Saul Dunn
Stahlauge Die Elasto-Welt
scanned by dawn corrected by Yfffi
In einem "packendes Abenteuer in Raum und Zeit...
63 downloads
544 Views
595KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Saul Dunn
Stahlauge Die Elasto-Welt
scanned by dawn corrected by Yfffi
In einem "packendes Abenteuer in Raum und Zeit", schlagen sich zwei 'edle' Menschen mit 'edlen' Gesichtern und 60000 'edlen' Androiden mit der Bevölkerung von 40 Millionen Planeten herum, alles sadistische Sylvaner und gewinnen natürlich! Genereller Tenor: Ein grottenschlechtes Buch ISBN 3-404-23002-7 Originaltitel: THE COMING OF STEELEYE Ins Deutsche übertragen von Jörg Fricke Deutsche Lizenzausgabe 1981 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Titelillustration: Alan Craddock
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
TEIL EINS Die Flaute I Tarash beugte sich über die Kraftfeldhauben der Vegetatoren. Sein Rücken schmerzte. Eintausendfünfzig, eintausendeinundfünfzig, eintausendzweiundfünfzig, eintausend... er hob den mißgestalteten Kopf. Stumpfsinnig und leer blickte er auf die endlos langen, flachen Reihen, die sich vor ihm erstreckten. Tausende und Abertausende, soweit das Auge reichte. Und alle bargen die gleiche sorgfältig kultivierte Nahrung. Sie war für die Mägen der Sylvaner bestimmt, den Herrschern des Komplexes. Auf Tarashs Gesicht spiegelte sich unendliche Erschöpfung. Mit einer Hand bediente er den Fruchtbarkeitstester, mit der anderen hielt er sich den schmerzenden Rücken. Überall offenes Land, grausame Kälte, totale Einsamkeit. Eintausendzweiundsechzig, eintausendreiundsechzig, eintausend... ein Geräusch! Eintausendfünfundsechzig, eintausendsechs... wieder das gleiche Geräusch, ein Schritt. Eintausendsiebenundsechzig, ein... schon wieder ein Schritt, das Schleifen eines Fußes auf dem Boden. Was war das? Eintausendneunundsechzig... Tarash hob mühsam den Kopf, runzelte die Stirn. Sein Körper verformte sich leicht, die Molekühle verschoben sich in nervöser Anspannung und Angst. Seine Gestalt war verzerrt. Er richtete sich auf, soweit seine Gestalt das zuließ, und blickte suchend umher. In der grauen Dunkelheit konnte er nicht weit sehen. Er kniff die Augen zusammen, versuchte, die Wand aus Lichtlosigkeit um ihn -2-
herum zu durchdringen. Die Nebel von Cathandramis sanken von den Bergen herab. Bald würde er seine Arbeit beendet haben. Er würde in seine öde, verlassene Unterkunft zurückkehren und schlafen. Und nach dem Schlaf würde er aufstehen und zur Arbeit gehen. Morgen und übermorgen und so fort, bis er eines Tages während seiner Arbeit einfach umfallen und sterben würde. Er konnte nichts sehen. Aber seine uralten Instinkte warnten ihn, daß Gefahr in der Luft lag. Aber es war nichts zu sehen. Eintausendsiebzig, eint ausendeinundsiebzig... »Tarash!« Urplötzlich stand die Welt still für Tarash. Er ließ den Tester fallen und straffte den Rücken. Sein Körper veränderte sich wie wild. Die gewohnten Molekularverschiebungen verdrehten seinen Körper, brachten ihn völlig aus der Form. Seine sonst so langsamen Gedanken rasten. Vor ihm tauchte aus dem Nebel eine bewegungslose Gestalt auf. Es war ein Geschöpf von riesenhafter Größe, mehr als vier Meter groß. Breitschultrig, mit starken Armen und kraftvollen, muskulösen Beinen, stand es wie aus Erz gegossen fest auf dem nebelverhüllten Boden. »Tarash!« Nur der Tod selbst konnte so rufen. Wie ein Roboter auf einem Luftkissen bewegte sich die Gestalt immer weiter auf den armen Tarash zu, den Blick starr auf ihn gerichtet, die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt. Sein muskulöser Körper wurde von einem schwarzroten Tuch verhüllt, das in der Taille durch einen Gürtel zusammengehalten wurde. Groß und edel der Kopf, von kühnem Adlerschwung die Nase, voll und rot die Lippen. Und neben einem gewöhnlichen, lebenden Auge blitzte silbern und bedrohlich ein schreckliches stählernes Auge. Tarashs Körper verformte sich fast bis zum Zerfließen, löste sich nahezu auf angesichts des Ungeheuers, das da auf ihn -3-
zukam, das gekommen war, daran gab es keinen Zweifel, ihn zu töten, sein Leben für immer zu beenden. »Fürchte dich nicht, Tarash, ich bin nicht gekommen, um dich zu töten, sondern nur um deine Gestalt zu borgen.« »Wer bist...?« »Das geht dich nichts an, Tarash. Du wirst wieder leben. Ich bedarf deiner nur für kurze Zeit. Fürchte dich nicht.« Tarash ergriff den Tester und schleuderte ihn mit einem wilden Aufbäumen seiner letzten Kraftreserven dem Eindringling entgegen. Das Stahlauge glühte rot auf. Der Stahl, eben noch silbern, erglühte in schrecklich roter Glut. Die Hitze ließ den Tester zu Nichts verdampfen. Tarash wich vor der Hitze zurück und strebte den Vegetatoren zu. Verzweifelt klammerte er sich an das Leben, versuchte zu fliehen, doch seine Versuche waren hoffnungslos. Er rannte um sein Leben, ohne die Solarzellen zu beachten, die unter seinen Füßen zerbrachen. Aber er kam nur ein paar Meter weit, und als er sich umwandte, war das große Geschöpf hinter ihm, streckte die Arme nach ihm aus und hob ihn hoch empor. Tarash verlor das Bewußtsein.
II Solange man in der Föderation niemandem zu nahe trat, wurde man in Ruhe gelassen. Die Föderation der Universalen Mächte, oder FUM, gestattete es jedem, nach Belieben zwischen den Planeten hin und herzureisen. Solange man sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte und keinen Ärger machte, war das Leben nicht schlecht. Der Tourismus war mehr als ein Industriezweig, vor allem im zentralen Verwaltungskomplex. Es war eine Art zu leben. Von den vierzig Millionen bewohnten Planeten des Reiches war der -4-
beliebteste jedoch der Komplex Sylva, der im Zentrum des sylvanischen Reiches lag, oder der Föderation, oder FUM, wie immer man das nennen wollte. Man konnte den »Reisesturz« benutzen, oder man konnte ›auf einer sylvanischen Galleone durch das All gleiten‹ - und sie sah tatsächlich wie eine Galleone aus, bewegte sich aber mit Lichtgeschwindigkeit. Wenn die Entfernungen aber wirklich groß waren, konnte man auch teleportieren. Tarash, das heißt, der wirkliche Tarash, hätte ohne Zweifel den langsamsten Weg gewählt. Vier Monate hätte die Reise von Cathandramis zum Komplex auf diese Weise gedauert. Aber sie war sicher. Aber der wirkliche Tarash war jetzt nicht hier. Der Mann, der jetzt Tarash war, zog es vor zu teleportieren, die gefährlichste Art, den Raum zu durchqueren, aber auch die schnellste. Ein Viertellichtjahr in drei Sekunden, die gleiche Zeit, die nötig war, einen lebenden Körper aufzulösen und wieder herzustellen. Der bekannteste Werbespruch von »Reisesturz« hatte durchaus Recht: »Wenn der Reiseführer ihnen sagt, daß sie bei Teleport eine Chance von zwölf Prozent haben, ihr Ziel niemals zu erreichen - würden sie dann fliegen? Fliegen Sie mit Reisesturz, dem sicheren Weg durchs All.« Aber dieser Tarash hatte es eilig. Humpelnd schlurfte der alte Farmer auf den Sicherheitsschalter zu, den mißgestalteten Kopf gebeugt von der langen Fron auf dem Agrarplaneten Cathandramis, der die Sylvaner mit Nahrung versorgte. Es hatte vieles dafür gesprochen, gerade Tarash auszuwählen. Sein Durchschnittsaussehen und seine Allerweltsgestalt paßten genau in die Pläne des Menschenmannes. Und es war problemlos gewesen, die Gestalt des Sylvaners anzunehmen. Der arme Tarash würde es in dem Kraftfeld, in das ihn Stahlauge gesperrt hatte, ganz gut ein paar Wochen aushalten. »Teleport nach Sylva Sechs bitte zum Tor 987.« -5-
Das betraf ihn. Sylva Sechs war das Eingangstor zum Komplex Sylva. »ID?« Die guterhaltene und kaum gebrauchte Identitätsscheibe wechselte den Besitzer. »Name?« »Tarash.« »Beruf?« »Landwirtschaftstechniker.« »Zweck?« »Häh?« »Zweck, Zweck des Besuchs!« Der Posten machte ein mürrisches Gesicht. Jedes überflüssige Wort ärgerte ihn. »Urlaub.« »Hmph, schöner Urlaub, den Du auf Anchor haben wirst.« Keine Antwort. »Ich schätze, du willst doch nach Anchor?« »Ja.« »Da wollen alle von hier aus hin. Sylva Sechs, und dann Anchor. Du verschwendest deine Zeit, Junge, da gibt’s überhaupt nichs zu sehen.« Stille. »Na gut, geh in die Kammer.« Fast wie ein Todesurteil, aber nun war es bereits zu spät. Er war durch beide Kontrollen geschlüpft, durch die, die der Wachtposten durchführte, und durch die andere, unsichtbare. Der Wachtposten war kein Problem gewesen, der Rest war lautlos verlaufen: Körperwellenkontrollen, Gehirnkontrollen, ID-Überprüfung, Zellmuster - alles mußte genau stimmen. Während der Sekunden, die Tarash oder der Mensch, der jetzt Tarash war, die Überprüfung durchlief, mußte er den genau duplizieren. Keine leichte Aufgabe für Tarash, schon gar nicht -6-
für einen Menschen. Aber offensichtlich war er durchgekommen. Alles hatte sich völlig geräuschlos vollzogen, ohne jedes Gemurmel oder auch nur das leiseste Surren. Aber wenn man nicht akzeptiert wurde, bekam man das schon mit. Die »Arrestrutschen« waren schnell und lautlos. Das einzige Geräusch, das man hörte, war die eigene Stimme, während man verschwand, vielleicht für immer. Nur ein Schrei, der jäh abgeschnitten wurde, wenn die Rutsche sich schloß... fest schloß. Der neue Tarash wollte gerade seinen Platz in der Teleporterkammer einnehmen, als er ein paar Meter weiter rechts Kampfgeräusche hörte. Er drehte sich um. Das Geschöpf, das er dort um sein Leben kämpfen sah, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den anderen Besuchern des Bahnhofs. Es handelte sich um einen Farmish. An seinem Riesenkörper schleppte er ein enormes Gewicht an Fett und Muskeln mit sich herum. Er war ungefähr dreimal so groß wie der Durchschnittsylvaner. Zwar herrschte auf Sylva Sechs eine etwas höhere Gravitation, als er gewohnt war, aber das schien ihn nicht sehr zu behindern. Wie ein gewaltiger Mähdrescher bahnte er sich seinen Weg durch die dichtgeschlossen Reihen der Wachtposten, die er links und rechts von sich in die Luft schleuderte. Der Grund für diesen Aufruhr war unklar. Aber das dadurch entstandene Durcheinander gab Tarash den Weg zur Teleportkammer frei, vorbei an den Posten der Schlußkontrolle, die bestrebt waren, ihren bedrängten Kameraden zu Hilfe zu eilen. Der Farmish drehte seinen großen Kopf zur Seite und bemerkte einen Posten, der gerade seine Waffe auf ihn anlegte; er holte aus und schleuderte den hilflosen Sylvaner in die Arme seiner fünf Kameraden, die die vergebliche Hoffnung genährt hatten, das Ungeheuer zum Stillstand zu bringen. -7-
Der Riese mußte irgendeinen Grund für sein Verhalten haben. Tarash blieb stehen. Der Farmish packte zwei Posten und hielt sie am ausgestreckten Arm hoch. Seine Stimme dröhnte über den Platz: »Ich werde diese beiden Wachen und viele andere mit bloßen Händen umbringen, wenn ihr Trok nicht holt. Holt mir Trok hierher, ich will sofort mit ihm sprechen.« Seine tiefe Stimme hallte donnernd über den Flugplatz. Ein Wächter sprach in ein Videotelephon. »Ich will mit Trok sprechen. Wo ist er?« »Er kommt sofort, er wird gleich hier sein. Laß doch die Wachen in Ruhe.« Der Farmish blieb stehen und ließ ohne ein Zeiche n der Anstrengung die Wachen weiter in der Luft baumeln. Bewegungslos, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wartete er ab, bis ein Gedränge vor der Eingangshalle eine Gruppe sehr offiziell aussehender Wachen ankündigte. An ihrer Spitze der Träger eines Abzeichens, das ihn als Führer der Sicherheitskräfte auswies. Das mußte Trok sein. Er war breitschultrig, wirkte sehr massiv, und lange Jahre des Trainings und des Kampfes hatten jeden Zoll seines starken Körpers mit Muskeln aus Stahl bedeckt. Es gab ein Gerücht, daß er jeden Tag gegen fünf sylvanische Sicherheitskräfte kämpfte, die speziell wegen ihrer Stärke und Körpergröße zu diesem Zweck ausgesucht wurden. Sie trugen eine Rüstung aus Leder und Metall, zum Schutz gegen Troks ungehemmte Schläge. Es kam häufig vor, daß er seine Gegner, ohne es zu wollen, tötete, daß er ihre Köpfe mit seinen furchtbaren Schlägen zerschmetterte. Er hatte schwarzes Haar, das er mit Hilfe von Fett eng an den Kopf zu zwingen pflegte. Sein kantiges Gesicht schien eigene Muskeln zu besitzen, die aussahen, als würden sie jeden Augenblick hervorschnellen und den Betrachter erschlagen. Sein Hals war kurz - manchmal schien es, als habe er überhaupt keinen Hals - und seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der -8-
Körperverformung waren nicht gerade berühmt. Manche sagten, er sei überhaupt kein Sylvaner. Er sah jedenfalls nicht wie einer aus, und er hielt seinen Körper gerade, ohne die typischen seltsamen Wellenbewegungen der meisten Sylvaner. Als Leiter der Sylvanischen Sicherheitskräfte war er insoweit unüberwindlich und allseits gefürchtet, allerdings offensichtlich nicht von dem Farmish. »Da kommt der große Trok.« Das riesige Geschöpf hob die zwei Wächter in die Luft und schmetterte ihre Schädel gegeneinander. Er warf die leblosen Körper zur Seite und schritt auf Trok zu, der unbeweglich stehenblieb, wie in der Erde verwurzelt. »Du... was habe ich mich danach gesehnt, dich auf diese Weise zu treffen, Trok, so lange habe ich mich danach gesehnt.« Mit der seltsamen mittelalterlichen Sprache, wie sie nur bei den Farmish üblich ist, kam das große Ungeheuer näher. »Was immer du mir zu sagen hast, Farmish, sag es und damit Schluß. Ich habe keine Zeit für dramatische Gesten.« Trok sprach ruhig, aber seine Stimme trug einen gefährlichen Unterton. Jedes seiner Worte warnte jeden, der seinen Weg kreuzen wollte, daß es besser sei, sich die Sache zweimal zu überlegen. »Ich bin hier, um dich zu töten und deinen Kopf zum Planeten der Farmishe zurückzubringen, wo ich ihn auf einen Pfahl stecken werde. Und ich werde diesen Pfahl auf das Grab meiner Familie pflanzen, die du kaltblütig abgeschlachtet hast, Trok. Du hast sie getötet, sie und Hunderte von anderen.« »Die Farmishe vergingen sich gegen das Gesetz. Ich habe ihnen bloß eine Lektion erteilt. Wenn deine Familie unter denen war, die starben, dann war es Pech, daß du nicht dabei warst.« Trok spie vor dem Riesen aus. Der Farmish war mindestens doppelt so groß wie Trok. Voller Wut und Schmerz blickte er mit verzerrtem Gesicht auf diese -9-
Mücke vor sich herunter. Aber in dem Kampf, der jetzt folgen sollte, hatte er keine Chance. Troks kämpferische Fähigkeiten waren selbst im unbewaffneten Kampf Mann gegen Mann offensichtlich. Der Farmish stürzte sich auf den Leiter der Sicherheitskräfte, holte zu einem gewaltigen Schlag auf Troks Kopf aus. Doch der Schlag ging leer. Trok ergriff das dicke Handgelenk seines Gegners und nutzte dessen Schwung aus, ihn an sich vorbeizuschleudern. Als der Riese an ihm vorbeischoß, ließ Trok eine Serie von fünf oder sechs harten Schlägen auf seinen Hals niederprasseln. Wie von einem Insekt gestochen, hielt sich der Farmish den Hals und ging wieder auf Trok los. »Du kannst versuchen, mich zu töten, Farmish. Aber ich werde keine Gnade zeigen, wenn du den Kampf verlierst.« »Und ich werde dir den Tod zeigen, Trok.« Der vier Meter große Riese packte Trok ohne Vorwarnung mit beiden Händen an den Schultern und hob ihn empor: Aber Trok ließ ihn nicht weiter kommen. Sein kraftvoller Körper schnellte nach vorn. Seine beiden Absätze stießen seinem Widersacher ins Gesicht. Ohne zu zögern, ließ Trok einen entsetzlichen Schlag beider Fäuste wie ein Axthieb auf die Schläfe des Farmish herniedergehen. Dann sprang er in die Luft. Sein muskulöses Bein schnellte nach vorn. Dieser Schlag wäre für jeden Sylvaner absolut tödlich gewesen. Seine Kraft reichte aus, seinem Gegner den Kehlkopf in die Halswirbel zu stoßen. Der Farmish röchelte. Aber er starb nicht, ging nicht einmal in die Knie. Statt dessen bekam er Troks Arm zu fassen, den er kräftig herumdrehte. Trok heulte auf vor Schmerz und wich zurück. Die gigantische Kraft des Farmish hatte ihm einen Schock versetzt. Er beschloß, keine Zeit mehr mit Spielereien zu verlieren. Er zog ein vierschneidiges Messer aus dem Gürtel und schleuderte es gegen den Kopf des Farmish. Der Farmish hob seine Hand genau im richtigen Augenblick, aber sie wurde ihm glatt vom Handgelenk getrennt. Er hatte zwar eine Hand -10-
verloren, aber für den Augenblick jedenfalls sein Leben gerettet. Er packte den blutenden Armsrumpf und begann, rasend vor Schmerz im Umkreis umherzutorkeln, alles und jeden niedertrampelnd. Während er seinen blutenden Arm drohend gegen Trok reckte, mußte er mindestens ein Dutzend sylvanischer Zuschauer des Schauspiels getötet haben. Lange konnte das nicht mehr dauern. Noch während Tarash zusah, zog einer der Wächter seinen Blaster und erledigte den tobenden Farmish mit einem Schuß in die Brust. Noch einmal wirbelte das Ungeheuer herum. In seiner mächtigen Brust klaffte ein großes, rauchendes Loch. Dann stürzte er inmitten fliehender Sylvaner krachend zu Boden. Diese dramatische Szene war nur ein Beispiel für die schrecklichen Greueltaten, deren Trok sich schuldig gemacht hatte. Der Körper des Farmish wurde zu einer Arrestrutsche geschoben, und die Sylvaner gafften ihm nach, als er in den unbekannten Tiefen verschwand. Tarash drehte sich um und betrat die Teleportkammer. Doch dieser Tarash war nicht Tarash, war nicht der gewöhnliche Landarbeiter von irgendeinem Planeten des Sylvanischen Universums. Dies war nicht der schlurfende, gebückte Bauer, der sich im Dienste seiner sylvanischen Herren die Seele aus dem Leib rackerte. Dies war Stahlauge. Der einzige und einzigartige Stahlauge, und er machte niemals halbe Sachen. Während der wenigen Testsekunden hatte er Tarash exakt kopiert, perfekt und ohne jeden Makel, ohne irgendein Merkmal, das man dem alten geschundenen Körper nicht zugetraut hätte, ohne jeden Gedanken, der nicht zu dem schwachsinnigen Hirn gepaßt hätte. Die Türen der Kammer schlossen sich mit sanftem Zischen, und der Wachtposten schaltete den Partikulator ein. Stahlauge dankte dem Farmish im Stillen für seine unbeabsichtigte Hilfe. »Bitte bewegen Sie sich nicht. Möglicherweise auftretende Geräusche oder Gefühle sind normal und brauchen sie nicht zu -11-
beunruhigen. Wenn Sie das rote Licht aufleuchten sehen, sind Sie am Bestimmungsort angelangt.« Stahlauge zuckte zusammen, als er sich bereit machte, Körper und Geist durch den Teleporter hoffentlich intakt auf diese seltsame Weise auf den Planeten Sylva transportieren zu lassen. Es war ein kaum merkliches Zucken, aber es reichte aus. Der Kreis sah. Der Kreis speicherte. Dann leuchtete das rote Licht auf und Stahlauge war einer von den achtundachtzig Prozent erfolgreichen Fällen - eine Bereicherung der Erfolgsstatistik der Teleportgesellschaft - und immer noch am Leben. Sylva war eigentlich ein interplanetarer Komplex, der aus neun miteinander verbundenen Welten bestand. Vor langer Zeit hatte es nur einen einzigen gegeben: den Zentralplaneten Anchor. Als sich ihr Reich immer schne ller ausdehnte, transportierten die zentralistisch eingestellten Sylvaner andere Planeten heran und befestigten sie mit Hilfe von Transitröhren am Zentralkörper. Um die neun Planeten herum legten sie ein von außen kaum zu durchbrechendes Kraftschild. Wenn man sich dem Komplex mit Reisesturz von außen näherte, sah er aus wie eine riesige, spiegelnde Kugel. Man konnte nicht hindurchsehen. Alles was man sah, war das eigene Spiegelbild. Aber hatte man erst einmal das Innere des Komplexes erreicht, sah man draußen den sternenübersäten Himmel. Jeder einzelne Planet war mit den anderen durch Transitröhren verbunden sowie durch fast unsichtbare dünne Kraftfelder, die in ständiger Bewegung waren. Das war eine der vielen touristischen Attraktionen. Man konnte entweder in den Transitröhren in Sekundenschnelle auf einem »Lichtlift« auf einen anderen Planeten herauf oder zu ihm hinabrutschen; oder man konnte an einem »Kraftfaden« entlanggleiten, auf einem Lichtstrom herabfahren und unverletzt auf dem gewählten Planeten ankommen. Merkwürdig poetisch für solch ein unpoetisches Volk. -12-
Anchor war der zentrale Verwaltungspunkt und beherbergte die Sylvanischen Paläste, von denen aus die Mitglieder des Hohen Rates ihre Herrschaft ausübten. Die Mitglieder des Hohen Rates wurden ›Sylvas‹ genannt, und ihre Macht war seit jeher unbegrenzt gewesen. Die anderen acht Planeten, die das Zentrum umgaben, hatte man einfach numeriert: Sylva Eins bis Acht. Jeder Planet hatte seinen Teil zu der großen Aufgabe beizutragen, ein gigantisches Imperium zu beaufsichtigen und zu kontrollieren, das sich fast endlos über das All erstreckte. Vierzig Millionen bewohnte Planeten, unzählige Leben, unzählige Rassen, geballte Macht. Stahlauge als Tarash schritt aus der Teleportkammer und überquerte kleine Flächen bis zu den Ausgangschranken. »Taxis zu allen Ebenen.« »Wählen Sie Ihre Unterkunft: Hotels, Motels, Privatappartments, Sylva Sechs gehört Ihnen. Wir dienen Ihrem Vergnügen«, stand auf den Leuchtschildern. »Holen Sie sich Ihren persönlichen Barkredit. Angabe des Wohnorts genügt. Mit einem TI-Recorder verlängern Sie Ihren Aufenthalt. Erleben Sie ihn zu Hause mit Ihrer Familie noch einmal. Mit einem 4D-Nullzeit- Transmitter.« Ein TI-Transmitter war ein tragbares telepathisches Sendegerät, das - vorausgesetzt, man legt Wert auf eine derartige Invasion des Privatbereichs alle seine Gedanken und Aktivitäten aufnahm und durch einen 4D-Recorder nach Hause sandte. Stahlauge schlurfte zum Hauptausgang des Reisecenters und winkte einem Bodentaxi. Jede Minute war kostbar. Je weniger Zeit er sich ließ, desto geringer war die Chance, daß er sich durch eine falsche Bewegung verriet. Andererseits mußte er sich mit allem vertraut machen, für später. Das Bodentaxi glitt heran. »Wohin?« »Zentrum.« -13-
Der Fahrer verformte seinen Körper zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Stahlauge ließ sich in die bequemen weichen Polster sinken. Zum ersten Mal sah er einen sylvanischen Planeten aus der Nähe. Er sah nur Verwaltungsgebäude und Unterhaltungszentren, keine Hochhäuser. Die Sylvanischen Architekten hatten dafür nichts übrig. Die meisten Gebäude waren daher nur zehn Stockwerke hoch. Aber es gab einen totalen Unterschied zu allen anderen Planeten. Die Sylvanischen Planeten waren ein Mysterium für das Auge. Alles war in Bewegung, die Büros, die technischen Zentren, die Theater. Es war die Bausubstanz selbst, die sich bewegte. Die gewöhnlichen Gesetze der Materie hatten keine Geltung. Die geheimnisvolle Kunst der Molekularrekonstruktion war überall erkennbar - oder auch nicht. Stahlauge sah sich um. Stahlträger, die sich von Gebäude zu Gebäude spannten, flimmerten vor seinem Auge. Der, neben dem das Taxi gehalten hatte, hätte jedes einzelne der drei Gebäude tragen können. Die obersten Etagen waren manchmal die untersten. In wirbelndem verwirrenden Tanz der Ungewißheit wechselten die Türen ihre Plätze. Für einen Fremden, der die Technik der Körperverformung nicht beherrschte, war jeder einzelne Schritt ein verwirrender Kampf um das eigene Gleichgewicht. Unsicher und hilflos tapste er auf Straßen umher, die sich unter seinen Schritten verbogen und zu schwanken begannen. Ein Sylvaner aber konnte den Rhythmus seiner Körperverformung so kontrollieren, daß er sich in vollkommenem Einklang mit der Materie um ihn herum befand. Wie ein harmonisches Madrigal veränderten sich die Körper der Leute, insbesondere im sylvanischen Komplex im Gleichklang mit dem Gleiten und Schlüpfen der Bauwerke, die sie geschaffen hatten. Das war der Gipfel des Raffinements: die Bewegung der Materie in sich selbst. Alle Materie schien von Eigenleben erfüllt; solide Objekte konnten, wenn man ihren individuellen Rhythmus nicht beachtete, hochschnellen und unerwartet Schläge austeilen. Es -14-
kam nie vor, daß ein erwachsner Sylvaner stolperte, mit irgend etwas zusammenstieß oder irgendeinen Gegenstand mit den Händen zerbrach, auch wenn es vielleicht so aussah, als gleite er ihm durch die Finger. Ihre Beherrschung sowohl der Molekularrekonstruktion, als auch der Kooperation zwischen verschiedenartiger Materie war so hochentwickelt überlegen und erprobt, daß sie sie überhaupt nicht weiter beachteten. Auch das Taxifenster, aus dem Stahlauge blickte, änderte seine Gestalt und sah jetzt aus wie ein spiegelnder Teich: Wellen kräuselten seine Oberfläche, als hätte jemand einen Stein hineingeworfen, und brachen die Konturen der Außenwelt, die aus seinen Tiefen emporschimmerten. Das ohnehin verwirrende Bild wurde so zusätzlich verworren. Die Gebäude in ihrer unmittelbaren Nähe waren von farbigen Strukturen umhüllt; jede Struktur war genauestens darauf abgestimmt, mit jeder ihrer Bewegungen mit der Nachbarstruktur zu verschmelzen. Auf diese Weise entstand der Eindruck eines stählernen Farbkaleidoskops, in dem keine einzige Mischung oder Struktur jemals einen langweiligen oder traurigen Eindruck hinterließ, sondern in dem jede Veränderung ein neues Wunder an Schönheit und Entzücken war. Der nächste verschwommene Häuserblock bestand aus einer Reihe gebogener Gebäude, von denen einige cirka zwölf Meter hoch flimmerten und die anscheinend von vollkommen ovalen Formen zu mal härteren und mal weicheren Wellenlinien übergingen, dann aber plötzlich innerhalb weniger Sekunden ihre Erscheinung völlig aufgaben und die Form kantiger Burgzinnen annahmen. Die Gebäude hatten Fenster in ihren obersten Stockwerken, aber nur für Sekunden, dann wandelten sich die finsteren Zinnen zu Gesichtern. Zehn gesichterartige Gebilde blickten in einer Reihe auf den Betrachter nieder, das eine lächelnd, ein anderes Fratzen schneidend, eines lachend, das nächste weinend, jedes einzelne in ständiger Veränderung -15-
und Bewegung, eine lebende Karikatur der dargestellten Emotionen. Es gab keinen Augenblick der Langeweile, denn die Architektur wechselte ständig und nahm möglicherweise während ihrer gesamten Lebensdauer niemals zweimal die gleiche Gestalt an. Die Touristen gafften und staunten, denn kein anderer Planet in der Förderation bot ein so vielfältiges Schauspiel. Einzig der Komplex Sylva, das Zentrum der FUP, war so spannend, und Stahlauge registrierte alles, erfreut über das, was er sah, aber voller Verwunderung darüber, daß eine so disziplinierte Rasse zu solch fließender Schönheit fähig sein sollte. Das Bodentaxi paßte sich den Bewegungen der Straße an. Besser als selbst das ausgeklügeltste Federungssystem es gestattet hätte, schwebte es auf einem Luftkissen den Bruchteil eines Zentimeters vom Boden entfernt über die schlängelnde, pulsierende Straße dahin. Jeder Veränderung des Untergrunds paßte es sich durch beständigen Gestaltungswechsel an. Im Zentrum gab es freie Plätze, abgeschlossene grüne Gärten, künstliche Pflanzen, und an Bäumen wuchsen wirkliche Früchte. Es gab hochgelegene Fußgängerpassagen, von denen man die Stadt mehrere Meilen weit überblicken konnte, und unterirdische Einkaufszentren, die bis zum Bersten mit allem gefüllt waren, was man je zu kaufen geträumt hätte. Eine Konsumgesellschaft im Überfluß. Ein Paradies für den Touristen und den Einkauf lustigen. Stahlauge kreditierte die Fahrt und stieg aus. Vor ihm stand ein Sylvanischer Beamter. »Von welchem Planeten kommen Sie?« »Cathandramis.« »Ihre Papiere, bitte.« Stahlauge reichte dem Beamten Tarashs Ausweispapiere, seine Furcht unterdrückend, ließ er seinen Körper sich sanft verformen, um seine Nervosität nicht zu sehr zu verraten. -16-
»Tarash, heh?« »Ja.« »Für Sie ist kein Urlaub von den Vegetatoren gemeldet.« Der Beamte ließ seine Hand flüchtig über das Minicomputerglied an seinem Gürtel fahren. »Tatsächlich haben Sie in diesem Jahr bereits ihren ganzen Urlaub genommen. Mehr steht Ihnen nicht zu. Warum nehmen Sie mehr, Tarash?« »Sonderurlaub... Herr, damit ich meinen Bruder auf Anchor besuchen kann, Herr, man sagte, ich sollte lieber kommen, falls ich den nächsten Jahresurlaub nicht mehr erlebe, Herr.« »Man wird alt, was? Na, wir überprüfen Ihre kleine Geschichte mal lieber, kommen Sie mit.« Stahlauge fluchte heimlich, als er dem Beamten in das nächste Gebäude folgte. Sie passierten mehrere Wachtposten, ohne daß der Beamte ein Wort sprach, und betraten einen kleinen Raum, der offensichtlich sein Büro war. Jetzt oder nie. Stahlauge wußte, daß man auf Cathandramis nach Tarash suchen würde, falls der Beamte wirklich Verbindung zu den dortigen Behörden aufnahm, und dann würde er Anchor sofort verlassen müssen, wenn er überhaupt noch herauskam. Er mußte diesen Sylva... »Hm, hab’ ich mir doch gleich gedacht, daß mit Ihnen irgendwas nicht stimmt.« »Bei mir stimmt alles. Ich schwöre, daß ich nur meinen Bruder besuchen will, und dann muß ich sowieso schnell zurück, weil mich meine kranke Frau braucht. Bitte melden Sie mich nicht.« Stahlauge war bereit, den Posten zu töten, wenn er nicht mit sich reden ließ. Aber er hielt die Fassade aufrecht. Sein Körper verformte sich, so wie ein verängstigter Bauer unter dem forschenden Blick eines Beamten sich verformen mochte. Der Posten schwankte. Er war offensichtlich nicht versessen darauf, diesen alten Sylvaner ins Gefängnis zu bringen oder ihn während seiner letzten Lebensmonate zur Armut und Not zu -17-
verurteilen. Auf der anderen Seite wollte er sich aber auch nicht selbst irgendwelchen Ärger einhandeln. Stahlauge machte sich bereit. Der Beamte ahnte nicht, daß er dabei war, möglicherweise sein eigenes Todesurteil zu fällen. »Na gut, aber nur für einen Tag, verstanden? Entweder Sie sind morgen wieder auf dem Teleporter nach Cathandramis, oder ich melde Sie, klar?« »Ja, Herr, natürlich Herr, vielen Dank.« »Gut. Worauf warten Sie noch?« »Meine Papiere, Herr, und eine Marke für Unterhaltung und Essen, Herr.« »Unterhaltung?« Ich denke, Sie wollten Ihren Bruder besuchen?« »Das will ich auch, Herr, aber er kommt erst sehr viel später nach Hause, und ich bin zu alt, um auf der Straße herumzulaufen, Herr.« »Zu alt für die Art von Unterhaltung, die diese Stadt bietet... Na gut. Wollen Sie eine Rundreise?« »Ja, auf Anchor. Aber jetzt eine Show, und später möchte ich schlafen.« »Ihr Gepäck wird transportiert. Kommen Sie.« Wer die Körperverformung beherrschte, konnte sich, wie alle Sylvaner, vor den Augen der Betrachter verändern. Sein ganzer Körper und sein Gesicht konnten jede beliebige Gestalt annehmen. Denn die Sylvaner waren gleichzeitig auch Systemexperten. Ein Sylvaner konnte jedes System, das man ihm vorlegte, analysieren und begreifen, selbst das komplizierteste wie z. B. das Nervensystem. Wie ein Exonischer Computer konnte er in allem ein Muster erkennen. Und trotz aller bizarren Unbeständigkeit waren sie eines immer: attraktiv. Trotz ihrer sprichwörtlichen Arroganz zeigten sie niemals ein häßliches Gesicht oder traten jemandem mit einer uneleganten Bewegung -18-
gegenüber. Sie waren immer gutaussehend, immer schön. Wenn man sie traf, wußten sie sofort, was man gern mochte und gaben sich während der ganzen Begegnung die größte Mühe, alle Erwartungen in den unterschiedlichsten Formen zu erfüllen. Dann gingen sie weg und waren wieder etwas anderes. Der Beamte führte ihn zu einem Pult, dessen Oberfläche zunächst ganz glatt aussah. Aber sobald er es an der anderen Seite einschaltete, zuckten kleine Lichtspuren über seine Oberfläche. »Was für eine Show?« Er wußte, daß er nicht zu genau wissen durfte, was er wollte. Ein Bauer auf Rundreise konnte noch nicht allzuoft auf Sylva gewesen sein. Aber das war nicht schwierig. Weil er sowieso nicht sicher war. »Magie, eine Zaubershow.« Timion hatte gesagt, er sollte sich einen Zauberer ansehen. Sylva hatte die Besten. »Actual ist in der Stadt. Wollen Sie Actual sehen?« Stahlauge zögerte, Tarash zögerte. Jetzt waren sie wieder unter Leuten, und in Sekundenschnelle bildeten sich Schlangen hinter ihm; andere Touristen waren da, jede Menge anderer Touristen. »Antwort?« Der Be amte sprach in der scharfen Art der Sylvaner. »Ja, prima. Actual.« Er berührte eine bestimmte Anordnung von Sensoren auf dem Pult, und Lichter schossen durch unsichtbare Kanäle, flimmernd wie das Pult selbst. Eine kleine Scheibe kam zum Vorschein. »Halten Sie sich das hier hinters Ohr. Es wird sie zu der Show führen. Die Zeit gehört Ihnen. Denken Sie daran, bis morgen.« Der Nächste in der Reihe kam näher, und Stahlauge war wieder allein. »Die Zeit gehört Ihnen.« Diese Worte sollte er noch bei tausend Gelege nheiten hören, bedeutungslos, eine tote Phrase. -19-
