenster und die Tür zum Festsaal nicht aus den Augen. Leise keuchend arbeiteten die beiden Freunde. Jedesmal, wenn die Glieder der Kette hart und klirrend gegeneinanderschlugen, fuhren sie zusammen. Plötzlich flackerte Licht auf, einer der Zechenden taumelte ins Freie. Die drei Männer sanken zusammen und blieben reglos. Der Trunkene schlug sein Wasser ab und kehrte zu dem Gelage zurück. Dann ließ sich niemand mehr sehen, und sie konnten ihr Werk unbeobachtet beenden. Als der
Mond für einen Augenblick sein Licht durch eine Wolf kenlücke goß, sah Karst, wie die Gesichter der beiden Freunde von Schweiß und Regen glänzten. Nunmehr mit der schweren Kette beladen, schlichen sie sich zu der Stelle der Umfassungsmauer, von der der Hauptmann seinen Abstieg beginnen sollte. Wahrend ihm Jan und Bertram das eine Ende der Kette um den Leib wanden, fühlte Karst eine fast unbezwinglif che Schwäche über sich kommen. Es waren die Folgen seiner Verletzungen, des Fiebers und des Aufenthalts in dem feuchten Kerker. Er wischte sich verstohlen über die Stirn, bemüht, seine Schwäche zu verbergen. Die beiden Männer hatten ihre Arbeit beendet. Sie drückten dem Hauptmann die Hände. "Paßt auf, daß Ihr Euch an den Felsvorsprüngen nicht verletzt. Löst, sobald Ihr unten seid, die Kette, damit wir sie schnell wieder heraufziehen können, und lauft, soweit es Eure Kräfte erf lauben. In der Nähe der Burg seid Ihr nie vor Regensteinf schen Spähern sicher. Nun macht Euch auf den Weg." Ein letzter Schlag auf die Schulter, und dann schwang sich Hans Karst auf die Mauer. "Habt Dank, ich ." "Jetzt ist nicht Zeit, von Dank zu sprechen, der Morgen wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, steigt endf lich hinunter." Während die beiden mit ihren harten, schwieligen Hänf den die Kette packten, schwang sich der Hauptmann über die Brüstung. Kurz unter der Mauer fand sein Fuß noch einen Halt, aber dann trat er ins Leere und schwebte über dem Abgrund. Er konnte hören, wie oben auf den Steinen der Mauer die Kette schabte, die nun Stück für Stück nachgelassen wurde. Der Mond war wieder hinter einer Wolke verschwunden, so konnten zwar die beiden dort
oben nicht so leicht gesehen werden, aber auch er konnte nichts sehen und prallte mehrmals schmerzhaft gegen Vorf sprünge und scharfe Felskanten. Vor seinen Augen beganf nen rote Kreise zu tanzen, in seinen Ohren summte es, als wäre er von einem Bienenschwarm umgeben. Schwebte er nicht schon eine Ewigkeit über dem Abgrund, der kein Ende nehmen wollte? Ein eisiger Schrecken überfiel ihn, reichte die Länge der Kette überhaupt? Niemand wußte genau, ob der Regensteiner wirklich mit Hilfe dieser Brunnenkette damals aus der belagerten Burg entkommen war. Ruckweise ging es weiter in die Tiefe. Noch immer verbarg sich der Mond hinter den Wolken. Karst hielt sich mit einem Arm an der Kette fest und versuchte sich mit dem anderen vom Felsen abzustoßen. Durch die Anstrenf gungen begann die Wunde am rechten Oberarm erneut zu schmerzen, bald wurden jeder Griff und jede Bewegung zur Qual. Fest biß er die Zähne zusammen, er brauchte beide Arme. Einmal spürte er Halt unter beiden Füßen und glaubte, er habe den Fuß des Berges erreicht. Wenige Augenblicke später bemerkte er seinen Irrtum. Er stand auf einem schmalen Sims, versuchte zu verschnaufen, aber schon wurde die Kette nachgelassen, er mußte weiter. Sicher warteten seine Freunde schon ungeduldig auf das Ende seines Abstieges. Endlich war es geschafft. Mit zitternden Fingern begann er die Kette von seinem Leibe zu lösen, Jan und Bertram zogen sie rasch nach oben. Karsts Blut pochte wild in den Schläfen, sein Atem keuchte, so lief er, um in ein nahes Waldstück zu gelangen. Dort riß ihn die Schwäche nieder. Er legte den Kopf an die harte Rinde einer Eiche. Jetzt schlafen können, dachte er. Tatsächlich konnte er seinen Weg nicht gleich fortsetzen, die bebenden Glieder zwangen ihn zu einer ausgedehnten
