Jens Hoffmann Stalking
Jens Hoffmann
Stalking
Mit 8 Abbildungen und 12 Tabellen
123
Dr. Jens Hoffmann TU Darmstadt Institut für Psychologie Arbeitsstelle für Forensische Psychologie Alexanderstraße 10 64283 Darmstadt
ISBN-10 3-540-25457-9 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13 978-3-540-25457-7 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Svenja Wahl Projektmanagement: Joachim Coch Design: deblik, Berlin SPIN 10815693 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
In Erinnerung an Bettina Erbenich (1978–2005) und Cordula Frey (1964–2005). Ihr fehlt.
VII
Vorwort Dieses Buch entstand in einem Zeitraum von sechs Jahren. Es begann mit ersten Überlegungen für ein Promotionsvorhaben, die sich rasch in der Sichtung von Literatur sowie in der Entwicklung eines Fragebogens niederschlugen, in dem Personen des öffentlichen Lebens ihre Erfahrungen mit ungewöhnlichen und hartnäckigen »Fan«-Kontakten schildern sollten. Die Grundlage für diese Publikation bildet dann auch meine Dissertationsschrift mit dem pointiert-knappen Titel Stalking. Obsessive Belästigung und Verfolgung unter besonderer Berücksichtigung von Prominenten als Opfer. Die Gliederung der Arbeit wurde für die hier vorliegende Veröffentlichung leicht umgestellt und um einige zusätzliche Kapitel erweitert, und zwar zu den Themen »Therapie von Stalkern«, »Vorgebliche Stalkingopfer«, Stalking als Fortsetzung von häuslicher Gewalt«, »Management« und »Auswirkungen von Stalking«. Da ich mich nicht nur der Theorie, sondern – durch Beratung und Fallmanagement bei prominenten und nicht prominenten Betroffenen – ebenso der Praxis verpflichtet fühle, habe ich immer wieder auch versucht, den Bezug zum konkreten Umgang mit dem Phänomen obsessiver Belästigung und Verfolgung herzustellen. Ich würde mich freuen, wenn der eine oder andere Leser, der beruflich mit Stalking zu tun hat, daraus Nutzen ziehen kann. Nun noch einige Anmerkungen eher technischer Natur: Da rein statistisch betrachtet die Mehrzahl der Stalker männlich und die Mehrzahl der Betroffenen weiblich sind, habe ich diese Geschlechterverteilung sprachlich meistens auch benutzt, wenn ich eigentlich das Geschlechterübergreifende, Allgemeine meinte. Um den Genderaspekt zu berücksichtigen, wurde dieses Muster aber an einigen Stellen bewusst durchbrochen. Alle im Original englischsprachigen Zitate sind wegen der besseren Lesbarkeit von mir übersetzt worden. Falls einer der Leser Näheres über den von mir entwickelten Fragebogen zu Stalkingerfahrungen von Prominenten erfahren möchte, lässt sich der Bogen per E-Mail anfordern, und zwar unter der Adresse
[email protected]. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich bei dieser Arbeit unterstützt haben: Dr. Alexander Deppert, der mich bei dem Projekt von Anfang an begleitete und dessen wissenschaftliche Erfahrungen bei der Konstruktion des Bogens und den Auswertungen von großer Hilfe waren. Harald Dern, der mir während zahlreicher Diskussionen immer wieder neue Brücken baute in das Verständnis moderner psychodynamischer Konzeptionen und dessen Begeisterung für das Werk von Heinz Kohut auch auf mich übersprang. Felicia Schröck für ihre Hilfe bei der Auswertung von Zuschriften fixierter Personen. Prof. Dr. Rainer Schmidt für sein Interesse und das freundliche Wohlwollen gegenüber meinem Vorhaben und auch für seine Nachsicht bei Terminverzögerungen. Prof. Dr. Hans-Georg Voß für seine ruhige Betreuung. Manche seiner Anregungen zum Thema dieser Arbeit erschlossen sich mir in ihrer Weitsicht erst nach Monaten und haben mein Verständnis von Stalking in einigen Punkten entscheidend mit geprägt. Isabel Wondrak, die mir bei der Auswertung der Fragebögen, beim Korrekturlesen und der Formatierung der Arbeit entscheidend zur Seite stand; ihre Ermutigungen und ihre Kompetenz halfen in stressreichen Tagen sehr. Mein weiterer Dank gilt den Moderatoren eines Fernsehsenders, die mir für die Arbeit einen Teil ihrer knapp bemessenen Zeit schenkten, indem sie Fragebögen ausfüllten, Fragen nach ihren Erfahrungen mit Stalkern geduldig beantworteten und sich die Mühe machten, Zuschriften obsessiver Fans zusammenzusuchen und mir zur Verfügung zu stellen.
VIII
Vorwort
Mein Dank dafür, mir unveröffentlichte Literatur zur Verfügung gestellt zu haben, geht an Julia Bettermann, das Büro von Gavin de Becker, an Dr. David James, an Totti Karpela von der Threat Management Unit in Helsinki, an Dr. Lorraine Sheridan und an den US Marshall Service. Schließlich danke ich Dr. Svenja Wahl, Renate Scheddin und Joachim Coch vom SpringerVerlag für die gute editorische Betreuung des Projekts sowie Rainer Zolk für das Copyediting. Darmstadt, im September 2005
Jens Hoffmann
IX
Inhaltsverzeichnis 1
Formen, Auftreten, Verbreitung . . . .
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9
Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Ebenen . . . . . . . . . . Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stalking und psychische Krankheit . . . Verhältnis zwischen Stalkern und Opfer Wissenschaftliche Erforschung . . . . . . Verbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nimmt Stalking zu? . . . . . . . . . . . . .
2
Soziale Konstruktion . . . . . . . . . . . .
2.1 2.2
Stalking als kulturelle Erzählung . . . . . . Konstruktionen der Begrifflichkeit von Stalking . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genderaspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythen des Stalkings und ihre Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Künstler als Stalker . . . . . . . . . . . . . . Stalking als Sujet von Film und Literatur Medienberichte und Nachahmungstaten
. . . . . . . . .
1 1 4 4 6 7 8 8 10 12 15 15
5.3
Spezielle Typologien von Prominentenstalkern . . . . . . . . . . . . .
6
Prominentenstalking . . . . . . . . . . . .
6.1 6.2 6.3 6.4
Begriff des Prominenten . . . . . . . . . . . Unterscheidung zwischen Fan und Stalker Bisherige Forschungsprojekte . . . . . . . Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland . . .
79 91 92 93 95 99
7
Erotomanie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.1
Historische Entwicklung des Erotomaniekonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . De Clérambaults Erotomaniemodell . . . Moderne Klassifikation . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsbild und Krankheitsverlauf Erklärungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . Biografisches Entwicklungsmodell . . . . Geschlechterverteilung . . . . . . . . . . . Erotomanie und Gewalttätigkeit . . . . . Kritik und erweiterte Konzeptionen . . . Erotomanisches Prominentenstalking . . Grenzen des Erotomaniekonzepts . . . .
116 119 121 121 122 125 126 127 129 131 133
. . . .
27
. . . .
27
8
Therapie von Stalkern . . . . . . . . . . . 135
3.3
Interkultureller Vergleich . . . . . Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . Stalking als Folge interkultureller Fehlinterpretationen . . . . . . . . . Prominentenstalking . . . . . . . . .
7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9 7.10 7.11
. . . . . . . .
30 31
8.1 8.2 8.3 8.4
33 34 37 37 38 41 44 52 62
Diagnostischer Prozess . . . . . . . . . . . Behandlung psychischer Störungen . . . Unterschiedliche therapeutische Ansätze Besonderheiten im therapeutischen Umgang mit Stalkern . . . . . . . . . . . . . Rückfallgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel für einen Therapieplan . . . . . . Therapeuten als Stalkingopfer . . . . . . .
2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
3 3.1 3.2
4
Stalkingtheorien . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Relationale Modelle . . . . . . . . . . Behaviorismus . . . . . . . . . . . . . Evolutionspsychologische Ansätze Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . Objektbeziehungstheorien . . . . . Psychodynamische Theorien . . . . Kohuts Narzissmustheorie . . . . . Der Fall Günter P. . . . . . . . . . . .
5
Typologien von Stalkern . . . . . . . . . Unterschiede zwischen den Klassifikationssystemen . . . . . . . . . . . Allgemeine Modelle verschiedener Arbeitsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 5.2
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
16 18 19 20 22 23
67 69 71
8.5 8.6 8.7
136 137 140 142 144 145 146
9
Auswirkungen von Stalking auf Betroffene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
Psychische und soziale Folgen . . . . . Körperliche Belastung . . . . . . . . . . Auswirkungen auf den Lebensstil . . . Posttraumatische Belastungsstörung Vulnerabilität . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Interventionen . . . .
. . . . . .
. . . . . .
151 153 153 154 154 155
X
Inhaltsverzeichnis
10
Management . . . . . . . . . . . . . . Ansatzpunkte verschiedener Berufsgruppen und Institutionen . . Grundregeln für den Umgang mit Stalking . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelles Fallmanagement . . . . Besonderheiten beim Prominentenstalking . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.1 10.2 10.3 10.4
. . . 157 . . . 157 . . . 161 . . . 163 . . . 166
11
Gewaltanwendung und Gewalterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5
Häufigkeit von Gewalt . . . . . . Tödliche Gewalt . . . . . . . . . . Ziele von Stalkinggewalt . . . . Vorhersagefaktoren der Gewalt Wirkmechanismen der Gewalt .
12
Stalking als Fortsetzung häuslicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
12.1 12.2 12.3 12.4
Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Stalkern und häuslichen Gewalttätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktisches Vorgehen . . . . . . . . . . . .
12.5
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
170 172 174 176 178
185 186 187
188 189
13
Vorgebliche Stalkingopfer (»Falsches-Opfer-Syndrom«) . . . . . . 191
13.1 13.2 13.3
Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Mögliche Merkmale . . . . . . . . . . . . . 194
14
Cyberstalking . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
14.1 14.2 14.3 14.4
Empirische Befunde . Besondere Qualitäten Formen . . . . . . . . . Prävention . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
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. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
198 198 201 204
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 219
1 Formen, Auftreten, Verbreitung
1.1
Definitionen – 1
1.2
Psychologische Ebenen – 4
1.3
Verhaltensweisen – 4
1.4
Motive – 6
1.5
Stalking und psychische Krankheit – 7
1.6
Verhältnis zwischen Stalkern und Opfern – 8
1.7
Wissenschaftliche Erforschung – 8
1.8
Verbreitung – 10
1.9
Nimmt Stalking zu? – 12
Endlose Briefe, Telefonate und E-Mails, Auflauern und Verfolgen, Drohungen und Liebesbekundungen: Die Frage, was Stalking genau ist, lässt sich nicht leicht beantworten, denn es gibt keine einzige spezifische Verhaltensweise, die bei Stalking immer präsent ist und die somit einen Schwellenwert festsetzt. Um die Sache noch weiter zu komplizieren: Es existiert auch keine spezielle Motivation oder Ursache für Stalking. Wir haben es hier stattdessen in der Regel mit einem Bündel von Verhaltensweisen zu tun, hinter denen sich unterschiedlichste Motive, psychische Besonderheiten und Emotionen verbergen können. Im Kern geht es um ein einseitiges Kontaktstreben. Einer will, dass der andere an ihn denkt, der andere möchte ihn aus dem Gedächtnis verbannen. Konkreter ausgedrückt versucht eine Person in eine Beziehung mit einem anderen Menschen zu treten, letzterer will dies nicht – es gelingt ihm jedoch nicht, diese Versuche zu unterbinden. Es handelt sich also bei Stalking um eine Interaktion, die von einer deutlichen Asymmetrie geprägt ist.
1.1
Definitionen
Auf der Verhaltensebene äußert sich Stalking in wiederholten Handlungen von Verfolgung, Belästigung oder Kontaktaufnahmen, die auf der darunterliegenden psychischen Ebene von einer emotionalen Fixiertheit begleitet werden. Eine der ersten wissenschaftlichen Definitionen von Stalking sprach von »einem obsessiven oder unnormal langen Muster von Bedrohung oder Belästigung, das gegen ein bestimmtes Individuum gerichtet ist« (Zona et al. 1993, S. 896). Bald darauf führten Meloy und Gothard (1995) den Ausdruck »obsessives Verfolgen« ein, um durch den Begriff der Obsession den psychiatrischen Aspekt des Phänomens stärker hervorzuheben. Hier findet sich zudem ein Bezug zu der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes: Das englische Wort »Stalking« entstammt der Jagdsprache und bedeutet dort, sich einem Wild auf die Spur zu setzen und es zu verfolgen. Mittlerweile werden in zahlreichen Fachpublikationen die Formulierungen obsessive Verfol-
2
1
Kapitel 1 · Formen, Auftreten, Verbreitung
gung und obsessive Belästigung als Synonym für Stalking verwendet. Es gab auch Bemühungen, Stalking auf einer mehr verhaltensbeschreibenden Weise zu erfassen, um größere Eindeutigkeit und Klarheit auf einer konzeptionellen Ebene zu erreichen. So definierten die australischen Forscher Pathé und Mullen (1997) Stalking als »eine Verhaltenskonstellation, in der eine Person einer anderen wiederholt unerwünschte Kommunikation und Annäherungen aufzwingt« (S. 12). Als Handlungsbeispiele für die unerbetenen Kommunikationen nennen sie neben Briefen, EMails und Telefonaten auch Graffitis und hinterlassene Nachrichten, die etwa am Auto des Opfers befestigt werden. Westrup (1998) machte 3 Merkmale aus, die ihrer Meinung nach Stalking konstituieren: 4 Das Verhalten tritt mehr als einmal auf und zielt auf eine bestimmbare andere Person; 4 es wird als unerwünscht und grenzverletzend wahrgenommen; 4 es kann Angst oder Besorgnis auslösen. Inwiefern die emotionale Auswirkung auf die Opfer überhaupt als definitorische Grundlage für Stalking dienen kann, bleibt umstritten. Diese Komponente stammt zunächst aus dem Bemühen, Stalking juristisch festzusetzen, und wurde infolge auch verstärkt in einem sozialwissenschaftlichen Kontext diskutiert. So wird in dem US-amerikanischen »Model AntiStalking Code«, der als Vorbild für Gesetze in mehreren US-Bundesstaaten diente, bei Stalking von einem Verhaltensmuster der Belästigung gesprochen, »welches bei einer vernunftbegabten Person Angst auslösen würde« (Tjaden u. Thoennes 1998b, S. 6). Dieser subjektive Anteil in der Begriffsbestimmung impliziert, dass ein Vorhandensein von Stalking nicht nur durch Aktionen eines »Täters«, sondern auch durch den Blick des potenziellen Opfers konstituiert wird. Vielleicht offenbart sich in dieser definitorischen Vieldeutigkeit aber auch einfach nur das bereits erwähnte Problem, dass es keine unverwechselbaren Verhaltensweisen gibt, die das Vorhandensein von Stalking begleiten. Resigniert bemerkten einige Kommentatoren, dass es bei Stalking wie bei großer Kunst ist: Man erkennt sie, wenn man sie sieht, weiß aber nicht, wie man sie definieren soll. Hinter dem Gefühl der Angst und Beunruhigung steckt zumeist die Wahrnehmung einer sozia-
len Grenzverletzung, die der Stalker begeht. Schlägt eine Person, die man reizvoll findet, dreimal den Wunsch eines gemeinsamen Treffens ab mit der Begründung, sie hätte gerade sehr viel zu tun, dann heißt das sozial übersetzt in der Regel, dass sie keinen näheren Kontakt wünscht. Sie wählt hierfür eine indirekte Ausdrucksweise, die den Gesichtsverlust des anderen minimieren soll. Stalker missachten bzw. verkennen die manchmal sehr subtilen Codes, die die zwischenmenschliche Kommunikation moderieren. Insistiert der Verehrer weiter oder verstärkt er sogar das Werben trotz der vermeintlich klaren Absage, dann erscheint er plötzlich sozial unberechenbar. An diesem Punkt tritt der individuelle Unterschied ein, der entscheidet, ob man ein Verhalten als Stalking wahrnimmt oder nicht. Manche Menschen werten die fortgesetzten Annäherungen als nervtötend, aber nicht weiter belastend, anderen erscheinen sie als unkontrollierbar und bedrohlich. Allerdings ist es nur ein kleiner Bereich aus dem Spektrum einseitiger Kontaktversuche, bei dem es im Auge des Betrachters liegt, ob man von Stalking spricht. Es ist der Übergang, bei dem sozial eindeutig adäquate Verhaltensweisen zwar bereits verlassen wurden, die Konventionen jedoch noch nicht komplett außer Acht gelassen werden. Einer zu stark subjektiven Verordnung widerspricht auch die Erfahrung, dass schwere Fälle von wiederholter Belästigung oder Verfolgung in der Regel von allen objektiven Beobachtern bei Vorliegen aller Fakten eindeutig als Stalking klassifiziert werden, ein Interpretationsspielraum erscheint kaum noch vorhanden. Nimmt man diese Sichtweise ein, akzeptiert man damit auch einen pathologischen Kern des Geschehens, der beim Stalker liegt und nicht alleine durch den Blick des Opfers determiniert ist. Die bisher am weitestgehend anerkannte Operationalisierung obsessiver Verfolgung und Belästigung stammte von Mullen et al. (1999) und wurde ursprünglich im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung von Stalkern festgelegt. Dabei wurde Stalking definiert »als wiederholte (mindestens 10 Mal) und andauernde (mindestens 4 Wochen) unerwünschte Versuche, sich dem Opfer anzunähern oder mit ihm zu kommunizieren. Das Verhalten wurde dabei auf der Basis des Empfindens des Opfers als unerwünscht angesehen und nicht auf-
3 1.1 · Definitionen
grund von Behauptungen der Täter« (Mullen et al. 1999, S. 1245). In den meisten Definitionen zu Stalking bleiben eventuell vorhandene Interaktionen zwischen Täter und Opfer unberücksichtigt. Tatsächlich zeigt sich jedoch in der Praxis gelegentlich, dass es zu Reaktionen der Opfer kommt, die geeignet sind, das Stalkingverhalten zu stabilisieren. Ein Beispiel ist eine Person, die von ihrem früheren Partner immer wieder angerufen, aufgesucht und angesprochen wird mit der Bitte um eine weitere Aussprache. Lässt sie sich trotz Widerstrebens doch noch von Zeit zu Zeit auf ein »letztes Gespräch« ein, hat dies in der lerntheoretischen Diktion gesprochen die Wirkung eines intermittierenden Verstärkers, der besonders gut geeignet ist, zu einer Fortsetzung der eigentlich unerwünschten Kontaktversuche beizutragen. Gelegentlich gibt es Fälle, in denen beide Seiten sich wechselseitig belästigen und dann wieder voneinander Abstand suchen, sodass es von außen betrachtet unmöglich ist festzustellen, wer Täter und wer Opfer ist. Obgleich ein oder manchmal sogar beide Beteiligten dabei gelegentlich durchaus das Gefühl äußern, wirklichem Stalking ausgesetzt zu sein, sollte man bei einer solchen, letztlich noch der Beziehungssphäre zuzurechnenden Dynamik nicht unbedingt von einem genuinen Stalkingfall ausgehen. Ein weiteres Beispiel für Vorkommnisse, die zumindest zeitweise eine gewisse Unschärfe aufweisen, sind Fälle, in denen anfänglich, sozusagen in der Werbephase, das Kontakt- und Annäherungsverhalten sehr ausgeprägt ist. Zunächst schmeichelt dies noch der Zielperson, und erst nach einer gewissen Zeit werden die Begegnungen, Briefe oder Anrufe als störend und unangenehm wahrgenommen und lassen sich nicht mehr abwenden. Hier findet ein fließender Übergang zu Stalking statt. Zusammengefasst bedeutet das: Bei einer vorhandenen sozialen Beziehung muss ein klares und konsequentes Signal gesetzt sein, dass weitere Kontaktversuche nicht gewünscht sind, und diese Grenzziehung muss missachtet werden, bevor Stalking eindeutig zu verzeichnen ist. Des Weiteren kann eine relativ zweifelsfreie »Diagnose« von Stalking in folgender Situation getroffen werden: Jemand versucht, mit einer anderen Person vehement, wiederholt und ohne jegliche sozial übliche Vorbahnung in eine Beziehung zu treten, ohne dass diese Person irgendein
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entsprechendes Signal gegeben hat oder einen Kontakt wünscht. In dieser Konstellation ist stärker die Einseitigkeit des Beziehungswunsches signifikant, die – sozusagen in einem sozial luftleeren Raum – in Handlungen umgesetzt wird. Man kann also prinzipiell zwischen einer Form von Stalking unterscheiden, in der der gewünschte Abbruch einer Beziehung durch fortgesetztes Kontaktverhalten übergangen wird, und einer anderen, die durch den einseitigen Versuch charakterisiert ist, eine Beziehung unter sozial unangemessenen Rahmenbedingungen aufzubauen. In die letzte Gruppe ist auch das Phänomen des Prominentenstalkings einzuordnen. Prominenz lässt sich dadurch definieren, dass eine Person durch eine länger andauernde Präsenz in den Massenmedien vielen Menschen bekannt ist. Als Synonym für den Ausdruck »Prominenter« finden auch die Begriffe »Person des öffentlichen Lebens«, »Star« und »Berühmtheit« Verwendung. Das heißt, der Stalker steht in solchen Fällen mit seiner Zielperson alleine über die Medien vermittelt in einer inneren Verbindung. Eine reziproke Beziehung findet ausschließlich in seiner Fantasie statt, dies erkennt er jedoch nicht und sucht den Kontakt mit dem Prominenten in der realen Welt. Es lassen sich einige Merkmale ausmachen, die auf das Vorhandensein von Stalking hinweisen. Man kann in den meisten Fällen von Stalking sprechen bei 4 wiederholten Handlungen der Kontaktaufnahme, Annäherung oder Belästigung, 4 die sich über einen längeren Zeitpunkt hinweg ziehen, 4 die die impliziten Regeln sozialer Interaktion überschreiten, 4 die sich auf eine spezifische Person richten, 4 die von der Zielperson zumindest teilweise wahrgenommen werden, 4 die von der Zielperson direkt nur eingeschränkt oder gar nicht beeinflussbar sind. Allerdings erweist sich der letzte Punkt als Definitionsmerkmal etwas diffizil und bleibt in konkreten Einzelfällen manchmal hypothetisch. Ist es bereits dazu gekommen, dass das Opfer dem Ansinnen des Stalkers eine Zurückweisung erteilt hat und dieser trotzdem seine Aktivitäten fortsetzt, so ist die Lage
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Kapitel 1 · Formen, Auftreten, Verbreitung
eindeutig: Die aufdringliche Person lässt sich nicht beeinflussen – ein deutlicher Hinweis auf das Vorhandensein von Stalking. Wie ist es aber mit dem Prominenten, der auf die zahllosen Briefe eines obsessiven Verehrers eben nicht mit einer Antwort reagiert und ihn darin bittet, seine Kontaktversuche einzustellen? Der Star handelt vermutlich aus gutem Grund so, denn er nimmt womöglich an, dass es sich vielleicht um einen Stalker handelt und in diesem Fall eine direkte Reaktion seinerseits eher zu einer Intensivierung als zu einer Beendigung des unerwünschten Verhaltens beitragen würde. Die Bitte des Prominenten an den ausdauernden Briefschreiber, mit seinen Aktivitäten aufzuhören, würde sozusagen den Lackmustest darstellen, ob es sich um einen Stalker handelt oder um einen Fan, der zwar etwas zu weit gegangen, aber einer rationalen Argumentation doch noch zugänglich ist. Ein Stalker würde seine Bemühungen fortsetzen, ein Fan eher dem Wunsch des Stars Folge leisten. In der Praxis wird sich dieser Aspekt jedoch nicht immer klären lassen. Allerdings lässt sich der Stalker vom Fan neben der Beharrlichkeit seiner Anstrengungen noch an einem weiteren Punkt unterscheiden, der oftmals in seiner Kommunikation hervortritt: Er ist davon überzeugt, dass es zu einer Beziehung zwischen ihm und dem Star kommen wird oder eine solche sogar schon vorhanden ist; der Blickwinkel des Fans ist dagegen stärker realitätsverhaftet.
1.2
Psychologische Ebenen
Wie bereits angedeutet, lassen sich aus psychologischer Sicht mehrere Ebenen des Stalkings beim Individuum ausmachen. Dem von außen erkennbaren Verhaltensmuster entsprechen damit auch benennbare innerpsychische Vorgänge.
Emotionale Ebene: Der Stalker ist ebenso von sei-
nem Gefühl her auf das Opfer ausgerichtet. Diese Fixierung kann emotional unterschiedlich getönt sein. Sie vermag beispielsweise positiv geprägt zu sein durch ein Gefühl von Liebe und einem Bedürfnis nach Nähe. Sie kann etwa nach einer Trennung von Niedergeschlagenheit bestimmt sein oder in einem anderen Fall von Wut und Hass gespeist werden. Handlungsebene: Das phänomenologische Kern-
charakteristikum von Stalking besteht darin, dass das Verhalten sowohl länger andauernd als wiederholt auftritt. Die Art der Handlungen kann sehr unterschiedlich sein, ihr Ziel ist es jedoch letztlich immer, irgendeine Art von Eindruck bei dem Opfer zu hinterlassen. Bei der Betrachtung von Stalking ist es von zentraler Bedeutung, nicht nur der Verhaltensebene verhaftet zu bleiben. Denn ansonsten würden auch einige Dinge unter Stalking subsumiert werden, die eigentlich anderen Bereichen zuzurechnen sind. An dieser Stelle soll der Begriff des instrumentellen Stalkings vorgeschlagen werden. Dabei geht es darum, durch das wiederholte Annäherungsverhalten ein bestimmbares und rationales Ziel zu erreichen. Ein Beispiel stellt eine Person mit einer antisozialen Persönlichkeitsstruktur dar, die durch fortgesetzten Psychoterror, etwa in Form von nächtlichen Drohungen und Anrufen, Geld zu erpressen versucht. Ein anderes Exempel ist der Auftragsmörder, der die Gewohnheiten und das Lebensfeld seines späteren Opfers ausspäht, um seinen Anschlag zu planen. Beide zeigen Stalkingverhalten, sind jedoch auf der emotionalen Ebene nicht auf das Opfer fixiert.
1.3
Verhaltensweisen
Kognitive Ebene: Markant ist hier, dass der Stalker
Taktiken des Stalkings
in aller Regel fest davon überzeugt ist, dass seine Handlungen angemessen sind. Er glaubt beispielsweise, dass das Opfer ihn provoziert habe oder beide füreinander bestimmt sind. Es ist also die einseitige Vorstellung vorhanden, dass eine Beziehung, sei sie positiver oder negativer Art, vorhanden, berechtigt oder erwünscht ist.
Verhaltensweisen, die bei Stalking auftreten, lassen sich in verschiedene Obergruppen zusammenfassen. In einer Metaanalyse wertete Spitzberg (2002) 43 internationale Studien mit quantifizierbaren Angaben zu einzelnen Stalkinghandlungen aus. Auf dieser Basis entwickelte er ein typologisches System
5 1.3 · Verhaltensweisen
1
mit insgesamt 7 Kategorien, die er als »Taktiken des Stalking« bezeichnete.
holt bereit erklärt, Nachrichten in den Briefkasten des Opfers zu werfen.
Hyperintimität (»hyperintimacy«). Hierunter wer-
Einschüchterung und Belästigung (»intimidation and harassment«). Mit Hilfe dieser Taktiken soll das
den Handlungen subsumiert, mit denen der Stalker auf offensive Weise zum Ausdruck bringt, dass er eine intime oder sexuelle Beziehung herstellen möchte. Dies kann mit Hilfe verbreiteter Kommunikationsmittel wie Brief, Telefon, SMS oder E-Mail geschehen oder durch persönliches Ansprechen. Mögliche Inhalte sind etwa Schmeicheleien, die konkrete Bitte um eine Verabredung oder sexuelle Anspielungen. Auch ein eher indirekter Ausdruck des Wunsches nach einer Beziehung gehört in die Kategorie der Hyperintimität, wie beispielsweise das Verschicken von Blumen oder das Hinterlassen von Nachrichten am Auto des Opfers. Verfolgung, Annäherung und Überwachung (»pursuit, proximit, and surveillance«). Mit dieser
Taktik versucht der Stalker, physische Nähe zum Opfer herzustellen. In leichter Form kann dies durch das Verwickeln in Gespräche geschehen, aber auch durch direktes Verfolgen, zu Fuß oder im Auto. Weitere Formen sind das Auflauern an der Wohnung oder am Arbeitsplatz und in einer extremeren Variante die Verlegung des Wohnsitzes nahe zum Haus des Opfers. Eindringen in den Privatraum (»invasion«). Diese
Kategorie umfasst Verhaltensweisen, bei denen entweder die Privatsphäre oder der persönliche Lebensraum des Opfers verletzt werden. Dabei tritt eine deutliche Überschreitung von sozialen Normen oder sogar von Gesetzen auf. Einbrüche in die Wohnung, Beschädigungen oder der Diebstahl von Eigentum des Opfers zählen zu diesen Taktiken, aber auch das Entwenden von Post aus dem Briefkasten. Annäherung über Dritte (»proxy pursuit/intrusion«). Bei diesen Verhaltensmustern nutzt der Stal-
ker dritte Personen für seine Ziele. Beispielsweise versucht er, Informationen zu gewinnen, indem er Kollegen, Freunde oder Bekannte des Opfers befragt. Nicht zuletzt können Dritte direkt für das Stalkingverhalten eingesetzt werden, wie etwa ein Bekannter des Stalkers, der sich auf dessen Drängen hin wieder-
Opfer gezielt unter Druck gesetzt werden. Dabei können direkte Drohungen ausgesprochen werden, etwa indem von dem Stalker eine Gewalttat oder aber auch ein Suizid angekündigt werden. Weitere Handlungen, die der Kategorie zugerechnet werden, sind nonverbale Einschüchterungsversuche, Rufschädigungen oder das Belästigen von Personen, die dem Opfer nahe stehen, um auf indirekte Weise Psychoterror auszuüben. Zwang und Nötigung (»coercion and constraint«).
Zu dieser Gruppe zählen einmal Handlungen, die die Bewegungsfreiheit des Opfers unmittelbar beschneiden. Beispiele hierfür stellen Fälle dar, in denen das Opfer in einen Raum eingesperrt wird oder in denen sogar eine Entführung stattfindet. Aber auch nichtkörperliche Nötigungshandlungen fallen hierunter, etwa indem das Opfer direkt erpresst wird oder der Stalker es auf andere Weise etwa zu einem Gespräch zwingt. Aggression (»aggression«). Die hier angesiedelten Taktiken beinhalten zum einen körperliche Angriffe. Dabei kann natürlich das Opfer selbst zum Ziel von Gewalt werden, aber ebenso andere Personen, die schützend eingreifen möchten oder die die Eifersucht des Stalkers auf sich ziehen. Auch über Angriffe auf Haustiere wird gelegentlich berichtet. Des Weiteren fällt sexuelle Gewalt in diese Kategorie, wie Übergriffe oder Vergewaltigungen.
Auftretenshäufigkeit unterschiedlicher Stalkinghandlungen Wie bereits erwähnt, ist bei Stalking so gut wie nie nur ein einziges Verhalten isoliert präsent, zumeist treten Muster auf. Eine Befragung von 551 deutschsprachigen Stalkingopfern erbrachte hierzu konkrete Zahlen (Meinhardt u. Wondrak 2004; Voß et al. 2005). Demnach waren lediglich 3% der Betroffenen mit nur einer einzigen Form von Stalkinghandlungen konfrontiert gewesen. Insgesamt erlebten die
6
1
Kapitel 1 · Formen, Auftreten, Verbreitung
Opfer im Durchschnitt 7,5 unterschiedliche Verhaltensweisen. Es zeigte sich zudem, dass die Auftretenshäufigkeit der einzelnen belästigenden Aktivitäten eine große Spannbreite aufwies. Das mit Abstand am häufigsten gezeigte Verhalten waren Telefonanrufe (mehr als 4 von 5 Fällen). Andere Kommunikationsversuche, wie das Schreiben von Briefen, SMS oder E-Mails traten zwar immer noch regelmäßig, aber deutlich seltener auf (. Tab. 1.1). Eine direkte physische Annäherung in Form von Herumtreiben erfolgte in 2 Dritteln der Fälle. Direktes Verfolgen oder Nachlaufen – die Handlung, die
. Tabelle 1.1. Arten der Kontaktaufnahmen bei Stalking (n=551); Mehrfachnennungen waren möglich. (Nach Meinhardt u. Wondrak 2004) Vorgegebene Antwortmöglichkeiten
n
[%]
Telefonanrufe
462
83,8
Herumtreiben in der Nähe
364
66,1
Kontaktaufnahme über Dritte
339
61,5
Im Umfeld nachfragen
292
53,0
Vor der Haustüre stehen
287
52,1
SMS
271
49,2
Briefe
268
48,6
Nachlaufen
233
42,3
Körperliche Angriffe
214
38,9
E-Mails
206
37,4
Wortloses Dastehen oder Dasitzen
200
36,3
Verfolgen mit dem Auto
195
35,4
Nachrichten am Auto, an der Haustür o. Ä.
179
32,5
Beschädigung von Eigentum
133
24,1
Eindringen in die Wohnung
94
17,1
Zusenden von schockierenden/ obszönen Gegenständen
70
12,7
Bestellungen bzw. Abbestellungen von Waren/Dienstleistungen im Namen der Betroffenen
60
10,9
Stalking ja ursprünglich die Namen gab – war in gut 40% der Fälle zu verzeichnen. Im oberen Häufigkeitsbereich, und zwar über der 60%-Marke, befanden sich auch indirekte Stalkingtaktiken, wie die Kontaktaufnahme über Dritte oder die Informationsrecherche im Umfeld des Opfers. Die Betroffenen berichteten zudem erschreckend häufig über aggressive Handlungen; 38,9% gaben an, dass es körperliche Angriffe gegeben hatte, die in ihrer Intensität von leichteren Formen, wie Festhalten und Stoßen, bis hin zu Schlägen mit der Faust, Würgen, dem Einsatz von Waffen, Folter und Mordversuchen reichten. Aufgrund der Stichprobenzusammensetzung muss allerdings davon ausgegangen werden, dass vor allem massivere Fälle in die Auswertung eingeflossen waren. Denn die Opfer hatten sich nach Aufrufen in den Medien aktiv zumeist über das Internet an die Forschungsgruppe gewandt, ein Hinweis auf das Ausmaß ihrer Betroffenheit und ihres Leidensdrucks. Die Opfer wurden außerdem gefragt, wie lange das Stalking anhielt. Nur unter der Berücksichtigung der bereits abgeschlossenen Fälle, die ja eine zuverlässige Einschätzung der Dauer erlauben, ergab sich ein durchschnittlicher Wert von 28 Monaten. Die Zeitspanne variierte dabei zwischen einem Monat und über 20 Jahren.
1.4
Motive
In der Kriminologie und auch in der forensischen Psychologie und Psychiatrie gilt die Frage nach dem Motiv bei delinquentem Verhalten oftmals als problematisch. Welche Informationsquelle zieht man heran? Glaubt man dem Täter, der vielleicht sein Verhalten beschönigt oder dem seine eigenen Motive vielleicht selbst nicht zugänglich sind? Ordnet man auf der anderen Seite aufgrund einer äußeren Beschreibung, sofern diese überhaupt vorhanden ist, dem Geschehen ein Motiv zu, so bewegt man sich zwangsläufig im Hypothetischen. Auch scheint es unterschiedliche Ebenen der Ursachensuche zu geben. So könnten beispielsweise einmal eher vordergründige, situativ ausgerichtete Motive zum Gegenstand der Betrachtung werden oder ein anderes Mal Konflikte, die in der Persönlichkeit des delinquenten Akteurs liegen und sozu-
7 1.5 · Stalking und psychische Krankheit
sagen in der Tat einen aktuellen Ausdruck finden. Nichtsdestotrotz soll nun kurz auf einige der Motive, die im Zusammenhang mit Stalking eine Rolle spielen, eingegangen werden. Auf häufigsten tritt der Wunsch auf, eine Beziehung mit einer anderen Person einzugehen oder eine auseinander gebrochene Partnerschaft wieder zu kitten und neu zu beginnen. Gerade hier wird deutlich, dass bei Stalkingfällen nicht nur ein einziger Beweggrund vorhanden sein muss bzw. sich das Motiv über die Zeit hinweg zu wandeln vermag. Wird das Begehren des Stalkers zurückgewiesen, wandelt sich seine Zuneigung nicht selten in Wut. Ein Rachemotiv kann dann hervortreten und zu einer aggressiveren Form der Belästigung führen. Bei der großen Gruppe von Stalkern, die einen Expartner belästigen, steht vielleicht auf einer abstrakteren Ebene das tiefe Bedürfnis dahinter, »das Unkontrollierbare zu kontrollieren«, da sie vermutlich aufgrund biografisch früher Erlebnisse die Trennung von einem nahestehenden Menschen nicht adäquat verarbeiten. Es gibt auch Stalker, bei denen die Ausübung von Psychoterror von Anfang an im Mittelpunkt steht. Es geht ihnen gezielt darum, einen anderen in Angst und Schrecken zu versetzen, um bei ihm psychisches Leid hervorzurufen. Dahinter steht möglicherweise ein Groll, der sich aus einer persönlichen Auseinandersetzung heraus entwickelt hat. Das Opfer kann aber auch symbolische Funktion besitzen und entweder als Projektionsfläche eines Konflikts aus der Vergangenheit dienen oder als Stellvertreter für eine Gruppe oder Organisation, gegen die der Stalker tiefe Ressentiments hegt. Stalking kann auch als Ablenkung fungieren. Gerade Stalker, die sich in einer fortwährenden Lebenskrise befinden und etwa von Trennung oder Arbeitslosigkeit betroffen sind, können in einer Fixierung auf einen anderen Menschen einen neuen Lebenssinn finden, an dem sie sich festhalten. Die obsessive Beschäftigung mit einer anderen Person hilft, die Auseinandersetzung mit der eigenen unbefriedigenden Lebenssituation zu vermeiden und kann so zunehmend zum Mittelpunkt des Denkens und Fühlens werden.
1.5
1
Stalking und psychische Krankheit
Es greift ohne Zweifel zu kurz, Stalking als einen Ausdruck psychischer Krankheit zu begreifen, auch wenn ein solches Verhalten mit Psychopathologien einhergehen kann. Zu der genauen Auftretenshäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Stalkern liegen bislang wenige Zahlen vor. Problematisch ist dabei zudem, dass diese Erkenntnisse nahezu ausschließlich aus Untersuchungen von Extremgruppen stammen und im Rahmen von forensischen Begutachtungen oder in Psychiatrien gewonnen wurden. In einer Zusammenschau dreier Studien aus den USA, bei denen insgesamt 414 Stalker psychiatrisch evaluiert wurden (Mullen et al. 1999; Meloy et al. 2000; Rosenfeld u. Harmon 2002), fanden sich folgende Ergebnisse: In etwa der Hälfte der Fälle wiesen die obsessiven Verfolger Persönlichkeitsstörungen auf, in 6–30% Wahnstörungen, in 25–50% Alkoholund Substanzabhängigkeiten und in 10–17% der Fälle Schizophrenien. Allerdings ist hier von einer markanten Überschätzung psychopathologischer Auffälligkeiten bezogen auf die Gesamtheit aller Stalker auszugehen. Beispielsweise versuchten Kamphuis et al. (2004) auf indirekte Art – über den Weg einer Opferbefragung – den Anteil psychischer Störungen bei Stalkern zu erfassen. Sie gaben hierfür 112 Betroffenen von Expartnerstalking prototypische Beschreibungen psychotischer und antisozialer Störungsbilder vor. In 10% der Fälle wurde eine antisoziale Persönlichkeitsstruktur erkannt und in nur 3% psychotische Symptome. Die absolute Mehrheit der Expartnerstalker zeigte demnach aus der (Laien-) Sicht der Betroffenen keine signifikanten psychischen Auffälligkeiten. Es gibt jedoch eine spezielle Gruppe obsessiver Verfolger und Belästiger, bei denen offenbar ein sehr hoher Prozentsatz von Psychopathologien auftritt: Prominentenstalker haben alleine in ihrer Fantasie eine Beziehung zu der von ihnen verehrten Persönlichkeit; dieser Mangel an Realitätsbezug drückt sich nicht selten in unterschiedlichsten Störungsbildern aus. So diagnostizierten Dietz und Martell (1995) in einer Auswertung ungewöhnlicher Zuschriften an Hollywood-Stars und an Politiker bei den Schreibern in 95% der Fälle eine psychische Störung.
8
1
Kapitel 1 · Formen, Auftreten, Verbreitung
Insgesamt muss jedoch zumeist davor gewarnt werden, Stalking in der therapeutischen oder gutachterlichen Praxis auf ein Symptom einer psychischen Krankheit zu reduzieren. Zwar können, beispielsweise beim Liebeswahn, wiederholte Kontaktund Annährungsversuche auf der Verhaltensebene eine seelische Störung widerspiegeln. Dennoch sollte immer auch geklärt werden, auf welche frühen biographischen Erfahrungen das Stalkingverhalten zurückzuführen ist und wie die Bezüge zu einer eventuell ebenfalls vorhandenen psychischen Störung konkret gestaltet sind (Tschan u. Hoffmann 2005). In den meisten Fällen von »normalem« Stalking ist, wie bereits dargestellt, nicht von einer Psychopathologie mit Krankheitswert auszugehen. Dieser Aspekt ist nicht zuletzt für die juristische Fragestellung der Schuldfähigkeit von Bedeutung, kann hier die falsche Annahme einer schweren seelischen Störung oder Abartigkeit doch zu einer ungerechtfertigten Strafminderung führen (Habermeyer 2005).
1.6
Verhältnis zwischen Stalkern und Opfern
Internationale Opferbefragungen und Untersuchungen von Stalkern in einem forensischen Umfeld zeigen in der Genderfrage ein ziemlich stabiles Ergebnis. Auf Seiten der Opfer stehen etwa viermal so häufig Frauen wie Männer. Analog hierzu sind etwa 80% der Stalker männlichen Geschlechts. Diese Verteilung ist jedoch nur charakteristisch für Stalkingfälle mit einer eher schweren Ausprägung. Denn je weniger aggressiv und grenzverletzend das Stalking ist, desto öfter sind auch Frauen unter den Stalkern zu beobachten, wobei manchmal sogar fast ein Gleichgewicht der Geschlechter erreicht wird (Hoffmann et al. 2005). Ein weiterer zentraler Aspekt betrifft die Vorbeziehung zwischen Stalker und Opfer (. Tab. 1.2). Auch hier zeigt sich in Untersuchungen immer wieder, dass die obsessiven Verfolger vor allem Expartner sind. Voß et al. (2005) fanden bei ihrer Opferbefragung im deutschsprachigen Raum, dass die Betroffenen in nahezu 50% der Fälle von einem früheren Lebensgefährten oder Freund belästigt oder bedrängt wurden. Diese Konstellation gilt üb-
. Tabelle 1.2. Beziehungskonstellationen zwischen Stalkern und Betroffenen (n=551; geordnet nach Häufigkeit). Mehrfachnennungen waren möglich. (Nach Meinhardt u. Wondrak 2004) n
[%]
Expartner
267
48,5
Bekannter
68
12,3
Fremder
51
9,3
Sonstige Personen (z. B. ein Nachbar)
49
8,9
Arbeitskollege
35
6,4
Freund
28
5,1
Professionelle Beziehung (z. B. Klient, Kunde, Patient, Schüler)
25
4,5
Expartner vom Partner
19
3,4
9
1,6
Familienmitglied
rigens als am problematischsten und besitzt das höchste Eskalationspotenzial. In der Häufigkeit folgten Fälle, in denen eine Art von Vorbeziehung vorhanden war. Diese konnte eher privater Natur gewesen sein, etwa bei Freundschaften, Bekanntschaften und Familienbeziehungen, oder einem beruflichen Umfeld entstammen, beispielsweise wenn der Stalker sich aus dem Kreis von Arbeitskollegen, Patienten oder Schülern rekrutierte. Die Gruppe fremder Stalker bildete die Minderheit und lag unter 10%. In diese Beziehungskonstellation ist auch das Stalking von Prominenten einzuordnen.
1.7
Wissenschaftliche Erforschung
Als erste wissenschaftliche Arbeit, die sich mit Stalking in einem privaten Umfeld beschäftigt, gilt eine von Psychologen Mitte der 80er-Jahre an der Universität von Chicago durchgeführte Studie (Jason et al. 1984). Dabei wurden u. a. 50 Frauen interviewt, die nach der Trennung von ihrem Partner auf unterschiedlichste Weise belästigt wurden. Der Ausdruck Stalking war zu dieser Zeit noch nicht präsent, die Autoren benutzten stattdessen den Begriff »Belästi-
9 1.7 · Wissenschaftliche Erforschung
gung von Frauen« (»female harrassment«). Die Ergebnisse sind dennoch aktuell und könnten ebenso gut wortwörtlich einer aktuellen Untersuchung zu Stalking entstammen. Im Allgemeinen dauerte die Belästigung etwa ein Jahr an, und diejenigen Vorfälle, die täglich auftraten, setzten sich zusammen aus Anrufen, Briefen, Besuchen zu Hause oder auf der Arbeit, Verfolgungen, verbale Drohungen und physische Aggression. Die meisten Betroffenen nahmen diese aggressiven Handlungen als bedrohlich und verstörend wahr. (Jason et al. 1984, S. 259)
Warum war es gerade dieser Zeitpunkt, zu dem Stalking erstmals wissenschaftlich untersucht wurde? Zum Teil ist dies vermutlich schlichtweg ein Zufall. Allerdings gab es auch ein aktuelles Ereignis, das die Autoren dazu veranlasste, sich gerade jetzt dem Thema zu widmen. Es war der beinahe tödliche Anschlag auf den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan durch den Attentäter John Hinckley, der zuvor die junge Schauspielerin Jodie Foster verfolgte und belagerte, in die er sich verliebt hatte. Letzteres führte dazu, dass das Thema Belästigung von Frauen zeitweise breiten Raum in den amerikanischen Medien einnahm. Die Schüsse auf Reagan aus der Pistole eines Stalkers setzten jedoch noch ein weiteres, ungleich größeres Forschungsprojekt in Gang. Die US-Regierung beauftragte ein Forscherteam um den forensischen Psychiater Park Dietz damit, zu untersuchen, ob sich in ungewöhnlichen Zuschriften an Personen des öffentlichen Lebens Warnsignale identifizieren lassen, die auf eine mögliche spätere Eskalation hinweisen (Dietz et al. 1991a, b). Dass der noch vergleichsweise junge Dietz mit der Aufgabe betraut wurde, war kein reiner Zufall, schließlich war er als einer der Gutachter der Anklage im Prozess gegen den Reagan-Attentäter Hinckley tätig gewesen. Das Fünfjahresprojekt ist vermutlich bis heute die umfangreichste Studie zum Thema Prominentenstalking, auf die Erkenntnisse aus dieser Arbeit wird später noch genauer eingegangen (7 Kap. 6.3). Im Jahr 1989 führte die Ermordung einer jungen Schauspielerin in den USA zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Umdenken im Umgang mit Stalking. Der 16-jährige Roberto Bardo schickte der
1
2 Jahre älteren Darstellerin Rebecca Schaeffer zunächst glühende Liebesbriefe. Deren Tonfall änderte sich rapide und wurde aggressiv, nachdem er die junge Frau in einem Film in einer Liebesszene gesehen hatte. Seine Verehrung wandelte sich in Wut. Er versuchte wiederholt in das Studio, in dem Schaeffer bei Dreharbeiten war, einzudringen und wurde von Sicherheitskräften davon abgehalten. Einmal hatte er sogar ein Messer bei sich. Diese Information drang jedoch nie zu Schaeffer durch. So erkannte sie Bardo auch nicht, als er an ihrer Haustür klingelte. Der inzwischen 19 Jahre alte Stalker hatte die Adresse über einen Privatdetektiv herausgefunden. Nachdem er sich zunächst als ihr größter Fan bezeichnete und wieder ging, kehrte er kurze Zeit später zurück und erschoss die Schauspielerin ohne jedwede Ansprache am Eingang ihrer Wohnung. Rebecca Schaeffers letzte Worte lauteten »Warum? Warum?« Der Tod von Schaeffer und die Fälle von vier nicht prominenten Frauen, die in Kalifornien zunächst von ihren Expartnern verfolgt und dann ermordet wurden, lösten eine öffentliche Diskussion über Stalking aus. Als ein Resultat der Debatte wurden spezielle Antistalkinggesetze eingeführt, und in der Hollywood-Metropole Los Angeles gründete sich die weltweit erste Polizeieinheit gegen Stalking, die sog. Threat Management Unit. Als Pioniere in dem Feld verfügte sie noch über keine spezifische Methodik, in einer Kooperation von Polizeibeamten, Psychiatern und Psychologen wurden jedoch rasch Fortschritte erzielt und neue Strategien entwickelt. Die Threat Management Unit veröffentlichte auch einige der ersten Forschungsarbeitungen zu Stalking (Zona et al. 1993), die auch Jahre später zumindest in den USA noch einflussreich sind. Eine breitere wissenschaftliche Beschäftigung mit obsessiver Verfolgung und Belästigung setzte jedoch erst Mitte der 90er-Jahre ein. Dabei kam es zu einem regelrechten Boom von Untersuchungen, sodass in dem vergleichsweise kurzen Zeitraum von 1995 bis 2003 deutlich mehr als 100 einschlägige Studien gezählt wurden (Cupach u. Spitzberg 2004). In Deutschland begann die Forschung leicht verzögert. Neben einer ersten juristischen Arbeit, in der deutsche, niederländische und englische Rechtsnormen zum Umgang mit Stalking miteinander verglichen wurden (von Pechstaedt 1999), begannen am Institut für Psychologie der Universität Darmstadt
10
1
Kapitel 1 · Formen, Auftreten, Verbreitung
im Jahr 1999 erste empirische Arbeiten. Dabei ging es zunächst um das Stalking von prominenten Persönlichkeiten (Hoffmann 2001), später wurden auch umfangreiche Untersuchungen zum normalen Stalking aus Opfer- und Tätersicht durchgeführt (Voß et al. 2005). Mittlerweile haben sich die Forschungsinteressen thematisch aufgefächert, wobei die Anzahl der Projekte jedoch auch in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts noch überschaubar bleibt. Beispiele für Themen, die bislang bearbeitet wurden, sind das Stalking von Ärzten, von Politikern oder die evolutionspsychologischen Hintergründe obsessiver Fixierungen auf andere Personen.
1.8
Verbreitung
Beginnt man, sich mit dem Thema Stalking intensiver zu beschäftigen, so fällt auf, dass es auch im persönlichen Umfeld immer wieder Personen gibt, die über eigene Erfahrungen berichten. Es wird schnell deutlich, dass nicht wenige Leute davon betroffen zu sein scheinen. Und auch am Anfang der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Stalking standen nicht nur medienwirksame Fälle mit prominenten Opfern, wie es oftmals in Artikeln dargestellt wird. Tatsächlich war es wohl auch ein kalifornischer Richter, der maßgeblich Einfluss nahm. Der Jurist war Ende der 80er Jahre frustriert und empört über die Ermordung von 4 Frauen durch Expartner nach einer Vorgeschichte von Stalking. Auch verhängte zivilrechtliche Schutzordnungen hatten die Opfer nicht geschützt, weshalb sich der Richter für eigene Straftatbestände stark machte (Pelikan 2004). Wie verbreitet und damit gesamtgesellschaftlich relevant das Problem von Stalking ist, wurde jedoch erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre klar. Außerhalb des Kontinents weitgehend unbeachtet blieben zunächst die Ergebnisse der weltweit ersten Prävalenzstudie zu Stalking überhaupt in Australien. Im Jahr 1996 wurden hierfür 6300 Frauen explizit gefragt, ob sie schon einmal Opfer von Stalking wurden, wobei mindestens 2 Vorfälle, bei denen die Australierinnen unerwünschten Verhaltensweisen schädigender Natur ausgesetzt waren, als Grenzwert festgelegt wurden. Dieser Definition zufolge waren 15% der Frauen schon einmal in ihrem Leben betroffen (Mullen et al. 2000). Allerdings beinhaltete
die Untersuchungen einige Einschränkungen, die ihre Repräsentativität für die generelle Auftretenshäufigkeit von Stalking problematisch erscheinen lassen. Die Operationalisierung war überinklusiv, sodass als ein fiktives Beispiel zwei voneinander unabhängige Fälle einer kurzeitigen Verfolgung eines PKW-Fahrers durch andere Verkehrsteilnehmer ausgereicht hätten, um Stalking zu konstituieren. Des Weiteren waren Männer von den Interviews ausgeschlossen und auch die psychischen Belastungen der Betroffenen und Gefühle der Beunruhigung wurden nicht erfasst. Erst eine weitere groß angelegte Studie, die im Jahr 1998 publiziert wurde, sorgte für die internationale Beachtung darüber, welch große Verbreitung Stalking besitzt. Die US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen Tjaden und Thoennes (1998a, b) hatten die Daten von 16.000 Telefoninterviews ausgewertet, die jeweils zur Hälfte mit Frauen und mit Männern geführt worden waren. Ohne den Begriff zu nennen, wurde Stalking in der Untersuchung definiert als ein »Verhaltensmuster gegenüber einer bestimmten Person, welches wiederholte visuelle und physische Nähe, nonkonsensuale Kommunikation, schriftliche oder stillschweigende Drohungen oder eine Kombination mehrerer dieser Elemente beinhaltet, die in einer vernünftigen Person Angst auslösen würden« (Tjaden u. Thoennes 1998a, S. 2). Unter der Bedingung, dass ein solches Ausmaß von Angst vorherrscht, dass das Opfer fürchtet, der Verfolger werde ihm oder ihm nahestehenden Personen ernsten Schaden zufügen, gaben 8% aller Frauen und 2% aller Männer an, bereits einmal eine Stalkingerfahrung gemacht zu haben. Wurde diese Hürde der Furcht etwas abgesenkt und war nur noch eine geringe Angst gefordert, so stieg die Zahl merklich an auf 12% der Frauen und 4% der Männer. Die erste Prävelanzstudie in Europa wurde in England und Wales durchgeführt. Budd und Mattinson (2000) nahmen eine relativ breit gefasste Beschreibung von Stalking zur Grundlage ihrer Befragung, indem sie davon sprachen, dass eine Person zum Ziel einer andauernden und unerwünschten Aufmerksamkeit werden muss. Nahezu 10.000 Briten wurden befragt und knapp 12% von ihnen führten an, bereits einmal Opfer von Stalking geworden zu sein. Auffällig ist hier, dass kein Gefühl von Furcht als notwendig zugrunde gelegt worden war. Zog
11 1.8 · Verbreitung
man noch das Kriterium der Angst vor Gewalt hinzu, sank die Quote auf etwas mehr als die Hälfte. In einer erneuten groß angelegten Bevölkerungsumfrage vom mehr als 22.000 Briten wenige Jahre später wurde sogar noch eine erhöhte Verbreitung gemessen (Walby u. Allen; 2004): Hier gaben 19% aller Frauen und mit 12% ein im Vergleich mit anderen Studien ungewöhnlich hoher Anteil von Männern an, einen Vorfall erlebt zu haben, indem sie mindestens zweimal auf eine Weise belästigt wurden, die bei ihnen Angst oder Sorge auslöste. Die Autoren erklärten den Anstieg der gemessenen Stalkingrate zum einen mit methodischen Effekten durch unterschiedliche Formulierungen der Fragen, aber auch durch eine erhöhte Sensibilisierung zum Thema Stalking in der Bevölkerung. Kritisch anzumerken ist, dass über 40% der berichteten Vorfälle weniger als ein Monat andauerten und deshalb unter einer strengeren, mehr auf den Aspekt der interpersonellen Fixierung ausgerichteten Definition wegen der kurzen Dauer nicht als Stalking bezeichnet werden würden. In Australien wurde von der Forschergruppe um Mullen schließlich eine weitere epidemiologische Untersuchung gestartet (Purcell et al. 2000, 2002). Sie selektierten über das Wählerverzeichnis eine repräsentative Stichprobe von 3700 Personen und hatten einen Rücklauf von gut 60%. Nach einer extrem niedrigschwelligen Begriffsbestimmung, die sich an den Gesetzen des Landes orientierte und lediglich zwei unerwünschte Belästigungen verlangt, die Angst auslösen, kam man auf eine Rate von gut 23%. Wurde noch eine zeitliche Dimension hinzugefügt, sank die Quote bei einer mindestens 2 Wochen andauernden Belästigung auf knapp 13%, bei einer weiteren Erhöhung auf 4 Wochen auf etwas weniger als 11%. Lässt sich in der Zusammenschau dieser vielen Zahlen aus unterschiedlichen Ländern eine Struktur erkennen oder bleibt die wahre Auftretenshäufigkeit von Stalking unscharf, wie es auf den ersten Blick vielleicht wirken mag? Tatsächlich bildet sich ein deutlicher Trend heraus, wenn man etwas Ordnung schafft und die Untersuchungsergebnisse hinsichtlich von Faktoren wie dem subjektiven Angstgefühl der Betroffenen und der Dauer der Belästigungen synchronisiert. Aus diesem Blickwinkel schließen sich auch Studien jüngeren Datums aus dem deutsch-
1
sprachigen Raum nahtlos an die international gewonnenen Erkenntnisse an. Eine Telefonumfrage bei 1000 Frauen aus Wien kam zu dem Ergebnis, dass jede Vierte der Befragten schon einmal über einen längeren Zeitraum unter unerwünschten Telefonanrufen zu leiden hatte (Frauennotruf Wien 2004). Zudem waren 7% Drohungen oder Einschüchterungen ausgesetzt gewesen oder gaben die Beschädigung von persönlichem Eigentum an. Die erste repräsentative deutsche Studie fand in Mannheim statt; die Daten basierten auf den Auskünften von knapp 700 Bürgern. Dressing et al. (2005) legten dabei mindestens zwei unerwünschte Kontaktaufnahmen mit verschiedenen Verhaltensweisen zugrunde, die mindestens 2 Wochen andauerten und Angst auslösten. Demnach waren knapp 12% schon einmal Opfer von Stalking. Allerdings erscheint die Schwelle, ab wann die Autoren von Stalking sprechen, auch hier recht niedrig angesetzt. Zwei Ereignisse der Belästigung stellen sozusagen das absolute Minimum für die Feststellung einer Wiederholung dar, die ja gerade eines der zentralen definitorischen Merkmale von Stalking ist. Und auch die Zeitdauer erscheint mit 2 Wochen knapp bemessen. Würde alleine das allgemein anerkannte zeitliche Mindestkriterium von Mullen et al. (1999) angelegt werden, das von einer Mindestdauer von 4 Wochen der bedrängenden Verhaltensweisen ausgeht, würde hier fast ein Drittel (32%) aller Fälle herausfallen. Die Zusammenfassung der Ergebnisse von verschiedenen repräsentativen Studien aus 5 westlichen Staaten lässt sich in einer Art Trichter darstellen, der mit zunehmender Schwere von Stalking immer enger wird (. Abb. 1.1). Das Erlebnis einer – wenn überhaupt – höchstens punktuell belastenden Qualität erfährt immerhin etwa jeder 4. Bürger, wobei sicherlich auch hier kritisch hinterfragt werden muss, ob es sich um genuines Stalking handelt. Jeder 8. Bürger wird einmal Opfer eines mittelschweren Falls, der von einer gewissen Dauer bzw. einem Gefühl der Furcht begleitet wird. Etwa jede 20. Person wird zu einem fortwährenden Ziel von Stalking und hat Angst um die eigene Sicherheit oder die vertrauter Menschen aus dem sozialen Nahbereich. Dabei sind die Geschlechter jedoch nicht gleich betroffen. Frauen werden im Durchschnitt etwa zwei- bis viermal häufiger Opfer von Stalking als Männer.
12
1
Kapitel 1 · Formen, Auftreten, Verbreitung
23 – 25 % Leichtes Stalking (kurze Dauer, keine oder wenig Angst)
11 – 13 % Mittleres Stalking (variable Dauer, Gefühl von Furcht)
5 – 7% Extremes Stalking (lange Dauer, Angst vor schwerer Gewalt) . Abb. 1.1. Häufigkeit verschiedener Schweregrade von Stalking
1.9
Nimmt Stalking zu?
Durch die Einführung eines neuen Begriffs im deutschen Sprachraum und durch das ebenso plötzliche wie häufige Auftauchen von Stalkingfällen in den Medien zeigten sich viele Leute irritiert. Handelt es sich bei Stalking um ein neues Phänomen oder haben wir es mit etwas zu tun, was schon lange vorhanden und einfach nur nicht im öffentlichen Bewusstsein präsent war? Tatsächlich lassen sich die Spuren obsessiver Verfolgung und Belästigung weit in die Menschheitsgeschichte zurück verfolgen, alte Mythen und Poeten aus allen Zeiten erzählen davon. Und es gibt auch frühe, sehr konkrete Beispiele, die sich aus medizinischen Fallberichten und alten Gerichtsakten herauslesen lassen.
Ein interessanter Vorfall aus dem Jahr 1704 ist aus England überliefert (Mullen at al. 2000, S. 251). Dr. Lane, ein Arzt, suchte immer den Kontakt zu Miss Dennis, einer jungen Frau aus wohlhabendem Hause. Dies geschah gegen ihren und auch gegen den Willen der Mutter, sodass der Mediziner aufgefordert wurde, sich dem Haus der Damen nicht mehr zu nähern. Dr. Lane versuchte dennoch zu seiner Angebeteten vorzudringen. Auch als Mutter und Toch6
ter eine Fahrt nach London unternahmen, folgte er den beiden. Der Doktor nahm in dem Gasthaus ein Zimmer, welches direkt neben dem ihren lag. Als Mrs. Dennis am nächsten Morgen ihre Kutsche besteigen wollte, griff Dr. Lane einen männlichen Begleiter von ihr an und kündigte an, er wolle sie jetzt mit sich nehmen. Wegen dieses Vorfalles musste sich der Mediziner einige Monate später vor Gericht verantworten, wobei er erneut gewalttätig wurde. Er war darüber erzürnt, dass ihm der Zugang zu der jungen Dame noch immer untersagt war und schlug auf ihren Anwalt mit einem Stock ein. Schließlich wurde Dr. Lane der Störung des öffentlichen Friedens schuldig gesprochen und musste die stattliche Summe von 400 Pfund als Sicherheit hinterlegen mit der Auflage, dass er ein Jahr lang nicht mehr auffällig werde.