Der zentrale Stadtkomplex war gewaltig, riesig. Die schwankenden Gebäude, Wände und Flächen kamen und gingen in einem dickflüssigen verwirrenden Strom. Stahlauge hatte gelernt, mit der Körperverformung umzuge hen. Er beherrschte sie so, daß er es in dieser subtilen Sprache selbst mit dem Besten aufnehmen konnte. Als Tarash durfte er jedoch nicht so gewandt sein, wenn er nicht entdeckt werden wollte. Um den Schein zu wahren, hielt er daher an und begaffte ein wenig die Schnellstraßen und die Lichtbahnen. Jedesmal, wenn jemand die »Kraftfäden« von den anderen Planeten herunterkam oder hinaufsauste, starrte er hinterher. Ein kleiner Körper kam aus dem Nebel, raste aus vielen Meilen Entfernung auf ihn zu, landete schließlich wohlbehalten vor seinen Füßen und verschwand auf einem Bodenweg oder in einem Taxi und alles in wenigen Sekunden. Die Sylvaner kannten ihren Planeten gut, gingen ohne jede Verwirrung mit Bewegung und Veränderung um, so wie sie selbst sich bewegten und veränderten. Stahlauge hätte das genauso machen können, aber er wollte sich nicht verraten. Und die ganze Zeit über beobachtete der Kreis ihn, registrierte ihn, ohne sein Wissen. Er hielt die Scheibe hinter das Ohr. Sie blieb dort kleben und sang leise ihre Anweisungen. Er lauschte und bestieg zögernd eine Bodenbahn. Sie fuhr langsam genug, um ihm die Wahrnehmung der vorbeihuschenden Umgebung zu gestatten. Er war auf dem Versorgungsplaneten; von hier aus wurde der Eingang von Nahrungsmitteln überwacht und gelenkt, von Bodenschätzen und Reparaturleistungen, Technikern, Forschungsmethoden und Nachrichten. Über diese Schaltstelle befriedigten die vielen Planeten des Imperiums die zahlreichen Bedürfnisse der Sylvaner und ihres Zentralgehirns. Die Gebäude trugen entsprechende Bezeichnungen: Lebensmittelbehörde, -20-
Exonisches Zentrum, Computer-Teile, Technische Informationen und Reparaturen, Beschäftigungsgebäude, Arbeitszentrum; jedes einzelne hatte riesige Ausmaße und streckte sich endlos in der Ferne dahin. Er fuhr weiter zu den Vergnügungszentren und Unterhaltungsabteilungen in einem anderen Teil des Komplexes. Sie waren Alptraum und liebliche Phantasie zugleich. Große bunte Lichtkegel flammten durch den Himmel. Bilder tauchten kurz vor dem Auge auf, um für immer zu verschwinden. Nichts wiederholte sich. »Träumezentrum kommt und geht, schnell wie der Gedanke weht. Liegt die Zukunft auch verborgen, wir erhellen Dir das Morgen.« »Jeder Wunsch, ob groß, ob klein, wird bei uns geborgen sein. Wir erfüllen Deinen Traum, laß uns Deine Wünsche schaun.« Ein Lichtstrahl zerriß zuckend eine große Mauer aus Einförmigkeit und ein sehniger, geschmeidiger Körper nahm flackernd am Himmel Gestalt an. Mit den sexuellen Bewegungen und Verformungen, die für die Sylvaner typisch waren, wirbelte eine sich windende Tänzerin vor Stahlauge herum. Ihre Gesten waren eindeutig, beunruhigend, fast boshaft, aber voller Verlockung. Aber nicht für Stahlauge, nicht hier. »Die Psychoanalyse des Denkens ist die Komplexität des Geistes. Die Komple xität des Geistes ist das Gehirnprodukt der Sylvaner. Wir können Ihnen helfen, unabhängig von Ihrer Rasse, Weltanschauung oder Ihrem Planeten in der Förderation. Wenn Sie ein Problem haben, gehen Sie nicht vorüber. Wir sind bereit. Die Zeit gehört Ihnen.« Die Psychozentren waren bekannt, teuer aber effektiv. Sie haben ein Problem? Auf Sylva Sechs wird es gelöst. Alles Teil des erstaunlichen Sylvanischen Systems. Aber, wie alles auf Sylva, durch Bewegung geschützt. Alles bewegt sich. Stahlauge drehte und wand sich wie ein verwirrter Besucher, -21-
der zum ersten Mal eine Welt von Universalgelehrten betritt. Die Magie von Sylva ist die Magie des Universums. Stahlauge wußte das, aber nicht Tarash, und im Augenblick war Stahlauge Tarash. Schon die Verwaltungszentren der Planeten im Komplex Sylva waren aufregend genug. Aber die Unterhaltungszentren schwelgten in einem Exzess von Farben und Formen. Hier war alles vollkommen. Man wähle willkürlich eine Million Farbschattierungen aus, werfe sie in die Luft und lasse sie zu Boden fallen. Die so geschaffene einmalige Struktur vermittelt vielleicht eine schwache Vorstellung von den schöpferischen Fähigkeiten der Sylvaner. Im Zentrum der bedeutendsten Stadt auf Sylva Sechs erstreckte sich über eine Fläche von drei Quadratkilometern ein wucherndes Paradies für die Reichen und Gelangweilten. Jede erdenkliche Quelle des Vergnügens war hier angezapft worden: angefangen beim Spiel am »Räderrat« bis hin zu vorgespiegelten Reisen in ein Wunderland unvorstellbarer Freuden, bei denen ma n unter Umständen glaubte, von den Tiefen des Universums verschlungen zu werden, man konnte im Innern einer hausgemachten Hölle verschwinden, unverletzt durch Feuer wandeln, hundert Fuß weit durch die Luft segeln und ohne eine Schramme wieder landen, man konnte Turnübungen wie ein Profi machen, mit der Geschwindigkeit eines Weltmeisters laufen, ohne zu ermüden; Ran Pef lieben, die Sylvanische Geliebte aller Zeiten, das Schlachtgetümmel von hundert Heeren in den Cao Kriegen erleben, in einem abendfüllenden Spielfilm die Starrolle spielen, in einer Minute die Sprache Kalks lernen, einen Raumzerstörer fliegen, sterben und wieder neu geboren werden, den Jarmin jagen, sich an einer Diskussion mit den großen verstorbenen Philosophen Camin und Wetor Meben berausche n, pfundweise Edelsteine mit nach Hause schleppen, sich bis zum Platzen vollfressen, oder auch nur einfach zusehen, zuhören, bewundern. -22-
Denn die Sylvanischen Unterhaltungszentren mußte man selbst mit eigenen Augen gesehen haben. Stahlauge wandelte durch das Labyrinth dieser ungewohnten Welt, die ihm den Atem nahm mit ihren endlosen Variationen des immer gleichen Themas: Spiel und Spaß für Jedermann. Schließlich war er an seinem Bestimmungsort angekommen. »Actual ist kalt, Actual ist heiß, keiner weiß was Actual weiß.« »Hier auf Sylva Sechs führt Ihnen Actual seine magische Kunst vor. Wann immer sie wollen ist er hier oder da, überall und nirgends. Kommen Sie herein und lassen Sie sich verunsichern. Vielleicht sehen Sie ihn, vielleicht auch nicht. Versuchen Sie einen Blick auf den größten Magier des Universums zu werfen, das einzige, was Sie vielleicht von ihm sehen werden.« Stahlauge ging hinein. Die Scheibe hinter seinem Ohr verstummte. Actual erfreute sich in der ganzen Föderation eines besonderen Rufes. Um ihn rankten sich Gerüchte, Klatschgeschichten und Intrigen. Niemand wußte, woher er kam und wohin er manchmal für Monate verschwand. Wochenlang konnte er Abend für Abend seine Vorstellungen in den Theatern und Schaubuden gegeben haben und ganz plötzlich verschwunden sein, nirgends aufzufinden. Seine Magie bestand nicht aus simplen Zaubertricks. In einem Zeitalter, in dem fast jeder gewöhnliche Sylvaner seine Erscheinung total verändern konnte, in dem ganz normale Leute mit ihrem Körper wie mit ihrem Geist die kompliziertesten Tricks ausführen konnten und in dem die meisten Lebewesen ihre Molekularstruktur willkürlich beeinflussen konnten, in einem solchen Zeitalter war Actual dennoch der Gipfel, unvergleichlich und jede Erkenntnis übersteigend. Bat man die Passanten auf der Straße, ihn zu beschreiben, bekam man tausend verschiedene Antworten. Wollte man ein System in seiner Gesichtsstruktur entdecken, -23-
würde man darüber den Verstand verlieren. Die Sylvaner kannten Systeme wie der Bauer seinen Acker, aber keiner kannte Actual wirklich. Heute abend sollte er auftreten, im Caroura Club, dem besten auf Sylva Sechs, und der Zuschauerraum war gerammelt voll. Timion hatte zu Stahlauge gesagt: »Geh Dir Acutal ansehen, er ist der Beste.« Und so befanden sich jetzt an diesem unpassenden Ort gleichzeitig die beiden bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte dieses kolossalen Imperiums, vielleicht sogar in der Geschichte des Universums. Und niemand ahnte es. »Sie sind allein, mein Herr?« »Möglichst weit nach vorn.« »Ja, mein Herr, kommen Sie, bitte.« Stahlauge wurde zu einem der vorderen Tische ganz in der Nähe der Bühne geleitet. Es fiel ihm nicht auf, daß man ein solches Privileg einem gewöhnlichen Bauern kaum eingeräumt hätte. Es hätte ihm auffallen sollen. Er setzte sich und wartete, schweigend wie das gespannte Publikum. Nach einigen Minuten sah man einen kleinen glühenden Punkt in der Mitte der Bühne auftauchen. Das Glühen wurde größer und größer, bis kleine Flammen aufzüngelten. Es entstand keine Hitze, aber die Flammen züngelten immer höher, erfaßten die Bühnenmitte, wuchsen von Sekunde zu Sekunde, bis sie schließlich hoch aufschlugen und die Größe eines Sylvaners erreichten. Noch immer spürte man keine Hitze, nur das Flakkern des Feuers war zu sehen, das jetzt von der Bühne auf den Saal übersprang, als wolle es die Zuschauer ergreifen. Die Leute in den ersten Reihen wichen zurück, aus Angst, verbrannt zu werden, aber es wurde nichts angesengt, nicht einmal schwache Hitze war zu spüren. Stahlauge spürte, wie sein Herz schlug. Langsam tauchte eine undeutliche Gestalt aus den Flammen -24-
auf. Wie in der alten Sage vom Phoenix begann sich im Feuer ein Körper zu regen, undeutlich und verschwommen zuerst, aber für den Zuschauer unverkennbar. Nach und nach erkannte man in dem züngelnden Flammengebilde die Umrisse eines Lebewesens. Das Feuer warf jetzt kürzere Schatten. Aus dem rätselhaften unbeständigen Flammenwesen bildete sich ein lebender Organismus. Das Feuer erlosch allmählich, während der Körper aus ihm emporstieg, bis schließlich nur noch ein schmaler Flammenkranz übrigblieb, der eine Gestalt in schwarzem Umhang umzüngelte. Mit einer einzigen Bewegung ließ die Gestalt ihren Umhang hochwirbeln; Vogelschwingen bildeten sich. Es war der Körper eines Raubvogels, mit großen stämmigen Beinen, mit imponierendem Schnabel, lauernde Kraft verratend. Die Schwingen von drei Metern Spannweite schlugen wild auf die Bühne, und dennoch ging nicht ein Lufthauch von den rasenden Gliedern aus. Das Geschöpf schien seine Umgebung völlig in der Gewalt zu haben, so als sei es imstande, das Theater dem Erdboden gleichzumachen und augenblicklich wieder zu errichten. Die Gestalt wandelte sich wieder, diesmal vom Vogel zum Affen. Langsam, gewaltig, tauchte sie nach einer Drehung hinter dem Umhang in ihrer neuen Form auf. Die Ähnlichkeit mit den primitiven Geschöpfen der Urzeit war erschreckend, plastisch wie eine 4D-Abbildung, aber auch noch schwitzend, stinkend, brüllend in totaler Echtheit. Das Geschöpf ließ ein gewaltiges, verächtliches Brüllen vernehmen, das die Zuschauer zurücktaumeln ließ. Einige erbrachen sich vor diesem fremdartigen, überwältigenden Gestank. Und plötzlich, so schnell wie er aufgetaucht war und ohne den Schatten eines Geräuschs oder einer Bewegung, war der Affe - ein Mensch. Der Mensch war tot in diesem Universum, nicht vergessen aber tot, längst vergangen, ausgestorben. Niemand konnte sich erinnern, daß Actual jemals einen Menschenkörper geformt -25-
hätte. Warum tat er das jetzt, in diesem Augenblick? Angetan mit einem makellos weißen Smoking und schwarzer Fliege trat er, einen Stock schwingend, mit einer zierlichen Verbeugung vor sein Publikum. Als sich das aufgeregte Murmeln der Zuschauer gelegt hatte, ergriff er das Wort. »Dies ist eine ganz besondere Vorstellung, denn es gibt jemanden in unserer Mitte, der mir viel bedeutet und der uns vielleicht eines Tages allen sehr viel bedeuten wird, zum Guten wie zum Schlechten. »Doch ist’s jetzt nicht Zeit zu reden, Mancher wird es nicht erleben. Der Reiche wird zum Schluß zerschellen, Doch den Armen quälen Höllen. Blut wird die Planeten färben, Mancher wird leben, doch viele sterben. Worte sind jetzt höchst entbehrlich Geschichte dreht sich unaufhörlich Reiche taumeln oder steh’n, Welten werden und vergeh’n. Wer kann’s wissen, wird es wagen? Nein, ich werde Euch nichts sagen.« Damit war Acutal verschwunden. Stahlauge wußte, daß die Anspielung ihm gelten mußte. Wie hatte dieser seltsame Magier das so schnell herausfinden können, woher konnte er es wissen? Seine Nackenhaare sträubten sich, und auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß jeder ihn anstarrte. Eine einzige falsche Bewegung konnte ihn jetzt verraten. Er mußte sitzenbleiben und ruhig abwarten, bis er unbemerkt verschwinden konnte. Er mußte einige wenige Augenblicke ausharren, in der Hoffnung, daß Actual zurückkäme und die Aufführung mit harmlosen Darbietungen fortsetzte. Die Sekunden vergingen wie Ewigkeiten. Die Zeit tropfte schwerfällig, während im Zuschauerraum erwartungsvolle Stille herrschte. Schließlich konnte Stahlauge seine Angst nicht länger unterdrücken und drehte den Kopf. Hinter ihm, den Tisch flankierend, standen drei hochgewachsene Sylvanische -26-
Gardisten. Sie waren mit Disruptoren bewaffnet, einer von allen Gegnern gefürchtete Waffe. Ein einziger Blitz aus ihrer Mündung reichte völlig aus, jeden Körper in seine einzelnen Atome aufzulösen. Stahlauges Gedanken rasten. An der Tür standen mindestens zehn weitere Gardisten. Wie hatten sie ihn erkannt? Er mußte irgendeinen falschen Zug gemacht, irgendeinen Fehler begangen haben. Vielleicht war es Tarash, der den Alarm ausgelöst hatte, vielleicht hatte jemand anders sein Kommen verraten. Während ihn diese Gedanken in Sekundenschnelle durchzuckten, begann sein Auge bereits zu glühen. Langsam verlor sein rechtes Auge seinen stahlmatten Glanz und nahm eine andere Färbung an, langsam zunächst, dann mit plötzlicher Heftigkeit flutete eine furchtbare Hitzewelle über sein Blickfeld. Das Auge war schrecklich. Sein tödliches Rot glühte mit gleißender Schärfe im Antlitz einer lebendigen Kreatur. Die drei Gardisten vor ihm zerfielen zu Asche. Die Stühle und Tische hinter ihnen brannten wie Fackeln. Furchtbar war die Waffe, die ihm seine Schöpfer, die Eumigen, verliehen hatte. Timion hatte gesagt: »Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, gebrauche dein Auge, und unterschätze niemals seine Kraft. Mit diesem Auge bist du stark genug, eine ganze Flotte von Raumzerstörern zu verbrennen, mit einem einzigen Blick kannst du einen Schlachtenroboter aufhalten oder ein Gebäude in seinen Grundfesten erschüttern. Gebrauche es mit Umsicht.« Stahlauge sprang auf und durchquerte mit einem einzigen langen Schritt den Raum zwischen ihm und der Bühne. Dort wirbelte er herum und führte einen sengenden Schlag gegen die heranstürmenden Wachtposten, der eine klaffende Lücke hinterließ. Eine einzige Drehung seines Kopfes hatte ausgereicht. Der rotglühende Feuerstrahl durchschnitt die Reihen seiner Möchtegern-Häscher. Aber die Sylvaner waren nicht gewillt, sich diesen Fisch kampflos vom Haken winden zu lassen. Ein einziger Wachtposten betrat den Zuschauerraum. -27-
Inzwischen hatte die Zuschauer Panik ergriffen. Alle drängten zu den Ausgängen, aber Wachtposten an den Türen vereitelten ihre Flucht. Entsetzen breitete sich im Raum aus. Nur Stahlauge blieb ruhig. Sein mächtiger Körper war von Schlachtspezialisten gebaut worden. Panik war ihm fremd. Voller Ruhe, Logik und Klarheit, voll unvorstellbarer Kraft, stand er wie festgeschmiedet da. Sein Auge verhieß Tod und Verderben. Gelassen erwartete er den nächsten Angriff. Ein einzelner Gardist richtete einen Zonal-Katheter auf Stahlauge. Hätte er Gelegenheit gehabt, die Waffe anzuwenden, wäre innerhalb weniger Sekunden das Blut aus Stahlauges Körpers herausgesaugt worden und nur ein Fleischklumpen übriggeblieben. Aber er hatte weder mit Stahlauges Reaktion gerechnet, noch mit der Schärfe seiner Sinne. Er hatte die Gedanken des Wachtpostens aufgefangen, als dieser sich auf den Angriff mit seiner Waffe vorbereitete. Der Sylvaner versteckte sic h hinter einem Pfeiler. Alles kam darauf an, daß das tödliche Auge sein Ziel schnell genug fand, und in der Mitte der Bühne war Stahlauge leicht zu verletzen. Aber was jetzt kam, versetzte die wenigen übriggebliebenen Zuschauer in Erstaunen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit schoß er durch die Stuhlreihen, bewegte sich so schnell hin und her und vor und zurück, daß er überhaupt kein Ziel für den Wachtposten bot. Dabei gab er eine kleine Kostprobe seiner eigenen Zauberkunst. Auch er setzte jetzt die ihm innewohnenden Körperverformungstechniken ein. Mal änderte er die Größe, mal die Gestalt und den Ausdruck, schließlich nahm er eine flache, glatte Form an, die wie eine Schlange durch die Reihen der fliehenden Zuschauer glitt. Als er dort angekommen war, wo der Wachtposten noch immer nach seinem Ziel Ausschau hielt, richtete Stahlauge sich zu voller Größe auf und sandte ohne jede Warnung einen Feuerstrahl aus, der den Sylvaner glatt zu Boden streckte. Dann drehte er sich blitzschnell um und setzte zwei andere Trupps Wachtposten außer Gefecht; nach einer weiteren -28-
Drehung ergriff er mit seiner Riesenhand einen anderen Wachtposten und schmetterte den hilflosen Körper gegen die Wand. Das war der letzte Angreifer gewesen; nun war es Zeit für die großen Jungs, und die ließen auch nicht lange auf sich warten. Stahlauges Verstand hatte ihm früh genug gesagt, daß die Sylvaner bald erkennen würden, wie ungleich der Kampf für sie während der ersten beiden Angriffe gewesen war. Sie hatten gesehen, wie dieses furchterregende Geschöpf mit ein paar Blitzen seines schrecklichen Auges zwei Dutzend Wachtposten vernichtete. Es verging nur ein einziger Augenblick. Leichen lagen auf dem Boden und auf den Tischen verstreut. Niemand bewegte sich, aus Furcht, die Aufmerksamkeit dieses edlen Kopfes auf sich zu ziehen. Wieder breitete sich Stille aus, aber nur für eine Sekunde, dann stürmten die Sylvanischen Wächter herein - die Roboter. Die einzigen Roboter, die die Sylvaner auf ihrem Planeten zuließen, waren Killer. Sie waren für die Schlacht gebaut und bewaffnet und überragten mit ihren drei Metern selbst Stahlauge, und ihre Bewaffnung ließ eine Sylvanische Armee wie eine Runde fröhlicher Sternstreicher erscheinen. Drei betraten das Theater zusammen; zwei davon rasten auf dem freien Platz hin und her und schlachteten einen Sylvaner nach dem anderen ab, so verrückt waren sie darauf, hinter Stahlauges Rücken zu gelangen und seinen Rückzug abzuschneiden. Der Dritte ging aus allen Rohren feuernd sofort auf sein Ziel los. Sein riesiger Körper donnerte mit bedrohlicher Geschwindigkeit auf ihn los. Vor einer solchen Bedrohung empfand selbst ein bisher unbesiegter Stahlauge Furcht. In der Überlegung, daß ein lebendiger Geist schneller ist als jede Mechanik, schwang Stahlauge sich auf den Pfeiler empor, hinter dem der Wachtposten mit dem Katheter gestanden hatte. Der erste Roboter war jedoch beileibe nicht langsam und paßte sich im Bruchteil einer Sekunde der Bewegung an. Aber so schnell er auch sein mochte, Stahlauge war schneller. Er -29-
schwang sich an den Stützpfeilern entlang und wich so dem Roboter aus, der sich immer mehr näherte. Dann vollführte er eine Drehung in der Luft und konzentrierte die Kraft seines Auges auf ihre höchste Stufe. Der Boden unter dem Roboter verwandelte sich in ein Loch. Der Roboter existierte nicht mehr, war verschwunden, aufgelöst, weg. Die anderen beiden zögerten nicht eine einzige Sekunde und eröffneten das Feuer auf Stahlauge. Sie kamen näher, aber plötzlich war ihr Ziel nicht mehr da. Er war aus ihren Blicken verschwunden. Wie zwei Clowns drehten sie sich um und starrten einander an, als suchten sie eine Antwort. Und bevor der Augenblick verrann, war Stahlauge auch schon hinter ihnen. Der rechte stürzte taumelnd vor Hitze zu Boden, den zweiten erwischte ein Treffer auf der Brust, aber er versuchte verbissen, weiter auf Stahlauge loszugehen. Stahlauge spielte mit diesem Koloß, hielt ihn, wie ein Boxer seinen Gegner, am langen Arm. Der Roboter war nur für den Angriff programmiert. Seinen massiven Körper gegen die gedrosselten Strahlen werfend, die jetzt langsamer dem tödlichen Auge entströmten, kam er immer näher. Der Strahl riß ab. Der Roboter krachte zu Boden, stand wieder auf, taumelte vorwärts und versuchte den Menschen mit einem blind geführten Schlag seiner mächtigen Arme zu treffen. Stahlauge duckte sich, und der Schlag ging ins Leere. Der Roboter stand Stahlauge gegenüber; zum ersten Mal in seiner Existenz zögerte er. Mit einem Anflug von Unglauben stierte er auf dieses Lebewesen, das mit Leichtigkeit solche Kriegsmaschinen überwand. In Stahlauges Auge blitzte Triumph auf. Er tat einen Schritt nach vorn, legte seinen muskulösen Arm um den Hals des Roboters und drehte ihm den Kopf ab. Dann kam Trok: Trok, der Leiter der Sicherheitskräfte auf den Sylvanischen Planeten. Trok hatte den Kampf beobachtet und wußte, daß man diesen Menschen aufhalten mußte. Er richtete einen einfachen Atomblaster auf Stahlauge und drückte ab. Der dünne, scharfe Strahl spritzte aus der Mündung. Er durchmaß -30-
Dreiviertel der Strecke bis zu Stahlauge und blieb stehen. Alles blieb stehen. Die ängstlichen Zuschauer hielten mitten in ihren Fluchtbewegungen inne, die hereindrängenden Wachen erstarrten in Reih und Glied. Troks Arm verharrte in Schulterhöhe, der Todesstrahl des Blasters erstarb. Alles war still, vollkommen still und lautlos. Stahlauge sah sich verwundert um. Dies war nicht sein Werk. »Sie kämpfen gut, mein Freund.« Actual stand neben ihm und begutachtete die Szene der Zerstörung. »Ganz umsonst, scheint mir, Was haben sie gemacht?« »Ein ganz einfacher Trick. Eines Tages werde ich ihn ihnen beibringen. Kommen sie.« Actual führte Stahlauge durch das verbrannte und verkohlte Theater an den zerstörten Schlachtrobotern vorbei ins Freie. Alles war ruhig. Sie bestiegen ein Bodenauto, das sich ohne ein Wort von Actual in Bewegung setzte. Das Theater versank schnell in der Ferne hinter ihnen.
III Die Historiker, die die Jahrhunderte der Sylvanischen Herrschaft erforschten, hatten diese Epoche »die Windstille« genannt. Sie erstreckte sich vom neunundvierzigsten bis zum neunundneunzigsten Jahrhundert. Auch unter dem Namen die »Neunhunderter« bekannt, war dies die friedlichste und zugleich repressivste Periode der Führung des Reiches durch die Sylvaner gewesen. Als geschichtliche Erscheinung ist sie einzigartig. Keine andere Macht im zivilisierten Universum hat jemals zuvor oder danach ein derartiges Maß an Ruhe herstellen können. Aber die Ruhe war trügerisch. Tief unter der Oberfläche -31-
gärte und rumorte Unzufriedenheit. Sie war da, wie das Glimmen einer Zü ndschnur an einem feuchten Zünder, und ein einziger zusätzlicher Funke konnte ausreichen, sie zu entzünden. Aber die gebildeten und hochentwickelten Sylvaner hatten keine ernstzunehmenden Gegner, und der einzige Funke, der schließlich die Explosion auslösen sollte, entstand durch bloßen Zufall. »Bestimmt, ein wenig gesunde Konkurrenz...?« Hamgar lehnte an der Tür. »Unsinn: gesunde Konkurrenz. Ich brauche sie nicht.« »Gehst du allein?« »Eine logische Folgerung, Hamgar; deine erste sei langer Zeit, glaube ich.« Hamgar hätte geseufzt, wenn ein Android das gekonnt hätte. »Die bedeutendste Gelegenheit, die sich uns Kreaturforschern jemals geboten hat, und du mußt den ganzen Ruhm allein ernten... natürlich.« »Du erstaunst mich.« »Endlich haben wir die Gelegenheit zusammenzuarbeiten, und du weist jede Hilfe zurück.« »Wieder richtig.« Eine nachdenkliche Pause. »Was ist, wenn du die Zeit überschreitest. Der Plan ist ganz schön knapp.« »Wenig wahrscheinlich.« »Der Sylvanische Hohe Rat tritt in sieben Wochen zusammen, und bis dahin muß die Aufgabe erfüllt sein.« »Du verblüffst mich immer mehr mit Deinen Vorahnungen, Hamgar.« »Dein Sarkasmus gereicht dir nicht zur Ehre, Tousle. Als Leiter der Kreaturforschung trägst du eine schwere -32-
Verantwortung vor den Eumigen, wie vor Zrost, und du verspottest meine Vorschläge, du machst meinen Ruf verächtlich, und du behandelst mich wie ein albernes Lebewesen.« Tousle erhob sich von seiner Arbeit, wandte sich Hamgar zu und sah ihm voll ins Gesicht. »Timion hat die Erprobung und die Erschaffung der Frau mir übertragen, Hamgar. Er hat angeordnet, daß ich allein für diese Aufgabe verantwortlich bin, für Einleitung, Durchführung und Schluß. Ohne Hilfe oder Rat von dir oder irgendeinem anderen Eumigen. Ich habe weder den Wunsch noch das Bedürfnis nach deiner Hilfe und ich wäre dir dankbar, wenn du mich jetzt nicht weiter bei meiner Aufgabe stören würdest. Vielen Dank für diese kleine Aufmerksamkeit. Guten Tag, Hamgar.« Damit wandte sich der Leiter der Kreaturforschung Tousle wieder dem PAL neben ihm zu und setzte das Experiment fort. »Du wirst mich also nicht helfen lassen?« Hamgar versuchte es mit der weichen Welle. »Nein!« kam die harte Antwort. Wie zwei streitende Kinder trennten sich Tousle und Hamgar. Keiner von beiden war bereit, dem anderen entgegenzukommen. Natürlich hatte Tousle Recht. Der Bau der Frau war sein Privileg, nicht Hamgars. Artikel 324 des Gesetzbuches der Sylvanischen Föderation war eigens dazu geschaffen worden, den Beitritt der Eumigen zur FUM zu verhindern. »Kein Geschöpf darf Mitglied der Föderation werden, solange nicht bewiesen ist, daß auf dem Planeten, dem es entstammt, aufgrund natürlicher Ursachen und organischer Zeugung Leben existiert.« Die Eumigen waren Androiden, zwar hochentwickelt, aber dennoch künstliche Geschöpfe ohne jede Fähigkeit oder Notwendigkeit organischer Zeugung. Jeder Eumig lebte mühelos an eine Million Jahre, aber die Mitgliedschaft in der Föderation würde ihnen von Nutzen sein. Sie würde ihnen die Mittel verschaffen, über ihren kleinen Planeten hinauszukommen, der so weit ab lag vom übrigen Universum. -33-
Und das würde ihnen die Möglichkeit eröffnen, ihren Einfluß auszudehnen und Pläne zu verwirklichen, von denen nur in der Zurückgezogenheit ihrer politischen Kammern gesprochen wurde. Die Föderation verlangte ein Kind, ein Kind, das von einer Mutter geboren sein mußte. Logischerweise mußten sie also eine Mutter erschaffen, um das Kind zu gebären und Artikel 324 Genüge zu tun. Sie wählten dazu eine Rasse aus, die jetzt ausgestorben war, die aber einst Bewohner ihres Planeten und Herr über ihre Art gewesen war: den Menschen,. In ihren Archiven lagerten noch Bücher und Filme, Bänder und Schallplatten des Menschen die exakten Aufschluß über jede Einzelheit seiner Anatomie gaben. Die Antwort war also auch hier logisch: man mußte eine Frau bauen. Und das war Tousles Aufgabe. Nicht Hamgars. Aber Hamgar war ein dickköpfiger und etwas unausgeglichener Eumige. Viele sagten, daß frühere Schlachten in dem von den Eumigen bewohnten Teil des Universums seine Schaltung beschädigt und ihn etwas abnorm gemacht hätten. Ein verrückter Androide, aber so talentiert wie seine ganze Art, durchaus in der Lage, Leben zu erschaffen. Nun da Tousle seine Pläne durchkreuzt hatte, gab es für ihn nur noch eine Alternative: seinen vorgesetzten Kreaturforscher zu täuschen und zu überrunden. Die Informationen, die in Tousles Laboratorium so sorgfältig gehütet wurden, zu übernehmen und sein Modell als erster fertigzustellen. Und so passierte der Unfall. »Gegenstand: Cerebraler Cortex, Cerebellum Hypothalamus, Hirnstamm. Versuch 767. PAL Bereitschaft bestätigen.« »PAL fertig.« Der Phototronisch Aktivierte Laborant, oder PAL, war das wissenschaftliche Werkzeug der Eumigen. Es stand mit dem Gehirn seines Meisters in telepathischer Verbindung und konnte die meiste Routinearbeit selbständig bewältigen. Wie eine sorgende Krankenschwester huschte er durch das Labor, reichte Instrumente und assistierte, wo das -34-
erforderlich war. Dieser Laborgehilfe, der auf der Basis von TITransmissionen arbeitete und auf multiplen Kraftfeldern schwebte, stellte eine der anpassungsfähigsten Maschinen des Universums dar. Eine weitere Erfindung der Eumigen. Tousle’s PAL war den speziellen Anforderungen seiner Arbeit als Kreaturforscher angepaßt worden und besaß empfindliche und genaue Fühler für mikrochirurgische Eingriffe. »Laminektomien nähen. Lappenverbindung herstellen. Übereinstimmung der Zentrallappen testen. PAL: Ausführung.« »Ausgeführt. Leichte Irritation des Trigeminusnervs. Erwarte Korrekturinstruktionen.« »Sektion sechzehn, fertig zum Korrigieren.« »Fertig.« »Bericht.« »Ursache lokalisiert und beseitigt.« Tousles Vorgehen war wissenschaftlich und methodisch. Jeder einzelne Gegenstand wurde gründlich überprüft und nochmals überprüft. »Aufzeichnungen für Rassenvergleich überprüfen.« »Überprüft.« »Teil: Wirbelsäule. Medulla oblongata.« »Fertig.« So wurde in Tousles Haus gearbeitet. Einige Meilen weiter ging die Sache dagegen schneller, aber weniger sorgfältig vonstatten. »Hornhautkorrektur 146, Start.« »Laterale Genikularkörperjustierung, Brechungsindex 0.99.« »Bestätigt. Tätigkeit ungenügend. Zweites Auge nicht in Funktion.« »Entfernen und laterales Bindehautzentrum korrigieren.« »Falsche Annahme. Laterales Bindehautzentrum nicht -35-
korrigierbar, schlage vor...« »Ich bin an deinen Vorschlägen nicht interessiert, PAL. Anweisung befolgen. Zweites Auge entfernen und wie folgt einsetzen...« »Annahme widersprüchlich. Zweites Auge muß korrellieren.« »Zur Seite, du blöder Schrotthaufen... Laß mich das machen.« Der PAL zog sich unsicher schlingernd zurück, während sein Herr nach vorn stolperte. Fast hätte er dabei die Maschine außer Betrieb gesetzt. Hamgar hatte seine persönlichen Kontrollen auf die allerhöchste Stufe gefahren und Laborausgänge gesichert. Nun raste er wie ein Wirbelwind durch den Raum. Der PAL war nur mit Mühe in der Lage, mit dieser schnellen Abfolge von Anordnungen Schritt zu halten. Es war unmöglich, den verrückten Forschungsandroiden zufriedenzustellen, auch wenn er wie ein Blitz die Experimentalanordnungen und Kontrollinstrumente auf der Hauptkonsole entlangraste. Das würde sein Geschöpf werden, so wahr er Hamgar hieß, und es würde lebendig sein, lebendig und besser als Tousles. Viel Zeit war nicht mehr. Der Rat der Eumigen sollte bald zusammentreten, und dann ging es nach Sylva zur Endentscheidung. »PAL Reparaturen an Hamgars Hauptschaltungssystem ausführen. Höchste Geschwindigkeitsstufe einstellen.« Bei seinen Anstrengungen, das Werk zu vollenden, waren Hamgar ein paar Schaltkreise auf dem eigenen Rücken durchgebrannt. Der PAL arbeitete wie ein elektronisches Diagramm durch seinen Herrn, an seinem Herrn. Wie besessen stürzte er sich auf Hamgars Rücken, riß Schaltdrähte heraus und versuchte verzweifelt mit den Bewegungen des Roboters Schritt zu halten, während er das komplizierte Gewirr winzigster Schaltungen wieder instandsetzte. Catralteilchen flogen quer durch das Laboratorium, -36-
Schaltungen wurden hastig ausgetauscht. Für Sekunden erblickten »Paetle«-Elemente das Tageslicht, um kurz darauf wieder im Leib einer der vielen Stücke zu verschwinden, die gerade gebaut oder repariert wurden. Inmitten diesen Treibens war eigentlich nur ein einziger Gegenstand völlig fehl am Platz: ein Eumigenauge aus Barrierestahl, dem widerstandsfähigsten Material im ganzen Universum. Dort, wohin es schließlich geriet, gehörte das Auge eigentlich nicht, aber es war keine Zeit, überhaupt keine Zeit. Hamgar fluchte heftig und zwang schließlich seine Computer, sich mit einer wissenschaftlichen Abnormität abzufinden. Dank der Genauigkeit eines logischen Robotergehirns war der Körper des Geschöpfs bis auf diese eine Ausnahme in jeder Hinsicht vollkommen. »Ausgänge sichern, PAL, ich möchte diese Sprachtests ohne jede Störung durchführen.« Tousle hob den schlaffen Körper aus der Bio-Kammer, in der der Hauptteil der Arbeit durchgeführt worden war. Wie ein Riese, der ein Kind trägt, bewegte er sich mühelos durch das Labor und ließ seine Last schließlich behutsam auf einem Kraftfeld nieder. Dort schwebte sie nun nackt, aber wohlgebettet, in den Armen der Luft. Ihr Körper war ungefähr zwei Meter groß, schlank, langbeinig und von rosiger Wärme durchflutet. Noch schlief sie und wartete darauf, von Tousle zum ersten Mal geweckt zu werden. Ihr dunkles Haar fiel seidenweich über ihre Schultern. Es war so frisiert, wie das beim Tode ihrer Art modern gewesen war, mit abgestuften Locken, die am Hals in eine dichte Krause übergingen. Auf ihrem schlanken, zarten Hals saß ein edler Kopf. Der Kopf eines Weibes von wacher Intelligenz, mit breiter Stirn und rundem Hinterkopf, einer kleinen Nase und großen Augen. Über ihrem vollkommenen Kinn wölbten sich ihre vollen Lippen. Die sinnlichen, starken Züge einer schönen Frau, mit energischer Stirn und sanften Grübchen. Noch hielt sie die schweren Lider geschlossen, ahnten ihre Augen nichts von -37-