Rast. Als der Morgen grau heraufzog, durfte er jedoch nicht länger zögern, er mußte weiter. Nach einiger Zeit, Hans Karst hatte schon ein tüchtiges Stück Weg hinter sich gebracht, und es war inzwischen heller Tag geworden, trat er aus dem Wald heraus. Vor ihm breitete sich einer jener öden Flecken aus, den die Bauern mit ihren Weibern und Kindern verlassen hatten, um der unmenschliehen Knechtung durch die Regensteiner und ihre Vögte zu entgehen. Die Strohdächer der Katen waren eingefallen, die Zäune waren niedergetreten und die ehef maligen Gärten von Unkraut überwuchert. Karst dachte an die unglücklichen Menschen. Was mochten sie alles ertraf gen haben, ehe sie sich entschlossen hatten, ihre Wohnf stätten zu verlassen! An einer der Katen, sie war noch nicht ganz so verfallen wie die übrigen, mußte er dicht vorbei. Aus dem Inneren drang ein unterdrücktes Keuchen. Sollte sich in dieser Ödnis ein Mensch befinden? Ächzend drehte sich die Tür in den Angeln. Karsts Augen mußten sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Dumpf war die Luft und machte das Atmen schwer. Er gewahrte niemanden und wandte sich wieder zum Gehen. Da wurde er von einer schwachen Stimme angerufen, und er erblickte eine sehr alte Frau in verschlissenem Gewand. Sie erhob sich mühsam aus dem Winkel, in dem sie teilnahmslos gehockt hatte, ehe der Hauptmann eintrat. Verwirrt blickte Karst in das versteinerte Gesicht mit dem wirren Haar. Erfaßte sie überhaupt, daß ein Mensch hier war? Doch, langsam kam Leben in ihre Augen. Sie machte zwei zögernde Schritte auf ihn zu. "Was willst du, bringst du mir Brot?" fragte die Greisin mit fast tonloser Stimme.
"Nein, ich ." Karst wußte nicht, was er sagen sollte. "Hast du dich verirrt?" Er fühlte die alten runzligen Hände auf seinen Schultern. Endlich fand er die Sprache wieder. "Ja, ich habe mich verirrt, aber sagt mir, warum haust Ihr allein, warum seid Ihr nicht mit den anderen gegangen, und wovon ernährt Ihr Euch?" "Du fragst viel auf einmal, mein Sohn. Ich war zu alt, um mit den anderen in die Stadt zu ziehen. Reiße einen alten Baum aus und versuche ihn an anderer Stelle einzuf pflanzen, er schlägt keine Wurzeln, er stirbt. Auch ich werde bald sterben, vielleicht schon in der nächsten Nacht, aber es soll hier, in meiner Kate, geschehen." Sie räusperte sich, atmete rasselnd, offenbar fiel ihr das Sprechen schwer. "Nach meiner Nahrung fragst du. Hier wachsen Beeren, Wurzeln und Pilze. Manchmal stehlen sich ein paar Bauern hierher und bringen mir einen Laib Brot." Karst taumelte hinaus, er wußte nicht einmal, ob er die Greisin gegrüßt hatte. Noch nicht weit von dem verödeten Dorfe entfernt, glaubte Karst, wenn auch aus einiger Entfernung, Huff schlag zu vernehmen. Sofort preßte er sein Ohr an den Boden. Kein Zweifel, da näherte sich eine Schar Berittef ner. Vor Karst lag freies Gelände. Ehe er den nächsten Wald erreichen würde, hatten ihn die Reiter gewiß eingef holt, und es gab wohl kaum einen Zweifel, daß es Regenf steinsche Späher waren. Sie hatten seine Flucht also schon entdeckt. Karst entschloß sich, zu den verfallenen Katen zurückf zukehren, dort würde sich am ehesten ein Unterschlupf finden. Keuchend atmete er durch Mund und Nase, in seiner Brust fühlte er ein heftiges Stechen. Er stolperte