Es ist so, wie die Sozialwissenschaftlerin Julia Bettermann treffend einen ihrer Artikel betitelte: »Stalking – ein altbekanntes Phänomen erhält einen Namen« (2002b). Und dennoch brachte erst die in den 90er Jahren einsetzende Erforschung der obsessiven Verfolgung und Belästigung die Erkenntnis, das Stalking zwar ein altes Verhalten ist, allerdings eines, das sich möglicherweise ausbreitet. Mehrere repräsentative Erhebungen (Budd u. Mattinson 2000; Purcell et al. 2002) kamen zu dem Ergebnis, dass deutlich mehr junge Menschen als alte in ihrem Leben Stalkingerfahrungen gemacht hatten, die Rate bei unter 30-Jährigen erwies dabei sich als doppelt so hoch wie bei Personen über 55 Jahren. Nun könnte man vermuten, dass Personen schwerpunktmäßig in ihren jungen Jahren dieser Form der Belästigung ausgesetzt sind, Untersuchungen von Studenten geben hierauf deutliche Hinweise (z. B. Bjerregaard 2002; Fremouw et al. 1997). Dabei wäre es jedoch möglich, dass sich Befragte in einem höheren Lebensalter nicht mehr an die in ihren Leben weit zurückliegenden Erfahrungen erinnern und dass sich die divergierende Quote zwischen Jung und Alt sozusagen aus der unterschiedlichen Frische der Erinnerung erklären lässt. Dies mag bei leichten Stalkingfällen eine Rolle spie-
13 1.9 · Nimmt Stalking zu?
1
len. Einer Bedrohung und Verfolgung, bei der man Angst um sein Leben empfindet, längere Zeit ausgesetzt zu sein, bleibt jedoch vermutlich ein Leben lang im Gedächtnis präsent und wird nicht vergessen. Eine weitere Erklärung ist, dass eher jüngere als ältere Menschen den Begriff Stalking kennen. Tatsächlich wurden in den Studien Verhaltensbeschreibungen und nicht das Wort Stalking genannt, um eine Verzerrung der Ergebnisse durch das unterschiedliche Verständnis des Ausdrucks Stalking zu vermeiden. Es sind viele Gründe für das Ansteigen von Stalking in den letzten Jahren erkennbar, insbesondere ist auf rapide technische und soziale Veränderungen in einer globalisierten Welt hinzuweisen.
Freunden verfolgt zu werden, und bemerkenswerter Weise berichten 7% der Betroffenen, dass der Stalker ihnen bis an den Urlaubsort hinterherreiste (Voß et al. 2005).
Auflösung traditioneller sozialer Strukturen. Die Erosion traditioneller sozialer Strukturen führte zu einer größeren Vereinsamung und Isolation bei vielen Menschen und damit möglicherweise vermehrt zu Versuchen, eine Beziehung auf obsessive Weise einzugehen. Die Auflösung alter Gemeinschaften hatte auch zur Folge, dass die Sozialkontrolle zunehmend wegfiel und damit auch ein Unterdrückungsmechanismus für Stalkingverhalten. Individuen in den westlichen Gesellschaften bewegen sich öfter in der Anonymität, sie können andere leichter verfolgen und belästigen, ohne die Sanktionen einer Dorfgemeinschaft oder Familie befürchten zu müssen.
Gesellschaftliche Ideologie. Eine zunehmende
Neue Kommunikations- und Fortbewegungsmöglichkeiten. In einer Befragung von Stalkingop-
fern aus dem deutschsprachigen Raum erklärte nahezu die Hälfte der Betroffenen, über ihr Mobiltelefon mit schriftlichen Kurznachrichten (SMS) belästigt worden zu sein, 37% gaben an, dass der Stalker ihnen E-Mails zugesendet hatte (Voß et al. 2005). Noch ein Jahrzehnt zuvor wären solche Zahlen undenkbar gewesen, da weder Verfolger noch Verfolgte in ausreichender Zahl über die technischen Möglichkeiten verfügt hatten bzw. diese noch gar nicht existierten. Inzwischen ist es möglich, dass ein Stalker von nahezu allen Winkeln der Welt zu jeder Zeit Nachrichten an das Opfer absetzen kann. Aber auch die Mobilität hat sich in einem ungeheuren Ausmaß erhöht. Das spiegelt sich auch im räumlichen Verhalten der Stalker wieder, gab doch jedes vierte Opfer an, bei Besuchen bei Verwandten oder
Häufigere Trennungen. Es gehen viel mehr Beziehungen auseinander, als das früher geschah, auch infolge einer größeren Selbstbestimmtheit und ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen. Bedenkt man, dass die meisten Stalker Männer sind und bei nicht wenigen von ihnen eine Trennungssituation den Auslöser für ihre wiederholten Grenzverletzungen darstellt, erscheint dies als ein nicht unbeträchtlicher Wirkfaktor für den Anstieg der Stalkingzahlen.
Idealisierung des Materialismus suggeriert uns, dass Bedürfnisbefriedigung immer schneller und immer umfassender zu geschehen hat. Eine Beziehung, die man wünscht, muss rasch entstehen und das eigene Wohlbefinden steigern. So antworteten bei einer Fragebogenstudie mehr als ein Drittel aller Stalker auf die Frage, weshalb sie trotz Widerstand des Opfers ihre Aktivitäten fortgesetzt hatten, sie müssten an ihr eigenes Glück und an ihre Bedürfnisse denken (Voß et al. 2005). Zudem leben wir gewissermaßen in einem »Zeitalter des Narzissmus« (Voß, persönliche Mitteilung 2002). Als allgemeiner Trend wird der Mittelpunkt der Welt immer freizügiger im Ich und Jetzt verortet, die Interessen der Mitmenschen verlieren an Relevanz, sie dienen primär der Spiegelung und der Zufuhr von gutem Gefühl. Die Überzeugung, ein Recht darauf zu haben, dass der andere mit einem in Kontakt tritt und eine übersteigerte Selbsteinschätzung, die davon ausgeht, dass man ungeheuer interessant und attraktiv ist, bilden hier den Nährboden für Stalking. Medienkultur und Starkult. Es gibt zudem Hinwei-
se, dass das Stalking von Personen des öffentlichen Lebens zugenommen hat. Dietz und Martell (1989) fanden bereits in den späten 80er Jahren deutlich ansteigende Fallzahlen in den Akten der »Capitol Police Intelligence Division« die für den Schutz von Senatoren verantwortlich ist, und der Firma von Gavin de Becker, einem Experten, der die Sicherheit für zahlreiche Hollywood-Stars organisiert. Zum einen
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1
Kapitel 1 · Formen, Auftreten, Verbreitung
wurde dieser statistische Anstieg auf eine höhere psychologische Sensibilisierung der Sicherheitsmitarbeiter zurückgeführt, sodass mehr Vorfälle von Stalking auch als solche erkannt wurden. Zugleich gibt es aber möglicherweise auch ein reales Wachstum von Prominentenstalking, das auf die sich historisch dramatisch wandelnde Medienkultur und einen neuen Starkult zurückzuführen ist. Als die Bibel das vorherrschende Medium für eine Verbindung mit etwas Großem war und zumeist das einzige Medium überhaupt in den Wohnstätten, hatten psychisch Kranke in der Regel religiöse Wahnvorstellungen. In einem säkularen Zeitalter, in dem in den meisten Fällen Fernsehen, Radio und Filme die Rolle der Bibel ersetzt haben, sollte es uns nicht überraschen, dass geistig Kranke Wahnideen entwickeln über die neuen säkularen »Götter«, insbesondere über solche der Liebe und Macht. (Dietz u. Martell 1989)
2 Soziale Konstruktion
2.1
Stalking als kulturelle Erzählung – 15
2.2
Konstruktionen der Begrifflichkeit von Stalking – 16
2.3
Genderaspekt – 18
2.4
Mythen des Stalkings und ihre Auswirkungen – 19
2.5
Künstler als Stalker – 20
2.6
Stalking als Sujet von Film und Literatur – 22
2.7
Medienberichte und Nachahmungstaten – 23
»Stalking, ein altes Verhalten, ein neues Verbrechen«, so betitelte J.R. Meloy, einer der führenden internationalen Stalkingforscher, im Jahr 1999 einen Übersichtsartikel über das Phänomen. In dieser Zeile wird deutlich, dass das Verhaltensmuster wiederholter Kontaktaufnahme und Annäherung im Laufe der Zeit sehr unterschiedlichen Deutungen unterlag, wobei sich in den letzten Jahren ein geradezu rasanter Wechsel sozialer Lesarten beobachten lässt. Stalkinghandlungen an sich sind offenbar so alt wie die Geschichte menschlichen Zusammenlebens.
2.1
Stalking als kulturelle Erzählung
Dan und Kornreich (2000) spürten Stalkingverhalten in alten religiösen Texten nach. Sie stießen auf den hebräischen Mythos von Joseph und Zuleika, über den auch im Buch Mose berichtet wird. Joseph wurde als Sklave in Ägypten an einen Kämmerer des
Pharaos verkauft. Dessen Frau verliebte sich in ihn und begann, Joseph unentwegt zu traktieren. Und es begab sich, dass seines Herrn Frau ihre Augen auf Joseph warf und sprach: Lege dich zu mir! Er weigerte sich aber. […] Und sie bedrängte Joseph mit solchen Worten täglich. Aber er gehorchte ihr nicht, dass er sich zu ihr legte und bei ihr wäre. (1. Mose 39)
Erzürnt über die fortwährende Abweisung beschuldigte schließlich die Frau Joseph, dass er sie sexuell belästigt hätte, worauf er ins Gefängnis geworfen wurde. Hier findet sich das typische Stalkingmuster, dass Verehrung und Verfolgung rapide in Wut umschlagen können, wenn sich das Opfer dem Wunsch nach Nähe widersetzt. Und auch das perfide Manöver, dass Stalker den Spieß umdrehen, indem sie das Opfer zum Täter machen und sich selbst als Verfolgte inszenieren, erleiden noch heute so manche Be-
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2
Kapitel 2 · Soziale Konstruktion
troffene, die sich plötzlich vor den Behörden als Belästiger ihres Stalkers verteidigen müssen. Eine leichte Abwandlung der Erzählung findet sich in moslemischen Schriften. Yusuf, der arabische Name für Joseph, verliebt sich dort ebenfalls in die Frau seines Herrn. Als er aus dem Gefängnis zurückkommt, heiratet er jedoch seine frühere Stalkerin, die inzwischen verwitwet ist. – Das Motiv dieses Mythos wird über die Jahrhunderte immer wieder aufgenommen, etwa in Passionsspielen aus dem 14. Jahrhundert, in jiddischen Dramen 2 Jahrhunderte später und in variierter Form auch von Goethe und in einer Broadwayshow. Zudem schätzt eine in den westlichen Kulturen sehr weit zurückreichende poetische Tradition einige Handlungsmuster des Stalkings als zutiefst romantisch ein. Erinnert sei hier etwa an das Bild des mittelalterlichen Minnesängers, der in nicht zu beirrender Ausdauer die Zuneigung der Angebeteten stimmlich zu erringen sucht. Der in grenzenloser Liebe entflammte Mann, den nichts und niemand davon abhalten kann, seine Angebetete zu erobern, bildet auch noch in der Gegenwart die Blaupause für zahlreiche kulturelle Erzählungen (Hoffmann 2002a). Erinnert sei beispielsweise an einen der klassischen Liebesfilme aus Hollywood schlechthin: »Die Reifeprüfung«. Gavin de Becker, einer der Pioniere im Krisenmanagement von Stalkingfällen bei Prominenten, merkte zu dem Werk an: »Meine Generation sah in der Reifeprüfung, dass es eine Liebesstrategie gibt, die besser als alle anderen ist: Beharrlichkeit. Und dieselbe Strategie bildet den Kern jedes Stalkings. Dass Männer unwahrscheinliche oder unpassende Beziehungen zu Frauen anbahnen und damit Erfolg haben, ist ein häufig angepriesenes Thema unserer Kultur« (de Becker 1999, S. 266). Fast schon ein wenig polemisch fasst de Becker den Inhalt des Films als die Geschichte eines jungen Mannes zusammen, gespielt von Dustin Hoffman, der die Ablehnung einer Frau, ihn zu heiraten, schlichtweg ignoriert. Der Verliebte wartet vor ihren Klassenräumen und wiederholt unbeirrt seine Offerte. Mit betrügerischen Mitteln findet er schließlich heraus, an welchem Ort und zu welcher Zeit sie einen anderen Mann zu heiraten beabsichtigt. Bei der Trauung schließlich »schlägt er den Brautvater zusammen, prügelt auf ein paar andere Leute ein und wehrt sich mit einem riesigen Holzkreuz gegen
die Hochzeitsgäste, die der Familie helfen wollen« (ebd.). So beschreibt de Becker süffisant den kulturellen Subtext des Films. Und tatsächlich stellt sich der von Simon and Garfunkel besungene Klang der Stille unerfüllter Sehnsucht für eine verfolgte Frau vielleicht nicht ganz so romantisch dar wie für ihren hartnäckigen Verehrer. Sie hat vielmehr oft die Befürchtung, dass der »Sound of Silence« in einen »Sound of Violence« umschlägt (eine solche Entwicklung zur Gewalttätigkeit bildet zwar eher die Ausnahme denn die Regel, ist aber alles andere als selten). Denn der Stalker hat bereits mehrere ihrer Grenzen überschritten, und dies zudem mit gutem Gewissen. Flüstert ihm doch der Mythos unseres Kulturkreises ein, dass eine Frau, die »Nein« sagt, genauso gut »Vielleicht« oder »Ja« meinen kann. Daneben kann der Verfolger seine Obsession als Heroismus veredeln, gilt es doch wie bereits erwähnt kulturellen Erzählungen zufolge geradezu als Qualitätsmerkmal tiefer romantischer Liebe, sich nicht abschütteln zu lassen, sondern auf der wahren Bestimmung künftiger Zweisamkeit zu bestehen. Den tiefen Fall von Stalkinghandlungen im sozialen Prestige fasste Skoler (1998) pointiert zusammen: »Eine westliche Kultur, die einst das Verfolgen einer unerwiderten Liebe idealisierte, romantisierte und erotisierte, kriminalisiert diese nun« (Skoler 1998, S. 110). In anderen Worten: Mit dem modernen Leitbild selbstbestimmter Beziehungen und individueller Autonomie lässt sich Stalking durchaus als das dunkle Herz romantischer Zuneigung begreifen, das gesellschaftlich im Zaum gehalten werden muss.
2.2
Konstruktionen der Begrifflichkeit von Stalking
Hinsichtlich der Begriffsbildung und des Bedeutungsfeldes von Stalking lassen sich zumindest 3 Diskursebenen unterscheiden, die sich parallel zueinander entwickeln, sich aber auch wechselseitig beeinflussen: die rechtlichen, die wissenschaftlichen und die in den Massenmedien transportierten Definitionen bzw. Interpretationen des Handlungsmusters wiederholter Verfolgungs- und Belästigung.
17 2.2 · Konstruktionen der Begrifflichkeit von Stalking
Mediale Ebene Der Begriff des Stalkings als wiederholtes Verfolgen und Belästigen eines anderen Menschen wurde vermutlich in den USA geprägt. In Zeitschriften und in der Klatschpresse begann man in den 80er-Jahren damit, »verrückte« Fans als Stalker zu bezeichnen (Hoffmann 2002a), ein als eher harmlose Spinnerei wahrgenommenes Verhalten, mit dem sich die Schönen und Reichen zum Amüsement der Massen herumzuplagen hatten. Auch in Großbritannien war man dieser Auffassung. So beschrieb einer der frühesten Tageszeitungsartikel zu dem Thema ironisch Stalker als »deviante Wesen, Einzelgänger, Verlierer, die ihre eigene Unfähigkeit kompensieren, indem sie endlose Briefe an Shakin’ Stevens schreiben« (zit. nach Finch 2001, S. 109). Im Jahr 1989 änderte sich zunächst in den USA und später auch weltweit die Einschätzung von Harmlosigkeit dramatisch. Mit der Ermordung der jungen Schauspielerin Rebecca Schaeffer war Stalking auf einmal nicht mehr mit Glamour, sondern mit Gefahr und Gewalt verknüpft. Heute sind die internationalen Prominenten voller Angst vor obsessiven Fans, sie fürchten, dass die Verehrung unerwartet in Wut oder Hass umschlägt und sie körperlich angegriffen werden. Dass ein weltweit verehrter Popstar wie Paul McCartney in den späten 60er-Jahren einen weiblichen Fan, der 3 Jahre vor seiner Haustür »herumhing«, den Hund ausführen und das Sicherheitstor des eigenen Anwesens öffnen ließ, erscheint aus heutiger Sicht fast unvorstellbar. Doch nicht nur Prominente, auch immer mehr Normalbürger gelten als das Ziel von Stalkinggewalt. In der ersten Hälfte der 90er-Jahre erschienen in den Medien zunehmend Berichte, die über Attacken bis hin zur Ermordung durch fremde Stalker und frühere Liebespartner erzählten. Die Furcht vor obsessiven Verfolgern erreichte damit auch die Massen. Eine zu dieser Zeit erschienene Beschreibung von Stalking in einem Fachartikel erlaubt Rückschlüsse auf die damals vorherrschende Stimmung: »Das Verb »stalking« ist definiert als: (1) sich bedrohlich bewegen; (2) verfolgen und aufspüren und (3) ein Tier anschleichen mit dem Ziel, es zu töten oder zu fangen. Diese Definitionen sagen viel über das Verbrechen von Stalking aus und machen deutlich, dass der Stalker ein gefährlicher Jäger ist, den es, wenn
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möglich, zu vermeiden gilt« (Perez 1993, S. 265). Selbstredend entspricht diese Beschreibung des eiskalten Killers mitnichten der Realität von Stalking, und doch prägt sie bis heute ungetrübt den sozialen Mythos. In diesem Zusammenhang wirken die Medien als wahrnehmungsprägende Instanz für die Öffentlichkeit. Der Devise »Bad News Are Good News« unterworfen, erfüllt nur ein kleiner Teil aller Stalkingfälle die nötigen dramaturgischen Anforderungen, um dem Publikum als Story zugeführt zu werden. Dauerhafte Telefonanrufe und depressive Expartner alleine reichen da oftmals nicht aus. Vielmehr sind Gewalt, psychische Ausnahmezustände und hilflose Opfer die Ingredienzien, die diese Form des Stalkingdiskurses kennzeichnen und durch die vor allem Ereignisse vom äußersten Ende des Aggressivitätsspektrums als der Regelfall dargestellt werden. In Deutschland erhielt der Begriff des Stalkings nach einigen versprengten Einzelberichten in verschiedenen Tageszeitungen erst im Jahr 2000 eine echte mediale Präsenz. Ein Sachbuch einer Journalistin über Stalking kam auf den Markt, in vielgelesenen Zeitschriften wie Stern, Spiegel oder Brigitte erschienen Artikel über Stalking, die davon berichteten, wie Frauen von ihren früheren Männern und Fremden bis an den Rand des psychischen Zusammenbruchs terrorisiert wurden. Immer wieder wurde auch über Fälle berichtet, in denen Stalking mit der Ermordung des Opfers endete. Interessanterweise nahm der Aspekt des Prominentenstalkings in der deutschen Berichterstattung vergleichsweise wenig Raum ein, da zu Beginn fast jeden Beitrags der Autor politisch korrekt und gründlich darüber aufklärte, dass nicht nur Stars, sondern vor allem Normalbürger von Stalking betroffen seien.
Juristische Ebene Ein weiterer Bereich der sozialen Konstruktion bezieht sich auf die juristische Festschreibung von Stalking. Der rechtliche Diskurs in dieser Frage ist bis heute stark von der Schwierigkeit geprägt, dass es eigentlich keine für Stalking exklusiven Verhaltensweisen gibt, die als klare juristische Kriterien für unrechtmäßiges Verhalten herangezogen werden könnten. Handlungen wie Telefonieren, Briefe schreiben,
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2
Kapitel 2 · Soziale Konstruktion
sich jemandem physisch annähern geschehen in der normalen sozialen Interaktion unentwegt, sodass sich die gesetzliche Festschreibung, an welchem Punkt die Grenze hin zu Stalking überschritten ist, als Problem erweist. Zur gesetzlichen Konstitution eines Tatbestandes wird deshalb oftmals auf die subjektiven Einschätzungen der Beteiligten zurückgegriffen. Dies ist ein Aspekt, der juristischen Konstruktionen, die gewissermaßen unparteiische Objektivierbarkeit als Ideal anstreben, entgegenläuft. Die Problematik lässt sich an konkreten Gesetzgebungen verdeutlichen: In den USA trat in Kalifornien 1991 das weltweit erste Antistalkinggesetz in Kraft. Hierbei war zum einen konstituierend, dass eine Person eine andere willentlich und fortgesetzt verfolgt und belästigt. Zum anderen musste die Zielperson Angst um ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit haben, ein Passus, der interessanterweise die emotionale Wahrnehmung des Opfers als entscheidend dafür ansieht, ob ein Tatbestand vorliegt oder nicht. Dieser subjektive Aspekt ist noch immer Gegenstand kontroverser Diskussionen. In Großbritannien ist es dem »Protection from Harassment Act« aus dem Jahr 1997 nach notwendig, dass die Handlungen des vermeintlichen Stalkers allgemein von einer »vernünftigen« Person als Belästigung eingestuft werden würden. Es wird also versucht, das allgemeine soziale Empfinden als Maßstab für die Konstruktion eines rechtlich relevanten Fehlverhaltens heranzuziehen. Obwohl auch neben anderen Formen der Belästigung maßgeblich für Stalkingfälle ins Leben gerufen, scheint diese Form der rechtlichen Fixierung alles andere als treffgenau zu wirken. Tatsächlich wird dieses Gesetz nur bei einem vergleichsweise geringen Anteil von Stalkingfällen, mehrheitlich dagegen bei Nachbarschaftsstreitereien und beim juristischen Vorgehen gegen Vermieter und Arbeitgeber angewendet (Infield u. Platford 2002).
Wissenschaftliche Ebene Zuletzt sei noch kurz auf die wissenschaftliche Konstruktion von Stalking eingegangen. Thematisch analog zu den Wahrnehmungen in Fernsehbeiträgen und Printmedien konzentrierten sich die ersten Untersuchungen über Stalking auf Personen des öf-
fentlichen Lebens als Betroffene. Hier gelten die Studien des US-amerikanischen Psychiaters Dietz und seiner Mitarbeiter aus dem Jahr 1991 als Pionierarbeit. Kurz darauf kam es allerdings zu einer rapiden Kehrtwende. In der Fachliteratur ist Prominentenstalking mittlerweile kaum noch Gegenstand des Interesses, dagegen existierten gut 10 Jahre nach Beginn der Stalkingforschung weit über 100 Studien über die Verfolgung und Belästigung normaler Personen. Ein weiterer Trend im wissenschaftlichen Diskurs ist in einer zunehmenden Entpathologisierung des Gegenstandes zu sehen. In den frühen Studien wurde Stalking vornehmlich in psychiatrischen Kategorien, wie beispielsweise Liebeswahn gedacht. Zwar gilt es noch immer als empirische Erkenntnis, dass Persönlichkeitsstörungen und Psychosen bei Stalkern gehäuft auftreten. Grundsätzlich wird das Phänomen jedoch mittlerweile seltener durch psychische Erkrankungen, sondern vermehrt durch allgemeingültige psychologische Konzepte erklärt, etwa durch dysfunktionale Ausgestaltungen frühkindlicher Bindungen.
2.3
Genderaspekt
Der Bereich der Genderforschung widmet sich der Frage, inwiefern soziale Interaktionen und gesellschaftliche Wahrnehmungen geschlechtspezifische Ausprägungen bzw. Asymmetrien aufweisen. Dieser Aspekt ist auch für Stalking relevant als Phänom, bei dem zumindest in schwereren Fällen die Mehrzahl der Opfer Frauen und die meisten Täter Männer sind. So ist zunächst einmal zu vermuten, dass in früheren, stärker patriarchalisch ausgerichteten Zeiten männliches Stalking nicht unbedingt als sozial problematisch angesehen wurde. Verließ eine Frau ihren Mann gegen dessen Willen, galt es wahrscheinlich als geradezu selbstverständlich, dass dieser alles daran setzt, sie wieder zurück zu holen und das auch mit aggressiven Handlungen, die heute als massiv grenzverletzend gelten (Dressing 2005). Unseren kulturellen Geschlechtsstereotypen zufolge sind Opfer von Verbrechen zumeist weiblich. Außerdem wird auf sozialer Ebene eine gewisse Ohnmacht und Hilflosigkeit von ihnen gefordert
19 2.4 · Mythen des Stalkings und ihre Auswirkungen
und natürlich schier grenzenlose Dankbarkeit dafür, dass ihnen (die zumeist männlichen) Helfer in der Not beistehen. Eine derartige Rollenverteilung korrespondiert mit der generellen Vorstellung, dass Frauen in Beziehungen eher passiv als aktiv sind, weniger gut als Männer auf sich selbst aufpassen können und schutzbedürftig sind (Spitzberg u. Cadiz 2002). Fallen Frauen aus diesem Opferschema heraus, so kann es sein, dass ihnen Hilfe verweigert wird, da sie nicht als »echte« Betroffene von delinquentem Verhalten anerkannt werden. In gar nicht so seltenen Fällen wird ihnen sogar unterstellt, sie seien selbst für das Stalking verantwortlich bzw. würden zu dessen Entstehung beitragen. (Tatsächlich gibt es auch Fälle, in denen Stalking in der Genese und Aufrechterhaltung am besten interaktionistisch zu begreifen ist, doch stellt dies sicherlich nicht die Regel dar.) Um andere zu überzeugen, dass sie gestalkt wird und Unterstützung verdient, muss eine Frau sehr deutlich machen, dass sie nichts getan hat, um Ärger auf sich zu ziehen, dass sie nicht die Aufmerksamkeit ihres Expartners auf sich lenkt oder uneindeutige Signale an ihn sendet. Wir müssen glauben, dass sie aufrichtig Angst hat und dass sie wirklich dringend braucht, was wir ihr an Hilfe anbieten. (Dunn 2002, S. 13)
In ihrer qualitativ ausgerichteten Untersuchung der Erfahrungen weiblicher Stalkingbetroffener kritisiert die Soziologin Dunn eine solche Konstruktion des Opferstatus als ungerecht. Denn in der Realität würden viele Frauen mit ihren sie stalkenden Expartnern doch noch kommunizieren, zum einen als eine Strategie, um Gewalttätigkeit zu verhindern, zum anderen, da ihnen in ihrer weiblichen Rolle Empathie und Verantwortung für das emotionale Wohlergehen ihres Partners ansozialisiert wurden. Es zeigt sich also, dass das Schwarzweißbild des passiv erduldenden weiblichen Opfers und des alleine agierenden, offensiven Täters nicht immer in seinem ganzen Kontrast erstrahlt, sondern dass gelegentlich auch Grauzonen zu erkennen sind. Wir sollten deshalb jedoch nicht automatisch das Vorhandensein einer Grenzüberschreitung negieren, sondern genau hinsehen, woraus sich diese Ambigu-
2
ität im Verhalten und in der Wahrnehmung der Betroffenen speist.
2.4
Mythen des Stalkings und ihre Auswirkungen
Welche Auswirkungen haben die sozialen Konstruktionen des Stalkings auf individuelle Wahrnehmungen und Handlungen? Eine britische Forschungsgruppe (Sheridan et al. 2001) ging der Frage nach, welche Alltagskonzepte von Stalking in der Bevölkerung existieren. Mehrere 100 Frauen schätzten auf einer von den Wissenschaftlern vorgegeben Liste von Verhaltensweisen ein, ob es sich bei diesen ihrer Meinung nach um Stalking handelt oder nicht. In der Auswertung ergab sich ein Cluster, das die Autoren als klassisches Stalking bezeichneten. Hierin fanden sich einmal Handlungen wie wiederholte Brief- und Telefonkontakte oder das Verfolgen und Auflauern, die empirisch tatsächlich sehr häufig bei Stalking auftreten. Zum anderen jedoch schätzten nahezu alle Probandinnen auch solche Verhaltensweisen als typisch für Stalking ein, die zwar häufig in medialen Darstellungen vorkommen, vergleichsweise selten aber in der Realität zu beobachten sind. Beispiele hierfür waren die Items »Heimliches Fotografieren des Opfers« oder »Wiederholte anonyme und unerkannte Annäherung an das Opfer«. Aufgrund der Erfahrungen vieler Stalkingopfer in Deutschland, von Behörden und der Polizei wenig Unterstützung zu erhalten bzw. oftmals kaum ernst genommen zu werden, ist anzunehmen, dass sich die gesellschaftliche Konstruktion von Stalking zumindest in der Vergangenheit weniger an wissenschaftlichen und phänomenlogischen Erkenntnissen orientierte, sondern vielmehr an medialen Bildern (Hoffmann 2003a). Es ist hierbei auf mehrere »Mythen« hinzuweisen, die eine adäquate Unterstützung von Opfern erschweren können. Mythos I: Stalking ist eine Krankheit. Stalking wird nicht selten als psychische Krankheit verstanden. Tatsächlich handelt es sich hier aber primär um ein Verhaltenssyndrom wiederholter Belästigung und Verfolgung, hinter dem ursächlich auch eine Psychopathologie stehen kann, aber nicht muss. Die
20
2
Kapitel 2 · Soziale Konstruktion
Gefahr, die sich hinter einer krankheitsbezogenen Fehlwahrnehmung verbirgt, besteht darin, dass Auffälligkeit und Andersartigkeit als Voraussetzung für die Identifizierung eines Stalkers angesehen werden. Häufig sind Stalker jedoch sozial umgänglich. So wird dem Opfer bei einer übermäßigen Pathologisierung des Täters oftmals kein Glaube geschenkt, dass dieser freundliche Mann es seit geraumer Zeit psychologisch immer wieder malträtiert. Eng damit verwandt ist die falsche Vorstellung, dass es sich bei Stalkern meistens um »eiskalte«, psychopathische Gewalttäter handelt. Die Ambivalenz und Verzweiflung vieler stalkender Expartner zeichnet ein ganz anderes Bild, die dem vom Stereotyp des kühlen Killers gefangenem Blick entgehen muss. Mythos II: Stalking ist gleich Liebeswahn. Dem Irrtum, Stalking und Liebeswahn gleichzusetzen, hängen verblüffenderweise sogar immer noch einige Psychiater und Psychologen an. Liebeswahn, auch Erotomanie genannt, ist jedoch eine genuine Wahnerkrankung, die etwa nur in rund 10% der Stalkingfälle auftritt, also einer Minderzahl. Hier stellt sich neben dem Umstand, dass nach außen hin nicht allzu besessene Täter möglicherweise aus dem Raster des Stalkings herausfallen, vor allem eine unzulängliche Einengung im Motiv als problematisch dar. Denn neben der Sehnsucht, eine Beziehung (wieder)herzustellen, existieren auch wutmotivierte Stalker, denen es darum geht, ihre Opfer, etwa Nachbarn oder ehemalige Arbeitgeber, zu terrorisieren. Sich alleine auf liebesfixierte Täter zu konzentrieren würde bedeuten, eine signifikante Fallgruppe ganz auszublenden. Mythos III: Der Stalker ist der Fremde. Der Fremde, der von außen Unheil in die Gemeinschaft bringt, bildet einen der Archetypen des Verbrechers, der sich als falsche Vorstellung, beispielsweise bei Delikten wie Kindesmissbrauch oder Sexualmord, beobachten lässt. Analog existiert bei Stalking das Bild des dunklen, unheimlichen Schattens, der das Haus des Opfers unerkannt umschleicht. In Wirklichkeit stellt ein solcher Fall die absolute Ausnahme dar. Die meisten und übrigens auch die gefährlichsten Täter stammen aus dem sozialen Nahraum, und natürlich gilt es unter einem gewaltverhindernden Blickwin-
kel, gerade diese Ereignisse mit einem präventiven Fallmanagement anzugehen. Das Stereotyp des Stalkers als Fremden war aber eine Zeit lang selbst bei speziell für Stalking zuständigen Polizeibeamten vorhanden. So gingen etwa einige Stalkingberater der Bremer Polizei von einer solchen Vorbeziehung als Normalfall aus (Bettermann 2002).
2.5
Künstler als Stalker
Folgt man der wissenschaftlichen Argumentation, dass der Kern von Stalking in Bindungsverhalten liegt, das aufgrund bestimmter biografischer Vorerfahrungen sozusagen aus dem Ruder läuft, und bezieht man zusätzlich mit ein, dass obsessives Werbungsverhalten kulturell durchaus geachtet sein kann, erscheint die Frage interessant, ob und wie Künstler eigene Stalkingimpulse in ihren Werken verarbeitet haben. Bereits mancher große Autor der Kulturgeschichte wurde deshalb auch schon psychologisch unter diesem Aspekt unter die Lupe genommen. So stießen Mullen et al. (2000) in den Schriften der italienischen Poeten Dante Alighieri (1265– 1321) und Petrarca (1304–1374) auf Obsessionen, die die Folie für Stalkingverhalten bilden könnten, wären sie nicht in der künstlerischen Arbeit sublimiert worden. Beide widmeten sich in ihren Werken der lebenslangen Hingabe zu einer Frau, mit der sie wenig oder keinen Kontakt hatten. Dabei bewegten sie sich gewissermaßen in einer Fantasiewelt, in der die wirklichen Empfindungen und Sichtweisen der von ihnen Verehrten letztlich keine Relevanz besaßen. Berühmt ist die (einseitige) Liebe Dantes zu Beatrice. Dieser Obsession hing der Dichter während seiner ganzen Schaffensgeschichte an, angefangen mit dem Jugendwerk Das erneuerte Leben über die philosophische Abhandlung Das Gastmahl bis hin zu dem berühmten Hauptwerk Die göttliche Komödie. Beatrice erscheint in den Schriften in mannigfacher Gestalt, etwa als realer Mensch, in dessen Anwesenheit Dante seine zwischen Sehnsucht und angstvoller Vermeidung pendelnden Gefühle schildert oder, mit mehr symbolischem Gehalt versehen, als in ein rotes Kleid gehüllte Erscheinung aus dem Jenseits. Auf den Spuren von William Shakespeare bewegt sich Skoler (1998). In seiner psychoanalyti-
21 2.5 · Künstler als Stalker
schen Ausdeutung der Sonette des englischen Dichters zeigt er die innere Dynamik von Verehrung und Wut auf, wie sie für viele Stalker typisch ist. Gegenstand der Sonette ist eine »dark lady«, der das dichterische Ego Shakespeares verfallen ist. Zu seinem Leid steht sie in einer Affäre mit einem seiner Freunde, sodass sich eine Art Dreieckskonstellation herausbildet. Zunächst lässt sich Skoler zufolge hier ein Prozess der Spaltung im Sinne der freudianischen »Mutter/Hure«-Fantasie als Ausdruck eines ödipalen Konflikts identifizieren. Shakespeare fleht zum einen die »dark lady« förmlich an, einer ihrer Liebhaber werden zu dürfen, von denen er annimmt, dass sie in großer Zahl vorhanden seien. Zum anderen greift er sie als moralisch fragwürdig an und wertet sie ab. »Die zutiefst unterdrückten Gefühle sexuellen Ungenügens und sexueller Frustration lassen sich regelmäßig in den psychosexuellen Entwicklungsgeschichten realer Stalker beobachten. Sie gehen einher mit der Fantasie der »Errettung der Hure« von ihren angenommenen Handlungen entwürdigender Sexualität hin zu einer »reinen« und »geistigen« Verbindung mit dem Stalker« (Skoler 1998, S. 91). Des Weiteren finden sich ihm zufolge in den Sonetten Shakespeares psychodynamische Konflikte narzisstischer, antisozialer und wahnhafter Ausprägung und Borderlinecharakteristika. Mittlerweile sind seit Shakespeares Tagen einige Jahrhunderte vergangen. In heutiger Zeit werden künstlerische Texte nicht mehr nur schriftlich fixiert, sondern auch akustisch in Form von Popmusik transportiert. Als Archetyp des Stalkingsongs gilt dabei das von Sting mit seiner damaligen Band »The Police« eingespielte Stück »Every breath you take« aus dem Jahr 1983. Dort ist die Obsession eines verlassenen Liebhabers derart eindrucksvoll beschrieben, dass sich vermuten läßt, dass Sting an dieser Stelle einen Einblick in seine persönliche Gefühlswelt gewähren lässt. Every breath you take/Every move you make/Every bond you break/Every step you take/ I’ll be watching you/Every single day/Every word you say/ Every game you play/Every night you stay/ I’ll be watching you/ Oh can’t you see/You belong to me/ How my poor heart aches/With every step you take.
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Die Fantasie, als quasi allmächtiger Beobachter die Kontrolle über das nicht mehr Kontrollierbare – die weggegangene Geliebte – wiederzugewinnen, bildet nicht selten die Triebfeder für Exbeziehungsstalker. Sting stellt in seinen Zeilen auf diese Weise die Dynamik und Innensicht eines bestimmten Stalkertypus psychologisch präzise dar. Durchforstet man derart sensibilisiert weiter Popsongs auf möglicherweise selbstoffenbarende Zeilen der Künstler, wird man des öfteren fündig. Beispielsweise schlüpft der englische Sänger Morrissey in seinem Stück »The more you ignore me, the closer I get« in die Rolle eines beziehungssuchenden Stalkers. Er nimmt die stille Abwehr der von ihm belästigten Frau sogar noch als Anstachelung, seine Bemühungen zu intensivieren, in der Gewissheit, dadurch zum festen Bestandteil ihres Lebens zu werden. Dabei geht es ihm bewusst darum, den Willen seines Opfers zu brechen. The more you ignore me/The closer I get/You’re wasting your time /I will be in the bar/With my head on the bar/I am now a central part of your mind’s landscape/Wheter you care or do not. […] I will creep into your thoughts/Like a bad debt that you can’t pay/ Take the easy way and give in/ Yeah, and let me in/It’s war.
Sozusagen das Gegenstück zu der männlichen Obsession von Dominanz und Kontrolle findet sich in dem Titel »Possession« der Sängerin Sarah McLachlan (1993). Sie verarbeitet dort Auszüge von Briefen, die ihr ein wirklicher Stalker gesendet hatte, bevor er Selbstmord beging (White et al. 2002). Darin beschreibt der Mann unter anderem gewaltsamen Sex mit der kanadischen Künstlerin, der dazu führen würde, dass sie ihn schließlich liebt. The night is my companion and/Solitude my guide/Would I spend forever here/And not be satisfied?/And I would be the one to hold you down/Kiss you so hard/I’ll take your breat away and/After I’d wipe away the tears/Just close your eyes dear.
2
22
Kapitel 2 · Soziale Konstruktion
2.6
Stalking als Sujet von Film und Literatur
Beispiele Wie bereits an dem Kinoerfolg »Die Reifeprüfung« aus den späten 60er-Jahren deutlich wurde, bildet das Muster obsessiver Verfolgung bis in die Gegenwart eine Grundfigur in unseren kulturellen Erzählungen. Dies geschah meist implizit, wie etwa in dem Film »Das Piano«, doch zunehmend wird Stalking auch explizit zum Thema in der Populärkultur. Dabei war Stalking in der fiktionalen Darstellung zunächst eng mit der Vorstellung eines »Durchdrehens« bis hin zu exzessiver Gewalt verbunden. Als relativ frühes Beispiel hierfür lässt sich der Film »Eine verhängnisvolle Affäre« nennen, in der eine kurze Liaison für einen von Michael Douglas gespielten Rechtsanwalt zur existenzgefährdenden Tragödie wird. Die Abgewiesene, dargestellt von Glenn Close, steigert sich von wiederholtem Telefonterror und Verleumdung über die Tötung des Haustieres und die Entführung der Tochter bis hin zu Mordgelüsten. Ähnlich dramatisch, allerdings nun auf dem Gebiet des Prominentenstalkings, präsentiert sich der Film »The Fan« mit Robert de Niro und Wesley Snipes. Hier geht es um den übersteigerten Fan eines Baseballstars, dessen privates Leben zusammenbricht. Kongruent zu einer typischen psychologischen Stalkingdynamik schlägt im Verlauf der Krise Verehrung in Wut und Hass um, die sich schließlich auch gegen den einst bewunderten Sportstar richten. Auch hier bildet die Entwicklung eines Charakters aus einem vergleichsweise normalen Alltag in die Gewalt das Leitmotiv der Geschichte. Spielerisch nimmt der US-amerikanische Autor Ronald Munson, der zugleich auch Professor für Medizin ist, das Thema Stalking und Aggression in einem Roman auf. Das alleine aus Briefen der unterschiedlichen Protagonisten zusammengesetzte, sehr unterhaltsame Buch Fan Mail (1997) spielt in der Welt der TV-Nachrichten. Ein anonymer Fan, der offenbar der Erotomanie anheim gefallen ist, versucht, die Karriere einer Nachwuchsmoderatorin durch sehr drastische Taten anzuschieben. Als die Nachrichtenfrau diese mörderische Art der Unterstützung zurückweist, wandelt sich in gewohnter
Dramaturgie die Zuneigung des unerkannten Stalkers in Hass. Das alles wird mit viel Witz erzählt, sodass erstmalig eine gewisse Leichtigkeit und Distanz in der populärkulturellen Darstellung von Stalking aufscheint. Mittlerweile hat sich die fiktionale Darstellung von der Verkürzung des Stalkings auf schwere Gewalttaten vollends emanzipiert. Beispielsweise ist in der Komödie »Verrückt nach Mary« aus dem Jahr 1998 einer der (harmlosen) Hauptakteure nach modernem Verständnis ein Stalker. Vier Jahre später erscheint mit der Produktion »One Hour Photo« mit Robin Williams die durchaus Mitgefühl zeigende Charakterstudie eines isoliert lebenden Mannes, dessen Obsession, zu einer von ihm beobachteten Familie dazuzugehören, immer exzessivere Züge annimmt. Auch hier ist von einer Dämonisierung keine Spur mehr, obgleich das Unheimliche einer derartigen Fixierung auf andere Menschen in der Darstellung eindringlich bleibt.
Wechselwirkung zwischen Fiktion und Realität Eine interessante und durchaus auch intendierte Rückkopplung von einer fiktiven in die scheinbar »reale« Konstruktion von Stalking zeigte sich in dem Roman Enduring Love des britischen Autors Ian McEwan (1997), in der deutschen Übersetzung mit »Liebeswahn« betitelt. Der komplexen und beziehungsreichen Erzählung, in der ein erotomanischer Stalker einen Mann obsessiv verfolgt, ist ein Appendix beigefügt. Darin findet sich ein vermeintlicher Fachartikel, verfasst von 2 Psychologen namens Robert Wenn und Antonio Camia. Das angeblich im British Review of Psychiatry erschienene Fallbeispiel »A homo-erotic obsession, with religious overtones: a clinical variant of de Clérambault’s syndrome« bildete laut Ian McEwan die Grundlage für seinen Roman. In einer Rezension in einem psychiatrischen Fachblatt wurde ausführlich gewürdigt, dass ein wissenschaftlicher Beitrag als Inspiration für das literarische Werk eines bedeutenden zeitgenössischen Autors diente. Andere Kritiker aus den Feuilletons monierten dagegen, dass sich McEwan sehr nah an die wissenschaftlichen Quelle hielte und damit eine gewisse Einfallslosigkeit zeige.
23 2.7 · Medienberichte und Nachahmungstaten
Die Peinlichkeit war groß, als schließlich ein achtsamer Journalist darauf aufmerksam machte, dass die Nachnamen der beiden angeblichen Psychologen Wenn und Camia das Anagramm zu dem Namen Ian McEwan bilden, also sich aus denselben Buchstaben zusammensetzen. Zudem war auch die Zeitschrift »British Review of Psychiatry« ein Schwindel, sie existierte schlichtweg nicht. Der Schriftsteller gab daraufhin amüsiert zu, den Artikel selbst geschrieben zu haben, der immerhin mit einer ordentlichen Literaturliste relevanter Fachpublikationen zum Thema Erotomanie versehen war. Zugleich offenbarte McEwan, dass er noch einen Schritt weiter gehen wollte, damit aber gescheitert war. Er hatte die inszenierte Fallgeschichte vor Veröffentlichung seines Romans bei einer psychiatrischen Fachzeitschrift zur Publikation eingereicht, war jedoch abgelehnt worden. Der letzte Schritt der Fiktion in die wissenschaftliche Konstruktion von Stalking war somit nicht gelungen. Ein verworrener Pfad, der von einem Stalker und Attentäter zu einem legendären Kinofilm und wieder zu einem andern Stalker und Attentäter führte, bildet den Vorlauf zu dem Anschlag auf US-Präsident Reagan am 30. März 1981. Dazu muss man zunächst einige Jahre zurückgehen. Das ursprüngliche Vorbild für diese Tat waren die Handlungen eines gewissen Arthur Bremers. Bremer hatte 1972 den Präsidentschaftskandidaten George Wallace niedergeschossen und schwer verletzt. Zuvor hatte er den amtierenden Präsidenten Nixon gestalkt, gab aber seine Attentatspläne auf, da ihm der Politiker zu gut geschützt erschien. Er wählte deshalb Wallace als neue Zielperson aus. Über seine Planungen, Gedanken und Gefühle vor der Tat führte Bremer ein Tagebuch, das nach seinem Anschlag auch veröffentlicht wurde. Dieses Tagebuch inspirierte nun das Drehbuch zu dem Film »Taxi Driver«. Vor allem Travis Bickle, der Hauptcharakter von »Taxi Driver«, gespielt von Robert de Niro, wurde dem Attentäter Bremer nachempfunden. Es war der Einfluss dieses Films auf einen jungen Mann namens John Hinckley, der fatale Folgen haben sollte. Als Hinckley »Taxi Driver« 1976 das erste Mal sah, war er fasziniert von Jodie Foster, die darin eine Kinderprostituierte darstellte. Jahrelang spielte Foster eine zentrale Rolle in der Fantasie Hinckelys, bevor er 1980 zum Stalker wurde: Er begann, der
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Schauspielerin nachzustellen, und versuchte, Kontakt mit ihr aufzunehmen. John Hinckley war aber zugleich auch von dem von Robert de Niro gespielten Charakter in »Taxi Driver« tief beeindruckt. Er begann, sich zunehmend mit ihm zu identifizieren und ihn auch en detail zu imitieren. Hinckley »zog sich an wie er, kaufte Waffen, stalkte einen Politiker und hing mit Teenagerprostituierten in New York herum« (Clark 1990, S. 52). Es existiert sogar ein Foto, auf dem Hinckley zu sehen ist, wie er die berühmte Pose von Robert de Niro nachstellt, der mit einer Waffe vor dem Spiegel steht und einem imaginärem Gegenüber droht. Schließlich schoss Hinckley wie sein Vorbild Travis Bickle alias Robert de Niro alias Arthur Bremer auf einen Politiker. Er verletzte Ronald Reagan schwer. In seinem in einem Hotel gefundenen Abschiedsbrief an Jodie Foster schrieb Hinckley, er hätte die Tat begangen, um sie zu beeindrucken.
2.7
Medienberichte und Nachahmungstaten
Besteht die Gefahr, dass mit der zunehmenden öffentlichen Konstruktion von Stalking als außerordentlich delinquentem Verhalten möglicherweise andere Personen zu derartigen Grenzverletzungen animiert werden? Das Problem von Nachahmungstaten ist gut bekannt und etwa in den Bereichen Erpressung, Mord und Amokläufen an Schulen zum Teil auch wissenschaftlich dokumentiert. Es ist der Zuwachs an Identität und Bedeutsamkeit, der bereits verunsicherte und wütende Personen reizen kann, den Schritt hin zu einer öffentlichkeitswirksamen Tat zu unternehmen. So ergab ein britisches Forschungsprojekt, in dessen Rahmen Sexualmörder interviewt wurden, dass einige der Täter in der Einnahme der mächtigen, quasi prototypischen Figur des mordenden »Ungeheuers« auch ein Gefühl persönlicher Bedeutungslosigkeit überwinden wollten. »In anderen Fällen kulminierte das Selbstbild der Männer als schwach und die Versuche, dieses Bild durch die Identifizierung mit berühmten Mördern zu ändern in Taten, die als Ziel hatten Berühmtheit zu erlangen« (West 2001). Zielgerichtete Gewalt und Amokläufe von Schülern, die in den USA etwa seit Mitte der 90er-Jahre und in Deutschland seit Ende
24
2
Kapitel 2 · Soziale Konstruktion
1999 überhaupt erst als relevantes Phänomen auftraten, sind in einer nicht unerheblichen Zahl offenbar stark von Imitation geprägt (Hoffmann 2003b). Nach dem Massenmord des Schülers Robert Steinhäuser am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt befürchteten wir, dass diese Tat in ihrer aufsehenerregenden Dimension eine Art Initialzündung darstellen könnte, und beschrieben Strategien der Vermeidung: Der junge Amok-Läufer, der sich mit seiner Tat zu düsterer Größe und machtvoller Bedeutung aufschwingt, kann auch hierzulande in Teilen der Jugendkultur zur dunklen heroischen Figur werden, die ein verlockendes Identifikationspotenzial gerade für am Rand stehende, Ich-schwache Persönlichkeiten mit mangelnden Kompensationsmechanismen bietet. Helfen kann da Aufklärung und ein überlegter öffentlicher Umgang mit derartiger Gewalt. Werden junge Täter, wie Robert Steinhäuser, weder dämonisiert noch als schicksalhaft und ohne Eigenverantwortung handelnd dargestellt, wird ihre Biografie in ihrer ganzen Zerrissenheit und Schwäche gezeigt, gelingt es vielleicht, die Vorbildfunktion solcher Amokläufer zu konterkarieren, sodass Erfurt in seiner exzessiven Gewalt in Deutschland ein Einzelfall bleibt. (Hoffmann 2002d, S. 32)
Ein solcher Effekt spielt vermutlich auch bei manchen Fällen von Stalking eine Rolle, insbesondere dann, wenn Prominente zum Ziel der Obsession werden. So lässt sich beispielsweise bei dem bereits erwähnten Reagan-Attentäter John Hinckley ein deutlicher Nachahmungseffekt ausmachen. Einen Hinweis, dass die massenmediale Berichterstattung über solche Taten psychologisch »ansteckende« Auswirkungen haben könnte, gibt die extreme statistische Häufung von Attentaten seit den 80er-Jahren in den USA. In den letzten 2 Jahrzehnten wurden dort deutlich mehr Anschläge auf Personen des öffentlichen Lebens verübt als in der amerikanischen Geschichte insgesamt zuvor. Der Psychiater Park Dietz fand zudem in einer Studie heraus, dass sich in den 80er-Jahren einige US-amerikanische Starstalker und Attentäter in ihrem Tatverhalten bis hin in fast schon absurde Details kopierten (de Becker 1999). Mehrere dieser Täter nahmen beispielsweise das
Buch Fänger im Roggen mit zu ihrem Anschlag oder suchten im Vorfeld das Dakota Building in New York auf, um zu sehen, an welchem Ort John Lennon ermordet wurde. Es ist die sozusagen doppelt kodierte, geradezu widersprüchliche Konstruktion, die diesen Gewalttaten möglicherweise ihre Anziehungskraft verleiht. Zum einen gelten Attentate als absolut verwerfliche Handlungen, auf der anderen Seite steht der (erfolgreiche) Attentäter im Mittelpunkt öffentlichen Interesses und wird mit einem Nimbus der Stärke versehen. Die Polizeikräfte, die mit der Presse nach der Verhaftung eines Kriminellen sprechen, neigen dazu, das als ihren Sieg über einen gefährlichen, mächtigen, bewaffneten und schlauen Kriminellen darzustellen: »Die Untersuchungsbeamten fanden drei 45er-Kaliber und über 200 Patronen in seinem Hotelzimmer. Da der Täter ein ausgezeichneter Schütze ist, riskierten wir Kopf und Kragen, als wir das Gebäude stürmten.« Diese Art der Reportage umgibt den Kriminellen mit einer Aura, die zweifellos für viele, die ein ähnliches Verbrechen planen, attraktiv ist. Ich schlage vor, dass wir nicht mehr die Kugeln auf der Kommode in dem schäbigen Hotelzimmer zeigen, stattdessen sollten wir die schmutzige Unterwäsche und die Socken auf dem Boden des Badezimmers zeigen. Ich schlage auch vor, dass wir keine Fototermine mehr arrangieren, bei denen festgehalten wird, wie der Täter von 10 FBI-Agenten aus einem Hubschrauber zu einer Kolonne wartender Wagen begleitet wird. Zeigen wir ihn lieber in einem schmuddeligen T-Shirt, in einem düsteren Korridor mit Handschellen an ein Rohr gefesselt, von nur einer Person bewacht, und diese obendrein noch eine Frau. Nicht viele Möchtegernattentäter auf der Suche nach einer eigenen Identität werden sich diese Bilder ansehen und sich sagen: Genau, das Leben will ich! (de Becker 1999, S. 336–337)
Die hier beschriebenen Beispiele stellen sicherlich Extremfälle dar. Aber auch in Deutschland gab es zumindest ein Attentat, das von einem anderen Anschlag inspiriert worden war. Josef Bachmann schoss am 11. April 1968 den Studentenführer Rudi Dutschke nieder und verletzte ihn mit 3 Schüssen schwer.
25 2.7 · Medienberichte und Nachahmungstaten
Bei der Vernehmung durch die Polizei gab er an, das Attentat auf den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King hätte ihn auf den Gedanken für seine Tat gebracht: »Da dachte ich, dass muss ich auch machen«, gab der 23-Jährige zu Protokoll (Doubek 2003). Wie in vielen derartigen Fällen war die politische Motivation, hier rechtsextrem ausgerichtet, nur ein Kulissenmotiv. Tatsächlich erhoffte sich Bachmann vor allem Berühmtheit durch seine Gewalttat zu erlangen. Vorfälle, in denen ein Prominentenstalker durch eine aufsehenerregende Tat eines anderen sichtbar beeinflusst wurde, sind in Deutschland bislang kaum bekannt. Allerdings ist hinzuzufügen, dass hierzulande, im Unterschied zu den USA und anderen angloamerikanischen Staaten, der Begriff Stalking nur langsam in das öffentliche Bewusstsein vordrang. Dennoch meldeten sich in einem deutschen Forschungsprojekt über Stalking, an dem der Autor beteiligt war, bereits mehrfach »Täter«, die geradezu stolz über die von ihnen begangenen Belästigungen und Verfolgungen berichteten und denen es durchaus zu gefallen schien, nun zu der Gruppe gefährlicher Stalker zu zählen, über die soviel in den Medien berichtet wird. Die soziale Konstruktion von Stalking definiert also nicht nur, sondern produziert auch Realität.
2
3 3 Interkultureller Vergleich
3.1
Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse – 27
3.2
Stalking als Folge interkultureller Fehlinterpretationen – 30
3.3
Prominentenstalking – 31
Handelt es sich bei obsessiver Verfolgung und Belästigung um ein Handlungsmuster, das weltweit in ähnlicher Form auftritt, oder ist Stalking maßgeblich durch den Einfluss der Kultur vor Ort determiniert? Betrachtet man repräsentative Untersuchungen zu Stalking, die in verschiedenen Ländern auf 3 Kontinenten durchgeführt wurden, so kommt man zu dem Schluss, dass zumindest in westlichen Staaten vergleichbare Formen existierten, was die Auftretenshäufigkeit, die Geschlechterverteilung und die Beziehungen zwischen Verfolgern und Verfolgten betrifft. Da in diesen Ländern der kulturelle Rahmen zwar graduell, nicht aber grundsätzlich voneinander differiert, bleibt die Frage nach der Tiefe der Verwurzelung von Stalking im allgemein Menschlichen damit allerdings noch nicht beantwortet. Möglicherweise können jedoch einzelne Fallbeispiele und kleinere Untersuchungen aus anderen Regionen der Welt zur Aufklärung beitragen.
3.1
Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse
Stalking In verblüffend enger Übereinstimmung mit westlichen Forschungsergebnissen ergab eine Auswertung von 100 Stalkingvorfällen im Iran, dass in 48% der Fälle ein Expartner für die Verfolgungen und Belästigungen verantwortlich war, in der Häufigkeit gefolgt von »romantischen Verehrern« (25%) (Kordvani 2000). Es gibt jedoch auch Dynamiken, die eine gewisse kulturelle Spezifität aufweisen. Beispielsweise wurden 12% der Frauen von männlichen Verwandten belästigt und überwacht. Hintergrund ist, dass in ländlichen Gegenden oft ein Patriarchat vorherrscht und zudem Männer die soziale Pflicht haben, ihre weiblichen Angehörigen zu schützen. Einige von ihnen »schießen über das Ziel hinaus« und versuchen, die Frauen durch extreme Kontrolle von vermeintlichen schlechten Einflüssen abzuschirmen
28
3
Kapitel 3 · Interkultureller Vergleich
und verhindern damit ein selbstbestimmtes Leben ihrer weiblichen Verwandten. Dies ist vor allem bei jungen Männern zwischen 17 und 24 Jahren zu beobachten, die altersbedingt ein verstärktes Bedürfnis nach Vorzeigen von Macht und Einflussnahme besitzen. Eine weitere Besonderheit ist, dass Kinder manchmal schon direkt nach der Geburt einander für die Ehe versprochen werden. Kommt es dann im Erwachsenenalter nicht zur Hochzeit, da entweder die Frau oder ihre Familie der alten Vereinbarung nicht mehr zustimmen, treten gelegentlich extreme Formen des Stalkings auf. Exemplarisch wird ein Fall in einem Dorf im südwestlichen Iran aufgeführt. Hier verfolgte der durch die Ablehnung gekränkte Mann die ihm versprochene Frau kontinuierlich und drohte ihr mit dem Tod. Sie zog schließlich in eine entfernte Stadt, in der sie niemand kannte; ihre Angst, dass man sie finden könnte, dauerte jedoch weiter an. – Aber auch ohne eine verabredete Ehe führten Zurückweisungen durch die Frau gelegentlich zu Gewalttätigkeiten. So verfolgte ein 22-jähriger Mann eine jüngere Frau über mehrere Monate hinweg auf ihrem Weg von der Schule nach Hause. Sie lehnte seine Avancen ab, erzählte jedoch niemandem von den Belästigungen. Eines Tages überfiel er sie gemeinsam mit einem Freund, der der jungen Frau Säure ins Gesicht schüttete. Vor Gericht gab der Stalker als Motiv an, dass ihr schönes Gesicht von niemand anderem angesehen werden sollte, er jedoch die Tat selbst nicht durchführen konnte, da er die Frau ja lieben würde. Diese Begründung ähnelt der Aussage von Stalkern aus westlichen Ländern, die Gewalt anwenden mit der Rechtfertigung: »Wenn ich sie nicht habe, soll sie niemand haben.« Interessanterweise soll Stalking von Prominenten im Iran nahezu unbekannt sein. Dies lässt sich nach Ansicht von Kordvani (2000) darauf zurückführen, dass dortige Stars generell nicht soviel soziale Aufmerksamkeit erhalten und dass es dort weder Boulevardjournalismus noch andere Formen der Berichterstattung über das Privatleben von berühmten Personen gibt. Jagessar und Sheridan (2004) stellten die Stalkingerfahrungen zweier Kulturen direkt gegenüber. Die beiden Psychologinnen ließen mehrere 100 Frauen jeweils in Großbritannien und auf Trinidad denselben Fragebogen ausfüllen, der mit 42 Items Verhal-
tensweisen von gemäßigten Kontaktversuchen, Hinterherpfeifen über Verfolgungshandlungen bis hin zu Drohungen beschrieb. Zunächst sollten beide Gruppen angeben, welche der Handlungen sie als Stalking ansehen und welche nicht. Die statistische Auswertung ergab, dass hierin eine weitgehende Übereinstimmung herrschte. In einem nächsten Schritt wurde danach gefragt, welche der Probandinnen schon einmal Stalkingverhalten selbst erlebt hatten. Die Frauen aus Trinidad waren zu 27% bereits Opfer von Stalking geworden, in der britischen Gruppe lag die Rate bei 24%. Das heißt, dass sowohl in der Wahrnehmung, was Stalking ausmacht, als auch in der aktuellen Opfererfahrung bei mitteleuropäischen Frauen und bei Einwohnerinnen einer Karibikinsel mit zum größten Teil afrikanischer und indischer Abstammung starke Ähnlichkeiten bestehen. Ähnlich wie in Deutschland wurde auch in Japan die Beschäftigung mit Stalking ursprünglich durch die Thematisierung des Phänomens in den USA angeregt (Tashiro 2000). Hier führte die Übersetzung eines amerikanischen Buches über Stalking ins Japanische im Jahr 1997 zu einer speziellen Antistalkinggesetzgebung und zu einer eigenen Stalkingstatistik, die die nationale Polizei einrichtete. Im Jahr 2003 wurden über 22.000 Anzeigen verzeichnet. Eine polizeiliche Analyse ergab, dass etwa 60% der Fälle auf eine Fixierung auf das Opfer und ca. ein Drittel auf Gefühle von Wut und Rache zurückgingen. Zudem waren der Statistik zufolge in diesem Jahr 5 Morde und 14 Mordversuche auf Stalking zurückzuführen (The Japan Times 2004). Die dauerhafte Verfolgung und Bedrohung durch Expartner, die die größte Gruppe bilden, stellt offenbar auch in Japan das Hauptproblem dar, wenngleich auch Fälle von Prominentenstalking immer wieder öffentlich bekannt werden.