der fremdartigen Welt, die sie umgab. Doch ihr Hirn war bereits über alles informiert, mit allem vertraut. Mit einer Aufnahmefähigkeit von über 80 Prozent arbeitete es mit einem Wirkungsgrad, den ihre eigene Rasse niemals erreicht hatte. Sanfte roboterhafte Riesen erschufen nun die seit langem ausgestorbene menschliche Rasse neu. Das Werk eines genialen mechanischen Androiden. Ihre langen starken Arme lagen ruhig am Körper. Ihre Schultern waren schön und besaßen doch die Kraft, ein Leben zu ertragen. Zartgliedrig und rund falteten sich ihre Hände, die Finger waren lang und spateiförmig; die Handflächen ästhetisch und eben. Der schlanke Torso barg die rosigen Organe neuen Lebens, zart noch, aber künftiger hoher Belastung fähig. Die Haut war straff, aber weich und sanft zugleich; jede Rundung ihres Körpers war das naturgetreue Werk eines Meisters. Die Schlüsselbeine hoben sich wohlgeformt vom Körper ab, ihr straffer, üppiger Busen würde das Kind nähren, das die Eumigen sich so sehr wünschten. Auf den sinnlichen Hügeln schwollen in zartem Braun und Rosa prächtige Brustwarzen. Sanft neigten sich die beiden Brüste auf einen zierlichen Rippenbogen, den elastische, zarte Haut umspannte. Den Nabel umgab ein flacher Bauch, aus dessen unterer Senke sich der Venushügel emporwölbte. Ein kleines Dreieck aus seidig gelocktem Haar bedeckte ihn. Schwarz und dick, wie ein Schutzwall, aber wozu? Sie war vollendet gebaut, mit ihren Hüftknochen, die ein ganz klein wenig, aber nicht zu wenig, herausstanden. Aber leider sah der Plan eines nicht vor: einen Mann. Was für eine Verschwendung! Solch eine schöne Frau, und kein Mann, der ihr sagen konnte, wie schön sie war. Tousle berührte das wenig. Dies war seine Schöpfung, eine wissenschaftliche Kunstform. Er betrachtete sie wohlgefällig. Tousle hatte in seinem langen Leben als Kreaturforscher viele Geschöpfe gebaut. Aber keine unter ihnen war so wichtig oder so schön gewesen, wie diese hier. Es hatte fast ein Jahr gedauert, -38-
das Werk zu vollenden, denn ihr Körpergewebe und ihre komplizierten Organe waren nicht einfach in der Herstellung gewesen. Absolute Genauigkeit und Sorgfalt waren vonnöten gewesen. Tousle hatte auf die Schöpfung, die jetzt vor ihm lag, mehr Sorgfalt und Kraft verwandt als auf alles andere in seiner Laufbahn. Wie ein brillanter Bildhauer hatte er jede einzelne Kurve voller Zärtlichkeit modelliert, jedes einzelne Organ vollendet gebildet. Der Rat der Eumigen würde sich freuen, Timion würde sich freuen, und Hamgar würde toben. Er hatte seine Aufgabe ohne fremde Hilfe erfüllt und endlich konnte er sein Werk vorstellen. »Wecke sie auf, PAL.« Die kleine flache Scheibe schwebte auf ihren Kopf herab und berührte sanft ihre Stirn. Sie öffnete die Augen. Ohne jede Kopfbewegung ließ sie ihren Blick über das Laboratorium wandern. Mit jeder Bewegung ihrer Augen nahm sie mit der Genauigkeit einer Kamera jede einzelne Information ihrer Umgebung in sich auf. Jetzt bewegte sie kaum merklich ihren Kopf und betrachtete erst den PAL, dann Tousle. Ohne den Blick von dem Eumigen vor ihr zu wenden, ließ sie ihre Hände langsam über ihren Körper gleiten. Den Blick immer noch auf Tousle gerichtet, tastete sie forschend und zärtlich über jede einzelne Erhebung und Vertiefung, jede Kurve ihres Körpers. Schließlich hatte sie ihre Entdeckungsreise beendet. Sie öffnete den Mund. »Ist ein Spiegel da?« Ihre weiche, leise Stimme brachte die Worte mit solcher Sicherheit hervor, daß Tousle eine Sekunde zögerte. Der PAL nahm die Botschaft auf und errichtete vor ihrem Körper einen Reflektor. Dazu fuhr er mit einem seiner Fühler durch die Luft und machte die Atome seinen Zwecken gefügig. Die Entdeckungstour begann von neuem. Diesmal blieben die Hände untätig, während die Augen jede einzelne Form aufnahmen, immer wieder schweigend, ohne jeden Kommentar, über jede -39-
einzelne Körperrundung glitten. Tousle sah, wie ihre Pupillen sich ein wenig erweiterten, als sie das Licht ihrer eigenen Formen in sich aufnahmen. Dann richteten sich ihre Augen wieder auf ihn. Sie sah ihn ziemlich lange an. Ihre Blicke schweiften nur über seinen Kopf und seine Schultern. Wieder nahm sie ohne jeden Kommentar oder ein Anzeichen von Überraschung von dem Unterschied zwischen seiner und ihrer äußeren Erscheinung Notiz. Dann erhob sie sich und stand vor dem Reflektor, den ihr der PAL hilfreich zur Verfügung gestellt hatte. Jede Muskelbewegung wurde ihren Augen mitgeteilt. Sie ließ ihre Arme kreisen, streckte erst das linke, dann das rechte Bein, schwang sich in den Hüften, krümmte den Rücken, warf das Haar zurück, berührte ihr Gesicht. So testete sie jede einzelne Körperreaktion. War sie richtig so, zuverlässig und anmutig genug? Dann wandte sie sich, offensichtlich zufrieden mit dem Ergebnis, an Tousle. »Merkwürdig. Ich habe höchstens vier Worte gesprochen, und doch weiß ich schon so viel. Ich lebe erst seit ein paar Minuten, und doch sind mir viele Stunden bewußt. Mein Geist scheint Wissen ohne jede Erfahrung zu besitzen. Ich habe noch kein Gedächtnis, aber ich erinnere mich an alles, bevor ich lebte. Ich verstehe jede Einzelheit meines Körpers, jede Besonderheit meines Geistes, und doch berührt mich nichts von außen. Ich sehe Dinge, die ich noch nie gesehen habe, ich kann mir Bilder vorstellen, an denen ich niemals vorbeigegangen bin, ich kann jeden einzelnen meiner Körperteile finden und benennen, kann jede Einzelheit an dir sehen und glauben, daß sie da ist, und doch bin ich eben erst geboren worden.« »Das ist richtig.« »Und du bist mein Schöpfer.« »In der Tat.« »Du öffnest mir deinen Geist wie ein offenes Buch. Du läßt -40-
mich in deine Gedanken, deine erstaunlichen Schaltkreise, dein ausgedehntes Wissen eindringen. Ich empfinde Vertrauen.« »Das ist beabsichtigt. Dein Leben ist neu, und du sollst deine Umgebung nicht fürchten. Du bist hier ganz sicher, und wir wünschen, daß du ganz entspannt und ohne Furcht bist. Du sollst haben, was immer du begehrst. Der PAL wird deine Anweisungen lesen, die hörbaren, wie die unausgesprochenen, und wird dir jeden Wunsch erfüllen.« »Ich bin die einzige Frau hier, nicht wahr?« »Ja.« »Ihr werdet keinen anderen Menschen bauen.« »Nein, das haben wir nicht vor.« Sie verstummte. »Gibt es ein Problem?« »Ich fühle mich sehr einsam.« »Aber wir sind doch da... auf diesem Planeten gibt es Tausende von uns, und jeder einzelne von uns möchte dir helfen, möchte, daß du glücklich bist.« »Aber es ist kein Mensch da, nichts Lebendiges.« »Auf Zrost nicht.« »Nein.« »Du zeigst Anzeichen von Traurigkeit, starke Wellen von Traurigkeit. Ich hatte nicht berechnet, daß das so sein würde.« »Ich glaube, man kann nicht alles berechnen, Tousle.« »Nein, es sieht nicht danach aus. Was würdest du vorschlagen?« »Du hast mich gemacht. Warum machst du nicht noch einen?« »Das ist nicht möglich. Wir brauchen nur einen. Aber du wirst einen anderen zur Welt bringen.« »Auf künstliche, nicht auf natürliche Weise.« -41-
»So ist es.« »Ich finde das nicht gut.« »Wo ist da der Unterschied? Das Ergebnis wird das Gleiche sein.« »Nein.« Das mußt du mir erklären.« »Das Kind wird durch... durch Chemie gezeugt werden, nicht durch die Natur.« »Das ist das gleiche. Ein Menschenkind entsteht durch Chemie, die Chemie des Körpers - deines Körpers. Der Samen wird lediglich durch einen Mann injiziert. So war das jedenfalls. Aber selbst in der Spätzeit des Menschen war die künstliche Befruchtung weitverbreitet.« »Ich wollte, es könnte anders sein.« Einen Moment herrschte Schweigen. »Mir ist kalt«, sagte die Frau. Möchtest du, daß ich die Temperatur anhebe?« »Nein, ich möchte Kleider.« »Aber wir müssen deinen Körper testen, und mit Bedeckung geht das nicht so gut.« »Trotzdem möchte ich nicht nackt sein.« »Warum nicht?« »Weil... weil du mich sehen kannst.« »Das ist doch nur logisch.« »Es mag logisch sein, es ist aber auch... jedenfalls nicht das, was ich möchte.« »Man kann nicht immer haben, was man möchte.« »Aber du hast gesagt, daß ich das könnte.« »Erst müssen wir experimentieren und die Reaktionen deines Körpers beobachten. Was macht es denn schon, wenn ich dich -42-
zu diesem Zweck nackt sehe?« »Ich habe keine Privatsphäre. Ich bin in eine fremde Welt hineingeboren worden und kann Sachen tun, die zu lernen man normalerweise Jahre benötigen würde. Und doch bin ich nackt, nackt wie ein neugeborenes Baby. Du kannst mir das nicht antun und erwarten, daß ich anders reagiere, als jetzt.« »Es tut mir leid, aber ich verstehe dich nicht.« »Ich bin eine Erwachsene, ich bin eine Frau, eine Angehörige der menschlichen Rasse. Ich empfinde Unsicherheit, ich brauche die Geborgenheit der Privatsphäre.« »Verlegenheit angesichts einer metallenen Maschine?« »Du zeigst alle Züge des Lebens.« »Aber du weißt, daß ich nicht lebendig bin.« »Trotzdem. Wenn du mir keine Kleider gibst, werde ich zuerst ganz laut schreien, und dann werde ich mich weigern, bei deinen Experimenten mitzumachen.« »Ich verstehe.« Tousle verstand überhaupt nichts, aber offensichtlich blieb ihm nichts anderes übrig. »Beeil dich bitte.« »Na gut. PAL, besorge passende Kleidung.« Der PAL gehorchte ohne Frage. »Danke.« »Sobald du dich angezogen hast, werden wir mit ein paar einfachen Intelligenztests anfangen.« Die Frau streifte die Kleider schnell und fachmännisch über. »Danke. Die Kleider passen gut.« »Gut. Wärst du so freundlich ein paar Fragen zu beantworten?« »Wenn ich kann.« »Sicher kannst du. Fangen wir mit ein wenig einfacher Logik an. Was ist eine Propositionale Funktion?« -43-
»Eine Gleichung wie zum Beispiel ›X ist sterblich,‹ die sich durch Einsetzen eines bestimmten Wertes zu einer Präposition umformen läßt.« »Gib mir ein Beispiel für eine Subjekt-Prädikat Präposition.« »Sokrates ist sterblich.« »Gut.« »Trotzdem ziemlich langweilig.« »Wenn du in einer logischen Welt überleben willst, ist Logik absolut unentbehrlich.« »Na gut, mach weiter.« »Gib mir ein Beispiel für die Logik der Begriffe.« »Nun, es gibt eine Präposition, die besagt, daß es Menschen gibt, und alle Menschen sind sterblich. Damit ist impliziert, daß einige Sterbliche Menschen sind, was gleichzeitig unvereinbar ist mit der Behauptung, einige Menschen seien nicht sterblich, was hier wiederum nicht im Widerspruch zu dem Satz steht, daß einige Menschen sterblich sind. Daher impliziert ›keine Menschen sind sterblich‹ gleichzeitig, daß keine Sterblichen Menschen sind und steht zu dem Satz in Widerspruch, daß einige Menschen sterblich sind. »Gut, sehr gut. Weiter so.« »Keine Sterblichkeit mehr, bitte. Was soll da der Witz sein?« »Logik, meine Liebe, Logik, das ist der Witz.« »Aber du weißt, daß ich das alles weiß, wie ein verdammtes Buch bis hin zum Funktionenkalkül. Ich kann Paranouus bis ins letzte Wort zitieren - aber das muß ich doch nun wirklich nicht, oder?« »Na gut. Versuchen wir’s mal mit etwas Universalphysik.« »Na gut.« Sie seufzte. »Was besagt die Theorie der Zeitreise?« »Daß alle Dimensionen isoliert voneinander sind und nur -44-
durch die Existenz der Materie miteinander in Verbindung stehen.« »Dann ist also die Zeitreise ohne Materie möglich?« »Nicht unbedingt. Es ist einfach noch nicht bewiesen worden, daß die Zeit sich auch ohne Materie als Dimension bewegt.« »Wer hat die Zeitreise als Wissenschaft entdeckt?« »Paranecius III.« »Worin besteht die theoretische Grundlage des Teleporters?« »Die logische und gegliederte Wiedergruppierung auseinandergerissener Atome.« »Erkläre mir das 4D-Bild.« »Ein 4D-Bild wird von einem Glas-Kristall im Zustande einer molekularer Unruhe hervorgerufen. Die computerisierten ExonStrahlen werden in gebündelter Form in den Kristall hineinprojiziert, der sie an ein ebenso computerisiertes ExonKraftfeld weitervermittelt. Mit jeder Bewegung ändert der Kristall seine Projektionsverteilung entsprechend dem Exon. Daher erhält man von der Innenseite der Projektion aus einen Blick auf die Rückseite und eine Vorderansicht von außen.« »Gut, ganz hervorragend sogar.« »War das alles?« »Noch nicht ganz, nur noch ein paar Fragen mehr. Wir wollen einmal ein paar bunt zusammengewürfelte Wissenschaften testen.« »Ich kann’s gar nicht erwarten.« »Was versteht man unter Klonen?« »Die Wissenschaft von der Duplikation lebenden Gewebes.« »Was bildet die Grundlage des Geistes?« »Die vierundfünfzig Prozent Effektivitätsgrad überschreitende Funktion physiologischen Gewebes.« »Wer war Jesus Christus?« -45-
»Ein besonders bekannter Philosoph, Jude und Philantroph, der während der Frühzeit des Menschen auf der Erde lebte. Er wurde in dem AD I genannten Jahr geboren und starb durch Kreuzigung im Jahre AD 33. Er schuf die Religion des Christentums, die dem Menschen fast dreitausend Jahre lang seinen allgemeinen Wissensmangel und die Unsicherheit seiner Existenz erträglich machte. Spätere Zeitreisende fanden heraus, daß er ein hochbegabtes mediales Genie war, vergleichbar nur mit Gerontimus Galthara, dem zweiten Christus, der im achtundzwanzigsten Jahrhundert die Wissenschaftsreligion gründete und damit eine Entwicklung einleitete, die schließlich auf der Erde zur Ersetzung des Christentums durch diese neue Religion führte.« »Wer war Mantua?« »Der erste Multi-Mensch.« »Was war ein Multi-Mensch?« »Eine Entwicklung der genetischen Wissenschaft, die den Menschen befähigte, Wesen zu schaffen, die über mehrere Ebenen geistiger Kapazität gleichzeitig verfügten. Dies wurde ermöglicht durch die künstliche Reproduktion mutierter Gene und verschiedener Erscheinungsformen des Animan.« »Was verstand man unter einem Animan?« »Ein Wesen, halb Mensch, halb Tier.« »Warum war es als Wissenschaft ein Fehlschlag?« »Wegen der genetischen Revolutionen.« »Gut. Du hast bestanden.« »Natürlich. Hattest Du etwas anderes erwartet?« »Du zeigst ziemlich irdische Züge von Arroganz.« »Du hast mich geschaffen.« »In der Tat. Nun ein paar physiologische Tests.« Tousle bedeutete ihr. -46-
»Soll ich einen Kopfstand machen?« »Wenn du möchtest. Allerdings halte ich es für ziemlich überflüssig.« »Genau so überflüssig wie die Funktion von X als sterblicher Mensch.« In Tousles Ohr ertönte plötzlich ein durchdringendes Geräusch das Warnsignal der Eumigen. »Verringere die Leistung PAL, komm her, du blöder... hol ihn da weg, du...!« Hamgar holte aus und versetzte dem PAL einen Schlag, der ihn quer durch das Labor fliegen ließ. Der Mann stand unsicher auf seinen Füßen, rieb sich das rechte Auge und suchte nach Halt. »Zum Teufel mit allen Sylvanischen Planeten, halt ihn fest! Du sollst meine Anweisungen befolgen! Halt ihn fest, PAL!« Der PAL legte seine Tentakel um die Schultern des Mannes und versuchte, ihn wieder auf die Liege zurückzuschieben. Aber seine Stärke reichte nicht aus, und die geschundene Maschine mußte einen weiteren Hieb einstecken, diesmal von dem lebendigen Wesen vor ihm. Sie fiel hilflos zu Boden. Der Schlag hatte sie von ihrem Kraftfeld getrennt. »Betäuben, um Anchors willen, betäube ihn doch!« Keine Antwort. Mit zwei Schritten war Hamgar auf der anderen Seite des Laboratoriums und umfaßte die Arme des Mannes mit beiden Händen. Jener reagierte sofort. Sein rechtes Auge lief dunkelrot an. Seine langen, kräftigen Arme stemmten sich gegen die gewaltige Stärke des Eumigen, zwangen die mächtigen Hände nach oben. Hamgar ließ die Arme nach unten sausen und lockerte seinen Griff. Er fühlte das brennende Auge, das eine stählerne Auge, das Roboterauge, das er dem Manne so gedankenlos implantiert hatte, nur um Zeit zu gewinnen. Das war ein Fehler gewesen, ein schlimmer Fehler. Er konnte nicht zurückschlagen, konnte dieses Wesen jetzt nicht beschädigen, -47-
nicht mehr jetzt, wo er es geschaffen hatte. Der Mann traf Hamgars Kopf mit einem dröhnenden Schlag. »Mögen die Götter...« Der Mann richtete die verheerende Kraft seines Auges auf Hamgars Brust. Instinktiv zielte er auf das Schaltzentrum des Roboters. Ein schneller Feuerstoß, und Hamgars Schaltkreise baumelten lose herab. Aber dennoch reichte das noch nicht. Hamgar streckte die Hand nach der Hauptkonsole aus, ergriff rasch die Betäubungspistole die dort für solche Notfälle in Bereitschaft lag, zielte auf die Brust des Mannes und schoß. Der erste Betäubungsstrahl warf ihn zur Seite. »Zum Teufel mit meiner eigenen verdammten Klugheit, so stark wie ein gesprengtes Raumschiff.« Ein zweiter Schuß und der Mann stürzte, richtete sich aber mühsam wieder auf und verstärkte den Strahl des Auges gegen Hamgars Kopf. Noch ein Betäubungsstrahl und der Mann fiel wieder hin, nur um sich wieder emporzukämpfen. Hamgar drückte einen Knopf an seinem Arm und ein durchdringendes Heulen ließ den Planeten erzittern, eine gigantische Sonarsirene die jeden Eumigen an der Oberfläche betäubte - das Notsignal auf Zrost. Innerhalb weniger Sekunden sprang die Laboratoriumstür auf und der Mann wurde durch Strafstrahlen festgesetzt. »Besorgt mir einen anderen PAL, brauche schnell Reparatur, nehmt den Menschenmann... bringt ihn zu Tousle, schnell. Seid vorsichtig, verletzt ihn nicht, wertvoll, einzigartig, nicht...« und Hamgars Sinne verloren den Kontakt zu seiner Umwelt. »Ich möchte dich darauf aufmerksam machen, daß du zu unseren Zwecken hier bist. Daß wir dich gebaut haben, damit du uns bei einem viel wichtigeren Projekt als der Bedeutung des Menschen hilfst.« »Ihr seid hart.« »Nein, ich habe nicht die Absicht, hart zu sein. Ich habe dich -48-
geschaffen, ich wünsche nicht, daß du unglücklich bist.« Tousle legte seine große Hand auf ihre Schulter. »Du wirst dich an unsere Art gewöhnen, du wirst dich nicht lange einsam fühlen, das ist nur vorübergehend...« die letzten Worte brachen ab, als der Warnton durch Tousles Kopf fuhr. »Notfall, Hamgar...« Tousle eilte aus dem Laboratorium ins Freie und konzentrierte seine Gedanken auf den Notfall in Hamgars Laboratorium. Er visualisierte das Laboratorium und wurde so Zeuge des ganzen Dramas, so, wie es sich abgespielt hatte. Als er sah, wie der Mann gefangengenommen wurde, kehrte er wieder in sein Laboratorium zurück. »Es scheint, daß du vielleicht deinen Willen haben wirst«, sagte er zu der Frau, während er halb an die Konsequenzen dieser Äußerung dachte. »Meinen Willen... einen Mann? Ich seh’s dir an, es gibt einen Mann, hier auf Zrost, irgendwo ganz in der Nähe.« »Ja, ich habe dich gut gebaut, du hast gesunde Instinkte. Es gibt einen Mann, und wie es scheint, kann er sich sehen lassen. Hamgar hat ihn gebaut, der verrückte Eumige Hamgar. Du wirst ihn bald zu Gesicht bekommen. Aber fürs erste warte hier, der PAL wird sich um dich kümmern.« Die Frau dachte nach. »Tousle?« »Ja?« »Du hast einen Namen, ich nicht.« »Wie sollen wir dich denn nennen? Ich weiß... Chaos.« »Aber ich bin kein Chaos.« »Für mich bist du es.« Chaos ging mit dem PAL davon, während Tousle blieb, um auf den Mann zu warten. Der Unfall war passiert, nun konnte er nur noch warten und beobachten.
-49-
IV Zwar hatten die Eumigen, bei all ihrer mechanischen Weisheit, die Ankunft von Chaos vorhergesehen. Die Notwendigkeit irgendeines Lebewesens, durch das sie wenigstens den Minimalanforderungen der gesetzlichen Anforderungen des Sylvanischen Codes Genüge tun würden, war von ihnen in langen Überlegungen, Debatten und Diskussionen erwogen worden. Aber niemand hatte Stahlauges Ankunft in Betracht gezogen. Niemand, nicht einmal der arme Hamgar, hatte in seinem komplexen Schaltsystem eine Vorstellung davon gehabt, daß sich bald ein Mann auf ihrem Planeten bewegen würde. Und was für ein Mann! Stahlauge war zweieinhalb Meter groß, breitschultrig und von immenser Stärke. Bis auf das erstaunliche Auge waren seine kantigen Gesichtszüge ebenmäßig und ohne jeden Makel. Seine Nase war lang und wohlgeformt, sein Mund leidenschaftlich und stark, sein energisches Kinn wies ein leichtes Grübchen auf, und sein Haar war dick und blond. Sein eines echtes Auge war blau, mit einem Anflug von Grün und dem Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit. Seine Gesichtsmuskulatur war präzise und ausdrucksvoll. Aber das andere, stählerne Auge war erstaunlich. Es war etwas größer als das echte Auge, paßte genau in seine Höhlung und ließ ihn keineswegs grotesk aussehen; eher gab es seinem Gesicht den Ausdruck verhaltener Macht. Wenn sein Blick jemanden traf, sah ihn das Stählerne Auge mit träger Selbstsicherheit und ohne jedes Wimpernzucken an, während sich das andere ganz normal bewegte. Hinter dem Auge befand sich ein dichtes Gewirr von Kraftbahnen, die völlig unabhängig vom übrigen Körper waren und einen Hitzestrahlumwandler extremer Wirksamkeit und Energie enthielten. Die Energie, die er abstrahlen konnte, reichte aus, eine ganze Raumschiffflotte im Flug schrumpfen und -50-
verbrennen zu lassen. Genau hinter dem Augapfel befand sich auf winzige zwei Quadratzentimeter zusammengedrängt, eine Entwicklung, die der ganze Stolz der Eumigen war: der Miniaturblaster. Er war stärker und verheerender als die meisten Handblaster, die von den Sylvanern benutzt wurden, und hatte, da er im Auge untergebracht war, den zusätzlichen Vorteil des Überraschungsmoments. Die Hitze, die diesem Auge entströmte, blieb jedoch ohne jede Wirkung auf das umgebende Körpergewebe des Kopfes, und der gewaltige nukleare Feuerstoß verursachte seinem Träger nicht das geringste Unbehagen. Seine Beine waren lang und kräftig, seine Arme stark und wohlgeformt, seine Hände lang und sensibel, aber dennoch fest und zupackend. Er war größer, stärker, gefährlicher, liebevoller, ehrgeiziger als jeder andere Mann zu der Zeit, als noch Männer lebten. Ein außergewöhnlicher Mann, und der einzige Mann. Die Eumigen waren fasziniert, und die arme Chaos stand ein wenig in seinem Schatten. Aber sie hatte nicht das Geringste dagegen, denn hier war ein Gefährte ihrer eigenen Art, ein Mann. Hamgar hatte Stahlauge ein wenig zu schnell, ein wenig zu abenteuerlich gebaut. Aber das Ergebnis war eindrucksvoll. »Sieh da, der unerwartete Mann.« »Ja, ich selbst habe auch das Gefühl, nicht so ganz willkommen zu sein.« Tousle saß Stahlauge und Chaos in seinem Laboratorium gegenüber. »Das Unerwartete ist immer unwillkommen, besonders für einen Androiden. Du bist kein Teil unseres Planes, daher erscheinst Du uns nicht logisch. Eines muß ich Hamgar allerdings lassen: er hat dich gut gebaut, von diesem Auge mal abgesehen.« »Ich wüßte gar nichts von seiner Existenz, wenn ich nicht in einen Spiegel geblickt hätte. Ich sehe damit genau so gut wie -51-
mit dem richtigen Auge, ich kann aber seine Linse erheblich weiter fokussieren als die des anderen Auges; und ganz offensichtlich birgt es eine Waffe, die mir nützlich werden kann.« »Wie das?« »Nun, ich nehme an, daß einige Aufgaben auf mich warten.« »Zum Beispiel?« »Die Sylvaner. Ihr möchtet die Föderation kontrollieren, und ich werde Euch dabei helfen.« »Allein?« »Sicher doch. Warum glaubst Du, daß ich das nicht könnte?« »Weil das Sylvanische Imperium enorm stark ist und ungeheuer mächtig. Selbst wir würden uns nicht herausnehmen, es anzugreifen, und wir haben eine Stärke von 60.000.« »Aber ihr seid Androiden.« »Und?« »Ich bin ein Mensch. Ich werde Euch führen.« »Aha.« Stille trat ein. Als Roboter neigte Tousle nicht zu Gefühlsaufwallungen. Arroganz ärgerte ihn nicht, Eingebildetheit so wie diese belustigte ihn nicht, aber er kannte diese Gefühle des Ärgers und der Belustigung. Er wußte, daß sie angebracht gewesen wären, wäre er ein Lebewesen gewesen. »Du bist dir darüber im Klaren, daß du uns mit deinem Angriff auf die Föderation in Gefahr bringen kannst?« »Natürlich, aber ohne eine gewisse Gefahr oder Risiko gibt es auch keine Leistung. Und ihr wollt doch eine wichtigere Rolle in der Regierung von Sylva spielen, oder nicht?« »Vielleicht.« »Nun, mit einem Kind werdet ihr das nicht schaffen, da könnt Ihr ganz sicher sein.« -52-
»Und du möchtest, daß wir dich für eine solche Aufgabe freigeben?« »Ich werde nicht weiterleben, wenn ihr mich nicht freigebt; denn ich werde bei dem Versuch sterben.« »Warum?« »Warum nicht?« »Ich könnte mir vorstellen, daß ein irdischer Mensch eine solche Antwort als ziemlich schwache Begründung dafür betrachten würde, dein und unser aller Leben aufs Spiel zu setzen.« »Ich bin ehrgeizig, idealistisch und stark. Ich habe nicht vor, im Paradies Zrost herumzuhocken und meinen Bauchnabel zu betrachten.« »Das verstehe ich. Dank Hamgar scheinst du über ein extremes Maß an Energie zu verfügen, aber man muß nichts überstürzen, mein Freund. Ein wenig Planung würde dir nicht schlecht zu Gesicht stehen.« »Ich habe meine Pläne bereits gemacht. Als erstes muß ich mir eine Maske besorgen und den Komplex Sylva besuchen.« »Hmmm, das sind die Probleme des sofortigen Wissens. Wärest Du geboren worden, hättest du sehr langsam lernen müssen.« »Ich wurde aber nicht geboren. Ich wurde gebaut, und ihr habt mir all das Wissen gegeben, über das Ihr selbst verfügt. Also werden meine Entscheidungen auch sofort getroffen. Ich werde am Morgen nach Sylva Sechs aufbrechen, und zwar über Cathandramis.« »Warum willst Du nicht gleich gehen?« »Weil ich erst Chaos ein wenig näher kennenlernen möchte, meine Frau Chaos.« »Du fühlst also doch Mitleid, Liebe usw., all die legendären Gefühle der Menschen?« -53-
»Ich bin ein Mann, Tousle, auch mit diesem Auge bin ich ein Mann, und es kann vielleicht lange dauern, bis ich das einzige andere Mitglied meiner Rasse wiedersehe. Also möchte ich wenigstens eine Nacht lang das Bett mit ihr teilen.« »Natürlich.« Schweigen. »Wie wirst du Cathandramis erreichen?« »Über Teleporter.« Die Nacht auf Zrost war lang. Die Dunkelheit brach herein und hielt fast zwölf volle Stunden an. Die drei weit entfernten Sonnen, die die Welt der Eumigen mit Licht und Wärme versorgten, vereinigten in dieser Halbnacht ihre Strahlen, um den Himmel mit einem unruhigen Farbenspiel zu überziehen. Stahlauge stand nackt am Fenster. Dort, wo er stand, war die Materie durchsichtig, und er blickte durch die beiden Oberflächen hindurch auf den windgepeitschten Himmel. Er betrachtete die vielfarbige Luft, die grünen Wolkenberge und die funkelnden Sterne, die die Farbe einfingen und wie ein buntschimmernder Weihnachtsbaum zurückwarfen. Der Wind blies über das Land und wirbelte kleine Staubwolken auf, die noch weitere Farbbrechungen erzeugten und den Boden in Regenbögen aus buntscheckigen Trümmern verwandelten. Das Land war grün hier draußen, weit entfernt von der Stadt. Hier in ihrer kleinen Behausung waren sie unter sich und wurden nicht von den trockenen rumpelnden Geräuschen der mechanischen Eumigen gestört. Denn die Eumigen ruhten auch des Nachts nicht. In ihrem Schlupfwinkel genossen Mann und Frau das Privileg stiller, warmer und geschützter Privatsphäre. Zu dieser Zeit wußte niemand außerhalb des Planeten der Eumigen von Stahlauge oder Chaos, und Stahlauge war schmerzlich bewußt, daß dies vielleicht die letzte Nacht seines Lebens sein mochte, die er in völliger Sicherheit mit der Frau -54-
verbringen durfte, die er liebte. Durch die Erkenntnis, die ihm verliehen worden war, kannte er sie genau so, wie sie war, und er liebte sie um ihrer selbst willen. Bisher hatte es kein Erwachsenwerden für ihn gegeben, er war es unvermittelt gewesen. Bisher hatte es kein Lernen, keine Bildung gegeben, nur die Entdeckung bereits vorhandenen Wissens. Sein Körper hatte niemals zuvor ihren Körper geliebt, aber er kannte sie durch und durch; jeden Schatten ihrer Bedürfnisse, jede Einzelheit ihrer Gestalt, alle Windungen ihres Geistes; denn sie waren Liebende, und sie verbargen ihre Gedanken nicht voreinander. Ihr Zusammenwirken würde total sein, ihre Interaktion vollkommen, bestimmt von den langsamen, tastenden, neckenden Annäherungen zweier langjähriger Liebender, die noch nie geliebt hatten. Er wandte sich zu ihr und betrachtete sie. Auf ihren nackten, glatthäutigen Körper fiel ein leichter Schatten. Er hatte gewußt, was er sehen würde, hatte aber nicht die leiseste Ahnung von den Empfindungen gehabt, die dieser Anblick in ihm hervorrufen würde. Chaos erriet seine Gedanken. Sie drehte sich schweigend um und legte sich langsam aufs Bett. Stahlauge kam zu ihr, setzte sich auf die Bettkante und ließ seinen edlen Kopf auf ihren Unterarm sinken. Ohne jede Aufdringlichkeit, ohne Forderung war dieses erste scheue Berühren. »Stahlauge?« »Ja?« »Ich möchte, daß du mich küßt.« Stahlauge kam näher und berührte ihre Lippen mit den seinen. Ihre Körperbewegungen verrieten das jahrtausendalte Wissen um seinen Zauber. Zum ersten Mal probierte sie die Macht, die sie über ihn hatte, aus. Seine Küsse waren zärtlich und doch verlangend, sanft, aber sicher, und ihr Körper ermutigte ihn mit seinen Bewegungen. Ihr langer, schlanker Rücken bog sich -55-
geschmeidig. Sie bot ihm ihre vollen Brüste dar, die sich auf ihrem nach hinten gebeugten Körper prall emporwölbten. Ihre Beine bewegten sich, spreizten sich leicht, sinnlich und fragend. Seine starke Hand glitt über ihren Körper nach unten, liebkoste ihre weiche Haut, fühlte - zum ersten Mal - die wirkliche Wärme, die sie gesucht hatte. Langsam rückte er näher, preßte seinen Körper sanft gegen den ihren. Ihre Haut berührte sich, tausendfach Zärtlichkeiten gebend und erwidernd; ohne sich von seine n Lippen zu lösen, legte sie ihr langes Bein über seine muskulösen Glieder und nahm ihn sanft in ihre Arme. Schweigend ließ sie den starken, erigierten Penis in sich hineingleiten. Es war dies alles eine ziemlich neue Erfahrung. Nichts davon kannten sie aus eigenem Erleben, alles war Entdeckung, war das Aufspüren und Zusammenfügen von etwas, von dem sie gewußt hatten, das es köstlich war. Aber die wirkliche Erfahrung war überwältigend. Ihre Seelen hatten sich einander geöffnet. Ihre Körper waren vollkommen willig und vollkommen ehrlich. Das Wissen darum, das sie die einzigen beiden Menschen in ihrer Welt waren, ließ sie ihre Liebe noch stärker erleben. Sie waren einsam und doch vereint, so daß sich Unsicherheit und das Gefühl des Aufeinanderangewiesenseins miteinander verwoben. Und der Wind strich segnend über sie hin, der Himmel warf sein farbiges Schattenspiel über ihre Körper, die sich zärtlich und langsam in vollkommener Harmonie bewegten. »Kannst Du Dir vorstellen, daß es in der ganzen Geschichte des Universums jemals zwei andere so unerfahrene, gerade erschaffene Wesen gegeben haben könnte, die einander so geliebt haben, wie wir eben?« »Es ist eine merkwürdige Erfahrung.« Stahlauge lag still da, während Chaos ihren Kopf an seine Schulter lehnte. »Zu wissen und doch nicht zu wissen. Zu ahnen bevor man weiß. Zu fühlen, was man erwartet hatte, ohne jemals irgend etwas gefühlt zu haben.« -56-
»Ich bin sicher, wir sind einzigartig. Es kann vor uns niemanden gegeben haben wie uns.« »Das Universum ist ewig, vorher und nachher, nachher und vorher, ohne Anfang oder Ende. In diesem Sinne sind wir nicht einzigartig, das sind wir nur in uns selbst.« »Wie kann es einen zweiten Stahlauge geben?« fragte Chaos. »Vielleicht gibt es Tausende und Millionen von mir. Wo Unendlichkeit ist, da ist auch Vervielfachung.« »Ich wollte, ich könnte eine Ewigkeit leben und eine Unzahl von dir kennen.« »Wir werden lange leben, vielleicht sogar Hunderte von Jahren. Wir werden viele Male lieben.« »Nein, du wirst weggehen, ich werde dich niemals wiedersehen.« »Ich schwöre dir, Chaos. Ich schwöre dir, daß ich dich lieben werde, solange ich lebe.« Sie lagen schweigend da. Eine plötzliche Traurigkeit über die Unausweichlichkeit ihrer Zukunft hatte sie erfaßt. Stahlauge wußte, daß er am nächsten Tag schon nicht mehr da sein würde, um vielleicht erst nach Monaten zurückzukehren, vielleicht aber auch niemals mehr lebend. Die Nacht verging, in Farben und Wind, die Nacht verging langsam.