über einen Zaun, dessen Holz vermoderte, und schlug hin, raffte sich auf und lief weiter. Wieder stand er in der dämmrigen Hütte vor der Greisin. Das Hemd klebte an seinem Leibe. Der Hufschlag kam näher und näher. Karst blickte sich um, suchte ein geeigf netes Versteck. Er sah den verfallenen Herd, in einer Ecke das Lager der Alten, mit einigen Lumpen bedeckt. Endlich fiel sein Blick auf einen kleinen Verschlag. Rasch dort hinein. Verständnislos sah ihn die Greisin an, sie war nach seif nem Weggang wieder in ihre Stumpfheit versunken. Karst legte einen Finger auf den Mund und zeigte nach draußen. "Regensteinsche. Sagt ihnen nicht, daß ich hier bin. Es wäre mein Tod." Ungeduldig forschte er in den Augen der Alten, ob sie ihn verstanden hatte. Die Reiter waren sehr nahe, schon war das Klirren ihrer Waffen zu vernehmen. Die Alte nickte. "Gut, gut", sagte sie mit ihrer brüchigen Stimme. Hatte sie ihn wirklich verstanden? Das Versteck war so niedrig, daß er gerade darin hocken konnte. Die Luft war dumpf, er glaubte ersticken zu müsf sen. Gespannt lauschte er auf die Geräusche, die von drauf ßen kamen. Deutlich hörte er die Späher fluchen und schimpfen. Gleich würden sie in die Kate kommen und jeden Winkel durchschnüffeln. Konnte er ihnen überhaupt noch entgehen? Und wenn sie sein Versteck wirklich übersahen, würde sich die Alte nicht verraten? Durch einen Spalt beobachtete er, wie sich die Alte teilnahmslos auf ihrem Lager niederließ. Plötzlich ertönte eine barsche Stimme am Fenster. "Heda, kommt heraus, ehe wir Euch aufspießen." Karst zuckte zusammen, aber dann wurde ihm klar, daß die Späher ihn unmöglich gesehen haben konnten. Die Greisin rührte sich nicht. Die Tür wurde
aufgerissen, und schon polterten sie herein. Einer setzte der Frau die Spitze seiner Lanze auf die Brust. "Bist du allein hier, alte Hexe, hält sich keiner versteckt?" Ein anderer stieß die Waffe zur Seite. "Laß sie doch. Wahrf scheinlich ist sie taub und blöd und versteht überhaupt nichts." Der erste drang erneut auf die Alte ein. "Willst du wohl das Maul auftun?" Er schüttelte jetzt die Faust vor ihrem Gesicht, als wollte er sie schlagen. Zwei andere begannen sich in dem engen Raum umzusehen, stießen überall mit ihren Waffen an. In dem dämmrigen Licht sah Karst ein zernarbtes Gesicht vor dem Verschlag auftauf chen. Er wagte kaum zu atmen. "Wozu verlieren wir hier Zeit. Weiter!" In scharfem Befehlston wurden diese Worte gesprochen. Lärmend verließen die Männer die Hütte. Nur einen Augenblick noch mußte Karst warten, dann hörte er, wie sie auf ihren Pferden davonritten. Der Schreck war ihm gewaltig in die Glieder gefahren, doch endlich raffte er sich auf und taumelte aus dem Verf schlag. Vorsichtig aus dem Fenster blickend, konnte er die Richtung feststellen, in der sich die Reiter entfernten. Unverändert war das Antlitz der alten Frau. Sie hatte so viele Gewalttätigkeiten erlebt, daß sie nun, an der Schwelle des Todes, keine Furcht mehr empfand. So gern der Hauptmann auch noch ausgeruht hätte, er durfte keine Zeit verlieren. Er drückte die runzlige Hand der Alten. Erst jetzt tat sie den Mund auf. "Geh, sie könnf ten wiederkommen und dich suchen." Hans Karst bückte sich, als er durch die niedrige Tür trat. Draußen atmete er befreit die frische Luft ein. Den Schmerz, den seine Wunde verursachte, und die Schwäf che, die ihn immer wieder befiel, niederkämpfend, machte er sich auf den Weg.