Erotomanie Da kulturübergreifende Berichte speziell zum Thema Stalking rar sind, werden im Folgenden psychiatrische Untersuchungen zur Erotomanie herangezogen, um ein besseres Bild zu erhalten. Bei der Erotomanie (»Liebeswahn«) geht der Erkrankte fälschlicherweise davon aus, von einer bestimmten
29 3.1 · Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse
anderen Person geliebt zu werden, weshalb er nicht selten Kontaktversuche unternimmt oder den anderen physisch verfolgt (7 Kap. 7). In einer Einzelfalldarstellung aus Saudi-Arabien schilderte der Psychiater El-Assra (1989) die Krankheitsgeschichte einer jungen Lehrerin im Twenalter. Sie war wegen einer paranoiden Schizophrenie wiederholt in die Klinik eingeliefert worden; sie war u. a. der Überzeugung, dass ihr Vater und ihr Großvater ihr hinterherspionierten, um sie nackt zu sehen. Im Krankenhaus entwickelte sie plötzlich einen Liebeswahn, indem sie die Überzeugung gewann, dass ein junger Arzt in sie verliebt sei. Sie stritt entgegen allen Fakten ab, dass der Mediziner verheiratet war, und glaubte stattdessen, dass er sich von seiner Frau hatte scheiden lassen und nun mit ihr eine Ehe führe. Der Arzt verließ kurz drauf das Krankenhaus und zog in ein anderes Land, wie er es schon lange plante. Die Patientin zeigte danach Stalkingverhalten und begann ihm wiederholt Briefe und Gedichte in arabischer und englischer Sprache zuzuschicken, die ihren Liebeswahn widerspiegelten. Hier ein Auszug aus den Texten, in der sich auch die ganze Traurigkeit der Patientin offenbart: It has been a long time since I last had a lover. My heart weeps for its deepest wounds. Oh my heart! Life smiles upon everyone. But I search for a doctor to treat my bleeding heart…Life may make us sad. Yet God will not abandon the ambitious: Even the doctor is cruel to the patient‘s heart. He wants me when it suits him, then walks away: I sacrificed my life for my darling. (El-Assra, S. 554)
Entgegen früheren Annahmen zu anderen psychiatrischen Diagnosen ist El-Assra hier nicht mehr der Ansicht, dass die Familie als Kernelement der saudischen Gesellschaft einen spezifischen Einfluss auf die Schwere und Fortdauer der Krankheit habe. Er bietet ein psychodynamisches Erklärungsmodell an, das seiner Meinung nach auch in anderen Kulturen oder Subkulturen mit einer restriktiven Sexualmoral Gültigkeit hat: »Der innere Konflikt der Patientin kann als Kampf gesehen werden zwischen ihren natürlichen Trieben und der Feststellung, dass Sex ein Tabu ist und dreckig und von ihrem Vater unerwünscht. Ihr Geliebter repräsentiert deshalb eine ideale Vaterfigur, in die sie alle ihre unbewussten
3
emotionalen und sexuellen Bedürfnisse projizieren kann« (S. 555). Auch in Thailand sind die Phänomene Liebeswahn und Stalking bekannt. In den Medien tauchen vereinzelt immer wieder Berichte über Fälle auf, in denen Prominente, aber auch Normalbürger verfolgt und manchmal sogar attackiert werden. In der Studie von Kasantikul (1998) wurden 20 Erotomaniepatienten untersucht, wobei es sich bei einem der Patienten um einen arbeitlosen jungen Mann handelte, der auf eine bekannte Sängerin fixiert war. Im Vergleich mit Studien aus dem englischsprachigen Raum zeigten sich bis auf das geringere Alter der thailändischen Erotomanen große Übereinstimmungen: Der Anteil der Frauen war verhältnismäßig hoch, wenngleich Gewalt und Aggressivität eher bei männlichen Erotomanen auftraten, der Bildungsgrad erwies sich als überdurchschnittlich und die Zielpersonen des Liebeswahns hatten verstärkt sozial höheren Status. Lediglich im Umgang mit Erotomanie notierte Kasantikul vereinzelt kulturelle Unterschiede: So gibt es in Thailand noch Gegenden, in denen abergläubische Vorstellungen dominant sind und Eltern glauben, dass ihre an Liebeswahn erkrankten Kinder von dämonischen Kräften besessen seien und sie deshalb das Unheil gewaltsam auszutreiben versuchen. Obgleich sie in ihrer Untersuchung von schizophrenen Patienten aus China, die zusätzlich eine Erotomaniediagnose aufwiesen, mehrere Übereinstimmungen mit westlichen Forschungsergebnissen fanden, konnten Phillips et al. (1996) jedoch auch kulturspezifische Charakteristika ausmachen. Sie fanden eine größere Häufigkeit des Liebeswahns als in westlichen Stichproben, was sie mit einem restriktiveren Umgang mit sexuellen Themen erklärten. In China wird Sexualität in der Kommunikation sehr indirekt und subtil zum Ausdruck gebracht. Deshalb existiert eine Mehrdeutigkeit, die gerade psychotische Menschen zu systematischen Fehleinschätzungen verleitet. In der Zusammenschau dieser Erfahrungen aus sechs nichtwestlichen Kulturen bildet sich ein Kern von Gemeinsamkeiten heraus. Die Studien und Fallberichte legen nahe, dass wir es hier grundsätzlich mit einem universellen Phänomen zu tun haben, welches offenbar zugleich in verschiedenen Ausmaßen kulturell moderiert wird, vor allem den gesell-
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3
Kapitel 3 · Interkultureller Vergleich
schaftlichen Umgang mit Sexualität betreffend. Es lässt sich somit auch der Einfluss westlicher patriarchalischer Ideen integrieren, wonach männliches Stalking oftmals durch die Vorstellung unterstützt wird, dass eine romantische Liebesbeziehung gegen den Widerspruch der Frau und durch Ausdauer sowie offensives Werben erlangt werden muss (de Becker 1999). Die Konstante im interkulturellen Vergleich verweist dagegen auf eine tief in der menschlichen Psyche verwurzelte Basis für Stalking. Als Erklärungsmodelle hierfür bieten sich die Evolutionspsychologie und die Bindungstheorie an (7 Kap. 4).
3.2
Stalking als Folge interkultureller Fehlinterpretationen
Ein weiterer interessanter Aspekt ist, ob es an bestimmten interkulturellen Schnittstellen erhöhte Risikopunkte für das Auftreten von Stalking gibt. Meyers (1998) nimmt an, dass zum einen soziale Isolation und ein Bruch in der Selbstidentität als Folge eines Wechsels in eine andere Kultur zu einer größeren Verwundbarkeit für Stalking und Liebeswahn führen können. Hier spielen der Verlust der vertrauten und sicheren Umgebung und der sozialen Regeln eine Rolle sowie die gesellschaftliche Reaktion auf den kulturellen Neuankömmling, etwa in Form von Vorurteilen, Diskriminierung und institutionellen sowie rechtlichen Restriktionen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Individuum glaubt, dass es niemals vom Mainstream der neuen Kultur akzeptiert werden wird. Interessanterweise fanden Zona et al. (1993), dass in ihrer sehr kleinen Gruppe von erotomanischen Stalkern fast die Hälfte außerhalb der USA geboren waren. Rosenfeld und Harmon (2002) werteten Daten von 204 obsessiven Verfolgern aus, die sich in New York per Gerichtsbeschluss einer psychiatrischen Untersuchung unterziehen mussten und stießen hierbei auf einen Anteil von 35% im Ausland geborener Stalker. – In einer Auswertung von rund 550 Stalkingfällen aus dem deutschsprachigen Raum fand sich jedoch keine derartige Häufung, über 85% der Stalker stammten hier aus dem mitteleuropäischen Kulturkreis (Voß et al. 2005). Ein weiterer kritischer Punkt möglicher interkultureller Fehldeutungen liegt in der unterschiedli-
chen sozialen Wahrnehmung begründet: Ein Faktor, der zu einer Wahrnehmungsunschärfe führt, ist die Unfähigkeit, nonverbale Signale zu verstehen. Beispielsweise kann eine Person das Verhalten seines Liebesobjekts komplett falsch interpretieren und so fast schon wahnähnliche Züge aufweisen, die der Erotomanie gleichen. »Ein Mann aus einer heterosexuell unterdrückten Kultur, der in eine sexuell offenere, westliche Gesellschaft immigriert, kann eine romantische Anziehung dort wahrnehmen, wo keine ist oder normale soziale Freundlichkeit missverstehen« (Meyers 1998, S. 215). Dies gilt möglicherweise insbesondere für Männer aus traditionellen islamischen Kulturen oder Einwanderern aus dem mittleren Osten und dem arabischen Raum, die in westlichen Ländern kulturell marginalisiert sind. Ein bekanntes Beispiel, welches in den USA zu einer juristisch verankerten Pflicht für Therapeuten führte, von den Patienten gefährdete Personen zu warnen, ist der Tarasoff-Fall (Lipson u. Mills 1998; Meyers 1998).
Prosenjit Poddar stammte aus einem indischen Dorf und hatte in seiner Jugend so gut wie keinen Kontakt mit US-Amerikanern oder Europäern. Dank seiner akademischen Leistungen begann er im Herbst 1967 ein Studium im kalifornischen Berkeley. Nach einem Jahr lernte er dort in einer Tanzgruppe Tatiana Tarasoff kennen, eine weltoffene junge Frau. Die beiden freundeten sich an und Prosenjit begann, sich in die Studentin zu verlieben. Bei einer gemeinsamen Silvesterfeier küsste ihn Tarasoff. Man kann sich leicht vorstellen, welche Bedeutung ein im westlichen Kontext harmloser Kuss für den aus der Kaste der Unberührbaren stammenden Inder besitzen musste. Prosenjit begann, sich zunehmend auf Tarasoff in einem obsessiven Sinn zu fixieren und eine Art Liebeswahn zu entwickeln. Er wollte immer glauben, dass sich hinter der freundlichen Ablehnung seiner Avancen eine geheime Liebe verbarg. Als es ihm immer offenbarer wurde, dass sich keine Beziehung anbahnte, fiel Prosenjit zunehmend in eine Depression, er zog sich zu6
31 3.2 · Stalking als Folge interkultureller Fehlinterpretationen
rück und vernachlässigte seine Studien und sein Aussehen. Letztlich begann er, sich einer psychologischen und psychiatrischen Behandlung zu unterziehen; es wurden eine paranoide Störung und Borderlinetendenzen diagnostiziert. In einer abschließenden therapeutischen Sitzung äußerte Prosenjit, dass er seiner Freundin heimzahlen wolle, dass sie ihn betrogen und seine Ehre verletzt habe, und verließ wutentbrannt den Raum. Der behandelnde Psychologe benachrichtige die Sicherheitsbeamten des College und warnte, dass der junge Mann in einem gefährlichen Stadium sei und eine Studentin bedrohe. Diese suchten zwar das Gespräch mit Prosenjit, nahmen aber letztlich die Warnung nicht ernst. Schließlich suchte er, bewaffnet mit einem Schrotgewehr und einem Küchenmesser, die Wohnung von Tatiana Tarasoff auf. Er hatte die Fantasie, eine lebensbedrohliche Situation zu inszenieren, aus der er sie retten würde, damit sie das Ausmaß seiner Liebe erkennt. Tarasoff weigerte sich, mit ihm zu reden. Die Situation eskalierte, er schoss auf sie, sie floh aus dem Haus, er verfolgte sie und erstach sie mit 14 Messerstichen. Anschließend rief Prosenjit die Polizei. Im Gerichtsverfahren stellten mehrere Psychiater und Psychologen bei dem jungen Inder eine paranoide Schizophrenie fest. Es wurde außerdem ein Anthropologe gehört, um die kulturellen Hintergründe der Tat zu beleuchten. Seiner Ansicht nach hatte Prosenjit große Schwierigkeiten, sich in die Lebensform an einem amerikanischen College einzufinden. Der Kulturschock bildete den Auslöser für seine psychische Erkrankung. Tarasoff stellt für ihn die einzige funktionierende soziale Bindung dar, die er hatte. Nachdem diese scheiterte, verlor er sich endgültig in der Psychose.
Neben kulturellen Einflüssen scheint jedoch immer auch eine individuelle Vulnerabilität ausschlaggebend zu sein (Lipson u. Mills 1998). Diese wird auf einer tiefliegenden pathologischen Ebene gesehen, etwa im Sinne einer Borderlinepersönlichkeitsstruktur nach Kernberg, die sich nach außen beispielswei-
3
se in Stalkinghandlungen, depressivem Grübeln und emotionaler Instabilität zeigt. Zudem sind negative Bindungserfahrungen in der Biografie oftmals präsent. Solche Personen haben üblicherweise eine Geschichte einer frühen Deprivation oder eines Verlustes. Ihr Einstieg in die neue Kultur wird belastet durch traumatische Erfahrungen, Statusverlust und Schwierigkeiten, neue sinnvolle Rollen in dieser Kultur einzunehmen. Das Individuum schwankt zwischen der Sehnsucht nach seiner verlorenen Kultur und der stürmischen Begegnung mit den neuen Begebenheiten. Obgleich viele Formen des Kulturschocks existieren, spricht obsessives Verfolgungsverhalten dafür, dass die Person unfähig ist, mit den zahlreichen Verlusterfahrungen umzugehen, die einem Kulturwechsel inhärent sind. Das übermäßige Verfolgen des Liebesobjektes wirkt als Mechanismus, um Depressionen abzuwehren, als Schutzschild gegen Trauer und als Ersatz für Identitätsverlust. Paranoide Reaktionen gegenüber der neuen Kultur, oftmals Ausdruck der desorganisierten Phase des Kulturschocks, nehmen wahnhafte Proportionen an. (Meyers 1998, S. 216)
Auch hier, beim Entstehen von Stalking infolge eines kulturellen Umbruchs des Individuums, treten wieder frühe biografische Erfahrungen hervor. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass eine der Ursachen des Stalkings in den ersten Lebensjahren zu suchen ist, unabhängig von kulturellen Umständen.
3.3
Prominentenstalking
Wie häufig kulturelle Umbrüche eine Rolle in Fällen von Prominentenstalking spielen, ist bislang ungeklärt. Einen möglichen Hinweis, dass dies zumindest gelegentlich eine Einflussgröße darstellt, lieferte eine länger zurückliegende Studie: Hoffman (1943) fand bei psychisch kranken Personen, die auf Politiker fixiert waren, dass ein Drittel von ihnen im Ausland geboren war. Hier sollten allerdings auch zeitgeschichtliche Faktoren berücksichtigt werden, da vor und während dem zweiten Weltkrieg vermutlich ein allgemeiner Anstieg von Emigration und Flucht in
32
3
Kapitel 3 · Interkultureller Vergleich
die USA zu verzeichnen war, was zu einer Überschätzung des Effekts führen könnte. Es wurde in den Studien deutlich, dass es sich bei Prominentenstalking um ein Phänomen handelt, das nicht alleine auf westliche Kulturen beschränkt ist. Sowohl aus Thailand als auch aus Japan wurden entsprechende Fälle berichtet. Als ein kultureller Faktor, der hier maßgeblich Einfluss nehmen könnte, wurde in einer iranischen Studie die Medienberichterstattung genannt. Kordvani (2000) führte die Beobachtung, dass Prominentenstalking im Unterschied zu »normalem« Stalking im Iran kaum bekannt ist wie schon erwähnt darauf zurück, dass es in seinem Land so gut wie keine Boulevardberichte über Personen des öffentlichen Lebens gibt. Der Einfluss der Medienberichterstattung auf Stalking wird in 7 Kap. 6 empirisch untersucht.
4 Stalkingtheorien
4.1
Relationale Modelle – 34
4.2
Behaviorismus – 37
4.3
Evolutionspsychologische Ansätze – 37
4.4
Bindungstheorie – 38
4.5
Objektbeziehungstheorien – 41
4.6
Psychodynamische Theorien – 44
4.7
Kohuts Narzissmustheorie – 52
4.8
Der Fall Günter P. – 62
Bei der Erforschung obsessiver Verfolgung und Belästigung, die wie bereits ausgeführt erst Mitte der 90er-Jahre in einem nennenswerten Umfang einsetzte, ging es zunächst darum, Stalking auf einer rein phänomenologischen Ebene zu beschreiben, also beispielsweise, welche Verhaltensweisen zu beobachten sind und wie viele Menschen von Stalking betroffen sind. Typisch für die junge Disziplin war es dabei, in der Frühphase weniger die Erklärung als die Beschreibung, die Differenzierung und die Abgrenzung gegenüber verwandten Phänomenen als notwendige Grundlagenarbeit zu betrachten (Voß 2002). Dennoch wurde verblüffend selten die Frage gestellt, was sich eigentlich psychologisch hinter Stalking verbirgt. Selbst in einer der ersten richtungweisenden Monografien zu dem Thema, dem Buch Stalkers and their Victims, wird eine grundlegende theoretische Einordnung des Phänomens vermieden und gleich auf den ersten Seiten bemerkt: »Der Ansatz, den wir gewählt haben, ist zunächst und vor allem deskriptiver und phänomenologischer Natur«
(Mullen et al. 2000, S. 2). Dennoch finden sich in dem Werk einige zumindest implizite Erklärungsversuche: Studiert man die zahlreich vertretenen Fallbeispiele, so gewinnt man den Eindruck, dass die Autoren oftmals von einer Hypothese mangelnder sozialer Kompetenz und zwischenmenschlicher Nähe als zentraler Ursache für Stalking ausgingen. Gelegentlich wurde auch der Versuch unternommen, Stalking vor allem mit psychopathologischen Modellen zu erklären und in psychiatrische Kategorien einzuordnen. Derartige Versuche greifen aber hinsichtlich der Vielschichtigkeit des Phänomens zu kurz, und es bleibt auch grundsätzlich zu fragen, weshalb eine psychische Erkrankung Stalking verursachen sollte, denn es existiert kein Störungsbild, das in nahezu allen Fällen ein Handlungsmuster obsessiver Verfolgung und Belästigung mit sich bringt. Selbst der in diesem Zusammenhang viel zitierte Liebeswahn scheint regelmäßig auch ohne jede Stalkinghandlung aufzutreten (Kennedy et al. 2002).
34
4
Kapitel 4 · Stalkingtheorien
Gibt es möglicherweise auch nicht nur eine, sondern mehrere Arten von Stalking und damit auch unterschiedliche Erklärungsmodelle? Ist es deshalb vielleicht auch gar nicht sinnvoll, eine übergreifende Theorie für alle Stalkingfälle zu entwickeln? Bislang wurde vor allem versucht, das von Verliebten oder Expartnern ausgeübte Beziehungsstalking in einen psychologischen Kontext einzuordnen, nicht aber die Form des Rachestalkings, wie sie etwa gegenüber Vorgesetzten oder Nachbarn auftritt. Insgesamt lieferten vor allem die Bindungstheorie sowie psychodynamische Ansätze einen theoretischen Rahmen, unter dessen Zuhilfenahme Stalking in einem biografischen Entwicklungsansatz eingebettet wurde. Interessanterweise bleibt bei all diesen Überlegungen die Genderfrage unerwähnt, die sich beim Stalking ja in einem beträchtlichen Ungleichgewicht befindet. So scheint es auf der theoretischen Ebene noch offene Fragen zu geben, wenn man bedenkt, dass in nahezu allen Studien, zumindest in schweren Fällen, deutlich mehr Männer als Frauen auf der »Täterseite« auftreten, beide Geschlechter jedoch in der individuellen Genese des Stalkings als identisch betrachtet werden. Je nach Elternhaus machen Männer und Frauen vergleichbare Bindungserfahrungen, beide lassen sich mit ähnlichen psychodynamischen Grundkonzepten beschreiben usw., und trotz aller theoretischen Gleichbehandlung sind aggressivere Stalker in etwa 4 von 5 Fällen männlichen Geschlechts. Es lassen sich natürlich Erklärungen für diese Asymmetrie finden: Wegen ihrer Sozialisation und vielleicht zum Teil auch aufgrund ihres biologischen Hintergrundes tragen Männer häufiger Konflikte aggressiv und grenzverletzend aus, und vielfach wirken für sie Verlusterfahrungen und Zurückweisungen des anderen Geschlechtes stärker kränkend, nicht zuletzt, da unser kulturell modelliertes Männlichkeitsbild Macht, Größe und Kontrolle als identitätsstiftend suggeriert. Dennoch ist es erstaunlich, dass bis auf den evolutionspsychologischen Erklärungsansatz diese so augenscheinlich fehlende Balance unberücksichtigt bleibt. Es besteht also bei vielen der vorgestellten Modelle zumindest in einigen Punkten noch Bedarf an theoretischer Weiterentwicklung.
4.1
Relationale Modelle
In Erklärungsansätzen, die einen Schwerpunkt auf der tatsächlichen oder angestrebten Beziehungsebene zwischen Stalker und Betroffenen legen, wird eher der kommunikative Aspekt von Stalking betrachtet und weniger nach Pathologien und Defiziten auf Seiten des Verfolgers gesucht (Emerson et al. 1998; Voß 2002). Dementsprechend rückt oftmals auch das Interaktionsgeschehen zwischen beiden Parteien in den Fokus der Aufmerksamkeit. »Die Jagd (stalk) wird zu einem Schachspiel mit Zügen und Gegenzügen, welches darauf abzielt, eine Beziehung herzustellen oder wieder herzustellen, die in die Vorstellungswelt des Stalkers passt, sogar wenn die Verbindung von Zeit zu Zeit eher feindseliger als freundschaftlicher oder romantischer Natur ist« (Spitzberg u. Cupach 2003, S. 350). Die in diesem Rahmen bisher theoretisch ausgefeilteste Konzeption stammt von den US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftlern Brian H. Spitzberg und William R. Cupach. Sie entwickelten das Modell der Obsessive Relational Intrusion (ORI), was sich ungefähr übersetzen lässt als obsessive, relationale Grenzüberschreitung. In ihrer eigenen Definition bezeichnen sie ORI als »wiederholtes und unerwünschtes Eindringen in das symbolische oder physische Gefühl der Privatheit durch eine fremde oder bekannte Person, die von einer nahen Beziehung ausgeht oder diese anstrebt« (Cupach u. Spitzberg 1998, S. 234–235). ORI kann, muss aber nicht Stalking entsprechen. Es ist vielleicht am ehesten als eine Untergruppe von Stalking zu verstehen, die aber die Mehrzahl aller realen Stalkingfälle umfasst. Als erstes definitorisches Spezifikationsmerkmal stehen ORI-Handlungen meist in einem Kontext von realen oder gewünschten Beziehungen, Phänomene wie etwa das Rachestalking eines entlassenen Arbeitnehmers gegenüber seinem früheren Vorgesetzten werden somit ausgeschlossen. Als zweiter Punkt müssen ORI-Aktivitäten nicht zwangsweise als bedrohlich wahrgenommen werden, wie es in vielen Stalkingdefinitionen vorgesehen ist. Derartige Grenzverletzungen können beispielsweise von der Zielperson auch nur als ärgerlich, lästig oder anstrengend betrachtet werden. ORI deckt also eine große Spannbreite ab, die von sehr gravierenden Fällen bis zu recht leich-
35 4.1 · Relationale Modelle
tem Stalking reicht, wobei auch Übergangsbereiche in Richtung übertriebene, aber noch halbwegs im sozialen Rahmen befindliche Kontaktversuche beinhaltet sind. Was steckt nun aus kommunikationstheoretischer Sicht hinter ORI bzw. auch hinter vielen Fällen von Stalking? Zunächst sind zur Beantwortung dieser Frage einige Eigenheiten der Dynamik enger sozialer Beziehungen zu klären (Spitzberg u. Cupach 2001). So sind etwa die Ziele zweier Parteien, die in Kontakt miteinander treten, den beteiligten Akteuren auch nicht immer von Anfang an klar. Wenn man etwa eine andere Person trifft, weiß man oftmals nicht gleich, ob es bei einer flüchtigen Begegnung bleiben wird oder ob eine Freundschaft daraus erwachsen wird. Die Ziele können auch fluktuieren, wie es etwa bei manchen Paaren zu beobachten ist, die sich immer wieder trennen und erneut zusammenkommen. Oder die Akteure streben zu bestimmten Zeitpunkten unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Ziele an. Ein Beispiel hierfür wären ein Mann und eine Frau, die sich in einem Sportverein kennen gelernt haben, sich zunächst als sympathisch befanden und häufiger nach dem Sport gemeinsam ein Getränk zu sich nahmen. Als der Frau auffällt, dass der Mann sich eine romantische Beziehung erhofft, möchte sie Abstand nehmen und den Kontakt wieder lockern. Das ist jedoch nicht so einfach, denn in unserem sozialen Gefüge gilt es als sehr wichtig, einen Gesichtsverlust des anderen hierbei zu vermeiden und auch sein Selbstwertgefühl zu berücksichtigen. Das führt oft zu uneindeutigen, indirekten Absagen, die möglicherweise leicht misszuverstehen sind. An dieser Stelle wird deutlich, dass Beziehungen aufzunehmen, zu gestalten und wieder zu trennen alles andere als ein simpler, transparenter und direkter Vorgang ist, sondern der Prozess vielfach von Verwirrungen und Irritationen begleitet wird. Um auf unser Beispiel der Sportbekanntschaft zurück zu kommen, sieht das »kulturelle Skript« außerdem vor, dass die enttäuschte Partei oftmals nicht einfach aufgibt, sondern zunächst noch einige Bemühungen unternimmt, die Beziehung aufrechtzuerhalten (was von beiden Akteuren in einem gewissen Rahmen auch noch als normales Handlungsmuster angesehen wird). Der Mann wird die Frau möglicherweise noch ein paarmal anrufen, sie zum Essen einladen
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oder ihr kleine Geschenke mitbringen. Die Meinung darüber, ab welchem Punkt diese Anstrengungen als nicht mehr angemessen bewertet werden, kann zudem differieren, sodass der Übergang von Normalität hin zu Belästigung eher fließend und zu einem gewissen Grad auch abhängig von der Einstellung des Beobachters ist. Sich von klinischen oder persönlichkeitsinhärenten Erklärungsmodellen für Stalking abgrenzend, diskutieren Spitzberg u. Cupach (2001, 2003) mehrere prozesshafte Mechanismen psychologischer Natur, um den Wandel von angemessenem Kontaktverhalten hin zu obsessiven und bedrohlichen Handlungen zu beschreiben. Zum Beispiel werden bei dem kognitiven Prozess der Kopplung («linking«) geringwertigere Ziele mit höheren verbunden. Die Person glaubt, alleine durch die Umsetzung des ersten Schrittes schließlich das für sie bedeutendste Ziel zu verwirklichen. Im Kontext von Stalking kann das bedeuten, dass aus subjektiver Sicht des Stalkers bei einer solchen Zielkopplung erst eine Beziehung mit einer bestimmten Person vorhanden sein muss, bevor ein allgemeines Lebensglück möglich wird. Deshalb unternimmt der Stalker mit aller Macht den Versuch, eine Verbindung zu dem Opfer einzugehen, um dieses große Lebensziel zu erringen. Gelingt es wiederholt nicht, das wichtige Ziel zu erreichen, kommt es zu obsessivem Grübeln («obsessive rumination«). Die Gedanken kreisen um die vergeblichen Bemühungen, eine Beziehung zu etablieren, und werden als belastend erlebt. Das quälende Grübeln hört entweder dann auf, wenn das Ziel erreicht ist oder wenn es aufgegeben wird. Letzteres ist unwahrscheinlich, da ja mit der Zielereichung ein viel höheres Gut, nämlich das Lebensglück verknüpft wurde, was damit auch nicht erreicht werden würde. Der Prozess des Grübelns ist selbstverstärkend: Er intensiviert die Hingabe an das Ziel und führt damit potenziell zu einer Zunahme von Annäherungsverhalten und anderen ORI-Handlungen. Eine weitere Dynamik ist die der emotionalen Überflutung («emotional flooding«). Das Grübeln ist zunehmend mit negativen Gefühlen assoziiert. Da das Gedankenkreisen im Laufe der Zeit obsessiver wird, gewinnt auch der peinigende Affekt zunehmend an Bedeutung und Macht in der Psyche, und das Individuum wird emotional förmlich überflutet. Die starken negativen Gefühle erinnern die Person stän-
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
dig an das unerreichte Ziel und führen zu neuem Grübeln und damit, wie in einem Teufelskreis, zu einer weiteren Verschlechterung des Gefühlshaushalts. Der Mechanismus der Rationalisierung (»rationalization«) enthemmt die Aktivitäten bedrohlicher und bedrängender Natur. Das Konzept der Rationalisierung stammt ursprünglich aus der Psychoanalyse und gilt als »Abwehrmechanismus, der sich der Logik und Vernunft bedient, um Handlungen, Motive und Gefühle zu rechtfertigen, die irrational oder inakzeptabel sind« (Aiello 2000, S. 581). Auf der Wahrnehmungsebene des Stalkers bedeutet dies beispielsweise, dass er Ermutigungen für seine Annäherungen dort sieht, wo keine vorhanden sind, dass er die Irrationalität und Obsessivität seines eigenen Handelns negiert oder die Belästigung oder das Leiden des Opfers schlichtweg nicht sieht (Spitzberg u. Cupach 2001). Die relationalen Modelle lenken die Aufmerksamkeit auf Interaktionseffekte bei Stalking, eine Perspektive, die in der Forschung und Theorienbildung in diesem Gebiet lange vernachlässigt wurde (Voß u. Hoffmann 2002). In der Stalkingliteratur finden sich aber für die Dynamik des Geschehens dennoch immer wieder indirekte Hinweise auf die Rolle des Opfers. So fasst de Becker (1999) diesen Aspekt in der schlagwortartigen Aussage zusammen, dass vor allem Frauen, die nicht Nein sagen können, Opfer von Stalking werden. Eine finnische Forschergruppe (Häkkänen et al. 2003) fand, dass richterlich angeordnete Näherungsverbote in Stalkingfällen vor allem dann gebrochen werden, wenn das Opfer noch einmal Kontakt mit dem Stalker aufnimmt. Zudem existieren Hinweise auf die zentrale Bedeutung der Täter-Opfer-Interaktion aus benachbarten Forschungsbereichen. Beispielsweise kam der Psychiater Rasch bereits in den 1960er-Jahren in seiner klassischen Studie über Tötungsdelikte im Zusammenhang mit intimen Beziehungen zu folgender Schlussfolgerung: »Besonderes Gewicht erlangt auch in diesem Konflikt, dass sich der fortstrebende Partner inkonsequent verhält, das heißt, in seiner ablehnenden Haltung zumindest einmal geschwankt hat. Hieraus wird nicht nur Hoffnung auf eine Rückkehr abgeleitet, sondern auch ein »Beweis«, dass der Partner an sich zur Versöhnung bereit ist, aber von anderen gehindert wird« (Rasch 1995, S. 96). Interessanterweise beschreibt Rasch in seinen Kasuistiken
auch mehrfach Handlungen des Verfolgens und Auflauerns im Vorfeld der Gewaltakte, die in der heutigen Terminologie als Stalking bezeichnet werden würden. Allerdings scheint das Zusammenspiel zwischen Täter und Opfer meistens nur einen Aspekt der Erklärung darzustellen. Denn auch in der Psyche des Täters liegt ein Teil der Antwort. Betrachtet man die Phänomenologie vieler Stalkingfälle, so ist eine Art »neurotischer Sprung« zu beobachten von belästigenden, dennoch im Rahmen der sozialen Toleranz liegenden Verhaltensweisen hin zu obsessiven Fixierungen. Offenbar gehorchen nicht alle Stalkingvorfälle dem gleichen Muster, sondern variieren hinsichtlich ihres erklärenden Anteils in der Persönlichkeit des Verfolgers und denjenigen Interaktionen, in denen auch das Opfer eine aktive Rolle spielt. Hier finden sich Entsprechungen zu anderen Bereichen delinquenten Handelns. Beispielsweise stellte Belitz (2001) eine fünfstufige Typologie vor, in der das Verhältnis von Straftat zu Persönlichkeit in unterschiedlichen Gewichtungen auftritt. An einem Ende des Kontinuums ist die Tat als persönlichkeitsfremd gekennzeichnet. Es folgen die Stufen der durch soziale und situative Einflüsse verursachten Handlungen, des milieubedingten Verhaltens und schließlich der in der Persönlichkeitsstruktur verwurzelten Taten oder solche, die Ausdruck einer psychischen Erkrankung sind. Auch bei der Bewertung von Stalkingfällen kann es sich als hilfreich erweisen, die Anteile des Verfolgers und diejenigen auf Seiten der Beziehungsebene auseinander zu dividieren. Gerade für das Fallmanagement ist dies häufig von Bedeutung. Hier liegt für Betroffene die Möglichkeit, direkten Einfluss auf das Handeln des Stalkers zu nehmen, und sei dies auch nur durch das Ausbleiben irgendeiner Reaktion auf die Aktivitäten des Täters. Den Opfern ist dabei häufig nicht bewusst, welchen stabilisierenden Einfluss ihre Rückmeldungen und Kontaktversuche besitzen. Eine solche ganzheitliche Sicht im Umgang mit Stalking gewinnt zunehmend an Aufmerksamkeit: Stalking ist fast immer ein Drama, aufgeführt von 2 Menschen, die in einer Beziehung von Konflikt und Unstimmigkeit miteinander verbunden sind, wenngleich diese Beziehung gelegentlich auch 6
37 4.3 · Evolutionspsychologische Ansätze
ausschließlich in der Einbildung und Fantasie des Stalkers aufgebaut wurde. Deshalb erfordert eine umfassende Risikoeinschätzung in Stalkingfällen die Untersuchung des Verhaltens und des Wesens sowohl des Täters als auch des Opfers. Zudem sollte der soziale und kulturelle Kontext sorgsam betrachtet werden, in dem das Drama spielt. (Mullen u. MacKenzie 2004, S. 54)
4.2
Behaviorismus
Der Versuch, das Phänomen Stalking umfassend und grundsätzlich lerntheoretisch einzuordnen, wurde bisher nicht unternommen. Es gibt jedoch einige wenige Vorschläge, wie die Paradigmen des Behaviorismus herangezogen werden können, um zumindest Teilaspekte von Stalking besser zu verstehen. Es gelang letztlich aber nicht, eine weitergehende Fachdiskussion anzufachen und entsprechende theoretische Überlegungen weiterzuführen. Westrup (1998) schlug das Konzept der funktionalen Verhaltensanalyse vor, um Einzelfälle von Stalking zu betrachten und ggf. individuell ausgerichtete Interventionsstrategien zu entwickeln. Obgleich ein wissenschaftlicher Erklärungsansatz für Stalking hier ausdrücklich nicht angestrebt wurde, ist eine theoretische Fundierung zumindest implizit vorhanden. Demzufolge ist Stalkingverhalten zielgerichtet und zumeist durch die zu erwartenden Konsequenzen (etwa positive oder negative Verstärker) in einem spezifischen Kontext determiniert. In einem detailliert verhaltensanalytisch betrachteten Fallbeispiel bewertet Westrup (1998) beispielsweise Zuwendung und Aufmerksamkeit als Gewinn für die Stalkinghandlungen. Mit dem Skinner’schen Konzept des »extinction burst« (Verhaltensexplosion im Löschungsprozess) lässt sich mit den Mitteln des Behaviorismus beispielsweise vergleichsweise elegant erklären, weshalb ein plötzlicher konsequenter Kontaktabbruch mit dem Stalker zunächst zu einer Intensivierung des belästigenden Verhaltens führt, bevor eine Abnahme und schließlich eine Beendigung einsetzt. Dietz (persönl. Mitteilung, Juli 2001) sieht zumindest bei einigen Stalkingfällen den Ursprung des Verhaltens in der Lerngeschichte im Elternhaus. Den Stalkern wurden demnach die sozialen Regeln
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für zwischenmenschliche Kontaktaufnahmen von ihren Eltern nicht vermittelt; sie sind u. a. auch deshalb auf einer emotionalen, eher unreifen Entwicklungsstufe stehen geblieben. Treten sie nun in Kontakt mit für sie interessanten oder attraktiven Personen, dann nehmen sie die ihnen dort oftmals entgegentretende höfliche Zurückweisung nicht wahr. Aufgrund ihrer defizitären Lerngeschichte sind sie schlichtweg nicht in der Lage, die sozialen Signale der Ablehnung richtig zu entschlüsseln. Sie setzen stattdessen ihre Kontaktversuche unbeirrt fort, denn sie nehmen Ausreden wie etwa »Ich bin zur Zeit sehr mit Arbeit beschäftigt« wörtlich. Erfolgt dann nach wiederholten vergeblichen Abgrenzungsversuchen seitens der verehrten Person schließlich eine klare und vielleicht etwas harschere Zurückweisung, reagieren diese Stalker nicht selten mit Unverständnis und Wut. Sie nehmen dies als Verrat wahr, hatte doch der andere sich in ihrer Lesart zunächst offen gegenüber ihrer Kontaktaufnahme gezeigt. Insgesamt betrachtet können lerntheoretische Überlegungen brauchbare Modelle bereitstellen, um einige Aspekte von Stalking zu beschreiben und auch praxisrelevante Ableitungen für den konkreten Einzelfall vorzunehmen. Bedenkt man jedoch die außergewöhnliche Dynamik und Vielgestaltigkeit dieses Phänomens, erscheint der Behaviorismus zumindest beim aktuellen Stand der Diskussion nicht geeignet, das Phänomen zufriedenstellend theoretisch einzuordnen.
4.3
Evolutionspsychologische Ansätze
Der evolutionspsychologische Ansatz betont, dass sich psychische Eigenschaften ebenso wie organische Beschaffenheiten als Anpassungsleistung in der Stammesgeschichte herausgebildet haben. Demnach handelt es sich bei Stalking »um eine Extremform vor allem männlicher Sicherungsstrategien, das Verhalten der Partnerin maximal zu kontrollieren, die Partnerin von der Umwelt abzuschirmen und »antizipierter Untreue« zuvorzukommen« (Brüne 2005). Eine detaillierte Darstellung des evolutionspsychologischen Ansatzes im Zusammenhang mit Stalking findet sich im Kapitel »Erotomanie« (7 Abschn. 7.5).
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38
Kapitel 4 · Stalkingtheorien
4.4
Bindungstheorie
Psychodynamisch und bindungstheoretisch ausgerichtete Modelle stellen die bisher ausgereiftesten Erklärungsansätze für die biografische Entstehung von Stalking dar. Obgleich es bisher keine spezielle Theorie aus diesem Bereich für Stalking gibt, weisen die verschiedenen Konzeptionen doch in dieselbe Richtung und stehen eher ergänzend zueinander, als dass sie sich gegenseitig ausschließen. Es entspricht dem allgemeinen Trend, dass sich die eher empirisch ausgerichteten Bindungstheorien und die psychoanalytischen Ansätze, deren Vertreter sich lange in getrennten Lagern zum Teil recht kritisch gegenüberstanden, nun verstärkt theoretisch aneinander zu bereichern versuchen (Fonagy 2003). Allen Überlegungen gemeinsam ist die Vorstellung, dass der Ausgangspunkt einer Fehlentwicklung hin zum Stalking biografisch früh anzusiedeln ist. Es ist das Nichtzustandekommen einer engen und vertrauensvollen Beziehung zu einer Bindungsperson, die als zentral angesehen wird. Dieser Mangel verhindert, dass das Kind bestimmte sozial-emotionale Reifungs- und Entwicklungsschritte in zufriedenstellender Form zu vollziehen vermag. Es entsteht dadurch ein struktureller Mangel in der Persönlichkeit des Betroffenen. Im Erwachsenenalter kann der kindliche Konflikt aber auch wieder aktiviert werden, vorzugsweise in einem Kontext, der Ähnlichkeiten mit der frühen defizitären Situation aufweist, wie beispielsweise eine intime Beziehung oder ein Trennungs- und Verlusterleben. Als eine mögliche Reaktion erfolgt dann ein dysfunktionales Annäherungs- und Kontaktverhalten oder Wuthandlungen aus dem Gefühl heraus, vernachlässigt zu werden, Verhaltensmuster also, welche in der heutigen Terminologie als Stalking bezeichnet werden. Grob unterteilt lassen sich neben der im Folgenden abgehandelten Bindungstheorie die Bereiche Objektbeziehungstheorie (7 Abschn. 4.5) und psychodynamische Modelle mit einem Schwerpunkt auf Narzissmus- und Borderlinephänomenen (7 Abschn. 4.6) unterscheiden, mit deren Hilfe Stalkingverhalten bislang erklärt wird (Meloy 1992; Kienlen 1998; Voß u. Hoffmann 2002). Die Objektbeziehungstheorien sind dabei jedoch auch den psychoanalytischen Theorien zugehörig. Wie aufgezeigt werden wird, fließen die verschiedenen Ansätze bei
der Einordnung einzelner Stalkingphänomene ineinander. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass der Aufbau einer engen und stabilen Beziehung im frühen Kindesalter zu einer primären Bezugsperson, meist der Mutter, für die weitere Persönlichkeitsentwicklung von zentraler Bedeutung ist (Bowlby 1975). Das Bestreben, eine Bindung zu einer Pflegeperson einzugehen, ist biologisch verwurzelt und dient dazu, dass das Kleinkind, das noch nicht alleine lebensfähig ist, Unterstützung, Nahrung und Schutz erhält. Bindung wird über ein angeborenes Verhaltenssystem aufgebaut, das sich reziprok zwischen Kind und Mutter entwickelt. Auf Seiten des Kindes kann sich Bindungsverhalten etwa in Weinen, Schreien oder in Blickkontakten ausdrücken, auf Seiten der Mutter durch betreuende und tröstende Handlungen. Auf der emotionalen Ebene stellt Bindung eine dauerhafte und tiefe Beziehung zu einer bestimmten anderen Person dar, die von positiven Gefühlen, wie Freude, begleitet wird, bzw. bei einer Trennung Trauer und Schmerz verursachen kann. Diese frühen Bindungserfahrungen prägen aber auch die Interaktionen im Erwachsenenalter, indem »die ursprünglich erworbene Bindungsqualität und die darauf aufbauenden Erfahrungen mit anderen Bezugspersonen zu einer Art ›Beziehungsmodell‹ verdichtet werden (Bowlby spricht hier von einem Arbeitsmodell), anhand dessen spätere Beziehungen – zu Erwachsenen oder zu den eigenen Kindern – gebildet werden« (Voß u. Hoffmann 2002, S. 9). In den Arbeitsmodellen wird dabei zum einen das Bild des Anderen – also wer Bindungsfiguren sind, wie sie reagieren und wie zuverlässig sie sind – als innere Repräsentanz aufgebaut. Zudem schreibt sich hier aber auch die Vorstellung über das Selbst als interagierendes Wesen fest, d. h. wie akzeptabel oder unakzeptabel man selbst als Individuum für eine andere Bindungsfigur ist. Kommt beispielsweise die Pflegeperson dem Bedürfnis des Kindes nach Schutz und Betreuung nach und akzeptiert sie zugleich dessen Wunsch, die Umwelt selbständig zu erkunden, dann wird das Kind vermutlich ein Arbeitsmodell eines geschätzten und vertrauenswürdigen Selbst entwickeln. Befriedigt die Pflegeperson dagegen diese Grundbedürfnisse des Kindes nicht, dann entsteht wahrscheinlich ein Arbeitsmodell, welches das Selbst als wertlos und sozial inkompetent zeichnet.
39 4.4 · Bindungstheorie
Es ist auch möglich, dass mehrere Arbeitsmodelle parallel bestehen. Teilweise oder vollständig unbewusste Arbeitsmodelle auf relativ einfachem Niveau, die in den ersten Lebensjahren gebildet wurden, können im Erwachsenenleben plötzlich dominieren und andere, besser entwickelte Modelle verdrängen. Dies ist vor allem bei Personen zu beobachten, die früh emotional schwierige Bindungserfahrungen gemacht haben (Bowlby 1976). Zusammengefasst heißt dies, dass die kindliche Erfahrung über sich und die Betreuungsperson, in der Regel die Mutter, sich konkret über den Weg der inneren Arbeitsmodelle auf das Gefühlsleben des Erwachsenen in Beziehungen auswirkt. Das emotionale Erleben in tiefen Beziehungen mit anderen Menschen ist damit maßgeblich als Funktion des Bindungsapparates zu verstehen. Das Eingehen einer intimen Beziehung ist mit dem Gefühl der Liebe verbunden. Der Verlust eines Partners verursacht Leid, eine drohende Trennung löst Angst und Sorge aus, wobei beide Zustände auch zu Wut führen können (Bowlby 1980). Es ist nun das Bindungsverhalten, das mit einem realen oder antizipierten Verlust einhergeht, welches als ein psychologischer Hintergrund für Stalking angesehen wird. Da das Ziel von Bindungsverhalten darin besteht, eine emotionale Beziehung aufrecht zu erhalten, löst jede Situation, die die Beziehung gefährdet, Handlungen aus, um den Status quo zu erhalten. Je größer die Gefahr eines Verlustes erscheint, desto intensiver und vielfältiger sind die Bemühungen. Unter solchen Umständen werden die mächtigsten Formen von Bindungsverhalten aktiviert – klammern, weinen und möglicherweise aggressiv Druck ausüben. (Bowlby 1980, S. 42)
Dieser Prozess vermag die Stalkingdynamik zu erklären, bei der das Objekt der Zuneigung zunächst zahlreiche Liebesbeweise erhält. Erzielen die Briefe, Anrufe und die persönlichen Kontaktversuche nicht den gewünschten Effekt, kann das (Bindungs-)Verhalten umschlagen in Drohungen, Beschimpfungen oder sogar Gewalt, um eine Beziehung zu erhalten (Kienlen 1998). Die Bindungstheorie gibt auch Hinweise, die die oftmals verblüffende Dauer von Stalking und zu-
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gleich die sich oftmals wiederholenden Wechsel von ausgeprägten Stalkinghandlungen und Inaktivität erklärt. Wenn der Versuch, die Bindung zu bewahren, wie auch immer scheitert, lassen die Anstrengungen irgendwann nach. Aber normalerweise verschwinden sie nicht. Im Gegenteil: Die Erfahrung zeigt, dass in vermutlich länger währenden Intervallen der Versuch, die Beziehung wieder herzustellen, erneuert wird. Schmerz und Kummer und eventuell auch der Drang nach Annäherung werden von neuem erlebt. (Bowlby 1980, S. 42)
Allerdings soll nicht unerwähnt bleiben, dass eine neue Bindung zu einem anderen Menschen den Widerholungsdrang beendet, der Stalker also sozusagen die Zielperson seiner emotionalen Aufmerksamkeit wechseln kann.
Bindungstypen In ihrer klassischen Studie identifizierten Ainsworth et al. (1978) mehrere grundlegende Arten der Bindung von Kindern an ihre Mütter. Im sog. FremdeSituation-Test wurde das Verhalten der Kinder untersucht, wenn in einer standardisierten Abfolge ein Fremder eintritt, die Mutter den Raum verlässt und anschließend wieder zurückkehrt. Hierbei zeigten die Kinder je nach Bindungstyp unterschiedliche Reaktionen: 4 Kinder mit einer unsicher-vermeidenden Bindung (A-Typ) geben sich relativ ungerührt, wenn die Mutter weggeht, ignorieren diese aber bei ihrer Rückkehr und meiden ihre Nähe. 4 Kinder mit einer sicheren Bindung (B-Typ) vermissen die Mutter während ihrer Abwesenheit ohne zu verzweifeln und freuen sich sichtbar, wenn sie wieder den Raum betritt. 4 Kinder mit einer unsicher-ambivalenten Bindung (C-Typ) weinen heftig, wenn sie von ihrer Mutter alleine gelassen werden. Bei ihrer erneuten Anwesenheit reagieren sie zwiespältig, sie wirken wütend und suchen entweder Körpernähe oder widerstreben auffällig den Kontaktversuchen der Mutter.
40
Kapitel 4 · Stalkingtheorien
4 Kinder mit einer desorganisiert-desorientierten
Bindung (D-Typ) reagieren extrem widersprüchlich, indem sie beispielsweise auf die Mutter zulaufen und dann abrupt die Richtung wechseln und wegrennen. Auch stereotype, sich wiederholende Handlungsmuster treten gelegentlich auf.
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Diese Muster sind über die Entwicklungspsychologie hinaus interessant, da sich Hinweise darauf finden lassen, dass sich je nach Bindungstyp in der späteren Biografie gehäuft klinische und delinquente Auffälligkeiten zeigen bzw. dass das Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter durch die Art der frühen Bindung beeinflusst werden kann. Dabei gilt beispielsweise ein sicherer Bindungstyp als Schutzfaktor hinsichtlich negativer Persönlichkeitsentwicklungen. Daraus lässt sich ableiten, dass unsichere Bindungserfahrungen sowohl für Psychopathologien als auch für die Genese von Stalkingverhalten mit verantwortlich sein können. Eine Weiterentwicklung erfuhr das Modell durch Bartholomew (. Tab. 4.1). Ihre modifizierte Bindungsstiltypologie ist hier insofern von Interesse, da sie speziell für Untersuchungen von delinquentem Verhalten wie Vergewaltigungen (z. B. Rutrecht et al. 2002), häuslicher Gewalt (z. B. Dutton et al. 1994; Meloy 2002b) und Stalking eingesetzt wurde. Das Kategoriensystem ist anhand der beiden Dimensionen Selbstbild und Fremdbild strukturiert und unterscheidet 4 verschiedene Bindungstypen. Kienlen (1998) ordnete den 3 Bindungsstilen mit negativen Komponenten für Stalking typische Muster und Dynamiken zu. Den »gesunden« sicheren Bindungsstil klammert sie aus, da sie eine Bindungspathologie als eine der grundlegenden Ursachen für Stalking ansieht. Ängstlich-ambivalente Bindung. Dies ist vermut-
lich der bei Stalkern am häufigsten auftretende Bin-
dungstypus (Meloy 1996). Personen mit diesem Bindungsstil besitzen ein negatives Selbstbild, haben aber zugleich eine positive Wahrnehmung von anderen, weshalb sie Bestätigung von außen suchen. Stalker mit einem solchen psychologischen Hintergrund möchten bei der Person, auf die sie fixiert sind, unbedingt Anerkennung finden. Allerdings ist hier zugleich eine gefährliche Vulnerabilität erkennbar. Denn die Furcht, abgewiesen zu werden, und ihr eigenes Gefühl der Wertlosigkeit können zu aggressiven Reaktionen und Feindseligkeit gegenüber dem Opfer führen. Ängstlich-vermeidende Bindung. Wie auch bei dem ängstlich-ambivalenten Typus haben diese Stalker eine negative Selbstwahrnehmung und beschäftigen sich exzessiv mit den Themen Zurückweisung und Verlassenwerden, haben jedoch prinzipiell keine positiven Erwartungen von ihrem ersehnten Bindungspartner: »Sie wünschen sich sozialen Kontakt und Intimität, fühlen aber gleichzeitig ein tiefes Misstrauen gegenüber dem anderen und haben Angst vor Zurückweisung« (Bartholomew 1990, S. 164). Stalker mit einer solchen Bindung oszillieren zwischen Gefühlen von Abhängigkeit und Angst vor Zurückweisung. In dieser Gruppe wäre auf Verhaltensebene auch ein eher distanzierteres Stalkingmuster vorstellbar, welches sich bevorzugt durch ein aus der Ferne Agieren auszeichnet, bei dem ein direkter persönlicher Kontakt vermieden wird, z. B. in Form von Beobachten oder Briefschreiben. Gleichgültig-vermeidende Bindung. Ein Mensch mit diesem Bindungstypus hat Zweifel an dem Wert einer Beziehung und agiert oftmals feindselig. Er gilt in seiner Umwelt als unnahbar und kalt. Da er viel Wert auf Unabhängigkeit legt, geht er meist solche Beziehungen ein, in denen er wenig emotionale Nähe zeigen muss. In dieser Gruppe finden sich gehäuft Stalker mit einer antisozialen bzw. psychopa-
. Tabelle 4.1. Bindungsmodell nach Bartholomew (Bartholomew 1990; Bartholomew u. Horowitz 1991)
Positives Fremdbild Negatives Fremdbild
Positives Selbstbild
Negatives Selbstbild
Sicher (secure) Gleichgültig-vermeidend (dismissing)
Ängstlich-ambivalent (preoccupied) Ängstlich-vermeidend (fearful)
41 4.5 · Objektbeziehungstheorien
thischen Persönlichkeitsakzentuierung. Sie leben nicht selten Gefühle von Rache und kalter Wut gegenüber dem Opfer aus, was das Risiko einer gewalttätigen Eskalation in sich birgt.
Fazit Bemühungen, verschiedene Bindungstypen mit spezifischen Mustern von Stalking in Übereinstimmung zu bringen, stehen noch relativ am Anfang. Dennoch zeichnet sich ab, dass eine solche Perspektive möglicherweise ein wichtiges Teil eines Puzzles darstellt, welches zu einer differenziellen und psychologisch fundierten Betrachtung des weitgefächerten Phänomens Stalking beitragen könnte. Eine problematische Bindungserfahrung alleine erklärt pathologisches Verhalten im Erwachsenenalter vermutlich nicht ausreichend (Fonagy 2003). Weitere belastende Faktoren müssen hinzukommen, doch kann der Grundstein für das spätere Stalkingverhalten schon hier gelegt werden.
Empirische Befunde Eine der ersten Studien, die den Zusammenhang zwischen Erfahrungen in der Herkunftsfamilie und Stalkinghandlungen zu beleuchten versuchte, wurde von Kienlen et al. im Jahr 1997 durchgeführt. Sie untersuchten eine relativ kleine Stichprobe von 25 Personen, die wegen Stalking vor Gericht standen und forensisch begutachtet wurden. Dabei fand sich, dass fast 2 Drittel der Täter (63%) in ihrer Kindheit den Verlust oder Wechsel einer Bezugsperson erlebt hatten. Gut die Hälfte (55%) berichtete, sexuell oder physisch von einer Pflegeperson missbraucht worden zu sein. Die Autoren vermuteten, dass solche frühen Erfahrungen zu einer ängstlich-ambivalenten Bindung führen können und somit zu einer Genese von Stalking beitragen. Eine weiterer Befund war, dass in den Monaten vor Einsetzen des Stalkings in 80% aller Fälle ein oder mehrere signifikante Stressoren auftraten. Dabei handelte es sich zumeist um eine Verlusterfahrung, wie das Ende einer Beziehung (48%), der Verlust eines Arbeitsplatzes (48%), die Trennung von einem Kind (28%) oder der Tod bzw. die schwere Erkrankung eines Elternteiles (8%). Unfähig, mit Verlust umzugehen, diente möglicherweise das Bin-
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dungsverhalten in Form von Stalking als Copingstrategie, um eine innere Leere zu überwinden oder Wut auszuagieren. Andere Studien erfassten mit Hilfe von speziellen Fragebögen die Bindungserfahrung von Collegestudierenden und setzten diese in Verbindung mit Stalkingverhalten nach Trennungen, welches ebenso abgefragt wurde. In einer Untersuchung von Langhinrichsen-Rohling et al. (2002) zeigte sich beispielsweise, dass ängstliche bzw. unsichere Bindungsstile sowohl Einfluss auf die Anzahl der Stalkingverhaltensweisen hatten als auch auf ihre Schwere. Mehrere von der US-amerikanischen Forschungsgruppe um Davis durchgeführte Studien (Davis et al. 2002; Dye u. Davis 2003) ergaben ebenfalls, dass derartige Bindungsmuster als Vorhersagefaktor für das Auftreten von Stalking Bedeutung hatten. Lewis et al. (2001) fanden Unterschiede im ambivalenten, nicht aber im vermeidenden Bindungsstil zwischen Stalkern und Nichtstalkern, ein Ergebnis, das die oben aufgeführte Hypothese Meloys (1996) stützt, dass der ambivalente Typus bei Stalkern am häufigsten auftritt. Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass die Samples durchweg aus relativ jungen Menschen bestanden, sodass die Generalisierbarkeit auf Stalker mit einem höheren Lebensalter noch nicht gesichert ist. In der Zusammenschau stützen die Ergebnisse die Vorstellung, dass Bindungserfahrungen einen Faktor in der biografischen Entstehung von Stalking darstellen. Allerdings sollte man, wie bereits erwähnt, vorsichtig sein, dies als alleinige Ursache anzusehen, da in den Studien zusätzlich auch andere Variablen, wie etwa Kontrollverhalten oder Eifersucht, eine Rolle dabei spielten, ob eine Person Stalkinghandlungen zeigte.
4.5
Objektbeziehungstheorien
Der Aufstieg der Objektbeziehungstheorien signalisierte eine grundlegende Wende in der psychoanalytischen Theorienbildung. Die Perspektive wandelte sich vom Modell eines primär durch Triebkräfte und den daraus resultierenden Konflikten geformten Individuums hin zu einem Bild, das die Erfahrungen mit anderen als grundlegend ansieht.
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
Hierin zeigt sich eine bedeutsame Veränderung in der Erforschung des Menschen; denn es besagt nicht nur, dass menschliches Verhalten sich aus Beziehungen nährt, sondern auch, dass die menschliche Psyche wesenhaft beziehungsorientiert ist. Der »Stoff« aus dem die Seele ist, hat weniger mit libidinösen Antrieben und psychischer Energie, als mit der Verinnerlichung von Beziehungen zu tun. Um verstehen zu können, was Menschen motiviert und wie sie sich selbst sehen, muss man verstehen, wie Beziehungen verinnerlicht und wie sie in ein Selbst verwandelt werden. (Cashdan 1990, S. 39 f.)
Weshalb nun der scheinbar eher auf leblose Dinge hinweisende Begriff »Objekte«? Die Wahl des Ausdrucks lässt sich alleine aus der durch Freud geprägten Historie der Psychoanalyse herleiten. Konkret meint Objekte jedoch für die eigene Biografie zentrale Personen und deren psychologische Bedeutung. »Der Terminus ›Objekt‹ bezeichnet hier keinen ›Gegenstand‹, kein Ding, sondern allgemein eine andere Person, zu der eine Beziehung hergestellt wird, im Unterschied zum ›Subjekt‹, hier das Kind« (Voß u. Hoffmann 2002, S. 9). Die Idee der Objektbeziehungstheorie besteht darin, dass der Mensch seine Persönlichkeit in enger Verbindung mit anderen, vor allem den Bindungspersonen, entwickelt. Das geschieht, indem das Kind die Erlebnisse mit den Eltern in die eigene Struktur einbaut und zu einer zentralen Grundlage der eigenen Identität macht. Dabei spielen sog. Repräsentanzen – innere mentale Bilder von anderen – eine Schlüsselrolle. Aus dieser Perspektive betrachtet leben also wortwörtlich die uns prägenden Personen unseres Lebens in uns fort. Die Repräsentanzen spiegeln unsere emotional geprägten Erfahrungen wider, wobei sie nicht immer nur ein Gesamtbild der anderen wichtigen Person, z. B. der Mutter, umfassen. Sie können auch ausschließlich Teilaspekte, etwa nur besonders positive oder negative Beziehungserfahrungen mit der Mutter, abbilden. Es ist sogar möglich, dass mehrere Repräsentanzen ein und derselben Person nebeneinander bestehen. Ein Beispiel für eine solche Parallelität wird unten bei der Schilderung des Prozesses der Spaltung vorgestellt.
Entwicklungstheorie von Mahler Mahler et al. (2003) haben durch detaillierte Beobachtungen von Kindern (im Alter von wenigen Monaten bis 3 Jahren und darüber) und deren Interaktionen mit ihren Müttern ein Modell des Entstehens von Objektbeziehungen entwickelt. Dabei unterschieden sie mehrere Phasen, wobei jene der »Loslösung und Individuation«, die auch als »psychische Geburt des Menschen« bezeichnet wird, eine Schlüsselrolle zukommt. Hier ist biografisch möglicherweise auch der Ausgangspunkt für späteres Stalkingverhalten zu erkennen (Kienlen 1998). Der Prozess der »Loslösung und Individuation« beginnt im 4.–5. Lebensmonat und dauert etwa bis zum 3. Lebensjahr. Dabei treten insgesamt 4 Subphasen auf. In der ersten Phase der Differenzierung erfährt das Kind durch die Entwicklung der Wahrnehmungssinne erstmalig das Getrenntsein zwischen sich und der Mutter. In der mit knapp einem Jahr einsetzenden Phase der Übung kommt das Kind körperlich in die Lage, sich durch Klettern und Krabbeln von der Mutter zu trennen. Das fördert ein Gefühl der Unabhängigkeit. Dennoch ist es für das Kind wichtig, von den Erkundungen regelmäßig zur Mutter zurückzukehren, um dort »emotional aufzutanken«. An dieser Stelle findet sich auf theoretischer Ebene eine direkte Brücke zur Bindungstheorie von Bowlby und dessen Konzept der »sicheren Basis«. Die dritte Phase der Wiederannäherung ist vermutlich direkt relevant für die Entstehung von Stalking. Das Kind weiß hier schmerzlich um die Getrenntheit von der Mutter; es fühlt Trennungsangst und sucht ihre Nähe, der Konflikt zwischen Loslösung und Individuation ist deutlich sichtbar. Hier tritt in Kombination mit dem gegensätzlichen Verhalten des Weglaufens regelmäßig das Phänomen des »Beschattens« auf, wobei »das Kind die Mutter unablässig beobachtet und jeder ihrer Bewegungen folgt« (Mahler et al. 2003, S. 102). Die äußere Übereinstimmung mit bestimmten Stalkinghandlungen ist augenfällig. Somit könnte an dieser Stelle eine Chronifizierung entwicklungspsychologisch ursprünglich normaler Handlungen stattfinden, die später in Form von Stalking Ausdruck finden. Mahler et al. weisen auch explizit auf Gefahrensignale des ungesunden »Beschattens« bei einem negativen In-
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teraktionsverlauf zwischen Mutter und Kind hin sowie auf dessen mögliche negative Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes: Doch je weniger emotional verfügbar die Mutter zur Zeit der Wiederannäherung ist, desto beharrlicher, ja, verzweifelt, versucht das Kind, um sie zu werben. In manchen Fällen zieht dieser Prozess so viel von der dem Kind zur Verfügung stehenden Entwicklungsenergie ab, dass als Folge davon nicht genug Energie, nicht genug Libido und nicht genug konstruktive (neutralisierte) Aggression für die Entfaltung der höheren Ich-Funktionen übrigbleiben. (Mahler et al. 2003, S. 105).
Es scheint, dass hier der Grundstein für eine Borderlinepersönlichkeitsstruktur im Kernberg‘schen Sinne gelegt werden kann (Kernberg 1998), aber ebenso ist eine Übereinstimmung mit bestimmten Formen narzisstischer Fehlentwicklungen, wie sie von Kohut beschrieben wurden, erkennbar (die Modelle dieser beiden Autoren werden im Folgenden genauer vorgestellt). Wenn es der Mutter nicht gelingt, das Kind empathisch zu unterstützen, während es die Wiederannäherungssubphase durchläuft und die Ambivalenz zwischen Verschmelzung und Autonomie ihren Höhepunkt erreicht, bricht die kindliche Omnipotenz schließlich zusammen. Es kommt zu einer Fixierung, und der Verzicht auf Allmacht und narzisstische Stärkung des Selbst von innen (durch autonome Aktivitäten) geraten in Gefahr. Solche Individuen haben kein klares Bild von sich selbst oder von ihren Objekten, wollen Objekte möglicherweise vermeiden oder kontrollieren, suchen nach Symbiosen mit einem vollkommenen Objekt, und es fällt ihnen schwer, Kritik, Rückschläge oder Widersprüche zu ertragen, die ihr Bild von anderen in Frage stellen. (Fonagy 2003, S. 83)
In dieser Phase tritt der bereits zuvor in der Entwicklung untergründig angelegte Mechanismus der Spaltung zutage. Die Suche nach Nähe bei der Mutter einerseits und die damit einhergehenden Trennungsängste auf der anderen Seite, die zu Abwehrreaktionen gegenüber der Bezugsperson und auch zu einer Abwertung und aggressiven Zurückweisung
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führen können, gehen mit einer Aufspaltung der Objektwelt in gut und böse einher. Auf diese Weise wird die widersprüchliche Erfahrung des Kindes, dass die Mutter sowohl die gute als auch die böse Person repräsentieren kann, psychisch verarbeitet. Nicht richtig aufgelöst kann dieser Widerspruch auch in der Psyche des erwachsenen Menschen immer wieder aktiviert werden: Überreste von Konflikten aus der Subphase der Wiederannäherung zeigen sich bei der Borderlinegruppe in Form von hartnäckiger Sehnsucht nach der Mutter und der gleichzeitigen Furcht vor einer Verschmelzung mit ihr sowie in der fortgesetzten Spaltung von Selbst- und Objektrepräsentanzen; diese Faktoren wirken kumulativ und verhindern die Entstehung von Objektkonstanz und Identität. Die Suche nach einer »total guten« Mutter setzt sich das ganze Leben hindurch fort, und zwanghaftes Klammern und pessimistischer Rückzug verhindern die Herstellung einer »optimalen Distanz« (Fonagy 2003, S. 84).