V Die Zeit setzte wieder ein. Troks Todesstrahl traf nichts als Luft. Stahlauge war verschwunden. »Räumt hier auf. Gehen wir.« Trok stieß seine Befehle aus und verließ ohne jede weitere Zeremonie das bebende Theater. Stahlauge saß ruhig und schweigend in Actuals Bodenfahrzeug und dachte darüber nach, was sich soeben zugetragen hatte. Irgendwie hatte dieser Magier die Zeit -57-
angehalten und sie jetzt offensichtlich wieder in Gang gesetzt. Warum? Irgendwie hatte Actual von Stahlauges Dasein auf dem Planeten gewußt. Wie? Aus irgendeinem Grunde hatte er sich entschlossen, sein Leben zu retten. Auch hier wieder, warum? Wenn dieser Zeitmagier wirklich so großartig und so unbekannt war, wenn er kam und ging, um Geschöpfe wie Stahlauge zu retten, dann würde er kaum wieder die Erlaubnis bekommen, in der Föderation aufzutreten. Dafür würde Trok sorgen. Es mußte also irgendein letztes Motiv hinter seiner edlen Tat geben. Für irgend etwas, irgendeinen eigenen Zweck mußte er Stahlauge brauchen. Der Magier saß da und flimmerte in dem für ihn charakteristischen Stil nun etwas ruhiger. Die Körperverformungen änderten sein Aussehen jetzt nur leicht, er beobachtete die Kontrollinstrumente des Wagens, die das Fahrzeug auf den hochgelegenen Fernstraßen um die Stadt herum ins Ungewisse lenkten. Actual war jetzt hochgewachsen, größer als die meisten Sylvaner; seine Gesichtszüge, oder was man von ihnen erkennen konnte, waren glatt und klar geschnitten. Sein Kopf war in ein farbenprächtiges Tuch gehüllt, das als eine Art Burnus sauber über seine Schultern fiel. Weiter unten ging es in das Gewand über. Sein Aufzug hatte etwas leicht Theatralisches. Die Beine hatte er bequem am Boden des Fahrzeugs ausgestreckt, und er sprach kein einziges Wort. Diesen Sylvaner mußte man sich näher ansehen. Stahlauge ließ seine Hand über den Hinterkopf wandern, um ein Haar aus seinem dicken, buschigen Blondschopf auszureißen. Dann ließ er seine Hand wieder sinken und deponierte das Haar vorsichtig, ohne daß Actual es bemerkt hätte, auf dem Gewand des Magiers. Es blieb dort kleben. »Wohin bringen sie mich?« »Weg vom Zentrum, weg von Trok.« -58-
»Und Sie?« »Ich muß mich noch um andere Dinge kümmern. Ich werde sie außerhalb der Stadt absetzen und über einen anderen Weg in die Stadt zurückkehren.« Stille; durch Konversation war nichts zu gewinnen, und Actual hatte seine Gedanken dicht gegen Telepathie abgeschirmt. »So, Stahlauge, hier trennen sich unsere Wege. Sie werden eine Zeitlang sicher sein, aber ich schlage vor, daß Sie den Planeten schleunigst verlassen.« »Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen«, sagte Stahlauge. »Ohne Zweifel werden wir das. Auf Wiedersehen.« Stahlauge verließ das Fahrzeug, das in die Ferne davonraste. Actual trug noch immer das dünne, fast unsichtbare Haar auf seiner Schulter. Stahlauge ging mit seinem Hirnempfänger auf Empfang, denn das Haar war ein glänzender Sender, der ständig Signale aussandte und so verriet, wohin es sich bewegte. Ein zweites Bodenfahrzeug bog um die Ecke, und Stahlauge konzentrierte sein Auge auf die Straße. Ein gewaltiger Hitzestrahl fuhr direkt vor dem Wagen in die Straße und sengte eine n tiefen Graben in sie hinein. Dichte Qualmwolken stiegen aus den Flammen empor. Der Wagen hielt, und der Fahrer sprang heraus, einen Blaster schwingend. Stahlauge schlug ihm den Blaster mit einem einzigen Blick aus der Hand. Der Fahrer stürzte betäubt zu Boden. Stahlauge kletterte auf den Kontrollsitz und eilte den Signalen nach, die ihm mit hellem Klang Actuals Aufenthalt verrieten. Mehrere Kilometer voneinander entfernt rasten die beiden Wagen blitzschnell auf der Ringautobahn in die Stadt zurück. Stahla uge holte auf. Actual hatte geparkt, und zwar im Hauptgebäude der Sylvas. Stahlauge hielt an, um sich die nächsten Schritte zu überlegen. »Actual hat Zugang zu den Privatgemächern der Sylvaner, also -59-
muß er Teil ihres engeren Geflechts sein. Er ist jetzt da drin und geht immer tiefer in die unteren Stockwerke hinein.« Stahlauge verließ den Bodenwagen und sah an dem großen Gebäude empor, das sich nach Osten wie nach Westen je einige hundert Meter weit erstreckte. Die umliegenden Straßen waren ziemlich leer, wie gewöhnlich. Dieser Teil der Stadt war tagsüber von Arbeitern bevölkert, und nur wenige kamen vor Schichtende auf die Straßen. Es war heller Tag, und die dritte Sonne sandte ihr gleißendes Licht von Nordwesten in den von einer Kuppel umgebenen Komplex. Die Gebäude selbst waren nicht von Sylvanern bewacht, aber die meisten Eingänge ließen niemand hindurch. Sie waren zumeist mit Energieschilden abgeschirmt, die es unmöglich machten, ohne entsprechende Passierscheine oder besondere Erlaubnis Zugang zu den he iligen Gebäuden der Führer des Imperiums zu erlangen. Die Wände schwankten vor Stahlauge. Die Umrisse des Haupteinganges wendeten und drehten sich wie von Wind bewegt, und Stahlauge fröstelte etwas, als er den einzigen Weg entdeckte, der ins Innere führte. Er überprüfte seinen Gürtel. Er besaß eine TeleportAusrüstung, die innerhalb des Gebäudes ohne besonderen Auslöser nutzlos sein würden. Er hatte kleine Raketentriebwerke, die ihn über kurze Entfernungen tragen konnten, und er besaß einen winzigen Handblaster. Die Arrestrutschen, das wußte er, waren unsichtbar unmittelbar vor dem Eingang in den Boden gelassen, und ohne Passierschein würde jedermann, der versuchen wollte hindurchzugelangen, ohne jeden Laut verschluckt werden. »Die Arrestrutschen, das ist die einzige Möglichkeit. Aber was passiert da unten?« Er stand still, voller Zweifel. Er wußte überhaupt nichts über das, was sie verbargen. Aber er überlegte, -60-
während er leise mit angehaltenem Atem sprach, wie um sich selbst zu beruhigen. »Wenn die Passierscheine ungültig werden, veralten, wie das immer einmal der Fall sein muß, dann kann praktisch jeder verschluckt werden. Sie müssen ganz einfach Fehler machen, auch die Sylvaner, und wenn ein Sylva da hineingerät, möchten sie sicher nicht, daß er verletzt wird. Dafür müssen sie Vorsorge tragen, sie müssen ganz einfach. Aber wohin kommen sie? Was passiert, wenn sich die Falle schließt? Es kann nicht Hunderte oder Tausende von Gefängnissen geben, sie müssen den Körper zu einem Zentrum irgendwo im Untergrund der Stadt bringen. Das gibt mir Zeit. Zeit zu fliehen, Zeit, dort unten einen Eingangspunkt zu finden.« So dachte er weiter, aber er wußte, daß er wenig Zeit hatte; denn Actual entfernte sich immer weiter und früher oder später würde ihn jemand hier draußen auf ihn aufmerksam werden. »Ich muß hinein, keine Alternative, muß die Schächte benutzen.« Er faßte sich ein Herz und trat einen Schritt vor. Er wußte nicht, was aus ihm werden würde, wenn er erst einmal in den gefürchteten Schächten wäre. Niemand wußte es, denn niemand war bisher wieder herausgekommen, um darüber zu berichten. Er trat nach vorn, berührte das Energiefeld vor ihm, und der Boden öffnete sich unter seinen Füßen. Von einer unwiderstehlichen Macht ergriffen, wurde sein Körper nach unten gezogen. Von momentaner Panik ergriffen, versuchte er umzukehren, aber der war bereits zu stark und er wurde eingesogen. »Traktor-Strahlen, schwere Traktorstrahlen, die mich nach unten ziehen«, murmelte er, als er davongerissen wurde. Er bemühte sich, ruhig zu ble iben. »Muß mich aufrecht halten, darf nicht das Gleichgewicht verlieren. Licht, da ist Licht. Und verdammt wenig Raum. Ganz -61-
schön eng.« Die Traktorstrahlen wirkten wie ein schützender Kokon. Sie hüllten den Körper in einen Mantel aus Energiestrahlen, die ihn auf einem bequemen Kissen davontrugen und ihn gleichzeitig vor den Wänden der Schächte schützten. Seine Arme waren an den Körper gefesselt, und sein Körper wurde aufrecht gehalten. Er merkte, wie die Strahlen seine Gestalt jeweils so veränderten, daß sie sich der Umgebung anpaßte, in die er stürzte. Wie von einer unsichtbaren Zwangsjacke wurde er gegen seinen Willen gefesselt und festgehalten, einer unbekannten Bestimmung entgegentreibend. »Keine Zeit, die Sache geht schnell. Ich muß aus den Traktorfesseln herauskommen, muß mich befreien. Kann meinen Gürtel nicht benutzen.« Stahlauge stemmte seine Arme gegen die Strahlen und schaffte es schließlich, gegen die Kraft anzukämpfen. Aber es war ein fortwährender und ermüdender Kampf, denn die Strahlen rissen nicht auseinander, sondern gaben lediglich nach unter der Anstrengung, die gegen sie aufgeboten wurde. Kein normaler Sylvaner hätte diese Kraft besessen, aber Stahlauges überlegene Kraft und Körpergröße wirkten auf die Strahlen ein und dehnten sie bis an ihre Belastungsgrenze. Aber er wurde schnell davongetragen und hatte keine Zeit für Spielereien. »Körperrakete, ich muß die Körperrakete zünden.« Er drückte auf den Knopf an seinem Gürtel. Das kleine Triebwerk begann zu arbeiten und verlieh ihm mit seinem kleinen, aber wirkungsvollen Rückstoß soviel Schub, daß die Abwärtsbewegung gestoppt wurde. »Da war eine Tür, ein anderer Gang, etwas weiter da hinten. Ein anderer Durchgang.« Als er durch den Schacht stürzte, hatte er ziemlich weit oben eine Biegung im Tunnel gesehen, die in eine andere Richtung abbog. Verbissen kämpfte er sich dorthin zurück. Es war unmöglich, an den glatten Tunnelwänden Halt zu finden. Es gab keinen einzigen Sprung, keine einzige Fuge an -62-
ihrer Oberfläche. Er war vollkommen auf die geschickte Bedienung der Rakete an seinem Gürtel angewiesen. Die Kraft ließ nicht nach. Feindselig stürmte sie gegen seine gewaltige Stärke an wie ein Hurrikan gegen einen Riesen. Es war, als käme er drei Meter voran, nur um zwei Meter zurückgedrängt zu werden, und der Energievorrat seiner Rakete würde nicht ewig halten. Wenn der erst einmal erschöpft war, würde es aus sein mit ihm. »Auge einsetzen, gebrauche das stählerne Auge, setze zusätzliche Energien ein.« Er richtete sein Auge auf die Wölbung des Tunnels, die langsam unter ihm verschwand. Er sandte einen Energiestrahl geringerer Kraftstufe aus, der ausreichte, ihn schneller den Tunnel hinauf zuschieben. Allerdings mußte er seinen Blick dabei nach unten richten, und so hatte er keine Ahnung, in welche Richtung er sich nach oben bewegte. Aber es funktionierte; der zusätzliche Rückstoß brachte ihn schneller und leichter den Tunnel hinauf, der Gabelung am oberen Ende entgegen. Schließlich konnte er die Kante ergreifen und sich selbst nach oben ziehen. »Geschafft! Bedank dich bei den Eumigen dafür! Nanu, was ist denn hier los?« Während er seinen Körper über die Kante des Schachtes zog, bemerkte er plötzlich, wie der Energiestrahl schlagartig verschwunden war. Er hatte den Hauptbereich der Traktorstrahlen verlassen, war aus dem Wasser auf festen Boden gelandet. So schien es jedenfalls. Er ließ sich erschöpft auf die metallische Oberfläche fallen und versuchte, ein wenig von seiner verausgabten Kraft zurückzugewinnen. »Das war spaßig, das war wirklich spaßig. Ich sollte in Zukunft vielleicht doch einen großen Bogen um Arrestrutschen machen. Kein Wunder, daß da nie jemand wieder rauskommt.« Dieser Tunnel war breiter und ziemlich kurz. Das Licht, das aus den Tiefen des Schachtes heraufdämmerte, ließ seine Kammer an seinem Ende erahnen. -63-
»Das muß ein Wartungseingang sein. Vielleicht führt er zu den Kontrollsystemen. Ich wette jedenfalls, daß er verschlossen ist.« Noch immer müde von der Anstrengung, kroch er bis zu dem engen Eingangsflur. »Und wie kommen wir jetzt hier hinein?« Er nahm die Klinke in beide Hände und drückte sie nach unten. Er hatte erwartet, auf starken Widerstand zu treffen, aber zu seiner großen Überraschung ließ sich die Tür leicht öffnen. »Sieh mal einer an. Die rechnen wirklich nicht mit Besuchern.« Er öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte in die Kammer hinein. Es waren keine Wachen in Sicht. »Vertrauen, meine lieben Sylvaner, kann in großen Mengen eine ziemlich üble Sache sein.« Er kletterte hinein und ließ sich auf den Boden der großen Kammer gleiten. Vor ihm und um ihn herum befanden sich die Instrumententafeln und Kontrollkonsolen für die Kraftfelder in den Arrestrutschen. Stahlauge blickte sich prüfend um, ob nicht vielleicht doch jemand mit seinem Blaster auf ihn wartete, aber die Kammer war völlig leer. Die Maschinen um ihn herum summten und klickten, Lichter zeigten an, daß der komplizierte Mechanismus ordnungsgemäß funktionierte. Die Anwesenheit des Fremdkörpers schien sie nicht zu stören. »Ich muß der erste sein, der eine Arrestrutsche ausgetrickst hat. Hmmm, eins zu null für Stahlauge. So, und wo ist jetzt Actual?« Er ging zur Tür und öffnete sie. Vor ihm lag ein Korridor, aber sein bisheriger Erfolg flößte ihm nicht das geringste Vertrauen ein. Irgendwo mußten Sicherheitswachen sein. Wie vermutet, gingen vor der Tür zwei schwerbewaffnete Sylvaner die lange Reihe der Kammern auf dem Korridor auf und ab. Stahlauge schloß vorsichtig die Tür und überlegte, was -64-
er mit ihnen tun sollte. »Sie sind zu zweit. Sie dürfen keine Gelegenheit haben, Alarm zu schlagen. Ich will lebend hier wieder raus kommen. Zwei Wachen...« Er drehte sich um und sah sich in der Kammer um. Natürlich könnte irgend etwas an den Maschinen hier im Raum kaputt gehen. Das würde einen von ihnen auf den Plan rufen, um den Fehler aufzuspüren. Wenn genügend Lärm entstand, würde der andere ihm folgen. Stahlauge begab sich zum nächsten Kontrollbrett und legte einen Schalter mit der Aufschrift ›Energieunterbrechung‹ um. Draußen hörte man ein lautes Klirren, und auf dem Armaturenbrett blitzte ein kleines rotes Licht auf. Draußen flammte eine andere Lampe auf und die Stimmen der Sylvanischen Wachen klangen auf. Stahlauge stand hinter der Tür. Die erste Wache trat herein und Stahlauge brannte sie sofort nieder. »He, komm und hilf mal«, sagte Stahlauge von innen mit gepreßter Stimme, um die andere Wache herbeizurufen. »Was gibt’s denn, kannst Du nicht mal die einfachste Arbeit machen?« und die zweite Wache starb. »So, der Weg wäre jetzt frei. Wo entlang? Hier?« Vor ihm, entlang des Korridors, gab es zehn Türen, von denen jede einen Namen und eine Nummer trug, bis auf die letzte, die unbeschriftet war. Stahlauge wählte eben diese. »Vielleicht ist dies das Heim des mächtigen Zeitmagiers. Er könnte diesen Weg eingeschlagen haben.« Stahlauge sah sic h in dem hübsch dekorierten Raum um. An den Wänden hingen Movi-Drucke, die sich entsprechend dem Geschmack des Betrachters veränderten; eine der Wände wurde durch einen großen Sichtschirm ausgefüllt, und in der Ecke stand ein 4D-Kristallgerät. Auf der eine n Seite gab es ein Kraftpult, das völlig unsichtbar die verschiedenen Requisiten für -65-
die Arbeit eines Verwaltungsbeamten trug, und dahinter führte eine Tür zum Transitrohr. Es handelte sich um ein privates Transitrohr, das den Inhaber des Büros mit jedem Planeten verbinden konnte, den er besuchen wollte. Hier hinunter war Actual verschwunden. »Sieh einer an, der liebe Actual ist ja ganz schön mächtig für einen Zauberkünstler. Selbst für einen Sylvaner war das schon nicht schlecht. Und er will mich in einem Haps. Will erst mal mehr über mich herausbekommen, bevor er mir den Kopf abpustet oder mich in eine Kröte verwandelt. Okay, Freund Actual, sehen wir einmal nach, wo du deine Fallen aufgestellt hast.« Stahlauge betrat die Transitkammer und drückte den Knopf für Anchor, den Zentralplaneten. Dorthin war sein Vogel geflogen, warum also sollte er ihm nicht folgen, geradewegs in die Höhle des Löwen? Der Raum, den er auf Anchor betrat, ähnelte dem, den er gerade verlassen hatte, fast aufs Haar. Leerer Plüsch, teure Dekorationen, der Geruch irgend eines feinen Weihrauchs, behagliche Wärme. Es gab nur einen einzigen Unterschied: er besaß eine zweite Tür. Auf dieser Tür prangte ein heraldisch bemalter Kreis, der sich golden emporwölbte und in allen möglichen Farben schillerte. Hinter dieser Tür mußte es Sehenswertes geben. Lässig, vielleicht zu lässig, öffnete Stahlauge die Tür. Nichts hielt ihn auf. Dies war ein privilegierter Eingang., offensichtlich der Zugang eines sehr bedeutenden Mitgliedes der Sylvanischen Gesellschaft. Actual’s Zugang, es sei denn, Actual wäre tatsächlich ein Magier und könnte nach Belieben über anderer Leute Privilegien verfügen. Vor Stahlauge tat sich ein ausgesprochen kolossaler, hochgewölbter Anti-Raum auf. Nach allen Seiten wich er wenigstens achtzig Meter vor ihm zurück. Der Boden war von Wand zu Wand mit Computer-Komplexen ausgefüllt, mit langgestreckten Video-Kontrollschirmen, -66-
Telekommunikationssystemen, Übersetzungsmonitoren, Aufzeichnungsbändern, und vielen anderen Merkmalen einer Anlage, die äußerst komplex sein mußte. Genau in der Mitte befand sich die höchst verblüffende Erscheinung. Auf einem Podest hing, etwa drei Meter über der Erde, ein großer Kreis. Wie ein überdimensionaler aufrechter Heiligenschein schien er ohne jede Befestigung oder Unterstützung mehrere Zentimeter über dem Podium zu schweben, ganz still, ohne Wellenbewegungen oder Gestaltwandel. Sein Rand schimmerte farbig, und an seinem unteren Ende kreisten unabhängig voneinander zwei große goldene Lichtbälle, einer auf jeder Seite. Es herrschte eine Atmosphäre von Macht, Stärke und Überlegenheit, düster, drohend, gefährlich. »Das Zentrum der Macht«, keuchte Stahlauge, zögernd. Wo war er hier eingetreten? Eingeschüchtert von dem großartigen Anblick des Kreises stand er mit gespreizten Beinen da und starrte ihn an, wie ein betender Gläubiger seinen Gott. Kein Geräusch war zu hören. Nur das sanfte Brummen der Computer im Hintergrund. Kein Laut drang aus der Richtung des Kreises selbst zu ihm. Während er so dastand und schaute, fühlte er sich unsicher, verlor er sein gewohntes Selbstvertrauen. »Was sage ich? Zu wem spreche ich? Was bist du?« Er fühlte sich fast wie ein Herr, aber es gab keinen Zweifel daran, daß irgendwo in der Kammer eine Intelligenz war, die seine eigene bei weitem überstieg. Er trat auf das Podium zu. In der Mitte der Vorderseite, unter dem Kreis selbst, gab es eine Schalttafel und eine Reihe von Fragetafeln. Stahlauge berührte die Knöpfe. Der Schirm erstrahlte in hartem Licht und Stahlauge selbst erschien zuckend und sich windend in einer gräßlichen stumpfgrauen Leere. Sein Körper erschien gequält, zerbrochen; -67-
er schrie vor Schmerz auf und schlug um sich, von etwas überwältigt, das völlig außerhalb seiner Kontrolle lag. Stahlauge sah entsetzt zu. »Was zeigst du mir?« »Deinen Tod, Stahlauge, deinen Tod.« Das Bild blieb, bis schließlich der Körper, zerschunden und zerbrochen, Hunderte von Metern ins Nichts fiel, von der Ewigkeit des Raumes aufgesogen wurde. »Du kennst meinen Tod?« »Ich bin dein Tod. Du wirst diesen Raum nicht lebend verlassen. Du bist ein Dorn im Körper des Experiments.« »Ich bin nicht hierhergekommen, um zu sterben.« »Das wirst du aber. Es gibt nichts, was du mir anbieten könntest, mir oder den Sylvanern. Was soll ich denn tun, etwa dich freilassen?« »Ja. Ich könnte bei deinem Experiment behilflich sein.« »Wie kannst du bei etwas helfen, worüber du nichts weißt?« »Du weißt nichts über die Eumigen.« Stahlauge wich langsam vor dem Kreis zurück, in der vagen Hoffnung, zur Tür zu gelangen. »Es gibt keinen Ausweg, Stahlauge.« Plötzlich legten sich starke Strahlen um seine Arme und fesselten sie an seinen Körper. »Ich kann dir Wissen über die Eumigen verschaffen. Du mußt wissen, wozu sie fähig sind, wie sie dir schaden können.« »Warum solltest du das tun, du, der du ein Produkt der Eumigen bist?« Die Strahlen legten sich fester um seinen Körper, schnitten ihm fast ins Fleisch. Er kämpfte vergebens. Gegen dieses Ungeheuer an Kraft war seine Stärke ohne jeden Nutzen. »Ich will nur Macht für mich selbst.« -68-
»Wie soll das erreicht werden? Was soll ich dir dafür geben?« »Mein Leben?« »Ich kann Dich töten, dich für immer loswerden und selbst alles über die Eumigen herausfinden.« »Du hast keine Verbindung mit ihnen, und wenn du mich tötest, werden sie einen Anderen bauen und noch einen Anderen. Sie konnten einen bauen, warum sollten sie nicht Hunderte bauen?« »Dann werde ich Hunderte töten.« »Du wirst es bald leid sein. Und jeder wird besser auf den Kampf mit dir vorbereitet sein. Ich habe ein wenig gelernt, und mein Nachfolger wird wissen, was ich weiß.« Stille trat ein, dann wurden die Traktorstrahlen abgeschaltet. »Geh, tu wie du gesagt hast. Stelle den Kontakt zwischen mir und den Eumigen her. Lass mich sehen, ob du zu deinem Wort stehst. Denn wenn du das nicht tust, Stahlauge, wirst du mit Sicherheit dein Leben verlieren.« Stahlauge taumelte vor Erleichterung, ging rasch zur Tür und kehrte auf dem gleichen Wege nach Zrost zurück, den der gekommen war: Von Sylva Sechs aus mit dem Teleporter.