Die Quedlinburger trauerten noch immer um ihren junf gen Stadthauptmann und einige seiner Freunde, die ihn auf dem letzten Ritt begleitet hatten. An mehreren Tagen nach dem Überfall hatten die Stadtreiter den Forst abgesucht. Sie hatten die Leichen der vermißten Männer der Stadtwaf che gefunden, nicht aber den Hauptmann. So blieben die Menschen auf Vermutungen angewiesen, denn nichts gab Auskunft über den Verbleib des Verschwundenen. Besonders hart hatte das Unglück Barbara getroffen, Barbara Ballersleve, die Tochter des Neustädter Bürgerf meisters. Hans Karst und sie waren von den Eltern, die eine lange und tiefe Freundschaft verband, fast schon als Brautleute angesehen worden. Seit jenen Tagen, da alle vergeblich auf die Rückkehr Karsts gewartet hatten, war Barbara still und in sich gekehrt. Heute sollte sie mit ihren Eltern die alten Karsts besuchen. Das Haus des Neustädter Bürgermeisters war ein stattlif cher Bau, der sich freilich nicht mit den hohen Patrizierf häusern, wie sie in der Altstadt standen, vergleichen konnte. Neben dem Wohnhaus führte ein großes breites Tor in den Wirtschaftshof mit den Stallungen. Die Einrichtung der großen Stube war schlicht, beinahe karg. Keine Tischdecke, kein Wandteppich oder kunstvoll gearbeitetes Gefäß verrieten Reichtum. Tilo Ballersleve war ein sparsamer Mann. Mehr als alle Güter, die die Händler drüben in der Altstadt anhäuften, galt ihm seine Freiheit. Zu einer Zeit, in der noch genug Bauern unter der Willkür des Adels stöhnten, wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, seine Wohnung mit unnützen teuren Gef genständen zu schmücken. Tilo Ballersleve trat, während die beiden Frauen in der
Stube noch ihre Gewänder ordneten, vor die Tür seines Hauses. Er war ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und kräftigen Gliedern. Endlich traten auch Frau und Tochter zu ihm hinaus. Sie gingen den Steinweg hinunter, überquerten die zwei Arme des Mühlgrabens und betraten schließlich durch das Bockstraßentor die Altstadt. Dort, wo die Bockstraße in die Breite Straße einmündete, gewahrten sie eine große Menschentraube. Tilo Ballersf leve war keineswegs neugierig, aber als Bürgermeister der Neustadt erschien es ihm notwendig, sich zu überzeugen, was diese Menschenansammlung verursachte, denn schon ließ sich lautes Stimmengewirr vernehmen. Ein seltsames Bild bot sich den Augen. Zwischen zwei Stadtbütteln, von denen jeder einen langen Spieß trug, schritt ein Mann mit weißen Haaren. Seine gebeugte Gestalt war in einen dunkf len Überwurf gehüllt. Die Umstehenden schwiegen oder stießen Rufe der Verwunderung aus. "Was, zum Teufel", rief ein junger Handwerkergesell, "soll der alte Bekhaus für ein Unrecht begangen haben, daß man ihn wie einen Verbrecher abführt?" - "Wahrhaftig", ließ sich eine andere Stimme vernehmen, "das ist eine Schande! Seit wann werden angesehene Bürger wie Räuber und Mörder behandelt?" Die Büttel stießen mit ihren Spießen die Menschen zuf rück, um sich eine Gasse zu bahnen. Martin Bekhaus ging zwischen ihnen, ohne auf die erregten Menschen zu achf ten. Hinter den dreien kam der Turmmeister. Er trug ein Pergament in den Händen. Seinem Gesicht sah man nur zu deutlich an, wie schwer ihm sein Amt an diesem Tag wurde. Auch Tilo Ballersleve war mehr als erstaunt, als er Martin Bekhaus, einen angesehenen Kaufmann, in der Gesellschaft des Turmmeisters und seiner Büttel erblickte.