In der abschließenden Phase der Individualität und der emotionalen Objektkonstanz geht es dann um die Auflösung der früheren Entwicklungskrisen und die Verinnerlichung jener ebenso schmerzhaften wie produktiven Auseinandersetzungen, was schließlich die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes maßgeblich vorantreibt. Es gilt die Vereinigung von gutem und bösem Objekt zu einer Gesamtrepräsentanz zu vollziehen (Mahler et al. 2003). Das Ziel ist der Aufbau einer stabilen inneren Repräsentanz der Mutter und damit eines autonomen Selbst. Gelingt das nicht, dann bleibt das Kind von der physischen Präsenz der Mutter abhängig, um sich sicher zu fühlen, und ist nicht in der Lage, ein autonomes Selbstwertgefühl aufzubauen. Als Erwachsener wird der Mechanismus der Spaltung weiter eingesetzt und auf Personen der Umgebung wird entweder strafend und zurückweisend oder unangemessen entgegenkommend reagiert (Cashdan 1990). Die Arbeit von Mahler et al. stellt einen Bezugsrahmen her, um in frühen Entwicklungsstufen auf einer Mikroebene die Genese von Stalking zu untersuchen. Es scheint durch weitere konzeptionelle Überlegungen möglich, eine theoretische Verbindung mit der Bindungstheorie, aber auch mit ande-
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
ren psychodynamischen Modellen wie denen von Kernberg und Kohut herzustellen. Ideengebende Anstöße und eine theoretische Fundierung von künftigen Forschungen über die biografische Entstehung von Stalking wirken vor diesem Hintergrund vielversprechend.
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4.6
Psychodynamische Theorien
Theorien mit Schwerpunkt auf Narzissmus- und Borderlinephänomenen Obwohl die Arbeiten von Autoren wie Otto Kernberg und eingeschränkt Heinz Kohut auch dem Bereich der Objektbeziehungstheorien zugeordnet werden können, soll hier in einem eigenen Abschnitt vertieft auf die moderneren psychodynamischen Modelle eingegangen werden. Allerdings können die sehr komplexen theoretischen Gebäude in diesem Rahmen nur verkürzt bzw. ausschnitthaft und zum Teil auch vereinfacht dargestellt werden. Die Konzeption der Borderlinepersönlichkeitsstruktur und neue theoretische Vorstellungen zum Narzissmus spielen eine zentrale Rolle in der Diskussion um die Entstehung von Stalking.
Freuds Narzissmusbegriff Der Begriff Narzissmus geht auf eine griechische Sage zurück. Darin verliebt sich ein außergewöhnlich schöner Jüngling namens Narzissos in sein eigenes Bild, das sich in einem See spiegelt. Schließlich stirbt er, da er sich von der Position der Selbstverliebtheit nicht lösen kann, worauf hin ihn die Götter in eine Narzisse verwandeln. Obgleich er den Begriff zuvor schon an mehreren Stellen erwähnt hatte, gilt Freuds vielbeachteter Aufsatz »Zur Einführung des Narzissmus« aus dem Jahr 1914 als Geburtsstunde des Narzissmus in der Psychoanalyse. Freud unterscheidet zwischen einem primären und einem sekundären Narzissmus. Der primäre Narzissmus wird als normales Durchgangsstadium des Kleinkindes beschrieben, in dem das eigene Wesen libidinös besetzt wird. Problematisch ist dagegen der sekundäre Typus. Er stellt eine Regression, also eine Rückkehr auf eine biografisch frühe Phase dar. Die libidinöse Energie wird wieder
von den Objekten, beispielsweise den Bezugspersonen, abgezogen und auf sich selbst gerichtet. Das Individuum wird dadurch quasi »asozialer«, weitere Folgen können etwa Suchtproblematiken sein. Freud beschreibt einen narzisstischen Typus, der liebt »a) was man selbst ist (sich selbst), b) was man selbst war, c) was man selbst sein möchte, d) die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war« (Freud 1914, S. 56). Mit dieser Perspektive bringt Freud auch Homosexualität und Narzissmus in Zusammenhang. Der Homosexuelle liebe einen gleichgeschlechtlichen Partner, da er ihm ähnlicher sei. Die Theorie Freuds zum Narzissmus gilt heute insgesamt als überholt, obgleich noch immer einige ihrer Teilkonzepte einflussreich bleiben.
Borderlinepersönlichkeitsstruktur bei Kernberg Mit der Borderlinepersönlichkeit beschreibt Kernberg (1998) eine Ich-Störung, die ein charakteristisches Strukturniveau aufweist. Sie ist zwischen der neurotischen und der psychotischen Persönlichkeitsorganisation angesiedelt. Der biografische Hintergrund besteht in einer sehr frühen Neigung zu übermäßiger Aggression, die sowohl auf ein kindliches Trauma als auch auf angeborene Triebe zurückzuführen sein kann (Kernberg 1984). Die daraus resultierenden innerpsychischen Konflikte beeinflussen die Entwicklung des Selbst, der Objektrepräsentanzen und der Abwehrmechanismen. Am Ende steht eine stabile pathologische Ich-Struktur, bei der die Fähigkeit zur Realitätsprüfung weitgehend vorhanden ist. Im klinischen Sinne sprechen wir von Borderlinepatienten, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die erhebliche Schwierigkeiten in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen und auch gewisse Störungen in der Realitätswahrnehmung aufweisen, ohne dass jedoch die Realitätsprüfung wesentlich beeinflusst wäre. Wir finden bei solchen Patienten weiterhin widersprüchliche Charakterzüge, ein chaotisches Nebeneinander von direkt erlebten primitiven »Es-Inhalten« und Abwehrbildungen dagegen im bewussten Erleben, eine Art von Pseudoeinsicht in tiefere Bereiche der eigenen Persönlichkeit ohne echte Betroffenheit 6
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und ohne ein Bewusstsein für die damit verbundenen Konflikte, schließlich eine mangelhaft ausdifferenzierte Identität und eine Empathiestörung, d. h. ein fehlendes tiefes Verständnis für andere Menschen. Anstelle von Abwehrmechanismen vom Typ der Verdrängung überwiegen hier primitivere Abwehrformen; insbesondere beobachtet man ein Alternieren voneinander dissoziierter gegensätzlicher Ich-Zustände als Hinweis darauf, dass hier frühe pathologische verinnerlichte Objektbeziehungen gleichsam in »unverdauter«, unassimilierter Form bestehen geblieben sind. Außerdem weisen diese Patienten »unspezifische« Anzeichen von Ich-Schwäche auf: eine mangelhafte Impulskontrolle, eine mangelhafte Angsttoleranz, mangelhaft entwickelte Sublimierungen und das Auftauchen primärprozesshafter Denkweisen. (Kernberg1998, S. 189)
Der Begriff Borderlinepersönlichkeitsstruktur darf allerdings nicht automatisch gleichgesetzt werden mit der Borderlinepersönlichkeitsstörung, wie sie in im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) beschrieben ist. Die Borderlinepersönlichkeitsstruktur bildet Kernberg zufolge sozusagen den Urgrund, aus dem sich die Borderline- oder eine andere Persönlichkeitsstörung wie die narzisstische oder die antisoziale herausbilden kann. Kernberg (1977) schätzt, dass 11–15% der allgemeinen Bevölkerung eine Borderlinepersönlichkeitsstruktur aufweisen, hiervon jedoch nur zwischen 10 und 25% unter einer manifesten Borderlinepersönlichkeitsstörung leiden. Zentrales Merkmal der Borderlinepersönlichkeitsstruktur ist der bereits beschriebene Abwehrmechanismus der Spaltung, der aufgrund seiner ursprünglich frühkindlichen Natur als vergleichsweise primitiver Mechanismus gilt. Normalerweise wird die Spaltung nach dem ersten Lebensjahr durch reifere Abwehrmechanismen wie die Verdrängung oder die Reaktionsbildung ersetzt, sodass wie bereits ausgeführt ein spezifisches Entwicklungsdefizit das Pathologische der Borderlinepersönlichkeit bedingt. Spaltung ist ein dissoziativer Prozess, der z. B. schwer vereinbare Gefühle wie Wut und Liebe gegenüber einer bestimmten Person aktiv trennt. In der Terminologie Kernbergs wird von einem aktiven Auseinanderhalten konträrer Introjektionen und Identifi-
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zierungen gesprochen. Ein Beispiel hierfür wäre, dass das Bild der gütigen, versorgenden Mutter von dem der strafenden, kalten Mutter abgespalten wird. »Das vielleicht bekannteste Spaltungsphänomen ist die Aufteilung äußerer Objekte in »total gute« und »total böse« (bzw. »total schlechte«), wobei ein Objekt seinen Charakter von einem Extrem zum anderen ganz abrupt und total verändern kann, indem sämtliche Gefühle und Vorstellungen über die betreffende Person von einem Moment auf den anderen völlig ins Gegenteil umschlagen.« (Kernberg 1998, S. 50). Mit dem Konzept der Spaltung lässt sich aus psychodynamischer Sicht erklären, weshalb seitens des Stalkers die Verehrung plötzlich in Wut bis hin zu aggressiven Attacken umschlagen kann. Eine solche Dynamik lässt sich vor allem dann erkennen, wenn sich Täter und Opfer persönlich kennen, wenngleich es auch Beispiele aus dem Bereich des Prominentenstalking gibt. So betete der Stalker Roberto Bardo die Schauspielerin Rebecca Schaeffer zunächst geradezu an, bevor sich seine Zuneigung in Hass wandelte und er den TV-Star ermordete. Er hatte in einem Film eine Szene gesehen, in der Schaeffer mit einem männlichen Darsteller im Bett lag. Seine zuvor verehrenden Briefe bekamen einen drohenden Ton. Mit Hilfe eines Privatdetektivs machte er die Privatwohnung der Schauspielerin ausfindig. Kurz bevor er dort hinfuhr und Rebecca Schaeffer erschoss, rief Bardo noch einmal seine Schwester an und sagte ihr, er werde seine Mission erfüllen und »Schaeffer aufhalten, ihr unschuldiges Kinderwesen aufzugeben und eine herumhurende Erwachsenen-Bildschirm-Nutte zu werden« (zit. nach Saunders 1998). Das spaltungstypische Umkippen eines Bildes von Unschuld in Sünde zeigte sich auch in einer späteren Äußerung Bardos gegenüber seinem Gerichtspsychiater: »Da sie eine Hure war, berief mich Gott, sie zu strafen.« Gemeinsam mit Spaltungsvorgängen treten bei der Borderlinepersönlichkeitsstruktur häufig noch ein oder mehrere andere Abwehrmechanismen auf, wobei drei weitere herauszuheben sind, da sie potenziell Erklärungswert für das Phänomen Stalking aufweisen. Bei der primitiven Idealisierung werden Personen zu übermächtigen, unrealistischen und »nur guten« Objekten gemacht. Sie sollen Menschen mit einer Borderlinepersönlichkeit innerpsychisch vor
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
einer gefährlichen Welt schützen. Damit stellt dies ebenfalls einen Mechanismus dar, der die frühen aggressiven Impulse kontrollieren soll, die zum Teil auf die Außenwelt projiziert werden, die deshalb als feindselig wahrgenommen wird. Eine weitere Funktion der primitiven Idealisierung liegt in der Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse, indem die Borderlinepersönlichkeit an der Allmacht und Größe der idealisierten Figuren teilhaben kann. Mit dem theoretischen Modell kann die Anziehungskraft von Prominenten, die sich von ihrem Wesen her gut für Idealisierungen eignen, erklärt werden. Die Abwehrmechanismen Allmacht (Omnipotenz) und Entwertung treten häufig in einer Art Wechselwirkung miteinander auf. So herrscht zeitweise der Wunsch vor, eine enge Beziehung mit einem idealisierten, überhöhten Objekt aufzunehmen, gelegentlich sind jedoch zudem die eigenen Fantasien und Handlungen der Borderlinepersönlichkeit von Allmachtsgefühlen erfasst (Kernberg 1998). Auch diese Mechanismen haben wie die primitive Idealisierung die innerpsychische Funktion, vor feindseligen Objekten Schutz zu gewähren. Interessanterweise wirken solche Persönlichkeiten nach außen hin häufig unsicher und voller Selbstzweifel. Erst hinter dieser Fassade lassen sich die Allmachtsund Größenfantasien erkennen, die durch die Identifizierung mit idealisierten Objekten entstehen. Auffällig sind dabei außerdem Gefühle des Stolzes und der Berechtigung, dass andere die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen haben. Der Prozess der Entwertung tritt dann ein, wenn das idealisierte Objekt keine Bedürfnisbefriedigung oder keinen Schutz mehr bietet. Mit diesen Modellen kann der scheinbare Widerspruch zumindest teilweise aufgelöst werden, dass viele Prominentenstalker sozial schüchtern und zurückgezogen erscheinen, zugleich jedoch nicht selten narzisstischen Größenfantasien in der imaginierten Verbindung mit der berühmten Persönlichkeit anhängen.
Borderlinepersönlichkeit nach Meloy Meloy (2002a) zieht das psychodynamische Modell der Borderlinepersönlichkeit heran, um Gewalttätigkeiten von Stalkern theoretisch einzuordnen. Dabei zielt er nicht alleine auf die spezifischen Abwehrmechanismen dieser Persönlichkeitsstruktur ab, sondern auch auf weitere Charakteristika.
Die für die Borderlinepersönlichkeitsstruktur typischen Teilobjektrepräsentanzen legen nahe, dass die Arbeitsmodelle des Selbst und der anderen vergleichsweise einfach und polarisiert aufgebaut sind. In der inneren Welt der Objektrepräsentanzen sind dadurch ambivalente Wahrnehmungen und parallel vorhandene, widersprüchliche Gefühle nicht möglich. Auf einer solchen intrapsychischen Basis können sich Fantasien des Stalkers entwickeln, die das Objekt (sprich etwa das weibliche Opfer) als fast schon übernatürliche Schönheit sehen und es als perfekten, vom Schicksal auserwählten Partner wahrnehmen. Weist das Opfer dann den Stalker zurück, werden abwertende Arbeitsmodelle sowohl des Selbst als auch des Objektes aktiviert, und weder er selbst noch die von ihm bedrängte Frau verdienen es aus seiner Sicht, weiterzuleben. Eine solche Dynamik kann den psychologischen Hintergrund für schwerste Gewalttaten bilden. Störungen in der Realitätsprüfung führen
dazu, dass bei Borderlinepersönlichkeiten die wahrgenommene Grenze zwischen internen und externen Stimuli gelegentlich verschwimmt. Das kann zur Folge haben, dass eigene Wahrnehmungen und Gefühle einer anderen Person zugeschrieben werden. Empfindet ein Stalker mit einer derartigen Störung in der Realitätsprüfung beispielsweise Wut und Rache gegenüber der von ihm verfolgten Person, so ist es möglich, dass er glaubt, dass in Wirklichkeit die Rollen vertauscht sind und sein Opfer ihm gegenüber aggressive Gefühle hegt. Daraufhin kann sich der Stalker selbst bedroht fühlen, was möglicherweise wiederum eine Steigerung seiner eigenen Gewaltbereitschaft bewirkt. Es gibt Fallbeispiele aus dem Bereich des Prominentenstalking, die als Diffusion seitens des Täters in der Zuschreibung der Herkunft von eigenen Emotionen und Handlungen interpretiert werden können. In einem Interview mit dem forensischen Psychiater Park Dietz etwa beschrieb der mit einer paranoiden Schizophrenie diagnostizierte Stalker Arthur Jackson seine Perspektive auf die von ihm begangene Gewalttat. Jackson hatte die Schauspielerin Theresa Saldana im Jahr 1982 ohne Vorwarnung auf der Straße attackiert und mit 10 Messerstichen schwer verletzt. Er war der wahnhaften Überzeugung, dass beide für ein Zusammenleben im Jenseits bestimmt sind.
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P. Dietz: Warum haben Sie auf sie eingestochen? A. Jackson: Es war eine göttliche Eingebung … aber die Mächte der Dunkelheit gingen dazwischen … Ich folgte meinem Instinkt und ich habe positives, blindes Vertrauen in Gott … Es war spiritueller Liebeskummer und göttliche Eingebung … Es war immer ästhetisch und platonisch … Was wäre, wenn es genau anders herum gewesen wäre? War sie wirklich das Opfer und ich der Angreifer? (Dietz 1988, zit. nach Meloy 1992)
Hier tritt deutlich eine Irritation Jacksons zu Tage, wer nun in Wirklichkeit der Aggressor und wer das Opfer gewesen ist. Empirische Befunde. Es gibt empirische Hinweise, dass Borderlinepersönlichkeiten unter Stalkern gehäuft zu finden sind. So fragten Lewis et al. (2001) 240 Collegestudenten nach Stalkingverhaltensweisen und testeten zugleich persönliche Charakteristika wie Empathiefähigkeit, Problemlösefähigkeiten und Borderlinepersönlichkeitsmerkmale. Letztere waren unter anderem durch die Bereiche Impulsivität, Labilität, instabile zwischenmenschliche Beziehungen und unkontrollierbare Wut operationalisiert und wiesen damit deutliche Überschneidungen zu Kernbergs Konzeption auf. Ein Vergleich zwischen den 9% der Probanden, die als Stalker klassifiziert wurden, und dem Rest der Stichprobe ergab einen signifikanten Unterschied in der Häufigkeit von Borderlinepersönlichkeiten. 42% der Stalkinggruppe erhielten eine derartige Zuordnung im Vergleich zu 11% in der Kontrollgruppe.
Konzept der masochistischen Persönlichkeit Die von Kernberg als depressiv-masochistisch bezeichnete Persönlichkeit lebt ihre Charakterstruktur nicht zwangsweise auf der Ebene der Sexualität aus, sondern ist eher als eine spezifische Persönlichkeitsstruktur zu verstehen denn als Kennzeichnung für eine bestimmte Form der Perversion. Dabei sind Kernberg (1992) zufolge 3 Bestimmungselemente
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für die depressiv-masochistische Persönlichkeitsstörung charakteristisch: 4 Merkmale, die auf ein unnachgiebiges Über-Ich hinweisen; 4 Merkmale, die eine starke Abhängigkeit von der Liebe, Wertschätzung und Unterstützung anderer Menschen zeigen; 4 Merkmale, die Schwierigkeiten beim Äußern von Aggressionen verraten. In der biografischen Genese dieser Persönlichkeiten vermutet Kernberg (1995) geschlechtsspezifische Verläufe: Männer, die sich einer Frau unterwerfen, reaktivieren die frühe Fantasie von einer sexuellen Beziehung mit der mächtigen und erdrückenden Mutter. Dabei versuchen sie erneut, für die daraus resultierende ödipale Schuld zu büßen und beleben die narzisstische Fantasie wieder, der Penis des kleinen Jungen könnte die Mutter in gleicher Weise befriedigen wie der des Vaters. Frauen greifen dagegen auf die unbewusste Fantasie zurück, das primäre Sexualobjekt des zum einen mächtigen, bedrohlichen und distanzierten, zum anderen verführerischen Vaters zu sein. Dabei entsteht die Vorstellung, Schuld zu sühnen durch erzwungene Unterwerfung, sexuelle Erniedrigung und Verlassenwerden. In ihren Liebesgefühlen haben masochistische Frauen oft ein negativ prägendes Erlebnis in der Adoleszenz, indem sie einen idealisierten und zugleich unerreichbaren oder sie enttäuschenden Mann verehren. Die Erfahrung wird sozusagen zum Leitmotiv, das sie in späteren Bindungsversuchen immer wieder aktivieren. Sie sind im späteren Leben nicht in der Lage, die Fixierung auf den perfekten, aber nicht zugänglichen Mann zu überwinden und eine realitätsangepasstere Partnerwahl zu treffen. Bei masochistischen Männern ist die Dynamik eine andere: Sie bleiben in dem jugendtypischen Muster von »Madonna und Hure« gefangen, indem sie die von ihnen geliebte Frau übermäßig idealisieren und dabei zugleich Gehemmtheit und einen Mangel an Selbstbehauptung zeigen, einhergehend mit der unbewussten Tendenz, Rivalen das Feld zu überlassen sowie das eigene Scheitern zu provozieren. Die so geprägten Persönlichkeiten verharren in einer unerfüllten, aber als perfekt angesehenen Liebe, ohne die Realität anzuerkennen und weiterzugehen, um ihr Glück auf einem anderen Weg zu su-
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chen. Stattdessen findet immer wieder eine Reinszenierung dieser Konfiguration statt.
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Bei Männern wie bei Frauen steigert unerwiderte Liebe die eigene Liebe, anstatt sie abzuschwächen, wie das bei der gesunden Trauer geschieht. Man kann bei masochistischen Männern und Frauen über die Jahre hinweg eine Tendenz beobachten, sich in Menschen zu verlieben, die als Partner nicht in Frage kommen, oder sich einem idealisierten Partner in übertriebener Weise unterzuordnen […], während sie die Möglichkeit von anderen Beziehungen verwerfen, die unter Umständen viel befriedigender sein könnten. (Kernberg 1995, S. 199)
Eine solche Beschreibung lässt sich gut auf viele Prominentenstalker übertragen, die oftmals in ebenso unerfüllter wie nicht zu entmutigender Sehnsucht ihren Star verehren.
Kernbergs Narzissmusmodell Narzissmus wird von Kernberg (1987) als eine normale oder pathologische Regulation des Selbstwertgefühls bzw. der Selbstachtung begriffen. In seiner pathologischen Ausprägung ist er als Abwehrstruktur im Zusammenhang mit einer Selbstwertstörung zu verstehen (Hartmann 1997). Den psychologischen Hintergrund bilden ähnlich wie bei der Borderlinepersönlichkeit frühe aggressive Konflikte und einfache Abwehrmechanismen, wie beispielsweise die Spaltung. In der Herkunftsfamilie soll es oftmals eine Mutterfigur geben, die äußerlich gesehen zwar gut funktioniert, zugleich aber auch intern Härte, Indifferenz und mürrische Aggression ausstrahlt (Kernberg 1998). Unter solchen Bedingungen stellen sich beim Kind oftmals Gefühle von Frustration und Aggression ein. Viele narzisstische Persönlichkeiten haben zudem bereits früh eine herausragende Eigenschaft besessen, die in ihrem Umfeld Bewunderung hervorrief, wie eine besondere physische Attraktivität oder ein sportliches oder musikalisches Talent. Diese Besonderheiten wurden dann kompensatorisch ausgebaut, um dem Gefühl, im Grunde ungeliebt zu sein und nur auf Neid und Hass zu stoßen, etwas entgegenzusetzen. Kernberg (1998, S. 261 ff.) beschreibt den narzisstischen Charakter als extrem selbstbezogen im
sozialen Umgang und beherrscht von dem Bedürfnis, geliebt und bewundert zu werden. Auf den ersten Blick erscheinen »aufgeblähtes« Selbstbewusstsein einerseits und Verlangen nach äußerer Bestätigung andererseits wie ein Widerspruch; der scheinbare Gegensatz lässt sich jedoch durch die innerpsychische Struktur gut erklären. Narzissten besitzen wenig Einfühlungsvermögen in andere und reagieren oft mit Neid auf positive Erfahrungen ihrer Mitmenschen. Sie haben den Hang, Personen, von denen sie narzisstische Zufuhr erhoffen, stark zu idealisieren und andere, von denen sie nichts mehr erwarten – häufig ihre früheren Idole – zu entwerten. Ihr zwischenmenschliches Verhalten weist oftmals ausbeuterische Züge auf. Narzissten können eine Borderlinepersönlichkeitsausprägung aufweisen, dies muss aber nicht zwangsweise der Fall sein. Grundsätzlich tritt der pathologische Narzissmus in verschiedenen Schweregraden auf (Kernberg 1987). Im leichtesten Fall ist eine Regression auf einen normalen infantilen Narzissmus zu beobachten, gefolgt von der sog. narzisstischen Objektwahl, in der – ähnlich bereits von Freud beschrieben – ein anderer Mensch in der Art geliebt wird, wie man selbst geliebt werden wollte. Als schwerste Form gilt die narzisstische Persönlichkeitsstörung mit den drei klinischen Hauptcharakteristika pathologische Selbstliebe, pathologische Objektliebe und ein unentwickeltes Über-Ich. Einige narzisstische Persönlichkeiten zeigen hierbei eine besonders schwere Über-Ich-Pathologie, die von Kernberg (1992) als »maligner Narzissmus« bezeichnet wird. Die Kernmerkmale des Syndroms sind 4 antisoziales Verhalten, 4 ich-syntoner Sadismus sowie in der Persönlichkeit verankerte Aggression, 4 paranoide Tendenzen. Unter schweren Gewalttätern sollen sich gehäuft Individuen mit einer Persönlichkeitsstruktur des malignen Narzissmus finden. Dies wird beispielsweise insbesondere bei Sexualmördern vermutet (Geberth u. Turco 1997; Haller 1999). Maligner Narzissmus bildet dagegen bei Stalkern eher die Ausnahme, da analog zu der Persönlichkeitskonfiguration der Psychopathie gerade keine Bindungsfähigkeit vorhanden ist und dementsprechend durch Verlusterfah-
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rungen kaum Konflikte ausgelöst werden können, die Stalking initiieren. Die seltene Gruppe von Stalkern mit einer solchen aggressiven Form des Narzissmus nutzen wiederholte Belästigungen und Psychoterror oftmals als Machtmittel im Sinne instrumenteller Gewalt oder zur sadistischen Bedürfnisbefriedigung, oder es kommt auch zum Ausleben aggressiver Impulse. Allerdings scheint es auch – zumindest auf den ersten Blick – positiv eingefärbte und zunächst nicht aggressive Annäherungsversuche von narzisstischen Charakteren zu geben. Im Kern verbirgt sich jedoch auch hier wieder der Versuch, ein mangelndes Selbstwertgefühl zu kompensieren. Ein derart entwertetes Selbstkonzept lässt sich besonders bei narzisstischen Patienten beobachten, die die Menschheit in zwei Kategorien aufteilen: einerseits die berühmten, reichen, bedeutenden Menschen und auf der anderen Seite der verächtliche und wertlose »Durchschnitt«, das »Mittelmaß«. Solche Patienten sind ständig darum bemüht, selber auch zu den Großen, Reichen und Mächtigen zu gehören und fürchten andauernd, es könnte sich herausstellen, dass sie auch nur »mittelmäßig« sind, was für sie nicht nur »durchschnittlich« im üblichen Sinne heißt, sondern praktisch gleichbedeutend ist mit einer wertlosen und verächtlichen Existenz. (Kernberg 1998, S. 269)
Der Narzisst bewundert also häufig außergewöhnliche »ruhmreiche« Personen. Im Innersten erlebt er sich dabei als Teil der verehrten Person bzw. sieht er den anderen als Erweiterung seiner selbst. Es besteht also keine echte Objektbeziehung, sondern der Anschluss an den begehrenswerten Menschen dient allein der narzisstischen Befriedigung. So wird die bewunderte Person dann auch sofort fallengelassen, falls sie verschwindet oder aus irgendeinem Grund ihren herausragenden Status verliert. Das Anschlussmotiv an eine Bedeutung und Größe ausstrahlende prominente Persönlichkeit kann zunächst in einer fantasierten Beziehung Ausdruck finden und zu einem späteren Zeitpunkt auch in Stalkinghandlungen. Insgesamt betrachtet erscheint Kernbergs Modell des Narzissmus aber nicht zufriedenstellend als Erklärung für Stalkingverhalten. Der Narzisst, des-
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sen zentrales Charakteristikum hier die Selbstbezogenheit ist, ist vermutlich nicht immer ausdauernd genug für eine länger anhaltende Fixierung auf eine andere Person. Folgt man Kernbergs Vorstellungen, führt ein Mangel an narzisstischer Gratifikation mehr oder weniger rasch zu einer Abwertung, und stattdessen wird eine neue Quelle der Zufuhr von Anerkennung gesucht. Zwar ist es häufig so, dass Prominentenstalker »Serientäter« sind, doch wäre ihre Frequenz des Wechselns vermutlich zu langsam, um den drängenden narzisstischen Bedürfnissen zu genügen. Somit kann festgehalten werden, dass Kernbergs Metapsychologie an vielen Stellen eine theoretische Fundierung und Erklärung des Phänomens Stalking ermöglicht, wobei sich nicht so sehr das Narzissmusmodell, sondern vor allem die Konzeption der Borderlinepersönlichkeitsstruktur als gewinnbringend erweist.
Meloys psychodynamische Stalkingkonzeptionen Der bereits erwähnte forensische Psychologe J. Reid Meloy gilt als Pionier und führender Theoretiker in der Übertragung psychodynamischer Modelle auf Stalking. Dabei beeindruckt er durch die Vielzahl der eingearbeiteten Quellen und Konzepte aus der Literatur; häufig greift er dabei auch die Arbeiten Kernbergs und in einem geringeren Maße die von Kohut auf. Interessant und anregend ist Meloys andauerndes Bestreben, aktuelle empirische Ergebnisse aus der Stalkingforschung, die ja meist beschreibender Natur sind, aus psychoanalytischer Sicht zu beleuchten und dadurch mit Theorie anzureichern. Ein Beispiel hierfür ist der Befund, dass schwere Gewalt in einem Kontext von Exbeziehungsstalking oftmals impulsiver Natur ist und sich aus der Situation bzw. Interaktion mit dem früheren Partner entwickelt. Angriffe von Stalkern auf Personen des öffentlichen Lebens sind hingegen in aller Regel eher vorbereitet und geplant. Meloy (2002a) bringt dies mit unterschiedlichen Formen von pathologischem Narzissmus auf Seiten der Stalker in Verbindung. Prominentenstalker besitzen demnach häufig strukturierte Größenfantasien. Sie imaginieren den Anschlag und die Bedeutung und Aufmerksamkeit im
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Voraus, die ihnen als Täter zuteil wird. Zugleich fühlen sie sich für ihr Handeln berechtigt und zeigen wenig Mitgefühl mit ihrem Opfer. Psychische Begleiterscheinungen sind oft Angstgefühle und Depressionen, aber auch Neid, der sich in dem Wunsch widerspiegelt, die Größe der prominenten Person zu zerstören. Der Narzissmus des »normalen« Stalkers lässt sich passender als freischwebend bezeichnen. Seine Größenfantasien sind stärker an das gegenwärtige Handeln angeschlossen, sodass er verwundbarer für Zurückweisungen oder Kritik ist. Meloy (1998, 1999b) entwickelte ein eigenes dynamisches Ablaufmodell, das auch den häufig bei Stalking zu beobachtenden Umschwung von Liebe und Verehrung hin zu Hass und Aggression erklärt (. Abb. 4.1). Dabei unterscheidet er insgesamt 6 Phasen: 1. Zunächst formt ein Individuum eine narzisstische Bindungsfantasie zu einem anderen MenNarzisstische Bindungsfantasie: Besonders geliebt, idealisiert, bewundert werden; überlegen, für die Person bestimmt sein
Aktuelle oder permanente Ablehnung
Gefühle von Scham und Demütigung
Wütende Verteidigung
Verstärkung von Belästigungshandlungen: Verletzen, kontrollieren, schädigen oder zerstören
Speicherung narzisstischer Bindungsfantasien . Abb. 4.1. Dynamisches Stalkingablaufmodell nach Meloy (1999b)
schen. Die narzisstische Qualität offenbart sich dabei beispielsweise in Gefühlen einer besonderen, auserwählten oder idealisierten Liebe. Solche Empfindungen dürfen aber nicht per se pathologisiert werden, sie treten bei vielen Menschen auf, wenn sie sich verlieben und sich hoffnungsvollen Zukunftsaussichten hingeben und können motivieren, um den anderen zu werben. Allerdings scheinen Stalker insgesamt anfälliger für narzisstische Größenvorstellungen zu sein und sich auch häufiger in grandiosen Fantasien, etwa in Form eines vorbestimmten, gemeinsamen Schicksals zu verlieren. 2. Problematisch in dem Zyklus kann es dann werden, wenn das Individuum beginnt, seine Fantasie in Handlung umzusetzen und versucht, sich anzunähern oder Kontakt aufzunehmen. Hier entsteht von Zeit zu Zeit tatsächlich eine emotionale und sexuelle Beziehung, wenn die begehrte Person aus dem sozialen Nahbereich stammt. Bei Fällen der Kontaktsuche mit Prominenten werden persönliche Antwortschreiben oder signierte Autogrammkarten von den Stalkern oftmals als Zeichen einer wirklichen gegenseitigen Beziehung fehlinterpretiert. Nicht selten kommt es aber auch zu einer Zurückweisung von Seiten der verehrten Person. Dies ist für den Kontaktsuchenden meist mit einem Gefühl von Leid und Enttäuschung verbunden. Bei normalen Liebesbeziehungen wird sich der Abgewiesene oder auch Verlassene nach einer Phase von Trauer, Schmerz und Wut nach einem anderen Partner umsehen. Der Fan, der sich eine private Beziehung mit dem Star erträumt, wird beim Ausbleiben der erhofften Reaktion zum einen den Prominenten hinsichtlich seiner Bedeutung und Einzigartigkeit psychologisch herabstufen. Zusätzlich kann er die negative Antwort unter Einsatz psychischer Abwehrmechanismen, wie beispielsweise der Rationalisierung auch umdeuten und ihr die potenziell verletzende Schärfe nehmen (Meloy 1998). All diese Umgangsweisen bewegen sich im Bereich der Normalität und weisen auf eine vergleichsweise reife Verarbeitung von Abweisungen hin. 3. Aufgrund seiner narzisstischen Persönlichkeitsstruktur erlebt der Stalker dagegen eine solche Zurückweisung von der verehrten Person als ex-
51 4.6 · Psychodynamische Theorien
trem kränkend. Es entstehen Gefühle der Scham oder der Erniedrigung. 4. Die für ihn untolerierbaren Emotionen der Scham und Herabsetzung, die sein Selbstwertgefühl massiv angreifen, werden von manchen Stalkern schließlich mit Wut abgewehrt. Hier ist Kohuts Konzept der narzisstischen Wut, auf das im Folgenden genauer eingegangen wird, für das Verständnis einer solchen Dynamik hilfreich. Zugleich wird die kurz zuvor noch verehrte Person stark abgewertet. Hierbei handelt es sich um den Versuch, das Verlustgefühl und die Desillusionierung hinsichtlich der narzisstischen Bindungsfantasien, aber auch eventuell auftretende Eifersucht in Zaum zu halten. Bei ausreichender Entwertung kann der Stalker den anderen schließlich sogar zumindest vordergründig als unwürdig für eine Beziehung mit ihm betrachten. 5. Die Gefühle der Wut und der Verachtung erwecken das Bedürfnis, den anderen zu verletzen, zu kontrollieren oder sogar zu zerstören. Auf Verhaltensebene schlägt sich dies oftmals in aggressivem Stalking nieder. 6. Die letzte Phase in Meloys Modell wirkt auf den ersten Blick paradox und ist am schwierigsten zu verstehen. Nachdem es dem Stalker gelungen ist, das Opfer zu schädigen bzw. klein zu machen, vermag er die narzisstische Bindungsfantasie erneut zu errichten. Der Versuch der psychologischen Demontage des anderen kann im Extremfall sogar die Tötung des Opfers beinhalten. Die reale Person hatte ja den Kontakt des Stalkers abgelehnt und damit den mit Grandiosität aufgeladenen Wunsch einer außergewöhnlichen Beziehung zerstört. Sie stellt somit einen aversiven Stimulus oder negativen Verstärker dar — oder auf andere Weise ausgedrückt: Das Verhalten des wirklichen Menschen zerbricht die Fantasiebeziehung des Stalkers mit derselben Person. Ist das reale Opfer nun symbolisch, psychisch oder physisch zerstört, dann ist erneut Raum für die Fantasie. Meloy versucht diese Dynamik am Beispiel des Falles des Exfootballstars O.J. Simpson zu verdeutlichen, der – obwohl er seine Unschuld beteuerte – in einem zivilrechtlichen Prozess der Ermordung sei-
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ner früheren Frau Nicole Brown und ihres neuen Freundes schuldig gesprochen wurde. In mehreren Interviews gab es Äußerungen von Simpson, die als verdeckte Bestätigung für eine Dynamik im Sinne von Meloys Modell gewertet werden können. So sagte der frühere Sportstar einmal: »Nehmen wir einmal an, ich hätte diese Tat begangen … es wäre geschehen, weil ich sie sehr geliebt hatte, nicht wahr« (zit. nach Meloy 1999b, S. 89). In einem anderen Gespräch berichtete er von Träumen, die psychologisch möglicherweise auf eine Wiederherstellung einer narzisstischen Bindungsfantasie verweisen. »Sie kommt von Zeit zu Zeit zu mir in meinen Träumen und es ist immer ein positiver Traum. Gelegentlich träume ich dann auch, dass ich im Alleingang den Fall löse.« In der Realität war das Verhältnis von Simpson und seiner früheren Frau übrigens am Ende von Gewalttätigkeiten, Streit und ihrer Angst vor dem Exfootballstar geprägt (Näheres zum Simpson-Fall findet sich in 7 Kap. 12). Mit Meloys Konzeption lassen sich bestimmt nicht alle Stalkingphänomene beschreiben. Beispielsweise müsste, um die häufig auftretende oszillierende Dynamik bei Stalkern, die zwischen Verehrung und Wut immer wieder hin und her pendelt, zu erklären, der komplette Ablauf der Phasen immer wieder neu durchlebt werden. Tatsächlich existiert mit dem Kreislauf der Gewalt (»circle of violence«) ein ähnliches Modell für den Bereich der häuslichen Gewalt, und immer wieder weisen Autoren auf den häufigen Zusammenfall zwischen häuslicher Gewalt, Stalking und dynamischen Ablaufmodellen von Idealisierung, Annäherung und Aggression hin (Dutton u. Golant 1995; Baldry 2002). Eine eindeutige Stärke von Meloys Schema ist, dass es die Dynamik eines Stalkingfalles en detail im Längsschnitt erfasst. Bis auf die relationalen Modelle bleiben die meisten theoretischen Einordnungen eher auf einer globalen Beschreibungsebene stehen. Es wäre überlegenswert, ob Meloys Konzept und das relationale Modell nicht in Ergänzung betrachtet werden könnten, bietet das erstere doch eine Erklärung für die zusätzliche neurotische Qualität, die sich meist noch jenseits der Interaktionseffekte zwischen Stalker und Opfer findet.
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52
Kapitel 4 · Stalkingtheorien
4.7
Kohuts Narzissmustheorie
Der Psychoanalytiker Heinz Kohut entwarf ein Entwicklungsmodell der narzisstischen Störung, unter dessen Blickwinkel sich auch das Phänomen des Stalkings untersuchen lässt. Mit der von ihm initiierten Selbstpsychologie wird ein theoretischer Bezugsrahmen geboten, mit dem sich sowohl die biografische Genese als auch die strukturellen psychischen Besonderheiten bei Stalkern beleuchten lassen. Bislang wurden nur isoliert herausgelöste Fragmente von Kohuts Modell für eine tiefere psychologische Untersuchung obsessiver Verfolgung und Belästigung herangezogen, und dies auch nur in einigen wenigen Beiträgen (z. B. Meloy 1992, 1998, 2002a); eine grundsätzliche Einordnung stand bislang noch aus. Im Unterschied zu der Kernberg‘schen Theorie sieht Kohut den erwachsenen Narzissmus nicht als pathologisch an bzw. unterscheidet er nicht grundsätzlich zwischen krankhaften und nichtkrankhaften Formen. Narzisstische Fehlentwicklungen, die von Kernberg als pathologische Abwehrstruktur konzipiert sind, beschreibt er stattdessen als Versuche des Selbst, strukturelle Mängel auszugleichen, sozusagen sich selbst zu ergänzen oder zumindest funktionsfähig zu halten (Kohut 1999). Wir haben es hier also nicht mit einer primären Vorstellung der Repression von gefährlichen Konflikten zu tun, sondern mit dem aktiven Bestreben, die Psyche in ein Gleichgewicht zu bringen. Sein zentraler Begriff des Selbst ist, wie Kohut selbst bereitwillig zugab, schwer zu definieren und zu fassen, obgleich die Bezeichnung »Selbstpsychologie« stellvertretend für das gedankliche Gebäude Kohuts steht. Vielleicht lässt sich das Selbst in der alltäglichen Wahrnehmung am ehesten als das sowohl in der Außenwelt sichtbare als auch in der Introspektion erfahrbare Wesen eines Menschen beschreiben. Das Selbst ist dazu motiviert, eine sich selbst vorantreibende, eigene Richtung zu verfolgen und der Persönlichkeit eine zentrale Bestimmung zu verleihen, die ihr ein Gefühl für den Sinn des persönlichen Lebens ermöglicht. Die eigenen Handlungen im individuellen Leben werden räumlich 6
und zeitlich durch das Selbst als ein Kontinuum erlebt und geben dem Menschen das Gefühl des Selbstseins im Sinne eines unabhängigen Zentrums eigener Initiative und eigener Sinneseindrücke. (Milch 2001, S. 292).
Das Selbst stellt somit ein Organisationsprinzip dar, welches verschiedene psychische Anteile zu einer sinnhaften und dauerhaften Struktur eines Menschen verschmilzt. Es bildet sich aus einer Wechselwirkung zwischen der genetischen Ausstattung und der Umwelt eines Menschen heraus, wobei den Interaktionen zwischen Kind und Elternfiguren und insbesondere den Reaktionen der Bindungspersonen auf das Kind eine Schlüsselrolle zukommt. Vor diesem Hintergrund steht bei Kohut der Narzissmus biografisch in einer relativ frühen Phase der Persönlichkeitsbildung. Zunächst wird deshalb der normale psychische Entwicklungsverlauf nach Kohut beschrieben.
Entwicklung des Selbst bei Kohut Das frühe Kind befindet sich in einem Zustand, den Kohut zunächst analog zu Freud als primären Narzissmus bezeichnete. Es hat ein Gefühl der eigenen Vollkommenheit und des Sich-im-Zentrum-derWelt-Befindens, welches durch die unvermeidbaren Begrenzungen mütterlicher Fürsorge ab einem gewissen Zeitpunkt so nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das Gleichgewicht des primären Narzissmus wird durch Reifungsdruck und unlusterweckende seelische Spannungen gestört, die dadurch entstehen, dass die Versorgung durch die Mutter notwendigerweise unvollkommen ist und traumatische Verzögerungen nicht zu vermeiden sind. Die seelische Organisation des Kindes versucht jedoch, mit diesen Störungen dadurch fertig zu werden, dass sie sich neue Systeme der Vollkommenheit aufbaut. (Kohut 1975, S. 142)
Hier setzt nun also ein Prozess ein, mit dem das Kind das »verlorene Paradies« wieder zu erlangen sucht, und zwar durch das parallele Aufladen zweier anderer Bereiche mit Grandiosität.
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53 4.7 · Kohuts Narzissmustheorie
Einer der beiden Prozesse ist der Aufbau des Größenselbst. Hier errichtet das Kind ein exhibiti-
onistisches und grandioses Bild des Selbst, um die verlorengegangene Vollkommenheit zu ersetzen. Der Satz, der diesen Vorgang charakterisiert, lautet etwa: »Ich bin vollkommen, und du musst mich bewundern.« Damit einhergehend hat das Kind den Wunsch nach Spiegelung. Das heißt, es benötigt die Bewunderung und Aufmerksamkeit der Bindungsperson, den »Glanz in den Augen der Mutter«, wie es Kohut in einem archetypischen Bild beschreibt. Bei dieser Interaktion spielt auch die Psyche der Eltern eine wesentliche Rolle: Wenn die Eltern mit ihren eigenen Bedürfnissen nach Glanz und Erfolg im Einklang sind, insoweit, als diese Bedürfnisse realistisch befriedigt werden können, wenn mit anderen Worten das Selbstvertrauen der Eltern gesichert ist, dann reagieren sie mit Billigung auf den stolzen Exhibitionismus des knospenden Selbst ihres Kindes. Wie schwer die Schläge auch sein mögen, denen die Grandiosität des Kindes durch die Realität des Lebens ausgesetzt ist, das stolze Lächeln der Eltern wird etwas von der ursprünglichen Allmacht am Leben erhalten als einen Kern von Selbstvertrauen und innerer Gewissheit des eigenen Wertes, die einen gesunden Menschen sein Leben lang stützen. (Kohut u. Wolf 1980, S. 672)
In einer weiteren Entwicklungsphase lernt das Kind allmählich, dass das Selbst auch begrenzt und unvollkommen ist, die Größenfantasien weichen also einem realistischeren Selbstbild. Dieser Schritt wird bei einem positiven Verlauf aktiv von den Eltern begleitet, die einfühlsam eine optimal zunehmende Frustration der grandiosen und exhibitionistischen Bedürfnisse ihres Kindes bewirken. Am Ende steht die Integration des gezähmten Größenselbst in die Persönlichkeit, welches nun die gesunden Ambitionen eines Menschen, sein Selbstwertgefühl und seine Aktivität fördert (. Abb. 4.2). Der zweite Prozess stellt die Schaffung der idealisierten Eltern-Imago dar, die von Kohut auch als allmächtiges Objekt bezeichnet wird. Hier wird die angeschlagene eigene narzisstische Vollkommenheit den bewunderten und allmächtigen Bindungspersonen zugewiesen. Der zugehörige, den innerpsychischen Vorgang beschreibende Satz lautet: »Du bist vollkommen, aber ich bin ein Teil von dir.« In dieser grundlegenden narzisstischen Konfiguration hat das Kind das Bedürfnis, die Eltern idealisieren zu können und sich ihnen als zugehörig zu empfinden. So groß unsere Enttäuschung auch sein mag, wenn wir die Schwächen und Grenzen unserer idealisierten Selbstobjekte unseres frühen Lebens entdecken, ihr Selbstvertrauen, wenn sie uns tru6
Du bist perfekt. Ich bin ein Teil von dir.
primär narzisstisches Paradies des Säuglings
Bruch im paradiesischen Zustand
Unvermeidbare Brüche in der Betreuung durch Bezugspersonen
Idealisierte Elternimago
Ideale
Größenselbst
Ambitionen
Versuche, den verlorenen paradiesischen Zustand wieder herzustellen
ich bin perfekt
. Abb. 4.2. Entwicklungslinien des Kohut‘schen Narzissmus. (Nach Milch 2001)
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
gen, als wir Babys waren, ihre Sicherheit, als sie uns erlaubten, unser ängstliches Selbst mit ihrer Ruhe zu verschmelzen – durch ihre ruhige Stimme oder unsere Nähe zu ihrem entspannten Körper, wenn sie uns hielten –, bleiben uns erhalten als Kern der Stärke unserer leitenden Ideale und der Ruhe, die wir erleben, wenn wir unser Leben unter der Anleitung unserer inneren Ziele führen. (Kohut u. Wolf 1980, S. 672)
Im Verlauf dieser Phase ist es wichtig, dass die Eltern zum einen bereit sind, sich auch idealisieren zu lassen, zum anderen, dass sie schrittweise dem Kind offenbaren, dass sie auch Begrenzungen haben und Fehler machen. Die Beurteilung der Eltern durch das Kind wird also zunehmend realistischer. Schließlich kann das Kind die Eltern-Imago als Über-Ich verinnerlichen, was die Herausbildung persönlicher Ideale und deren Umsetzung in der erwachsenen Persönlichkeit zur Folge hat. Man muss die Bildung des Größenselbst und der idealisierten Eltern-Imago als gleichzeitige, größtenteils unabhängig voneinander verlaufende Prozesse begreifen. Das heißt, positive als auch fehlgehende Entwicklungen können sich auf jeder der beiden Ebenen vollziehen, ohne dass zwangsweise der andere Bereich hiervon beeinflusst werden muss. In seinen späteren Arbeiten hat Kohut die Konzeptionen und Begrifflichkeiten erweitert und modifiziert und sprach beispielsweise von einem bipolaren Selbst. Das Prinzip der eben beschriebenen Vorgänge ist jedoch weitgehend erhalten geblieben, sodass an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung der jüngeren Modelle verzichtet werden kann.
Formen narzisstischer Störungen Sowohl im Größenselbst als auch in der idealisierten Eltern-Imago kann es zu spezifischen Fehlentwicklungen und damit zu narzisstischen Störungen in der Persönlichkeit kommen. Der zentrale Aspekt dabei ist Kohut (1976) zufolge die Unfähigkeit der Psyche, die Selbstachtung zu regulieren und auf einem stabilen Niveau zu halten. Dafür verantwortlich sind strukturelle Defizite, die eine Verwundbarkeit des Selbst verursachen, weshalb die Psyche fortwährend um Kompensierung bemüht ist. Insgesamt besteht
allerdings ein weitgehend kohäsives Selbst, das eben nur temporär störanfällig ist. Zwei Grundformen narzisstischer Störungen sind zu unterscheiden (Kohut 1999): 4 Bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist zumindest ein Elternteil auf die frühen narzisstischen Bedürfnisse eingegangen. Deshalb spielt sich der Versuch, die narzisstische Gratifikation zu erhalten, meist allein in der Fantasie ab. Symptome der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind beispielsweise Hypochondrie, Depression, Mangel an Lebensfreude und eine Überempfindlichkeit gegenüber Zurücksetzungen. 4 Personen mit narzisstischer Verhaltensstörung wurden in ihrem kindlichen Narzissmus von keinem Elternteil gestützt, weshalb sie ihre Bedürfnisse unkontrollierbarer ausleben. Für sie typisch sind perverse, delinquente oder süchtige Verhaltensweisen, mit denen sie die Umgebung zwingen möchten, ihnen die früher versagten reaktiven Erfahrungen zu liefern.
Entwicklungsstörungen im Größenselbst Bei der Entwicklungsstörung im Größenselbst wurde das Bedürfnis des Kindes nach Spiegelung entweder nicht befriedigt oder es wurde im Gegenteil darauf gerade übertrieben reagiert. So geschädigte Charaktere entsprechen nicht selten dem Bild des klassischen Narzissten voller grandioser Selbstüberzeugung, Großmannssucht und Selbstbezogenheit (. Abb. 4.3). Tatsächlich besitzen solche Personen nicht selten ein echtes Talent, und zwar entweder aus dem Grund, dass die Eltern übermäßig und unrealistisch auf eine tatsächlich vorhandene Begabung des Kindes eingegangen sind oder da die andauernde Forderung des Größenselbst das sich entwickelnde Selbst genötigt hat, ungewöhnliche Leistungen zu vollbringen (Kohut 1976, S. 137). Der normale Entwicklungsweg, durch den das archaische Größenselbst eingedämmt werden konnte und zum Teil der reifen Persönlichkeit wird, gelingt hier aber nicht. Stattdessen sind die alten Bedürfnisse nach Spiegelung ungesättigt, und es herrscht ein narzisstisches Ungleichgewicht vor. Um kurz auf den Begriff des Selbstobjekts einzugehen: Kohut versteht darunter die Imago, also die innerpsychische Repräsentanz wichtiger anderer
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55 4.7 · Kohuts Narzissmustheorie
. Abb. 4.3. Trauma in der Entwicklung des Größenselbst. (Nach Milch 2001)
Größenselbst und exhibitionistischer Narzissmus werden nicht durch Erfahrungen mit Objekten (meist Eltern) modifiziert.
Größenselbst
Ich ohne Selbstwertgefühl
TRAUMA
Unveränderte Aufnahme dieser Erfahrungen in das grandiose Selbst
Personen, wobei dies in der Regel die Eltern sind. Die Interaktionserfahrungen mit den Eltern wurden in das Selbst einverleibt und besitzen dort eine wichtige Funktion für die Kohäsion, also den inneren Zusammenhalt der Psyche. Der an einer Störung des Größenselbst leidende Narzisst vermag nun durch verschiedene Formen der Spiegelübertragung archaische Selbstobjektbedürfnisse wiederzubeleben (Kohut 1976; Milch 2001). Es wird dabei sozusagen eine andere Person »eingespannt«, um ungestillte frühe Sehnsüchte zu befriedigen, wie beispielsweise die der Bewunderung durch andere. Eine außerpsychische Erfahrung soll das innerpsychische strukturelle »Loch« auf der Ebene der Selbstobjekte füllen. 4 Bei der Spiegelübertragung im engeren Sinne kommt das ungestillte Bedürfnis nach Anerkennung, Lob und Bewunderung zum Vorschein, die von der anderen Person abgefordert werden. 4 In der Verschmelzungsübertragung wird eine andere Person zu einer Erweiterung des Größenselbst. Das heißt, die narzisstische Persönlichkeit sieht den anderen nicht mehr als eigenständiges Individuum, sondern gewissermaßen als Fortsetzung des eigenen Handelns und Fühlens. Allerdings kann eine Verschmelzungsübertragung auch idealisierende Aspekte aufweisen. 4 In der Alter-Ego- oder Zwillingsübertragung wird die andere Person als dem Größenselbst gleich oder sehr ähnlich erlebt. Dies soll es möglich machen, sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen. Die Beispiele der Stalker John Hinckley und Mark Chapman zeigen, auf welche Weise narzisstische Übertragungsphänomene im Bereich des Stalkings relevant sein können.
In der Entwicklungsgeschichte des Stalkers John Hinckley hin zum Attentäter findet sich eine Szene wortwörtlicher Spiegelung. Hinckley gab als Begründung für seinen Anschlag auf US-Präsident Reagan an, er habe dadurch auf »kühne Weise« versucht, Aufmerksamkeit zu erhaschen. Dabei zog er seine Inspiration zur Tat aus dem Kinofilm »Taxi Driver«, dessen von Robert De Niro gespielten Hauptcharakter Travis Bickle er imitierte. Dies ging soweit, dass Hinckley Bickle in einer Filmszene kopierte, in der dieser mit einer Pistole bewaffnet vor einem Spiegel in einer Drohgebärde zu sich selbst spricht. »Sein fiktionaler Mentor, Travis Bickle in dem Film Taxi Driver, stieß vergleichbare Worte in seiner notorisch wütenden Art heraus. ›Sprichst Du mit mir?‹ Natürlich, in seinem tiefsten Herzen hoffte er, dass jemand genau dies tat.« (Meloy 1992, S. 142)
Als weitere Kategorie sind im Crime Classification Manual – einem verhaltensorientierten Klassifizierungssystem des FBI für Gewaltdelikte – Tötungsdelikte im Zusammenhang mit Liebeswahn oder Verschmelzungsphänomenen aufgeführt. Eine Identitätsverschmelzung tritt auf, wenn eine Person sich so intensiv mit einem anderen Menschen identifiziert, dass sie diesen exzessiv nachahmt. Die nachgeeiferte Person gerät dann in Gefahr, wenn der Imitator seine eigene Identität durch die Existenz eben dieser Person bedroht sieht oder wenn er den Eindruck hat, diese lebt 6
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
. Abb. 4.4. Popidol John Lennon mit seinem späteren Mörder Mark Chapman kurz vor der Tat. Zufällig hielt ein Fotograf fest, wie Chapman Lennon vor dessen Wohnhaus um ein Autogramm bittet. Stunden später erschießt er den Exbeatle an derselben Stelle
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nicht mehr nach den Idealen des Täters. Die Person, die der Täter zur Nachahmung ausgesucht hat, ist wie bei der Erotomanie gewöhnlich von höherem Status. (Douglas et al. 1992, S. 73)
schen Bewertung des Attentäters Mark Chapman. Der tödliche Anschlag auf John Lennon wird dort auch als Paradebeispiel für eine fatal ausgehende Verschmelzung zwischen einem Prominentenstalker und seinem Idol aufgeführt.
Die psychoanalytisch geprägte Konzeption des FBI beruht offenbar maßgeblich auf einer psychiatri-
Mark Chapman war das erste Mal im Oktober 1980 von seinem Wohnort Hawaii nach New York geflogen, mit dem Ziel John Lennon zu ermorden. Er trug eine Pistole mit sich und besuchte wiederholt das Dakota Building, das Hochhaus, in dem John Lennon und seine Familie lebten. Schließlich brach er sein Vorhaben ab, gestand seiner Frau telefonisch seine ursprüngliche Absicht und kehrte nach Hause zurück. Kurze Zeit später, im Dezember desselben Jahres, unternahm der 25-Jährige jedoch einen weiteren Anlauf. Chapman reiste wieder nach New York und passte John Lennon am 08.12. um 16:30 Uhr am Nachmittag vor seinem Haus ab. Er hielt ihm zunächst nur das Lennon-Album »Double Fantasy« mit der Bitte um ein Autogramm hin, einem Wunsch, dem der Exbeatle auch nachkam. Diese Szene, in dem der Attentäter sein späteres Opfer anspricht, wurde zufällig von einem 6
Fotografen festgehalten (. Abb. 4.4). Als Lennon am Abend um 23 Uhr zurückkam, erwartete ihn Chapman erneut. Er sprach ihn mit »Mr. Lennon?« an und feuerte 5 Schüsse auf ihn ab. Der weltberühmte Musiker starb kurz darauf an seinen Verletzungen. Seit seinen Kinder- und Jugendjahren war Mark Chapman ein Beatlesfan gewesen. Er führte einen unstetigen Lebensstil und wechselte häufig seine Jobs. Zudem war er mehrfach wegen Depressionen in psychiatrischer Behandlung gewesen. Über mehrere Jahre hinweg errichtete Chapman ein Fantasieleben, welches sich auf John Lennon zentrierte. Beispielsweise heiratete er eine japanischstämmige Frau, wohl auch aus dem Grund, um die Ehe von Lennon mit Yoko Ono zu imitieren. Seine Verehrung kippte nach der Lektüre eines kritischen Buches über Lennon plötzlich in Hass um, er sah in ihm
57 4.7 · Kohuts Narzissmustheorie
nun einen Schwindler und Verräter, der seinen alten Idealen abgeschworen hatte und nun zum Establishment gehörte und dem Reichtum frönte. Ein Psychiater, der Chapman in dem Gerichtsverfahren begutachtete, sah hier eine psychodynamische Entwicklung: Je mehr Chapman den Star nachahmte, desto mehr wurde er psychologisch selbst zu John Lennon. Die Verschmelzung der Identitäten wurde so verschlingend, dass er selbst auch zum Verräter, sprich einer hassenswerten Figur geworden wäre, hätte er die innere Vereinigung durch das Attentat nicht gestoppt. Neben der Verschmelzungsübertragung kann zudem eventuell auch eine AlterEgo-Übertragung stattgefunden haben. Einen Hinweis auf einen möglichen anderen dynamischen Zusammenhang liefert ein Zitat von Chapman selbst: »Ich musste mir die Bedeutung, den Erfolg von jemandem anderen aneignen. Ich war Mr. Nobody, bis ich den größten Somebody der Welt tötete« (zit. nach Gallagher 2001, S. 38). Chapman wollte offenbar mit dem Ruhm und der Wichtigkeit einer anderen Person verschmelzen (wobei man nicht vergessen darf, dass der Narzisst den Bereich des anderen, mit dem er verschmilzt, anschließend als Teil seines Selbst ansieht). Als ihm das reine Kopieren des Stils Lennons nicht die ersehnte narzisstische Gratifikation brachte, sah er in der Ermordung
Entwicklungsstörungen der idealisierten Eltern-Imago Bei dieser Entwicklungsstörung erlebt das Kind entweder den traumatischen Verlust eines idealisierten Elternteils – beispielsweise durch zeitweise Trennung, Scheidung oder Tod –, oder es erfährt eine traumatische Enttäuschung von ihm (. Abb. 4.5). Letzteres kann etwa durch eine uneinfühlsame Bescheidenheit oder eine offene Ablehnung der Idealisierung seitens der Bezugsperson geschehen. Kohut und Wolf (1980) nennen als Beispiel hierfür den Fall eines Jungen, der seinen Vater gerne verehren möchte und ihn deshalb bittet, Anstrengungen und Erfolge aus seinem Leben zu erzählen. Der Vater
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vielleicht eine andere Chance, mit der Größe des weltweit bekannten Popstars zu verschmelzen. Fast 2 Jahrzehnte nach dem Attentat, im Oktober 2000, nahm Chapman vor einem Komitee, das über seine mögliche frühere Entlassung zu entscheiden hatte, noch einmal explizit Bezug auf seinen vergeblichen Versuch der narzisstischen Kompensierung: Ich fühlte mich wertlos, und vielleicht ist die Wurzel des Ganzen eine Sache des Selbstwertes. Ich fühlte mich wie ein Nichts und ich dachte, wenn ich ihn erschieße, würde ich etwas sein, aber das war ein Trugschluss. Ich denke nicht, dass ich eine Berühmtheit bin. […] Es war keine besondere Leistung in dem, was ich getan habe. Jeder hätte den Abzug drücken können und ich bin niemand besonderes, zumindest wünschte ich mir das. Es ist leider nicht so, aber ich wünschte, ich wäre wieder ein großer Nobody. Das ist die Wahrheit, ich wünschte, das wäre alles nicht passiert. Zwar hat sich Chapman mit seinen Schüssen auf John Lennon tatsächlich zumindest für unsere Epoche unsterblich gemacht, doch die Hoffnung, sozusagen als Negativstar sein Gefühl der Wertund Bedeutungslosigkeit hinter sich zu lassen, blieb Illusion.
gerät jedoch in Verlegenheit und ist nicht in der Lage, den Bedürfnissen seines Sohnes mit Freude nachzukommen. Stattdessen flieht er in ein Wirtshaus, wo er für sein geschwächtes Selbst eine vorübergehende Quelle der Vitalität findet und er mit Bekannten Gespräche führt, mit denen sich die Anwesenden gegenseitig stützen. Allerdings ist es selten ein singuläres traumatisches Ereignis alleine, das zu einer Entwicklungsstörung führt, sondern eher ein generelles, das kindliche Bedürfnis nach Idealisierung frustrierendes Klima. Auch ist es möglich, dass Kinder im Sinne einer korrigierenden Erfahrung andere ihnen nahestehende Personen zu idealisieren vermögen und somit ein drohendes
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
. Abb. 4.5. Trauma in der Entwicklung der idealisierten Eltern-Imago. (Nach Milch 2001)
Idealisierender Narzissmus wird nicht durch Erfahrungen mit dem Objekt reinternalisiert
Idealisierte Elternimago
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Ideal mit eingeschränkter Idealisierung
TRAUMA
Bleibt in der idealisierten Elternimago erhalten
Entwicklungsdefizit zumindest teilweise kompensieren können. Gelingt die phasengerechte Idealisierung und die anschließende Lernerfahrung nicht, dass die Eltern auch Grenzen und Fehler haben, dann ist keine zufriedenstellende Verinnerlichung der idealisierten Selbstobjektes möglich. Das bedeutet, dass der Erwerb von psychischen Strukturen nicht geglückt ist, die die Aufgaben übernehmen, die das idealisierte Selbstobjekt (sprich die Eltern) vorher erfüllt hatten (Kohut 1976). Die Folge ist ein Gefühl der Unvollkommenheit und die Fixierung auf archaische Selbstobjekte. Dies kann sich in einer nicht enden den Suche nach äußeren Idealfiguren äußern, von denen man sich Zuwendung und Leitung erhofft, um damit wieder innere Stärke und Ausgeglichenheit zu erlangen. Auf der Übertragungsebene ist hier die idealisierende Übertragung relevant. Dabei bewundert und verehrt die derart narzisstisch fixierte Person einen anderen Menschen und empfindet sich selbst zumindest oberflächlich als schwach. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass solche idealisierenden Dynamiken in Fällen von Prominentenstalking häufig eine Rolle spielen.