VI Die Rückkehr nach Zrost war, als würde er wieder atmen. Es gab kein Schaukeln und Schimmern, keine schreckliche Ungewißheit, nur die einfache, allumfassende Weisheit der Eumigen. Keine Arrestrutschen, keine Sicherheitssysteme, keine hektische Betriebsamkeit, nur die ausladenden, eleganten Bewegungen der großen Maschinenwagen, die ihren Geschäften ohne das nervöse Zwitschern von Spatzen nachgingen. Zum ersten Mal betrachtete Stahlauge seinen Heimatplaneten so, wie er war: ruhig, kraftvoll und von der selbstsicheren Stärke von -69-
Wesen bestimmt, die sich mit ihrer Umgebung in völliger Übereinstimmung befanden. Die bloße Wahrnehmung eines Geistes reichte ihnen aus, seine Motive zu erkennen. Jedes Übel bemerkten sie sofort durch eines ihrer vielen fein ausgebildeten Erkenntnissysteme. Sie wußten, daß sie unendliche Möglichkeiten hatten, damit fertig zu werden. Aufregung oder Ärger gab es deshalb nie. Zwei Eumigen schritten mit ruhigen Bewegungen auf Stahlauge zu. Es waren Timion und Tousle, die, soweit das möglich war, jetzt den Ausdruck väterlicher Besorgnis auf ihren Gesichtern trugen. Die Gesichter der Eumigen waren mit künstlicher Gesichtsmuskulatur ausgestattet, und obwohl ihre Gefühlsregungen lediglich durch biotische Tuner simuliert wurden, sah es sehr oft so aus, als ›empfänden‹ sie wirklich die Gefühle, die sie zum Ausdruck brachten. Ein kleiner Wind blies an jenem Tag auf dem Planeten, ein schneidender Wind aus wechselnden Richtungen, und Stahlauge erschauerte ein wenig, als ein Windstoß seine Brust erfaßte. »Wir freuen uns, daß du gekommen bist, Stahlauge. Herzlich willkommen.« »Erfreut, hocherfreut«, fügte Tousle hinzu, so, als wolle er seine offenkundige Besorgnis zum Ausdruck bringen. »Ich habe einige interessante Neuigkeiten.« »Bevor du zu deinen Neuigkeiten kommst, Stahla uge, müssen wir dir unsere mitteilen. Chaos ist verschwunden.« »Verschwunden? Wohin, um Menschenswillen, wohin?« »Wir wissen es nicht genau. Die Spürstrahlen haben ihre Bewegungen erfaßt, aber sie sind ungenau und ich bin mir nicht sicher, ob nicht irgend ein Störgerät ihre Flucht verdeckt.« »Ihre? Wer hat sie mitgenommen?« »Komm, gehen wir ein Stück.« Sie trotteten mit den charakteristischen großen Schritten der Eumigen dahin, so daß -70-
Stahlauge ein wenig schneller als gewöhnlich gehen mußte, um mit seinen riesenhaften Schöpfern Schritt zu halten. »Ein kleines Raumschiff kam aus dem Komplex Sylva hier an, unter der Leitung von Trok, dem Leiter der Sicherheitskräfte. Er kam in friedlicher Absicht mit nur fünf Sylvanern, um einige Probleme zu besprechen, über die er sich lang und breit ausließ, ohne seine wahren Absichten zu enthüllen.« »Es hatte unter den Sylvanischen Wachen in einem Theater des zentralen Unterhaltungsbezirks auf Sylva Sechs einige schwere Verluste gegeben, und er machte sich Sorgen, daß wir Eumigen vielleicht Zugang zu Informationen über das Gerät haben könnten, mit dem drei Schlachtenroboter und ein ganzer Schwärm von Wächtern außer Gefecht gesetzt wurden. Das alles wurde ohne sichtbare Anstrengung von einem mächtigen Wesen bewirkt, das einen Strahler benutzte, der Trok nicht vertraut war!« Tousle sprach mit leichtem Sarkasmus. »Und du hast ihm nichts über eure letzte Schöpfung erzählt?« fragte Stahlauge. »Wir hielten es für besser, uns aus jeder politischen oder überhaupt ausführlicheren Verwicklung in jene Angelegenheit herauszuhalten. Wir glaubten, daß sie sich auch ohne jedes ernsthafte Eingreifen unsererseits von selbst erledigen würde.« »Ausgesprochen weise, Timion.« »Vielleicht, Stahlauge. Aber das ist noch nicht alles.« Tousle sprach. »Dieser Trok hatte offensichtlich einen aus seiner Mannschaft bei seiner Abreise zurückgelassen, denn wir entdeckten eine Gewichtsdifferenz im Schub des Raumschiffes. Im Zuge unserer Nachforschungen ahnten wir aber nicht, daß der zurückgelassene Sylvaner hinter Chaos her war. Wir glaubten, daß sie nicht einmal von ihr Notiz genommen hatten«. Die Besorgnis vertiefte sich in seinem Gesicht. »Wir erhielten keinerlei Vorwarnung, daß der betreffende Sylvaner einen -71-
tragbaren Teleporter trug, und noch bevor das Raumschiff die Atmosphäre von Zrost ganz verlassen hatte, wurden Chaos und der Eindringling an Bord teleportiert. Wir mußten uns darauf beschränken, dem in der Ferne verschwindenden Raumschiff unsere Proteste nachzusenden. Wir hätten kaum etwas dabei gewonnen, wenn wir ein Schiff in die Luft gejagt hätten, das eine unserer wertvollsten Schöpfungen an Bord hatte.« »Zeigt mir bitte die Aufzeichnungen der Richtungsstrahlen. Ich muß mir wenigstens so etwas wie eine Vorstellung von ihrer Entfernung und ihrer Geschwindigkeit machen.« »Und welche Nachrichten hast du für uns?« erkundigte sich Timion. »Ich habe eine Methode, mit der wir unseren Einstieg in das Sylvanische Imperium auf etwas höhere Ebene bewerkstelligen könnten, als ursprünglich beabsichtigt.« »Vorsicht, Stahlauge, es gibt Gerüchte über eine Macht, die erheblich stärker sein soll, als die Sylvaner selbst«, warnte Tousle. »Der Kreis von Freefall.« »Es gibt also einen Kreis?« »Sicher doch. Vielleicht nicht ganz so allwissend wie man erwarten sollte.« »Du meinst, der Kreis hätte dich gehen lassen?« fragte Timion ungläubig. »Ja.« »Ich würde das nicht für eine Dummheit halten. Es könnte einen Grund hinter dem Schein der Verrücktheit geben.« »Der Kreis bildet sich ein, daß ich Zrost ins Visier seiner Macht rücken werde, damit euer historologisches Potential durch seine Computer in das einreihen kann, was er das Experiment nannte.« »Was für ein Experiment?« -72-
»Soviel habe ich nicht herausgekommen, aber ich beabsichtige, den Kreis in dem Glauben zu lassen, daß ich seinen Wünschen gehorche.« »Und du bildest dir ein, du könntest eine Macht überlisten, die die Kontrolle über das Sylvanische Imperium ausübt?« »Je mehr Macht sie hat, desto mehr benötigt sie. Ich kann nicht viel verlieren, wenn ich’s versuche.« »Nur dein Leben.« »Ich habe dem Kreis gesagt, daß ihr einen nach dem anderen bauen werdet, wenn ich sterbe.« »Unwahrscheinlich.« »Es gibt keinen Grund, warum er das wissen sollte.« »Ich fürchte, du unterschätzt diesen Kreis, Stahlauge. Ich glaube, du solltest auf der Hut sein.« »Das werde ich. So, jetzt müssen wir Chaos finden.« Timion ging voran in das Spürgebäude der Stadt, und Stahlauge sah auf die Wände aus solidem Barrierestahl, berührte sie und war erleichtert, daß sie nicht tanzten oder sich veränderten. Dann betraten sie den Hauptsaal, der mit hellerleuchteten Kontrollgeräten angefüllt war, von denen jedes Einzelne eine Ausrüstung enthielt, die einen Körper von Stecknadelgröße eine Million Lichtjahre weit in unbekannte Gefilde und über das ganze Sylvanische Imperium hinweg verfolgen konnte. Die Methode hieß »Actmum Staubpfad« und hatte seinen Ursprung bei dem Eumigen, wie so viele andere wissenschaftliche Phänomene das Universum. Das System selbst war von genialer Einfachheit. Es verband Genauigkeit mit vollkommener Flexibilität. Der ganze Weltraum und die meiste Materie ist von Staubpartikeln umgeben, die ohne besondere Regelmäßigkeit dahintreiben, lediglich von den verschiedenen Gravitationskräften der Materie kontrolliert. Die Eumigen -73-
entdeckten, daß es möglich ist, diese Staubpartikel als eine Art Schrittsteinsystem durch das Vakuum des Raumes zu benutzen, indem man eine Ladung Actmum Elektronen in den Nullraum schießt, d. h. in den Raum unmittelbar vor dem Actmum Gerät. Ihre Flugbahn konnte dann in jede beliebige Richtung und über beliebige Entfernungen gesteuert werden. Auf diese Weise konnte man die Sprünge des Elektrons über weite Entfernungen verfolgen. Das einzige Erfordernis war der Staub. So lange wie es Staub gab, gab es auch den Kontakt in jeden Winkel des Universums. Die Eumigen hatten riesige Actmumgeneratoren errichtet, die den Weltraum über dem Planeten Strich für Strich über genau bestimmte Entfernungen absuchten. Jeder einzelne Sektor des Weltraums wurde so analysiert und auf seine Empfangswerte hin überprüft. Jeder Eumige oder in diesem Falle ein Produkt der Eumigen, trug einen Empfänger an seinem Körper, der auf die Actmum-Wellen reagierte und das Signal den Staubpfad entlang reflektierte. Die Wellen reisten mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit, und es gehörten schon ziemlich große Entfernungen dazu, die Maschine wirkungslos zu machen. Die einzigen Probleme tauchten dann auf, wenn starke Staubstürme den Fluß der Wellen unterbrachen, aber selbst dann wurde das Ergebnis lediglich leicht verzögert. Der Actmum-Staubpfad war zu jener Zeit bereits eine Erscheinung des täglichen Lebens, und viele weitere Jahrtausende lang sollte er noch die Hauptkommunikationsquelle bleiben, bis zur Entdeckung des geschwindigkeitslosen Antriebs. Aber das ist eine andere Geschichte. Chaos trug einen winzigen Actmum- Empfänger in ihrem Hirn, und während sie in den Raumschiffen Troks und seiner Sylvanischen Wächter durch den Raum reiste, konnte Stahlauge ihren schnellen, verwobenen Pfad verfolgen. »Warum fährt er einen solchen Zickzackkurs?« »Die Eigenart ängstlicher Flüchtlinge, Stahlauge.« -74-
»Aber er muß doch wissen, daß er verfolgt werden kann.« »Ja, und ich glaube, du nimmst die Verfolgung besser bald auf«, riet Timion. »Es wäre besser, wenn ich mich zu seinem Ziel begäbe und dort auf ihn wartete.« »Einverstanden, und wir haben dazu auch eine Idee.« »Erzähle.« Wenige Minuten später betrat Stahlauge den LangstreckenTeleporter. Sein Ziel war ein Planet, über den er schon viel von den Eumigen gehört hatte. Der Planet Zrost befand sich am Rande der Galaxis Andromeda, wie die Menschen sie viele Tausende von Jahren vorher getauft hatten, und Stahlauge sollte ungefähr 2.300.000 Lichtjahre durch den Weltraum zu einer Welt reisen, die der Mensch ebenfalls Tausende von Jahren zuvor mit einem Namen versehen hatte: zur Erde. Denn die Erde war Troks Ziel. »Denke daran, Stahlauge, die Erde ist voller Tücken. Schließlich wurde sie Jahrtausende vom Menschen bewohnt, und das kann für keinen Planeten über einen solchen Zeitraum hinweg ohne Folgen bleiben.« »Du vergißt, Timion, daß ich ein Mensch bin.« »Du bist Stahlauge. Es gibt keinen anderen, hoffe ich.« Stahlauge verschwand. Eintausendsiebenhundert Jahre waren vergangen, seit der Mensch von der Oberfläche der Erde verschwunden war. Fast zwanzig Jahrhunderte waren vorbeigeeilt, seit der Mensch auf diesem kleinen Planeten gelebt hatte, der sich fast die ganze Zeit lang allein in der Milchstraße befunden hatte. Er hatte besten Gebrauch von seinem Planeten gemacht und ihn bis zum Bersten mit seinem Ehrgeiz und seiner Macht gefüllt, bis er schließlich zu den besseren Weidegründen auf Zrost aufgebrochen war. Der Planet Erde hatte während jener Jahre -75-
einen kompletten Umkehrungsprozeß durchgemacht. An die Stelle hochmechanisierter Riesenstädte, die sich in Serien über den kleinen Planeten verbreiteten, war ein neuer und außergewöhnlicher Kontrast reichen, vielfältigen Lebens getreten: weite, mit Bäumen und Laub bedeckte Ebenen, keimendes neues, seltsames Tierleben, und felsige, bergige, Wiesen, ganz unberührt und ungestört. Es schien, als habe der Zyklus der Natur endlich wieder seine Arme geöffnet, bereit, neues intelligentes Leben keimen zu lassen. Es hätte so scheinen können, wären da nicht seltsame abnorme Phänomene gewesen: bizarre, einzeln stehende Gebäude und künstliche Strukturen, die hier und da wie der Stachel der Erinnerung aus dem Fleisch der Vergangenheit aufragten. Über die Oberfläche des Planeten verstreut lagen ganze Städte, die einst pulsierendes, energisches Leben beherbergt hatten, menschliches Leben. Riesige Kuppeln quollen empor wie rote Wunden, die man der Erde bösartig zugefügt hatte, schossen wie Brandblasen aus den Felsen hervor, schrien der Geschichte ihre Verachtung entgegen, wie um das reiche und feuchte natürliche Leben daran zu erinnern, daß es erst dann würde vergessen können, was einmal gewesen war, wenn es alles überwuchert hatte. Der Kontrast war so seltsam, wie er nur in einer lebenden, aber verlassenen Welt existieren konnte. Große und schöne Ebenen reichen, blühenden Lebens standen vollkommen anarchisch neben geschundenen, zerbrochenen und gründlich amputierten Strukturen, die Menschenhand geschaffen hatte. Die jüngste Geschichte des Menschen hatte die größeren Städte immer mehr zusammengeführt und ineinander übergehen lassen, so daß keine erkennbaren Zentren mehr übriggeblieben waren, sondern nur noch auseinandergerissene Teile. Auf dem alten Kontinent Europa war die ursprüngliche Metropole der Erde unter Wäldern versunken, unter feuchten halb tropischen Wäldern, denn die Klimazonen waren über die Jahrhunderte hinweg gewandert. Stahlauge kam dort an, wo man den wahrscheinlichsten -76-
Landeplatz für Troks Raumschiff vermutet hatte. Die Eumigen kannten das Sylvanische Temperament. Sie wußten, daß jemand, der völlig an das städtische Leben gewöhnt war, sich dem größten noch existierenden bebauten Gebiet zuwenden würde, das zudem auch noch ziemlich genau in der Richtung lag, aus der Trok in seiner Zickzackbahn sich von Andromeda und Zrost aus näherte. Der Ort hatte keinen Namen, hatte aber einmal Paris geheißen. Wenig war davon übriggeblieben, was an die Legenden in den Annalen der Büchereien von Afracuta erinnert hätte, den die einstmals lärmende und romantische Stadt, in denen die Kontraste zwischen Reichtum und beschämender Armut aufeinandergeprallt waren. Keiner der Boulevards, keines der Straßencafes, nichts von der Seine war übriggeblieben. Nur schäbige, abgewetzte Gebäude mit runden Ecken lagen über ein Gebiet von drei oder vier Quadratkilometern verstreut, von Laub und Buschwerk umgeben wie von einem schützenden Tuch. Ganz unsystematisch stoppte der Wald an diesem oder jenem zentralen Platz oder an einer der verfallenen Arkaden. Einige der sehr alten Gebäude standen immer noch da, eingekleidet in den Glanz eines versunkenen Zeitalters. Bald schon würden auch diese Ruinen dem Erdboden gleich sein. Eine neue Natur mit ihrem Leben würde schließlich die tote alte Welt überwinden. In einer langsamen Welle unaufhaltsamer Üppigkeit rückten die Gräser und Pflanzen immer weiter vor. Sie trafen kaum auf Widerstand auf ihrem Wege. Stahlauge tauchte auf einem Platz im Zentrum eines Gebäudekomplexes wieder auf, der einstmals die Promenade Liebender und Prostituierter gewesen sein mochte. Jetzt erinnerte alles, was davon übrig geblieben war, nur noch an Tod und Verwesung. Die zerbrochenen Strukturen machten einen stützungsbedürftigen und verbogenen Eindruck. Die Zeit hatte ihren Konturen eine Weichheit verliehen, die der Vorbote -77-
bevorstehender Auflösung war. Stahlauge schritt dahin, den Blick auf den Ursprung seiner elterlichen Rasse gerichtet, einer Rasse, der er niemals angehört hatte, und über die er dennoch soviel wußte. Während er den bewölkten, leicht geröteten Himmel betrachtete, wünschte er sich einen Augenblick lang, daß er Zeit hätte, zurückzureisen in die Vergangenheit und die Menschen so zu sehen, wie sie damals, während ihrer Blütezeit auf der Erde, gewesen waren. Wäre er damals am Leben gewesen, hätte er die Menschheit vielleicht zu einem besseren Schicksal führen können, als in einen bitteren Tod durch die Hand der Sylvaner. Aber jetzt würde er wenigstens eine kleine Rache für jenen Tod nehmen. Er würde diesen kaltherzigen Kreaturen zeigen, wie man ein Imperium regiert. Die Straßen waren von allen möglichen kleinen, kriechenden Formen des Lebens verseucht. Seltsame unbekannte Insekten krabbelten von einer Seite auf die andere, hielten an Stahlauges Füßen an, schienen ihn einen Augenblick lang anzusehen und stürzten dann ohne jeden erdenklichen Grund plötzlich davon. Instinktiv vermied Stahlauge, auf sie zu treten, und sie mieden ihn, so als enthielten ihre Zellen noch die Warnung vor den trampelnden Füßen des Menschen, die jetzt nicht mehr existierten. Aus jedem Stein und jeder Mauer kroch das Leben des Planeten hervor, schlang sich um Maschinen, bewies wieder einmal die Stärke und Beharrlichkeit der Natur. Stahlauge stand ganz still. Wie ein Riese unter den Zwergen, mit fest auf dem Boden verankerten Füßen, die Hände auf den Hüften, den Blick auf den Wirbel an Aktivität unter sich geric htet. Als er aufblickte, sah er einen Lichtblitz nahe am Himmel aufleuchten. Ein Fahrzeug. Troks Fahrzeug, bereit zur Landung. Ein einziger Sprung brachte ihn zum nächsten Gebäude. Trok würde in dieser seit langem von niemandem mehr besuchten Welt nicht nach menschlichem Leben Ausschau halten. Trok würde nicht erwarten, daß irgend jemand oder irgend etwas -78-
seine Handlungen vorausgesehen hätte. Aber er würde vorsichtig sein. Stahlauge umgab seinen Körper mit einer energetischen Tarnkappe, die jeden Suchstrahl ableiten würde, und saß ruhig auf einer Mauer am Straßenrand. Gut getarnt, wartete er so auf sein nichtsahnendes Opfer. Nur Chaos wußte, daß Stahlauge da sein würde, nur sie allein, und das aus einfachem menschlichem Instinkt heraus. Das Raumschiff atomisierte eine Million Insekten, als es auf den Boden herabfuhr, walzte eine Masse Laub nieder, als es die Erde packte und seine Zähne in sie schlug. Seine Länge betrug ungefähr hundert Meter, es ließ ein Gebäude einstürzen und drückte eine Vertiefung in den Boden. Trok stieg herab. Er sog die Luft ein und spähte durch einen tragbaren Suchstrahl nach eventuellen Anzeichen von Aggressionen. Als er sich davon überzeugt hatte, daß das Gebiet frei war, ging er um das eine Ende des Raumschiffes herum. Es war ein seltsamer Anblick in dieser engen Straße. Das Raumschiff, das im Weltraum nur ein Punkt gewesen war, sah jetzt unvorstellbar groß aus, gedrungen und schwerfällig. »Ok, holt sie raus.« Chaos wurde von einem Kampfroboter nach draußen gebracht und ein wenig unsanft zu Troks Füßen auf dem Boden abgesetzt. Sie versuchte zu stehen. Stahlauge beobachtete die Szene. Er betrachtete ihren Körper. Ihre Figur hatte sich verändert. Sie war runder geworden. Ihre Brüste waren groß und vollentwickelt. Ihr Leib war auf das vier- oder fünffache seiner ursprünglichen Größe angewachsen. Ihre Formen kündeten von dem Reichtum des neuen Lebens, das sie in sich trug. Ihr Gesicht leuchtete noch klarer und heller als zuvor, ließ alle um sie herum blaß erscheinen. Sie war schwanger, und sie würde bald niederkommen, hier in dieser Wildnis, die nicht im mindesten dazu geeignet war. Stahlauge würde schnell handeln müssen, -79-
um sie zu befreien und in die kundigen Hände ihrer Väter, der Eumigen, zurückzubringen. Es war keine Zeit zu verlieren. Die Kampfroboter suchten unablässig das Gebiet ab, und aus dem Raumschiff kletterten drei weitere Sylvaner. In seinem Inneren befanden sich noch mindestens sechs andere, und das Raumschiff führte Waffen mit sich, die ausreichten, die Erde unter ihren Füßen auszuradieren. Eine Konfrontation war nicht ratsam. List und Täuschung waren die Waffen, derer sich Stahlauge bedienen mußte. Das Gebiet war nicht ideal - zu viele kleine Alleen und Türen, nicht genug freie Fläche. Das konnte Stahlauge andererseits allerdings auch zum Vorteil gereichen. Zunächst einmal aber mußte Chaos weggeschafft und außer Gefahr gebracht werden, damit sie irgendwo in einem friedlichen Versteck ihr kostbares Kind zur Welt bringen konnte, wenn ihre Zeit gekommen war. Fast als hätte sie eine Botschaft von Stahlauge empfangen, begann Chaos vor Schmerz zu stöhnen. »Was ist los?« frage Trok scharf. »Ich... Ich glaube, ich... bekomme jetzt vielleicht... mein Baby.« »Beim Weltraum, nicht hier und jetzt! Kannst du dich nicht zusammenreißen?« »Wie denn? Ich tu’s sofort, wenn du mir sagst, wie’s geht. Wie kann ich hier und jetzt in diesem gottverdammten Loch eine Geburt aufhalten. Bringt mich aus der Sonne heraus.« Trok gab schnell seine Befehle. »Bring sie in ein Gebäude, und achte darauf, daß sie gut geschützt liegt. Und geh sanft mit ihr um, du rumpelnde, große Mißgeburt.« Der Roboter war sanft. Er trug sie zu dem Gebäude, in dem Stahlauge wartete und legte sie auf einem Moosbett nieder. Sie ließ noch einige Male ein lautes Stöhnen vernehmen, während der Roboter die Gegend mit seinem Handstrahler kühlte. Dann stand der Roboter im Eingang und hatte ihr, und Stahlauge, den -80-
Rücken zugewendet. Er schlußfolgerte logisch, daß eine einzelne, hilflose und schwangere Frau wenig Widerstand leisten konnte. Stahlauge war genau mit dem Bauplan eines Sylvanischen Kampfroboters vertraut. Er hatte sich diesem Thema mit großer Hingabe gewidmet, und so wußte er, daß die Antriebs- und Motoreinheit für das Geschöpf genau im Nacken lag. Außerdem wußte er, daß diese Stelle der Roboterhaut besonders verstärkt war, um eine möglichst lange Beweglichkeit zu gewährleisten. Manchmal kämpften und töteten sylvanische Kampfroboter noch weiter, obwohl ihre Körperregionen schon schwere Beschädigungen davongetragen hatten, und selbst wenn sie einen Großteil ihres Kopfteils verloren hatten, konnten sie noch gegen Hunderte von Gegnern anrennen, und sie zermalmen. Er wußte, daß ein einziger haarfeiner Draht von der Stirn bis in den hinteren Teil des Kopfes lief, der dem Antriebsmechanismus die Befehle des Steuerungszentrums in der Brust übermittelte. Wenn man diesen dünnen Draht durchtrennte, würde der Roboter also so lange fortfahren, die letzte Anweisung aus dem Brustteil auszuführen, bis er in seinem Lauf aufgehalten wurde. Stahlauge faßte einen Plan. Draußen im Freien stand die muntere Schar der Sylvaner und ließ sich von Trok auf ihre Posten einteilen. Das konnte nicht allzu lange dauern; nur noch eine Weile, dann wären alle Sylvaner verstreut und das würde die Sache zehnmal schwierige r machen. Stahlauge sah sich um. Er richtete den Blick seines todbringenden Auges auf das Dach des Gebäudes direkt über dem Kopf des Roboters und verengte seine Pupille bis auf ihre kleinste, stecknadelgroße Öffnung. Ein winziger Stein fiel auf den Kopf des Roboters herunter. Der Roboter blickte auf. Dazu mußte er den Kopf nach hinten beugen und so die einzige Stelle preisgeben, an der der Kommunikationsdraht verwundbar war. Stahlauge mußte ganz genau Ziel nehmen und sich völlig unter Kontrolle haben. Er entsandte einen starken, -81-
sensorischen Impuls, der dem Roboter den Befehl zum Angriff gab und seine Aggressionszentren bis aufs Äußerste reizte. Er wußte, daß während des Sekundenbruchteils, in dem der Roboter überraschend von dem Stein getroffen wurde, die Abschirmung über seinem Hirnzentrum zusammenbrechen und ihn für Suggestion anfällig machen würde. Nachdem er den Aggressionszentren des Roboters seine Befehle eingepflanzt hatte, führte Stahlauge eine perfekte Lobotomie durch. Das Auge immer auf den Lebensnerv des Roboters gerichtet, durchtrennte er mit einem einzigen Hitzestrahl die zarte Membran und unterbrach so die Verbindung des Kommunikationsrelais mit dem Motorensystem im Hals. Der letzte Befehl, den der Roboter empfangen hatte, lautete auf Angriff, blindlings und ohne Ansehen des Feindes, auf alles, was sich ihm in den Weg stellte. Der Roboter donnerte ins Freie. Seine sechs Disruptoren sandten Blitze aus. Laserstrahlen und Nuklearblaster schossen auf alles, was sich bewegte. Die ersten vier Disruptoren trennten die Nase des Raumschiffs glatt ab. Der fünfte säbelte drei Sylvaner nieder; der sechste desimtegrierte völlig die Pilotensektion des Raumschiffs mit den drei Sylvanern, die als Besatzung darin verblieben waren. Trok reagierte mit gewohnter Eleganz. Er rollte sich auf den Boden ab und verschwand unter den Überresten des Raumschiffs. Dann rannte er auf der gegenüberliegenden Seite in Deckung. Der letzte übriggebliebene Sylvaner konnte ebenfalls unverletzt entkommen. Der Roboter stoppte eine Sekunde lang, dann drehte er sich um. Er stand jetzt dem Gebäude, aus dem er gekommen war, genau gegenüber. Er brauchte nicht viel Zeit, seine Bewaffnung neu einzustellen. Die Tür, die er zerschmolz, gehörte zu dem Gebäude, aus dem Stahlauge und Chaos die Szene beobachtet hatten. Aber Stahlauge war bereit. Mit einer einzigen Bewegung seiner Augen brannte er die Bewaffnung auf der einen Körperseite des Roboters los und trennte fast die gesamte Blasterbefestigung ab. -82-
Aber das Geschöpf kam immer näher. Ein Disruptor funktionierte noch. Stahlauge nahm Chaos’ weichen Körper schnell in seine Arme und hob sie empor. Mit zwei Schritten hatte er sie in einen anderen Teil des Gebäudes gebracht und glitt aus dem Fenster. Im Nu war er an der Seite des Roboters. Er schickte einen einzigen Feuerstoß schneller, wirkungsvoller Schüsse in einem Abstand von fünfundzwanzig Millimetern die Schweißnähte des Roboters hinunter. Das Geschöpf drehte sich um. Stahlauge duckte sich, um dem Disruptorfeuer auszuweichen. Er wußte, daß er diese Waffe unschädlich machen mußte. Ein Streifschuß genügte, und er würde einen Arm oder ein Bein verlieren. Er weitete seine Pupille, bis sie voll geöffnet war und ließ ihren furchtbaren Hitzestrahl auf den Roboter niedergehen. Seine Kraft riß das Geschöpf weit auseinander und verbrannte noch einen weiteren Teil des Raumschiffs dahinter. Jetzt war nichts mehr übrig, aber der Sylvanische Posten war noch immer in der Nähe. Stahlauge entdeckte ihn. Er fühlte seine Anwesenheit, und als er hinsah, fiel sein Blick auf eine kleine, zitternde Kreatur, die mit atemberaubender Geschwindigkeit neben dem Wrack des Raumschiffs einen Körper verformte. Der Sylvaner richtete einen Laser auf Stahlauge. Mit einem Lidschlag wurde er ihm aus der Hand geschlagen. Der Posten fiel auf die Knie. »Wo ist Trok?« verlangte Stahlauge zu wissen. »Wir hatten dich nicht erwartet.« »Nein. Wo ist Trok?« »Ich weiß es nicht.« Stahlauge schnappte sich den Sylvaner mit einer Hand und ließ ihn einen Meter über dem Boden baumeln. Der Sylvaner wand sich vor Angst und Zorn. »Wo ist Trok? Oder möchtest du’s lieber etwas wärmer haben?« Stahlauge ließ sein Auge ein wenig glühen. Der -83-
Sylvaner drehte heftig den Kopf zur Seite, um der intensiven Hitze auszuweichen. »Ich sage doch, ich weiß es nicht. Er ist in die Gebäude hineingelaufen. Er ist verschwunden.« »Hier bin ich, Stahlauge.« Clever. Ganz Trok, verächtlich wie immer. Sehr clever. Einen weit überlegenen Gegner anzunehmen und ihn zu überraschen von hinten. Stahlauge fühlte eine sengende Hitze in seinem Rücken. Die Hitze eines Lasers. Mit einer raschen Bewegung seines Riesenarmes schleuderte Stahlauge den zitternden Sylvaner in die Luft, dem Strahl hinter ihm entgegen. Der Sylvaner fiel zu Boden, aber Trok war schnell. Schnell genug, dem zu Boden stürzenden Körper auszuweichen, aber nicht schnell genug, sich aus der Flugbahn eines kleinen Felsstückchens zu bringen, den Chaos wenige Sekunden zuvor zielsicher und fest gegen ihn geschleudert hatte. Der Felsbrocken prallte mit ziemlicher Geschwindigkeit auf der Stirn des Leiters der Sicherheitskräfte auf und ließ ihn vor Schmerz zu Boden gehen. Aber Trok war ein kampferprobter Krieger. Er war seit langem daran gewöhnt, Schmerzen zu überwinden, und jetzt benutzte er den Sturz, den sie ausgelöst hatten, dazu, sich aus der Reichweite des drohenden Auges zu rollen. Aus der Bewegung heraus zog er eine dreischneidige Klinge aus dem Gürtel und ließ sie durch die Luft sausen. Chaos sah, wie die tödliche, primitive Waffe, die die älteren Sylvanischen Wachtposten immer bei sich zu tragen pflegten, wie im Zeitlupentempo durch die Luft glitt. Aber ihre Geschwindigkeit war nicht niedrig. Ihre Bewegung war nicht gleichförmig, denn wie alle Sylvanischen Waffen hatte sie eine unerwartete Eigenart. Ihre Molekularstruktur war kontrollierbar. Ihre Form veränderte sich während des Fluges. Wie ein Jojo schnellte sie hin und her, veränderte ihre Größe, schien weiter von ihrem Ziel entfernt zu sein, als sie tatsächlich sein mußte. Man stelle sich ein Projektil vor, das durch die Luft auf einen -84-
zukommt. Man sieht, wie es größer und größer wird, bis es schließlich nicht mehr weiter wächst und trifft. Man stelle sich diesen Vorgang völlig auf den Kopf gestellt vor. Die dreischneidige Klinge begann ihren Flug klein und wurde immer kleiner, so als wäre sie aus der Entfernung in die umgekehrte Richtung geschleudert worden. Und dennoch kam sie immer näher - so wie ein Bumerang sich entfernt, um schließlich doch zurückzukehren, aber ohne eine Kreisbahn. Plötzlich wurde sie größer und schrumpfte dann wieder, und das alles innerhalb nur weniger Sekunden. Die Klinge traf Stahlauge an der Schulter und verletzte seine Haut. Stahlauge stürzte sich auf Trok. Mit zwei Schritten war er neben dem Sylvaner. Trok wußte, daß er im ehrlichen Kampf Mann gegen Mann keine Chance hatte. Er drückte einen Knopf an seinem Gürtel und errichtete einen Energieschutzschild um seinen Körper. Dann ließ er sich davonrollen und teleportierte sich von der Oberfläche des Planeten nach werweißwohin. Es war keine Zeit zu verlieren. Trok würde zurückkommen. Stahlauge ging zu Chaos, die in dem Gebäude lag. »Wir müssen gehen.« »Ich kann nicht, ich kann nicht«, keuchte sie unter Schmerzen. Sie wand sich am Boden. Ihr runder Leib verkrampfte sich bereits unter den ersten Wehen. Sie würde das Kind zur Welt bringen. »Bist du bereit zu gebären?« »Ich muß, er wartet nicht mehr länger. Du mußt mir helfen, Kleidung finden, Wasser, irgend eine warme Flüssigkeit. Geh, kümmere dich nicht um mich, aber bleib nicht zu lange weg, denn er ist auch dein Kind.« Stahlauge stürzte zu dem ausgebrannten Raumschiff hinüber, kramte in seinem Rumpf und fand Wasser. Er nahm einer der umherliegenden Wächterleichen ihren Helm ab und schöpfte so viel hinein, wie er fassen konnte. Dann erhitzte er das Wasser -85-
mit dem Strahl seines Auges. »Hier.« Stahlauge reichte Chaos das Tuch, das er aus dem Ärmel seines blutigen Rockes herausgerissen hatte und stellte die Schüssel mit Wasser vor ihre Füße. »Hilf mir Stahlauge, halte meine Hand, es kommt. Schnell, schneller.« Schnell atmend, keuchend, preßte Chaos das Kind unter Schmerzen und Freude zur Welt. Blutig und faltig, mit fest geschlossenen Augen und nach Luft schnappend, so entschlüpfte der kleine Körper kopfüber aus dem Körper der Frau. Die ganze Geburt vollzog sich in wenigen Minuten. Chaos wiegte den jetzt von ihr getrennten Körper in ihren Armen. Sie hatte ihn fest in das dicke Tuch eingewickelt, und nun wischte sie sein Gesicht, das vom Schreien ganz runzelig und zerfurcht war. Voller Wut und Zorn darüber, daß man ihn aus seinem süßen Schlaf geweckt hatte, kämpfte das Menschenkind mit aufgeblähten Lungen und geballten Fäusten. Wie konnten sie es wagen, seine Wünsche zur Seite zu fegen und zuzulassen, daß er in dem taumelnden Durcheinander einer toten Welt geboren wurde? Dies war nicht der Ort, um Stahlauges Sohn und Chaos’ Kind zur Welt zu bringen. Aber nun entließ seine Mutter ihre volle, milchspendende Brust aus ihrem Kleid und das Kind nahm die große, reife Warze in seinen Mund. Geräuschvoll nuckelte es daran, sog den reichen Saft der Natur in vollen, langen Zügen belohnt und erfüllt in sich ein. »Ist er nicht schön?« »Er ist schön, daran gibt es gar keinen Zweifel. Du bist schon eine tolle Frau, meine Frau, Chaos.« »Liebt Stahlauge?« »Ja, in der Tat, Stahlauge liebt.« Er lächelte, lachte, warf seine Arme in die Luft. »Komm, Trok, wen kümmert’s? Du wirst all dem hier keinen Schaden zufügen.« -86-
Und die irdische Nacht senkte sich über Paris.
-87-
TEIL ZWEI Vorher VII »Er ist geboren!« Tousle stürmte mit der Nachricht, die er von Stahlauge gerade über Millionen Meilen hinweg erhalten hatte, in Timions Laboratorium. »Auf der Erde?« »Ausgesprochen passend.« »Und aufregend, vielleicht.« »Bist du aufgeregt, Tousle?« »Und ob. Du nicht?« »Ich fürchte, mein Synthesizer sagt mir, daß ich besorgt sein soll, aber irgendwo da drinnen gibt es Anzeichen für etwas überschwenglichere Emotionen.« »Ich habe bereits Vorbereitungen getroffen, sie herzubringen und ihnen einen würdigen Empfang zu bereiten.« »Ich werde kommen und mir die Sache ansehen.« Die beiden großen Eumigen gingen zum zentralen Stadtkomplex, wo Roboter sanft mit gelegentlichem Rucken und Zucken über die Straßen glitten. Die Neuigkeit hatte sich bereits über den Planeten verbreitet, und man hatte eigens ein Komitee von Eumigen eingesetzt, die die Festlichkeiten für die Ankunft der Eltern des so lange geplanten und erwarteten Kindes vorbereiten sollten. »Ich wünschte, er wäre hier geboren worden, es wäre erheblich sicherer gewesen.« »Aber dann hätte es keine Heimkehr gegeben. Wir hätten dann nicht diese Dekorationen anbringen können, nicht wahr?« -88-