Dieser Mann gehörte nicht zu den reichsten in der Altf stadt, aber er betrieb seine Geschäfte redlich und sprach mit Handwerkern und Bauern ohne falschen Stolz. Oft genug war er im Altstädter Rat für die Rechte der geringen Bürger eingetreten. Plötzlich ertönten Schimpfworte. Auf die abgerissenen Fetzen, die an sein Ohr drangen, achtend, bemerkte Ballersleve, daß sie keineswegs gegen Bekhaus gerichtet waren. Mehrmals hörte er den Namen "Caspar Melchior" und "alter Halsabschneider". Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. "Komm, Tilo, wir wollen diesen unwürdigen Aufzug nicht länger mit ansehen." Es war der alte Karst, den der Lärm aus seinem Hause gelockt und der nun den Freund hier gefunden hatte. "Was ist mit Martin Bekhaus?" entfuhr es Ballersleve. "Komm, ich erzähle es dir auf dem Weg." An der Ecke fanden sie Frau Katharina und ihre Tochter Barbara, die sich nicht bis in das Gewühl gewagt hatten. Noch bevor sie in Karsts Haus eintraten, erfuhr Tilo Balf lersleve, warum der Kaufmann in den Schuldturm gef bracht wurde. Martin Bekhaus Waren, in die er einen großen Teil seif nes Geldes gesteckt hatte, waren zweimal geraubt worden. Es war so gut wie sicher, daß der Raub auf die Regenf steiner kam. Bekhaus hatte sich in seiner Not, denn Waren und Geld blieben verloren, an Melchior gewandt, der ihm auch eine größere Summe Geldes lieh. Vor einigen Tagen nun hatte er Bekhaus verklagt, weil der weder den hohen Zins noch das Darlehen zurückzahlen konnte. Bekhaus hatte vergeblich Melchior beschworen, Geduld zu haben und ihm noch etwas Zeit zu lassen. "Kann er nicht zahlen, muß er in den Turm", hatte der unbarmherzige Gläubiger
verlangt. "Es ist schon der zweite, den Melchior in das Schuldgef fängnis bringen läßt", schloß Karst seinen Bericht, "er versteht es schon, diejenigen mundtot zu machen, die im Rat nicht nach seiner Pfeife tanzen wollen." Schweigend traten sie in das Haus des Schmiedemeisters ein.
Die erste Nacht, die Martin Bekhaus nach dem Willen seines Gläubigers im Schuldgefängnis verbringen mußte, war angebrochen. Auf dem Turm neben dem Altetopftor vertrieb sich der Wächter die Zeit damit, am nächtlichen Himmel einige Sternbilder zu entdecken. Kein Geräusch, nicht einmal ein leichter Wind, unterbrach die Stille. Plötzlich, der Wächter glaubte sich genarrt, ließ sich ein leiser Pfiff vernehmen. Beim zweitenmal wandte sich der Mann aber doch von den Sternbildern ab. Er blickte auf die Straße hinunter, sie war leer. Die Stadtwache pflegte sich ja auch nicht auf solche Weise bemerkbar zu machen, und außerdem hatte er keine Schritte gehört. Da ließ sich zum drittenmal ein Pfiff vernehmen. Erst jetzt wurde der Wächter hellwach. Das Geräusch kam von der anderen Seite. Er drehte sich um und erkannte ohne Mühe am Fuß der Stadtmauer eine Gestalt. Sie hob die Hand und winkte. "Werft mir eine Strickleiter herunter." "Wer seid Ihr?" fragte der Wächter ziemlich grob zuf rück. "Sprecht leise. Ich bin der Stadthauptmann." Der Mann auf dem Turm fuhr zurück. War das ein plumf per Schwindel? Mit unsicheren Schritten stieg er von der Plattform des Turmes hinunter, um vom untersten Fenster aus die Gestalt näher ins Auge zu fassen. Schon ein kurzer Blick genügte. Es gab keinen Zweifel, der Mann, der dort unten am Fuße der Stadtmauer stand, war Hans Karst, der totgeglaubte Stadthauptmann. Der Wächter stieg aufgeregt wieder auf die Plattform. Mit fahrigen Händen befestigte er die Strickleiter und warf sie hinunter. Ächzend erstieg der Hauptmann die schwankende Leiter. Oben fiel er dem Wächter für einen Augenblick in die Arme. Doch schnell hatte er sich wieder gefaßt. Mit letzter Anstrengung
schärfte er dem Mann ein, daß seine Rückkehr noch für einige Stunden unbekannt bleiben müsse, er würde bald genug die Gründe erfahren. Karst ließ sich auf keinerlei Fragen ein und stieg den Turm hinab. An der Tür holte ihn der Wächter ein. "Wenn Ihr unerkannt bleiben wollt, Hauptmann, nehmt meinen Umhang, Eure arg beschädigf ten Kleider dürften leicht die Aufmerksamkeit Neugieriger auf sich ziehen." Karst nickte kurz, nahm den Umhang und trat hinaus auf die Straße. Seltsam genug war ihm zumute, als er nun wieder das Pflaster der Stadt unter seinen Füßen spürte. Sich möglichst im Schatten der Häuserwände haltend, schritt er, so rasch er es nur vermochte, aus. Als er am Schuhhof vorbeikam und nach dem Rathaus hinüberf blickte, zuckte er zusammen. Der Tote war für einen Auf genblick vor ihm aufgetaucht, der in jener Nacht neben dem Portal gelegen hatte. Mit diesem Mord hatte alles angefangen, seine eigenen Leiden, die Entdeckung der schändlichen Rolle Melchiors und schließlich die abenf teuerliche Flucht, die ihn nun glücklich wieder in die Stadt zurückgeführt hatte. Bevor es wieder Abend wurde, mußf ten Melchior und seine Kumpane im Ratsgefängnis sitzen. Der Klopfer dröhnte, von ungeduldiger Hand bewegt, gegen die Tür. Der alte Karst, der das Fenster geöffnet hatte, glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Es dauerte eine Weile, ehe er begriff, daß dort unten wirklich sein Sohn stand. Im Hause wurde es lebendig, Stimmengewirr, Gepolter auf der Treppe, dann öffnete sich die Tür. Einen Augenblick standen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. "Hans", der alte Meister ergriff den Sohn bei den Schultern und zog ihn zu sich heran. "Vater." Mehr brachte Hans Karst nicht heraus.