Spaltungsmechanismen Bei dem Prozess der Spaltung unterscheidet Kohut (1976) grundsätzlich zwischen 2 Formen, und zwar der horizontalen und der vertikalen Spaltung (. Abb. 4.6). Beide besitzen die Funktion eines Abwehrmechanismus, der den Kernbereich der Psyche vor unerträglichen oder unvereinbaren Bestrebungen, Gefühlen oder Gedanken abschirmen soll. Die horizontale Spaltung zieht eine Trennlinie zwischen dem bewussten und dem unbewussten
Teil der Psyche. Dabei werden belastende Inhalte, wie etwa traumatische Erinnerungen, bedrohliche Fantasien oder frühe narzisstische Wünsche in das Unbewusste verbannt. Der horizontalen Spaltung entsprechende Abwehrmechanismen sind auf tieferer Ebene die Verdrängung und auf höherer Ebene die Verneinung. Typische Symptome, die sich im Selbsterleben und nach außen hin zeigen, sind z. B. ein geringes Selbstvertrauen, Schamneigung, Depressionen, Hypochondrie oder ein Mangel an Initiative. Bei der vertikalen Spaltung stehen nicht miteinander vereinbare Strebungen in der Psyche mehr oder weniger bewusst getrennt nebeneinander. Das heißt, dass sprunghafte Wechsel vom realitäts- und normorientierten Anteil der Persönlichkeit in einen Sektor stattfinden, in dem alte, unerfüllte narzisstische Sehsüchte ausgelebt werden. Es wird also letztlich eine gleichzeitige Existenz und ein Wissen um unangenehme und problemlose Inhalte möglich. Durch die vertikale Spaltung lassen sich manche Widersprüche im Denken und Handeln eines Menschen verstehen. Ein Beispiel wäre eine Person, die bestimmte, ihrem Wertesystem widersprechende Perversionen im Geheimen auslebt, diese aber im alltäglichen Leben verschweigt oder sogar in der Öffentlichkeit verurteilt. Bei der Konzeption der vertikalen Spaltung griff Kohut auf Freuds Überlegungen zur sog. Ich-Spaltung zurück. Vor allem beim Phänomen des Stalking von Personen des öffentlichen Lebens erscheint der Bereich der horizontalen Spaltung relevant, spiegelt er doch auch das still-unglückliche Wesen vieler dieser Stalker wider. Sowohl für das Feld des »normalen« Stalkings als für das des Prominentenstalkings kann die vertikale Spaltung eine Rolle spielen: in der ersten
59 4.7 · Kohuts Narzissmustheorie
. Abb. 4.6. Spaltungsprozesse nach Kohut (1976)
Vertikal abgespaltener Sektor
Offen zur Schau gestellte infantile Größenvorstellungen, auf die narzisstische Ausbeutung der Leistungen des Kindes durch die Mutter bezogen
Real-Ich V E R T I K A L E S P A L T U N G
Gruppe in dem isolierten Kontroll- und Machtwahn, wie man ihn beispielsweise im Stalking verlassener Liebhaber findet, in der zweiten unter anderem in einer tiefgehenden Vision gemeinsamer Größe mit dem Star.
Narzisstische Wut Kohut bezeichnet eine bestimmte Form der Aggression, die ihre Wurzeln in frühen Entwicklungsstörungen hat, als narzisstische Wut. Die menschliche Aggression ist dann am gefährlichsten, wenn sie an die zwei großen absolutistischen psychologischen Konstellationen geknüpft ist: das grandiose Selbst und das archaische allmächtige Objekt. Der grauenhaftesten Zerstörungsgewalt des Menschen begegnet man nicht in Form wilden, regressiven und primitiven Verhaltens, sondern in Form ordnungsgemäßer Handlungen, bei denen die zerstörerische Aggression seitens des Täters mit der absolutistischen Überzeugung von seiner eigenen Größe und mit seiner Hingabe an archaische allmächtige Figuren verschmolzen ist. (Kohut 1973, S. 533).
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Geringes Selbstwertgefühl, Schamneigung, Hypochondrie HORIZONTALE SPALTUNG (Verdrängungsschranke)
Der psychologische Ausgangspunkt narzisstischer Wut ist eine Gefährdung des Selbst, wobei die die Psyche stabilisierenden Selbstobjekte in Gefahr geraten und Fragmentierungen, d. h. innere Auflösungserscheinungen drohen. Ein solcher Zustand erfordert eine das Selbst schützende Reaktion, die eben beispielsweise in der Zerstörung oder Vertreibung der verletzenden Partei bestehen kann. Das bedeutet, dass sogar auf vergleichsweise geringe Kränkungen oder Zurückweisungen unverhältnismäßig aggressive Handlungen folgen können, falls das grandiose Selbstobjekt (das Größenselbst), das in seiner stützenden Funktion bei einer narzisstischen Störung ebenso zentral wie labil ist, gefährdet erscheint. Überhaupt sah Kohut narzisstische Wut offensichtlich häufiger im Bereich der Entwicklungsstörungen des Größenselbst auftreten. Da der Betroffene dazu neigt, andere Personen als Teil des erweiterten Selbst wahrzunehmen, glaubt er, ein Recht auf Kontrolle zu besitzen, und allein schon die Unabhängigkeit des anderen oder dessen gezeigter eigener Wille reichen aus, um als Beleidigung und Angriff gewertet zu werden. Man ist hier an wütende Stalker erinnert, die die Trennung seitens ihres Expartners als unge-
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
heuer kränkende Beleidigung erleben, die es von ihrer Seite ohne jeden Selbstzweifel zu ahnden gilt. Allerdings kann auch eine befürchtete Beschädigung der idealisierten Eltern-Imago selbstwertgefährdend wirken und narzisstische Wut auslösen, wie später auch am Fall des Günter P. gezeigt werden wird (7 Abschn. 4.8). Narzisstische Wut ist jedoch nicht nur reaktiv, sondern kann als Wunsch, das eigene Selbstwertgefühl zu erhöhen, auch in aktiverer, offensiverer Form in Erscheinung treten. Des Weiteren ist das Phänomen der von Kohut chronisch genannten narzisstischen Wut in einigen Fällen für Stalking von Bedeutung. Bei chronischer narzisstischer Wut gerät die ganze Persönlichkeit zunehmend unter den Einfluss von archaischen Aggressionen. Dafür verantwortlich ist eine Fixierung auf das Größenselbst. Das Ich verleugnet, dass das Selbst Grenzen besitzt, und Rationalisierungen flankieren das grandiose Selbst, wenn es entgegen der Realität darauf insistiert, allmächtig zu sein (Kohut 1973). Eigene Schwächen und Unvollkommenheiten werden stattdessen einer vermeintlichen Bösartigkeit des archaischen Objekts (also der Außenwelt) zugewiesen, wenn sich dieses als nicht gefügig zeigt. Chronische narzisstische Wut kann mit Hass und Missgunst beginnen, sich in gelegentlichen Aggressionen fortsetzen und schließlich in einem regelrechten Rachefeldzug münden. Übertragen auf Stalking sehen wir hier ein Muster, bei dem eine narzisstische Charakterausprägung in
Verbindung mit einer wahrgenommenen Zurückweisung oder Kränkung zu schweren und teilweise gewalttätigen Formen obsessiver Belästigung und Verfolgung führen kann. Dies kann einmal eine Rolle bei abgelehnten Liebesbekundungen spielen, aber auch in Formen rein rachsüchtigen Stalkings, beispielsweise durch gekündigte Mitarbeiter oder von wütenden Nachbarn.
Fazit Verhältnis von narzisstischen Störungen zu Stalking Stellt man die beiden verschiedenen narzisstischen Konfigurationen gegenüber, also die Störung des Größenselbst versus die Störung der idealisierten Eltern-Imago, so ergibt sich eine Korrespondenz mit zwei grundlegenden Formen von Stalking. Bei der obsessiven Fixierung auf einen Menschen, mit dem man irgendeine Art von persönlicher Beziehung hat oder hatte, findet sich vermutlich öfter eine Regression im Bereich des Größenselbst. Dementsprechend tritt beim Stalking von Fremden und Personen des öffentlichen Lebens wahrscheinlich häufiger eine narzisstische Störung auf der Seite des allmächtigen Objektes auf (. Tab. 4.2). Die Idealisierung und die tiefe Sehnsucht, zu einer übergroßen Persönlichkeit zu gehören, klingen in vielen Schreiben obsessiver Fans an. Auch der
. Tabelle 4.2. Narzisstische Entwicklungsstufen und Regression nach Kohut (1976)
Entwicklung und Regression im Bereich des Größenselbst
Entwicklung und Regression im Bereich des allmächtigen Objekts
Psychische Struktur
1. Reife Form positiver Selbstachtung; Selbstvertrauen
1. Reife Form der Bewunderung anderer; Fähigkeit zu Begeisterung
Psychische Gesundheit
2. Selbstbezogenes Verlangen nach Zuwendung: Stufe des Größenselbst
2. Unabweisbares Bedürfnis nach Verschmelzung mit mächtigem Objekt: Stufe der idealisierten Elternimago
Narzisstische Persönlichkeitsstörungen
3. Kerne (Fragmente) des Größenselbst; Hypochondrie
3. Kerne (Fragmente) des idealisierten allmächtigen Objekts: unklare mystische, religiöse Erlebnisse; unbestimmte Angst und Ehrfurcht
Narzisstische Persönlichkeitsstörungen
4. Wahnhafte Wiederherstellung des Größenselbst: kontaktloser paranoider Größenwahn
4. Wahnhafte Wiederherstellung des allmächtigen Objekts: der mächtige Verfolger; der Beeinflussungsapparat
Psychose
61 4.7 · Kohuts Narzissmustheorie
Ausdruck von Ehrfurcht und starker Bewunderung stellt nicht selten den Grundton in Kontaktversuchen mit Personen des öffentlichen Lebens dar. Bei dem Bedürfnis nach der Verschmelzung mit einem mächtigen Objekt ist ein vom Wesen her eher passives Anschlussmotiv aktiviert. Als alleinige Dynamik sind daraus resultierend vermutlich selten aggressive Handlungen gegenüber der gestalkten Person zu erwarten. Man möchte Teil eines Großen sein und nicht das Große als Teil des Selbst unter seiner eigenen Kontrolle haben. Problematischer wird es deshalb unter Umständen, wenn Verschmelzungstendenzen des Größenselbst in den Vordergrund treten. Es zeichnet sich eine eher aktive und eventuell sogar aggressive Dynamik ab, wenn die gestalkte Person ihre Funktion der Spiegelung der Grandiosität des Stalkers nicht mehr erfüllt. Es ist gut vorstellbar, dass der Lennon-Attentäter Mark Chapman zunächst auch eine idealisierende Verschmelzung mit dem weltweit bekannten Musiker einging. Später jedoch, wie bereits ausgeführt, kann man mit der Kohut’schen Terminologie davon ausgehen, dass Chapman eher eine narzisstische Dynamik auf Seiten des Größenselbst zeigte, die schließlich in dem Anschlag endete. Somit ist auch zu erklären, dass Verschmelzungsund Grandiositätsfantasien in Fällen von Prominentenstalking vermutlich sogar einen deutlich größeren Risikofaktor darstellen als direkte Drohungen. Die narzisstische »Fallhöhe« ist bei diesem intensiven Versuch der strukturellen Kompensation enorm für den Fall, dass dem Größenselbst plötzlich die narzisstische Zufuhr versagt wird. Reaktive narzisstische Wut vermag hier in seltenen Fällen sogar zu schwerwiegenden Gewalttaten führen. Ein derartiges Umkippen von extremer Verehrung in tiefe Aggression ließ sich bereits bei mehreren Fällen von Gewalt seitens Stalkern gegenüber Personen des öffentlichen Lebens erkennen. So schrieb Roberto Bardo der jungen Schauspielerin Rebecca Schaeffer überschwingliche Liebesbriefe, bevor sein Tonfall plötzlich in Hass umschlug, als er den Nachwuchsstar in einer Liebesszene sah, was vermutlich seine narzisstische Verschmelzungsfantasie zusammenbrechen ließ. Bardo ermordete schließlich die junge Frau.
4
Narzisstische Persönlichkeitstypen Kohut beschrieb verschiedene Persönlichkeitstypen, die durch bestimmte Übertragungsbemühungen und narzisstische Entbehrungen in der prägenden Kindheitsphase determiniert sind. Dabei »jagen diese Menschen entweder Fragmenten der nie erlebten narzisstischen Erfüllung nach oder sie verleugnen ihre Bedürftigkeit mit Hilfe der anmaßenden Behauptung, sie seien unverwundbar und allmächtig« (Kohut u. Wolf 1980, S. 677). Allerdings warnt Kohut davor, die Klassifikationen als streng getrennt anzusehen, sondern sieht häufig Mischformen und sich zeitlich wandelnde Konfigurationen auftreten. Einige der Charaktertypen werden aufgrund ihrer Struktur mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu Stalkern, wie z. B. am deutlichsten die kontaktvermeidende Persönlichkeit, die isoliert lebt und andere Menschen meidet. Vor allem 2 Typen, die an die beiden narzisstischen Grundkonfigurationen anschließen, scheinen jedoch besonders prädestiniert, andere zu verfolgen bzw. vehemente Kontaktversuche zu unternehmen. 4 Nach Idealen hungernde Persönlichkeiten sehnen sich nach der Nähe zu Menschen, die etwa über Macht, Prestige, Berühmtheit oder andere Größenattribute verfügen. Nur in einer realen oder imaginierten Verbindung mit Selbstobjekten, zu denen sie aufblicken können, ist es ihnen möglich, sich als wertvoll zu erleben. Allerdings gelingt es dadurch nicht in jedem Fall, die innere Leere auf Dauer zu überwinden. Ab einem bestimmten Zeitpunkt werden dann Mängel an der idealisierten Person gesucht und natürlich auch gefunden. Ist sie darauf hin erst einmal abgewertet, beginnt erneut die Suche nach einem anderen Menschen, der idealisiert werden kann. Dieses Charaktermodell Kohuts kann gut zur Einordnung des Prominentenstalkers eingesetzt werden, der ja auch im Verlauf seiner Karriere oftmals mehr als eine Person des öffentlichen Lebens zum Ziel seiner Obsession macht. 4 Nach Verschmelzung hungernde Persönlichkeiten haben ein ungewöhnlich starkes Kontrollbedürfnis. Andere Menschen werden von ihnen als stabilisierende Elemente für ihre defekte oder geschwächte Selbststruktur genutzt und stopfen sozusagen ein Loch in ihrer psychischen Struktur. »Weil sie den anderen als ihr eigenes Selbst
62
Kapitel 4 · Stalkingtheorien
erleben, können sie seine Unabhängigkeit nicht ertragen: Sie sind sehr empfindlich gegenüber Trennungen von ihm und fordern – ja, erwarten fraglos – die beständige Anwesenheit des Selbstobjektes« (Kohut u. Wolf 1980, S. 679). Bei dieser Beschreibung denkt man unwillkürlich an Stalker, die die Zurückweisung oder gar den Trennungswunsch einer nahestehenden Person nicht ertragen und darauf hin mit ihrem Stalkingverhalten einsetzen.
4
4.8
Der Fall Günter P.
Im Folgenden soll ein Fall von Prominentenstalking aus dem Blickwinkel psychodynamischer Theorien und vor allem aus der Perspektive der Selbstpsychologie untersucht werden. Günter P. war im April 1993 mit einem Ausbeinmesser aus seinem Heimatort nach Hamburg gereist, um ein Attentat auf die international bekannte Tennisspielerin Monica Seles zu verüben. Er mietete sich mehrere Tage in einem Hotel in der Nähe der Tennisanlage Rothenbaum ein und begann, Möglichkeiten auszukundschaften, wie er während des »Citizen-Cup-Turniers« den Anschlag am besten durchführen könnte. So erwog er etwa, Seles einen Blumenstrauß zu überreichen oder sie um ein Autogramm zu bitten, um sich ihr somit unauffällig annähern zu können. Schließlich fasste er den Entschluss, während eines Spieles im Centre Court den Angriff zu versuchen. Am 30. April ging . Abb. 4.7. Monica Seles nach dem Attentat von Günter P.
Günter P. in einer Spielpause von seinem höheren gelegenen Tribünenplatz unbeachtet direkt zu einer Bank am Rand des Spielfeldes, auf der Seles saß. Er stach ihr ohne zu zögern in den Rücken und versetzte ihr eine nicht sehr schwere Fleischwunde (. Abb. 4.7). An den Folgen des psychischen Traumas litt Seles jedoch noch Jahre lang. Nach eigener Aussage beging Günter P. die Tat alleine aus dem Grund, um Seles spielunfähig zu machen und dem von ihm verehrten Tennisstar Steffi Graf die Rückkehr an die Spitze der Weltrangliste zu ermöglichen. Bei einer psychodynamischen Betrachtung der Biografie von Günter P. und seiner eigenen Aussage offenbart sich jedoch eine zusätzliche Tiefenstruktur des Geschehens. Günter P. wurde 1954 in einem Dorf in Thüringen in der damaligen DDR geboren. Er wuchs mit einer jüngeren Schwester bei seinen Eltern, beide Arbeiter, auf. Als die Mutter schwer erkrankte und in ein Krankenhaus musste, wurde der 10-jährige Günter P. zu seinen gemeinsam in einem Haus lebenden Großeltern und einer Tante gegeben. Doch nachdem die Mutter gesundet war, nahm sie ihren Sohn nicht wieder auf. Er blieb bei der Tante. Auf die Frage an Günter P. vor Gericht, warum er nicht von seiner Mutter zurückgenommen wurde, sagte er: »Das ergab sich so.« Das offensichtlich eher wenig interessierte Verhalten der Mutter gegenüber ihrem Kind legt eine nicht sehr enge Bindung und Beziehung nahe. Es ist deshalb nicht abwegig anzunehmen, dass sich bei Günter P. in einer frühen
63 4.8 · Der Fall Günter P.
biografischen Phase eine narzisstische Problematik aufgrund des Mangels an elterlicher Zuwendung herausgebildet hatte. Dabei ist eine Entwicklungsstörung auf Seiten der idealisierten Elternimago zu vermuten. Zum einen spielen bei der Genese einer solchen Störung oftmals Trennungserfahrungen eine Rolle, des Weiteren passt die Beschreibung von Günter P. als eher zurückhaltender, unsicherer und ängstlicher Charakter gut zu Kohuts Beschreibung dieser narzisstischen Konfiguration. Als Kompensationsversuch für eine narzisstische Strukturschwäche im Bereich der Eltern-Imago wird der Mechanismus der idealisierten Übertragung angenommen. Hierbei soll, wie bereits ausgeführt, durch die Verbindung mit einer übergroßen Figur innere Festigkeit und Identität hergestellt werden. Bei Günter P. ließen sich mehrfach Anstrengungen in dieser Richtung erkennen, indem er Personen des öffentlichen Lebens auf relativ naiv anmutende Weise verehrte, wie beispielsweise den Papst, den deutschen Bundespräsidenten oder den USamerikanischen Präsidenten. Eine richtiggehende idealisierende Fixierung setzte 1985 ein, als er Steffi Graf in einer Sportsendung sah. Er begann, sich für sie zu begeistern, was sich z. B. darin niederschlug, dass er sich die Tennisregeln anzueignen suchte und Arbeitskollegen, die Zugang zu Westzeitungen hatten, um Artikel über Tennis und Steffi Graf bat. Er fotografierte in den Heften abgebildete Fotos der Tennisspielerin ab, vergrößerte sie und hängte sie in seinem Zimmer auf. Außerdem kaufte Günter P. für die in der DDR außerordentlich hohe Summe von 10.000 Ostmark einen Videorekorder aus Westproduktion, um Spiele von Steffi Graf aufzeichnen zu können. »Sie hat doch immer nur 40 Minuten gespielt«, erläuterte er vor Gericht seine Anschaffung. Graf war für ihn ein »Traumgeschöpf mit Augen wie Diamanten und Haar wie glänzende Seide«, er schwärmte für ihre »Sauberkeit, Ehrlichkeit und Reinheit«. Aber auch körperliche Attribute bewunderte er und berichtete dem Gutachter nach seiner Tat mit glänzenden Augen von der »fantastischen Figur« Grafs und dass sie »die hübschesten Beine aller Tennisspielerinnen« habe. »Stefanie Graf ist ein Traum, nicht nur als Sportlerin, sondern auch als menschliches Wesen. Sie ist ein Vorbild für uns alle und hat ein großes
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Herz«, erklärte er nach seiner Verhaftung wegen des Anschlages auf Seles. Günter P. zeigte zudem ein Muster von Stalkingverhalten. So schrieb er Steffi Graf nach der Wiedervereinigung zu ihren Geburtstagen und sandte ihr auch Geld, zumeist 100 Mark, einmal aber auch 300 Mark. Dabei blieb Günter P. immer anonym und unterzeichnete die Briefe mit »Ein Fan aus Thüringen«. Er schickte bei einer solchen Gelegenheit auch der Mutter von Steffi Graf einmal 50 Mark mit der Bitte, sie solle ihrer Tochter zum Geburtstag einen Blumenstrauß kaufen. Obgleich Graf, in den Worten eines Richters, »zum Mittelpunkt seines psychischen Lebens wurde«, lag für Günter P. interessanterweise eine direkte Begegnung mit seinem Idol außerhalb des Vorstellbaren. Er wäre laut eigener Aussage vor Angst gestorben und hätte es nicht ertragen können, ihr gegenüberzustehen. »Ich würde erstarren, und mein Herz würde aufhören zu schlagen«, so drückte er sich aus. Hier tritt zum einen das außerordentliche Ausmaß seiner Idealisierung deutlich hervor, zum anderen meiden manche Stalker den direkten Kontakt aus dem Grund, da sie Zurückweisung fürchten und deshalb einer Situation, in der prinzipiell diese Gefahr besteht, unbedingt aus dem Weg gehen (Hoffmann 2004a). Die zentrale Rolle dieser idealisierten Übertragung als stützende Funktion für die Persönlichkeit von Günter P. wurde auch darin deutlich, dass er den Tennisstar in seinen Briefen ermahnte, beim Autofahren vorsichtig zu sein und nichts zu riskieren. Er beschrieb dabei ihre Bedeutung für ihn mit den Worten: »Sie ist für mich fast ebenso wichtig wie Gott.« Aus selbstpsychologischer Sicht könnte man dies als quasi persönlichkeitsstrukturellen Offenbarungseid werten. Die innere Verbindung mit Steffi Graf fungierte für Günter P. als Selbstobjekt, welches das narzisstische Loch füllen sollte, das in einer biografisch frühen Entwicklungsphase hinterlassen wurde, als ihm eine Idealisierung der Eltern und damit ein Gefühl von Zugehörigkeit und Bedeutsamkeit nicht möglich war. Die Teilhabe an der Grandiosität der international berühmten Tennisspielerin bildete sozusagen ein Ersatzobjekt für die gar nicht oder nur unzulänglich vorhandene Chance, eine idealisierte Eltern-Imago aufzubauen. Aus einem solchen Blickwinkel scheint es nahe liegend, dass eine Beschädigung der Grandiosität
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4
Kapitel 4 · Stalkingtheorien
und damit Idealisierbarkeit Steffi Grafs für die innere Struktur von Günter P. eine substanzielle Bedrohung darstellte. Hier ist die Aussage der Tante von Günter P., bei der er ja seit Kindheitstagen lebte, aufschlussreich, er habe jede sportliche Niederlage von Graf sehr ernst genommen, sodass er in Schweigen verfiel oder sogar Wutanfälle bekam. Bereits Tage vor einem wichtigen Spiel konnte er kaum etwas essen, er schlief schlecht und hatte Magendrücken. Gewann Graf, war er überglücklich und weinte sogar minutenlang vor Freude. Verlor sie, rutschte er in regelrechte Depressionen ab und beschäftigte sich auch mit Selbstmordgedanken. Einen Wendepunkt bildeten die German Open im Jahr 1990 in Berlin. Dort wurde Steffi Graf von Monica Seles geschlagen, ein Geschehen, das Günter P. regelrecht aus der Bahn warf: »Obwohl sie immer noch die Nummer eins auf der Weltrangliste war, erschütterte mich dieses Ereignis so sehr, dass ich daran dachte, mir das Leben zu nehmen. Das Schlimmste für mich war die Tatsache, dass sie ihr Spiel in Berlin verloren hatte. Wäre es irgendwo anders geschehen, wäre es nicht ganz so schlimm gewesen. Sie hatte anderswo schon mehrmals Turniere verloren. Aber diesmal war es in Deutschland und, was noch schlimmer war, in Gegenwart unseres Bundespräsidenten. Das alles war zuviel für mich.« Wegen des Schocks und wohl zusätzlich aufgrund des Spottes seiner Kollegen über seine Leidenschaft für Steffi Graf gab er seine Arbeitsstelle auf und ging in den Westen Deutschlands, um »alles hinter sich zu lassen.« Nach kurzer Zeit jedoch, als er »doch wieder zu sich fand«, kehrte er in die alte Heimat zurück. Wie sehr ihn diese sportliche Niederlage seines Idols gegen Seles mitnahm und möglicherweise auch die Reaktion seiner Kollegen auf seine Obsession, zeigte sich auch darin, dass er seit 1991 arbeitslos war, wobei die Kündigung offenbar maßgeblich von Günter P. selbst ausging. Wie bereits diskutiert begreift Kohut narzisstische Wut als Reaktion eines Menschen auf eine Bedrohung der für ihn elementaren Selbstobjekte, wobei er durch eine Beschädigung dieser Selbstobjekte eine Auflösung seiner Persönlichkeit fürchtet. Es geht also um nichts Geringeres als um die Aufrechterhaltung der psychischen Funktionsfähigkeit des Individuums. Dabei besteht das Ziel der narzisstischen Wut darin, diejenigen Dinge oder Personen,
welche das Selbstobjekt gefährden, sozusagen aus dem Weg zu räumen. Beispielsweise zeigte Günter P. schon früh aggressive Tendenzen gegenüber negativen Stimmen, die seine grenzenlose Idealisierung Grafs einschränken könnten. So schrieb er manchmal mit einem drohenden Unterton Briefe an Sportler, die sich in der Öffentlichkeit seiner Ansicht nach despektierlich über Steffi Graf geäußert hatten. Seine eigentliche narzisstische Wut offenbarte sich aber in dem Plan, die Graf-Konkurrentin Monica Seles körperlich anzugreifen, den er mindestens seit 1991, wenn nicht gar früher hegte. Auf jeden Fall gab Günter P. an, mindestens ein Jahr vor der Tat konkret entschlossen gewesen zu sein, Seles zu verletzen, wobei er in seinen Aussagen immer wieder betonte, er habe sie spielunfähig machen, nicht aber töten wollen. Neben dem von ihm als pragmatisch dargestellten Ziel, mit der Tat Steffi Graf den Weg zur Rückkehr an den ersten Platz der Weltrangliste frei zu machen, schwang in einigen Aussagen doch noch ein anderer, feindseligerer Klang mit. Er gab an, er wolle »Monica Seles eine Lektion erteilen.« An anderer Stelle sagte er, Seles »ist nicht hübsch, Frauen sollten nicht knochendürr sein.« Wie lässt sich nun mit den Modellen der Selbstpsychologie der Widerspruch erklären, dass Günter P. in seinem Umfeld als freundlicher und rücksichtsvoller Mann bekannt war, zugleich jedoch einen Angriff mit einem Messer auf einen international bekannten Star vorbereitete? Hier ist für das Verständnis das Konzept der Spaltung hilfreich. In einem ersten Schritt ist es sinnvoll, sich im Beispiel des Günter P. zunächst der horizontalen Spaltung zuzuwenden. Darunter verstand Kohut ja den Vorgang, dass unbewusste, frühe Bedürfnisse auch für den Betroffenen selbst unerkannt unter der Oberfläche wirksam sein können. So verbarg sich hinter dem depressiven, schüchternen Wesen von Günter P. vermutlich eine weitere Ebene, welche die Kehrseite jener Selbstunsicherheit bildete, die in mangelnden Vereinigungserfahrungen mit den Eltern wurzelte: In tiefen Schichten seine Psyche war der kindliche narzisstische Wunsch nach der Verbindung mit einer übergroßen Figur, einer Eltern-Imago, handlungsbestimmend. Dieses tiefe Bedürfnis speiste wie eben ausgeführt die Wut gegen Seles, die seine letztlich kindliche Idealisierung von Graf gefährdete. An dieser Stelle kommt die vertikale Spaltung ins Spiel. Sie ermöglicht das
65 4.8 · Der Fall Günter P.
parallele Vorhandensein zweier eigentlich unvereinbarer psychischer Strömungen, die sozusagen durch eine spanische Wand im Bewusstsein voneinander getrennt sind. An diesem Ort ist die Widersprüchlichkeit im psychischen Apparat von Günter P. beheimatet: Einerseits sein zurückhaltendes Auftreten im Alltag sowie sein sehr angepasstes Wertesystem (das sich auch durch manche Äußerung während der Gerichtsverhandlungen offenbarte wie z. B. »Ich esse nur, was ich kenne« und »Ich bin ein häuslicher Typ«) und auf der anderen Seite seine zielstrebige, lange geplante Aggression gegen Monica Seles, die einen Ausdruck seiner narzisstischen Wut darstellt. Günter P. war bereit, für seine Tat einen hohen Preis zu zahlen. Als er aufbrach, um seinen Angriff durchzuführen, hängte er die Bilder von Steffi Graf ab, die seine Wände schmückten. Er packte die Aufnahmen zusammen mit Zeitungsberichten über den Tennisstar in einen Koffer, den er dann im Garten vergrub, da er davon ausging, mindestens die kommenden 10 Jahre im Gefängnis zu verbringen. Er fuhr am Morgen des 27. April von seinem Heimatdorf in Thüringen mit dem Zug nach Hamburg. Auch dort wiesen seine Handlungen klar darauf hin, dass seine Aggression nicht heftig überbordender Natur war, sondern eher kühl kalkulierend. Er versuchte, Monica Seles beim Training in der Tennisanlage Rothenbaum zu beobachten, um herauszufinden, ob sich hier eine Möglichkeit für eine Messerattacke ergab. Dabei überlegte er, ob er einen Blumenstrauß kaufen sollte, um seine Tatwaffe zu verbergen. Schließlich verwarf er die Überlegungen, schon vor dem Turnier den Anschlag zu verüben und entschloss sich, während eines offiziellen Spieles die Tat durchzuführen, wie es schließlich am 30. April auch geschah. Verblüffend und zugleich psychodynamisch aufschlussreich sind einige der Aussagen, die Günter P. direkt nach dem Anschlag im Verlauf der polizeilichen Vernehmungen zu Protokoll gab. Wie überzeugt er von der Richtigkeit seiner Gewalttat und wohl auch der Nochvollziehbarkeit seiner Motive war, tritt deutlich in folgenden Sätzen hervor: »Ich bin nicht sicher, aber ich kann mich nicht erinnern, geschrieen zu haben, als ich zustach. Ich weiß auch nicht, ob Monica Seles geschrieen hat. Alles geschah sehr schnell, und ich war sehr froh, dass ich es so weit gebracht hatte … Nachdem ich zugestochen hatte, riefen eini-
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ge Leute, ich sei ein Schwein. Und doch habe ich es auch für die Zuschauer getan. Die Reaktion der Zuschauer hat mich ein wenig verwirrt.« Hier fühlt man sich wieder an das oben vorgestellte Konzept der Borderlinepersönlichkeitsstruktur von Kernberg erinnert (7 Abschn. 4.6). Dabei wird auch eine Störung der Realitätsprüfung als eines der charakteristischen Merkmale angesehen, wobei von Personen mit einer solchen Struktur häufig eigene Empfindungen und Anschauungen in andere Personen hineinprojiziert werden. Das scheint hier eine Rolle zu spielen, da Günter P. ganz offensichtlich davon ausging, dass auch die meisten anderen Anwesenden auf dem Tennisplatz sowohl seine Wut gegen Monica Seles als auch seine Gefühle für Steffi Graf teilten. Ein faszinierender und zumindest auf den ersten Blick kaum erklärbarer Aspekt ist, dass Günter P. direkt nach dem Anschlag Bezug sowohl auf die Mutter von Monica Seles als auch die von Steffi Graf nimmt: »Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, vorher Stefanies Mutter einen Brief zu schreiben und ihr mitzuteilen, dass ich beabsichtigte, etwas zu unternehmen. Aber ich habe es nicht getan, damit niemand sagen konnte, mir wäre eine solche Tat zuzutrauen… Ich wollte Stefanie helfen. Ich betrachte das Ganze auch als eine Warnung für die Eltern von Monica Seles.« Hier tritt ein weiterer zentraler Aspekt der Borderlinepersönlichkeit zu Tage, nämlich der häufige Einsatz des Abwehrmechanismus der Spaltung. Wie oben erläutert werden Kernberg zufolge unvereinbare Gefühle wie Wut und Liebe gegenüber einer wichtigen Figur in zwei separate Einheiten unterteilt, wie die »gute« Mutter und die »böse« Mutter. Die Spaltung findet sich bei Günter P. in zwei externalisierten Objekten, der idealisierten Mutter von Steffi Graf und den negativen Elternfiguren von Monica Seles, an die Günter P. eine »Warnung« ergehen lässt. Das Phänomen, dass früh entstandene Wut abgespaltet und sich viel später in der Biografie sozusagen auf Stellvertreter richten kann, ist mit Kohuts Terminologie der vertikalen und horizontalen Spaltung nicht unbedingt leicht erklärbar. Libidinös und aggressiv besetzte Selbst- und Objektvorstellungen haben in Kohuts theoretischem System keinen Platz. Darum gibt es in Situationen 6
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Kapitel 4 · Stalkingtheorien
von Frustration und Versagen (natürlich einschließlich narzisstischer Frustration und narzisstischem Versagen) nur die drohende Traumatisierung und Fragmentierung des Selbst. »Böse«, frustrierende Objektvorstellungen, z. B. die Imago einer »bösen« Mutter, werden nicht erwähnt. […] Bei dieser theoretischen Begrenzung gelingt es nicht, die in der Übertragung auftretende Reproduktion innerer Beziehungen mit »bösen« Objekten zu erklären, die doch nicht nur bei pathologischem Narzissmus, sondern bei allen Fällen schwerer Psychopathologie eine entscheidende Beobachtung ist. (Kernberg 1995, S. 273)
Kohuts Arbeiten über den Narzissmus schaffen einen Rahmen, mit dem ein vertiefteres und theoretisch fundiertes Verständnis der Entwicklungsgeschichte von Stalkern, insbesondere solchen die sich auf Personen des öffentlichen Lebens fixieren, möglich gemacht wird. Kohut bietet also sozusagen eine Längsschnittperspektive auf das Phänomen. Das Beispiel von Günter P., aber auch von einigen anderen Prominentenstalkern zeigt jedoch gleichzeitig, dass Kernbergs Konzept der Borderlinepersönlichkeit für die Beschreibung der aktuellen psychischen Struktur in ihrer konkreten Wirkung nach außen gut funktioniert. Mit dieser Referenz lässt sich damit ein phänomenologischer Querschnitt der Persönlichkeit des Starstalkers zeichnen. Wenngleich aus theoretischer Sicht das Nebeneinanderstellen zweier konkurrierender Persönlichkeitskonzeptionen nicht völlig zufriedenstellend ist, erscheint es durchaus sinnvoll, sowohl Teile des Kohut‘schen als auch des Kernberg‘schen Theoriegebäudes einzusetzen, um aus diesen beiden Blickwinkeln unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens besser erfassen und erklären zu können.
5 Typologien von Stalkern
5.1
Unterschiede zwischen den Klassifikationssystemen – 69
5.2
Allgemeine Modelle verschiedener Arbeitsgruppen – 71
5.3
Spezielle Typologien von Prominentenstalkern – 79
Schon relativ früh in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit obsessiver Verfolgung hatten Forscher und Praktiker das Gefühl, es hier mit einem Phänomen zu tun zu haben, das es nicht nur in einer einzigen Ausprägung gibt. Man begann darüber nachzudenken, ob Stalker tatsächlich als eine homogene Gruppe zu begreifen sind oder ob es vielleicht besser wäre, sie nach verschiedenen Kategorien zu unterteilen. Infolge dieser Überlegungen entwickelte eine beträchtliche Anzahl von Forscherteams typologische Systeme für Stalker. Typologien versuchen Informationen über einen bestimmten Gegenstandsbereich in verschiedenen Untergruppen zu verdichten, in die dann konkrete Einzelfälle mit Hilfe bestimmter Zuordnungsmerkmale einsortiert werden können. Optimalerweise lässt sich jeder Einzelfall eindeutig nur einer einzigen Kategorie zuordnen. Das ist jedoch in der Praxis nie der Fall, da Typologien ihrem Wesen nach reduktionistisch hinsichtlich der Komplexität der Welt sind und idealisierte Zuspitzungen der Realität zeichnen. Es ist auch nicht so,
dass Typologien reine Entitäten darstellen, also ewige Grundzustände des Seins abbilden, sondern sie sind immer auch deutlich von zahlreichen Kontextfaktoren geprägt wie beispielsweise der fachlichen Perspektive der Konstrukteure des Ordnungssystems, den Begebenheiten der Kultur und des Zeitgeistes sowie dem Anwendungsbereich, für den die Typologie konstruiert wurde. Beispielsweise unterscheidet sich die Sichtweise eines Psychotherapeuten zumindest teilweise von der Perspektive eines Mitarbeiters der Polizei, der Stalkingfälle bearbeitet. Beide haben mit verschiedenen Ausschnitten des Stalkingkontinuums zu tun und zudem differierende Zielsetzungen in ihrer Arbeit, sodass ihnen nicht dieselben Aspekte von Stalking als primär relevant erscheinen. Konstruktionen spezieller kategorieller Systeme würden hier mit großer Wahrscheinlichkeit unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Die Polizeitypologie hätte vor allem die Einschätzung der Gefährlichkeit und die Einflussmöglichkeiten polizeilicher Maßnahmen im Auge, die Therapeutentypologie
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
hingegen würde auf Psychopathologien und Behandlungsstrategien ausgerichtet sein. Es lassen sich mehrere Grundformen von Typologien unterscheiden: Prototypenmodelle, bei denen nicht angenommen wird, dass Stalker in der Realität in reiner Ausformung anzutreffen sind, sondern man ist sich ihres idealisierenden Charakters bewusst und geht z. B. auch von Mischformen aus. Des Weiteren existieren auch dimensionale Modelle, mit denen angestrebt wird, verschiedene Kategorien nicht relativ unverbunden nebeneinander stehen zu lassen, sondern die unterschiedlichen Gruppen entlang vorgegebener Eigenschaftsachsen zu strukturieren. Ein typisches derartig aufgebautes Modell ist das von Rosenfeld (2000), das für klinische und therapeutische Zwecke entworfen wurde. Er unterscheidet die beiden Dimensionen »Natur der Beziehung« (fantasiebasiert/real) und »Motiv« (Liebe/Rache), um in einem einfach aufgebauten Vierfelderschema die verschiedenen Psychopathologien bei Stalkern zuzuordnen. Ein Grundproblem von typologischen Systemen, das sich nur schwer überwinden lässt, besteht darin, dass sie von ihrem Aufbau her quasi per Definiton statisch sind. Konstruktionsbedingt stellen die Modelle verschiedene voneinander getrennte Schubladen zur Verfügung, in die Einzelfälle hineingepackt werden. Einflüsse wie kulturelle Dynamiken, situative Wirkgrößen oder Interaktionseffekte zwischen Stalker und Opfer werden zwar vielfach anerkannt, lassen sich jedoch nur mit Mühe in die Modelle integrieren. In der theoretischen Ausarbeitung der Typologien werden solche Einflussfaktoren oftmals explizit benannt und berücksichtigt, in der praktischen Anwendung bleibt es aber zumeist bei der Zuordnung in feste Grundkategorien (auf diesen Punkt wird bei der Besprechung der Typologie von Mullen et al. eingegangen, 7 Abschn. 5.2). Am ehesten gelingt es manchen Klassifikationssystemen vielleicht, noch zeitliche Veränderungen im Stalkingverlauf abzubilden. So ist in den Typologien für Prominentenstalker von de Becker (1994) und Hoffmann (2004) der Wechsel eines Stalkers von einer Kategorie in die andere ausdrücklich als möglicher Weg genannt, der Hinweise auf den weiteren Verlauf des Falles gibt (7 Abschn. 5.3). Im Feld des Stalkings weisen einige der Kategoriensysteme Schwächen hinsichtlich ihrer empirischen
Grundlage auf. Die unzufriedenstellendsten Modelle treffen ihre Zuordnungen auf einer rein intuitiven Basis, die sich aus einer oberflächlichen Zusammenschau von Medienberichten und Fachartikeln zum Thema speist. Ein Beispiel hierfür ist das System von Holmes (1993, 2001), das so unterschiedliche Taten wie Auftragsmorde, Attentate, Stalking und häusliche Gewalt sowie Serienmorde als Variationen des Themas Stalking in sich vereint. Ein echter Erkenntnisgewinn ist nicht zu verzeichnen; das Modell wird in der Fachwelt kaum tiefergehend diskutiert und findet auch in der Praxis keine Anwendung. Anspruchsvollere Typologien greifen dagegen zumeist auf eigene Fallerfahrungen oder sogar auf statistische Fallauswertungen zurück. Allerdings stellt sich hier in der Regel das methodische Problem, dass die Modelle auf der Auswertung von hoch selektiven Stichproben fußen, da es den Wissenschaftlern schlichtweg oftmals nicht möglich war, auch nur halbwegs repräsentative Samples von Stalkern zusammenzustellen. So sind hier vielfach Extremgruppen vertreten, die besonders auffällig waren. Dies sind typischerweise Stalker, die sich in Psychiatrien aufhielten oder die sich einer forensischen Begutachtung unterziehen mussten, wie sie etwa die Datengrundlage für die Typologie der australischen Forschergruppe um Mullen bildeten. Eine andere wissenschaftlich gut zugängliche Population stellen obsessive Verfolger dar, deren Aktivitäten zu Ermittlungstätigkeiten seitens der Polizei führten. Schließlich wurden manche Modelle, wie z. B. das der britischen Psychologin Sheridan auf der Basis der Erfahrungen von Stalkingopfern generiert. Auch hier haben wir es in der Regel mit eher gravierenderen Ausprägungen des Phänomens zu tun, da etwa Fälle von Betroffenen untersucht wurden, die sich in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen hatten. Andere Modelle entstanden aufgrund der Befragung von Studierenden, eine gängige, da vergleichsweise unaufwendige Prozedur der Datenbeschaffung innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dabei ist es natürlich fraglich, inwiefern die Erlebnisse der Studierenden ein wirkliches Abbild des gesamten Stalkinguniversums darstellen. Ein Exempel für eine solche methodische Vorgehensweise bildet die Typologie von Del Ben und Fremouw (2002), die 4 Gruppen unterscheidet, die von den Autoren als »harmlos«, »geringe Bedrohung«, »hohe Bedro-
69 5.1 · Unterschiede zwischen den Klassifikationssystemen
hung« und »gewalttätig/kriminell« betitelt wurden. An dieser Stelle sei auch auf die Einschränkungen für den praktischen Einsatz von Typologien hingewiesen. Wie bereits ausgeführt sind derartige Systeme reduktionistisch und stellen Idealkonstruktionen der Wirklichkeit dar. Man kann also allein durch die Brille der Typologie niemals der Individualität des Einzelfalles gerecht werden. Auch wird es immer wieder einzelne Stalker geben, die sich nicht in das Modell einordnen lassen oder so viele Anteile verschiedener Klassen in sich vereinen, dass eindeutige Schlussfolgerungen aufgrund der Typologie kaum möglich sind. Tatsächlich fungieren Typologien in der Praxis oftmals als heuristische, ideengebende Modelle, aus denen man je nach Einzelfall einige Schlussfolgerungen ableitet und andere ignoriert (Hoffmann u. Musolff 2000). Das ist auch gar nicht schlimm, sollte aber bei der Analyse konkreter Stalkingfälle bewusst bleiben, wie auch der Grundsatz, dass eine Typenzuordnung lediglich einen ersten Anhaltspunkt darstellt und immer eine Betrachtung der individuellen Umstände des Falles als mögliches Korrektiv erfolgen muss (Hoffmann 2002b).
5.1
Unterschiede zwischen den Klassifikationssystemen
5
dungsmerkmale um weitere spezifischere Charakteristika ergänzt.
Art der Vorbeziehung Es hat sich in den vergangenen Jahren immer deutlicher herausgestellt, dass die Art der Vorbeziehung zwischen Stalker und Opfer maßgeblichen Einfluss auf die Dynamik von Stalkingfällen besitzt. Die vermutlich relevanteste Grenzziehung stellt diejenige zwischen der Verfolgung und Belästigung durch Expartner dar und dem Stalking, bei dem zuvor keine intime Beziehung bestanden hatte. So verglichen Palarea et al. (1999) diese beiden Gruppen miteinander. In Übereinstimmung mit anderen Studien stellten sie dabei fest, dass eine intime Vorbeziehung einen der signifikantesten Risikofaktoren für spätere Gewalt darstellt. Meloy (1996) merkte an, dass sich alle Stalkingvorfälle hinsichtlich der Variable Vorbeziehung eindeutig klassifizieren lassen. Er schlug hierfür die Kategorien »Frühere sexuelle Beziehung«, »Bekanntschaft/Freundschaft« und »Fremde« vor, die er später noch um die Gruppe »Familienmitglied« ergänzte.
Motive Wie bereits diskutiert lassen sich Typologien einmal nach ihrer Zielstellung und ihrem Anwendungsbereich unterscheiden. Damit verwandt ist manchmal die Frage, welche Gruppe von Stalkern in dem Modell erfasst wird. So konzentrieren sich klinische Kategoriensysteme aufgrund ihrer Aufgabenstellung etwa auf psychiatrisch auffällige Stalker, und Entsprechendes gilt für andere Berufsgruppen. Die meisten Typologien greifen in der Aufteilung ihrer Stalkinggruppen auf eines der folgenden 4 Unterscheidungsmerkmale zurück: 5 Art der Vorbeziehung zwischen Stalker und Opfer, 5 Motive für das Stalking, 5 psychisches Funktionsniveau und psychiatrische Auffälligkeiten, 5 Handlungsmuster des Stalkings. Es treten auch Kombinationen zwischen diesen Dimensionen auf; gelegentlich werden die Unterschei-
Einige der am meisten beachteten Typologien, wie die von dem Team um Mullen und die von Sheridan, beruhen maßgeblich auf einer Unterscheidung der Fälle durch angenommene Motive. Dabei ist eine aus theoretischer Sicht erfreuliche Nachricht, dass eine gewisse Konsistenz der Stalkertypen über verschiedene Modelle hinweg erkennbar ist. Auch scheint eine gewisse interkulturelle Stabilität vorhanden zu sein, da die den Gruppen zugrunde liegenden Falldaten in 4 Staaten auf 3 Kontinenten erhoben wurden, wenngleich auch einschränkend angemerkt werden muss, dass es sich ausschließlich um englischsprachige Länder handelte. Insgesamt lassen sich vier grundlegende Kategorien ausmachen: 5 Der abgewiesene oder verlassene Stalker, oftmals der Expartner nach einer intimen Beziehung, kommt mit der Trennung nicht zurecht und versucht, die Beziehung wiederherzustellen oder durch die Ausübung von Psychoterror seine
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5
Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
Ohnmacht in Macht zu verwandeln (z. B. »rejected« bei Mullen et al. 1999; »Ex-Partner« bei Sheridan u. Blaauw 2002; »simple obsessional« bei Zona et al. 1993). 5 Der beziehungssuchende Stalker strebt eine persönliche Bindung an, die nicht intimer Natur sein muss, sondern auch in anderen Formen wie etwa in einer gewünschten Freundschaft Ausdruck finden kann (z. B. »infatuation harassment« bei Sheridan 2004; »love obsessional« bei Zona et al. 1993 und bei Kropp et al. 2002a; eine Teilgruppe der »intimacy seekers« bei Mullen et al. 1999). 5 Der wahnhafte Stalker glaubt, dass zwischen ihm und dem Opfer eine Beziehung besteht. Ursache hierfür ist eine psychotische Erkrankung, wie beispielsweise die Erotomanie. Aber auch andere Wahninhalte können eine Rolle spielen, wie die Vorstellung, dass ein Prominenter dem Stalker über die Medien geheime Zeichen zukommen lässt (z. B. »delusion based« bei de Becker 1994; »erotomanic« bei Zona et al. 1993; »delusional fixation« bei Sheridan u. Blaauw 2004). 5 Der rachemotivierte Stalker möchte es dem Opfer heimzahlen, von dem er glaubt, Unrecht erfahren zu haben. Dabei soll das Stalking dienlich sein, indem es die Zielperson in Angst und Schrecken versetzt und somit leiden lässt (z. B. »resentful« bei Mullen et al. 1999; »grudge« bei Kropp et al. 2002a).
Psychisches Funktionsniveau und Psychopathologien Eine der frühesten Unterscheidungen zwischen verschiedenen Stalkergruppen wurde 1989 von Meloy getroffen. Er führte in Abgrenzung von erotomanen, also klassisch wahnhaften Stalkern, die sich oftmals auf Prominente fixieren, die Kategorie der »Borderline-Erotomanie« ein, bei der es zuvor in der Regel einen sei es auch noch so kurzen persönlichen Kontakt mit dem Opfer gegeben hat. Bei der psychologischen Charakterisierung der Stalker in der Kategorie der Borderline-Erotomanie stützte sich Meloy auf das von Otto Kernberg entwickelte klinische Konzept der Borderlinepersönlichkeitsstruktur. Somit
wurde also erstmals das psychische Funktionsniveau eines Stalkers als grundlegendes Unterscheidungsmerkmal eingeführt. In einer späteren Studie unterteilten Kienlen et al. (1997) die von ihnen untersuchten Stalker schlichtweg in psychotische und nichtpsychotische Stalker. In der kleinen Stichprobe fand sich eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit der psychotischen Stalker sowohl für Drohungen als auch für Gewalttätigkeiten, sie suchten jedoch häufiger im Rahmen ihres Stalkingverhaltens die Wohnung ihrer Opfer auf. Obgleich eine Klassifizierung nach psychopathologischen Merkmalen einige Aussagekraft besitzt, ist sie möglicherweise als einzig strukturierendes Element nicht ausreichend (Mullen et al. 2000). Stattdessen könnte sie als eine Dimension in einer komplexeren Typologie Verwendung finden.
Handlungsmuster Charakterisiert man Stalking vor allem durch unterschiedliche Verhaltenscluster, ist ein gewisses Umdenken notwenig. Der Täter gilt nun sozusagen als Träger des Stalkings; in einigen Fällen beschreibt man sogar die Interaktionsmuster zwischen Täter und Opfer als eine grundlegende Struktur des Stalkings. Somit lassen sich verschiedene Verhaltenssysteme unterscheiden, die für verschiedene Stalkingfälle oder sogar für verschiedene Phasen ein und desselben Falles charakteristisch sein können. Es wäre demnach möglich und wahrscheinlich sogar auch sinnvoll, Typologien von Stalkern durch eine Typologie der Verlaufsformen von Stalking zu ergänzen (Voß u. Hoffmann 2002). Beispielsweise untersuchte Voß (2002) die Stalkingerfahrungen von Studierenden sowohl aus Opfer- als auch aus Täterperspektive. In einer faktorenanalytischen Auswertung identifizierte er dabei verschiedene Verhaltensmuster, wie etwa das der »Belästigung«, für das wiederholte unerwünschte Kontaktversuche kennzeichnend waren, oder das der »Bedrohung« bzw. das der »Gewalt«. Auf der Basis einer Metaanalyse von 73 Studien, die das Verhalten bei Stalkingvorfällen erfassten, versuchten Cupach und Spitzberg (2004) grundlegende Verhaltensstrukturen zu extrahieren, die sie als Stalkingtaktiken bezeichneten. Dabei benannten sie insgesamt 8 solcher Taktiken, die von »Hyper-
71 5.2 · Allgemeine Modelle verschiedener Arbeitsgruppen
Intimität«, also einem im sozialen Kontext unangemessenen Annäherungsverhalten, »Überwachung« über »Belästigung und Einschüchterung« bis hin zu »Bedrohung und Gewalt« reichten. In diesem Bereich wäre es interessant herauszuarbeiten, ob sich bestimmte Verläufe von einander ablösenden Stalkingstrukturen identifizieren lassen, die Vorhersagen über den weiteren Verlauf des Falles ermöglichen, etwa in der Form, ob sich bei Auftreten eines bestimmten Stalkingmusters eine erhöhte Gefahr für Gewalttätigkeiten anbahnt. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient somit die prozessuale Struktur von Stalking. […] Sie ist vor allem dann von Bedeutung, wenn es darum geht, die Risiken einer zunehmenden Handlungsdichte und Nachhaltigkeit in der Beziehungsdynamik zwischen Stalker und Zielperson realistisch einzuschätzen und letztlich einen angemessenen Maßnahmenkatalog zur Gefahrenabwehr zu entwickeln. Die bisher von verschiedenen Autoren vorgeschlagenen Typologien von Stalkern, die hauptsächlich eine Taxonomie von Verhaltensweisen und Persönlichkeitscharakteristika des Stalkers beinhalten, sind demgegenüber eher als »Momentaufnahmen« oder als das jeweilige Endprodukt in der Entwicklung des Geschehens zu bewerten. Als ein »statisches« Konzept verschleiert so der typologische Forschungsansatz die Tatsache, dass in vielen Stalkingfällen ein und dieselbe Person nacheinander unterschiedlichen Typenklassifikationen entsprechen kann: beispielsweise anfänglich eher »inkompetent« und sozial scheu, nach wiederholter Zurückweisung unvermittelt intrusiv, aggressiv und zerstörerisch. Hierzu gehört die Beobachtung, dass Häufigkeit und Bedrohlichkeit von Stalkingverhalten oftmals sprunghaft ansteigen, nachdem von der Zielperson über längere Zeit keine Reaktion (»Verstärkung«) erfolgte oder nachdem z. B. eine gerichtliche Verfügung erwirkt worden ist. (Voß 2004, S. 46)
5.2
Allgemeine Modelle verschiedener Arbeitsgruppen
5
hung vorgestellt werden. Dabei wird zunächst auf allgemeine Modelle detailliert eingegangen und anschließend auf spezielle Typologien für Prominentenstalker.
Kategorienmodell der Threat Management Unit in Los Angeles Im Rahmen der Aktivitäten der weltweit ersten Polizeieinheit, die sich speziell um Stalkingfälle kümmerte – der Threat Management Unit in Los Angeles – entstand auch erstmalig eine grundlegende Typologie für Stalkingfälle (Zona et al. 1993, 1998). Kennzeichnend für den Ansatz dieser Spezialeinheit war die intensive Zusammenarbeit zwischen Polizeibeamten und Psychiatern und Psychologen, sodass eine interdisziplinäre Sicht auf das Phänomen Stalking von Anfang an gegeben war. Die Threat Management Unit dokumentierte ihre Fälle detailliert, und auf dieser Datengrundlage wurde auch das typologische System entwickelt. Prägend für die Entwicklung des Kategorienmodells war zudem, dass die Polizeieinheit, zu deren Einsatzgebiet ja auch Hollywood zählt, gerade in der Anfangsphase vor allem Fälle von Prominentenstalking bearbeitete. Inzwischen hat sich jedoch ein Wandel vollzogen. Nur noch etwa ein Drittel aller Einsätze bedient die Klientel der Reichen und Berühmten, ansonsten widmen sich die Beamten Normalbürgern als Opfer obsessiver Belästigung (Boles 2001). Grundsätzlich unterscheidet das Kategoriensystem 3 Grundtypen von Stalkern. Klassisch fixierte Stalker (»simple obsessional«).
Dieser Typus ist durch eine real existierende Vorbeziehung zwischen Täter und Opfer definiert und stellt die größte Gruppe innerhalb der Typologie dar. Hierunter fallen zum einen frühere intime Partnerschaften, aber auch andere zwischenmenschliche Beziehungen, wie etwa berufsbedingte Kontakte am Arbeitsplatz oder im sozialen Setting, wie im Verein oder in der Nachbarschaft. Das Stalking tritt hier in der Regel nach einer Trennung auf. An Liebeswahn leidende Stalker (»erotomanic«).
Im Folgenden sollen die wichtigsten typologischen Systeme im chronologischen Ablauf ihrer Entste-
Diese Gruppe ist durch das Vorhandensein der psychiatrischen Diagnose der Erotomanie konstituiert,
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
also durch die nichts zu erschütternde Überzeugung, von einem anderen geliebt zu werden, obgleich hierfür keinerlei Anhaltspunkte existieren. Die Liebeswahnkategorie bildet die kleinste Täterpopulation innerhalb des Modells. Liebesfixierte Stalker (»love obsessional«). Hier
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besteht keinerlei Vorbeziehung zwischen Stalker und Opfer, oftmals sind Prominente betroffen. Die Auftretensrate psychiatrischer Auffälligkeiten ist hoch, doch unterscheidet sich dieser Typus von der erotomanischen Gruppe dadurch, dass er nicht wahnhaft davon ausgeht, von dem anderen geliebt zu werden. Es handelt sich bei dieser Art von Stalkern um nicht selten sozial scheue Personen, die grundsätzlich große Schwierigkeiten haben, intime Beziehungen einzugehen.
Fazit Die Typologie der »Threat Management Unit« ist vor allem in den USA noch immer sehr populär und wird sowohl in der Forschung berücksichtigt als auch im aktuellen Umgang mit Stalkingfällen. Tatsächlich entspricht sie jedoch bei weitem nicht mehr dem aktuellen »state of the art«. Zu bemängeln ist zum einen, dass bei der Unterscheidung der verschiedenen Typen eine gewisse Uneindeutigkeit vorherrscht: In einer nicht immer einfach nachvollzuziehenden Mixtur werden einmal die Vorbeziehung zwischen Täter und Opfer, ein anderes Mal eine vorhandene psychische Erkrankung als Grenzlinie zwischen den Gruppen herangezogen. Des Weiteren sind insgesamt relativ wenige Kategorien vorhanden, um das weite Spektrum des Stalkings zu beschreiben. Es besteht also eine vergleichsweise geringe Differenzierungskraft. Ein Großteil aller real auftretenden Fälle müsste wohl in die Gruppe der klassisch fixierten Stalker eingeordnet werden – mit so unterschiedlichen Formen des Stalkings wie der Verfolgung durch frühere Partner oder dem anonymen Terror von rachemotivierten Stalkern. Das Modell von Zona et al. sollte aus heutiger Sicht als wichtige, aber bereits historische Pionierleistung gewürdigt werden. Es in der Praxis noch weiter zu verwenden ergibt wenig Sinn, denn die Entwicklung ist weiter vorangeschritten und mittlerweile gibt es deutlich ausgereiftere typologische Systeme.