»Ich glaube, ich kann mich nicht daran erinnern, daß wir schon einmal irgendwann etwas auch nur im entferntesten Ähnliches getan hätten. Aber wir haben ja auch noch niemals ein Menschenkind zur Welt gebracht. Ich glaube doch, daß es angemessen ist.« Das ganze Stadtzentrum war mit »Willkommen«-Schildern bedeckt, mit Schildern, auf denen zu lesen stand: »Willkommen zu Hause, Menschenkind, Stahlauges Sohn!« »Gutgemacht, Chaos, Willkommen zu Hause!«, und ähnliche Gefühle. Wie die ausgelassenen Gäste eines Kindergeburtstags hüpften die Eumigen auf den Straßen umher, standen schwatzend an den Ecken herum, so als hätten sie selber ein Kind zur Welt gebracht. »Wie holen wir sie zurück, Tousle?« »Mit dem Raumschiff, Timion. Das ist der sicherste Weg.« »Aber auch der längste.« »Wir schicken eine komplette Flotte von Raumschlachtschiffen mit dem Teleporter zur Erde und kehren im Raumflug mit Lichtgeschwindigkeit wieder zurück. Wenn wir ein paar Zeitsprünge dazwischenschalten, wird die Reise etwa fünf Tage dauern.« »Warum gehen wir auf der Rückreise nicht das Risiko einer Teleportation ein?« »Die Risikorate von zwölf Prozent ist zu hoch.« »Du könntest sie auch so verlieren. Du gibst den Sylvanern fünf Tage Zeit, in der sie die ganze Flotte ausradieren können.« »Seit wann wagt es eine Sylvanische Flotte, die Eumigen anzugreifen?« »Sie wollen dieses Kind«, warnte Timion, »und sie wollen Stahlauge. Sie werden diesmal nicht zögern. Bereite dich auf sie vor, Tousle. Wir wollen sie nicht wieder verlieren.« »Ich habe sorgfältige Vorbereitungen getroffen«, beruhigte -89-
Tousle Timion. »Sie werden nicht an die Familie herankommen, nicht in einem Umkreis von hundert Kilometern.« »Erzähle!« »Wir setzen fünfzehn Schlachtschiffe mit voller Bewaffnung ein, und auf jedem Schlachtschiff wird für Chaos und das Kind eine Zelle eingerichtet. Im Falle eines Angriffs kann diese Zelle im Bruchteil einer Sekunde auf jedes beliebige andere Raumschiff teleportiert werden. Die kurze Entfernung zwischen dem sie tragenden oder aufnehmenden Raumschiff reduziert das Risiko auf ungefähr zwei Prozent, eher noch weniger. Das System arbeitet vollautomatisch und reagiert auf jeden Angriff auf das Transportschiff. Es ruft das nächste Raumschiff herbei und die Zelle wird sofort übertragen. Das kann so oft wiederholt werden, wie wir Raumschiffe haben, und es müßte schon die ganze Flotte ausradiert werden, bevor der Frau und dem Kind auch nur ein Haar gekrümmt werden könnte. Sie werden nicht einmal merken, was da passiert.« »Ausgesprochen genial, Tousle. Meinen Glückwunsch. Was ist mit Angriff und Verteidigung?« »Alle Schlachtschiffe sind mit der üblichen Bewaffnung ausgerüstet: Langstreckendisruptern, Lasern, Cathataren, und Bla Stern. Wir nehmen außerdem dreißig Kampfroboter mit, die unabhängig außerhalb der Fahrzeuge reisen, aber in ständigem TI-Kontakt mit dem nächsten Raumschiff stehen werden. Alle Befehle werden von dir selbst aus über die Roboter durch das ›Gehirnverkehrskommunikationssystem‹ koordiniert. Wir haben auch Vorbereitungen für einen Kreiselangriff getroffen, falls das notwendig werden sollte. Der Befehlsmechanismus ist bereits programmiert.« »Ich hoffe, wir werden das nicht brauchen«, seufzte Timion. »Es ist ein allerletztes Mittel.« »Wie viele Eumigen?« »Alles in allem wird es eine Besatzung von vierhundert sein, -90-
auf dreißig Raumschiffe verteilt.« »Und Einrichtungen für Mutter und Kind?« »Windeln, Kraftfeldkleider, zentralbeheizte Zelle, flüssige und feste Nahrung, Wasser, Zusatzdecken, Erste-HilfeAusrüstung, Exkrementierungszellen, Medizinschälchen, Verbände, Blutgerinner, Nadeln, Pyjamas, Nachthemd, Ohrenklappen, Papiertücher, automatischer Eierkocher, Notheizungsaggregate nur für die Transportzelle, unabhängige Teleport-Gürtel...« »Genug, Tousle. Genug. Du wirst ein Raumschiff nur für die Assessoires brauchen.« »Überhaupt nicht. Alles ist in verkleinerten Molekularzellen verstaut worden.« »Du hast in der Tat an alles gedacht. Noch einmal meinen Glückwunsch.« »Danke, Timion. Ich möcht e, daß unser kostbares Paar es während der Reise möglichst angenehm hat.« »Wann ist die Abreise?« »In drei Stunden. Wirst du das Führungsschiff übernehmen?« »Natürlich. Ich habe nicht vor, diese Reise zu verpassen.« In exakter Formation aufgestellt, stand die Schlachtflotte auf den Abschußrampen bereit. Vor der Reihe der dreißig Raumschiffe standen die Besatzungen im ›Stillgestanden‹. Die Kampfroboter vor ihnen ragten in all ihrer glänzenden Stärke vor ihnen auf. Ihr Benehmen war bestens. Nicht ein Knopf, der nicht an seinem Platz gewesen wäre, nicht ein Präzisionskontrollgürtel, der nicht auf Hochglanz gebracht worden und kampfbereit gewesen wäre, kein einziger Eumige müde oder stromkreislaufgestört. Tousle schritt die machtvolle Front ab. Sein Kopf war leicht vornübergebeugt, die großen Hände hinter dem Rücken gefaltet, Auf- und abschreitend erwartete er die Ankunft des Leiters des -91-
Unternehmers. Timion inspizierte die Truppen und ging an Bord des Flaggschiffes. Sofort danach erfolgte der Start. Stahlauge stand auf der Erde und wartete. »Werden sie lange brauchen?« Chaos und das Kind lagen in dem Wärmebett, das Handblaster auf niedriger Hitzestufe für sie erzeugten. Die Wissenschaft hatte ihnen ein bequemes Nest aus Trägerenergiestrahlen gebaut. »Ich glaube nicht. Sie sind genauso darauf aus, euch beide nach Hause zurückzuholen, wie ich selber. Ich habe keinen Zweifel, daß sie schon alles vorbereitet haben. Ich schätze, Tousle macht jetzt einen Wirbel, als wäre er die Mutter persönlich. Er fühlt eine starke Verantwortung für dich.« »Und du, Stahlauge?« »Ja, ich fühle mehr, als ich je für möglich gehalten hätte. Das sind ganz neue Empfindungen, die aus der Erfahrung selbst erwachsen, nicht aus Hamgar’s Erziehung.« »Was ist aus Hamgar geworden?« »Er ist im Schaltkreishospital der Eumigs. Sie unterziehen seinen armen geschundenen Körper einer Androidenwiederherstellung. Ich glaube, man kann sagen, daß er sich von einer Art Nervenzusammenbruch erholt.« »Der arme Hamgar.« »Ich bin ihm dankbar. Er hat mir viel mitgegeben, was mir Freude bereitet.« »Bist wohl über dich selbst erfreut, weil du ein Kind produziert hast, was? Typisch Mann, könnte ich mir vorstellen.« Sie lächelten, und während sie noch das Menschenkind ansahen, huschte ein schmaler Lichtstreif über den Himmel. Wenige Meter entfernt landete Timions Leitschiff, ohne die umgebende Atmosphäre zu beeinträchtigen. Die nahtlose Hülle des Raumschiffs wurde transparent und gab einen Eingang frei. -92-
Timion trat heraus und lächelte das Kleeblatt auf dem Boden an. »Ihr seid in Sicherheit, der Vorsehung sei Dank.« »Ich hoffe, die Vorsehung bleibt auch weiter auf unserer Seite. Bis jetzt hatten wir sie jedenfalls nötig.« »Ich gehe davon aus, daß Trok weg ist«, sagte Timion. »Ich wäre da nicht so sicher. Er ist ein verschlagener alter Fuchs und gibt so schnell nicht auf.« »Wir sind vorbereitet«, versicherte Timion. »Ich werde mit euch fliegen. Ich bezweifle zwar, daß meine schwache Kraft sich mit einer Kriegsflotte der Eumigen messen kann, aber dafür habe ich den Vorteil meiner Größe und Geschwindigkeit.« »Du bist herzlich eingeladen, Stahlauge, wenn es dir nichts ausmacht, allein durch den Weltraum zu fliegen. Du mußt müde sein.« »Nicht zu müde, um nicht sicher gehen zu wollen, daß diese beiden hier sicher abgeliefert werden.« Stahlauge zeigte auf seine Frau und sein Kind. »Dann komm, geh an Bord des Raumschiffes.« Timion befahl zwei Eumigen, die Mutter und das Kind in ihre Zelle zu bringen. Mit sanfter Kraft und äußerst behutsam hoben sie ihre leichte Last empor. Sie brachen auf, um die Kriegsflotte zurück nach Zrost zu führen. Aber der unvermeidliche Peiniger Trok war zur Stelle. Er vertrug Niederlagen nicht, und er kannte den Zorn seiner Führer. Er war entschlossen, eher zu sterben, als ohne Chaos und das Kind zurückzukehren. Die Schlacht, die jetzt folgte, sollte in die Annalen des Universums als eine der größten und verheerendsten ihrer Art eingehen. Es war niemals zuvor zu offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Eumigen und den Sylvanern gekommen, und zwei mächtigere Rassen gab es nicht im Weltraum. Es fing bescheiden an. Auf -93-
beiden Seiten wurde nur ein Bruchteil der zur Verfügung stehenden Kampfkraft eingesetzt. Aber der Konflikt breitete sich in dem Maße aus, indem auch die Siegesentschlossenheit auf beiden Seiten wuchs. Später unter dem Namen »Schlacht über der Erde« bekanntgeworden, wurde diese Auseinandersetzung rund um den Planeten mit hohen Verlusten auf beiden Seiten geführt. »Wie zwei große Ringkämpfer«, notierte Tousle nach dem Kampf, »taxierten sich die feindlichen Streitkräfte der Eumigen und der Sylvaner quer durch den Weltraum hindurch. Sie tänzelten im toten Raum vor und zurück, drehten und wendeten und versuchten, die Stärke des anderen einzuschätzen, bevor sie schließlich in den Kampf gingen.« Die Sylvaner verteilten sich schnell zu ihrer gewohnten Verteidigungsordnung. Sie umgaben ihr Leitschiff mit einem Schutzkreis, der den Kommandanten Zeit geben sollte, ihre Taktik zu bestimmen. Zwei Raumschiffe trieben in der Mitte, während zehn weitere sich in einer Umlaufbahn um sie herumbewegten, die ihrerseits wieder von vierzig weiteren Raumschiffen umkreist wurden. Die Flanken wurden noch einmal von der gleichen Anzahl von Raumschiffen geschützt. Die Sylvaner planten immer sehr sorgfältig, taten nie etwas übereilt. Sie bewahrten einen seltsam anmutenden Anstand, zeigten nur langsam ihre Zähne. Sie waren es, die Anstandsregeln festzulegen pflegten, weil sie wußten, daß sie sich das leisten konnten. Sie waren selbstsicher und siegesgewohnt. Aber die Eumigen waren keine kleinmütigen Gegner; ihnen fehlte die vorsichtige Herangehensweise an die Schlacht. Die Eumigen warteten ab und beobachteten die taktische Aufstellung, die sie einschüchtern sollte. Die Eumigen brachten ihre Raumschiffe in volle Schlachtordnung. Ganz ruhig, wie ein feindlich kreisender Insektenschwarm, lagen sie im Weltraum, bösartigen Hornissen gleich, die sich ihrer Stärke bewußt waren und das Ende der Schlacht schon nahen sahen. Und sie hüllten -94-
sich in völliges Schweigen. Keine interne Kommunikation, kein Hin und Her von Befehlen. Die Befehle waren bereits erteilt, von allen Eumigen auswendig gelernt und geprobt worden. Sie kannten das Denken ihres Führers. Während die Gesprächskanäle der Sylvaner von einem Gewirr sorgfältig zusammengeschnippelter und entstellter Informationsfetzen erfüllt waren, die bewußt für die Ohren des Feindes ausgestrahlt wurden, war es daher auf der anderen Seite völlig ruhig. »Ich verliere bald die Lust,« murmelte Stahlauge über die Empfänger der eumigischen Raumschiffe, während er die albernen Wellenbewegungen der Sylvaner beobachtete. Er trieb im Weltraum und wartete darauf, daß der Kampf begann. »Was machen sie?« »Sie tändeln mit uns herum, Stahlauge. Du mußt Geduld mit ihnen haben, es ist ihr Lieblingsspiel.« »Ich kann hier nicht herumstehen und warten, bis sie sich in Gang setzen.« Er schickte einen sengenden Hitzestrahl seines Auges gegen das nächste Raumschiff aus und bohrte ein sauberes vier Meter großes Loch in seine Flanke. Das Raumschiff löste sich aus der tour de force und schoß in Deckung, um den Schaden zu beheben, aber die anderen setzten ihre gleichmäßige Umrundung der beiden inneren Raumschiffe fort. »Das ist ja wie auf dem Jahrmarkt. Habe ich noch einen Versuch? Ich könnte sie mit einem Dutzend Augenzwinkern alle außer Gefecht setzen.« »Es kann nichts schaden, sie ein wenig in Erregung zu versetzen, Stahlauge. Sie trauen uns nicht, vor allem dir nicht, Stahlauge. Sie kennen unsere Stärke nicht, und sie haben vor, uns mit ihren in die Länge gezogenen Überlegungen aus der Ruhe zu bringen. Spiel dein Spiel mit ihnen, wenn du möchtest. -95-
Viel Spaß dabei!« Stahlauge nahm das wörtlich. Mit Lichtgeschwindigkeit schoß er durch den Raum, der zwischen seiner und der feindlichen Gruppe lag. Wie eine wild gewordene Hummel schnellte er durch die feindlichen Reihen, teilte mit seinem scharfen Auge Stiche in das Innere der Raumschiffe aus, die sich in Reichweite befanden. Mit einem einzigen Ausfall beschädigte er acht Schiffe, von denen eines irreparabel zerstört war. Die Sylvaner wurden zornig und gaben jetzt offensichtlich ihre geheimen Diskussionen zugunsten der positiveren Aspekte des Angriffs auf. Stahlauge wäre fast von einem wütenden Angriff erfaßt worden, der in erster Linie gegen ihn gerichtet war. Sechs Raumschiffe drehten auf ihn zu; hin und herfliegend, richteten sie ihr wütendes und schnelles Blaster- und Disrupterfeuer auf den Abschnitt des Weltraums, in dem Stahlauge flog. Jeder einzelne Schuß saß ziemlich dicht, aber bei Stahlauge hieß ziemlich dicht eben auch eine Millionstel Sekunde zu spät. Und das reichte nicht aus. Er fuhr fort, mit unglaublicher Behendigkeit zwisehen den Reihen hin- und herzufliegen, wobei er auf jedes Raumschiff achtete, das nicht durch ein anderes verdeckt wurde; dann rauschte er davon und tauchte hinter ihnen wieder auf. Er wollte sie dazu verleiten, ihre Flanke dem Feind zuzuwenden. Aber die Sylvaner waren nicht bis zur Dummheit erzürnt, und so gaben sie die kleine Fliege zugunsten der größeren Beute auf. »Um dem Sperrfeuerangriff der Sylvaner auszuweichen«, notierte Tousle, »ließ Timion die eumigischen Raumschiffe in einem einzigen Manöver dreißig Meter tiefer in den Weltraum absacken. Nach weiteren zehn Metern zog er sie plötzlich auf eine Höhe von fünfzig Metern.« Die gesamte Streitmacht der Eumigen vollführte einen seltsamen Tanz. Jeder einzelne folgte ohne Zögern dem -96-
undurchsichtigen Rhythmus. Verschiedene Versuche, sie unter Feuer zu nehmen, gingen fehl. Das erste Defensivmanöver endete für die Sylvaner in totaler Frustration. »Sequenzangriff«. Timions nächste Phase begann, und Stahlauge stand völlig unbeweglich und voller Verwunderung im Raum. Er war überflüssig, während die Meister des Kampfes ihre verheerende Arbeit taten. »Sektionen eins, drei, acht und neun. Operationen beenden. Sequenzangriff.« Die ersten vier Raumschiffe lösten sich aus der Formation und rasten in den Kampf. In einer perfekten Bewegung, die unkontrolliert aussah, aber sorgfältig programmiert war, stießen sie auf die Sylvanische Flotte herab. Ein Raumschiff fegte über die Sylvanischen Streitkräfte hinweg und trennte mit seinen Feuerstößen ein Stück von jedem der sechs feindlichen Schiffe ab. Das zweite schoß unter der gesamten Flotte hinweg und schickte eine Serie schneller, krachender Kathatarschüsse in die Pilotenkanzeln von drei Raumschiffen; das dritte tauchte aus voller Kraft feuernd wie ein Feuerball plötzlich inmitten der feindlichen Raumschiffe auf. Mit einem Weitwinkelschuß überhitzte es zehn Fahrzeuge. In dem so geschaffenen Inferno waren die Besatzungen nicht mehr in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen. Es folgte der letzte der ersten vier, der die aus dem Gleichgewicht gebrachten Raumschiffe mit kleinen Aktivbomben beschoß und sie auf diese Weise aus ihrer Formation heraussprengte. Die angegriffenen Schiffe erlitten häßliche Beschädigungen. Die Sylvaner waren über diesen hochorganisierten Angriff völlig verwirrt. Nie zuvor waren sie auf Widerstand gestoßen. Die ganze Operation der ersten Angriffssequenz dauerte nur ein paar Sekunden, aber ihr Resultat war eine empfindliche Schwächung der Sylvanischen Streitkräfte. Doch bevor Trok neu gruppieren konnte, lief bereits die zweite Phase an. »Fordert Hilfe an, verstärkt den Angriff, schafft schnell einen neuen Schub an Schlachtschiffen her, teleportiert -97-
Raumzerstörer, alles, was ihr auftreiben könnt«. Troks Befehle trugen einen Anflug von Panik. Selbst er verzagte vor dieser Maschinengewehrtechnik, die an einen tobenden Boxer erinnerte, der mit solcher Geschwindigkeit auf seinen Gegner einschlägt, daß jeder Gedanke unmöglich wird, geschweige denn irgend eine Handlung. »Sequenzangriff. Sektionen zwei, vier, sieben und zehn, Operationen beenden, Sequenz Phase zwei...« Die nächsten vier eumigischen Raumschiffe lösten sich aus ihrer Formation und verfielen in ihren eigenen, speziell für sie geplanten Tanz, diesmal mit noch größerer Wirkung. Die ersten zwei Raumschiffe flogen mit Raumgeschwindigkeit, was etwa Mach 10 entspricht. Sie bewegten sich genau auf gleicher Höhe, und ihre Disruptoren feuerten unablässig. Aus ihrem Rumpf schossen Blitze hervor und erzeugten ein Feuerwerk aus Licht und Hitze. Sie waren mit einem Hochspannungslicht ausgerüstet, einem explosiven Nebel, der die vorrückenden Schiffe in den Augen des Feindes wie mit einer Gloriole aus hellem Feuer umgab. Von den sylvanischen Raumschiffen aus gesehen schien es, als dehnten sie sich in Minutenschnelle aus, während sie das Zentrum ihrer Gruppierung unter Feuer nahmen, die jetzt alles andere als in perfekter Schlachtordnung war. Immer weiter vorrückend, schienen sie zu verbrennen und dennoch größer zu werden. Auf diese Weise wurde das Auge von dem todbringenden Feuer der Disruptoren abgelenkt, die tiefe Wunden in die Körper der feindlichen Raumschiffe schlugen und sie in der Mitte auftrennten. Acht sylvanische Raumschiffe explodierten und zerfielen in ihre Atome, verschwanden im Nichts. Fünf weitere gerieten an den Rand des Disruptorfeuers und wurden kampfunfähig gemacht. Troks Leitschiff geriet unter Beschuß und verlor viel von seiner Feuerkraft, nachdem ihm eine Seite vom Rumpf gesprengt worden war. Er brüllte weitere Befehle. »Ausweichmanöver, Umgehung, dreihundert Meter nach Osten -98-
und Westen.« Alle sylvanischen Fahrzeuge schwanden aus der Formation heraus und drehten ab, heraus aus der Reichweite der immer noch vorrückenden eumigischen Angreifer. »Feuer auf die Flanken, kümmert euch nicht um den Lichtkranz!« Sie hatten ihre ersten Treffer gelandet, und den eumigischen Schiffen wurden einige unangenehme Beschädigungen zugefügt. Aber die anderen beiden in der Sequenz Zwei des eumigischen Angriffs waren auf diesen Schachzug vorbereitet. Sie kamen von unten heran und trafen auf die neue Feindformation. Diesmal gab es einen neuen Schock. Hatten die Sylvaner geglaubt, daß sie allein aufgrund ihrer Kenntnisse auf dem Gebiet der Molekularanordnungen über bestimmter Fertigkeiten verfügten, so sahen sie sich jetzt hierin getäuscht. Mit Überraschung sahen sie jetzt die Eumigen eine Operation durchführen, die sie selbst geplant hatten. Timion gab seine nächsten Anweisungen. »Sektionen fünf, sechs, elf und zwölf, Operation einstellen. Angriff auf Sequenzphase drei.« Die nächsten vier eumigischen Schiffe griffen in den Kampf ein. Zwei davon verachtfachten ihre Größe, so daß sie fast drei Kilometer lang und fast einen ga nzen Kilometer breit wurden. Während sie näherkamen, verringerten sie plötzlich ihre Größe, nur um sie sofort wieder zu vervielfachen. Auf diese Weise wurde es den Sylvanern unmöglich gemacht, ihre Entfernung oder ihre Geschwindigkeit zu erkennen. Dann schlössen sie sich plötzlich enger zusammen und rasten schießend auf das Rudel der Sylvaner zu, stoben wieder auseinander und tauchten über und unter dem Feind wieder auf. Die anderen beiden griffen mit einer halben Kreiselbewegung an, schnell um die eigene Achse wirbelnd, während sie heranrückten. Die Kreiseltechnik war eine weitere Erfindung der Eumigen, die den Sylvanern unbekannt war, und sie hatte sehr unerfreuliche Folgen. Die Kreiselbewegung war so schnell, daß sie einen Dunstschleier um sich errichteten, der es schwierig machte, ihre genaue Position -99-
zu bestimmen. Während sie heranwirbelten, gaben sie in einem Feuerrad ihre Ladung ab und belegten die Sylvaner, die versuchten, die anderen beiden Schiffe über und unter ihnen ausfindig zu machen, mit dem Feuer ihrer Blaster. Wieder einmal wurde erheblicher Schaden angerichtet. Die Streitkräfte des frustrierten Trok waren um weitere zehn Schiffe dezimiert worden. »Schluß damit! Haltet auf die übrige Formation zu. Weg von den Angreifern, alle Schiffe in den Rücken der herankommenden Eumigen. Angriff in statischer Formation, alle Blaster Feuer frei.« Das Manöver war schnell, aber unüberlegt, denn die sylvanischen Anführer hatten keine Notiz von der Bewegung der eumigischen Kampfroboter genommen, die sich während des Überfalls hinter ihre Linien gestohlen hatten. Zwanzig riesige, gutausgerüstete Kampfroboter tauchten plötzlich hinter Troks Schiff auf und versetzten ihm einen weiteren Schlag. Mit ihrer Feuerkraft setzten sie drei Raumschiffe außer Gefecht. Es war nur natürlich, daß er sich den neuen Angreifern zuwandte und versuchte, die gräßliche Hitze ihrer Kanonen abzuwehren. Die Kampfroboter bewegten sich noch geschickter als ihre Leitraumschiffe und nagten aus allen Richtungen an der feindlichen Flotte. Ein Roboter hängte sich direkt an den Rumpf des größten sylvanischen Raumschiffs und machte sich daran, das Metall seines Schiffskörpers zu durchschneiden. Wie ein Blutegel saß er auf dem Rumpf und schnitt mit seinem Handlaser. Bevor noch irgend etwas getan werden konnte, um ihn aufzuhalten, brach er in die Pilotensektion durch. Auf dem Hauptkontrolldock stehend teilte er seine Feuerstöße aus. Innerhalb weniger Sekunden hatte er die Kontrolle über das Schiff. Aber Hilfe nahte. Es war höchste Zeit. Trok verfügte bereits über weniger als die Hälfte seiner ursprünglichen Streitmacht, und selbst die schwand immer mehr dahin. Fünfzig weitere schwere Schlachtenkreuzer teleportierten sich -100-
an den Ort des Geschehens, bereit zum Angriff. Timions Problem wurde akuter. »Verstärkungen sind eingetroffen, Timion«, informierte Tousle ihn. »Ich habe es bemerkt.« Er gab eine Reihe von Befehlen. »Acht Zerstörer, Nummer dreizehn bis einundzwanzig, Kreiselangriff bei Höchstgeschwindigkeit. Die übrigen Trägerschiffe Kurs halten. Zwei Begleitschiffe für Übertragung einsetzen, falls notwendig.« Timions Gedanken galten an erster Stelle seiner teuren Chaos und ihrem Kind. »Stahlauge, ich denke, wir könnten deine Hilfe gebrauchen.« »Ich hatte schon geglaubt, du würdest nie darum bitten.« Stahlauge eilte in den Kampf. Mit höchstmöglicher Geschwindigkeit bewegte er sich über die neuen drohenden sylvanischen Schlachtschiffe hinweg. Dann stieß er schnell in ihr Zentrum hinab. Sie waren dicht gruppiert, und sein Körper glitt dorthin, wo ihre Feuerkraft am schwächsten war. Er setzte seine eigene spezielle Angriffsart ein. Er schnitt saubere Löcher in die Flanken der Zerstörer und legte so die Maschinen und Bewaffnungskontrollräume bloß. Ohne die Schiffe in Stücke zu sprengen, gelang es ihm, in etwa drei Minuten drei schwere Zerstörer auszuschalten. Trok aber hatte seinen eigenen Plan. Endlich, nachdem Hilfe eingetroffen war, konnte er ein wenig nachdenken. Er hatte sich vergewissert, welches Raumschiff Chaos und das Kind an Bord hatte, und es war ihm klar, daß die Schlacht ein Ende haben würde, wenn es ihm gelang, die beiden aus dem Raumschiff herauszuholen. Die Eumigen würden es nicht riskieren, ein Schiff anzugreifen, das an Bord hatte, was sie vor allem anderen zu schützen suchten. Er entsandte vier seiner eigenen sylvanischen Kampfroboter, ließ sie an die Türen schlagen und beobachtete den Erfolg. Während die Roboter auf den Rumpf einhämmerten und kleine, -101-
gezackte Löcher aus ihm herausstanzten, kam das zweite, empfangende Raumschiff näher heran und der Transport der Teleport-Zelle fand statt. Trok rückte näher heran. Die Kampfroboter griffen das zweite Raumschiff an. Währenddessen schob Trok sein eigenes Raumschiff zwischen dem Träger- und dem Empfängerraumschiff in Position, sandte seine Traktorstrahlen aus und nahm die Sendung selbst in Empfang. »Teleport-Übertragung fehlgeschlagen. Erwarten Befehle. Wir haben die Teleport-Zelle nicht aufnehmen können. Alarm.« Das Eumigische Raumschiff übermittelte Timion quäkend das Resultat des cleveren Manövers. Trok, der es ausgeführt hatte, verschwand bereits in der Entfernung. »Verdammt! Das war Trok, er hat Chaos. Was nun, Timion?« »Uns bleibt keine Wahl. Setzt die übriggebliebenen Raumschiffe außer Gefecht, alle Kreiselangriff auf die verbliebenen Schiffe, und dann laßt uns nach Zrost zurückkehren.« Das letzte der eumigischen Raumschiffe ging zum Angriff über und verstümmelte und zerstörte den größten Teil der verbliebenen sylvanischen Flotte. Stahlauge stöhnte. »Warum, zum Teufel, habt ihr das nicht gleich getan?« »Wir halten nichts von sinnloser Zerstörung. Komm, wir müssen uns unseren nächsten Zug überlegen.« Hinkend und dezimiert traten die Sylvaner den Rückweg in den Komplex an. Jetzt kannten sie die Stärke ihres Feindes besser, als ihnen lieb war. Anchor erlebte die Rückkehr eines höchst zufriedenen Trok. Die gekidnappten Insassen seiner Rakete wurden ruhig und ohne Aufsehen in ein bequemes Heim in der Stadt gebracht, wo besonders ausgebildete Pflegerinnen sich um sie kümmern -102-
sollten. Man hatte nicht die Ab sicht, den neuen Bewohnern des Komplexes Sylva irgend ein Leid zuzufügen... noch nicht. Trok erschien vor dem Rat der Sylvas. »Du hast deine Mission erfüllt, Trok, aber mit schweren Verlusten.« »Der Verlust ist gering, my Lord. Wir haben, was wir benötigten.« »Im Unterschied zu den Eumigen, sind wir nicht in der Lage, künstlich sylvanische Lebewesen herzustellen. Jeder Verlust eines Lebens ist ein Unglück, und in dieser Schlacht wurden sechshundert Sylvaner durch einen einzigen eumigischen Schlachtkreisel ausgeschaltet. Du mußt irgendeine Methode entwickeln, diesen besonderen Robotertrick zu bekämpfen.« »Ja, my Lord.« »Aber gut, zweifellos, sehr gut. Ich werde es weiterberichten. Du hast vollkommene Arbeit geleistet.« »Ja, my Lord.« Trok verließ den Saal der Sylvas. Er war an die brüske Art der führenden Sylvas gewöhnt. Chaos saß ruhig in dem Kraftfeldsessel ihres Gefängnisses. Das Menschenkind schlief schon wieder - ein wenig durcheinander von der Unruhe, aber nach Art seines Vaters so gebaut, daß er gut mit Unbequemlichkeiten fertig werden konnte. Sie betrachtete sein ruhiges Gesicht und fragte sich ängstlich, was für ein Leben wohl in seinen späteren Jahren auf ihn warten mochte. In was für Welten hatte sie dieses Kind hineingeboren? Was für eine Art Leben konnte sie für ihn erhoffen? Hätte sie überhaupt gebären sollen? Hätte sie härter gegen die Eumigen sein und sich weigern sollen, ein Kind auszutragen? Aber welche Wahl hatte sie denn gehabt? Wie konnte jemand, der den wohlwollenden Plänen der sanften Riesen auf Zrost sein ganzes Leben verdankte, ihnen irgend etwas abschlagen? Sie würden sie und das Kind beschützen. Stahlauge würde sie der Gefahr entreißen, daran konnte es gar keinen Zweifel geben, und in der Zwischenzeit konnte sie nur -103-
beruhigt sein und auf ihre Freiheit warten. Aber sie wartete mit Beben. Sie kannte die barsche Kälte der Sylvaner. Sie hatte von ihrer entschlossenen Art gehört, davon daß sie einfach zertraten, was sie nicht ertragen konnten, und das sie beseitigten, was sich ihnen in den Weg stellte. Und Stahlauge und die Eumigen standen ihnen im Weg. Herausfordernd und fruchtlos forderten sie mehr, als man ihnen jemals gewähren würde, forderten Macht und Anerkennung, forderten rückhaltlos und ohne Kompromisse. Irgendwo mußte irgend etwas nachgeben. Und es könnte mit ihr beginnen, mit ihr und ihrem kostbaren Kind. Eine schlängelnde und tänzelnde Gestalt erschien im Eingang. Der Sylvaner änderte sich beständig mit jedem seiner Worte, und er zeigte noch mehr als das übliche charakteristische Maß an molekularer Veränderung, wenn er durch den Raum glitt. Er sprach ruhig und ohne Aggressivität zu ihr, aber seine stille Autorität ließ ihr die kalte Angst den Rücken herunterlaufen. »Chaos ist dein Name.« Eine platte Feststellung. »Wir sind erfreut, daß du hierhergekommen bist, um unsere Gastfreundschaft zu versuchen.« »Ich bin nicht gekommen, ich wurde hergebracht. Es ist nicht mein Wunsch, hier zu sein.« »Man hat mir von deiner Stärke und deinem Charakter berichtet. Daß du jemand bist, die nicht leicht einem anderen Willen unterworfen werden kann. »Er schenkte ihren Worten keine Beachtung. Chaos blieb still. »Wir schätzen uns glücklich, daß du so lange hier bleibst, bis unsere Erwartungen sich erfüllt haben.« »Und wenn sie das nicht tun?« »Sie werden, Chaos, sie werden mit Sicherheit. Stahlauge wird kommen. Er ist nicht mit der Vorsicht deiner weiblichen Vernunft gesegnet. Er ist stürmisch und tollkühn. Er wird kommen, und mit seinem abstoßenden Auge Tod und Verderben -104-
spucken, und wir werden ihn zertreten, bis selbst die Knochen seines Menschenkörpers nichts als Brei sind. Mir scheint, daran kann es kaum Zweifel geben.« »Dann weißt du nichts über Stahlauge.« »Ich weiß mehr als viele, denn ich habe ihn kennengelernt.« »Wie ist dein Name?« »Man nennt mich den Herrn der Sylvas. Ich befehlige das ganze Sylvanische Imperium.« »Ich fühle mich geehrt. Du mußt ein sehr mächtiger Sylvaner sein. Trotzdem hört man nicht viel von dir.« »Man hört nicht viel von mir, Chaos, weil ich es vorziehe, im Verborgenen zu bleiben. Ich gehe meine eigenen Wege.« »Man sagt, daß diejenigen Sylvaner, die die anderen noch an Körperverformungen übertreffen, viel zu verbergen haben. In der Tat vergleichen die Eumigen die sylvanischen Körperverformung mit dem Bart eines Jugendlichen, der bösartige Stellen mit dem Mantel des Mannesalters zudeckt.« »Deine Zunge arbeitet wie die einer Frau, Chaos, aber einer höchst ungewöhnlichen. Du solltest deine Wünsche übermitteln, sie werden erfüllt werden. Vielleicht werden wir einander einmal mehr zu sagen haben, wenn die Stunde gekommen ist. Ich hoffe, daß du überleben wirst; du könntest einer toten Rasse zur Ehre gereichen. Bleibe am Leben, Chaos, bleibe am Leben.« »Und was ist mit meinem Sohn?« »Dein Sohn? Er wird sterben, daran gibt es keinen Zweifel. Dein Sohn wird sterben, aber vielleicht einstweilen noch nicht, noch nicht sofort!« Der Herr der Sylvas verließ die Kammer, und die Tür glitt wieder zu. Chaos schlief nicht in jener Nacht, und auch nicht in der nächsten. Alles in allem blieb Chaos zwei Wochen lang in ihrer luxuriösen Zelle. Kein Wort und keine Nachricht von Stahlauge oder den Eumigen. Sie wachte über ihr Kind, nährend -105-
und liebevoll besorgt, und die ganze Zeit fragte sie sich, was wohl aus dem Mann geworden sei. Ihre Zuversicht, und in der Tat auch die der Sylvaner, schwand ein wenig. Chaos begann zu denken, daß man vielleicht versucht hatte, sie zu retten, und daß Stahlauge jetzt vielleicht nur noch ein Haufen ungeordneter Atome war. Vielleicht hatten die Eumigen alle Hoffnung aufgegeben; vielleicht war für sie und ihren hübschen Sohn alles bereits verloren. Die Sylvaner begannen zu glauben, daß ihre wohlausgeklügelten Pläne alle vergeblich waren. Im Komplex baute sich eine ständig stärker werdende Spannung auf. Wie auf allen anderen Welten, so verbreitete sich auch hier die Nachricht, daß Stahlauge im Kommen begriffen sei, daß die Völker der Planeten bald Zeuge einer massiven Schlacht gegen einen einzigen Mann sein würden. Auf Sylva entwickelte sich langsam ein Gefühl des Heroismus. Viele meinten, dies sei besser als jeder Sport. Die Bevölkerung kaufte Fernsichtgeräte, um den Himmel zu beobachten und nach Stahlauge Ausschau zu halten. Jeder wollte als erster seine Freunde über die Ankunft unterrichten, wollte das Ereignis für seine Kinder in späteren Jahren aufzeichnen. Die Schlacht um Stahlauge würde stattfinden; sie mußte bald stattfinden. Und während die Tage vergingen, stieg auch die Spannung. Und genau das hatte Stahlauge geplant.