Sie traten ins Haus. Im Flur stand die Mutter, schloß den Sohn fest in die Arme. "Laßt uns nach oben gehen", die Stimme des Meisters klang heiser vor Erregung. Oben stand Tilo Ballersleve und drückte dem Hauptmann die Hände. Wie durch einen Nebel gewahrte Hans, den nun endgültig seine Kräfte zu verlassen drohten, auch Frau Katharina und Barbara Er sank auf einen Stuhl, berichtete, nachdem er sich mit einem Trunk erfrischt, alles Wesentliche. Hartnäckig drängte er den Vater und Ballersleve, sofort zur Stadtwaf che zu gehen und Melchior festnehmen zu lassen. Der alte Karst schüttelte den Kopf. Er werde am frühen Morgen zusammen mit Tilo Ballersleve den Bürgermeister der Altstadt aufsuchen. Hans bezwang mit Mühe seine Ungeduld und willigte ein. Auch forderte die Natur nun ihr Recht, er konnte gerade noch seine Kleider abwerfen, dann fiel er in seiner Kammer auf das Lager und schlief sofort ein. Zu früher Morgenstunde wurden dem Bürgermeister der Altstadt, dem Kaufmann Langhans, zwei Besucher gemelf det. Schon kurze Zeit nachdem Tilo Ballersleve und der alte Karst bei ihm eingetreten waren, vernahmen die Hausgenossen die erregten Stimmen der drei Männer. Der Bürgermeister, eng mit Melchior befreundet, wies die Anklagen kurzerhand zurück. "Und ich sage Euch noch einmal, daß ich nicht daran denke, Caspar Melchior durch die Büttel aus seinem Hause führen zu lassen. Durch nichts könnt Ihr Eure Klagen beweisen. Wir werden Euren Sohn, den Stadthauptmann, in einer geheimen Ratssitzung vernehmen." Die letzten Worte richtete er an Meister Karst, dessen Gesicht sich dunkelrot färbte. "Lehnt Ihr es ab, Caspar Melchior sofort ins Gefängnis
zu werfen und sein Haus zu durchsuchen", entgegnete er mit heiserer, vor Erregung bebender Stimme, "dann gehe ich auf den Markt, um dort die Schande Eures Standes auszurufen. Mögen die Bürger entscheiden, ob sie noch länger einen Verbrecher unter sich dulden wollen." Der Schmiedemeister riß die Tür auf. "Bleibt", schrie ihm Langhans nach, "mag die Frau Äbf tissin, als unsere Landesherrin, die Angelegenheit untersuf chen und entscheiden, was mit einem so angesehenen Bürger geschehen soll." Er hatte begriffen, daß die Worte des Alten keine leere Drohung waren. Auch Tilo Ballersleve, der versuchte ruhig zu bleiben, hielt Karst zurück. "Was geschehen soll, braucht Jutta von Kranichfeld nicht zu entscheiden, Recht soll und wird geschehen", sagte er zu Langhans. Der Kaufherr gab sich jedoch noch nicht geschlagen. Er wußte recht gut, welcher Schlag dem Patriziat versetzt wurde, wenn man einen seiner angesehensten Vertreter eines solchen Verbrechens überführte. "Caspar Melchior ist ein alter Mann", begann er wieder auf Karst und Balf lersleve einzureden, "er kann nicht entfliehen. Überlaßt die Untersuchung der Landesherrin, über Eure ungeheuren Anklagen kann der Rat der Stadt nicht entscheiden." Auf diese Weise hoffte er Zeit zu gewinnen. Schließlich würde es Jutta von Kranichfeld nicht zulassen, daß der Stand der Kaufherren, ihre einzige Stütze in der Stadt, in Verruf geriet. "Bedenkt doch", versuchte ihn Ballersleve zu überzeuf gen, "Melchior könnte alle Spuren seiner Verbrechen aus der Welt schaffen, wenn wir ihm die Zeit dazu lassen." "Meint Ihr nicht, daß er das längst getan haben könnte?" Langhans brachte es sogar fertig, spöttisch zu lächeln.