Typologisches System der Forschungsgruppe um Mullen Die australischen Wissenschaftler um Mullen wurden durch die Veröffentlichung ihres typologischen Systems (Mullen et al. 1999, 2000; Pathé 2002) innerhalb kürzester Zeit zu Stars der internationalen Stalkingforschung. Ihr Modell etablierte sich rasch als Goldstandard in der Arbeit mit Stalkingtypologien; es weist allerdings auch einige Schwachpunkte auf, auf die später näher eingegangen wird. Beeindruckend wirkte zum damaligen Zeitpunkt der Stalkingforschung die empirische Basis der Typologie. Die Autoren arbeiteten in einer forensisch-psychiatrischen Einrichtung, und die erste Fassung des Modells gründete auf den Daten von knapp 150 Stalkern, die sie persönlich begutachtet hatten. Mullen et al. führten zudem als Novum im Stalkingbereich mehrere dimensionale Achsen zur Beschreibung der verschiedenen Stalkertypen auf. In der ersten Dimension wurden dabei 5 Grundmotivationen genannt, die die Typologie strukturieren. Als zusätzliche Achsen dienten zum einen die Form der Beziehung zwischen Täter und Opfer, wie beispielsweise »Intime Partnerschaft«, »Arbeitskontakt« oder »Fremde«; des Weiteren der psychiatrische Status, der wiederum in die beiden Untergruppen psychotische Erkrankung (z. B. »Schizophrenie«, »affektive Psychosen«) und nichtpsychotische Auffälligkeiten aufgeteilt ist, wobei vor allem Persönlichkeitsstörungen, seltener aber auch depressive und Angststörungen eine Rolle spielen. Das Klassifikationssystem wird durch 5 Grundtypen bestimmt (. Tab. 5.1). Der zurückgewiesene Stalker (»the rejected stalker«). Diese Gruppe setzt sich aus Stalkern zu-
sammen, die zuvor eine mehr oder weniger enge Bindung zu dem Opfer eingegangen waren. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um eine frühere intime Beziehung, es können aber auch z. B. Freundschaften, Arbeitskontakte oder Arzt-PatientBeziehungen bestanden haben. In der Regel ist eine Auflösung der Beziehung dem Stalking vorangegangen, wobei vom Stalker die Trennung als ungerecht und willkürlich, als Verrat oder als rätselhafter Irrtum gewertet wird. Zurückgewiesene Stalker zeichnen sich häufig durch ihre Hartnäckigkeit, Aggressivität und durch die Vielfalt ihrer Stalkingaktionen
5
73 5.2 · Allgemeine Modelle verschiedener Arbeitsgruppen
. Tabelle 5.1. Charakteristika der unterschiedlichen Stalkertypen (n=168, Angaben in Prozent). (Nach Mullen et al. 2000)
Auftretenshäufigkeit Männliches Geschlecht Vorhandensein einer Beziehung Dauer des Stalkings in Monaten Alkohol-/Drogenmissbrauch Physische Gewalt gegen Opfer Sachbeschädigung Vorstrafen
Zurückgewiesener Stalker
Intimitätssuchender Stalker
Inkompetenter Verehrer
Ärgergetriebener Stalker
Jagdstalker
35 82 14 38,3 29 59 62 51
32 72 10 34,9 23 24 32 31
14 81 24 14,3 16 21 12 26
14 75 25 13,8 32 29 50 48
5 100 14 8,8 14 50 25 86
aus. Nicht selten pendeln ihre Äußerungen zwischen Versöhnungsgedanken und Verunglimpfungen hin und her. Drohungen und auch Gewalttätigkeiten treten in der Mehrzahl der Fälle auf. Als vordergründige Motivation wird oftmals angegeben, die frühere Beziehung wiederherstellen zu wollen, tatsächlich jedoch sind häufig auch Wut- und Rachegedanken präsent. In jedem Fall sorgt das Stalking dafür, dass die scheinbare zerbrochene Beziehung fortgesetzt wird, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Bei diesen Stalkern treten gehäuft narzisstische, dependente, seltener auch paranoide Persönlichkeitsstörungen auf. Sie sehen in der Regel sich selbst als die eigentlichen Opfer an und fühlen sich durch die von ihnen verfolgte und belästigte Person zu ihren eigenen Handlungen provoziert. Der intimitätssuchende Stalker (»intimacy seekers«). Dieser Typus strebt eine enge Beziehung mit
dem Opfer an, die in der Regel romantischer Natur sein soll. Das Opfer wird zumeist stark idealisiert, es herrscht das Gefühl vor, dass man füreinander bestimmt sei. Schwerwiegendere psychische Erkrankungen, wie etwa Psychosen, treten im Vergleich mit den anderen Gruppen am häufigsten auf, ein hier häufig anzutreffendes Beispiel ist der Liebeswahn. Die Stalkingverhaltensweisen bleiben eher distanziert, typisch sind etwa das Schreiben von Briefen oder das Zusenden von Geschenken. Die Kommunikation ist häufig von Themen wie Liebe und Verehrung durchdrungen. Versuche, die Avancen zurückzuweisen, sind nicht leicht, denn diese Stalker haben eine ausgeprägte Fähigkeit, Ablehnungen zu ignorie-
ren oder sogar in das Gegenteil des eigentlich Gemeinten umzuinterpretieren. Die Dauer des Stalkings ist vergleichsweise lang. In dieser Kategorie finden sich vermehrt Prominentenstalker. Viele führen ein einsames und zurückgezogenes Leben, dem es an Nähe und zwischenmenschlicher Intimität mangelt. Der inkompetente Verehrer (»the Incompetent suitor«). Stalker dieser Kategorie zeichnen sich
durch mangelnde soziale Kompetenz, Selbstüberschätzung und wenig Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse anderer aus. Bei diesem Typus, der sich ansonsten nur wenig vom normalen Querschnitt der Bevölkerung unterscheidet, ist eine große Spannbreite von Individuen vertreten: An einem Ende des Spektrums der inkompetenten Verehrer finden wir intellektuell eingeschränkte und in ihren sozialen Fähigkeiten stark beeinträchtige Persönlichkeiten, die diejenigen, die ihr romantisches Interesse auf sich ziehen, mit einer Ungeschicklichkeit und Unsensibilität verfolgen, die in ihrem profunden Unvermögen für Zwischenmenschliches wurzelt. Das andere Extrem bilden Individuen, die einer feministischen Karikatur des typischen Mannes nahe kommen: aufdringliche, überhebliche und unsensible Egoisten, die nicht begreifen können, dass nicht jede Frau nur darauf wartet, in ihre Arme zu fallen. (Mullen et al. 2000, S. 123)
Stalker dieser Kategorie sind in der Regel ausgeprägte »Serientäter«. Sie nähern sich offensiv und ohne
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
jeden Selbstzweifel an der Berechtigung ihres Tuns der von ihnen begehrten Person an und versuchen mit allen Mitteln, eine Beziehung herzustellen. Einwände und Zurückweisungen werden weggewischt oder ignoriert. Scheitern die Stalker letztlich mit ihrem Vorhaben, entmutigt sie das nicht. Zwar lassen sie nach relativ kurzer Stalkingdauer von ihrem Opfer ab, wenden sich jedoch rasch einem neuen Objekt der Begierde zu, und der Kreislauf der ausdauernden Belästigung und Konfrontation beginnt von neuem. Der ärgergetriebene Stalker (»the resentful stalker«). Stalker dieser Kategorie versuchen durch die
Ausübung von Psychoterror gegen ein aus ihrer Sicht erlebtes Unrecht vorzugehen. Drohungen gegen das Opfer sind häufig, die Rate von Angriffen ist dagegen weniger hoch, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Der Grund liegt darin, dass für solche Stalker meist psychische und nicht physische Gewalt das Mittel der Wahl ist. Sie verstehen sich dabei nicht als Racheengel, sondern sehen sich als die eigentlichen Opfer, die sich lediglich wehren. Ziel ihrer Handlungen ist es, die Opfer in Angst und Schrecken zu versetzen. Dabei möchten sie durch das Stalking ihr ursprüngliches Gefühl von Ohnmacht in Macht umwandeln. Die Zielpersonen besitzen nicht selten auch symbolische Qualitäten für den Stalker. Sie stehen etwa für eine negativ besetzte Figur aus seiner Vergangenheit; oder die Opfer werden als stellvertretend für eine Organisation oder eine Gruppe genommen, gegen die der Stalker starke Ressentiments hegt. Unter den ärgergetriebenen Stalkern finden sich nicht selten paranoide und querulatorische Charaktere. Der Jagdstalker (»the predatory stalker«). Für diesen Täter stellt das Stalking einen Vorlauf zu einem Angriff dar, meist sexueller Natur. Das Verfolgungsverhalten ist zum einen instrumentell, indem eine für den Täter gute Gelegenheit und eine günstige Umgebung ausgespäht werden. Zum anderen ziehen diese Stalker aber auch Befriedigung aus ihren Handlungen, etwa wenn sie wiederholt anonyme, obszöne Anrufe tätigen, oder ein Gefühl von Macht und Kontrolle erleben, indem sie ihr Opfer unerkannt beobachten oder eine spätere Attacke planen. In vielen Fällen ahnen die Opfer bis zu dem Angriff nicht,
dass sie im Visier eines sexuell motivierten Stalkers stehen, da der Täter das Opfer nicht warnt, um sein Ziel nicht zu gefährden. Stalker diesen Typs sind durchweg männlich und weisen oftmals sog. Paraphilien auf, d. h. sexuelle Fixierungen auf bestimmte Fantasien, Verhaltensweisen oder Objekte (APA 1998), wie telefonische Scatologie (obszöne Telefonanrufe), Exhibitionismus, Pädophilie oder Voyeurismus. Eines der seltenen Beispiele eines Jagdstalkers im Prominentenbereich stellt der Fall Jonathan Norman dar. Der 30-Jährige hatte 1997 wiederholt versucht, auf das Anwesen des Regisseurs Steven Spielberg vorzudringen. Schließlich wurde er dort festgenommen. In seinem Auto fanden sich neben einem Dossier mit den Aufenthaltsorten von Spielberg und seiner Familie Handschellen, Klebeband und ein Teppichmesser. In einer Vernehmung durch einen Polizeibeamten der Threat Management Unit gab Norman zu, eine sexuelle Fixierung auf Spielberg entwickelt zu haben (Harvey 2002). Bei der Vorstellung von Sex mit dem Regisseur habe er wiederholt masturbiert, er habe auch geglaubt, dass Spielberg von ihm vergewaltigt werden wolle. Norman hatte deshalb ein spezielles Instrumentarium zusammengestellt, um Spielberg zu bedrohen, zu überwältigen und schließlich zu vergewaltigen.
Fazit Ursprünglich vor allem für klinische Zwecke entwickelt, stellt die Typologie der Mullen-Gruppe bis heute sicherlich das beste Kategoriensystem für Stalker dar. Neben der therapeutischen und diagnostischen Arbeit wird das Modell auch in anderen Bereichen eingesetzt, wie beispielsweise der Risikound Gefährlichkeitsanalyse von Stalkern (Mullen u. MacKenzie 2004). Trotz seiner unbestrittenen Reputation sollten aber in der praktischen Verwendung des Modells einige Einschränkungen bedacht werden: 5 Die Typologie spiegelt Fälle wieder, die eher am negativen Ende des Stalkingskontinuums zu finden sind. Dieser selektive Effekt ist auf die Stichprobe zurückzuführen, die der Konstruktion des Kategorienmodells zugrunde liegt, denn es wurden meist Extremfälle herangezogen, die der in der Klinik tätigen Forschergruppe per Gericht zugewiesen wurden. Deshalb sollten quantitative Ableitungen für Einschätzungen von Stalkern
75 5.2 · Allgemeine Modelle verschiedener Arbeitsgruppen
etwa bezüglich ihrer Gefährlichkeit nur mit großer Vorsicht vorgenommen werden, da beispielsweise die Basisrate für Gewalttätigkeiten aufgrund des Extremsamples offenbar deutlich überschätzt ist. 5 Die Mehrdimensionalität des Modells ist zwar in der theoretischen Konstruktion verankert, sie spielt jedoch in der praktischen Nutzung der Mullen-Typologie kaum eine Rolle. Die Autoren selbst greifen in anwendungsbezogenen Darstellungen fast ausnahmslos auf die verkürzte Fassung ihres Systems zu, das auf den eben vorgestellten 5 Grundmotivationen beruht. Eine derartige Reduktion findet sich z. B. in den Arbeiten der Mullen-Gruppe zur Therapie von Stalkern (Mullen et al. 2001) oder zur Gefährlichkeitsanalyse der Täter (Mullen u. MacKenzie 2004). Der Einfluss der beiden anderen Dimensionen, der Täter-Opfer-Beziehung und des psychiatrischen Status des Stalkers, findet insgesamt kaum Berücksichtigung. 5 Einige Aspekte sind von den Autoren bewusst ausgeklammert. So werden beispielsweise die Themen »Stalking und häusliche Gewalt« und »Stalking während der Beziehung« als für das eigentliche Phänomen wenig relevant erachtet. In vielen anderen Studien und Arbeiten gelten diese Punkte selbstverständlich als bedeutsam. 5 Die Festlegung und Charakterisierung der einzelnen Typen ist gelegentlich fragwürdig. So erscheint der zurückgewiesene Stalker als zu globale Kategorie, in der sich eine enorme Spannbreite von gewalttätigen Exliebhabern über verlassene, dependente Personen bis hin zu wütenden Exgeschäftspartnern tummelt. Des Weiteren wäre es überlegenswert, ob die impertinenten Kontaktversuche des inkompetenten Verehrers in einer weniger extremen Stichprobe wie der von Mullen et al. überhaupt als Stalking wahrgenommen würde oder ob die meisten der Betroffenen hier nicht eher von einem nervtötendem, letztlich aber erträglichen Verhaltensmuster sprächen. Als nicht unproblematisch erscheint im Kontext von Stalking der Jagdstalker. Sein Verfolgungs- und Beobachtungsmuster ist zu einem nicht unbeträchtlichem Anteil instrumenteller Natur; es ist eigentlich einer anderen Form delinquenten Verhaltens zuzuordnen (so
5
erscheint diese Form des Stalkings bei anderen Forschern in der Deliktgruppe sexuell motivierter Taten; z. B. Rossmo 2000; West 2001). Vielleicht ist die Aufnahme dieser Kategorie ebenfalls auf den Umstand zurückzuführen, dass in der forensischen Klinik, in der die Studie stattfand, auch sexuelle Gewalttäter behandelt wurden und dass insofern ein gewisses Erfahrungswissen über solche Verfolgungshandlungen stärker berücksichtigt wurde.
Typologie von L. Sheridan und ihren Kollegen Das an der Universität von Leicester entwickelte Modell (Boon u. Sheridan 2001; Sheridan u. Boon 2002) wurde als erste Stalkingtypologie speziell für die polizeiliche Arbeit entworfen. In jeder der dort vertretenen Stalkerkategorien ist deshalb ein ausführlicher Teil zum Thema Fallmanagement enthalten. Das System entstand in der Auswertung von 124 Fällen, die von Opferschutzorganisationen umfangreich und systematisch dokumentiert worden waren. Daraus leiteten die beiden Kriminalpsychologen Sheridan und Boon 4 Grundtypen von Stalkern ab, die zum Teil in weitere Unterkategorien unterteilt wurden (. Tab. 5.2). Um den Praxisbezug zu gewährleisten, legten die Autoren auf manche Aspekte besonderen Wert: Es wurde darauf geachtet, dass möglichst wenig Fachvokabular in der Beschreibung der unterschiedlichen Stalkingtypen Verwendung fand, da dass Modell ja von Polizeibeamten benutzt werden soll, die in aller Regel über keine fundierte sozialwissenschaftliche oder klinische Vorbildung verfügen. Die Interrater-Übereinstimmung wurde genau geprüft, um sicherzustellen, dass die verschiedenen Kategorien auch eindeutig genug waren, um zur Analyse von Einzelfällen ohne größere Schulung genutzt werden zu können. Den Angaben von Boon und Sheridan (2001) zufolge berichteten verschiedene Polizeieinheiten aus Großbritannien und den USA über positive Erfahrungen im praktischen Einsatz der Typologie. Expartnerstalking (»expartner harassment«). In Übereinstimmung mit anderen Untersuchungen stellt auch hier das infolge einer Beziehung einsetzende Stalking zahlenmäßig die größte Gruppe dar.
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
. Tabelle 5.2. Stalkingtypologie für die Polizei. (Nach Boon u. Sheridan 2001)
5
Expartnerstalking
Schwärmerisches Stalking
Wahnhaftes Stalking
Sadistisches Stalking
Häufigkeit
50,0%
18,5%
15,3%
12,8%
Motiv
Wut, Groll
Liebe
Wahnhafte Fixierung
Kontrolle
Dauer
Lang
Kurz (bei Intervention)
Lang
Lang
Emotionale Reaktion Opfer
Ärger, Angst, Hass
Genervtheit, Verlegenheit
Angst, Irritation
Angst, Ohnmacht
Risiko des Opfers
Abhängig von Umständen und räumlicher Nähe
Gering
Hoch
Hoch
Interventionsmöglichkeit
Mittel
Hoch
Gering
Sehr gering
Rückfallwahrscheinlichkeit
Abhängig von Umständen und räumlicher Nähe
Gering
Abhängig von Kontaktmöglichkeit
Sehr hoch
Typischerweise gibt es eine Vorgeschichte häuslicher Gewalt, doch nachdem der Täter durch die Trennung die Macht über sein Opfer verloren hat, sind Aggressivitäten auch in der Öffentlichkeit häufiger. Die Perspektive des Stalkers ist rückwärtsgewandt, er empfindet Wut und Bitterkeit über den Verlauf und das Ende der Beziehung. Oftmals werden Dritte in die Dynamiken hineingezogen, Familie und Freunde werden vom Stalker nicht selten für seine Belästigungskampagne instrumentalisiert. Bei diesen Fällen treten gehäuft Drohungen, körperliche Gewalt und Sachbeschädigungen auf. Neue Beziehungen des Opfers führen in der Regel zu Eifersucht und aggressiven Handlungen. Die Täter agieren wütend und impulsiv, wobei sie oftmals wenig Vorsicht walten lassen zu vermeiden, bei ihren Aktivitäten von der Polizei auf frischer Tat ertappt zu werden. Fallmanagement: Drohungen des Stalkers sollten
ernst genommen werden. Auseinandersetzungen zwischen Täter und Opfer auf verbaler, juristischer oder finanzieller Ebene gilt es so weit wie möglich zu vermeiden, denn sie bergen die Gefahr einer Eskalation. Aus demselben Grund sollte die Betroffene dem Stalker im sozialen Alltag aus dem Weg gehen. In Extremfällen ist ein Umzug des Opfers zu überlegen; dabei ist eine große physische Distanz eher erfolgversprechend als die Geheimhaltung des neuen Wohnortes.
Schwärmerisches Stalking (»infatuation harassment«). Der Stalker ist emotional in einem Zustand,
der großer Verliebtheit ähnelt. Er würde sein Opfer nie als Opfer bezeichnen, sondern es etwa »meine Geliebte« nennen. Verehrung dominiert sein Leben, nahezu alle Dinge und Vorkommnisse werden in Hinblick auf das Opfer interpretiert. Sieht er beispielsweise eine Werbeanzeige für einen Urlaub am Meer, verliert er sich in Träumereien, wie schön es dort gemeinsam mit der von ihm angebeten Person wäre. Seine Perspektive ist zukunftsorientiert, seine Gedanken sind darauf ausgerichtet, was einmal sein könnte. Die das Opfer betreffenden Fantasien sind durchweg positiver und romantischer Natur, sodass Drohungen oder Beschimpfungen eigentlich nicht auftreten. Das Gewaltrisiko ist dementsprechend gering. Nicht selten beginnt das Stalking anonym: Das Opfer entdeckt beispielsweise Liebesbekundungen im Briefkasten oder unter der Windschutzscheibe seines Autos. Eine weitere typische Vorgehensweise ist es, dem Opfer verdeckt zu folgen und dann ein Zusammentreffen zu inszenieren, was vermeintlich zufälliger Natur ist. Diese Taktik dient dem Ziel, die Zielperson diskret davon zu überzeugen, dass der Stalker und das Opfer viele Gemeinsamkeiten haben, an die es sich anknüpfen lässt (Sheridan u. Blaauw 2002). Weitere charakteristische Verhaltensweisen sind beispielsweise, dem Objekt der Vereh-
77 5.2 · Allgemeine Modelle verschiedener Arbeitsgruppen
rung unzählige Geschenke zukommen zu lassen oder über den Weg der Annäherung an Freunde oder Kollegen persönliche Informationen über das Opfer zu erhalten. Fallmanagement: In der Frage des Umgangs mit
solchen Stalkern wird zwischen 2 Altersgruppen unterschieden. In Fällen von schwärmerischer Verfolgung und Belästigung durch Jugendliche und junge Erwachsene ist eine aktive Beeinflussung der kognitiven Perspektive des Stalkers indiziert. Es muss deutlich gemacht werden, wie unangenehm die Verhaltensweisen für das Opfer sind und zudem, welche rechtlichen Konsequenzen drohen können. Eine gewisse Empathie bei der Aufarbeitung der Fehlperspektive des Stalkers ist angebracht, wobei zugleich auch eine klare Grenzziehung stattfinden muss, welche künftigen Verhaltensweisen inakzeptabel sind. Beim schwärmerischen Stalking im mittleren Lebensalter sollte versucht werden, soziale und physische Distanz zwischen dem Stalker und dem Opfer zu schaffen, wie beispielsweise einer Versetzung bei wiederholten Belästigungen und unerwünschten Kontaktversuchen am Arbeitsplatz. Viele dieser Stalker haben zudem Probleme in nahen zwischenmenschlichen Beziehungen, hier können eine Therapie oder eine fachliche Beratung hilfreich sein. Wahnhaftes Stalking (»delusional fixation stalking«). Diese Gruppe wird in eine gefährliche und
eine wenig gefährliche Kategorie unterteilt. Beiden gemeinsam ist, dass sie unter einer psychiatrischen Erkrankung oftmals wahnhafter Natur leiden. 5 Der gefährliche Typus wird regelmäßig als schizophren oder mit einer Borderlinestörung diagnostiziert. Er ist häufig bereits vorher auffällig gewesen und bei der Polizei bzw. bei psychiatrischen Diensten bekannt. Nicht selten sind bei ihm Vorstrafen festzustellen, z. B. wegen Stalkings. Seine Fixierung auf das Opfer ist stark ausgeprägt, zugleich aber auch häufig inkohärent, das heißt etwa, dass er zu unregelmäßigen Zeiten an verschiedenen Orten auftaucht. Nichtsdestoweniger glaubt er wahnhaft an irgendeine Art von Beziehung zwischen ihm und dem Opfer, wenngleich objektiv betrachtet zuvor nicht einmal ein direkter oder indirekter Kontakt vorhanden war. Er ist gegenüber dem Opfer häufig
5
gewalttätig, wobei auch sexuelle Übergriffe vorkommen können. Sein Stalkingverhalten ist durch eine heftige Intensität charakterisiert, beispielsweise durch dauerhafte Telefonanrufe oder Besuche am Arbeitsplatz des Opfers. Die Kommunikation des Stalkers ist oft auch obszöner Natur. Er lebt meist isoliert und eher am Rande der Gesellschaft und geht keiner geregelten Tätigkeit nach. Seine Opfer sind in der Regel sozial höher stehend, etwa Prominente oder Personen, die auf lokaler Ebene einen Namen besitzen, wie Professoren oder Ärzte. 5 Der wenig gefährliche Typus geht von einer idealisierten, exklusiven Beziehung zum Opfer aus. Diese ist wahnhafter Natur und gründet sich beispielsweise im Vorhandensein eines Liebeswahns. In der Regel kannte der Stalker das meist weibliche Opfer nicht oder kaum. Er formuliert keine Drohungen, ist aber der unerschütterlichen Überzeugung, dass eine Beziehung zwischen ihm und dem Opfer besteht. Lässt sich seine Vorstellung eines gemeinsamen Schicksals nicht mehr mit der Realität wahnhaft synchronisieren, schreibt er dies dem negativen Verhalten eines Dritten zu, der die Beziehung vermeintlich stört. Diese dritte Person ist möglicherweise das Ziel feindseliger Handlungen des Stalkers. Fallmanagement: Die gefährliche Untergruppe des wahnhaften Stalkers ist weder einer argumentativen noch einer juristischen Intervention zugänglich. Alleine eine psychiatrische Behandlung hat Aussicht auf Erfolg. Kontakte mit dem wenig gefährlichen Typus sollten komplett vermieden oder – falls dies nicht möglich ist – zumindest kurz gehalten werden. Man sollte sich nicht auf Diskussionen egal welcher Art einlassen. Juristische Unterstützung kann nicht selten für das Fallmanagement hilfreich sein. Sadistisches Stalking (»sadistic stalking«). Der sadistische Typus sieht sein Opfer, das er meist zuvor nur flüchtig kennt, als Jagdobjekt. Im Verlauf seines perfiden Vorgehens versucht er zunehmend, Kontrolle über mehr Lebensbereiche des anderen zu gewinnen, woraus er Lust und die Motivation seines Handelns bezieht.
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
Der sadistische Stalker wählt ein Opfer danach aus, ob es wert ist, zerstört und klein gemacht zu werden. Es handelt sich deshalb meist um jemanden, der von dem Stalker zu Beginn des Stalkings als glücklich, zufrieden, stabil und »gut« wahrgenommen wurde. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb das Opfer und sein Umfeld keinerlei Idee haben, warum gerade sie zum Ziel von Stalking werden. (Sheridan u. Blaauw 2002, S. 21)
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Diese Stalker gehen typischerweise recht subtil vor und manipulieren oder verändern etwa Gegenstände in der Wohnung oder im Auto des Opfers, sodass die Betroffenen sich fragen, ob sie nicht unter Wahnvorstellungen leiden. Ziel für den Stalker ist es, dass Opfer zu zerrütten und seelisch zu destabilisieren. Beispiele für solche Handlungen sind benutzte Aschenbecher in der Wohnung des Opfers in dessen Abwesenheit zu hinterlassen oder Nachrichten im abgeschlossenen PKW zu platzieren. Die Identität dieser Täter bleibt häufig über Monate oder sogar Jahre unerkannt. Das ermöglicht ihnen oftmals äußerst manipulative Tätigkeiten, die ihre Lust nach Macht und Kontrolle befriedigen. Ein besonders arglistiges Exempel ist der Stalker, der das Auto des Opfers zielgerichtet beschädigt, um dann bei der vermeintlichen »Panne« als Helfer zur Seite zu stehen. Vor allem psychische aber auch physische Gewalt treten in dieser Gruppe regelmäßig auf. Obwohl generell bei Stalking eher die Ausnahme, sind in dieser Gruppe psychopathische Persönlichkeiten keine Seltenheit. Ein Fallbeispiel soll die Dynamik des sadistischen Stalkings verdeutlichen (Sheridan u. Boon 2002): Nach dem Tod ihres Ehemannes lernte eine Frau mittleren Alters einen anderen Mann aus der Nachbarschaft kennen, mit dem sie eine Beziehung einging. Als sie zu glauben begann, dass jemand unerkannt in ihr Haus eindringt und etwa ihre Zahnbürste benutzte, konnte sie sich auf seine Nähe stützen und wurde so zunehmend emotional von ihm abhängig. Eines Morgens fand sie vor der Haustüre die sterblichen Überreste ihres früheren Gatten, die offensichtlich jemand ausgegraben hatte. Sie wurde mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert. In dieser schwierigen Zeit bezeichnete sie ihren neuen Partner als unverrückbaren Fels, der ihr zur Seite stand. Drei Monate später überführte
die Polizei ihren Freund, die Leichenschändung durchgeführt zu haben. In der Vernehmung zur Motivation für seine Tat gab er an, dies sei seine Art gewesen zu fragen: Was hatte ihr Ehemann, was ich nicht habe? Fallmanagement: Fälle von sadistischem Stalking
sind zum einen sehr ernst zu nehmen und zum anderen außergewöhnlich schwer zu handhaben. Den Rechtfertigungen und alternativen Schilderungen der Täter sollte man nicht ohne Weiteres glauben, da sie aufgrund ihrer psychopathischen Persönlichkeitsstruktur oftmals manipulativ und unter Zuhilfenahme von Lügen agieren. In schweren Fällen sollte das Opfer überlegen umzuziehen. Allerdings ist es hier von größerer Bedeutung, dass die Adresse des neuen Wohnortes geheim bleibt, als dass das Opfer möglichst viel räumliche Entfernung zwischen sich und den Täter bringt.
Fazit In der praktischen Anwendung der Typologie durch die Polizei sollten 4 Aspekte besondere Beachtung finden (Sheridan u. Blaauw 2002): 1. Es gilt zu bedenken, dass manche Stalker – etwa der sadistische Typus – verdeckter agieren als andere, wie z. B. der wahnhafte Stalker. Dies impliziert, dass es im ersteren Fall deutlich schwieriger ist, den Täter durch Spuren, Zeugenaussagen oder durch das Antreffen auf frischer Tat zu überführen. 2. Stalker aus der schwärmerischen und der wahnhaften Kategorie sprechen offener über ihr Verhalten und ihre Intention als die der sadistischen und der Expartnergruppe. Deshalb ist bei der Frage nach Geständnissen und bei der Informationsgewinnung im Rahmen von Vernehmungen mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen zu rechnen. 3. Sadistische und Expartnerstalker können ihr Verhalten häufiger mit »guten« Argumenten überzeugend rechtfertigen als wahnhafte und schwärmerische Täter. Gerade für wenig erfahrene Beamte ist es deshalb oftmals schwierig, die Handlungen der erstgenannten beiden Typen als echtes Stalking zu erkennen und nicht etwa als »normale« Auseinandersetzung infolge einer Trennung zu beurteilen.
79 5.3 · Spezielle Typologien von Prominentenstalkern
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4. Interventionen seitens der Polizei können je nach Typus unterschiedliche Effekte auf den weiteren Verlauf des Falles und auf das Gefahrenrisiko haben. Bei wahnhaften, bei sadistischen und bei bestimmten Expartnerstalkern führt das Einschalten der Polizei gelegentlich zu einer Intensivierung, zumindest aber zu einem unveränderten Fortlauf des Stalkings. Bei anderen Stalkern aus der Expartnergruppe oder bei solchen aus der schwärmerischen Kategorie ist dies deutlich seltener der Fall.
scheinen sich unterschiedliche Grundtypen über die verschiedenen theoretischen Systeme und Untersuchungen hinweg zu verdichten. Die die vorhandenen Modelle sollten weiter ausgearbeitet und verfeinert werden, vor allem die Typologie von Mullen et al. und für den Bereich des Fallmanagements das System von Sheridan und Boon.
Wie von den Autoren selbst angeführt, bildet ihre Typologie vor allem schwerwiegendes Stalking ab. Sie argumentieren, dass es hauptsächlich derartige Fälle sind, mit denen die Polizei konfrontiert ist und dass ihr Kategoriensystem speziell für dieses Arbeitsfeld konstruiert wurde. Das Modell ist aus diesem Grund als Orientierungshilfe bei der Beratung für ein breitgefächertes Spektrum von leichten bis schweren Stalkingfällen nur mit Einschränkungen einsetzbar. Denn man muss in einer Vorauswahl erst einmal erkennen, ob es sich um einen Vorfall am dramatischeren Ende des Stalkingkontinuums handelt, bevor man Sheridans und Boons Typologie zu Rate zieht. Zudem sind einige phänomenologische »Löcher« erkennbar, sodass bestimmte Tatkonstellationen durch die Brille des Modells nicht erkennbar sind. So existiert beispielsweise eine Form von Tötungs- bzw. schweren Gewaltdelikten, denen Stalking vorausgeht und bei denen es sich um vorher polizeilich unauffällige, eher sozial überangepasste Persönlichkeiten handelt, die scheinbar plötzlich ausrasten und eine impulsive Tat begehen (7 Kap. 12). Ebenso erscheint die Gruppe des Expartnerstalking »überinklusiv« und beinhaltet doch sehr unterschiedliche Fälle. Das schätzen die Konstrukteure der Typologie ebenso ein und planen, 2 Subtypen für diese Kategorie zu erstellen (Sheridan, persönl. Mitteilung, März 2004). Insgesamt stellt das System aber ein hilfreiches Werkzeug für die polizeiliche Arbeit mit Stalking dar, das für die Zielgruppe gut verständlich und in diesem Anwendungsbereich bislang konkurrenzlos ist. Mit den bisher entwickelten typologischen Modellen wurde eine gute Basis in theoretischer und empirischer Sicht erarbeitet. Wie oben ausgeführt
Typologien für Prominentenstalker wurden bislang vor allem aus einer Perspektive der Risikoanalyse und des Krisenmanagements heraus entwickelt. Zielrichtung war hier, einen definitorischen Rahmen zur Verfügung zu haben, der eine bessere Einschätzung des laufenden Einzelfalls ermöglicht. Frühere Versuche der Erstellung solcher Modelle waren bereits für Anschläge auf Politiker unternommen worden. Typologische Systeme für Attentäter, die eher deskriptiver Natur waren, lieferten beispielsweise bereits Anfang des letzten Jahrhunderts MacDonald (1911) und in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg Middendorff (1968). Es wurden auch Schemata entwickelt, die für die Prävention von Anschlägen hilfreich sein sollten. Auf der Basis einer relativ schmalen empirischen Basis von 17 Attentaten auf US-Präsidenten entwickelte Clark (1982, 1990) 4 Kategorien von Tätern, die sich anhand der Rationalität in ihren Motiven und ihrem psychischen Zustand voneinander unterscheiden ließen. Die ersten speziellen Taxonomien für Prominentenstalker entstanden im Umfeld des Personenschutzes von Hollywoodstars. Wenig verwunderlich erscheint deshalb, dass wissenschaftliche Kriterien zunächst nachgeordnet waren und die Praktiker in der Konstruktion wenig theoriegeleitet vorgingen und keinen hohen sozialwissenschaftlichen Anspruch offenbarten. Die empirische Überprüfung dieser US-amerikanischen Typologien steht nicht zuletzt deshalb weiterhin aus.
5.3
Spezielle Typologien von Prominentenstalkern
Dantos Klassifikationssystem Der inzwischen verstorbene kalifornische Psychiater und Stalkingberater Danto schlug früh ein exklusi-
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
ves Schema für prominente Opfer vor. Seine in den 80er-Jahren entwickelte Skala scheint aber vor allem auf Augenschein zu beruhen und lässt konzeptionelle Tiefe vermissen. Das Modell orientiert sich in seiner Struktur aufsteigend am Ausmaß der mutmaßlichen Gefährlichkeit, die der Stalker für die Person des öffentlichen Lebens darstellt (Danto 2001). Folgende 7 Abstufungen wurden vorgenommen: 5 Der Fan (»fan«): Der Fan versucht persönliche Andenken wie Autogramme oder Fotos zu erhalten. Er stellt keine Bedrohung für den Star dar. 5 Der erotomanische Verehrer (»erotomanic
worshiper«): Dieser Typus verehrt den Star und
geht davon aus, dass er zurückgeliebt wird. Der Prominente wird zu einem Fixpunkt in der Fantasiewelt des Stalkers. 5 Der obsessive Fan (»obsessed fan«): Der Stalker unternimmt hier den Versuch, sein Leben völlig auf den Star zu fokussieren. Dahinter steht eine auf die Bedeutsamkeit des Prominenten ausgerichtete narzisstische Fantasie. Die gedankliche Fixierung auf die Person des öffentlichen Lebens kann auch auf schizophrene oder wahnhafte Erkrankungen zurückzuführen sein. 5 Der Kontrolltypus (»controller«): In solchen Fällen geht die Motivation über das Verlangen nach einem romantischen Kontakt hinaus. Der Stalker strebt an, zumindest symbolisch, Macht über das Leben und die Karriere des Prominenten zu gewinnen. Selbst wenig erfolgreich in seiner Lebensgestaltung, sucht er Aufwertung in der Bedeutung und Bekanntheit des von ihm verfolgten Stars. 5 Der mit Gewalt drohende Stalker (»violent
threatener«): Dieser Typus reagiert mit Wut
darauf, dass der Prominente nicht auf seine Kontaktversuche und die von ihm gezeigte Zuneigung eingeht. Dies ruft bei dem Stalker ein tiefes Gefühl der Ohnmacht hervor, worauf er durch Drohungen versucht, wieder Kontrolle und Macht über die Situation zu gewinnen.
durchlaufen. Seine Fähigkeit zur Realitätsprüfung ist geschwächt, und er zeigt sich überzeugt, dass der Tod des Prominenten ein notwendiges Opfer darstellt. Gelegentlich glaubt der Stalker von einer anderen Kraft gelenkt zu werden. Üblicherweise hat er sich bereits Gedanken oder sogar konkrete Pläne gemacht, wie er seinen Anschlag durchführen kann. Die in der Typologie postulierte Zunahme der Gefährlichkeit ist bei den in dieser Form angelegten Stalkinggruppen sicherlich nicht haltbar. Tatsächlich stehen hier theoretisch sinnvolle und wenig überzeugend ausgearbeitete Modelle relativ unverbunden nebeneinander, wie etwa die psychiatrische Kategorie der Erotomanie (Liebeswahn), die wissenschaftlich gut abgesichert ist, und der dramatisch im Effekt angelegte »death threatener«. Die strukturelle Problematik lässt sich auch daran erkennen, dass es nicht nachvollziehbar ist, weshalb ein Stalker, der Gewalt anwendet, zuvor unbedingt solche unterschiedlichen psychischen Phasen wie eine Wahnerkrankung, Machtfantasien und Wut durchlaufen haben muss. Tatsächlich sind dies alles relevante Faktoren im weiten Feld des Stalkings von Personen des öffentlichen Lebens; in dieser Konstruktion erscheinen die Einflussgrößen jedoch recht beliebig zusammengewürfelt. Besonders fragwürdig sind die beiden Gruppen des mit Gewalt und des mit dem Tod drohenden Stalkers, die die Vorstufen zu dem mordbereiten Täter bilden sollen. Tatsächlich zeigt sich immer wieder, dass bei prominenten Adressaten Drohschreiben vermutlich statistisch in keinem Zusammenhang mit tatsächlich auftretender Gewalt stehen (Meloy 2001a, 2003). Drohungen als zuverlässigen Vorhersagefaktor in eine Typologie einzuarbeiten erscheint deshalb zweifelhaft und stellt einen weiteren Hinweis darauf dar, dass es dem Kategoriensystem an Validität, aber auch an praktischer Nützlichkeit für Risikovorhersagen mangelt.
5 Der mit dem Tod drohende Stalker (»death
threatener«): Eine reale oder fantasierte Frus-
tration treibt diesen Stalker an. Signifikant an ihm ist, dass er bereits früh eine Affinität zu Gewalt zeigt. 5 Der mordbereite Stalker (»the Killer«): Dieser Täter hat bereits die vorhergehenden Stufen
Gavin de Beckers Starstalkertypologie Ein erfolgversprechenderes Modell, das konkrete Anhaltspunkte für die Einschätzung und das Management von Starstalkern gibt, stammt von de Be-
81 5.3 · Spezielle Typologien von Prominentenstalkern
cker (1994). Obgleich ohne akademischen Hintergrund gilt der US-Amerikaner, dessen Unternehmen zahlreiche Hollywoodprominente berät, als einer der auch auf theoretischer Ebene einflussreichsten Experten auf dem Gebiet der obsessiven Verfolgung und Belästigung. De Beckers System unterscheidet zunächst 4 Motivklassen, die jedoch nicht starr voneinander abgegrenzt sind, sondern zugleich auch verschiedene Stadien ein und desselben Stalkingvorfalls markieren können. 5 Beziehungsmotivierte Stalker (»attachment-
seekers«): Angehörige dieser Kategorie streben eine persönliche Beziehung zu der prominenten Person an. Sie erkennen aber – im Gegensatz zu am Liebeswahn erkrankten Stalkern – dass bislang keine derartige Verbindung besteht. Ein Beispiel ist der Reagan-Attentäter John Hinckley, der durch seinen Anschlag die Aufmerksamkeit der Schauspielerin Jodie Foster auf sich ziehen wollte. 5 Identitätsmotivierte Stalker (»identity-seek-
ers«): Diese Stalker setzen sich auf die Spur von
Prominenten, um ein anderes Ziel zu erreichen, nämlich selbst an Bedeutung und Identität zu gewinnen. Geradezu prototypisch erscheint hier Mark David Chapman, der seine Motivation, John Lennon zu erschießen, später mit dem Satz erläuterte: »Ich war ›Mr. Nobody‹, bis ich den größten ›Somebody‹ der Welt getötet habe«. 5 Durch Zurückweisung motivierte Stalker (»re-
jection-based«): Hier geht es um das Unterfan-
gen, eine wahrgenommene Zurückweisung seitens des Stars rückgängig machen zu wollen oder zu rächen. Beispielsweise kippte Roberto Bardos überschwängliche Verehrung für die junge Schauspielerin Rebecca Schäfer in mörderischen Hass um, nachdem er sie in einer Sexszene gesehen hatte und ihm zusätzlich der Zugang zu ihren Dreharbeiten verwehrt wurde. 5 Durch Wahnvorstellungen motivierte Stalker
(»delusion-based«): Die Stalker in diesen Fällen
leiden unter einer psychotischen Erkrankung, wie beispielsweise einer Erotomanie. Die dabei auftretenden Wahnvorstellungen bedingen die Fixierung auf das Opfer. Das Annäherungs- und Kontaktverhalten speist sich aus wahnhaften Ideen, wie etwa »Du bist meine Schwester« oder »Gott befahl mir, dir eine Nachricht zu überbrin-
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gen«. Ein Exempel für diese Kategorie stellt Arthur Jackson dar, der der Überzeugung war, dass die Ermordung der Schauspielerin Theresa Saldana der einzige Weg sei, mit ihr vereinigt zu werden. Jackson hatte die Vorstellung, dass er nach der Tat hingerichtet werden würde und in einem Leben nach dem Tod mit dem Star auf immer zusammen sein könnte. Er lauerte Saldana schließlich vor ihrem Haus auf und verletzte sie mit 10 Messerstichen schwer. 5 Der naive Verfolger (»naive pursuer«): Diese Gruppe wird von de Becker als Pseudokategorie bezeichnet, da es sich hier nicht um Stalker im eigentlichen Sinne handelt. Der naive Verfolger strebt eine Beziehung mit dem Star an, häufig romantischer Natur. Seine Vorstellung lautet in etwa: »Ich bin in den Prominenten verliebt, deshalb ist dies eine Liebesbeziehung. Ich verhalte mich wie Menschen handeln, die verliebt sind.« Andere Motive des naiven Verfolgers können beispielsweise darin begründet liegen, eine aus seiner Sicht offene Angelegenheit zu klären, etwa weshalb er keinen Job im Büro des Stars erhalten hat oder warum sein Manuskript abgelehnt wurde. Im Unterschied zu Stalkern, die obsessiv auf eine Person oder Sache fixiert sind und dabei zumeist eine enorme Realitätsverzerrung aufweisen, erkennt diese Gruppe lediglich die Unangemessenheit des eigenen Verhaltens nicht. Bezüglich ihrer Persönlichkeit wirken sie oftmals arglos und etwas begriffsstutzig, doch sind naive Verfolger rationalen Argumenten prinzipiell zugänglich. Es ist deshalb wichtig, ihnen direkt und unmissverständlich klar zu machen, dass ihre Kontaktversuche unerwünscht sind und keinen Erfolg haben werden. Eine solche Strategie, konsequent umgesetzt, beendet oftmals das belästigende Verhalten. Die Typologie von de Becker gründet sich auf umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit Prominentenstalkern, was auch daran erkennbar ist, dass jedem Typus ein Risikopotenzial und mögliche Handlungsempfehlungen zugeordnet sind. Bei einzelnen Wissenschaftlern stieß das Modell durchaus auf Wohlwollen (z. B. Mullen et al. 2000), wobei allerdings eine empirische Validierung als wünschenswert erachtet wurde.
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
Gegenüber dem System von de Becker könnte kritisch angemerkt werden, dass hier motivationale Kategorien wie Ärger über eine Zurückweisung oder die Suche nach einer Beziehung mit psychiatrischen Kategorien, wie Wahnerkrankungen, gemischt werden. Da im Unterschied zu anderen Typologien (z. B. Zona et al. 1993, 1998), die auch auf verschiedene Referenzdimensionen zurückgreifen, das Modell von de Becker anschaulich erscheint und ebenso von vielen Mitarbeitern seines Unternehmens im Fallmanagement genutzt wird, kann eine gewisse Reliabilität in der Anwendung vermutet werden. Von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet wäre eine Konstruktion anhand einheitlicher Kriterien sicherlich wünschenswert. Allerdings orientieren sich Modelle, die speziell für die Praxis entwickelt werden, häufiger verstärkt an phänomenologischen Aspekten des Geschehens als an den dahinterstehenden Ursachen. So achtete beispielsweise die Forschergruppe um Sheridan (Boon u. Sheridan 2001, Sheridan u. Boon 2002) wie bereits erwähnt auf eine gute Verständlichkeit ihrer Typologie auch für Laien, da ihr System vor allem von Polizeibeamten zum Fallmanagement genutzt werden soll. Auch in Sheridans Modell sind übrigens unterschiedliche Kategorien nebeneinander gestellt, die uneinheitlich entweder durch die Vorbeziehung zwischen Täter und Opfer oder durch die Motivation des Stalkers bzw. bei ihm vorhandene Psychopathologien strukturiert werden.
Fixierungen auf Personen des öffentlichen Lebens – ein typologisches Modell Der Begriff der Fixierung gewinnt in der Forschung über Prominentenstalker und Attentäter sowie im Fallmanagement immer mehr an Bedeutung (Hoffmann u. Sheridan 2004; James 2004; Kerrigan 2004). Darunter wird die ausgeprägte innere Beschäftigung mit einer bestimmten Person oder mit einer Sachangelegenheit verstanden, wobei nicht nur eine kognitive, sondern auch eine ausgeprägte emotionale Komponente die fixierten Gedanken prägen. Fixierungen sind weit verbreitet und umfassen im normalen Leben beispielsweise romantische Liebe, geschwisterliche und elterliche Zuneigung oder eine intensive Loyalität
gegenüber einem Menschen oder einer Organisation (James 2004). Übersteigt die Fixierung gewisse soziale Normen und wird sie zum zentralen Punkt des Lebens des betroffenen Individuums, wodurch seine soziale Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden kann, dann ist von einer pathologischen bzw. obsessiven Fixierung zu sprechen. Fixierung ist als Oberbegriff zu verstehen, der bei so unterschiedlichen Phänomenen wie Stalking, Attentaten oder Liebeswahn Anwendung finden kann. Zum Beispiel weisen Einzelgänger unter den Attentätern und manche Prominentenstalker in ihrer psychischen Struktur durchaus Ähnlichkeiten auf (Douglas u. Olshaker 1998; Hoffmann 2002c), oder es fallen beide Aspekte gelegentlich in einer Person zusammen, wie dies bei den gewaltsamen Angriffen auf US-Präsident Reagan und auf den Tennisstar Monica Seles zu beobachten war. Nicht jede pathologische Fixierung wird in der Außenwelt unmittelbar offenbar, indem sie sich in sichtbarem Verhalten wie etwa in Briefen an einen Prominenten ausdrückt. Sie kann auch auf eine stille Verehrung beschränkt bleiben. Nicht selten erweisen sich obsessive Fixierungen, die auf Personen des öffentlichen Lebens ausgerichtet sind, insofern als problematisch, da sie die physische und psychische Unversehrtheit des Betroffenen beeinträchtigen. Dies ist bei Gewaltakten offensichtlich, jedoch können auch seelische Belastungen des Prominenten oder seines Umfeldes etwa infolge von Stalking oder von Hassbriefen auftreten. Im Folgenden wird eine Typologie von Individuen vorgestellt, die auf Personen des öffentlichen Lebens fixiert sind. Das Modell wurde auf der Basis von Literaturrecherchen, Einzelfallanalysen, der Auswertung von ungewöhnlichen Zuschriften an TV-Moderatoren und Interviews mit Prominenten entwickelt. Eine frühere Version mit einer anderen Aufteilung der Kategorien wurde bereits an anderer Stelle veröffentlicht (Hoffmann 2002, 2004).
Zielsetzung Das Kategoriensystem wurde speziell für das Fallmanagement entworfen, d. h. für die Bewertung von ungewöhnlichen Kontaktversuchen bei Personen des öffentlichen Lebens und Maßnahmen zum Umgang mit derartigen Vorfällen. In dieser Funktion wird es auch regelmäßig vom Autor in der Beratungs-
83 5.3 · Spezielle Typologien von Prominentenstalkern
praxis verwendet. Die einzelnen Typen werden anhand der Wahrnehmung des Prominenten durch die fixierte Person unterschieden, und zwar dahingehend, welche Rolle und welche Funktion der Prominente für das fixierte Individuum besitzt. Die Idee des Modells ist eine heuristische, nämlich das Wesen der individuellen Fixierung zu verstehen, um eine Einschätzung des möglichen weiteren Verhaltens vornehmen zu können. Dabei geht es zum einen um die Bewertung, ob es vermutlich zu einer weiteren, vielleicht sogar intensiveren Belästigung kommen wird und ob eventuell eine Eskalation in Richtung Gewalt droht.
Theoretische Verankerung Wie in . Kap. 4 dargestellt, liegt mit großer Wahrscheinlichkeit eine der biografischen Wurzeln von Stalking in emotional defizitären Erfahrungen mit Bindungspersonen. Ausgehend von diesen frühen Interaktionserlebnissen bildet das Kind innere Konzepte über sich, über nahe stehende Personen und über das Wesen enger zwischenmenschlicher Beziehungen, denen es an einer Grundlage des Vertrauens mangelt. In diesem Zusammenhang lässt sich die biografische Entwicklung in einem eher kognitivistischen Gleichnis generell als eine Art Theaterstück beschreiben, dessen Dramaturgie und Hauptcharaktere das Individuum selbst mitverfasst. Zunächst schemenhaft, dann mit zunehmender Klarheit entwickelt das Kind eine Vorstellung darüber, welche Art von Person es ist und wo sein Platz in der Welt ist. […] Es ist eine sich entfaltende persönliche Geschichte, die als Drehbuch fungiert, um zukünftiges Verhalten zu leiten. Jeder von uns ist der Hauptdarsteller seines eigenen Stückes. Ob wir uns selbst als Helden, Opfer, Bösewichte, Verlierer oder Superstars sehen, hängt davon ab, wie wir unsere persönliche Geschichte sich entwickeln sehen. Unsere frühen Jahre geben uns ein Bild unseres eigenen Wertes und legen fest, ob unsere persönlichen Geschichten eher Romanzen, Tragödien, Komödien oder Melodramen sind. Wir lernen nicht nur Menschen zu sein, sondern auch welche Art von Menschen wir sind. (Canter 1994, S. 242)
Eine solche eher konstruktivistische Sichtweise von Identität wurde in jüngster Zeit wiederholt für die
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Analyse delinquenten Verhaltens eingenommen. In Großbritannien führte Canter (1994) solche Modelle als Hilfe für die Erstellung von Täterprofilen bei sexuell motivierten Gewaltverbrechen ein. Er schlug vor, das Selbstbild der Täter anhand der beiden Dimensionen »Interpersonelle Nähe« und »Macht« zu strukturieren. Die Wahrnehmung der Gewalttäter auf die von ihnen attackierten Frauen wurde unter dem Gesichtspunkt gruppiert, ob sie das Opfer als bloßes Objekt, als Vehikel für Rachebedürfnisse und Wut oder noch als menschliches Wesen sahen. Da wir diesen Überlegungen zufolge uns selbst und auch anderen Menschen bestimmte Rollen zuordnen, erscheint es lohnenswert, unter diesem Blickwinkel auch Personen zu betrachten, die auf Prominente fixiert sind. Berühmtheiten aus den Medien sind hervorragend geeignet, ja sogar zum Teil von der Unterhaltungsindustrie dafür regelrecht konzipiert, eine persönliche emotionale Beziehung zu ihnen aufzubauen. Die meisten von uns bewahren, wenn wir beruflich oder privat mit Menschen zu tun haben, die wir nicht näher kennen, ein Gefühl für deren Anderssein, eine höfliche Vorsicht, die sowohl uns als auch den Fremden vor Grenzverletzungen schützt. Diese Schüchternheit, wenn der Ausdruck hier erlaubt ist, kommt nicht zum Einsatz, wenn wir es mit Prominenten zu tun haben. Dank des Fernsehens und den anderen Medien kennen wir sie, oder glauben dies zumindest. In einem mehr oder weniger hohen Ausmaß haben wir sie internalisiert, unbewusst zu einem Teil unseres Bewusstseins gemacht, als wären sie in Wirklichkeit Freunde. (Schickel 2000, S. 4)
Wir alle haben also emotionale Beziehungen zu Personen des öffentlichen Lebens, indem wir beispielsweise bestimmte Schauspieler mögen und andere wiederum nicht. Würden wir dem Prominenten in der realen Welt begegnen, hätten wir vielleicht das Bedürfnis ihn anzusprechen oder würden dies auch tatsächlich tun. Doch letztlich wüssten wir, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der aus einem anderen Universum stammt als unserem sozialen Alltag. Nicht so fixierte Personen und Starstalker: Sie sehen den Prominenten als jemanden, mit dem sie in ihrem privaten Leben tatsächlich eine Beziehung ha-
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
ben oder zumindest mit einem Brustton der Überzeugung anstreben. Eine solche sozial unangemessene Erwartungshaltung tritt auch in ihren Briefen an Berühmtheiten deutlich hervor (Leets et al. 1995; Dietz u. Martell 1989).
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Der übergroße Star wird zum Teil der persönlichen Welt gemacht und dient als fantasierter Ersatz für zwischenmenschliche Beziehungen und emotionale Bedürfnisse. Dies kann in einer dermaßen ausgeprägten obsessiven Beschäftigung münden, dass der oder die Prominente als primäre Sinnstiftung dient, was für den Stalker zudem den psychologischen Sekundärgewinn hat, dass er sich nicht mehr mit den Schwierigkeiten und dem Leiden der eigenen Existenz beschäftigen muss. (Hoffmann 2004, S. 114 f.)
Bereits in früheren Studien über Prominentenstalking wurde ein Augenmerk auf die Rollen gelegt, die fixierte Personen sich selbst und der berühmten Zielperson geben. Dietz et al. (1991a, b) griffen dabei auf ein sozialpsychologisches Rollenkonstrukt zurück. Eine Rolle wird demzufolge als eine Menge von Verhaltensweisen verstanden, die ein Individuum, das sich in einer bestimmten Position befindet, in interpersonelle Beziehungen einbringt. Die Ausgestaltung der Rolle ist weitgehend kulturell oder subkulturell bestimmt, als alltagsnahe Beispiele sollen das Bild des Familienvaters oder das des Vorgesetzten dienen. Rollen sind relativ stabil, das Verhalten ihrer Träger wird als kalkulierbar eingeschätzt. Es herrscht in einer Gemeinschaft mehr oder weniger Einigkeit darüber, welche Handlungen von einer Person im Zusammenhang mit ihrer Rolle zu erwarten sind. In ihrer Auswertung ungewöhnlicher Zuschriften an Hollywoodstars, die von insgesamt 214 Personen stammten, fanden Dietz et al. (1991a), dass Berühmtheiten folgende Rollen am häufigsten zugeschrieben wurden: die eines Freundes oder Bekannten (36%), die eines Ehepartners oder Verehrers (27%) sowie die eines Liebhabers (16%). Seltener waren die eines Geschäftspartners (14%), eines Erretters (10%), eines Wohltäters (8%), eines Familienmitgliedes oder an letzter Stelle die eines Feindes (4%). Im Vergleich mit Zuschriften an Mitglieder des US-amerikanischen Kongresses fanden sich be-
merkenswerte Unterschiede: Hier war die häufigste dem Politiker zugeordnete Rolle die eines Feindes (42%), gefolgt von der eines Wohltäters (23%), eines Geschäftspartners (12%), eines Freundes (9%), eines Liebhabers (5%) und eines Ehepartners (2%). Zwischen den beiden Gruppen »Prominente aus der Unterhaltungsbranche« und »Politiker« zeigte sich eine gegenläufige Reihung in der Auftretenshäufigkeit der Rollenerwartungen, die jedoch gut dem jeweiligen öffentlichen Image entsprach. So merkt de Becker an: »Medienfiguren werden geschaffen, um gemocht zu werden. Darin sind sie gut« (zit. nach Gross 2000, S. 186). Und so ist es kein Wunder, dass die Hollywoodgrößen vor allem als Freunde, Ehepartner oder Liebhaber gesehen wurden. In der Presse werden dagegen Politiker häufig als Personen dargestellt, die anderen Unrecht tun und sich gleichzeitig selbst Vorteile verschaffen. Fast schon gegensätzlich können sie jedoch auch als Retter oder Unterstützer wahrgenommen werden. In Übereinstimmung mit diesen populären Vorstellungen zeigte sich auch die Häufigkeit der den Senatoren zugeschrieben Rollen mit den Spitzenreitern Feind und Wohltäter. Die Studien zeigten, dass die Zuschreibung der Rollen über mehrere Zuschriften hinweg relativ stabil blieb: Rund 70% der Prominentenstalker und 92% der auf Politiker fixierten Personen nahmen keinen Rollenwechsel vor. Es spricht einiges dafür, dass selbst psychotische Personen eine gewisse Rollenkonstanz bewahren. Link und Stueve (1994) führten für die Gefährlichkeitsvorhersage von schwer psychisch kranken Patienten das Prinzip der Rationalität innerhalb der Irrationalität ein (»principle of rationality-withinirrationality«). Demzufolge sind die Handlungen und Gedanken von Psychotikern auch von einem Außenstehenden prinzipiell nachvollziehbar. Denn die Patienten agieren konform zu ihren psychotisch bedingten Fehlwahrnehmungen, die wiederum einer gewissen Logik und Konstanz gehorchen. Da viele Prominentenstalker psychische Krankheiten aufweisen (Dietz u. Martell 1989), beansprucht das typologische Modell auch für diese Gruppe Gültigkeit: Fixierte Personen und Stalker versehen zwar möglicherweise wahnhaft bedingt die berühmte Persönlichkeit mit einer privaten Rolle. Sie folgen jedoch diesem Muster und handeln dadurch gewissermaßen rational.
85 5.3 · Spezielle Typologien von Prominentenstalkern
Struktur Das Modell verwendet als Klassifikationsmerkmal die Rollen, die die fixierten Personen in der Dramaturgie ihres privaten Lebens den prominenten Persönlichkeiten zuschreiben. Analog zu den Forschungsergebnissen von Dietz et al. (1991a, b) und den sozialpsychologischen Vorstellungen über Rollen wird eine gewisse Konstanz erwartet, in welches Bild die Personen des öffentlichen Lebens eingeordnet werden. Dennoch wird damit gerechnet, dass manchmal ein Rollenwechsel erfolgt. Dieser kann, je nach Art der neuen Rolle, eine Risikoerhöhung für den Prominenten bedeuten. Die Tatsache, dass über das Verständnis von Rollen ein mehr oder weniger hoher gesellschaftlicher Konsens besteht, wird für das Modell bewusst zweifach genutzt: Zum einen bedeutet das, dass sich die rollenkonformen Erwartungen und Handlungen der fixierten Person nachvollziehen und mit Einschränkungen auch vorhersagen lassen, da sie gewissermaßen auf ein gesellschaftliches geteiltes soziales Wissen Bezug nehmen, welches auch einem Nutzer der Typologie zugänglich ist. Geht man des Weiteren davon aus, dass sozial halbwegs offene Menschen in der Lage sind, die Bedeutung einer bestimmten Rolle abzurufen, ist die Typologie auch Personen zugänglich, die über kein psychologisches Fachwissen verfügen. Obgleich psychologisch begründet, kommt das Modell damit in der Anwendung auch ohne explizite Bezugnahme auf theoretische Konstrukte der Psychologie aus und kann deshalb prinzipiell auch von Nichtfachleuten genutzt werden. Folgende Kategorien werden zum aktuellen Stand in der Typologie unterschieden:
Der Prominente als Geliebter Bei dieser Rollenkategorie strebt die fixierte Person eine Liebesbeziehung mit der berühmten Persönlichkeit an. Außerdem fallen darunter Stalker, die an einer Erotomanie leiden, also die wahnhafte Vorstellung besitzen, dass der Prominente sie seinerseits aktiv liebt. Schreiben Personen aus dieser Kategorie Briefe an Stars, in denen sie ihre Zuneigung ausdrücken, wirkt die Handschrift oftmals kindlich, ein Hinweis auf ihre emotionale Unreife. TV-Moderatoren berichten, dass die absolute Mehrzahl aller ungewöhnlichen Zuschriften, die sie erhalten, Liebesbekundungen beinhalten. Obwohl im ersten Moment
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absolut harmlos klingend, kann gerade diese Rollenzuschreibung in seltenen Fällen eine gefährliche Dynamik aufweisen. Wird die Hoffnung oder Überzeugung der fixierten Person enttäuscht, dass der Star ihr Geliebter ist – und dies kann alleine dadurch ausgelöst werden, dass sie eine öffentliche Äußerung des Prominenten missdeuten –, dann kann die Idealisierung in Hass umschlagen. Die dem Prominenten zugeordnete Rolle wechselt dann von Liebe in Feindschaft. So war es im bereits erwähnten Fall aus dem Jahr 1989 geschehen, dessen dramatische Wendung erstmals zu einer großen öffentlichen Auseinandersetzung mit Stalking führte. Der Teenager Roberto Bardo hatte der Schauspielerin Rebecca Schaeffer zunächst glühende Liebesbriefe geschrieben. Doch der Tonfall der Verehrung und Bewunderung wandelte sich schlagartig in Verachtung, nachdem er eine Liebesszene mit ihr in einem Film in gesehen hatte. Mit Hilfe eines Privatdetektives fand Bardo schließlich die Privatadresse der jungen Frau heraus und erschoss sie an ihrer Haustür.
Der Prominente als Familienmitglied oder Freund Hier sucht die fixierte Person oftmals einen Ansprechpartner, der eine gewisse soziale Wärme verspricht, aber auch jemand ist, mit dem sie ihre alltäglichen Probleme teilen kann. In einer harmlosen Ausprägung wird der Prominente dabei schlichtweg zum unspezifischen Mitglied der Familie ernannt. Diese Stalker sind meist allein stehende, häufig auch ältere Menschen, die in ihren Briefen ausführlich die Routinen und kleinen Abweichungen ihres Alltags schildern, manchmal etwas barock dem Star ihre Zuneigung und Anerkennung ausdrücken und gerne auch kleine Geschenke, wie selbst gestrickte Kleidung oder hausgemachte Nahrungsmittel, mit schicken. Ist der Prominente ein TV-Moderator oder eine Nachrichtensprecherin, werden gelegentlich auch Fotos der eigenen Wohnung beigelegt, bei denen der Star im Hintergrund auf dem Fernsehschirm zu sehen ist. Solche Stalkingvorfälle sind fast immer unproblematisch zu handhaben, so gut wie nie wird versucht, sich der Berühmtheit auf ungebührliche Weise persönlich zu nähern. (Hoffmann 2004, S. 115 f.)
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Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
Etwas problematischer stellen sich manchmal Fälle dar, in denen die fixierte Person aufgrund von Wahnvorstellungen die Person des öffentlichen Lebens etwa als realen Sohn, Vater oder Schwester ansieht. Dabei kommt es vereinzelt zu durchaus vehementen Kontaktversuchen, was nachvollziehbar erscheint, wenn man sich vor Augen führt, dass in der subjektiven Realitätswahrnehmung der Star tatsächlich den Status eines nahen Verwandten innehat.
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Der Prominente als mächtige oder helfende Person In diesen Fällen wendet sich die fixierte Person an den Prominenten, da sie sich Hilfe und Unterstützung erhofft. Dabei kann es einmal um persönliche Belange gehen, aber auch um Dinge, die andere Menschen oder gar die Gesellschaft betreffen. Beispielsweise treten gar nicht selten Zuschriften an Personen des öffentlichen Lebens auf, in denen es um die Rettung der Welt etwa vor Mächten des Bösen geht. In die Rolle der mächtigen oder helfenden Person werden häufiger Politiker und Wirtschaftsführer gesetzt als Prominente aus der Unterhaltungsbranche. Ein in Deutschland bekannter Fall, in dem auch eine solche Rollenzuschreibung auftrat, war der des Attentäters von Wolfgang Schäuble. Der an einer paranoiden Schizophrenie leidende Dieter K. hatte die wahnhafte Vorstellung, dass der Staat mittels »Terrorsendern«, wie er sich ausdrückte, Schmerz und homosexuelle Lustgefühle in seinen Körper einfließen ließ. Er wandte sich 1990 hilfesuchend an den Rechtsanwalt und den damaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Otto Schily, der seinen Auftrag die Bundesrepublik zu verklagen nicht annahm. Bevor Dieter K. – aus seiner Sicht in Notwehr – den damaligen Bundesinnenminister Schäuble als einen der Verantwortlichen für die Folterungen durch die Terrorsender niederschoss, hatte er somit versucht, von einer anderen mächtigen Figur, dem Politiker Schily, Hilfe zu erhalten.