VIII »Sie nähern sich der Sicherheitsbake, sie nähern sich der Sicherheitsbake, bitte nehmen Sie ihre Abschirmungen für die Personenkontrolle zurück.« Stahlauge gehorchte mit angehaltenem Atem. Er hoffte, daß man bei den Vorbereitungen seiner Reise nach Afractua nichts vergessen oder übersehen hatte. -106-
«Die Bibliotheken von Afratua erfordern vor Eintritt strikte Sicherheitsüberprüfungen. Sie müssen, ich wiederhole, müssen, alle Durchsuchungsanweisungen befolgen. Ihr Schiff wird einer Suchstrahlenkontrolle unterzogen. Zeigen Sie Ihren Passierschein auf dem Hauptkontrollschirm.« Alles wurde vorbereitet wie verlangt. »Welche Absichten haben sie? Sind sie zum Vergnügen hier oder zu Forschungszwecken?« »Zu Forschungszwecken.« »Zu welcher Abteilung der Bibliotheken wünschen sie Zutritt?« Die Stimme wurde in die Audiokontrollen des Schiffes eingespeist und klang ziemlich genau wie ein altmodischer Klang-Computer, gespreizt und monoton. »Das antike Sylva.« »Sie sind sich bewußt, daß diese Abteilung die höchste Sicherheitsstufe hat?« »Bin ich.« »Besitzen sie die erforderlichen Passierscheine?« »Ja.« »Zeigen sie sie auf dem Bildschirm.« Tousle hatte seine Erfindungsgabe angestrengt, um das Duplikat eines Satzes von Passierscheinen mit der höchsten Sicherheitsstufe herzustellen. Stahlauge bezweifelte noch immer ihre Echtheit, aber die Sicherheitsbaken waren offensichtlich zufrieden. »Sie können passieren. Der relevante Sektion ist der Planet 6785. Bitte befolgen sie die Anweisungen auf dem Videokontrollschirm. Bis zu ihrer Ankunft werden sie durch den Monitor gesteuert. Die Zeit gehört Ihnen.« Stahlauge ließ das Raumschiff den Anweisungen des Monitors folgen und lehnte sich zurück, um aus den Bullaugen die verschiedenfarbigen Planeten zu beobachten. Jeder einzelne war von einer künstlichen Färbung umgeben, die seine Funktion -107-
anzeigte. Die Bibliotheken von Afractua waren die größten und umfassendsten Nachschlagebibliotheken im bekannten Teil des Universums, und Stahlauge hoffte, hier ein wenig mehr über den Kreis von Freefall herauszufinden. Es herrschte eine rege Aktivität. Vie le Schiffe eilten hin und her, in denen Studenten saßen, Gruppen von Schulkindern, Touristen, Ingenieure, die die komplizierten Exon-Computersysteme in den Bibliotheken reparierten, und die vielen reisenden Händler, die die verschiedenen Reststädte im ganzen Komplex belieferten. In Afractua gab es ungefähr dreitausend Planeten, und alle enthielten sie Informationsmaterial über das bewohnte wie das unbewohnte Universum. Mit den richtigen Passierscheinen konnte jedermann jeden beliebigen Teil Afractuas besuchen und die faszinierende Technik der Zeitreise entdecken, die Physik der Lichtreise, den Aufbau eines Video-Sektors, die Geographie Tepors, die Anzahl der Planeten innerhalb der Föderation und alle Einzelheiten ihrer Funktion, die Biologie eines TDKs, die medizinische Wissenschaft der Sylvaner, wie man eine Biokammer herstellt, wie man Salat in tropischem Klima anbaut, was ein Affe ist, wie viele Sylvaner in der Föderation lebten usw... Wissen für alle Ewigkeit. Manche verbrachten als ewige Studenten ihr ga nzes Leben in den Bibliotheken. Es gab Ruhezonen, Unterhaltungszentren, Appartments, Hotels, Kantinen, was man sich nur wünschen konnte. Waren sie erst einmal drin, fühlten sich die meisten dort recht wohl. Um die akademische Atmosphäre nicht zu beeinträchtigen, hielten die Sylvaner offene Sicherheitsposten von der Zone fern. Es gab keine Arrestrutschen und jedermann konnte sich frei auf dem Planeten bewegen, ohne durch Fragen nach ID-Scheiben gestört zu werden. Das war Absicht so, aber es hatte natürlich auch seine Vorteile für die Sylvaner; denn Afractua war ein Versuchsfeld für die neuesten Sicherheitsvorkehrungen - die unsichtbaren. -108-
Stahlauges Raumschiff glitt behäbig ins Dock. Wartungspersonal eilte herbei. Die Ausstiegsluken wurden von außen geöffnet. An der Tür warteten bereits zwei Betreuer, von denen einer Stahlauge während seines gesamten Aufenthaltes begleiten würde. Die weibliche Sylvanerin würde jedes seiner Bedürfnisse befriedigen, jedes Bedürfnis, ohne Ausnahme. Je durchgängiger und intensiver die Betreuung, umso lückenloser war auch die Überwachung. »Havoc Carls.« Stahlauge hatte eine neue Identität angenommen. Er benutzte seinen eigenen Namen, den Namen, den er sich selbst gewählt und den ihm die Eumigen gegeben hatten. Sein Gesicht hatte sich durch metabolische Restrukturierung verändert, sein Körper war jetzt etwas kleiner, seine Kleidung weniger auffällig. Eine andere Person - in der Tat, ein Sylvaner. »Das ist mein Name.« »Darf ich ihnen ihre Informationssektion zeigen? Das Antike Sylva, nicht wahr?« »Richtig.« »Möchten sie jetzt vielleicht gleich eine Erfrischung?« »Nein, ich würde lieber gleich mit der Arbeit anfangen.« Die zweite Betreuerin zog sich zurück, und Stahlauge sah ihr nach. Die erste, wie alle Betreuerinnen ausgesprochen attraktiv, nahm ihn mit einer warmen, freundlichen Geste beim Arm. Während der Dauer seines Aufenthaltes würde sie ihm in jeder Beziehung als Freundin zur Verfügung stehen. »Ist dies Ihr erster Besuch hier, Havoc?« »Ja.« »Ich hoffe, Sie werden wiederkommen.« Manchen hätte diese Vertraulichkeit vielleicht irritiert. Aber Stahlauge verspürte keinerlei Unbehagen. Er konnte es sich nicht leisten - die Sylvaner liebten das. Stahlauge betrachtete sie. Sie war groß, blond und schwelgte anscheinend nicht zum -109-
Übermaß in Körperverformungen. Ihr Körper war üppig. Anders als die meisten Sylvanischen Weibchen, die ihren Busen als nützlichen Bestandteil ihrer Existenz aufgegeben zu haben schienen, besaß sie große, feste, fast schwere Brüste. Die syIvanischen Mütter mußten ihre Kinder nicht mehr nähren, nicht einmal gebären, wenn sie es nicht wollten. Es war angenehm, ein richtiges Paar großer Brüste zu sehen. Er wäre fast versucht gewesen, ihren Betreuungsservice voll in Anspruch zu nehmen, aber das wäre zu gefährlich gewesen. So gab er sich damit zufrieden, sie anzusehen. »Möchten Sie mehr von mir sehen, Havoc? Ich stehe Ihnen zur Verfügung, wann immer Sie wünschen.« »Ich möchte schon sehr gerne, aber leider gibt es für mich eine Menge Arbeit zu erledigen.« »Dafür ist immer Zeit.« »Wir werden sehen. Lassen Sie mich erst einmal meine Arbeit beenden, und wenn wir dann eine Stunde frei haben oder so, dann vielleicht...« »Wie sie wünschen.« Sie führte ihn zu der mit »Antikes Sylva« bezeichneten Sektion. Sie gingen an den langen Reihe gemütlich eingerichteter Kabinen vorbei. Jede von ihnen maß etwa zehn Quadratmeter und war mit allem ausgerüstet, was sich ein hart arbeitender Forscher nur wünschen konnte: bequeme Kraftfeldsessel, gepolsterte Fußböden, Pulte, Videoschirme, 4D-Kristalle. Eine Wand war eigentlich eher eine kleine Erfrischungsbar, die alles Erdenkliche liefern konnte: Getränke, Nahrung, Zigaretten, Ruhefilme, Stimulantia, Drogen. Die Betreuerin konnte Massagen machen, intensiv lieben, Erste Hilfe, leisten, Botengänge verrichten, durch einen Reifen springen. »Bitte rufen Sie mich, wenn sie Hilfe brauchen. Ich bin draußen vor der Kabine.« Sie zog sich zurück. »So, nun zu dir, Kreis von Freefall, Kreis: Ich benötige -110-
ausführliches Informationsmaterial nebst Kommentaren über den Kreis von Freefall, seine Ankunft, seinen Bau, die Dauer seiner Existenz, seine Wirkungskräfte, und alle anderen relevanten Informationen.« Das Exon-Computer-Terminal, das in der Kabine installiert war, tickte ein paar Sekunden lang, und dann wurde die Information über den Audio-Schirm verlesen, angereichert mit zahlreichen Illustrationen zu der Schilderung. Die Sylvaner gestalteten alles so interessant wie möglich. Eine richtige Kinovorstellung. »Der Kreis von Freefall residiert im Zentrum des Komplex Sylva, auf dem Planeten Anchor, im Saal des Kreises, der sich im Keller des Sylva-Gebäudes befindet, Sektor f, 59. Straße, Planquadrat ABH. Der Eintritt in diesen Saal ist ausschließlich den Sylvas vorbehalten.« Atempause. Bilder. »Der Kreis ist als solcher geometrisch perfekt und hängt ohne sichtbare Befestigung über einer Frage-Kontroll-Konsole. Er besitzt absolutes Wissen über die Arbeit und Funktion der Föderation der Universalen Mächte. Er kann jederzeit Informationen über jeden beliebigen Teil der Föderation liefern und leitet einen Großteil der normalen Tagespolitik des Sylvanischen Imperiums. Er befindet sich jedoch unter der strikten Oberhoheit der Sylvas und wäre ohne sie nicht funktionsfähig.« Höchst glaubwürdig. »Er befindet sich seit Beginn der Sylvanischen Herrschaftsperiode an seinem Platz und hat viel zur Entwicklung des Imperiums beigetragen. Gerüchte, daß er ein eigenes Leben besitzen soll, sind jedoch unbegründet und haben ihre Wurzel in fehlerhaften Darstellungen populärer Volksmärchen.« »Halt!« Der Bericht brach ab. »Ich bitte um Wiedergabe aller diesbezüglichen Volksmärchen.« »Die Überlieferung ist fehlerhaft.« »Ich bitte dennoch um Wiedergabe.« -111-
»Die bekannteste aber möglicherweise fehlerhafteste Fabel lautet wie folgt: Viel’ Monde weit vom Sylva-Strand Millionen Lichtjahr’ fern Liegt sanft gedünt das Freefall- Land Ein’ Welt von uns so fern. Am Himmel dreh’n die Zwillingssonnen Die Kreise wachsen mit Bedacht Dem Auge Höll’ zugleich und Wonnen Erschreckend groß ist ihre Macht. Von dort kam, als noch leer dies Land Ein Herold gewalt’ger Kunde. Einen Sylvaner schuf seine Hand Sein Geist floß in die Runde. Es war der Kreis so rein und klar Daß jeden schreckt sein’ Kraft Und das Imperium mächtig war Zerstört’ der Sünde Last. Nun sind wir groß, ein mächtig’ Volk, Doch wem nur soll’n wir’s danken? Sagt Freefall nicht: »Ihr treibt’s zu toll?« Wann ruft’s zurück den Kreis so voll, Verweist uns in die Schranken?« Die Betreuerin trat ein. Auf einem Tablett trug sie ein hohes Glas mit einer Erfrischung. »Ich habe keine Erfrischung bestellt.« »Ich dachte mir, Sie hätten eine Pause verdient, Havoc. Sie arbeiten zu hart.« »Das ist sehr liebenswert von Ihnen, aber man kann eigentlich -112-
nicht sagen, daß ich mich überanstrengt hätte.« »Die meisten Sylvaner brauchen weniger Zeit, als Sie, bevor sie eine Erfrischung verlangen. Darf ich mich setzen und Ihnen behilflich sein? Vielleicht eine Massage?« Stahlauge erkannte, daß auch dies Teil der lückenlosen Sicherheitsmaßnahmen auf den Planeten Afractuas war. Er beschloß, daß es das beste sei, den Vorschlägen der Betreuerin Folge zu leisten. Eine Erfrischung konnte nicht schaden, und da keiner wußte, daß er hier war, war die Zeit auch nicht so wichtig. »Sehr schön. Bitte nehmen Sie doch Platz und erzählen Sie mir ein wenig, während ich trinke.« »Das ist sehr freundlich. Meine Arbeit ist manchmal nicht besonders interessant. Die meisten, die hierher kommen, haben kaum etwas anderes im Kopf, als mit mir zu schlafen und dann zu arbeiten. Meist in dieser Reihenfolge.« »Macht es Ihnen keinen Spaß, mit den Sylvanern zu schlafen?« »Sicher doch; deswegen arbeite ich ja hier.« »Können Sie sich aussuchen, wen Sie zu betreuen haben?« »In gewisser Weise ja. Wir dürfen täglich zehn Sylvaner ablehnen.« »Wieviel Personen haben Sie dann täglich zu betreuen?« Stahlauge war ehrlich interessiert. Und außerdem konnte jede auch noch so winzige Information nützlich sein. »In der Regel habe ich täglich dreißig Sylvaner. Sie bleiben nicht lange.« »Und Sie schlafen mit jedem Einzelnen?« »Manchmal habe ich bis zu zwanzig mal täglich Geschlechtsverkehr. « »Sie müssen sehr stark sein.« »Ich bin speziell für diese Aufgabe ausgerüstet.« Stahlauge unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln. -113-
»Sie finden meine Position komisch?« »Ein wenig... nun, eigentlich nicht. Ich mußte nicht über Sie lachen, sondern über diesen permanenten Bedarf an sexueller Betätigung in einem System, daß der Wissenschaft geweiht ist.« »Wissen Sie, es gibt auch noch anderes als Video-Bänder.« Die Betreuerin schwang provokativ mit einer gut einstudierten Bewegung ihre Hüften. »Es scheint so. Was ist das hier in meinem Glas?« »Semas-Saft, sorgfältig mit Atrafa und Zitronen-Essens vermischt. Ich hoffe, es ist eine angenehme Mischung. Es ist sehr beliebt bei meinen Klienten.« »Offensichtlich fördern Sie die Lüsternheit Ihrer Klienten. Semas-Saft ergibt zusammen mit den anderen Zutaten ein ganz schön kräftiges Aphrodisiakum.« »Es ist sehr beliebt«, bekräftigte sie. »Möchten Sie jetzt mit mir schlafen?« Stahlauge wurde vorsichtig. Diese Überbetonung auf engen Kontakt beunruhigte ihn. Vielleicht hatten sie ihn bereits entdeckt - es wäre nicht das erste Mal. »Nein, danke. Ich muß wieder an die Arbeit.« Etwas Schlimmeres hätte er nicht sagen können. Vor dieser Ablehnung hatte ihn die Betreuerin für einen normalen Sylvaner gehalten, der vielleicht noch Überreste an Schüchternheit besaß. Aber nun war sie mißtrauisch. Sie verließ die Zelle. Stahlauge nahm seine Forschungen wieder auf. Wenig später kam sie zurück. »Entschuldigen Sie bitte, Havoc. «Ich werde Sie nicht noch einmal belästigen, aber ich muß das leere Glas holen und die Bandwählscheibe neu einstellen.« »Welche Bandwählscheibe? Ich habe noch nicht ausgetrunken?« Er wußte, daß irgend etwas nicht stimmte, als sie hinter ihm vorüberging, wußte er, daß sie irgend etwas tun -114-
würde, um ihn zu verletzen. Aber erst, als ihre Hand kaum fühlbar seinen Nacken berührte, wußte er, was es war. Er konnte nichts dagegen machen. Die starke Droge, die sie ihm auf den Hals gestrichen hatte, tat bereits ihre Wirkung. »Verdammt, was bildest Du Dir ein, was nimmst du dir heraus, mir...« Er fiel zu Boden. Stahlauge war groß, und während er das Bewußtsein verlor, nahm er seine eigentliche Gestalt wieder an. In voller Größe schlug er auf den Boden. Die Betreuerin rang nach Atem und verließ schreiend die Zelle. Wenig später kam Trok. Triumphierend blickte er auf den gefangenen Menschen herab. »Endlich, Stahlauge. Endlich habe ich dich!« »Es gehört mehr dazu, mich gefangen zu nehmen, Trok... als... den... Fisch an Land... zu ziehen.« Stahlauge verlor das Bewußtsein. »Ich bin gespannt, wie dir die Zeitkerker gefallen werden, mein Freund«, triumphierte Trok. »Schafft ihn fort.«
IX Schwärze, kein Geräusch, kein Gefühl, keine Zeit - nichts. Vollkommene Leere; wenn es so etwas wie totale Einsamkeit gab, dann war dies hier schlimmer. Die Zeitkerker waren die Folterkammern der Sylvaner, moderne Streckbetten, in denen lebendige Wesen darauf warteten, im Wahnsinn zu vergehen. Der Tod war traumhaft schön gegen diesen Ort. Folterkammern, in denen man Sicht, Geräusche und Gerüche ausschalten konnte, hatte es schon immer gegeben. Aber vor den Sylvanern war niemand in der Lage gewesen, das Tastgefühl und die Zeit verschwinden zu lassen. Immer hatte es das Zählen von Schafen, hatte es Tage und Nächte gegeben, wie ungenau auch immer. Und das Tastgefühl. Das Tastgefühl war beruhigend, aber in den Zeitkerkern hatte es aufgehört zu existieren. Das Opfer konnte -115-
nicht einmal mehr die Umrisse seines eigenen Körpers fühlen. Aber so wie es nur das Nichts gab, gab es auch das Alles. Denn diese zeitlosen, raumlosen Leeren hielten die Gedanken ihrer Opfer umschlossen. Und hier, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verschmolzen, konnte ein Hirn von dem Stoff der Erinnerung zehren, konnte sehen, hören riechen, fühlen und schmecken, bevor es endgültig in der Hölle des ewigen Wahnsinns versank. Stahlauges Mund formte die tonlosen Worte... »Hallo, ich bin hier, ich bin es, Havoc Carls, Stahlauge, der große Mann, Stahlauge, der Eroberer. Hallo! Hallo!« Aber es gab keine Antwort; denn da war niemand, der ihn hätte hören können. Und wenn jemand da gewesen wäre, hätte es nur Minuten gedauert, bis auch er sich im Nichts aufgelöst hätte. Aber durch sein Bewußtsein gingen Bilder, Bilder seiner Gegenwart und Zukunft, seines Damals und Heute. »Sieh mich an, Stahlauge, ich bin dein Vater. Sieh mich an, denn ich bin der Mensch, der Mensch, den du nie gesehen hast, dem du nie geboren wurdest.« Vor ihm trieb eine groteske, verzerrte Kreatur. Sie ähnelte dem Menschen in seiner letzten Todeszuckungen unter der Gewalt der Sylvas. Das Bildnis zuckte bösartig vor ihm hin und her. »Sieh mich ein letztes Mal an, denn ich hätte dich retten können, und du mich, wärest du eher gekommen, wärest du in der Zeit zurückgereist, um mir deine Kraft zu geben gegen unseren Feind. Aber nein. Du mußtest auf eigene Faust losziehen, mußtest die Regeln brechen und auf die Sylvaner einstürmen. Du wolltest Deinen eigenen Kopf durchsetzen, genau wie wir. Und nun bist du verloren, zerbrochen. Denn lange wirst du nicht überdauern in diesem Ort, der die Hölle ist, der Ort des Teufels, von dem wir in unseren alten Religionen sprachen. Ertrage es, Stahlauge, denn der Tod wird kommen, und er wird eine Erlösung sein.« -116-
Stahlauge krümmte sich, fuhr auf das Bildnis los, packte es mit Armen, die er nicht fühlen konnte und bespie es mit einem Mund, der nicht sprechen konnte. »Dieser Wutausbruch bringt dich nicht weiter, Havoc, denn du kannst nicht gegen etwas kämpfen, was gar nicht da ist.« »Wer bist du?« »Wer ich bin? Erkennst du mich nicht? Ich bin dein Sohn, ich bin das Kind, das Chaos geboren hat. Und nun wird sie mich ohne dich aufziehen.« »Geh! Geh weg, Junge, geh! Ich kann Deinen Anblick nicht ertragen.« Der kleine Junge kniete vor Stahlauge nieder, le gte seinen Kopf auf seine Knie, und weinte. Die Tränen rannen in Strömen an Stahlauges Beinen herunter, die Tränen eines Sohnes, den er niemals kennenlernen würde. Und doch war er es, Stahlauges Sohn. »Verlaß mich nicht, Vater, verlaß uns beide nicht, wir brauchen dich, Stahlauge, wir brauchen dich, brauchen dich...« »Laß mich, geh zurück in deine Zeit, leb’ dein eigenes Leben, aber verlaß mich jetzt. Dein Anblick macht mich wahnsinnig.« »Sie wartet. Chaos liebt dich, möchte dich sehen. Wir sind jetzt so allein, werden immer allein sein.« »Geh...« Stahlauges schmerzerfüllte Stimme schien durch das Universum zu hallen. Aber niemand konnte ihn jetzt hören, nicht einmal sein Sohn. Seine Gegenwart war wie eine Folter gewesen. Aber nun, da er gegangen war, kam Stahlauge schmerzlich zu Bewußtsein, daß er seinen Sohn niemals wiedersehen würde. Er war allein, ganz allein. Stahlauge trieb dahin. Körper und Geist gaben ihre Verbindung auf, versanken in absolut formloser, erinnerungsloser Verwirrung. Er hatte von den Ze itkerkern gehört, hatte gehört, daß niemand je aus ihnen zurückgekehrt war, daß alle an Wahnsinn starben. -117-
Er fürchtete diesen Ort, wie er nichts zuvor gefürchtet hatte; denn seine Kräfte waren hier offensichtlich nutzlos; mit Stärke kam er keinen Schritt weiter. Sein Auge war wertlos. Es gab keine Bezugspunkte, keinen Boden, nichts, woran er sich hätte halten, worauf er hätte hoffen können. Warum sollte er noch kämpfen? Warum sollte er nicht aufgeben? Warum denn in einer Hölle leben, wenn man auch in ihr sterben konnte? »Ha! Stahlauge der Gewaltige, Stahlauge der Große! Was ist nur aus Dir geworden, Stahlauge? Besiegt von einem Zeitmagier, besiegt von einem miesen Sylvanischen Lord!« höhnte eine Stimme. »Actual. Ich hatte mich schon gefragt, wann Du kommen würdest.« Zuerst dachte Stahlauge wirklich, daß er Actual sähe. »Ich bin jetzt der Herr, Stahlauge, du bist nicht mehr. Ich bin älter, aber noch immer an der Macht. Ich herrsche jetzt sogar über die großen und mächtigen Eumigen. Ohne dich, Stahlauge, gaben sie nach. Wir haben sie überwältigt und unserer Herrschaft unterworfen. Wir haben sie gegen dich aufgehetzt, haben sie zerbrochen. Wir haben Chaos getötet und deinen winzigen neugeborenen Sohn. Wir haben sie verbrannt, Stahlauge, haben sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt, wie das vor Tausenden von Jahren auf der Erde üblich war. Ich fand das passend. Ich wußte, daß das deine Zustimmung finden würde. Schließlich waren sie doch menschlich, nicht wahr? Also haben wir ihnen einen entsprechend primitiven Tod ge geben. Stimmst du mir zu, Stahlauge, stimmst du zu?« Die Stimme steigerte sich zu einem Crescendo des Wahnsinns. Nur wenige Zentimeter von Stahlauge entfernt tanzte Actuals Gesicht höhnisch grinsend auf und nieder. »Ich glaube dir nicht. Alles gelogen. Ich glaube euch nicht, ihr seid alle nur erlogen!« »Nun gut, Stahlauge, laß mich den Beweis antreten. Der Kreis schickt dir gern einen Filmbericht über die Darbietung. Eine -118-
Kopie ist leicht erhältlich; man bekommt sie in jedem Buchladen. Viele sylvanische Familien haben eine für ihr Heimkino im Haus, sie sind Massenunterhaltung.« »Dann kamen Bilder von Chaos, wie sie das Kind eng an sich preßte. Man schleppte sie durch die Straßen. Die Sylvanischen Wachen schlugen sie. Schließlich wurde ihr zerschundener Körper auf den Scheiterhaufen geworfen und an den Pfahl gebunden. Tausende Sylvaner begafften lachend und jubelnd das Schauspiel. Stahlauge konnte seinen Kopf nirgendwohin wenden, ohne den gräßlichen Anblick zu sehen. Da ist sie, Stahlauge, und da ist auch das tote Kind. Sieh mal, es wird gerade ins Feuer geworfen. Verabschiede dich von ihnen, Stahlauge’, denn dies ist ihr Schicksal, dies ist ihre Hölle. Du mußt mit deiner eigenen fertig werden.« Actual war verschwunden, und mit ihm seine Laterna MagicaVorführung. »Denken, denken, denken. Ich muß denken, muß meinen Geist in Bewegung halten. Sing etwas, sag einen Vers auf, bring einen Rhythmus in Gang. Ich muß bei Verstand bleiben. Sie wollen, daß ich verrückt werde. Nur deswegen werde ich dagegen ankämpfen. Das war nicht mein Sohn, sondern ein Schatten, nicht Chaos, sondern nur ein Bild. Actual würde sie nicht töten, und schon gar nicht in dieser Art und Weise - es ist alles meine eigene, ängstliche Einbildungskraft. Kein Wunder, daß die Leute verrückt werden, aber nicht ich. Ich will nicht. Ich werde ein Bild schaffen, eine Geräuschkette. Aber was? Was kann ich hören?« Und so versuchte Stahlauge, mit soviel Gedanken, soviel Worten wie möglich, seinen Verstand klar und aktiv zu halten. Er fühlte sich wie eine Blase in einem Nebel von Baumwolle, wie ein Atom, ein Mikrokosmos inmitten von Nebelwolken. »Was machen Schlafende, oder Träumende?« fragte er sich mit langsam schwächer werdendem Bewußtsein. -119-
»Was machen Schlaflose, wie bringen sie sich zum Schlafen? Rhythmus, Ordnung, Logik. Immerhin einen Versuch wert.« Stahlauge merkte, daß er klopfte. Über die Frequenzen seines kleinen Gedankenübertragungssystems drang ein einfacher Rhythmus, tap tap tap... tap tap tap... tap tap tap... immer der gleiche Rhythmus. Er wurde kühner, tappity tap, tappity tap... und ging zu noch komplizierteren Rhythmen über, wie jemand, der eine neue Technik erlernt. Und so war es auch. Am Anfang waren es langsame Rhythmen. Doch dann wurde er sicherer. Inmitten dieses Alptraumes eroberte er sic h ein Stückchen Freude. Er klopfte noch komplexere Rhythmen, dichtere Folgen, die leichter dahinflössen. Am Ende hatte er seinen Verstand wiedergewonnen. »Was ist das? Irgend etwas ist geschehen. Meine Hände, ich habe meine Hände gefühlt. Irgend etwas. Leben, gib mir...« Aber es hatte aufgehört. Als er die Konzentration aufgab, versiegten auch die Geräusche und Gefühle. »Fang wieder an, mach das noch mal!« Er klopfte und klopfte. Das Gefühl stellte sich wieder ein. »Meine Hände. Ich kann fühlen, ich kann hören und sehen.« Er trieb dahin, schwebte in der Luft. Und er atmete, atmete wirklich und wahrhaftig. Die Zeit war konstant, all die fürchterlichen Bilder waren verschwunden. Licht wurde sichtbar. Es war der Rhythmus, es mußte der Rhythmus sein. Er hatte dem Chaos Ordnung aufgezwungen. Er hatte eine Struktur geschaffen, wo es zuvor keine gegeben hatte. Er erschütterte die Zeitkerker. Er blickte sich um. Es gab keine Wände, keine Türen, keine Gitter. Er trieb inmitten des Raumes zwischen den Planeten. Er mußte sich um eine Art Dimensionsvakuum handeln. Die Gefangenschaft und der Wahnsinn waren autogen stimuliert. In dieser künstlich geschaffenen Leere ließ sich der Gefangene sinken und ertrank. -120-
Stahlauge intensivierte den Rhythmus, drehte das Gedankenübertragungssystem auf volle Lautstärke. Plötzlich gab es einen Knacks, ein Zischen, als entwiche die Luft aus einem Ballon, und er fand sich selbst einige hundert Meter weiter entfernt wieder. Er war draußen, der fürchterlichsten und tödlichsten Strafe des Universums entronnen. Einfach so. Aus dem Chaos zurück zu Chaos, und zu seinem geliebten Kind. Wie eine geballte Streitmacht, die sich ganz auf das Überraschungsmoment und ihre unbezähmbare Kraft verläßt, eilte Stahlauge in das Stadtzentrum von Anchor. Er wußte, daß sie dort sein mußte. Mit seinem sengenden Auge bohrte er sich seinen Weg bis zu Actuals Büro. Mit einem einzigen Schritt war er neben dem Führer des Universums und legte seinen eisernen Griff um dessen Körper. In der stählernen Umklammerung des Riesen rang dieser verzweifelt nach Luft. »Wo ist Chaos? Wo ist mein Sohn?« »Hör auf, um Himmels willen,... laß mich los, ich kriege keine Luft... bitte... laß mich los... oder... ich lebe... nicht... mehr lange genug um es dir zu sagen...« Actual, der mit allen Wassern gewaschene Zeitmagier, saß in der Falle. Einfache, brutale Kraft hielt ihn gefangen. »Diesmal entgehst du meinem Zorn nicht, Actual. Du hast mich die ganze Zeit verraten, und ich werde dich auf der Stelle töten, wenn du nicht redest. Befiehl deinen Wachen, sie und meinen Sohn hierher zu bringen. Los, gib deine Befehle!« Stahlauge verstärkte seinen Griff. Actual stieß einen Schmerzensschrei aus. Seine Knochen krachten, sein Körper gab unter der massiven Kraft nach. »Wachen!« schrie er. »Bringt die Frau und das Menschenkind her... schnell...« »Du dachtest wohl, du könntest mich in einem deiner albernen Zeitkerker loswerden, was? Dachtest, Stahlauge würde von seinem eigenen Verstand vergewaltigt werden, he? Falsch, -121-
nicht wahr? Überrascht?« »Aber wie... keiner ist jemals...« stammelte Actual. »Ich bin nicht einfach jemand, Actual. Wann geht das endlich in deinen häßlichen sylvanischen Kopf? Ich bin Stahlauge, das Geschenk der Eumigen an das Universum. Ich bin kein närrischer Mensch, sondern nur nach dem Bilde des Menschen geschaffen. An mir ist mehr, als du dir vorgestellt hast, und das ist dein Verderben, Actual, Zeitmagier, Actual, Führer der Sylvas, der Täuscher, der große Meister der Körperoszillationen. Wo bleibt denn jetzt deine Zauberkraft? Wo bleiben denn deine Führerbefehle? Das einzige, was du tun kannst, ist wie ein Schmetterling in den Händen deines Meisters zu zappeln. Ich bin dein Meister, Actual. Dein Führer.« Chaos und das Kind erschienen, aber Stahlauge ließ seine Beute nicht los; während er mit dem einen Arm den Zauberer fest umklammert hielt, löste er mit dem anderen einen TeleportGürtel von seiner Taille und wickelte ihn um Chaos, das Kind und sich selbst. Dann ließ er Actual los und teleportete nach Zrost.
-122-
TEIL DREI Der Sturm X »Das ist noch so ein Merkmal Sylvanischer Herrschaft, mit dem ihr Schluß machen könnt, wenn ihr die Macht übernehmt, Tousle; das war eine Erfahrung, die ich dem schlimmsten Verbrecher nicht wünschen möchte.« »Niemals zuvor hat irgend jemand die Schranken eines Zeitkerkers durchbrochen, Stahlauge. Du kannst sicher sein, daß die Sylvaner Mittel und Wege finden werden, sie gegen weitere Versuche zu sichern. Kommt, Ihr habt euch beide eine Ruhepause verdient, finde ich. Wenigstens ein wenig Zerstreuung. Ich glaube, ihr habt noch nie die ganze Palette meines Könnens gesehen. Soll ich sie euch vorführen?« »Oh, bitte, ja.« Stahlauge und Chaos schritten lächelnd Arm in Arm hinter dem Eumigen her. »Habt ihr euren Sohn schon einen Namen gegeben?« fragte Tousle, als er sie in das Hauptlaboratorium führte. »Ja.« »Junge.« Chaos sprach das Wort weich und sanft aus. »Junge? Das ist ein guter Name. Aber eines Tages wird er ein Mann sein.« »Nun, dann werden wir ihn eben Mann nennen«, lächelte Stahlauge. »Sehr gut. Warum sollte er sein ganzes Leben lang den gleichen Namen tragen.« Als sie durch die Energietore das Laboratorium betreten hatten, blickten sie auf eine beeindruckende Anordnung von -123-
Geräten. »Hier, Chaos, wurdest du erschaffen«, sagte Tousle stolz. »Und getestet.« »Was war mit den Tests? Entdecke ich da nicht einen Unterton von Spott?« »Natürlich nicht, Tousle. Es war alles sehr aufregend. Schließlich wird man nicht jeden Tag mit vollständigem Wissen geboren.« »Ich würde nicht unbedingt sagen, mit vollständigem Wissen, meine Liebe, aber sicher mit einem guten Teil davon. Stahlauge, du hast alles gesehen. Vielleicht möchtest du einmal einen Blick auf die Konsole und den Bildschirm da drüben werfen... Ich glaube, das könnte dich interessieren. Ich werde meine junge Freundin hie r durch die Monstergalerie führen.« Tousle schob einen tarnenden »Invisiator« vor dem Eingang zur nächsten großen Halle zur Seite. Er nannte sie seine Monstergalerie, weil sie aus allen ausgestorbenen Kreaturen bestand, die er wiedererschaffen hatte. Sie standen an beiden Seiten der Halle aufgereiht, von starken Kraftfeldern geschützt. »Dies ist die Galerie, von der ich dir erzählt habe. Aber erst muß ich dir die größte Erfindung der Eumigen zeigen.« Er nahm ein Segment von einer großen Bank mit anderen Segmenten. Das Stück war etwas zwei Quadratzentimeter groß, schwer und metallisch. »Dies ist ein Exon. Eigentlich sind es dreihundert Millionen Millionen Millionen Millionen Exons. Es wurde von dem Eumigen Exon erfunden, und arbeitet auf der Basis der Spot-Welle, einem Gedächtniselektron, das in jeder Form existieren und Information in jedem beliebigen Körper speichern kann. Exon wählte das Mikro-Proton, eines der kleinsten existierenden Materieteilchen. Jedes Mikro-Proton in diesem kleinen Baustein enthält unvorstellbare Mengen an Informationen. Man kann auf einer Mikroprotonenröhre von Stecknadelgröße hundert Jahre lang zehn Millionen -124-
Photonenzellen an Informationen speichern.« »Nicht schlecht, gar nicht schlecht«, neckte Chaos sanft. »Nicht schlecht? Es ist ganz einfach unglaublich.« »Das stimmt. Du bist ziemlich unglaublich.« »Die Exon-Computer in diesem Laboratoium haben eine Breite von drei Metern. Du kannst dir vorstellen, welche Kapazität in ihnen steckt. Dabei gibt es in ihnen noch genug ungenutzten Raum, genug für den Rest meines Lebens.« »Deines Lebens? Du meinst, daß du eines Tages stirbst?« »Naja, abnutzen ist wohl der richtigere Ausdruck. Aber lange Zeit nach euch. Ungefähr eine dreiviertel Million Jahre von jetzt an gerechnet.« »Hmmm, ich wollte, ich könnte auch so lange leben.« »Ich bin nicht sicher, daß es dir nach einer halben Million Jahre noch gefallen würde. Für einen Menschen könnte das Leben über eine so lange Periode ein wenig schwierig werden.« »Was kann das Exon tun?« fragte Chaos. »Es kann alles. Es kann dir jede Frage beantworten, angefangen bei der Fisk Blume auf Cathandramis bis hin zu der Bauweise des TDK.« »Das war nicht Bestandteil meiner Erziehung. Was ist ein TDK?« »Das TDK?« »Frag den Exon«, schlug Tousle vor. »Wer, ich?« »Warum nicht?« »Sag mir, was ich machen muß.« »Komm, du weißt doch, wie man einen Exon bedient. Das war Teil deiner Ausbildung.« »Na gut. Exon, Fragestellung.« »Exon in Betrieb.« Die Maschine sprach sanft, menschlich. -125-
»Vereinfachte Definition eines TDK, bitte.« »Das TDK, gebräuchliche Bezeichnung für Terandora didytus kiphtalamus. Fundort: die höheren Gebiete der Gebirgszüge von Gorton, auf den Planeten Grid Fünf, Warnick und Forn, im System Has, in der 465ten Galaxie, auch Ytam genannt. Das Terrandora di lytus kiphtalamus leidet unter der größten bekannten Hirnzone in Verbindung mit der ineffektivsten Gedächtnisleistung im ganzen bekannten Universum. Die Hirngröße dieses Vierbeiners beträgt annähernd das Achtfache derjenigen eines Sylvaners, und das Vierfache der Eumigen, aber seine Gedächtniskapazität ist praktisch gleich Null. Es hat drei Herzen, von denen jedes achtzehn Kammern hat, und einen körperlichen Antriebsmechanismus von großen Ausmaßen. »Es gab Versuche, die Gedächtniskapazität des TDK zu verbessern, aber alle waren erfolglos. Der wichtigste Forscher auf diesem Gebiet ist Tousle vom Planeten Zrost.« Tousle errötete. »Man sagt über das TDK: Ein TDK vergißt du nie, aber es dich!« Chaos lachte. »Ein Genie von pathologischer Vergeßlichkeit«, sagte Tousle. »Wie faszinierend. Hast du schon einmal einen lebendigen gesehen?« »Ja, natürlich. Ich habe Jahre lang mit ihnen gearbeitet.« »Oh, ja. Der wichtigste Forscher.« »In der Tat. Komm, sehen wir uns die große Galerie an.« »Was ist das?« rief Chaos beim Anblick der ersten Kreatur aus, die totenstarr auf einer erhöhten Plattform stand. »Das ist ein Ty, ein Säugetier, das auf dem Planeten Abelitius vorkommt. Es hat vier Beine und mißt ungefähr einen Meter vom Boden bis zur Schulter. Das lebende Exemplar trägt einen Giftbeutel mit einer rauchartigen Substanz. Es kann mit einem einzigen Giftstoß ein Dutzend Geschöpfe töten. Ein sehr -126-
wirkungsvolles Gift.« »Und noch mit diesem großen Ding da.« Chaos starrte auf die gewaltigen Genitalien. »Ja, sie sind den antiken Sartyrn in der irdischen Mythologie nicht unähnlich. Sie scheinen von einer seltsamen Leidenschaft für die kaltherzigen Sylvaner besessen zu sein. Wahrscheinlich hat das etwas mit ihrem unnachgiebigen Charakter zu tun.« »Viele können von ihnen nicht übrig sein.« »Oh, glaub’ das nur nicht. Sie vermehren sich mit einer furchtbaren Geschwindigkeit, und wenn sich ein Spannmann mit einem anderen Geschöpf paart, vorausgesetzt es ist ein entfernt ähnlicher Typ, kommt immer ein Spannmann dabei heraus, niemals eine Kreuzung. Ihre Gene sind sehr dominant. Und den Fötus abzutreiben ist sehr schwierig, so daß eine Sylvanerin, die von einem erwischt wird, wahrscheinlich gebären muß.« Tousle setzte die Tour fort. »Und das hier sind der Tripp und der Fetripp, und das da oben ist der Netratripp. Drei Geschlechter: männlich, weiblich und Neutrum. Beachte die Unterschiede.« »Der Netratripp sieht nicht besonders sexy aus«, kommentierte Chaos. »Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, vermehrt es sich nicht. Einer von drei Fetrippgeburten ist ein Netratripp, gerade genug, ihre vergessene Welt zu regieren.« »Ausgestorben.« »Ja. Sie lebten auf dem Planeten Blau in Weitentfernt, in der Galaxie Nummer 546/d nach dem Sylvanischen Register. Sie überlebten ungefähr eine Million Jahre. Der Netratripp übte über ihre ganze Entwicklung hinweg die Herrschaft aus, eine sehr gewitzte politische Rasse. Aber Blau litt unter derart schrecklichen klimatischen Bedingungen, daß sie nach und nach unter dem Einfluß von Erdbeben und Stürmen einen Großteil -127-