Während sich die drei Männer im Hause des Altstädter Bürgermeisters stritten, was geschehen sollte, war Hans Karst erwacht. "Ist Vater schon lange fort?" fragte er seine Mutter. Als er hörte, die beiden seien schon vor geraumer Zeit zu Langhans gegangen, wurde er unruhig, er ahnte nichts Gutes. Sollte es etwa so sein, daß ihm die Herren vom Altstädter Rat keinen Glauben schenkten? Eilig kleidete sich Hans Karst an und sagte zu seiner Mutter: "Ich gehe Vater und Ballersleve entgegen, ich muß erf fahren, was sie erreicht haben." Mit schnellen Schritten ging er ein paar Häuser weiter, trat schließlich in die Werkstatt des Gerbermeisters Jakob ein, der Rottenmeister in diesem Stadtviertel war. Aus den herumstehenden Bottichen schlug dem Eintretenden ein scharfer Geruch entgegen. Der Meister und seine Gesellen waren zwischen den aufsteigenden Dämpfen kaum zu erblicken. Einer der Gesellen schrie auf, die Haut, die er hielt, entglitt seinen Fingern und fiel klatschend in einen Bottich. Schon wollte der Meister schimpfen, da wurde auch er den Stadthauptmann gewahr. Ganz dicht trat er an ihn heran. "Ist das möglich, Hauptmann Karst?" "Ich bin es, Meister Jakob, aber um des Himmels willen, fragt jetzt nicht. Nehmt zwei Eurer Gesellen, werft Eure Schürzen ab und folgt mir." Sie fanden die Tür zu Caspar Melchiors Haus nur angef lehnt. "Kommt!" befahl Hans Karst seinen Begleitern und trat ein. Die drei Männer folgten ihm zögernd, was mochte dem Hauptmann begegnet sein, war er etwa närrisch gef worden? Die Stiege war so finster, daß sie sich an der Wand entf langtasten mußten. Aus dem oberen Stockwerk hörten sie lautes Schelten. Deutlich war die keifende Stimme des
alten Melchior herauszuhören. Beim Klang dieser verf haßten Stimme wurde dem Hauptmann siedend heiß. Mit eigenen Händen würde er den Schurken packen und ins Gefängnis schleifen. Oben angekommen, hörten sie, wie Melchior kreischte. "Überzeugt Euch, nichts werdet Ihr in meinem Hause finden, was diese ungeheuerlichen Anklagen bestätigt. Bitte, durchsucht mein Haus und meine Lager von oben bis unten, damit der niederträchtige Verleumder Lügen gestraft werde." Krachend flog die Tür auf. Mit vor Zorn gerötetem Gef sicht stand der Hauptmann vor Melchior, und obwohl der von seinen Besuchern schon wußte, daß der Hauptmann zurückgekehrt war, wich er vor ihm zurück wie vor einem Gespenst. "Das glaube ich wohl, Caspar Melchior, daß du keine geraubten Waren mehr in deinen Lagern hast. Aber das Geld für ihren Erlös hast du doch in deinen Truhen, oder nicht?" Wütend ging der Hauptmann auf eine Truhe zu, rüttelte daran, versuchte vergeblich den Deckel aufzuf sprengen und stieß sie schließlich zurück. Dann lief er zu einem Pult, auf dem einige Pergamente lagen. Er verf suchte das Fach aufzuziehen, es gelang nicht. Da riß er den Dolch aus dem Gürtel, steckte ihn in den Spalt, und schon splitterte das Holz. Karst griff in die Öffnung und warf auf den Fußboden, was ihm unter die Finger kam. Warenverzeichnisse, Schuldscheine und Rechnungen flatterten im Raum umher. Die Bürgermeister Langhans und Ballersleve, der alte Karst, Meister Jakob und seine Gesellen standen wie erstarrt. Nur Melchior brachte mühf sam heraus: "Er ist verrückt, werft ihn aus meinem Haus, er ist verrückt."