Der Prominente als Objekt devianter Sexualität Bei einer solchen Rollenzuschreibung wird die Person des öffentlichen Lebens zum Zielobjekt paraphiler Fantasien. Allgemein sind sexuelle Fantasien, die Stars betreffen, in der Bevölkerung stark verbreitet, was sich etwa in einschlägigen Medienberichten über die Attraktivität Prominenter oder im Interesse
an Paparazzifotografien von halbnackten oder nackten Berühmtheiten offenbart. Die pathologische Fixierung auf diese Rolle beinhaltet jedoch, dass nicht nur solche eher harmlosen, sexuell getönten Vorstellungen präsent sind, sondern zudem Kontaktversuche unternommen werden oder das sexuelle Interesse publik gemacht wird. Dies geschieht gelegentlich durch die Einrichtung von auf den Star fixierten, nicht kommerziell ausgerichteten Homepages im Internet. Ein Beispiel für eine solche Rollenzuschreibung stellte die jahrelange Zusendung pornografischer Bilder und Briefe an eine Sängerin dar, in denen ausgiebig Fantasien gemeinsamer sexueller Aktivitäten geschildert wurden. Beschränken sich solche Zuschriften auf eine rein sexuelle Ausrichtung, die weitgehend dem pornografischen Mainstream entsprechen und ohne zusätzliche sadistische oder gewalttätige Elemente auskommen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es bei reinen brieflichen Kontakten bleibt (Dietz u. Martell 1989). Es gab jedoch bereits auch (wenngleich glücklicherweise selten) paraphile Fixierungen auf Prominente, die in Gewalttaten münden können. Wie schon weiter oben ausgeführt versuchte der Stalker J. Norman wiederholt auf das Anwesen Steven Spielbergs vorzudringen, um den Regisseur zu vergewaltigen. In einem anderen Fall (in Deutschland) wurde die Schlagersängerin Kristina Bach nach einem Auftritt in ihrer Garderobe von einem lediglich mit einer Gesichtsmaske und einem Trenchcoat bekleideten Mann überfallen: Der Unbekannte trug ein Messer bei sich und sagte »Hier ist Dein größter Lover«, offensichtlich Bezug nehmend auf eine damals populäre Single der Sängerin mit dem Titel »Ich such’ hier nicht den größten Lover«. Nach einem Handgemenge konnte der Mann fliehen. Vor der Attacke waren auf der Homepage von Kristina Bach Nachrichten wie »Irgendwann krieg’ ich Dich« und »Sieh’ Dich vor« aufgetaucht, die unter dem Pseudonym »Lover« verfasst worden waren. Der Analyse des US-amerikanischen Stalkingexperten Park Dietz zufolge hatte der Stalker angeregt von Medienauftritten Kristina Bachs bereits seit längerer Zeit sexuelle Fantasien entwickelt, die er durch den Überfall in einer Vergewaltigung umsetzen wollte. (Hoffmann 2004, S. 116 f )
87 5.3 · Spezielle Typologien von Prominentenstalkern
Der Prominente als Feind Diese Kategorie umfasst sehr unterschiedliche Facetten mit differierenden Sicherheitsrisiken für die betroffenen Personen des öffentlichen Lebens. Vielfach dient das Versenden von Hasstiraden und Anschuldigungen vor allem dem Ausleben eines generellen Wut- oder Hassgefühls. Zum anderen möchten sich derart fixierte Personen gelegentlich auf Augenhöhe mit dem Prominenten stellen und versuchen, durch die fantasierte Gleichstellung narzisstische Befriedigung zu erlangen. Ein Beispiel für eine solche Rollenzuschreibung ist ein männlicher Stalker, der an eine bekannte Künstlerin, aber auch an andere prominente Frauen, immer wieder Schreiben schickte, in denen er sie auf obszöne Weise beleidigte und zugleich ihre gesellschaftlich herausragende Rolle grundsätzlich in Frage stellte. In seiner sexualisierten Aggressivität offenbarte der Schreiber dabei eine tiefe Feindseligkeit gegenüber Frauen, die er durch seine Briefe auszuleben versuchte. Wird die Person in der Rolle des Feindes jedoch für ein konkretes Unglück verantwortlich gemacht, droht manchmal ernste Gefahr. Es sei noch einmal auf das Beispiel von Dieter K. verwiesen, der infolge seiner psychotisch verzerrten Realitätswahrnehmung die Regierung als Verursacher einer ferngesteuerten Folter seiner Gedanken und seines Körpers ansah und aufgrund des Gefühls einer Feindschaft den Innenminister Schäuble lebensgefährlich verwundete. Wie erwähnt ist es ein möglicher weiterer Gefährlichkeitsindikator, wenn die fixierte Person den Prominenten von einer anderen Rolle in die des Feindes umbesetzt.
Der Prominente als »Weg zum Ruhm« Diese Kategorie weist eine große Übereinstimmung mit den identitätsmotivierten Stalkern in der Typologie von de Becker (1994) auf. Denn bei einer solchen Fixierung wird der Prominente weniger als konkrete Person wahrgenommen, denn als Mittel ein wichtiges Ziel zu erreichen, nämlich Aufmerksamkeit, Bedeutung und Identität zu gewinnen. Bedauerlicherweise kann ein solcher Effekt vergleichsweise gut durch ein Attentat auf eine Person des öffentlichen Lebens erzielt werden, bei dem die öffentliche Aufmerksamkeit fast sicher erscheint. Diesen Aspekt hatte etwa Arthur Bremer ganz bewusst im Auge, als er Anfang der 70er-Jahre zunächst
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vorhatte, US-Präsident Nixon zu ermorden, davon jedoch wegen zu umfangreicher Sicherheitsmaßnahmen wieder absah. Stattdessen verletzte er den damaligen Präsidentschaftskandidaten Georg Wallace durch mehrere Schüsse schwer. In sein Tagebuch hatte Bremer unmittelbar vor dem Anschlag notiert: »Wenn in Vietnam etwas Großes geschieht, wird (meine Tat) nicht mehr als 3 Minuten Zeit in den TV-Nachrichten bekommen« (zit. nach de Becker 1999, S. 352). Damit verlieh er seiner Sorge Ausdruck, dass die Ermordung eines Präsidentschaftskandidaten nicht genug Schlagzeilen machen könnte. Wie oftmals bei Fixierungen auf bekannte Persönlichkeiten evident, tritt in der Rollenzuschreibung des Prominenten als Weg zum Ruhm ein narzisstischer Aspekt hervor. In der bereits zitierten, äußerst prägnanten Formulierung des Lennon-Attentäters Chapman wird dieser Aspekt besonders deutlich: »Ich war ›Mr. Nobody‹, bis ich den größten ›Somebody‹ der Welt getötet habe.« Vor allem USamerikanische Autoren wiesen bislang darauf hin, dass ein Attentat auch narzisstische Bedürfnisse von Menschen befriedigen kann, denen es ansonsten im Leben eher an Anerkennung mangelt (Dietz u. Martell 1989; de Becker 1999). Als weiteres Beispiel für eine derartige Dynamik gilt Robert Hoskins, der die Popsängerin Madonna bedrohte und 1995 gewaltsam in ihre Villa in Los Angeles eindrang. Er beschriftete nach seiner Verhaftung die Zellenwände »The Madonna Stalker« (Saunders 1998). Außerdem kokettierte er gerne damit, dass ihn die anderen Häftlinge als »Material Boy« bezeichneten, eine Anspielung auf einen frühen Hit von Madonna mit dem Titel »Material Girl«. Auch in Deutschland gibt es Beispiele für Gewaltakte, in denen der attackierte Prominente als Mittel zum Ruhm genutzt wurde. Eine solche Dynamik verbarg sich offensichtlich hinter dem Anschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke, der verkürzt als allein rechtsradikale Tat in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einging. Tatsächlich verbarg sich hinter dem politischen Kulissenmotiv ein ganz anderer Antrieb für die Tat. Der 23jährige Josef Bachmann, mehrfach vorbestraft und mit häufigen Jobwechseln, verabschiedete sich am 10. April 1968 von seiner letzten Arbeitsstelle in
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5
Kapitel 5 · Typologien von Stalkern
München mit den Worten: »Ihr werdet noch von mir hören – im Fernsehen, im Rundfunk, in der Presse!« (zit. nach Kellerhof 2003, S. 73). Anschließend fuhr er mit dem Nachtzug nach Westberlin und fragte sich dort bei Aktivisten der Studentenbewegung nach Rudi Dutschke durch. Als er diesen mehr oder weniger zufällig auf der Straße antraf, verletzte er den Studentenführer mit 3 Schüssen in Kopf und Oberkörper beinahe tödlich. Der psychiatrische Gutachter erklärte im anschließenden Prozess den Hintergrund von Bachmann wie folgt: [Er …] »träumte davon, ein großer Mann zu sein. Er träumte davon, schöne Frauen zu haben, Geld zu haben. Er träumte davon, ein schönes Leben zu führen. […] Bei Bachmann war das Ziel der Selbstverwirklichung das Herostratische. Er wollte mit einer negativen Tat als negativer Held in die Geschichte eingehen« (zit. nach Kellerhof 2003, S. 76). Glücklicherweise endet nur eine Minderheit aller Fälle, in denen der Prominente als Mittel zum Ruhm gesehen wird, in einem Gewaltakt. Ein häufiger anzutreffendes Muster spiegelte sich im Fall einer Stalkerin wider, die nacheinander mehrere bekannte Musiker mit dem Ziel verfolgte und sie bedrängte, sich selbst ins Rampenlicht zu stellen. Sie hatte die Vision, mit den Prominenten gemeinsam Medienauftritte zu absolvieren. Als ihre Versuche scheiterten, drohte sie, an die Öffentlichkeit zu gehen, um ihre vermeintlichen (aber nicht existenten) Liebesbeziehungen zu den Stars publik zu machen. Sie unternahm mehrfach Versuche, Zeitungsredakteuren die »Story« ihrer Liebschaften zu verkaufen, wurde aber dort nicht ernst genommen. Auch an anderer Stelle schlug sich ihre Sucht nach Ruhm nieder. So trat die Stalkerin beispielsweise mehrfach als Gast in Talkshows auf, die normale Bürger zu sexuellen Themen befragten und sandte anschließend Videoaufzeichnungen der Sendungen an die prominenten Musiker.
Validierungsversuch Um einen Eindruck darüber zu gewinnen, ob überhaupt und wenn ja, wie häufig die unterschiedlichen Rollenzuschreibungen in der Realität zu finden sind, wurden Zuschriften von fixierten Personen an Prominente ausgewertet. Als eine weitere Aufgabe sollte damit in einem Praxisversuch getestet werden, ob das typologische System auch für externe Benutzer handhabbar ist.
Das Untersuchungsmaterial bestand aus 153 Briefen mit obsessivem Inhalt, die an TV-Moderatoren gesendet worden waren. Insgesamt hatten 60 verschiedene Schreiber die Zuschriften verfasst. Für die Gewinnung des Samples waren mehrere Moderatoren angeschrieben oder persönlich angesprochen worden mit der Bitte, ungewöhnliche Zuschriften, die über das normale Maß hinausgingen, zur Verfügung zu stellen. Diese Briefe wurden anschließend von 2 Diplompsychologen mit Erfahrungen in Stalkingfällen durchgegangen. Dabei wurde geprüft, in wie vielen Schreiben unangemessene Erwartungshaltungen formuliert waren, was als Schwellenwert gewertet wurde, dass es sich bei dem Verfasser um eine auf Prominente fixierte Person handelte. Zuschriften, die sich dagegen als normale, vielleicht etwas vehemente Fankontakte oder ähnliches einstufen ließen, wurden aussortiert. Dabei erwies sich die Rate der Schreiben, die fixierten Personen zugeordnet wurden, mit 92,2% als bemerkenswert hoch. Die TV-Moderatoren, die ja letztlich die erste Auswahl der Schreiben getroffen hatten, indem sie sie dem Forschungsvorhaben als auffällig zur Verfügung stellten, hatten also ein gutes Gespür dafür entwickelt, welche der Kontakte auch aus psychologischer Sicht als pathologisch bezeichnet wurden. Das so selektierte Untersuchungsmaterial wurde anschließend einer Probandin vorgelegt, die nur über wenige Vorkenntnisse über Stalking und Fixierungen auf Prominente verfügte. In einer Gesprächssitzung wurden ihr zunächst derartige Phänomene und das Konzept der Typologie erläutert. Zudem erhielt sie Fachartikel zum Thema Prominentenstalking und eine mehrseitige schriftliche Fassung des typologischen Systems. Anschließend bewertete die Probandin die Briefe dahingehend, ob sie jeweils bei den Autoren eine Rollenzuschreibung des Prominenten erkennen konnte und wenn ja, welcher Natur diese waren. In 52,5% der Fälle konnte die Probandin ausmachen, dass der fixierte Schreiber dem Moderator eindeutig eine der Rollen aus der Typologie zuschrieb, in einigen wenigen Fällen waren es sogar zwei Rollen. Zusätzlich erkannte sie zusätzlich in zahlreichen Schreiben leichte Hinweise auf das Vorhandensein einer Kategorie, die ihr jedoch nicht ausgeprägt genug für eine Rollenzuschreibung erschienen.
89 5.3 · Spezielle Typologien von Prominentenstalkern
5 Am häufigsten wies ihrer Einschätzung zufolge
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5 5
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der Autor dem Prominenten die Rolle des Geliebten zu, dies geschah in mehr als jedem 4. Fall (27,9%). In jedem 6. Fall (16,4%) erhielt die TV-Moderatorin die Rolle einer mächtigen und helfenden Person. Der Stalker erhofft sich hier Hilfe und Unterstützung, wobei es um persönliche oder auch um allgemeine Belange gehen konnte. Die Rolle des Feindes (8,2%) bekam weniger als jeder 10. Prominente zugeteilt. Jede 20. Moderatorin (5,0%) wurde von der fixierten Person in der Rolle eines Familienmitgliedes oder Freundes gesehen. Dabei geht es in der Regel um ein Gefühl sozialer Nähe, das sich der Schreiber wünscht oder das er sogar als vorhanden annimmt. Nur sehr selten (3,3%) schrieb der Stalker der Prominenten die Rolle eines Objektes devianter Sexualität zu. In diesen Zuschriften wurden ausführlich sexuelle Fantasien beschrieben, die auf die Moderatorin ausgerichtet waren. In keinem einzigen Fall fand sich Rolle des Prominenten als »Weg zum Ruhm«. Wie oben ausgeführt erhofft die fixierte Person bei solchen Rollenzuschreibungen durch eine öffentliche Verbindung mit dem Star selbst Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten.
Die Rollenzuschreibungen wurden stichprobenartig von einem in Stalking erfahrenen Diplompsychologen geprüft. Es fand sich eine Übereinstimmung zwischen dem Urteil der Probandin und dem des Psychologen in über 90% der Fälle. Das kann als Anzeichen dafür gewertet werden, dass die Typologie, wie in ihrer Konzeption vorgesehen, auch von Nichtfachleuten gut verstanden und eingesetzt werden kann. Die unterschiedliche Gewichtung der gefundenen Rollen korrespondierte außerdem im Großen und Ganzen gut mit den Ergebnissen der früheren Studie über ungewöhnliche Kontaktversuchen bei Hollywoodprominenten (Dietz et al. 1991a). Die in der Typologie tendenziell als problematisch angesehenen Rollenzuschreibungen, nämlich die des Prominenten als Feindes, als Objekt devianter Sexualität oder als Weg zum Ruhm traten erwartungsgemäß selten auf. Wenngleich auch manche der prominenten Empfänger sich durch einige der
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Schreiber beunruhigt fühlten und zudem manche der fixierten Personen auch telefonisch oder persönlich den Kontakt suchten, zeigte sich die Stichprobe insgesamt eher unproblematisch, da wenige aggressive Vorfälle auftraten. Dass die problematischen Rollen, die ja auch den Anspruch besitzen, unter bestimmten Rahmenbedingungen mit einer gewissen Risikoeskalation zu korrelieren, hier selten »Alarm schlagen«, ist durchaus konform mit der Konzeption des Modells.
Fazit Die Reichweite der Typologie kann auf der Basis der Untersuchung als noch nicht optimal angesehen werden, da nur in gut der Hälfte der Fälle eine Zuordnung zu einer der vorgesehenen Rollen erfolgte. Daraus lassen sich mehrere Konsequenzen ziehen. Zum einen kann und sollte der Versuch unternommen werden, das Modell durch zunehmendes Erfahrungswissen und neue empirische Studien weiter zu modifizieren und differenzieren. Dabei könnten auch neue Rollenzuschreibungen der fixierten Person hinzugefügt werden. Das ist prinzipiell unproblematisch, da das Kategoriensystem durch seine prototypische Konzeption jederzeit offen ist für Erweiterungen. Zudem muss angemerkt werden, dass die Typologie nicht den Anspruch erhebt, die unterschiedlichen Fixierungen und Stalkinghandlungen theoretisch zu erklären, wodurch ein sicherlich breiter angelegter Wirkungsbereich angestrebt werden müsste. Sie stellt stattdessen ein pragmatisches, wenngleich auch theoretisch fundiertes Instrumentarium dar, das die Risikoeinschätzung und das Management konkreter Fälle voranbringen soll. Die Typologie ist somit als ein Werkzeug neben anderen für den Umgang mit Stalking und pathologischen Fixierungen zu verstehen. Aus diesem Grund werden in ihr eher kritische als unproblematische Fälle erfasst, sodass eine geringere Differenzierungskraft bei unauffälligen Stalkern – wie hier in der Stichprobe – durchaus in Kauf genommen werden kann.
6 Prominentenstalking
6.1
Begriff des Prominenten – 92
6.2
Unterscheidung zwischen Fan und Stalker – 93
6.3
Bisherige Forschungsprojekte – 95
6.4
Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland – 99
Wenn man sich dem Thema Prominentenstalking annähert, kommt relativ rasch die Frage auf, ob man es mit einer Variante von »normalem« Stalking oder mit einer besonderen Sache zu tun hat. Hierzu gibt es bislang keine eindeutige Meinung unter Experten. In den meisten Fachpublikationen wird die obsessive Verfolgung und Belästigung von Personen des öffentlichen Lebens stillschweigend neben andere Formen des Stalkings gestellt, ohne die Frage einer Abgrenzung explizit zu thematisieren. Andere, wie etwa Dietz (pers. Mitteilung, Juli 2001), der die weltweit erste Studie zu Prominentenstalking leitete, sind der Meinung, dass es sich um zwei unterscheidbare Phänomene handelt, die jedoch Überlappungen aufweisen. Nimmt man zunächst einmal die Gemeinsamkeiten in den Blick, so fällt auf, dass es sich sowohl beim Stalking von »normalen« Personen als auch von Prominenten im Kern um eine Fixierung auf einen anderen Menschen handelt, die auf der Verhaltensebene in wiederholten Kontakt- und häufig auch Annäherungsversuchen Ausdruck findet.
Eine deutliche Differenz besteht jedoch in der Beziehung zwischen Stalker und Opfer: In Fällen der obsessiven Fixierung auf Berühmtheiten ist sie allein fantasiert. Diese durchlässige Grenze zwischen innerer Wirklichkeit und Wunschgedanken gegenüber der realen Welt findet bei Prominentenstalkern auch darin Ausdruck, dass hier ein sehr viel höherer Anteil von Personen mit schweren psychischen Störungen zu finden ist als beim »normalen« Stalking (Dietz u. Martell 1989; Kienlen et al. 1998). Die einzige Ausnahme bilden Fälle, in denen Fremde gestalkt werden, da dort ebenfalls gehäuft schwerwiegende Psychopathologien auftreten. Beim Prominentenstalking findet sich aber noch eine weitere Besonderheit: Wie schon in 7 Kap. 5 angedeutet ist es der Versuch, innerlich an die Größe und das soziale Prestige einer bekannten Persönlichkeit anzuschließen, ein Unterfangen, durch das der Stalker hofft, ein tiefes inneres Bedürfnis zu stillen.
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92
Kapitel 6 · Prominentenstalking
6.1
Begriff des Prominenten
Was ist eigentlich ein Prominenter? Zur Etymologie lässt sich angeben, dass der Ausdruck Anfang des 20. Jahrhunderts aus lateinisch »prominere« entlehnt wurde, das mit »hervorragen« oder »hervortreten« übersetzt werden kann (Kluge 1989). Synonym finden in der Literatur und auch umgangssprachlich weitere Begriffe Verwendung: Der »Star« stammt ursprünglich aus dem Englischen und wird seit dem 19. Jahrhundert auch im deutschen Sprachraum als Ausdruck für eine Film- oder Theatergröße verwendet (Kluge 1989). Mittlerweile hat sich der Bedeutungsraum ausgeweitet, und auch Berühmtheiten mit anderen Berufen werden als Stars bezeichnet, wobei der Begriff im Schwerpunkt auf die Unterhaltungsbranche abzielt. Der Ausdruck »Person des öffentlichen Lebens« ist eher ein technischer und weit gefasster Terminus. Er beschreibt Personen, die regelmäßig am öffentlichen Leben teilnehmen und deshalb verstärkt im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Das Gegenwartskonzept von Prominenz und Startum ist eng mit dem Aufstieg und den technischen Neuerungen der Massenmedien verknüpft. Als Anfangspunkt lässt sich hier der Film als allgemeines Unterhaltungsmedium zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausmachen. Gegenüber Kurzfilmen, die in der frühen Phase des Kinos gezeigt wurden, hielt ab 1909 der abendfüllende Langfilm Einzug. Mit dem neuen Format wurden erstmals nicht mehr nur kürzere Rollen, sondern auch Hauptdarsteller etabliert, das Starsystem Hollywoods nahm seinen Anfang (Schneider 2004). Zeitgleich begannen die Studios damit, Imagebildung und Vermarktung der Schauspieler systematisch anzugehen, was beispielsweise in der Produktion von Publikumszeitschriften, Programmheften und Biografien Ausdruck fand. Der moderne Star war geboren. Dabei wurden auch bewusst Informationen über das Privatleben an die Medien und die Öffentlichkeit gegeben, um weiteres Interesse an der Person des Stars zu schüren und seinen Marktwert zu erhöhen. Schon früh beschränkte sich Prominenz also nicht nur auf die Ebene des öffentlichen Auftritts, sondern beinhaltete zugleich ein Bild des Stars als privaten Menschen. Ein weiterer Schub der Medialisierung setzte nach dem zweiten Weltkrieg mit der Verbreitung des
Fernsehens in den Staaten der westlichen Hemisphäre ein. Schickel (2000) sieht als Folge dieses Prozesses, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Grenze zwischen Realität und Fiktion weitgehend verwischt wurde und damit der Prominente als Medienbewohner Teil des sozialen Alltags vieler Menschen geworden ist. Die zunehmende Verbreitung von Klatsch, auch in seriösen Medien, trug außerdem dazu bei, ein falsches Gefühl von Nähe und Intimität mit den Stars zu erzeugen. Schickel (2000) spricht von »vertrauten Fremden« (»intimate strangers«), um die innere Haltung gegenüber Prominenten zu beschreiben. Ebenso sieht Giles (2000) den Prominenten im Kern als ein Produkt der Medien an. Er führt lakonisch das Bonmot an, dass ein Prominenter eine Person ist, die dafür bekannt ist, eine Bekanntheit zu sein. Obgleich eine solche Definition auf den ersten Blick vielleicht trivial erscheint, verweist sie doch auch auf einige neue Phänomene der Prominenz. So erlangen zunehmend nicht mehr nur Personen im Rahmen ihrer künstlerischen oder beruflichen Aktivitäten Bekanntheit, wie dies klassischerweise etwa bei Sängern, Schauspielern, Politikern oder Sportlern der Fall war. Es gibt auch vermehrt Menschen, die einzig deshalb zu Prominenten werden, weil sie in den Medien präsent sind. Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass sie aus dem nahen Umfeld eines anderen Prominenten stammen oder in bestimmten Fernsehshows auftreten, in denen ihr Tagesablauf dokumentiert wird oder sie bestimmte Aufgaben bestehen müssen. In den letzteren Beispielen der TV-Bekanntheit ist der Prominentenstatus allerdings zumeist vorübergehender Natur, und die Protagonisten sind in der Öffentlichkeit rasch wieder vergessen. Schneider (2004) führte einen formalen Prominenzbegriff ein: Er definierte die so genannte Medienpersönlichkeit als eine Person, die über einen längeren Zeitraum medial präsent ist und deshalb bei einem größeren Publikum einen relativ breiten Bekanntheitsgrad erlangt hat. Dabei bildete er noch einmal Untergruppen, die sich anhand bestimmter Kriterien unterscheiden lassen. Das ist zum einen die Breite der Bekanntheit, etwa ob sie sich auf ein Fachpublikum beschränkt oder die breite Öffentlichkeit umfasst. Dann ist noch der Auslöser für die öffentliche Aufmerksamkeit von Bedeutung, der
93 6.2 · Unterscheidung zwischen Fan und Stalker
z. B. in der fachlichen oder beruflichen Tätigkeit des Prominenten begründet sein kann. Als letzter Punkt wurde die Art des Publikumsinteresses genannt, d. h., ob dieses nur auf die öffentliche Person oder auch auf das Privatleben gerichtet ist. Prominenz wird also zu einem hohen Anteil von der Präsenz in den Massenmedien bestimmt. Zugleich erwartet die Öffentlichkeit fast zwangsläufig die Präsentation eines privaten und persönlichen Images. Häufige Medienauftritte und die Personalisierung des Stars führen dazu, dass viele Menschen eine innere Nähe und Beziehung zu den Prominenten empfinden. All diese Faktoren spielen in der Dynamik von Prominentenstalking potenziell eine Rolle.
6.2
Unterscheidung zwischen Fan und Stalker
Die Schwierigkeit, die sich in Einzelfällen immer wieder stellt, ist die Grenzlinie zwischen Fans und Stalkern zu ziehen. Ist der treue Gefolgsmann, der unzählige Konzerte seines Lieblinssängers besucht und oft nach dem Auftritt am Ausgang wartet, um einen Blick auf den Star aus der Nähe zu erhaschen, bereits ein Stalker? Es erscheint zumindest allein auf der Verhaltensebene kaum möglich, zwischen exzessivem Fan und Stalker klar zu unterscheiden, versucht man beispielsweise wiederholte einseitige Kontaktversuche als Kriterium heranzuziehen. Hinzu kommt, dass gelegentlich der Fan und der von ihm verehrte Prominente verschiedene Vorstellungen darüber haben, an welcher Stelle Kontaktverhalten ins Pathologische zu kippen beginnt. Nach Emerson et al. (1998) spielt bei den auseinanderklaffenden Sichtweisen, wie eine Annäherung an den Star zu bewerten ist, eine zentrale Rolle, dass Personen des öffentlichen Lebens aus soziologischer Sicht offene Figuren sind. Das heißt, viele Menschen haben auf Grund ihrer Medienerfahrungen das Gefühl, die Prominenten auch auf einer persönlichen Ebene zu kennen. Sie nähern sich ihnen deshalb nicht selten auf eine vertraulich-kumpelhafte Weise an, obwohl sie eigentlich Fremde sind, nennen beispielsweise den Star bei seinem Vornamen, artikulieren eine Kritik an seinem Werk oder bitten ihn um einen kleinen Gefallen, wie ein Autogramm oder ein ge-
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meinsames Foto. Zugleich besteht die Erwartungshaltung, dass der Prominente ihren Wünschen mit Freundlichkeit nachkommt. Als Beispiel für eine solche Interaktion mit unterschiedlichen Erwartungen beider Seiten führen die Autoren folgenden Fall an: Ein prominenter Schauspieler forderte einen weiblichen Fan auf, ihn bei der Rückkehr in seine Heimatstadt nicht mehr am Flughafen abzufangen, da ihn das zu sehr an Stalking erinnere. Als er ein Gastspiel in einem lokalen Theater gab, stand die Verehrerin jedoch jeden Tag an seiner Garderobe, folgte ihm außerdem nach der Abschiedsvorstellung in ein Lokal, in dem er mit seinen Kollegen die abgeschlossene Saison feierte, und setzte sich an einen Nebentisch. Die Frau schätze ihr Verhalten als völlig normal für einen Fan ein, wohingegen sich der Schauspieler von ihr gestalkt fühlte. In Interviews und Feldstudien zu Fanverhalten fand Ferris (2001) immer wieder, dass selbst Fans, die ihren Star fast schon exzessiv verehrten, Wert darauf legten, nicht als Stalker gesehen zu werden. Sie äußerten vielmehr sogar Verständnis, dass sich der Prominente vor Stalkern schützen muss. Ähnliches ließ sich auch in Deutschland beobachten. Nachdem über einen problematischen Vorfall einer Stalkerin mit einem Prominenten in den Medien berichtet worden war, äußerte sich ein Fan auf der Homepage des Stars besorgt und hinterließ folgende Nachricht: »So was bringt natürlich auch ganz normale Fans in Verruf!« Es geschieht immer wieder, dass Fans selbst die Nähe zu ihrem Star auf Veranstaltungen suchen und ihn dabei zugleich vor obsessiven Verfolgern, die vermeintlich Schlechtes wollen, abzuschirmen und zu schützen versuchen. Interessanterweise beobachtete Ferris (2001), dass einige Fans eine ungeheure Energie und Kreativität aufwiesen, um private Informationen über den Prominenten zu erhalten oder um Wege zu finden, zu der Berühmtheit vorzudringen. Vom Blickpunkt des außenstehenden Beobachters ließ sich dies kaum von Stalkingverhalten unterschieden. Umso mehr waren sich diese Fans deshalb der Notwendigkeit bewusst, dass sie die Ungefährlichkeit und gute Absicht ihres Verhaltens gegenüber dem Prominenten und anderen Personen verdeutlichen mussten, um nicht mit Stalkern verwechselt zu werden. Giles (2000) beobachtete, dass manche Fans zwar die physische Nähe zu »ihrem« Star suchten,
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6
Kapitel 6 · Prominentenstalking
nicht aber ernsthaft an einer echten zwischenmenschlichen Beziehung interessiert waren. Sie zeigten sich vielmehr vom öffentlichen Image des Prominenten fasziniert; seine individuelle Persönlichkeit erschien ihnen weniger attraktiv. Vielleicht tritt das Differenzierungsmerkmal zwischen Fan und Stalker nicht so sehr im Äußeren, sondern in der Innenwelt klarer hervor. Es ist die Erwartung über die Art der Beziehung zu dem Prominenten, die Unterscheidungskraft besitzt. Fans verfügen hier noch über eine Realitätsbezogenheit. Sie wünschen sich vielleicht eine Liebesbeziehung oder eine andere enge Bindung zu dem Star, wissen letztlich jedoch, dass dies ihren Wunschgedanken entspringt und nicht der Realität entspricht. Ganz anders Stalker: Sie glauben, dass eine wirkliche persönliche Nähe vorhanden ist oder schicksalhaft noch kommen wird und bewegen sich deshalb in einem Bereich, in dem Fantasie und Realität unlösbar ineinander verschlungen sind (Hoffmann 2004). Leets et al. (1995) untersuchten auf empirischem Weg Unterschiede zwischen normalem Fanverhalten und obsessiven Kontaktversuchen an Personen des öffentlichen Lebens. Hierzu befragten sie zunächst knapp 300 Studierende nach Gründen, weshalb sie Kontakt mit einem Prominenten suchen würden. Die Ergebnisse verglichen sie mit Fanbriefen an einen international bekannten männlichen Prominenten, der anonym blieb, und mit Zuschriften von psychisch auffälligen Personen und Stalkern an Hollywoodstars. Es stellte sich heraus, dass das Motiv für die Kontaktaufnahme keine Unterscheidungskraft zwischen normalen und ungewöhnlichen Kontaktversuchen an Prominente besaß. Über alle Gruppen hinweg verteilt fanden sich beispielsweise Äußerungen der Neugierde, etwas über den Star zu erfahren, Ausdrucksformen der Verehrung und Bewunderung oder der Wunsch, in direkten Kontakt mit dem Prominenten zu treten. Als aufschlussreich erwiesen sich hingegen die Erwartungen, die in den Schreiben geäußert wurden. Hier offenbarten sich Stalker dadurch, dass sie unrealistische und bizarre Hoffnungen formulierten, wie etwa den Prominenten zu heiraten, von ihm Kinder zu bekommen, wertvolle Geschenke zu erhalten oder eine sexuelle Beziehung einzugehen.
Die Angemessenheit der Erwartungen erscheint als der bedeutsamste Unterschied zwischen der Kommunikation von denjenigen, die man als normal bezeichnen würde, und von den anderen, die wahrscheinlich unangebrachte, unerwünschte, zudringliche oder sogar gefährliche Annäherungen anstreben. (Leets et al. 1995, S. 120)
Und noch weitere Unterschiede zwischen normalen Fans und Stalkern sind zu benennen: Erstere bewegen sich nicht selten in einer Gruppe oder suchen den Austausch mit Gleichgesinnten über Internetforen oder in Fanclubs; sie schätzen das gemeinsame Erleben, mit anderen über den Star zu sprechen. Prominentenstalker hingegen sind Einzelgänger, was ihre Verehrung der berühmten Person angeht. Die ihnen eigene Gewissheit, eine außergewöhnliche Beziehung zu dem Star zu haben, lässt sie manchmal auf Fans herabsehen. Des Weiteren besteht für den Prominenten zumeist bei Fans die Erfolg versprechende Möglichkeit, direkt darauf hinzuweisen, dass manche Kontaktversuche zu weit gehen, und der Verehrer wird sich häufig an diese Grenzsetzung halten. Anders Stalker: In ihrer verzerrten Realitätswahrnehmung interpretieren sie freundliche Zurückweisungsversuche als verdeckte Zustimmung oder reagieren mit Wut auf die Infragestellung ihrer Fantasie einer perfekten Beziehung. Eine negative Reaktion des Stars, wie etwa Angst oder Ärger, ermutigt sie manchmal sogar weiterzumachen, denn auf diese Weise werden sie von der Berühmtheit zumindest wahrgenommen, was ihrer tiefsten Motivation – gesehen zu werden – Nahrung gibt. Dietz prägte deshalb den Begriff »IdentitätsVampir«, um die kompensatorische Funktion, die die obsessive Verfolgung für das mangelnde Selbstwertgefühl des Stalkers besitzt, zu bezeichnen (pers. Mitteilung, Juli 2001). Verehrung und Begeisterung für Stars ist in Teenagerjahren ein stark verbreitetes und völlig normales Phänomen. Die Identifizierung mit einer berühmten, bewunderten Person besitzt eine entwicklungspsychologische Funktion und dient der Identitätsentwicklung hin zu einer selbstständigen Persönlichkeit, verbunden mit der allmählichen Loslösung aus dem Elternhaus. Aber auch schon in dieser frühen Phase kommt es, wenn auch selten, zu Fällen von Prominentenstalking. Bei McCann (2001)
95 6.3 · Bisherige Forschungsprojekte
findet sich ein Beispiel für die obsessive Fixierung eines Teenagers auf einen gleichaltrigen Prominenten, die das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit kompensieren sollte.
Der 14 Jahre alte Terry war als kleines Kind seinen Eltern, die ihn hatten verwahrlosen lassen, weggenommen und in staatliche Obhut gebracht worden. Er wechselte von Waisenhaus zu Waisenhaus; seine Hoffnung, adoptiert zu werden, erfüllte sich nie. Der Junge war in seiner geistigen Entwicklung verzögert und verfügte über wenig soziale Kompetenz. Terry kam in psychiatrische Behandlung, nachdem er mit Selbstmord gedroht hatte. Dort entdeckte man seine Fixierung auf einen jungen Schauspieler. Terry hatte dem Kinderstar zahlreicher Briefe geschrieben und auch angekündigt, dass er nach Hollywood kommen wolle, um ihn persönlich zu treffen. Als Motivation für seine Bemühungen gab er an, er wolle sein Freund werden. »Es war offensichtlich, dass das öffentliche Bild des Prominenten ein idealisiertes Portrait von all dem darstellte, was Terry in seinem eigenem Leben fehlte. Der Star, wie er in seinen Filmen auftrat, war attraktiv, populär, beliebt, intelligent und kompetent. Terrys unrealistische Erwartungen an eine Freundschaft […] stellten eindeutig eine Fantasiebeziehung mit kompensatorischen Qualitäten dar, in der Terry durch eine idealisierte Freundschaft mit dem Kinderstar seine Gefühle der Zurückweisung und Unzulänglichkeit zu überwinden suchte« (McCann 2001, S. 65).
Aufgrund klinischer Erfahrungen lassen sich Warnsignale ausmachen, die anzeigen, ob es sich im Verhalten von Jugendlichen noch um eine altersgemäße Verehrung eines Stars handelt oder bereits pathologische Züge erkennbar sind (McCann 2001). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Fixierung auf den Prominenten die sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen und der Familie zurückdrängt oder die Schulleistungen spürbar beeinträchtigt. Zudem ist ein Einhergehen der Obsession mit klinischen Sympto-
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men wie etwa Wahngedanken, Depressionen oder Angstattacken als problematisch zu werten. Als ein weiteres Alarmsignal gelten unangemessene Versuche, in persönlichen Kontakt mit dem Star zu kommen, die ziellos und ohne Aussicht auf Erfolg erscheinen. Zum Beispiel hatte Roberto Bardo, der nach mehrjährigem Stalking 1989 die junge Schauspielerin Rebecca Schaeffer ermordete, im Alter von 14 Jahren seiner Mutter Geld gestohlen und war anschließend in einen anderen US-Bundesstaat gereist, um eine Prominente in seinem Alter aufzusuchen. Kann exzessives Fanverhalten oder Stalking zum Ziel führen? In aller Regel ist dies nicht der Fall, denn die meisten Prominenten empfinden Annäherungsund Kontaktversuche, die deutlich über das zu erwartende Maß hinausgehen, als störend, anstrengend und manchmal sogar unheimlich. Sie haben in diesen Fällen zumeist das Bedürfnis, Distanz zu schaffen und Nähe nicht zuzulassen. Zugleich gibt es jedoch immer wieder Fälle, in denen es einem Fan durch Ausdauer gelang, das Herz des Stars zu erobern. Beispielsweise heirateten die Musiker Adamt Ant und Gary Numan ehemalige Verehrerinnen, und über einen international bekannten US-Schauspieler wird sogar berichtet, dass seine heutige Frau erstmals dadurch seine Aufmerksamkeit auf sich zog, dass sie ihm Unterwäsche schickte (Giles 2000).
6.3
Bisherige Forschungsprojekte
Die häufig in der Öffentlichkeit zu hörende Vermutung, dass vor allem das Stalking von Prominenten Beachtung findet und dass »normale« Menschen, die zu Opfern geworden sind, eher vernachlässigt werden, steht im deutlichen Widerspruch zu der Realität der wissenschaftlichen Erforschung des Phänomens: Der andauernden Nachstellung und Belästigung innerhalb der allgemeinen Bevölkerung wurden bereits zahlreiche Studien gewidmet; speziell auf das Stalking von Personen des öffentlichen Lebens ausgerichtete Untersuchungen blieben dagegen rar. Interessanterweise fand dieses Phänomen jedoch bereits sehr früh in der psychiatrischen Literatur Erwähnung; im Zusammenhang mit Liebeswahn werden beispielsweise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fälle aufgeführt, in denen etwa
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
Theaterschauspielerinnen bedrängt und verfolgt wurden (Mullen et al. 2000). Auch Krafft-Ebing, der Vater der modernen forensischen Psychiatrie, hat in seinem wohl bekanntesten Werk Psychopathia sexualis von derartigen Vorkommnissen berichtet:
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Auf Backfische, aber auch auf reifere Weiber übt der vom Beifall der Menge beglückte Schauspieler und Sänger, nach Umständen auch der Zirkusreiter und Athlet oft einen faszinierenden Einfluss aus, wenigstens werden derlei Künstler allenthalben von der Damenwelt angeschwärmt und oft mit Liebesbriefen überschüttet. (Krafft-Ebing 1912, S. 22)
Die ersten empirischen Studien, die sich mit Stalking von Personen des öffentlichen Lebens beschäftigten, bezogen sich auf Politiker als Zielobjekte von unerwünschten Annäherungen. Hoffman (1943) untersuchte in einer Washingtoner Klinik 53 psychotische Personen, die intern als »White House Cases« bezeichnet wurden, da sie dadurch auffällig geworden waren, dass sie den amerikanischen Präsidenten aufsuchen wollten. Die Profile dieser Patientengruppe ähneln markant den Beschreibungen, wie sie sich bei Einzelfallbeschreibungen von Prominentenstalkern heute regelmäßig finden lassen. Die »White House Cases« lebten häufig ohne eine intime Beziehung, weniger als 10% von ihnen waren verheiratet. Auch sonst erschienen sie isoliert und einsam, denn oftmals erhielten sie keinerlei Antworten auf ihre Briefe aus dem Hospital an Verwandte und Freunde. Einige von ihnen waren Waisenkinder, und immerhin ein Drittel war im Ausland geboren und besaß oftmals keine Verwandten in den USA. Sie erwiesen sich in der Klinik zwar als friedfertig und gut angepasst, hatten jedoch zugleich wenig Einsicht in das Problematische ihrer Wahrnehmungen und ihres Verhaltens. Hoffman fasste die Vorgeschichte der »White House Cases« als die einer gescheiterten Biografie zusammen: Man findet eine Geschichte von Frustration, gescheiteter Ambition, den Wunsch nach Geborgenheit und Freiheit und eine Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung. Über Jahre existierten diese unbefriedigten Bedürfnisse und blieben bis heute 6
bestehen. Die Reise nach Washington und zum Weißen Haus oder anderen offiziellen Stellen bildet nur den Endpunkt eines Prozesses. (Hoffman 1943, S. 575)
Des Weiteren untersuchte Clark (1982, 1990) detailliert Attentate und Attentatsversuche auf US-Präsidenten in einem Zeitraum von 1835 bis 1981. Er identifizierte 17 solcher Fälle und fand, dass 7 der Täter, also etwas über 40%, Stalkingverhalten gegenüber ihrem späteren Anschlagsopfer gezeigt hatten. Der Autor gab Hinweise auf die Persönlichkeit der Attentäter, die auf Ähnlichkeiten zur Psyche und Biografie von Prominentenstalkern schließen lassen. Ein Großteil von ihnen waren Männer ohne Beschäftigung, die auch schon zuvor eine unstetige Arbeitsgeschichte aufwiesen und von ihrer Herkunftsfamilie entfremdet waren (Clark 1990). Der US Marshals Service, der auch für die Sicherheit von amerikanischen Staatsgerichten verantwortlich ist, verglich Annäherungen und Zuschriften an Richter, die in Gewalt mündeten, mit solchen, auf die keine physischen Aggressionen folgten (Calhoun 1998). Es fanden sich 2 Arten von »Tätertypen«: Die große Gruppe der Howler (Mensch oder Tier, das aufheult) versuchte zwar oftmals durch bedrohliche Kommunikation Angst und Schrecken zu verbreiten, wurde aber nicht gewalttätig. Die deutlich seltener auftretenden Hunter (»Jäger«) bereiteten dagegen gezielt eine Attacke vor. Dabei kam es nicht selten auch zu Stalkingverhalten, indem die Hunter die spätere Zielperson ihres Angriffs verfolgten und ausspionierten. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen Angriffen auf Bundesrichter und auf andere Personen des öffentlichen Lebens, die eine Verallgemeinerung der Ergebnisse des US Marshals Service erschweren: In der ersten Gruppe kennt der Täter das Opfer zumeist persönlich, weil er beispielsweise von dem Richter verurteilt wurde. Bei der absoluten Mehrzahl der Attentate auf prominente Persönlichkeiten besteht dagegen keinerlei persönliche Vorbeziehung. Wie bei den Studien von Clark und dem US Marshals Service lag auch bei den weiteren Untersuchungen ein Schwerpunkt der Bemühungen auf dem Schutz von Personen des öffentlichen Lebens, indem nach Warnsignalen gesucht wurde, mit deren Hilfe sich gewalttätige Stalker und Attentäter möglichst
97 6.3 · Bisherige Forschungsprojekte
früh identifizieren lassen. Im Folgenden werden die wichtigsten Arbeiten vorgestellt, allerdings befindet sich der Wissensbestand trotz aller Bemühungen noch immer in einem rudimentären Stadium (Meloy et al. 2004; Hoffmann u. Sheridan 2005).
Stalkingstudie der Gruppe um Dietz Das Forschungsprojekt, das sich über einen Zeitraum von 6 Jahren erstreckte, stellt eine der umfangreichsten und informativsten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Prominentenstalking dar. Initiiert wurde das Projekt vom US-Justizministerium und vom amerikanischen Secret Service, der für den Schutz von Politikern verantwortlich ist. Dessen Mitarbeiter mussten lange Zeit eine Vielzahl von ungewöhnlichen Kontaktversuchen bewerten und auffällige Personen hinsichtlich ihres Risikopotenzials einschätzen, ohne über ein spezifisches Instrumentarium für diese Aufgabe zu verfügen. Das Forscherteam um P.E. Dietz versuchte deshalb, vor allem ungewöhnliche Zuschriften an Personen des öffentlichen Lebens unter der Fragestellung zu untersuchen, ob der entsprechende Schreiber zu einem späteren Zeitpunkt eine direkte physische Annäherung unternehmen wird oder nicht (Dietz u. Martell 1989; Dietz et al. 1991a, b). Direkte Kontaktversuche waren deshalb von Interesse, da für einen Angriff auf den Prominenten physische Nähe eine Vorraussetzung ist. Was auf den ersten Blick für diese Problemstellung näher liegend erscheinen mag, nämlich einen direkten Zusammenhang zwischen Zuschriften und Attentaten zu messen, war aus methodischen Gründen nicht möglich: Aufgrund der geringen Anzahl von Angriffen auf Personen des öffentlichen Lebens gab es nicht genügend Datenmaterial, um statistische Zusammenhänge errechnen zu können. Das Dietz-Projekt setze sich genaugenommen aus zwei unterschiedlichen Studien zusammen, die sich jedoch einer identischen Vorgehensweise bedienten: Zum einen wurden Fälle untersucht, in denen Personen ungewöhnliche Schreiben an Prominente aus der Unterhaltungsbranche sandten, des Weiteren wurden Verfasser von problematischen Zuschriften an Kongressabgeordnete näher beleuchtet.
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Die erste Stichprobe bestand aus insgesamt 214 Personen, die sich an Hollywoodstars gewandt hatten. Die Daten stammten aus dem Fallarchiv der privaten Sicherheitsfirma von Gavin de Becker, die auf den Schutz von Prominenten spezialisiert ist. Das Alter der untersuchten Prominentenstalker variierte zwischen 14 und 74 Jahren. Rund 80% von ihnen waren Männer, 20% Frauen. Ein Großteil von ihnen lebte allein oder mit einem oder beiden Elternteilen, lediglich 4% von ihnen wohnten mit einem Lebenspartner zusammen und 3% mit eigenen Kindern. Etwa 12% der Briefschreiber versuchten, mit dem Prominenten auch persönlich in Kontakt zu treten. Jeder 10. wechselte sogar seinen Wohnort, um dem Star nahe zu sein, in einzelnen Fällen sogar vom Ausland in die USA. Auch unter den 86 Personen, die ungewöhnliche Zuschriften an Politiker abgesendet hatten, waren mit 85% die absolute Mehrzahl Männer. Beide Stichproben zusammengefasst, berichtete jeder fünfte Stalker in seinen Briefen über Selbstmordgedanken oder Suizidversuche, über ein Drittel äußerte Verzweiflung. Der Anteil der Schreiber, bei denen Dietz et al. aufgrund ihrer schriftlichen Äußerungen eine psychische Störung diagnostizierten, war extrem hoch und lag bei 95%. Dabei wurden nicht nur psychotische Auffälligkeiten, sondern auch leichtere Formen der Psychopathologie, wie Persönlichkeitsstörungen, berücksichtigt. Die Anzahl der Schreiben an Personen des öffentlichen Lebens nahm gelegentlich erstaunliche Ausmaße an und überschritt in einem Einzelfall sogar die Zahl von 10.000 Briefen in einem Zeitraum von 6 Jahren. Fast alle Schreiber (95% in der Prominentengruppe) gaben ihren Namen oder die Adresse an, selbst bei Drohbriefen. Dies ist ein Hinweis auf die tiefste Motivation von Stalkern: wahrgenommen zu werden. Es zeigten sich jedoch auch interessante Unterschiede zwischen den Stalkern, die an Prominente schrieben und solchen, die sich Politikern zuwandten. Die Zuschriften aus der ersten Gruppe waren intimer und persönlicher gehalten, währenddessen diejenigen an die Volksvertreter formaler und distanzierter verfasst waren. Drohungen traten in den Schreiben an Politiker mehr als doppelt so häufig auf als bei Zuschriften an Prominente aus der Unterhaltungsbranche (58% vs. 23%). Auch hinsichtlich der Variablen, die Hinweise darauf zuließen, ob nach
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
dem Briefkontakt auch persönliche Annäherungen folgen würden, zeigten sich Differenzen:
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Stalker, die versuchten, Politikern nahe zu kommen, waren öfter sozial isolierte, psychotische Individuen, die in ihren Schreiben über eine Vorgeschichte psychiatrischer Behandlungen berichteten, unter paranoiden Wahnvorstellungen litten und glaubten, andere würden über sie reden. Sie nannten in den Briefen, die höflich verfasst waren, gehäuft ihren Namen […], erwähnten öfter, dass sie reisen wollten, um den Politiker zu sehen und brachten einen Wunsch nach einem Treffen deutlich zum Ausdruck. (Dietz u. Martell 1989, S. 15–11 f)
Prominentenstalker, die sich ihrer Zielperson näherten, wiesen dagegen u. a. vermehrt narzisstische Züge von Grandiosität und Selbstüberschätzung auf. Sie schickten ihre Schreiben öfter von verschiedenen Orten aus ab und nannten einen konkreten Ort und einen Zeitpunkt für ein Treffen mit dem Prominenten. Insgesamt offenbarten sich durchgängig folgende Merkmale in Briefen an Personen des öffentlichen Lebens, die die Wahrscheinlichkeit einer persönlichen Kontaktaufnahme beeinflussten: 4 Erhöhung des Kontaktrisikos: 5 Äußerung des Wunsches nach einer persön-
lichen Begegnung, 5 zusätzliche Telefonate zu den abgesendeten
Briefen. 4 Verringerung des Kontaktrisikos: 5 »Hate Mails« (von Hass und Beschimpfun-
gen geprägte Schreiben), 5 Zuschriften mit obszönem Inhalt.
Attentäterstudie des Secret Service Der US-amerikanische Secret Service führte in den 90er-Jahren das so genannte »Exceptional Case Study Project« durch. In dem Forschungsprojekt ging es darum, alle bekannten Attentate und Anschlagsversuche auf Personen des öffentlichen Lebens in den USA in einem Zeitraum zwischen 1949 und 1996 auszuwerten (Fein u. Vossekuil 1997a, b, 1999). Ziel war es, Frühwarnzeichen zu entdecken, mit deren Hilfe sich Gewaltakte gegenüber Politikern und Prominenten bereits im Vorfeld erkennen und abwehren
lassen. Um die Datengrundlage für die Untersuchung zu generieren, führten die Forscher zunächst Recherchen in Mediendatenbanken sowie in Archiven der Polizei und von anderen Behörden durch und befragten zudem Sicherheitsexperten aus der Privatwirtschaft und von staatlichen Stellen. Insgesamt konnten so 83 Individuen identifiziert werden, die Personen des öffentlichen Lebens angegriffen oder ermordet hatten oder einen Attentatsversuch unternommen hatten, aber rechtzeitig entdeckt worden waren. Vermutlich aufgrund der Tatsache, dass dem Secret Service der Schutz hochrangiger Politiker obliegt und da deswegen vor allem Vorfälle aus diesem Bereich gut dokumentiert zugänglich waren, setzte sich die Stichprobe zu über 50% aus Angriffen auf den US-Präsidenten und auf andere politische Führungspersönlichkeiten zusammen. In nur etwa jedem 5. Fall ging es um einen Prominenten aus dem Sport-, Film-, Musik- oder Medienbereich. Es ist deshalb davon auszugehen, dass gewalttätige Aktionen gegenüber Stars aus der Unterhaltungsbranche in dem Projekt zahlenmäßig unterrepräsentiert waren. Es zeigte sich, dass es vor den Attentaten bereits in vielen Fällen zu Kontakt- oder Näherungsversuchen gekommen war: Fein und Vossekuil (1997b) zufolge hatten 40% der Angreifer bereits im Vorfeld das Haus, das Büro oder einen anderen Aufenthaltsort ihrer Zielperson aufgesucht. Ein knappes Viertel näherte sich der von ihr anvisierten Person des öffentlichen Lebens sogar vorher persönlich an, und in jedem 10. aller Fälle kam es zu Stalkingverhalten im engeren Sinn. Aufgrund der hochselektiven Stichprobe, in der nur gewalttätige oder beinahe gewalttätige Fixierungen auf bekannte Persönlichkeiten berücksichtigt wurden, und wegen der vergleichsweise geringen Anzahl von Fällen aus der Unterhaltungs- und Medienbranche, lassen sich aus der Studie nur wenige Rückschlüsse auf das »normale« Prominentenstalking ableiten.
Stalkingstudie in den Niederlanden Bisher wurde den einschlägigen Literaturindizes zufolge international nur eine Untersuchung durchgeführt, in der Prominente nach ihren Erfahrungen mit obsessiver Verfolgung und Belästigung befragt wurden. In den Niederlanden sandten Malsch et al.
99 6.4 · Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
(2002) speziell entwickelte Fragebögen an Mittelsmänner in Verlagen, Agenturen und Abgeordnetenbüros mit der Bitte, diese an ihnen bekannte prominente Persönlichkeiten weiterzuleiten. Von den 359 verteilten Bögen erhielten die Autoren ein knappes Drittel (105) zurück, wobei 35 Personen des öffentlichen Lebens angaben, bereits einmal Opfer von Stalking gewesen zu sein. Diese Stichprobe setzte sich zusammen aus 13 Politikern und ansonsten aus einer recht bunten Mischung von bekannten Menschen, die zumeist aus dem Unterhaltungsbereich stammten, wie Schauspieler, Musiker, Fernsehmoderatoren, Schriftsteller, Manager, ein Discjockey, sowie ein Jurist. Die betroffenen Prominenten lagen vom Alter her im Durchschnitt in den späten Vierzigern, ungefähr 3 Viertel von ihnen waren Männer. Hinsichtlich der demografischen Angaben fand sich nur ein einziger, wenngleich aufschlussreicher Unterschied zwischen gestalkten und nicht gestalkten Personen des öffentlichen Lebens: Prominente, die alleine lebten, wurden etwas häufiger zum Ziel obsessiver Belästigung als diejenigen, die verheiratet waren. Die durchschnittliche Dauer des Stalkings betrug 32 Monate. Von den Betroffenen berichteten 59%, während ihrer Karriere mit mehr als einem Belästiger konfrontiert worden zu sein, wobei dies häufiger für Frauen als für Männer zutraf. Die meisten Stalker (78%), über die die Prominenten nähere Informationen besaßen, lebten alleine. Eine differenzielle Analyse, die die Erfahrungen der Politiker mit denen der anderen Prominenten verglich, erbrachte einige interessante Unterschiede. Politiker wurden zumeist ausschließlich aus der Ferne und mit Hilfe von Kommunikationsmitteln wie Telefon, E-Mail oder Briefen gestalkt. Die anderen Prominenten waren indes vor allem direkten Kontaktversuchen ausgesetzt, etwa indem der Stalker ihr Haus beobachtete oder sie auf der Straße verfolgte. Zudem erhielten sie nicht selten auch Geschenke, wie beispielsweise Blumen. Als ein weiterer differierender Aspekt drehte sich das Stalking bei den Politikern thematisch häufig um deren berufliche Tätigkeiten, die Schreiben bezogen sich etwa auf Entscheidungen der Regierung. Bei Prominenten aus der Unterhaltungsbranche dominierten hingegen Liebesthemen oder der Wunsch, durch den Kontakt mit dem Star ebenfalls Berühmtheit zu erlangen.
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Auch im Vergleich der demografischen Daten der obsessiven Belästiger zeigten sich Unterschiede: Das geschätzte Alter der Stalker von Politikern lag bei 48 Jahren und sie waren häufiger männlichen Geschlechts. Auf die Prominenten aus dem Unterhaltungsbereich waren dagegen eher Frauen fixiert, ihr mutmaßliches Alter war deutlich geringer und betrug durchschnittlich 34 Jahre. In der Zusammenschau ihrer Ergebnisse identifizierten Malsch et al. (2002) zwei grundlegende verschiedene Typen von Prominentenstalkern: Die liebesorientierte Gruppe, bei denen sich manchmal eine erotomanische Störung feststellen ließ, suchte vor allem den Kontakt mit »klassischen« Prominenten. Diese Fälle erwiesen sich oftmals als besonders hartnäckig, und nicht selten fielen psychische Auffälligkeiten ins Auge. Der andere Typus war eher von Wut- oder Rachegedanken angetrieben und versuchte, auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Die Zielpersonen waren hier zumeist Politiker. Diese Aufteilung in zwei große Gruppen erinnert an die Ergebnisse der älteren amerikanischen Studie von Dietz et al. (1991a, b; s. oben), die in ungewöhnlichen Zuschriften an Politiker häufiger Themen von Aggressivität und Unrecht fanden, in Briefen an Hollywoodprominente dagegen eher Liebesbekundungen.
6.4
Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
Über Art und Ausmaß von Prominentenstalking ist wenig bekannt. Wie eben ausgeführt wurden bislang vor allem Teilfragestellungen untersucht, etwa die Vorhersage und Prävention von Gewalt oder die Einschätzung von ungewöhnlichen Zuschriften an Personen des öffentlichen Lebens. Einzig eine Untersuchung in den Niederlanden beschäftigte sich mit den generellen Erlebnissen von Prominenten und Politikern mit Stalking. Diese Studie erschien jedoch erst nach Beginn der vorliegenden Prominentenbefragung, sodass die Ergebnisse in der Konzeption dieses Projektes nicht berücksichtigt werden konnten. Es bestand und besteht weiterhin Bedarf, grundsätzliche Informationen über Ausmaß und Formen des Phänomens sowie dessen Auswirkungen auf die Betroffenen zu erlangen. Die hier durchgeführte ex-
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
plorative Studie hatte zum Ziel, einschlägige Erfahrungen von Personen des öffentlichen Lebens abzufragen, um deskriptive Ergebnisse zu liefern. Zudem sollte der Frage nachgegangen werden, ob sich Faktoren identifizieren lassen, die Einfluss darauf nehmen, ob ein Prominenter eher seltener oder häufiger zum Ziel obsessiver Belästigung und Verfolgung wird.
Methode
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Pilotbefragung Da sich bis zum Jahr 1999 in der Literatur nur wenige Hinweise oder allein Anekdotisches zu Prominentenstalking fand, erschien es zunächst sinnvoll, sich durch eine Pilotbefragung zumindest einige relevante Aspekte des Phänomens zu erschließen. Durch einen guten Kontakt zu einem bundesweit zu empfangenden Fernsehsender gelang es, sich persönlich an mehrere dort tätige TV-Moderatoren zu wenden. In Folge wurden insgesamt 8 Interviews durchgeführt, die zwischen einer halben und einer Stunde dauerten. Für diesen Zweck wurde ein halbstrukturierter Interviewleitfaden entwickelt. Dabei wurden einzelne Vorfälle ungewöhnlicher Kontaktund Annäherungsversuche detailliert abgefragt, wobei bestimmte Aspekte besondere Aufmerksamkeit erhielten, wie etwa Auftreten und psychischer Zustands des Stalkers und die Reaktion des TV-Moderators auf die obsessiven Kontaktversuche.
Fragebogen Auf der Basis der Interviews mit den Prominenten wurde nun ein Fragebogen konstruiert. Dabei flossen zusätzlich Items ein, die sowohl aus der allgemeinen Stalkingliteratur als auch aus den wenigen Arbeiten zu Prominentenstalking abgeleitet wurden. Der Bogen war in mehrere Abschnitte untergliedert und beinhaltete insgesamt 55 Items. 5 Der erste Teil erfragte einige wenige demografische Angaben und die Art der Prominenz: Dies begann mit Geschlecht und Alter des Prominenten, ging über zu der Frage, weshalb man eine Person des öffentlichen Lebens darstellt, bis hin zum Ausmaß der Bekanntheit, operationalisiert beispielsweise durch Einschaltquoten oder der generellen Häufigkeit von medialen Auftritten.
5 Der nächste Abschnitt thematisierte Kontaktver-
suche von Fans und von Stalkern. Dabei wurden schrittweise obsessivere und ungewöhnlichere Handlungen abgefragt, wie z. B. der Erhalt von normalen Fanbriefen bis zu Zuschriften, Anrufen und physischen Annäherungen von Stalkern. Dabei wurden ebenfalls Fragen über thematische Inhalte und den Tonfall der Kontaktversuche gestellt. 5 Dann ging es um die Reaktionen des Prominenten auf das Stalkingverhalten und welchen Einfluss diese Reaktionen auf den weiteren Verlauf des Geschehens hatten. Einzelne Fragen zielten etwa darauf ab, ob die Person des öffentlichen Lebens schon einmal auf ungewöhnliche Briefe geantwortet hatte, sie in Einzelfällen schon einmal die Polizei rief oder Kollegen bat, einen obsessiven Fan zur Abkehr von seinen Bemühungen zu bewegen. 5 Im letzten Teil stand die psychische Belastung durch Stalking im Mittelpunkt, daneben ging es um die Sicherheitsvorkehrungen, die die Prominenten zum Schutz vor obsessiven Fans getroffen hatten. Zum Abschluss wurde noch gefragt, welche Maßnahmen sich gegen Stalker bewährt hatten. Dem Fragebogen vorangestellt war ein kurzer Begleittext. Darin wurden sowohl das Ziel der Untersuchung erläutert als auch der Begriff Stalking und dessen konkrete Bedeutung. In den Items des Fragebogens dagegen fand der Ausdruck Stalking keine Verwendung, sondern wurde durch die Beschreibung »ungewöhnliche Kontaktversuche von ‘Fans’, die sich über Wochen, Monate oder Jahre hinzogen« operationalisiert. Gelegentlich fanden auch die Begriffe »obsessiver Fan« oder »ausdauernder Fan« Verwendung, um das Verhaltensmuster von Stalking zu charakterisieren. Den Teilnehmern der Befragung wurde schriftlich eine völlige Anonymität zugesichert.