ihrer Population verloren. Es muß ein ausgesprochen häßlicher Lebensraum gewesen sein.« »Warum wanderten sie nicht aus?« »Die Tripps waren agrophobisch, alle ohne Ausnahme. Sie konnten die Raumfahrt nicht vertragen. Lieber starben sie, als ihre Welt zu verlassen.« »Und wir glauben, wir hätten Probleme«, kommentierte Chaos. »So, und dies hier ist das Phtal, wahrscheinlich die häßlichste Kreatur, die ich kenne. Siehst du den dünnen Schlitz, der in der Mitte des Kopfes verläuft? Das ist sein Maul, seine Augen, Gehörsinn und Sprechwerkzeug, alles in einer netten kleinen Öffnung. Sie atmen Sauerstoff und wandeln ihn mit Hilfe des einzigen Nahrungsmittels, das sie konsumieren, in Kohlenmonoxyd um. Ihre Nahrung besteht aus einer Abart von Petroleumspiritus. Ihr Atem ist ausgesprochen häßlich und übelriechend.« »Wo leben sie?« »Auf den Planeten von Whey.« »Oh, von Phytal und Whey habe ich schon gehört. Waren sie nicht verantwortlich für die Kreislaufkriege?« Tousle nickte zustimmend. »Hier haben wir das On von Schlacht, das Casamupo, das Ufutrem, ein unaussprechlicher Name für ein unaussprechliches Volk aus einer Welt mit einer unverständlichen Sprache. Dies ist das Wann«, deutete er in eine andere Richtung, während sie ihren Rundgang fortsetzten, »dort haben wir das Shemat, und da drüben das Gumcurs, und das hier ist einer von den Glasleuten aus Towndown, dann kommen die Brenner und die Fodors, und hier ist jemand, den du vielleicht kennst.« »Das ist ja Stahlauge!« »Ja, ein Klon von Stahlauge. Im Augenblick ist er leblos, aber -128-
ich könnte ihn leicht zum Leben erwecken.« »Das ist schrecklich. Wie kann es denn zwei Stahlauges geben?« »Du weißt sehr gut, daß es in diesem Augenblick Hunderte geben könnte. Nachdem der Prototyp einmal da ist, könnte ich im Handumdrehen Hunderte klonen. Ich will aber nicht. Einer reicht.« »Und wenn ihn jemand an sich brächte und ohne dein Wissen zum Leben erweckte?« »Dann würden sie mehr Ärger haben, als sie dachten. Es besitzt alle Eigenschaften des wirklichen Stahlauge, und jeder, der versuchte, ihn zu beherrschen, würde sehr schnell unter den Folgen zu leiden haben.« »Mir gefällt das trotzdem nicht besonders.« »Es gibt nichts zu befürchten. Auf jeden Fall kenne nur ich allein die Kombination, mit der das Kraftfeld um ihn herum geöffnet werden kann. Und selbst dann können meine BioKammern nur von mir allein bedient werden. Ohne meine TlInstruktionen funktionieren sie überhaupt nicht.« »Hoffentlich hast du recht.« »Hatte ich schon einmal Unrecht?« »Den ersten Stahlauge hast du nicht gebaut. Es war ein Fehler.« Tousle sagte nichts. »Eines Tages, vielleicht in ein paar Millionen Jahren, wenn du nicht mehr da bist, wenn die Eumigen nicht mehr da sind, und wenn es auch die Föderation nicht mehr gibt, wird irgendjemand hierher kommen und deine Sammlung finden. Stell dir ihre Überraschung vor! Was werden sie wohl von dieser Geistergalerie halten?« »In einigen Millionen Jahren, meine Liebe, wird das Volk des Universums viel mehr wissen als wir; sie werden Unterlagen -129-
über all die Tiere und Geschöpfe hier haben.« »Du bist so phantasielos.« »Kein Wunder!« Sie gingen zurück in die Hauptlaboratorien. Stahlauge stand dort über die Bildschirme gebeugt. »Na, Stahlauge, was kannst du damit anfangen?« »Sehr interessant. Das hier müssen die Zwillingssonnen sein, von denen der Kreis sprach, die großen Zwillingssonnen aus der Legende, die ich in Afractua ausgegraben habe. Die Zwillingssonnen von Freefall.« »Richtig. Und sie halten Kurs hierher, eine auf jeder Seite.« »Auf jeder Seite wovon?« »Der Föderation.« Tousle ging vor Stahlauge auf und ab und deutete auf den Bildschirm. »Und sie sind schon einmal hier gewesen.« Stahlauge drehte sich um und sah den großen Eumigen gespannt an. »Wann war das?« »Ungefähr am Anfang der Sylvanischen Rasse.« »Genau wie in der Legende.« Chaos hörte ihnen schweigend zu. »Du glaubst also, daß die Zwillingssonnen tatsächlich das Sylvanische Imperium geschaffen haben, daß sie es dort aufgestellt haben wie... wie...« »Wie ein Schachbrett.« Beide drehten sich um und sahen Chaos an. »Ja, nicht mehr als ein Zug in einem Schachspiel. Als ob sie ein Experiment starten und seine Bewegungen auf einem universalen Schachbrett studieren wollten.« »Sehr poetisch, Chaos, und vielleicht gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt«, sagte Tousle. »Und wann werden sie diesmal hier sein?« -130-
»In ungefähr einem Monat, vielleicht auch ein wenig früher.« »Du meinst, Ihr habt es nicht genau errechnet?« »Eigentlich sind es genau siebenundzwanzig Tage, vier Stunden, drei Minuten und vierundfünfzig Sekunden.« »Ich hätte es mir denken können.« »Und du wirst ihnen gegenübertreten müssen, wenn du selbst die Macht übernehmen willst.« »Es wird mir Vergnügen bereiten.« »Du gehst besser an die Arbeit, mein Freund. Du kannst es dir nicht leisten, allzuviel Zeit zu verschwenden.«
XI »Ich brauche eine direkte Verbindung mit einem Sylvaner. Es ist dringend.« Der Direktor der Energieversorgungszentralen auf Crictor war bekannt für seine Verhalten im Umgang mit Vorgesetzten. Er brüllte die Anweisung über das Sub-Raumradio. »Warten sie einen Augenblick. Ihr Gesuch wird geprüft.« »Ich habe keine Zeit für irgendwelche Prüfungen. Dies ist ein Alarmfall. Verbinden sie mich direkt mit einem Sylvas oder sie finden sich in einem Zeitkerker wieder.« »Ich verbinde mit Timmis..., Sir.« »My Lord Sylvas...« »Ja, Direktor? Ich höre, daß sie wieder grob zu meinen Vermittlern waren.« »My Lord, ich glaube, die Kraftwerke werden gleich in Rauch aufgehen.« Kurz und knapp wie immer. »Was bei Sylva, meinen sie damit?« »Genau das, was ich sage. Man hat an einem der -131-
Hauptenergiesysteme ein kleines Päckchen gefunden, das jemand daran befestigt haben muß, und mein Chemiker sagt mir, es sähe aus wie ein Stoff namens Patrac?« »Ein natürlicher Sprengstoff von den Andromedaplaneten, Sir. Kommt am häufigsten auf Phumus vor.« »Wer geht denn heutzutage nach Phumus? Den haben doch diese verdammten Eumigen in Besitz genommen...« »Genau, Sir, die Eumigen. Er könnte natürlich irgend ein Trick sein, aber ich halte es für zu gefährlich, sich darauf zu verlassen.« Der Sylvas-Lord dachte nach. »Hat man Stahlauge vor kurzem in dieser Gegend ausgemacht?« »Sicher, Sir. Er hat die Kontaktbahn für den Kreis nach Zrost gelegt. Wir haben ihn ungehindert passieren lassen.« »Gut. Schaffen sie das verdammte Patrac, oder wie sie das Zeug nennen, von der Energiestation fort.« »Geht nicht, Sir. Es ist durch ein Kraftfeld gesichert, und wenn wir das in die Luft jagen, könnte das ganze Werk mit hochgehen«. »Aha.« Lange Pause. Sehr lange Pause. »My Lord?« »Ich rufe Sie zurück.« Timmis unterbrach die Verbindung. Wieder blitzte die Leitung auf. »My Lord Timmis?« »Ja, Vermittlung?« »Ich habe hier ein Sub-Raum-Gesuch vom Direktor der Schulzentren auf Phanadal.« »Was will er?« »Er sagt es sei ein Alarmfall, und er müsse mit einem Sylvas sprechen.« »Bin ich der einzige, der heute im Dienst ist?« -132-
»Ja, My Lord.« »Na gut. Stellen Sie durch. Ja, Direktor, was gibt’s?« »My Lord. Wir haben ein ziemlich beunruhigendes Päckchen gefunden, das am Hauptschulgebäude befestigt ist. Es enthält einen unbekannten Stoff, und wir können es nicht von der Schule lösen, weil es dort festzukleben scheint, Sir.« »Sie meinen, Direktor, es ist kraftversiegelt, und sie können es nur beseitigen, wenn sie das ganze Gebäude mit in die Luft sprengen.« »Natürlich, My Lord, natürlich könnten wir einen Blaster darauf ansetzen... Ich hatte nicht daran gedacht. Einen kleinen Augenblick, bitte, ich schicke gleich einen meiner Wachsoldaten los. Wache?« »Direktor...« »Wache, kommen Sie mal her. Sie sollen...« Timmis verfolgte das Gespräch mit wachsendem Entsetzen. Er brüllte über die Radiofrequenzen. »Direktor, wollen sie mir jetzt zuhören...« Die Stimme des Direktors kam laut und deutlich über die Frequenzen. »Setzen sie einen Blaster auf dieses Päckchen am Schulgebäude an. Achten sie darauf, daß die Kinder darauf vorbereitet sind, daß es einen kleinen Knall geben könnte. Kein Grund zur Beunruhigung.« »Direktor! Verdammt noch mal, hören sie endlich zu.« »My Lord? Die Sache ist erledigt, die Wache...« »Wenn die Wache dieses Päckchen in die Luft sprengt, schneide ich ihnen höchstpersönlich den Kopf ab...« »My Lord?« »Halten sie ihn auf, halten sie ihn auf!« Die Stimme des Sylvas überschlug sich am anderen Ende der Leitung. Erleichtert hörte er den Direktor wieder. »Wache, Kommando -133-
zurück. Das Päckchen wird nicht gesprengt. Halten sie sich zu meiner Verfügung und erwarten sie weitere Befehle.« »Gut, Direktor, sehr gut. Meinen Glückwunsch. Dieses Päckchen enthält wahrscheinlich einen Stoff, der sich Patrac nennt. Es handelt sich um einen natürliche n Sprengstoff von äußerster Wirksamkeit, und wenn sie den Blaster einsetzen, würde es wahrscheinlich das ganze Schulgebäude und einen Großteil der Umgebung verwüsten. Evakuieren sie alle Kinder auf die andere Seite von Phanadal, so weit entfernt, wie möglich. Verstanden?« »Ja, My Lord, ich bitte vielmals um Entschuldigung, My Lord.« »Guten Tag, Direktor...« Die Verbindung wurde unterbrochen. Timmis griff zum internen Telefonhörer, um Actual anzurufen, aber sein SubRaum-Empfänger tutete wieder. »Ja, Vermittlung?« seufzte er. »Noch ein Anruf. Diesmal von Stradt, My Lord.« »Sehr schön. Ja, Direktor?« Seine Stimme klang müde. »My Lord, hier ist der Direktor des Exon auf Stradt...« »Wo befindet sich ihr Päckchen?« »My Lord, ich habe ein Päckchen... oh, sie wissen bereits davon?« »Wo ist es?« »Es ist an den zentralen Plexspots- Terminals befestigt, My Lord. Ich wage nicht, es abzunehmen.« »Sie können es nicht abnehmen, Direktor. Es enthält Patrac, und sie würden das gesamte Kommunikationssystem in der Sektion Ost 4 in die Luft jagen. Und das wollen wir doch nicht, oder? Rühren sie also nichts an. Verstanden?« »Ja, Sir, My Lord, Sir.« -134-
Timmis legte auf und rief Actual an. »Actual, wir scheinen eine Patrac-Seuche zu haben.« »Erkläre.« »Bisher haben drei Planeten, Crictor, Phanadal, Stradt, berichtet, daß kleine Päckchen an ihren Zentralsystemen kraftfeldversiegelt angebracht worden seien. Darunter befindet sich auch die Schule. Alle Päckchen sind randvoll mit Patrac, das du sicher kennst...« »Enthält einen natürlichen Sprengstoff, ja, Timmis, ich weiß. Und ich weiß auch, daß meine drei Kinder sich in diesem Augenblick in der Schule befinden. Heute findet dort ein ganz besonderes Feuerwerk statt, und es werden ungefähr zehn Millionen Kinder auf Phanadal sein. Timmis, das ist Stahlauges Werk.« »Ja. Was können wir tun?« »Erstmal die Kinder wegbringen.« »Wir können sie nicht alle gleichzeitig vom Planeten herunterbringen; es hat fast vier Stunden gedauert, sie hinzubringen. Wir können sie nur aus dem Schulgebiet wegbringen.« »Dann tu das. Und sag den Direktoren, daß sie auf ihren Posten sein sollen. Wahrscheinlich gibt’s noch mehr von dem Zeug auf den anderen Planeten. Setz Trok ein, bring seine Sicherheitskräfte zum Einsatz. Die Wachen müssen auf allen Planeten verdoppelt werden. Ich bin in ein paar Minuten da.« »Ja, Actual.« Er legte den Hörer auf und lauschte den letzten Meldungen aus dem Radioempfänger. »My Lord Timmis, zwei weitere Sub-Raum-Gespräche für Sie. Einer von Afractua, einer von Fac und einer von Pinalis, oh, und noch ein vierter von Cris.« »Alle auf Audio schalten, Vermittlung.« Er wandte sich an alle zugleich. »Liebe Sylvaner, ich bitte um Eure -135-
Aufmerksamkeit. Mir ist bewußt, daß sich jeder einzelne von euch mit der dringenden Nachricht an mich wendet, daß ein Päckchen an einem lebenswichtigen Knotenpunkt seines Planeten befestigt ist. Bitte tut nichts. Die Päckchen enthalten Patrac, einen natürlichen Explosivstoff. Wenn Ihr das geringste unternehmt, um sie zu entfernen, werden sie alles in die Luft jagen. Ich wiederhole, tut nichts, rein gar nichts, laßt die Päckchen in Ruhe. In Kürze wird Trok mit Sylvanischen Streitkräften eintreffen, um euch zu helfen, aber rührt unter keinen Umständen diese Päckchen an. Leitet die sofortige Evakuierung der betroffenen Gebiete ein.« Timmis unterbrach die Verbindung. Dann ging der Spaß los. Timmis schaltete seinen Multiscreen ein, der mit dem Kreis verbunden war. Er hatte beabsichtigt, Kontakt zu ihm aufzunehmen und sich Rat zu holen, aber im Kreis-Center war bereits eine ganze Menge los. Timmis sah, wie sich der Schirm in seinem Zimmer erhellte. Das taten zur gleichen Zeit auch Actual und die anderen Sylvas, jeder vor seinem privaten Schirm irgendwo auf einem der Planeten. Jeder Schirm zeigte eine ausgedehnte Explosion auf Crictor. Das Energiezentrum war dem Erdboden gleich. Eben war die Kraftwerkzentrale, die fast den gesamten Energiebedarf des Sylvanischen Komplexes deckte, noch hier gewesen, und nun gab es dort, wo sie in all ihrem komplizierten Glanz gestanden hatte, nur gähnende Leere. »Verdammt noch mal, wir kommen zu spät! Dieser verdammte Stahlauge!« knurrte Actual. Im nächsten Augenblick begann die Sicht besser zu werden. Die großen Schwaden aus Rauch und Dampf lichteten sich, und vor ihren Augen wurde die Reihenfolge der Ereignisse verkehrt. Die Kraftwerkszentrale begann, sich wieder zusammenzusetzen; ohne jede sichtbare Hilfe von außen fing das gesamte Gebiet an, sich wieder aufzurichten. Es war kein Film, der da rückwärts abgespult wurde. Die Bilder wurden so übermittelt, wie sich die -136-
Ereignisse zutrugen, verzerrungsfrei, genau, aber unglaublich. »Was um Anchors willen, passiert denn da?« Actual schrie die Worte dem Kreis entgegen. »Es gibt keine Daten für Analyse, ich habe keine Daten.« Der Kreis klang beunruhigt, seine r Logik unsicher, jeder Logik unsicher. Die Kraftwerkszentrale fuhr fort, sich von selbst wieder aufzurichten. Schließlich war sie wieder ganz, so als wäre überhaupt nichts geschehen. Sie stand genau so dort, wie vorher - fast genau so. In einem Punkt allerdings unterschied sich das Bild: Um die Anlage herum standen in Zehnerreihen Tausende von Eumigen, Schulter an Riesenschulter, völlig Herr der Lage. Es konnte keinen Zweifel geben: die Eumigen hatten Crictor und das Kraftwerkszentrum eingenommen. Dann änderte sich das Bild. »Was ist das, Kreis was willst du gegen sie unternehmen?« »Ich kann überhaupt nichts tun. Es gibt keine Präzedenzfälle. Ich habe keine Beurteilungsmethode, nichts...« »Actual an Trok. Trok, wo bist du?« »Ich bin auf dem Weg nach Crictor, My Lord.« »Was willst du auf Crictor, du Narr? Dafür kommst du zu spät. Geh jetzt nach Phanadal, aber schnell. Bring soviel Truppen dorthin, wie du kannst. Beeil dich, du Idiot.« »Ja, My Lord.« Aber es war schon wieder zu spät. Sie sahen das Schauspiel auf ihren Bildschirmen. Die Schule wurde vor ihren Augen ins Jenseits gesprengt und erlebte kurz darauf ihre Wiederauferstehung. Das Höllenfeuer und der Schwefeldampf der Explosion übertrafen alles, was Actual seit Jahren gesehen hatte, und die Rekonstruk tion dieser seltsamen Wiedergeburt überstieg sein Fassungsvermögen bei weitem. Aber es passierte wieder ganz genau so. Das ganze Gebäude wuchs in perfekter -137-
Kopie des zertrümmerten Stahles wie ein bösartiger Pilz aus dem Boden. Unmöglich, lächerlich. Dann tauchte ein anderes Bild auf. Man sah das Spielplatzgebiet, in das man sie evakuiert hatte. Sie waren alle da, Millionen von Kindern in einem riesigen Tal. Und über ihnen standen Tausende von Eumigen. Reihe für Reihe standen sie unerschütterlich Wache über der kostbaren Versammlung. Das Feuerwerk war in vollem Gange. Zur Freude der Kinder blitzten große Lichtbögen über dem Nachthimmel auf. Während Actual und die anderen neun Sylvas starr vor Staunen auf ihre Bildschirme starrten, erschien eine feurige Botschaft am Himmel: »Deine Kinder befinden sich in Sicherheit, Actual, in Sicherheit bei den sanften Eumigen. Du hast Glück, denn sie sind nicht ohne Mitleid. Unter ihrer Stärke und Führung wird es die Föderation weit bringen.« »Zur Hölle mit Dir, Stahlauge, zur Hölle mit Deiner verdammten Arroganz.« Dann wurden unter der Gewalt der Patrac-Explosion die Kommunikationsleitungen von Stradt in den Weltraum katapultiert. Auch sie erlebten ihre Wiederauferstehung. Als die großen Kommunikationssysteme in die Luft flogen, fiel die gesamte Sektion Ost 4 der Föderation aus, immerhin ein Gebiet von ungefähr dreitausend Planeten, auf denen plötzlich sämtliche Kommunikationsmittel von Video bis Teleport, lahmgelegt wurden. Die Maschinen wuchsen nach, nicht aber die Kommunikationssysteme. Sie blieben tot. Als nächstes gab der Exon-Computer auf Afractua seinen Geist auf. Dann fielen die Hauptkontrollgebäude der Sicherheitskräfte auf Frac in sich zusammen. Auch die Raumschiffproduktion auf Pinalis gab es nur noch als Duplikat, und die Exon-Hauptkontrolle auf Cris erstarb, nur um tot ihre Wiedergeburt zu erleben. Actual brach zitternd vor Wut und Angst in seinem Kraftfeldsessel zusammen; denn auf allen Planeten standen tief gestaffelt die Reihen der Eumigen und -138-
bewachten die lebenswichtigsten Bestandteile der Föderation der Universalen Mächte. Sie besaßen die völlige Kontrolle und waren schon längst mehr als bloße Anwärter auf die ganze Macht. Sie waren die Sieger. Aber noch besaßen sie nicht den Komplex Sylva. Noch hatten sie nicht das Zentrum der Macht, und vor allem besaßen sie noch nicht den Kreis von Freefall. Nie würde er ihnen in die Hände fallen, nicht solange er dabei ein Wort mitzureden hatte. Unglücklicherweise hatte er das nicht mehr. »My Lord Actual, irgend etwas stimmt da nicht, außerhalb der Sphäre ist etwas aus nördlicher Richtung kommend beobachtet worden, eine Armee, My Lord.« »Was für eine Armee?« »Nun...« »Komm schon, Sylvaner, heraus damit. Was für eine Armee?« »Eine Armee aus Stahlauges, My Lord.« »Was soll das heißen, etwa, daß Hunderte von Stahlauges im Weltraum unterwegs sind?« Actuals Stimme klang ungläubig. »Nicht Hunderte, My Lord, sondern Tausende, Hunderttausende.« Actual sprang auf die Füße. Seine Körperoszillationen verwaberten seinen Körper fast zu einer formlosen Flüssigkeit. »Ruf Trok, hol ihn sofort hierher zurück.« Actual ging hinüber zu dem Hauptsichtgerät nebenan, direkt neben seinem Raum, im Saal des Kreises selbst, und beobachtete die Vorgänge am Himmel. Es gab keinen Zweifel, daß sich tatsächlich eine Armee näherte, eine riesige Armee. »Näher ran, ich muß mir das genauer ansehen.« Das Sehgerät holte das Bild näher heran. -139-
»Wie viele sind es?« »Zehntausend.« »Strahlenkanonen einsetzen. Setzt die Hauptkanonen ein und blastert sie vom Himmel!« Eine mächtige Serie mächtiger atomarer Strahlenbündel schoß vom Boden empor. Aber der Effekt war gleich null, denn das Ziel war schon verschwunden. »Wo sind sie jetzt?« »Auf der anderen Seite, My Lord, auf der Südseite des Planetenkomplexes.« »Sichtgeräte einschalten. Ich will mir das ansehen.« Es gab keinen Zweifel. Auf der anderen Seite des Komplexes gab es noch eine Armee, diesmal in doppelter Stärke. Zwanzigtausend Stahlauges. Zwanzigtausend exakte Duplikate, die alle mit ihrem schrecklichen Stahlauge den Planeten anstarrten und kampfbereit mit großer Geschwindigkeit durch den Raum heranrückten. »Sie sind wieder auf der Nordseite aufgetaucht, My Lord. Zwanzigtausend auch dort, also jetzt auf beiden Seiten, My Lord.« »Disruptoren auf beide abfeuern, aber schne ll.« Die Disruptorstrahlen schossen in den Raum hinaus, aber beide Armeen verschwanden. »My Lord, auf der Ost- und Westseite sind jetzt jeweils vierzigtausend. Und auf der Nord- und Südseite sind sie auch in doppelter Anzahl wieder aufgetaucht.« »Verdammt! Jagt sie in die Luft! Setzt endlich die Disruptoren ein, überall, macht sie fertig, jagt sie hoch, bei allen Sylvanern, macht sie fertig.« Actual waberte und zuckte vor Panik, genau wie die Tausende auf den Straßen. Denn das gleiche Bild war auf allen Bildschirmen zu sehen, überall auf dem Planeten, in jedem Haushalt auf den neun Planeten des -140-
Komplexes. »Sie sind überall, My Lord, überall. Sie scheinen sich dauernd zu vermehren. Jedes Mal, wenn wir das Feuer auf die eröffnen, scheinen sie sich zu verdoppeln. Inzwischen müssen sie fast eine Million sein.« »Das ist unmöglich. Schickt die Sicherheitskräfte auf die Straßen. Beruhigt die Bevölkerung, sagt ihnen, es sei ein Trick, ein Trugbild. Bringt sie zur Ruhe, notfalls mit Gewalt. Aber bringt jeden von der Straße herunter. Das ist unmöglich!« Die Armeen von Stahlauges verdoppelten, verdreifachten und vervierfachten sich, bis Actual endlich einsah, daß es vernünftiger wäre, das Feuer einzustellen. Dann änderten sie ihre Formation. Sie schwenkten in einen Ring um den Planetenkomplex ein, vereinigten sich zu einer einzigen großen Schlachtreihe um den Komplex. Aus einer Reihe wurden zwei, vier, schließlich acht. Dann teilten sich die Reihen und verteilten sich kreuzförmig auf der spiegelnden Oberfläche. Das wiederholte sich wieder und immer wieder, bis die gesamte Oberfläche von Schlachtreihen bedeckt war, die Sonne und Sterne verdunkelten. Wieder und immer wieder verdoppelten sich ihre Reihen. Es mußten schon Billionen sein, die da Schritt für Schritt in düsterem Triumphmarsch vorrückten. Die Sylvaner wurden von wilder Panik erfaßt. Sie kannten Stahlauge, kannten seine Gefährlichkeit als Einzelner. Sie wußten, daß er eine ganze Flotte von Wachsoldaten besiegen konnte, einem Kampfroboter den Kopf abdrehen, ein ganzes Raumschiff in Stücke reißen konnte. Nun waren da plötzlich viele, Millionen über Millionen von Stahlauges. Das war unerträglich. Die Leute verloren völlig den Verstand. Kopflos rannten sie durch die Straßen, verhinderten jeglichen Ordnungsversuch, trampelten alles vor sich nieder, um in ihre Raumschiffe zu gelangen, in einem vergeblichen Versuch, dem Unausweichlichen zu entkommen. -141-
»Er kann die Kraftfelder um den Planeten nicht durchdringen, nein, das kann er nicht. Die Leute werden sehen, wie er aufgehalten wird, alles wird wieder gut.« Actual rang verzweifelt seine Hände; denn seine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Die Armee trat durch die Kraftschranke ohne das leiseste Wort oder Zögern. Glied für Glied tauchte sie auf der Innenseite des Kraftfelds auf, nur wenige Kilometer von der Oberfläche entfernt. Sie schirmten jegliches Licht ab. Es war unmöglich, ihnen zu entkommen. Actual versiegelte die Tür zum Saal des Kreises. Es war sein letzter Versuch, sich selbst vor diesem massierten Angriff in Sicherheit zu bringen. Aber selbst das war vergebens. Kaum war Actual von der Tür zurückgetreten, als sie auch schon von einer kleinen Patracexplosion zerrissen wurde. Eine Wolke von Staub und Rauch drang in den Saal ein. Langsam verflog sie wieder und gab den Blick auf die wiedererstandene Tür frei. An ihrer Innenseite stand Stahlauge. Er füllte den Türrahmen völlig aus. Drohend stand er über Actual, der sich vor ihm wand und waberte, geschlagen und voller Angst, vor Furcht zitternd wie nie zuvor. Stahlauge erschien riesig, massiv, unbesiegbar, wie er mit vor der Brust gefalteten Armen dastand, während sein Gewand um seine Füße wehte. Er war herrlich in seinem Sieg. Wie ein verzauberter Ritter, der in seinen Adelssaal zurückgekehrt ist, blickte Stahlauge auf seine n besiegten und verwirrten Feind herab. »Nun, Actual, großer Zeitmagier, versuche, dich aus dieser Lage herauszumogeln. Ich bin hier als dein Herr, Actual, du bist geschlagen und es gibt für dich diesmal kein Entkommen mehr.« »Was hast du getan, Stahlauge? Was hast du mit meinem Imperium gemacht? Was hast du getan? Was hast du getan? Actual zitterte, unfähig, seinen Worten eine vernünftige -142-
Bedeutung beizulegen. Er war völlig durcheinander, am Boden zerstört. »Ich befehle dir, die Herrschaft über die Föderation der Universalen Mächte in meine Hände und die der Eumigen zu übergeben, die über deiner Welt Wache halten.« »Sie gehört dir, Stahlauge, alles gehört dir.« Eine andere Stimme sprach. »Aber du mußt dich den Zwillingssonnen stellen, Stahlauge, denn sie kommen.« Der Kreis sprach sanft, lethargisch. »Ich sehe, daß sie kommen, Kreis von Freefall. Wir werden ihnen gegenübertreten, wir werden mit ihnen reden. Das ändert an der Macht der Eumigen nichts.« »In der Tat nicht. Ich wünsche dir bei deinem neuen Amt viel Freude.« Damit erstarb der Kreis. »Aber sag mir bitte, Stahlauge«, sprach Actual. »Wie haben die Strukturen sich von allein restituieren können?« »In der Galaxis Andromeda gibt es eine Substanz, die sich Teeblut nennt, eine Verjüngerungssubstanz. Es ist ganz einfach. Man mischt sie mit Patrac, läßt sie explodieren und erhöht so im Bruchteil einer Sekunde die Temperatur vom absoluten Nullpunkt auf vierzehn Grad Celsius. Das Teeblut tritt dann in Aktion. Die Duplikate, die du gesehen hast, werden schmelzen. Sie werden einfach wieder auf der Erde zerfallen, denn sie waren nur Eis, Actual, nichts als Eis. Beachte die Tür hinter mir.« Und hinter ihnen begann die Tür zu tropfen und in Nichts zu zerschmelzen. Actual wandte sich ab und sank in einen Kraftfeldsessel. Dort blieb er ganz still sitzen. Seine Körperoszillationen hörten schließlich fast völlig auf; denn er hatte nichts mehr zu verbergen.
-143-
XII Der Himmel über den Welten war trübe wie ein riesiger erloschener Spielautomat. Nur die Sterne, die über das Schwarz verstreut waren, durchbrachen die Eintönigkeit der Ewigkeit. Nichts schien lebendig; die Unterbrechung fast aller Kommunikationssysteme und eines Großteils der Energieversorgung hatte die Föderation als ein hinkendes, zerbrochenes Zerrbild ihrer früheren glanzvollen Erscheinung hinterlassen. Die Teeblutduplikate schmolzen jetzt, da sie Bodentemperatur erreichten, dahin und lösten sich langsam auf, zerschmolzen zu nichts. Es war ein trauriges, erdrückendes Bild der Zerstörung. Aber die Zwillingssonnen kamen näher. Zwei Kolosse jagten auf ihrer Reise zum Komplex Sylva durch den Himmel Tausender von Planeten. Sie waren ungehindert in die Föderation eingetreten und kamen und gingen jetzt an den einzelnen Welten vorbei. Sie flogen nun vorbei, vermieden jeden Kontakt, vermieden Blutvergießen. Ohne auch nur den Rand einer Atmosphäre zu streifen, näherten sie sich von zwei Seiten der Föderation. Nach und nach erreichten sie das Zentrum ihres langen Experimentes. Sie stoppten so plötzlich, wie sie aufgebrochen waren. Von Freefall, dem Universum der Zwillingssonnen, bis zum Zentrum von Sylva hatten sie nur einige Monate gebraucht. Jetzt, am Ende ihrer Reise, hielten sie plötzlich inne. Reglos verharrten sie vor der spiegelnden Kuppel des Komplexes, ohne jeden Ton, bewegungslos. Sie verharrten so einige Stunden. Stahlauge und der Sylvas saßen beunruhigt im Saal des Kreises, der jetzt in völliger Dunkelheit lag, und warteten. Nach einiger Zeit und ohne jede Vorwarnung war die Energieversorgung wieder in Betrieb, die Lichter flammten auf, die Kommunikationsnetze funktionierten -144-
wieder. Die Leute waren verwundert. Die Armeen der Eumigen wurden ohne jede Ankündigung auf ihren Planeten Zrost zurückversetzt, und die Bilder von Stahlauge verschwanden. Ohne große Umstände wurden die Kraftwerkszentrale, die Schule, die Kommunikationszentren, der Büchereicomputer, das Sicherheitszentrum, die Raketenfabriken, der Zeitreisencomputer wieder unbeschädigt in ihren vorherigen Zustand versetzt. Nicht der leiseste Kratzer war an ihnen zu bemerken. So als wären sie nie zerstört worden, lebten sie wieder auf und funktionierten perfekt. Dann trat Stille ein. Actual sah ruhiger aus und lächelte Stahlauge sogar an. Schließlich sprachen die Sonnen. »Vor vielen Jahrhunderten starteten wir hier in diesem Teil des Universums ein Experiment. Dieses Gebiet sollte zu einer glänzenden und gerechten Macht erblühen, die von starken, logisch denkenden Lebewesen kontrolliert werden sollte. In ihrem Zentrum etablierten wir einen von uns selbst geschaffenen Kreis, der für größere Flexibilität und schnellere Resultate sorgen sollte. Wir hofften, daß dieses Experiment zu einem befriedigenden Ergebnis führen würde. Wir haben uns geirrt. Die Entwicklung der Föderation der Universalen Mächte war nicht geprägt von Glanz und Gerechtigkeit, sondern von Gewalt und Unterdrückung. Leider läßt unser Kodex nicht zu, daß wir Leben zerstören, das wir selbst geschaffen haben. Also beschlossen wir, zu einem uns geeignet scheinenden Zeitpunkt die Macht des Kreises auf anderer Ebene umzuorganisieren.« »Diese Aufgabe wurde uns jedoch abgenommen; zwar in ziemlich grober Art und Weise und mit höherem Tempo, aber mit gleichem Resultat.« »Die Entwicklung Stahlauges und der Zivilisation der Eumigen waren zwei Zufallsfaktoren in einem Ze itarrangement, die wir nicht vorhergesehen hatten. Wir haben daher dazugelernt und werden das Resultat zur Kenntnis nehmen.« -145-
Eine winzige Pause trat ein. »Unsere Anweisungen sind jetzt die Folgenden: der Kreis wird entfernt. Die Rasse der Eumigen wird die Macht aus den Händen der Sylvas übernehmen. Die Föderation wird sich ohne unsere Aufsicht frei entsprechend ihrem Willen entwickeln können, und Stahlauge kommt mit uns.« Stahlauge stand da und versuchte, die Bedeutung dessen, was gerade gesagt worden war, zu erfassen. Die Worte kündigten ein neues Abenteuer an, ein Geschenk, um das er gebeten hatte, und das ihm gewährt worden war. Aber in seinen Gedanken war auch ein Schuß dunkler Vorahnungen. Er fürchtete die Leute von Freefall, und er traute ihnen nicht, denn er wußte nichts über sie. Sie waren ihm nicht nur fremd, sondern auch offenkundig mächtiger als alles, was er bisher kennen gelernt hatte. Er hatte jedoch keine Wahl. Er würde gehen müssen. Daran gab es kaum einen Zweifel. Aber was würde mit Chaos und dem Jungen geschehen? Was würde aus seiner Familie werden? Würde er sie jemals wiedersehen? Wie zur Antwort erklang wieder die Stimme. »Wir beachten die Bräuche des Menschen. Es wird der Frau und dem Menschenkind gestattet sein, ebenfalls mit Stahlauge zu kommen. Bereitet euch darauf vor, in vierundzwanzig Stunden abzureisen.« »So, Ihr sollt also allein gehen, ihr drei.« Es war Tousle, der das sagte, und wenn es ihm möglich gewesen wäre, zu weinen, dann hätte er es getan. »Wir werden unsere Schöpfer vermissen«, sagte Stahlauge und drückte seine große Hand auf die noch größere Schulter des Kreaturforschers. »Ich glaube, ich sollte ein paar Tränenkanäle in die Mechanik der Eumigen einbauen. Nur ein paar, versteht ihr, aber ich meine, es würde uns guttun, das Gefühl des Weinens kennenzulernen.« -146-
»Ihr werdet Euren Vätern täglich ähnlicher, Tousle, ihr werdet immer mehr so, wie die Menschen selbst. Ich bin nicht sicher, ob das gut ist.« »Der Mensch hat Vieles, von dem wir lernen können. Du, Stahlauge, und auch du, Chaos, ihr habt uns ein wenig mehr darüber gelehrt, wie sie früher waren. Wir werden zur Erde zurückkehren und nachsehen, was wir noch herausfinden können.« »Woher das Interesse?« »Nun, wie du schon gesagt hast, waren sie unsere Väter, und wir möchten unsere Verwandtschaft nicht mißachten, wie gespannt die Beziehungen auch immer sein mögen. In meinem Fall ist der Kontakt sehr eng. Ich war der erste Eumige, der nach ihrer Abdankung gebaut wurde, und Timion ist von den Händen eines Menschen gebaut worden. Das gibt viel Anlaß zum Nachdenken. Auf jeden Fall bin ich es langsam leid, in Andromeda herumzuzigeunern; ich werde jetzt einen genaueren Blick auf das Sonnensystem werfen.« »Der Mensch hat einen Großteil seiner frühen Jahre genau damit zugebracht. Er hat sehr wenig gefunden.« »Er hat aber seinem eigenen Planeten auch nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet. Dort müssen die Schätze verborgen liegen. Ich werde dort ein Laboratorium einrichten, wahrscheinlich in Paris«, beschloß er. »Ah, Paris«, sagte Chaos. »Seltsame Erinnerungen.« »Nicht sehr angenehm. Ich wünschte, ich könnte in der Zeit zurückreisen und dort hin zurückkehren, um den Menschen so zu beobachten, wie er in seinen besten Tagen war. Paris muß sehr unterhaltsam gewesen sein. Ich habe irgendwo darüber gelesen. Musik, Spielclubs und Stripteaseshows.« »Was um alles in der Welt war eine Stripteaseshow?« fragte Stahlauge. »Du gewöhnst dir die Landessprache an, Stahlauge. ›Was um -147-
alles in der Welt‹ war eine Redewendung in jenen Tagen auf der Erde. Eine Stripteaseshow war eine Vorführung, in der attraktive Frauen langsam und sinnlich ihre Kleidung vor kleinen Männern mit Regenmänteln ablegten.« »Warum hatten sie denn Regenmäntel an?« »Frag mich nicht, sie taten es eben.« »Hmm, der Mensch war sogar noch seltsamer, als ich gedacht hatte. Ich glaube, ich sollte einen Besuch zu einer dieser Striptease-Shows organisieren.« »Du wirst von Freefall aus eine weite Reise haben.« »Woher willst du das wissen? Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wo das ist.« »Oh doch«, entgegnete Tousle. »Ich habe mit den Zwillingssonnen kommuniziert. Sie haben mir gesagt, ich sollte ihnen bei einem gewissen Entwicklungsstand einen Besuch abstatten, um über die Erfolge der Föderation unter Eumigischer Herrschaft zu berichten.« »Sieh mal einer an, du schlauer alter Roboter. Bisher hat es sonst keiner geschafft, mit ihnen zu sprechen.« »Sie sind nicht sehr gesellig. Sie ziehen es vor, den meisten niederen Formen der Intelligenz verborgen zu bleiben.« »Aha. Und du stellst eine höhere Form dar, nehme ich an.« »In der Tat, so könnte es scheinen.« »Nun komm schon. Wo liegt Freefall?« »Freefall ist überall. Freefall ist der Rest des Universums. Es ist auch unter dem Namen Multiweg- und Nebenweg-Zeiten bekannt. Wie ich höre, werdet ihr auf einer Welt starten, die Kristallplanet heißt. Ein Ort mit vielen Geheimnissen, die unser aller Vorstellungsvermögen überschreiten. Freefall ist ewig. Das Universum ist ewig. Die Leute von Freefall haben die Unendlichkeit entdeckt. Sie haben die Zeit selber bis ans Äußerste ergründet, und sind mit allem Leben und aller Materie -148-
und mit dem ganzen Raum befaßt.« »Ich kann nicht folgen.« »Nun, du wirst lernen müssen. Sie werden dich unterrichten. Sie möchten, daß du ihr erster externer Student bist. Das erste Lebewesen, das die höchsten Gipfel der Erkenntnis erreichen wird.« »Warum? Warum sollten sie dafür einen Menschen brauchen?« »Offensichtlich brauchen sie dich, Stahlauge, für irgendeinen Zweck, den sie nicht enthüllen wollen. Sie brauchen dich für irgend etwas, das sie nicht selber ausführen können.« »Die allmächtigen Väter des Universums können eine Aufgabe nicht erfüllen, die ich bewältigen kann?« fragte Stahlauge ungläubig. »Offensichtlich.« »Wie spannend. Ich kann es gar nicht abwarten.« »Es wird viel zu sehen geben, Stahlauge, viel zu sehen. Sie haben mir einen äußerst kurzen Blick auf ihre Welt gestattet, einen wirklich winzigen Blick auf die Zentralkomplexe von Freefall.« »Und?« »Du wirst für alles offen sein müssen. Was du bisher gelernt hast, läßt sich überhaupt nicht damit vergleichen. Alles ist anders, ganz anders.« »Ich sehe, du willst mich auf die Folter spannen.« »Eine Welt, die von allen anderen Welten entfernt ist, ein Universum jenseits aller Universen, ein Unterschied, den sich unser Hirn nicht vorstellen kann, ein Ort, an dem nicht einmal ich während meiner Lebensdauer auch nur ein Millionstel aller Informationen ohne ihre Hilfe verdauen könnte.« »Aha. Ich werde also ihre Hilfe brauchen.« -149-
»Du wirst sie bekommen. Deine Reise nach Freefall wird von Aktivitäten erfüllt sein. Für euch alle. Ihr werdet die Erziehung eines ganzen Lebens durchlaufen, eines neuen Lebens.« »Gehen wir also.«
-150-