Plötzlich wurde der Hauptmann ruhig. Triumphierend hielt er Melchior die Faust dicht vor das Gesicht und öffnete sie. Auf der Handfläche lagen Leinenfetzen und Siegel von der Art, wie man sie auf die Waren zu drücken pflegte. "Siehst du, herausgeschnittene Warenzeichen. Aus Geiz hast du nicht einmal die Hüllen verbrannt, nur die verräterischen Zeichen wurden entfernt. Und hier, falsche Siegel, die den Waren aufgedrückt wurden. Einer sah den Raub, bevor die Spuren verwischt werden konnten, und den ließest du ermorden, elender Schuft." Hans Karst schlug sich mit der anderen Hand gegen die Brust. "Und mir hattest du das gleiche Schicksal zugedacht." Ehe sich noch einer der anderen aus seiner Erstarrung lösen konnte, lief Melchior zum Fenster, stieß es auf und stürzte sich kopfüber hinunter. Der Hauptmann ließ langf sam die Hände sinken. Tilo Ballersleve trat an das Fenster, erblickte unten den leblosen verkrümmten Körper Melf chiors, der sich seinen Richtern entzogen hatte. Im selben Augenblick sah er zwei Knechte des Kaufherrn aus dem Haus auf die Straße hasten. Ohne sich um den Toten zu kümmern, liefen sie davon. Spießgesellen, durchfuhr es Ballersleve. "Haltet sie! Halt, Stadtwache!" schrie er aus Leibeskräften hinunter. Die beiden kamen nicht weit, sie wurden überwältigt und unter der Aufsicht des Hauptf manns in den "Schreckendüvel" gebracht. Als Hans Karst von dort zurücckehrte und in das elterlif che Haus eintreten wollte, erblickte er ein wohlbekanntes Gesicht, und dann fühlte er zwei warme Mädchenhände in den seinen. Jetzt erst konnte er Barbara richtig begrüßen. Als man später Melchiors Haus genauer durchsuchte, fanden sich Aufstellungen über die geraubten Waren, die er von den Regensteinern zum Weiterverkauf erhalten
hatte. Auch die beiden Knechte gestanden ihre Verbref chen. Der eine von ihnen, Conrad, hatte in Melchiors Auftrag den jungen Kaufmann ermordet. Noch lange beschäftigten sich die Bürger mit dem Vorf gefallenen. Sie wußten, die Verbrechen waren nicht restlos gesühnt. Wer konnte wissen, welche dunklen Pläne die Regensteiner auf ihren Burgen ausheckten, und sicher war auch Jutta von Kranichfeld erzürnt, hatte sie doch mit Melchior ihren einflußreichsten und eifrigsten Fürsprecher in der Stadt verloren. Viele warfen, ehe sie sich am Abend zur Ruhe legten, noch einen Blick auf die trotzigen Mauf ertürme. Man ruhte besser mit den Gedanken an feste Mauern und Türme und solche Männer wie den Stadtf hauptmann.
Heft 232 Heinz Heydecke Die letzte Haifischjagd
Rosita hält die Reling fest umkrallt, ihre Zähne sind hart aufeinandergepreßt. - Pedro, mein lieber Pedro - heilige Mutter Gottes, beschütze ihn. - Benito und Pedro ziehen ihre langen Hosen aus und sehen sich noch einmal um. "Sei vorsichtig, Benito, tauch lieber einmal mehr weg. Und dicht zusammenbleiben." Benito nickt. Dann hechten sie ins Wasser und schwimmen dem Hai entgegen. Grausam und gefahrvoll ist der Kampf gegen El Tiburon, den Hai. Pedro und Benito sind nur mit der Maf chete bewaffnet, alles hängt von ihrer Kraft und ihrer Schnelligkeit ab. Es ist ein Spiel um Leben und Tod, und sie wissen nicht, wie es ausgehen wird.