Durchführung der Erhebung Zunächst wurde versucht, verschiedene Schauspielagenturen, PR-Agenturen für Sportler und TV-Sender dafür zu gewinnen, den Fragebogen an Personen des öffentlichen Lebens weiterzuleiten, mit denen sie zusammenarbeiten. Die Rückmeldungen zeigten sich jedoch durchgweg ablehnend. Dabei wurde vor
101 6.4 · Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
allem als Begründung aufgeführt, dass die Prominenten keine Auskunft über derartige Erfahrungen geben wollten bzw. befürchteten, dass ihre Stalkingfälle öffentlich bekannt würden. Aus diesem Grund wurde der bereits für die Pilotbefragung genutzte Fernsehsender erneut als Informationspool genutzt. Zahlreiche dort regelmäßig auf dem Bildschirm erscheinende Persönlichkeiten wurden vom Autor direkt angesprochen, ob sie bereit wären, an der anonymen Erhebung teilzunehmen, und bekamen bei Zustimmung einen Fragebogen mit Rückumschlag zugestellt.
Stichprobe Von insgesamt 55 angesprochenen TV-Prominenten füllten 53 Personen den Fragebogen aus. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 96,4%. Damit können die im Folgenden vorgestellten Erfahrungen vermutlich als repräsentativ für einen Personenkreis gelten, der vor allem durch regelmäßige Auftritte als Fernsehmoderator in Deutschland bekannt ist. Das Geschlechterverhältnis der befragten Prominenten war annähernd gleich: 56,6% (n=30) waren Frauen und 43,4% (n=23) Männer. Das Durchschnittsalter betrug 38,42 Jahre (SD=9,05) und lag zwischen 23 und 63 Jahren. Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mit dem Programmpaket »SPSS 11.0«. Als Verfahren fanden deskriptive Häufigkeitsverteilungen, t-Tests und Varianzanalysen Verwendung.
Art und Ausmaß der Prominenz Alle Teilnehmer der Befragung waren durch ihre regelmäßige Präsenz im Fernsehen zu Prominenten geworden. Sie waren zwar fast durchweg als TV-Moderatoren im Einsatz, hatten aber zum Teil noch weitere, vereinzelt auch größere öffentliche Aufmerksamkeit durch andere Tätigkeiten gewonnen, wie beispielsweise als Schauspieler, Profisportler oder Buchautor. Die Präsenz der Prominenten auf dem Bildschirm ließ sich thematisch unterteilen, wobei sich eine grobe Grenzlinie ziehen ließ zwischen hauptsächlich streng sachlich ausgerichteten Sendungsformaten, wie z. B. Nachrichten, und auf der anderen Seite Sendungen, die bewusst auch einen Unterhal-
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tungsaspekt bedienten, wie etwa TV-Magazine und nicht rein politische Talkshows. Etwa 67% der Sendungen, in denen die befragten Prominenten auftraten, hatten vornehmlich Informationsvermittlung, 33% auch Unterhaltung zum Ziel. Über 80% der Prominenten war mindestens einmal wöchentlich auf dem Fernsehschirm präsent, ein Großteil von ihnen sogar mehrfach. Von der Tageszeit her war ein breites Spektrum zu verzeichnen: 18,8% der Auftritte fanden am Morgen oder am Vormittag statt, jeweils 37,7% tagsüber oder am Abend und eine Minderheit von 5,8% in der Nacht. Die meisten der Prominenten traten in einer Sendung auf, die länger als 10 Minuten dauerte, lediglich 19,6% der Formate waren kürzer. Die Einschaltquote lag im Durchschnitt bei 3,16 Millionen (SD=1,91), die Zuschauerzahl schwankte zwischen 0,35 und 6 Millionen. Die Mehrzahl verfügte bereits seit einem längeren Zeitraum über einen Prominentenstatus. Im Durchschnitt gaben die Befragten an, seit 9,15 Jahren auf dem Fernsehschirm tätig zu sein (SD=6,19). Dieser Wert variierte zwischen 3 Monaten und 25 Jahren. Wie häufig war die mediale Präsenz der TV-Moderatoren außerhalb ihres üblichen Rahmens? Gut die Hälfte (50,9%; n=27) gab an, ein oder mehrmals pro Jahr als Prominenter noch in weiteren Sendungen, wie Talkshows oder Quizsendungen, aufzutreten. Etwas höher lag der Anteil der Moderatoren, über die in der Presse berichtet wurde: Über 62% der Befragten waren mindestens einmal pro Jahr Gegenstand von Zeitschriftenartikeln oder TV-Magazinen, bei mehr als der Hälfte dieser Gruppe geschah dies sogar mehr als fünfmal pro Jahr.
Kontakte zu Fans und Stalkern Fankontakte Zunächst wurde in diesem Abschnitt gefragt, wie viele Zuschriften die Prominenten durchschnittlich im Monat erhielten, um einen Eindruck von dem Umfang normaler Fankontakte zu gewinnen. Dabei zeigte sich eine beträchtliche Spannbreite: 20 Moderatoren (38%) berichteten von relativ wenig Resonanz, nämlich von 10 Briefen und darunter, die an sie pro Monat gesendet wurden. Eine fast ebenso
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
große Gruppe (40%, n=21) erhielt 11–50 Zuschriften von Zuschauern und Fans. Im oberen Spektrum der Kontakthäufigkeit waren 15% (n=8) der Prominenten zu finden, die zwischen 51 und 100, und 8% (n=4), die zwischen 101 und 500 Zuschriften bekamen. Gut die Hälfte der Moderatoren (54,7%, n=29) antwortete fast immer persönlich auf die Schreiben und weitere 26,4% taten dies zumindest regelmäßig. Nur bei etwa jedem fünften Prominenten (19%) antworteten auch Agenturen, Angestellte oder Freunde auf Fanbriefe oder Zuschaueranfragen. Um den Grenzbereich zwischen üblichem Fanverhalten und Stalking sowie obsessiven Kontaktversuchen näher zu beleuchten, sollten die Moderatoren einschätzen, wie viele der Zuschriften über das »Normale« hinausgingen. Hier war die Einigkeit groß, denn die meisten der Prominenten (81%) gaben an, dass dies bei unter 5% der Fall ist. Gefragt nach häufig auftretenden Inhalten der ungewöhnlichen Zuschriften dominierten eindeutig Liebesbekundungen, Treueschwüre und Ähnliches (47,1%). Mit deutlichem Abstand folgten religiöse, esoterische oder politische Traktaten (18,9%), wahnhafte Vorstellungen (11,3%) und Beschimpfungen (9,4%). Explizite Drohungen traten dagegen so gut wie nie auf. Die Frage nach dem Erhalt von ungewöhnlichen oder beunruhigenden Gegenständen hatte ebenfalls das Ziel, den Übergang zu eher pathologischen Formen der Fixierung auf Prominente näher zu betrachten. Gut die Hälfte der TV-Bekanntheiten gab an, niemals mit derartigen Zusendungen konfrontiert gewesen zu sein. Ein gutes Drittel (35,8%, n=19) berichtete, in seltenen Fälle solche Erfahrungen gemacht zu haben, und nur eine Minderheit der Moderatoren (11,3%, n=6) hatte bereits öfter solche Gegenstände erhalten. Die Betroffenen wurden gebeten zu nennen, was sie zugesendet bekommen hatten. Dabei ließen sich hinsichtlich der Art der ungewöhnlichen Gegenstände verschiedene Untergruppen ausmachen. Gelegentlich wurden Geschenke persönlicher Natur verschickt, wie Schmuck, Parfüm, aber auch Heiligenbildchen und selbstgebackene Kuchen oder Kekse. Manche Gegenstände wirkten wie regelrechte Devotionalien. Als Beispiele hierfür sind selbstgefertigte Buchcover mit dem Bild der Prominenten zu
nennen, eine aus Fotos eines Moderatoren zusammengestellte Zeitung oder in einer düsteren Variante ein aufwendig gemaltes Bild, auf dem eine Grabfigur mit dem Gesicht des Fernsehstars zu sehen war. Weitere Zusendungen waren eher bizarrer Natur und ließen in ihrer individualistischen, von außen schwer zu entschlüsselnden Bedeutung oftmals eine psychotische Erkrankung bei dem Absender vermuten. Hierzu zählten endlose Zahlenkolumnen, wirr erscheinende Collagen von Zeitungsausschnitten oder Pizzastücke. Auch pornografisches Material wurde verschickt, wie Hardcore-Pornomagazine, Präservative, Sexspielzeuge oder Bücher mit erotischem Inhalt. Die schockierendsten Zusendungen enthielten Körperflüssigkeiten wie Blut, Sperma oder mit Urin gefüllte Kondome.
Kontaktversuche von Stalkern Als Grenzlinie, die zwischen Fans und Stalkern unterscheiden sollte, wurde die Frage gewählt, ob es Fans gab, die über Wochen, Monate oder Jahre schon einmal ungewöhnliche Kontaktversuche unternommen hatten. Der Anteil der Prominenten, die einschlägige Erfahrungen gemacht hatten, war erstaunlich hoch: 79,2% (n=42) gaben an, schon einmal Stalking erlebt zu haben. Dabei trat nur ein geringer Geschlechterunterschied auf: Weibliche Moderatoren verzeichneten zu 83,3% Stalkingerfahrungen (25 von 30), ihre männlichen Kollegen zu 73,9% (17 von 23). Wie häufig traten Stalkingvorfälle in der Karriere der TV-Bekanntheiten auf? Nicht allzu selten. Denn mit 14,3% (n=6) hatte lediglich eine Minderheit der betroffenen Moderatoren nur einmal eine solche Erfahrung gemacht. Die absolute Mehrzahl (61,9%) war bereits zwischen zwei- und fünfmal von einem obsessiven Fan kontaktiert worden und knapp jede 10. Person des öffentlichen Lebens berichtete von noch häufigeren Vorfällen. Ebenso erwies sich die Dauer des Stalkings als beachtlich. Der Zeitraum des längsten Stalkings, das die Prominenten jeweils erfahren hatten, betrug im Durchschnitt 24,55 Monate (SD=27,61), also mehr als 2 Jahre. Dabei reichte die Zeitspanne von einem Monat bis hin zu 10 Jahren. Als ein sehr interessanter Aspekt stellte sich das Geschlechterverhältnis der obsessiven Fans dar, die auf die Fernsehmoderatoren fixiert waren. Dabei
103 6.4 · Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
zeigte sich ein Übergewicht von männlichen Stalkern gegenüber weiblichen. Mit 78,6% hatte die Mehrzahl aller Prominenten – gleich welchen Geschlechts – bereits Erfahrungen mit Männern, die auf sie fixiert waren. Dagegen waren nur 50% der TV-Moderatoren schon einmal mit weiblichen Stalkern konfrontiert worden. Zumeist hatten Prominente und Stalker ein gegenläufiges Geschlecht, wobei dieser Trend bei weiblichen Moderatoren eindeutiger ausgeprägt war. In den Briefen der Stalker dominierten Liebesthemen; alle betroffenen Moderatoren hatten mindestens einmal derartige Zuschriften erhalten. Mehr als die Hälfte hatte schon einmal wahnhafte Briefe von obsessiven Fans bekommen und etwa 50% religiöse, politische oder esoterische Traktate. Jeweils etwa ein Viertel erhielt Drohungen oder Beschimpfungen per Post; andere Themen traten selten auf. Mit einem verblüffend hohen Anteil von 3 Vierteln aller Prominenten (74%, n=39) hatten obsessive Fans bereits versucht, telefonisch Kontakt aufzunehmen. Dies geschah zumeist mindestens einmal am Arbeitsplatz (79,5%), also im Fernsehsender oder in der Produktionsfirma, etwas weniger wurde in der Privatwohnung angerufen (46,2%). Die Anrufe waren vielfach geprägt von Liebesbekundungen oder Treueschwüren (83,8%), ebenso traten regelmäßig wahnhafte Inhalte auf (37,8%) sowie religiöse, esoterische oder politische Traktate (29,7%). Beschimpfungen oder Verunglimpfungen hatte bereits jeder fünfte der Moderatoren mindestens einmal erfahren (18,9%), der bereits einmal von Stalkern angerufen worden war. Seltener waren Drohungen (10,8%) und pornografische Inhalte (2,7%). Die unerwünschten Telefonate zu stoppen erwies sich dabei nicht immer als leichte Angelegenheit: 60,5% der betroffenen Prominenten berichteten, dass ihnen dies Schwierigkeiten bereitet hatte.
Persönliche Annäherungen Etwas weniger als die Hälfte aller Moderatoren (43,4%, n=23) hatte die Erfahrung gemacht, dass einmal ein obsessiver Fan persönlich zu ihnen vorgedrungen war. In 24,5% (n=13) aller Fälle ging nur einmal ein Fan auf diese Weise vor. Insgesamt 10 Moderatoren (18,9%) hatten bereits mehrfach derartige Vorfälle erlebt. Viele der betroffenen Prominenten waren mit einem solchen direkten Kon-
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taktversuch schon einmal am Arbeitsplatz konfrontiert worden (95,5%), andere Orte der Annäherung waren öffentliche Auftritte (72,7%), die Privatwohnung (40,9%) oder sogar die Wohnung bzw. der Arbeitsplatz von Familienmitgliedern des Prominenten (13,6%). Welche Verhaltensweisen zeigten nun die obsessiven Fans, die sich den Fernsehmoderatoren physisch annäherten? Die Mehrzahl der Prominenten hatte schon einmal die Erfahrung gemacht, dass ein fixierter Verehrer auf irgendeine Weise seine Zuneigung ausdrückte (91,3%), seltener, dass er sich nach dem Moderator in dessen Umfeld erkundigte (73,9%) oder wortlos da stand, lag oder saß (56,5%). Vorfälle, bei denen obsessive Fans den Prominenten direkt ansprachen, zeigten sich als Ausnahme (17,4%). Ebenso selten gebärdeten sich die Verfolger aggressiv (13%). Dazu passte auch, dass Gewalttaten gegen die Prominenten so gut wie nicht vorkamen; lediglich eine TVModeratorin berichtete davon, dass ein männlicher Stalker sie attackiert und gewürgt hatte. Die Prominenten wurden zudem nach den schlimmsten Vorfällen gefragt, die sie jemals mit einem obsessiven Fan erlebt hatten. Neben dem eben erwähnten Angriff wurden vor allem direkte Annäherungen und Verfolgungen als unangenehm geschildert. So gab es Stalker, die Moderatoren wiederholt im Auto hinterherfuhren, solche, die bis in ihre Büros vordrangen, ihre Eltern aufsuchten oder ihnen in Städte hinterherreisten, die hunderte von Kilometern entfernt lagen. Andere Prominente berichteten von Selbstmorddrohungen des Stalkers, von sadistischen Fantasien, in denen das Abschneiden von Körperteilen angedroht wurde, oder von Racheankündigungen in Kombination mit rechtsradikalen Inhalten. Ebenso ist ein Vorfall zu nennen, bei dem der Stalker schriftlich ankündigte, er werde die Prominente holen, um mit ihr zu leben, und zugleich von seinem Waffenarsenal schwärmte. Auch Telefonanrufe an den Privatanschluss von Moderatoren wurden vielfach als sehr unangenehm empfunden. Dabei gab sich ein Stalker einmal als Journalist der Boulevardpresse und ein anderes Mal als Kriminalbeamter aus, der in einem Sexualdelikt ermittelt, um unter diesem Vorwand Fragen nach dem Intimleben des Prominenten zu stellen.
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
Reaktionen
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Im Folgenden wurde nach Reaktionen gefragt, mit denen die Moderatoren die auf sie fixierten Personen von weiteren Kontaktversuchen abhalten wollten. Dabei hatte die Mehrzahl der Prominenten (58,8%, n=30; 2 fehlende Werte) schon einmal einem obsessiven Fan mit einem Brief oder per Telefon geantwortet. In über der Hälfte dieser Fälle (51,7%) hatten die Kontaktversuche der Fans daraufhin nachgelassen. Bei einem knappen Drittel (31%) führte die Maßnahme allerdings zu einem entgegengesetzten Effekt, das Stalking nahm zu. Bei einem kleineren Teil (13,8%) zeigte sich keinerlei Auswirkung auf den weiteren Verlauf. Immerhin mehr als ein Drittel (38,5%, n=20; ein fehlender Wert) gab an, bereits einmal jemanden aus dem Umfeld, wie Nachbarn, Familienmitglieder, Kollegen oder Freunde, gebeten zu haben, dabei zu helfen, einen »aufdringlichen Fan« abzuwehren. In 3 Vierteln der Fälle (75%, n=15) konnte auf diesem Weg das aufdringliche Verhalten unterbunden werden. Jeder Fünfte der befragten Prominenten (rund 20%, n=10) hatte bereits einmal die Polizei oder andere Sicherheitskräfte alarmiert, um einen »aufdringlichen Fan« abzuwehren. In etwa der Hälfte gelang es durch einen solchen Einsatz, die Zudringlichkeiten längerfristig abzuwenden. Lediglich eine kleine Minderheit, konkret 3 Moderatoren (rund 6%), erstattete Anzeige gegen einen obsessiven Belästiger. Nur einmal führte das zum Erfolg, die beiden anderen Stalker konnten durch diese Maßnahme nicht gestoppt werden. Alleine in einem Fall wusste ein Prominenter davon, dass ein »aufdringlicher Fan« wegen seines Verhaltens schon einmal juristisch belangt wurde. Ebenso erhielt ein einziger Stalker eine Gefängnisstrafe aufgrund seiner Belästigungen. Dagegen gaben zwei der Befragten (3,8%) an, dass ein Fan wegen seines Verhaltens schon einmal in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde.
Berichterstattung in den Medien Nur über 5 Moderatoren mit Stalkingerfahrungen (11,63%) gab es bereits Medienberichte, in denen
thematisiert wurde, dass sie einmal Ziel eines »aufdringlichen Fans« waren. Diese Betroffenen wurden weiter dahingehend befragt, ob die Berichterstattung Auswirkungen auf das Verhalten des obsessiven Fans hatte. Vier von ihnen gaben an, dass sie dies nicht einzuschätzen vermochten und in einem Fall ließ das aufdringliche Verhalten des Fans nach. Die Zahlen sind jedoch zu niedrig, um Schlussfolgerungen darüber ziehen zu können, welche Auswirkungen das öffentliche Bekanntwerden prominenter Stalkingvorfälle besitzt. Bemerkenswerterweise ließ lediglich eine Minderheit der Moderatoren in dieser Frage besondere Vorsicht walten. Denn nur ein knappes Viertel der Prominenten (23,9%, n=11) gab an ggf. zu versuchen, Medienberichte über Vorfälle zu unterbinden, in denen sie von einem Stalker belästigt wurden.
Auswirkungen und Folgen Wie viele Prominente fühlten sich bereits einmal durch »aufdringliche Fans« bedroht, gefährdet oder anderweitig emotional belastet? Bei knapp der Hälfte aller befragten Moderatoren (48,1%, n=25) war dies noch nie der Fall gewesen. Ein gutes Viertel (26,9%, n=14) berichtete hingegen von Erfahrungen mit einem einzigen Fan, der ihnen derart zugesetzt hatte, und eine geringfügig kleinere Gruppe (23,1%, n=12) hatte dies sogar schon mehr als einmal erlebt. Die 27 Prominenten (51,9%), die sich durch das Verhalten eines »aufdringlichen Fans« bereits emotional angegriffen gefühlt hatten, wurden gebeten anzugeben, durch welche Merkmale sich diese Belastung äußerte. Der größte Teil berichtete von eher leichten Einschränkungen, wie Sorgen oder beunruhigende Gedanken, ebenso wurden häufig Angst um die eigene Sicherheit und um die des persönlichen Umfeldes genannt (. Tab. 6.1). In nur einem einzigen Fall kam es auch zu einer körperlichen Symptomatik, wie Schlafstörungen oder einem nervösen Magen. Eine weitere Frage zielte darauf ab, wie massiv die Prominenten die emotionale Belastung einstuften. In der Mehrzahl der Fälle wurde die Beeinträchtigung als gering wahrgenommen (51,9%, n=14), in einem guten Drittel als mittel (37%, n=10), und nur
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105 6.4 · Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
. Tabelle 6.1. Merkmale psychischer Belastung bei 27 Prominenten. Mehrfachnennungen waren möglich
Beunruhigende Gedanken, Sorgen etc. Angst um die eigene Sicherheit und/oder die von nahe stehenden Personen Körperliche Belastungen (z. B. Schlafstörungen, nervöser Magen etc.)
vergleichsweise wenige Moderatoren empfanden sie als hoch oder sehr hoch (11,1%, n=3). Die 27 betroffenen Prominenten wurden weiterhin gefragt, wie lange diese Belastung im schlimmsten Fall andauerte. Zumeist blieben die emotionalen Auswirkungen auf einige Tage beschränkt (40,7%, n=11). Bei 7 Opfern (25,9%) hielt die Belastung einige Wochen an, in 3 Fällen (11,1%) einige Monate, in weiteren 3 Fällen über ein halbes Jahr und wiederum in 3 Fällen ein Jahr oder länger. Insgesamt gaben 32 Moderatoren (62,7%) an, dass das Verhalten eines »so genannten Fans« schon einmal dazu geführt hatte, dass sie Schutzmaßnahmen ergriffen hatten, die ihr alltägliches Leben beeinflussten (. Tab. 6.2). Fast jeder der Prominenten aus dieser Gruppe versuchte, sich privat »unsichtbar« zu machen, in dem er seine Adresse aus dem Telefonbuch nahm oder eine Geheimnummer beantragte. Andere Sicherheitsmaßnahmen waren seltener, etwa dass bestimmte Wege nicht mehr alleine gegangen wurden oder einige Orte nicht mehr aufgesucht wurden. Obgleich gelegentlich Sicherheitsdienste eingeschaltet wurden, fanden keine entsprechenden Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in der privaten Wohnung statt. Bemerkenswert erschien, dass 2 Prominente umgezogen waren, um ihren obsessiven Verfolgern zu entgehen.
Anzahl
[%]
20 16 1
74,1 59,3 3,7
Es wurde auch berechnet, wie viele unterschiedliche Sicherheitsmaßnahmen speziell die Prominenten mit Stalkingerfahrungen ergriffen hatten. Hier unternahm ein Drittel (33,3%) in dieser Frage keinerlei Anstrengungen. Die meisten Moderatoren beschränkten sich auf eine Schutzmaßnahme (42,9%), deutlich weniger ergriffen zwei (16,7%) oder mehr als zwei Maßnahmen (7,2%) zur eigenen Sicherheit. Ein t-Test bei unabhängigen Stichproben zeigte, dass weibliche Prominente mehr Gegenmaßnahmen ergriffen als ihre männlichen Kollegen (t=–2,417; df=40; p<0,05, zweiseitig). Dieser Effekt ist kaum darauf zurückzuführen, dass weibliche Moderatoren häufiger gestalkt wurden, denn der Unterschied zwischen den Geschlechtern zeigte sich in dieser Frage ja marginal. Zudem erwies sich der Mittelwertsunterschied der ergriffenen Schutzmaßnahmen zwischen Männern und Frauen als beträchtlich (0,58 vs. 1,28). Insgesamt sahen sich nur relativ wenige der Befragten infolge ihres Prominentenstatus als besonders gefährdet an. Nur jeder Fünfte (20,8%) hatte eine solche Auffassung. Die deutliche Mehrzahl (60,4%) nahm sich nicht als prinzipiell bedroht wahr und 18,9% hatten zu dieser Frage keine bestimmte Meinung.
. Tabelle 6.2. Schutzmaßnahmen bei 32 Moderatoren. Mehrfachnennungen waren möglich
Adresse aus dem Telefonbuch genommen, Geheimnummer beantragt, Sperrvermerk beim Einwohnermeldeamt, Name an der Haustür entfernt Bestimmte Wege teilweise nur in Begleitung gegangen Bestimmte Orte alleine gemieden Vorsichtsmaßnahmen ergriffen Sicherheitsfirma oder -dienst eingeschaltet Umzug Sicherheitseinrichtungen zu Hause
Anzahl
[%]
31
96,8
5 4 3 3 2 _
15,6 12,5 9,4 9,4 6,3 _
106
Kapitel 6 · Prominentenstalking
Erfolg von Gegenmaßnahmen
6
Schließlich wurden die Prominenten gezielt befragt, welche Gegenmaßnahmen gegenüber aufdringlichen Fans sich bewährt haben. Hierbei konnten natürlich jeweils nur die Moderatoren eine Einschätzung geben, die über Erfahrungen mit der entsprechenden Maßnahme verfügten. 5 Als erfolgreiche Strategie erwies sich das Ignorieren des obsessiven Fans, das in keinem Fall als komplett wirkungslos eingestuft wurde. 58,1% der Prominenten, die hierzu eine Aussage machten, bezeichneten diese Maßnahme als erfolgreich, 41,9% als zumindest mäßig erfolgreich und kein einziger Moderator sah die Vorgehensweise als erfolglos an. 5 Auch das Einschalten der Polizei wurde insgesamt recht positiv bewertet. Nur 6,7% sahen darin eine erfolglose Maßnahme, 66,7% nannten dagegen sie erfolgreich, 26,6% mäßig erfolgreich. 5 Ebenso zeigte sich ein deutliches Zurückweisen des fixierten Fans in einem eher positiven Licht. Nur 12,5% der Prominenten mit entsprechender Erfahrung nahmen das als erfolglose Strategie wahr, 59,4% empfanden diese Vorgehensweise dagegen als erfolgreich und 28,1% als mäßig erfolgreich. 5 Der Ansatz, den obsessiven Fan über das Einschalten von Vermittlungspersonen zum Aufhören zu bewegen, erwies sich als durchaus ambivalent in seinen Auswirkungen. Rund 20% sprachen dieser Strategie keinen Erfolg zu, 40% empfanden dies als erfolgreich und ein ebenso hoher Prozentsatz als mäßig erfolgreich. 5 Die freundliche Bitte an den »Fan«, die unerwünschte Kontaktaufnahme zu beenden, brachte wenig hoffnungsvolle Ergebnisse. In einem Viertel der Fälle (25,8%) wies dies keinen positiven Effekt auf, 38,7% der Moderatoren sprachen von einem mäßigen Erfolg, ein etwas geringerer Anteil (35,5%) sah diese Maßnahme als effektiv an. Die Effektivität der einzelnen Maßnahmen wurde mit dem »One-Sample-t-Test« gegen den bei zufälliger Verteilung der Antworten zu erwartenden Mittelwert von 2 geprüft. Dabei bestätigte sich das bereits bei deskriptiver Analyse ins Auge fallende Ergebnis, dass verschiedene Erfolgsaussichten bei den
unterschiedlichen Umgangsweisen mit Stalking bestehen. Signifikanten Erfolg wiesen dabei folgende 3 Strategien auf: Ignorieren (t=–7,638; df=42; p<0,0001; zweiseitig), deutliches Zurückweisen (t=–3,695; df=31; p=0,001; zweiseitig) und ein Einschalten der Polizei oder von Sicherheitsdiensten (t=–3,674; df=14; p<0,01; zweiseitig).
Spezielle Fragen zu verschiedenen Themen Welche Faktoren beeinflussen das Ausmaß von Stalking? Es sollte überprüft werden, welche Wirkfaktoren einen Einfluss darauf besitzen, in welchem Umfang Prominente Stalkingerfahrungen machen. Zu diesem Zweck wurde eine neue abhängige Variable konstruiert, bezeichnet als »Ausmaß von Stalking«. Diese Skala setzte sich zusammen aus den Items »Längste Stalkingerfahrung« und »Anzahl der Stalker« sowie 2 Items für direkte Kontaktversuche durch Stalker (»Telefonischer Kontaktversuch« und »Direkter physischer Kontaktversuch«). Es wurden mehrere univariate Varianzanalysen durchgeführt, um zu untersuchen, ob und wenn ja welche Faktoren eine Wirkung auf das Ausmaß von Stalking besitzen. In einer ersten Varianzanalyse wurden folgende unabhängigen Variablen geprüft: Zum einen floss das »Geschlecht des Prominenten« in die Auswertung ein, zudem noch das »Alter zu Beginn des Prominentenstatus«. Für die letztere Variable wurde von dem Lebensalter zum Zeitpunkt der Befragung die zeitliche Dauer der Prominenz in Jahren abgezogen. Mit dem so gewonnenen »Alter zu Beginn des Prominentenstatus« konnte eine Variable generiert werden, die beschreibt, ob der Moderator eher in jungen, mittleren oder späteren Jahren erstmals auf dem Fernsehschirm erschien. Dadurch sollte geprüft werden, ob so etwas wie Jugendlichkeit Einfluss auf das Ausmaß von Stalking besitzt. Die »Medienpräsenz« war der letzte unabhängige Faktor. Hierfür wurden 2 Größen zusammengefasst, zum einen wie oft der Prominente in anderen Sendungen als seiner eigenen auftrat und des Weiteren wie häufig er selbst zum Thema von Medienberichten wurde. Zusätzlich wurden in der Varianzanalyse die durchschnittliche Anzahl der Zuschauer und die
107 6.4 · Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
Dauer der Sendung, in der der Moderator regelmäßig auftrat, auf ihren statistischen Effekt hin kontrolliert. Damit sollte geprüft werden, ob die allgemeine Bekanntheit in der Bevölkerung das Ausmaß des Stalkings prägt. Beide Faktoren besaßen keinerlei Relevanz. Es zeigte sich außerdem, dass weder das Geschlecht des Prominenten noch das Alter, in dem er seine TV-Laufbahn begann, einen annähernd signifikanten Einfluss auf das Ausmaß des Stalkings hatten. Dagegen erwies sich die »Medienpräsenz« des Moderators als eindeutig signifikant (F=4,602; df=2; p<0,05; zweiseitig) und zwar dahingehend, dass Prominente, die vielfach in Erscheinung treten, gefährdeter sind, Opfer von Stalking zu werden. Eine zweite Varianzanalyse suchte zu klären, ob zwischen der Art der Prominenz und dem Ausmaß des Stalkings ein Zusammenhang besteht. Hierfür wurden die Sendungen, in denen die Prominenten auftraten, unterteilt in die Gruppe »Sachinformationen«, die Formate wie Nachrichten, Wetter oder Sport beinhaltete, und die Kategorie »Unterhaltung«, die Magazinsendungen und Talkshows erfasste. Varianzanalytisch ließ sich kein Einfluss hinsichtlich des Sendungsformats, in dem der Moderator auftrat, auf das Ausmaß des Stalkings erkennen. Eine dritte Varianzanalyse, die als heuristische Zusatzanalyse zu betrachten ist, widmete sich der Frage, ob die Tageszeit der Sendungen, die die Prominenten moderierten, einen Einfluss auf das Ausmaß des Stalkings besitzt. Hierfür wurde die Tageszeit der Ausstrahlung zu einer zweistufigen Skala mit den Ausprägungen »morgens und tagsüber« und »abends und nachts« zusammengefasst. Außerdem flossen erneut die Faktoren »Zahl der Zuschauer«, »Alter zu Beginn des Prominentenstatus« und »Geschlecht des Prominenten« in die Berechnung mit ein. Als einziger signifikanter Effekt trat die »Tageszeit der Ausstrahlung« hervor (F=4,474; df=1; p<0,05; zweiseitig) und zwar dahingehend, dass Prominente, die eher abends und nachts präsent sind, häufiger zum Opfer von Stalking werden.
Wie unterscheiden sich die Erfahrungen männlicher und weiblicher Prominenter? Es sollte untersucht werden, ob sich in den Inhalten der Zuschriften an die Moderatoren ein Geschlechtsunterschied erkennen lässt. Hierbei wurde vermutet,
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dass Männer aufgrund ihres gesellschaftlich vermittelten Rollenselbstverständnisses eher aktiv zum Ausdruck bringen, wenn sie prominente Frauen als Liebes- und Sexualobjekt ansehen. Die Hypothese lautete deshalb, dass weibliche Moderatoren häufiger sowohl Liebesbekundungen als auch Schreiben mit pornografischem Inhalt erhalten als ihre männlichen Kollegen. Über die Verteilung der ebenfalls im Fragebogen erfassten Themen Beschimpfungen, Drohungen, wahnhafte Vorstellungen, religiöse, esoterische oder politische Traktate sowie Auskunft über eigene persönliche Probleme wurden keine Hypothesen aufgestellt. In einem ersten Schritt wurde mittels eines tTests geprüft, ob sich bei Briefen und Zuschriften an die Prominenten, die über das Normale hinausgingen, der postulierte Geschlechtsunterschied finden ließ. Das stellt sozusagen das Grenzgebiet dar, welches über Aktivitäten gewöhnlicher Fans hinausgeht, aber noch nicht notwendigerweise dem Stalking zuzurechnen ist, da kein Wiederholungsfaktor vorhanden sein muss. Lediglich beim Thema Liebesbekundungen ergab sich ein signifikantes Ergebnis in der erwarteten Richtung (t=–2,668; df=51; p<0,01; einseitig). Es fand sich keine Differenz bei pornografischen Inhalten noch bei anderen Variablen. Der zweite Auswertungsabschnitt beschrieb konkretes Stalkingverhalten, in dem Zuschriften ausdauernder Fans, die über Wochen oder Monate hinweg schrieben, auf ihre thematische Ausrichtung hin nach unterschiedlichen Geschlechtsverteilungen getestet wurden. Die Variable Liebesbekundungen erreichte erneut einen signifikanten Wert, der allerdings auf einem weniger hohem Niveau lag (t=–2,389; df=39; p<0,05; einseitig). Zudem ging die Variable pornografischer Inhalt knapp an der Signifikanz vorbei. Im letzten Schritt wurde die direkte Kommunikation von Stalkern untersucht, erfasst durch telefonische Kontaktversuche, die sich über einen gewissen Zeitraum erstreckten. Bei dieser offensiven Form obsessiver Belästigung ließ sich bei keiner der Variablen eine Differenz zwischen männlichen und weiblichen Prominenten erkennen. Als Trend war erkennbar, dass sich der zunächst vorhandene Geschlechtsunterschied bei Liebesbekundungen an die TV-Moderatoren mit zunehmender Pathologie der Fans in Richtung Stalking und
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
mit ansteigender Direktheit der Kontaktversuche nivelliert.
Was prägt den Grad der Belastung durch Stalking?
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Eine weitere Varianzanalyse sollte klären, welche Faktoren die Schwere der Belastung durch Prominentenstalking ausmachen. Das »Ausmaß der psychischen Belastung« wurde dabei durch eine Kombination der Variablen »Merkmale der Belastung«, »Beeinträchtigung durch Belastung« und »Dauer der Belastung« beschrieben. Analog zu Studien zu Auswirkungen bei »normalem« Stalking (Pathé u. Mullen 1997; Blaauw et al. 2000; LanghinrichsenRohling et al. 2002) wurde angenommen, dass sowohl der Faktor weibliches Geschlecht des Prominenten als auch physische Annäherung durch Stalker den Belastungsgrad erhöhten. Beide Hypothesen konnten bestätigt werden. Weibliche Moderatoren empfanden Stalking als bedrückender als ihre männlichen Kollegen (F=5,363; df=1; p<0,05; zweiseitig). Außerdem erhöhte die Erfahrung, dass obsessive Fans in das persönliche Umfeld eingedrungen waren, das Ausmaß der psychischen Belastung (F=4,104; df=3; p<0,05; zweiseitig).
Zusammenfassung und Diskussion Erfahrungen deutscher Prominenter Was die Häufigkeit des Prominentenstalkings betrifft, ist in der Öffentlichkeit nur »die Spitze des Eisbergs« bekannt. Dies läuft der häufig anzutreffenden Meinung entgegen, dass über Prominentenstalking gegenüber Stalking in der Normalbevölkerung unverhältnismäßig oft berichtet und dass das Thema somit von den Medien aufgebauscht und in seinen Ausmaßen übertrieben dargestellt würde. Im Gegensatz zu diesem Stereotyp gab es tatsächlich jedoch bei nur gut jedem 10. der befragten TV-Moderatoren bereits entsprechende Presseberichte über Stalking. Zugleich bemühte sich lediglich ein knappes Viertel der Prominenten, derartige Ereignisse aus den Medien herauszuhalten. Im Vergleich mit den USA wird damit über Stalking bei deutschen Stars allerdings noch immer häufig berichtet. So gibt der Sicherheitsberater de Becker (1999) an, dass von den 20.000 Fällen von Prominentenstalking, die sei-
ne Firma bis zum Jahr 1997 bearbeitet hatte, nur 0,25% an die Öffentlichkeit gerieten. Der Unterschied zwischen Deutschland und den USA lässt sich vermutlich mit einer höheren Sensibilität amerikanischer Prominenter für diese Frage erklären. Dort ist weitgehend bekannt, dass Medienberichterstattung das weit verbreitete Bedürfnis von Prominentenstalkern nach Aufmerksamkeit bestärken kann und somit tendenziell eher zu einer Intensivierung des unerwünschten Belästigungsverhaltens führt. Fernsehstars in Deutschland sind häufig mit Fankontakten konfrontiert. Die befragten TV-Moderatoren erhielten aufgrund ihrer Bildschirmpräsenz mehr oder weniger viele Zuschriften. Dabei herrschte in der Einschätzung, wie viele solcher Schreiben über das normale Maß hinausgingen, weitgehend Einigkeit. Die Prominenten gaben in mehr als 4 von 5 Fällen an, dass die Rate ungewöhnlicher Zuschriften bei unter 5% lag. In der Mehrzahl der auffälligen Schreiben fanden sich thematisch Liebesbekundungen und Ähnliches. Deutlicher seltener traten wahnhafte und religiös gefärbte Schreiben sowie Beschimpfungen auf. Drohungen waren so gut wie gar nicht präsent. Als eine weitere Form von Fankontakten mit einer pathologischen Einfärbung wurde nach merkwürdigen oder beunruhigenden Gegenständen gefragt, die die Moderatoren zugeschickt bekommen hatten. Fast die Hälfte der Prominenten (47,1%) berichtete über derartige Zusendungen, die so unterschiedliche Dinge wie selbst gebastelte Geschenke, pornografisches Material und Körperflüssigkeiten enthielten. Ähnliche Beobachtungen machten Dietz et al. in ihrer Studie über 214 Personen, die ungewöhnliche Zuschriften an Hollywoodstars sandten. Mehr als die Hälfte (55%) dieser obsessiven Fans und Stalker legte den Briefen Gegenstände bei. Dabei handelte es sich vor allem um Fotografien des obsessiven Fans oder andere kreative Anstrengungen von ihm, wie etwa Gedichte. Doch in 8% aller Fälle erhielten die Stars zudem bizarre Gegenstände, wie beispielsweise Hundezähne, Tierkot, ein Spielzeugunterseeboot oder Aufnahmen von Leichen, in die das Gesicht des Stars hineinretuschiert war (Dietz u. Martell 1989; Dietz et al. 1991a). Um die Stalkingerfahrungen der deutschen TVModeratoren zu erfassen, wurde die Frage gestellt,
109 6.4 · Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
ob es Fans gab, die über Wochen, Monate oder Jahre bereits einmal ungewöhnliche Kontaktversuche unternommen hatten. Eine solche explizite, verhaltensorientierte Formulierung wurde zum einen gewählt, da zum Zeitpunkt der Befragung der Begriff Stalking in Deutschland noch nicht allgemein bekannt war. Des Weiteren sollte sichergestellt werden, dass ein Handlungsmuster beschrieben wird, das durch sozial unangemessene, wiederholte Kontaktversuche charakterisiert ist, die sich über einen gewissen Zeitraum hinziehen und die deshalb als Stalking bezeichnet werden können. Mit einem Anteil von 79,2% berichteten ausgesprochen viele der TV-Moderatoren, Stalking schon einmal erlebt zu haben. Diese Zahl geht weit über die Rate hinaus, die in der allgemeinen Bevölkerung anzutreffen ist. Eine repräsentative Erhebung für Deutschland führten Dressing et al. (2005) mit einer Befragung in Mannheim durch. Sie legten als Definition für Stalking zugrunde, dass eine Person mindestens einmal in ihrem Leben über einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen mit mindestens 2 unterschiedlichen Methoden verfolgt, belästigt oder bedroht wurde und sich dadurch verängstigt fühlte. Demzufolge wiesen 11,6% in der Bevölkerung einmal eine Erfahrung mit Stalking auf. Diese Häufigkeit ist etwa siebenmal geringer als die in der Moderatorenstichprobe. Allerdings ist die Frage zu stellen, ob Fernsehmoderatoren repräsentativ für alle Prominenten sind. Es ist zu vermuten, dass diese Gruppe besonders anfällig für Stalking ist, da obsessive Verehrer vergleichsweise leicht in ihrer Vorstellungskraft eine innere Beziehung zu dem Fernsehstar eingehen können (Hoffmann u. Sheridan 2005). Denn TV-Moderatoren sind in der Regel zwar attraktive Personen, dies jedoch nicht in einem einschüchternden Ausmaß. Sie geben sich außerdem freundlich und können durch ihre regelmäßige, sendungsgebundene Präsenz auf dem Fernsehschirm zu zuverlässigen, fantasierten Partnern im Privatleben werden.
Geschlechterverhältnis Auch bei der Geschlechterverteilung hinsichtlich der Viktimisierung durch Stalking zeigte sich ein Ergebnis, das sich von Erkenntnissen abhebt, die sonst in der Forschung gefunden wurden: Männliche und weibliche TV-Moderatoren berichteten zu etwa glei-
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chen Anteilen über entsprechende Erfahrungen. Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung sowohl auf internationaler Ebene als auch im deutschsprachigen Raum kamen dagegen zu einem völlig anderen Geschlechterverhältnis. Beispielsweise ergaben 2 Befragungen von insgesamt mehr als 550 Stalkingbetroffenen, dass Frauen mehr als viermal so häufig wie Männer unter den Opfern zu finden waren (Meinhardt u. Wondrak 2004; Hoffmann et al. 2004; Voß et al. 2005). Und auch die beiden anderen internationalen Studien zu Prominentenstalking fanden vergleichbare Zahlen. So stieß sowohl die Forschergruppe aus den USA (Dietz u. Martell 1989) als auch aus den Niederlanden (Malsch et al. 2002) auf einen Anteil von 70–80% weiblicher Stalkingopfer unter den untersuchten Personen des öffentlichen Lebens. Welche Erklärungsansätze sind vorstellbar, weshalb das Geschlechterverhältnis bei den betroffenen Fernsehmoderatoren so deutlich von dem anderer Opfergruppen differiert? Hier ist vor allem die Schwere des Stalkings als moderierende Einflussgröße zu vermuten. Aus Untersuchungen ergibt sich folgender allgemeiner Trend: Je aggressiver und grenzverletzender das Stalking, desto höher ist der Anteil der männlichen Täter (Hoffmann et al. 2005). Betrachtet man unbedrohlichere Formen wiederholter Verfolgungen oder Kontaktversuche, dann stößt man zumeist sogar auf ein Gleichverhältnis von Frauen und Männern unter den Stalkern. Eine Möglichkeit für den gefundenen Häufigkeitsunterschied besteht nun darin, dass sich im Vergleich zu den meisten anderen Studien in dem hier untersuchten Sample von Fernsehmoderatoren vergleichsweise viele eher unaggressive Stalkingfälle finden. Das ist insofern plausibel, als dass die Stichprobe, wie bereits ausgeführt, als zumindest einigermaßen repräsentativ für die Erfahrungen deutscher TV-Moderatoren gelten kann. In den anderen zitierten Untersuchungen sind dagegen gehäuft Gruppen mit extremeren Erfahrungen anzutreffen. Die Studie von Dietz und Martell (1989) gewann ihre Fälle aus den Archiven privater und staatlicher Sicherheitsexperten. Das heißt, die Stalker mussten bereits eine gewisse Vehemenz oder Auffälligkeit an den Tag gelegt haben, damit ein Fallmanagement eingeleitet wurde. Die anderen drei erwähnten Opfererhebungen erfassten die Daten,
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
indem Fragebögen ins Internet gestellt oder breit gestreut an potenzielle Betroffene verteilt wurden. Es ist anzunehmen, dass sich bei dieser Prozedur eher Opfer mit einer höheren Belastung angesprochen fühlten bzw. sich die Zeit nahmen, einen Fragebogen auszufüllen. Akzeptiert man diesen Erklärungsansatz, so lassen sich die gefundenen Unterschiede im Geschlechterverhältnis maßgeblich auf die variierende Schwere der Stalkingfälle zurückführen und weniger darauf, ob es sich bei den Betroffenen um Prominente oder um Personen aus der Allgemeinbevölkerung handelt. Das Geschlechterverhältnis auf Seiten der Stalker deckte sich dagegen bis auf eine Ausnahme relativ gut mit den Ergebnissen anderer Studien. Hier berichteten die TV-Moderatoren insgesamt häufiger über Kontaktversuche von männlichen als von weiblichen obsessiven Fans. Dietz und Martell (1989) fanden in den USA unter Prominentenstalkern sogar eine deutlich männliche Mehrheit. In den Niederlanden zeigte sich bei Personen, die auf Politiker und bekannte Persönlichkeiten aus der Unterhaltungsbranche fixiert waren, allerdings nur eine geringe Überzahl von Männern (Malsch et al. 2002). Bei der isolierten Betrachtung der Prominenten aus dem Kultur- und Fernsehbetrieb traten sogar geringfügig mehr weibliche als männliche obsessive Verehrer in Erscheinung. Sowohl bei Opferbefragungen (z. B. Hoffmann et al. 2004; Voß et al. 2005) als auch in Fällen, in denen forensische Stichproben von Stalkern direkt untersucht wurden (z. B. Mullen et al. 1999; Rosenfeld u. Harmon 2002), findet sich in etwa ein Geschlechterverhältnis von 80% Männern und 20% Frauen. Allerdings tritt ein solch prägnanter Unterschied wie bereits erwähnt vor allem bei extremeren Formen von Stalking auf; bei leichteren Varianten obsessiver Verfolgung und Belästigung gleichen sich auch auf »Täterseite« die Anteile zunehmend an (Hoffmann et al. 2005). Somit lassen sich die gefundenen fluktuierenden Geschlechterverhältnisse bei den Stalkern sowohl durch die unterschiedliche Stichprobenauswahl als auch durch die voneinander differierende Arbeitsdefinition von Stalking relativ problemlos erklären.
Stalkingformen Die hohe Dominanz von Liebesthemen in den Zuschriften obsessiver Fans an die Fernsehmoderatoren
reiht sich in konsistente Ergebnisse anderer Studien zu dieser Fragestellung ein. Sowohl die Auswertung von Briefen an Hollywoodstars von Dietz und Martell (1989) als auch die Befragung niederländischer Prominenter aus der Unterhaltungsbranche zeigten, dass Zuneigung, Verehrung und Liebe die vorherrschenden Themen bei Stalkern waren, die Kontakt zu dieser Gruppe von Personen des öffentlichen Lebens suchten. Politiker dagegen erhielten vermehrt Hilfegesuche, Hinweise auf vermeintliches Unrecht und drohende Gefahren sowie Beschimpfungen. Somit lassen sich über mehrere Untersuchungen in verschiedenen Ländern hinweg inhaltlich voneinander differierende Arten der Stalkingkommunikation ausmachen, die offensichtlich wesentlich von dem Beruf des Prominenten abhängen. Bei schriftlichen Liebesbekundungen, die nach Ansicht der Moderatoren über das normale Maß hinausgingen, gab es einen Geschlechtsunterschied dahingehend, dass weibliche Prominente signifikant häufiger derartige Zuschriften erhielten als ihre männlichen Kollegen. Briefe von Stalkern mit Liebesthemen waren ebenso öfter an Frauen als an Männer gerichtet, wenngleich der Unterschied hier schon geringer war. Keine signifikante Geschlechtsspezifität trat bei Stalkern auf, die sehr offensiv über das Telefon Kontakt zu den Moderatoren suchen. Je obsessiver und intensiver und damit abweichender von sozialen Normen das Annäherungs- und Kontaktverhalten ausfiel, desto weniger war die emotionale Färbung des Stalkings abhängig vom Geschlecht des Prominenten. Dies korrespondiert mit dem Ergebnis, dass männliche und weibliche Prominente in einem ähnlichen Ausmaß von Stalking betroffen sind. Offenbar unterscheiden sich exzessive Fans und Stalker dahingehend, dass die erste Gruppe näher an männlichen Stereotypen agiert, wohingegen Stalker sich verstärkt in einer Fantasiewelt fern von gesellschaftlichen Rollenerwartungen bewegen. Überraschend viele der befragten Moderatoren machten bereits die Erfahrung, dass sie ein obsessiver Fan an ihrem Arbeitsplatz aufsuchte (43,4%) oder sie dort anrief (58,5%). Eine solche Quote dürfte spezifisch für diese Form der Prominenz sein und vielleicht höchstens noch bei bekannten Fußballspielern anzutreffen sein. Im Unterschied beispielsweise zu Schauspielern oder Sängern sind die meisten TV-Moderatoren – gerade wenn sie in festen,
111 6.4 · Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
häufig ausgestrahlten Sendungen wie etwa den Nachrichten tätig sind – vergleichsweise leicht zu lokalisieren. Sie sind bei einem bestimmten Fernsehsender beschäftigt, dessen Adresse problemlos zu recherchieren ist. Berücksichtigt man außerdem, wie wenig über Prominentenstalking in Deutschland bekannt ist und wie nachlässig Sicherheitsverantwortliche mit dem Problem umgehen, so überrascht es kaum, dass es Stalkern offenbar oftmals relativ problemlos gelingt, in die Fernsehstudios vorzudringen oder sich telefonisch direkt zu dem TVStar durchstellen zu lassen.
Vergleich prominenter und nichtprominenter Opfer Vergleicht man die Belastungen der prominenten Opfer von Stalking mit denen von Betroffenen aus der allgemeinen Bevölkerung, so ergibt sich kein einheitlicher Trend. In der Gegenüberstellung mit einer repräsentativen Umfrage aus Mannheim, bei der auch leichtere Formen von Stalking erfasst wurden (Dressing et al. 2005), zeigten sich die betroffenen Prominenten bei den Faktoren »Beunruhigung« (74,1% vs. 56,8%) und »Angstgefühlen« (59,3% vs. 43,6%) etwas häufiger belastet. Hinsichtlich somatischer Auswirkungen infolge von Stalkingerfahrungen zeigte sich ein umgekehrter Effekt: Lediglich ein Moderator (3,7%) gab an, deswegen Schwierigkeiten beim Schlafen oder einen nervösen Magen gehabt zu haben. Die Befragten aus der Normalbevölkerung berichteten dagegen zu 41% über Schlafstörungen und zu 34,6% über Magenbeschwerden. Die »normalen« Opfer erlebten gegenüber den Prominenten geringfügig häufiger Einschränkungen im Alltag. Erstgenannte berichteten zu 71,6%, dass es infolge des Stalkings zu Veränderungen in ihrer Lebensführung gekommen war, gegenüber 62,7% in der prominenten Gruppe. Etwa jeder 6. betroffene Bürger (16,7%) wechselte wegen des Stalkings den Wohnort, ebenso zogen 6,3% der Moderatoren aus diesem Grund um. Ein knappes Drittel (32,1%) der gestalkten Personen aus der Allgemeinbevölkerung änderte die Telefonnummer, hingegen nahmen fast alle der TV-Prominenten (96,8%) ihre Adresse aus dem Telefonbuch, entfernten ihren Namen an der Haustür oder beantragten eine Geheimnummer. Hier spielte vermutlich oftmals ein Präventionsgedanke eine Rolle, indem sich die Moderatoren auch
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für die Zukunft vor dem Eindringen obsessiver Fans in ihre Privatsphäre schützen wollten. Nur jeder 10. der betroffenen TV-Persönlichkeiten (9,4%) ergriff spezielle Vorsichtsmaßnahmen. In der Bevölkerungsstichprobe lag mit 16,7% der Anteil von Personen etwas höher, die angaben, zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen zu haben, wie beispielsweise den Einbau eines neuen Türschlosses oder das Mitführen von Reizgas. Ebenso erstattete ein Zehntel der Prominenten mit Stalkingerfahrungen (9,4%) Anzeige gegen einen obsessiven Fan, demgegenüber gingen gut doppelt so viele betroffene Bürger (20,5%) zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Das Ergebnis des Vergleichs zwischen den Auswirkungen von Stalking auf prominente und nicht prominente Opfer überraschte auf den ersten Blick. Es war davon ausgegangen worden, dass die psychischen und somatischen Folgen für die Betroffenen aus der Allgemeinbevölkerung durchgängig gravierender sind, da hier viel häufiger Gewalttätigkeiten auftreten und das Geschehen stärker im sozialen Nahraum stattfindet. Zudem war bei den Prominenten tendenziell eine höhere Resilienz gegen Stalking, also eine ausgeprägtere psychische Widerstandsfähigkeit, erwartet worden. Diese Vermutung gründete sich zum einen auf die Annahme, dass viele Personen des öffentlichen Lebens davon ausgehen, dass sie quasi als zwangsweisen Aspekt ihres Berufes mit ungewöhnlichen Kontakt- und Annäherungsversuchen konfrontiert werden und deshalb von solchen Ereignissen weniger verunsichert und damit belastet werden. Angenommen wurde zudem, dass Prominente über mehr Ressourcen zum Umgang mit Stalking verfügen, etwa indem mehr Sicherheitsvorkehrungen und Schutzmaßnahmen für sie getroffen werden. Es zeigte sich allerdings bereits bei den Interviews mit den TV-Moderatoren über ihre Stalkingerfahrungen, dass der betriebene Sicherheitsaufwand für diese Personengruppe in der Öffentlichkeit stark überschätzt wird. Dass in der vorliegenden Gegenüberstellung die Belastungen für Prominente nicht geringer ausfielen, ist vor allem auf die Stichprobenauswahl bei den »normalen« Stalkingopfern zurückzuführen. Dressing et al. (2005) legten wie bereits erwähnt ein sehr breites Sample von Betroffenen vor, in dem auch sehr leichte Formen der Belästigung eingeschlossen
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
waren, bei denen es fraglich ist, ob es sich überhaupt schon um Stalking handelte. Ein Vergleich der TVModeratoren mit einer Gruppe von Opfern, die vehementeren Formen von Stalking ausgesetzt waren (z. B. bei Voß et al. 2005), hätte dann auch zu dem Ergebnis geführt, dass in dieser Referenzgruppe deutlich stärkere psychische und physische Belastungsmomente zu beobachten gewesen wären. Allerdings ist ebenso anzumerken, dass bestimmte Belastungsfaktoren existieren, die ausschließlich Fällen von Prominentenstalking zu eigen sind. In den Interviews mit den Moderatoren kam beispielsweise wiederholt die Sorge zur Sprache, dass man nicht in der Lage sei, den Stalker in der Öffentlichkeit bei einer Annäherung zu erkennen, aber als Medienpersönlichkeit ein leicht zu identifizierendes Ziel darstellt. So herrschte bei manchen der Prominenten ein ungutes Gefühl vor, wenn sie während eines laufenden Stalkingfalls von einem ihnen unbekannten Zuschauer auf der Straße angesprochen wurden. Zudem zeigten sich mehrere Moderatoren, die Erfahrungen mit psychisch kranken Verehrern gemacht hatten, verunsichert, wie denn ihre Fernsehauftritte in der wahnhaft verzerrten psychischen Realität des Stalkers wahrgenommen werden würden und ob sie durch ihr Verhalten vor der Kamera die Fixierung des Stalkers verstärken würden.
Bevorzugte Opfer von Stalkern Empirisch unerforscht blieb lange die Frage, ob Einflussgrößen dahingehend vorhanden sind, welche Prominente bevorzugt Opfer von Stalking werden. Es gibt einige Aussagen von Experten hierzu, die offenbar auf praktischen Erfahrungen mit derartigen Fällen gründeten. So ging beispielsweise der USamerikanische Stalkingexperte de Becker davon aus, dass vor allem weibliche Popsänger zum Ziel von Stalkern werden: Wir haben alle schon die Erfahrung gemacht, zu denken: »Dieser Song drückt wirklich aus, was ich im Moment fühle.« Songs haben eine große Wirkung, weshalb Sängerinnen mehr Probleme haben als jede andere Art von Medienpersönlichkeit. (zit. nach Gross 2000, S. 177)
Dietz vermutete, dass die soziale Ausstrahlung der Prominenten in dieser Frage Bedeutung besitzt:
Je freundlicher und nahbarer jemand erscheint, desto häufiger wird er die ernsthaft wahnhaften und ausdauernden Individuen auf sich ziehen. […] Die öffentliche Rolle [solcher Prominenten] fördert bei Personen, die allgemein Schwierigkeiten mit sozialen Beziehungen haben, Illusionen von Intimität und Empfänglichkeit und die Hoffnung auf ein unkompliziertes Sichnäherkommen. (zit. nach Gross 2000, S. 177 f.)
Es war in der vorliegenden Studie leider nicht möglich, die Hypothese von Dietz direkt zu prüfen, da die soziale Ausstrahlung aufgrund der Anonymität der befragten TV-Prominenten nicht durch Rater gemessen werden konnte. Auch zeigte sich kein Weg, die Annahme von de Becker zu verifizieren, da in der Stichprobe keine Sängerinnen, sondern ausschließlich TV-Moderatoren vorhanden waren. Allerdings konnte die mögliche Einflussgröße »Weibliches Geschlecht« untersucht werden, die de Becker bei Prominenten offenbar implizit als Risikofaktor ansah, da er eindeutig von Sängerinnen und nicht von Sängern sprach, die bevorzugt zum Ziel von Stalkern werden. Interessanterweise ergab sich bezüglich der Geschlechtszugehörigkeit des Prominenten kein Einfluss auf die Schwere des Stalkings, die als Kombination aus der zeitlichen Dauer, der Anzahl und der Vehemenz der Stalkingerfahrungen gemessen wurde. Ebenso wenig erwies sich das Alter der Moderatoren als maßgeblich. Das Stereotyp, das sich in Medienberichten immer wieder findet, dass junge, weibliche Prominente bevorzugt Opfer von Stalking werden, konnte nicht bestätigt werden. Tatsächlich ziehen im Allgemeinen junge Frauen vermutlich mehr öffentlich bekundetes sexuelles Interesse an als soziodemografisch anders strukturierte Bevölkerungsgruppen, wie etwa Werbespots oder pornografisches Material nahe legen. Bezüglich Prominentenstalking scheint jedoch eine falsche Generalisierung stattgefunden zu haben, denn die Realität pathologischer Fixierungen ist offensichtlich eine andere. Hier spielen andere Faktoren als Alter und Geschlecht eine tragende Rolle in der Frage, ob eine Person des öffentlichen Lebens attraktiv für einen Stalker ist. Auch die Art der Sendung, in der die TV-Moderatoren auftraten, d. h., ob diese primär unterhal-
113 6.4 · Stalkingerfahrungen von Prominenten – empirische Studie aus Deutschland
tender Natur waren, wie etwa Boulevardmagazine, oder sich eher sachorientiert ausrichteten, wie Nachrichten, blieb ohne Auswirkungen. Dies kann als möglicher Hinweis darauf gewertet werden, dass die Art der Prominenz bei bekannten Persönlichkeiten aus der Unterhaltungs- und Informationsbranche vielleicht doch weniger Einfluss auf das Risiko hat, Opfer von Stalking zu werden, als de Becker annahm. Die allgemeine Medienpräsenz eines Stars scheint dagegen für diese Frage ein kritischer Punkt zu sein. Ist ein Prominenter oft in Talkshows, gibt es Medienberichte, die sein Privatleben und seine Persönlichkeit ausleuchten, so gewinnt er als soziale Figur an Konturen und wird öfter zum Ziel von Stalkern. Dadurch ist es für obsessive Fans offenbar leichter, eine fantasierte persönliche Beziehung zu dem Star aufzubauen. Das Ergebnis stützt die Vermutung von Dietz, dass der Anschein sozialer Nahbarkeit fixierte und wahnhafte Charaktere anzieht. Und auch in der Praxis des Prominentenberaters de Becker findet dieser Zusammenhang Berücksichtigung. Hier wird die Empfehlung ausgegeben, dass Prominente »Homestories«, also Berichte, in denen die Stars ihre Wohnung und ihr Privatleben der Öffentlichkeit vorstellen, aus Gründen der Stalkingprävention meiden sollen (de Becker 1999). Dazu passt, dass TV-Moderatoren, die im Schwerpunkt am Abend oder in der Nacht auf dem Fernsehschirm präsent sind, tendenziell öfter zum Zielobjekt von Stalkern werden als ihre Kollegen, die zumeist morgens und tagsüber ihre Auftritte haben. Es erscheint plausibel, dass in den nächtlichen Stunden, in denen das Lärmen des allgemeinen Tagesgeschehens verstummt ist, die Fantasie einer Beziehung mit der Person im Fernsehen leichter realisierbar ist, da wenig Ablenkung vorhanden ist. Auch die Dunkelheit trägt dazu bei, die Vorstellungskraft zu beflügeln. Folgt man den Ergebnissen von Dietz und Martell (1989), wonach Prominentenstalker zumeist sozial zurückgezogen leben, dürften gerade die Abendstunden besonders von Einsamkeit geprägt sein. In dieser freien Zeit der Arbeitstage bleiben sie demnach im Unterschied zu den meisten ihrer Mitbürger allein, sodass die fantasierte persönliche Nähe zum Fernsehmoderator eine kompensatorische Funktion besitzen mag.
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Umgang mit Stalking Die Frage an die Moderatoren, welche Umgangsweisen mit den Stalkern zu einem positiven Effekt geführt hatten, erwies sich als aufschlussreich. Nahezu alle Maßnahmen, die geeignet waren, eine fantasierte Beziehung zu dem Prominenten zu nähren, und sei es auf eine noch so indirekte Art, wurden von den Moderatoren als nicht sehr produktiv eingeschätzt. Beispielsweise führte die freundliche Bitte an den obsessiven Fan, die unerwünschten Kontaktversuche zu beenden, in knapp 2 Dritteln zu gar keinem oder zu einem unbefriedigenden Erfolg. Offensichtlich mangelte es dieser eher wohlwollenden Vorgehensweise an Klarheit und Schärfe. Der Stalker erhielt hier letztlich von dem vom ihm begehrten Star eine emotional positive Rückmeldung, die lerntheoretisch als Verstärker wirkte und ihn oftmals eher anspornte, seine Anstrengungen fortzusetzen. Wenn Vermittlungspersonen versuchten, den Stalker zum Aufhören zu bewegen, hatte dies ebenfalls häufiger einen unbefriedigenden als einen zufriedenstellenden Effekt zur Folge. Auch hier kann die indirekte Rückmeldung, dass die eigenen Kontaktversuche von dem Prominenten wahrgenommen wurden, eine motivierende Wirkung entfalten. Vielleicht ermöglicht außerdem die Absage über einen Dritten dem Stalker die Vorstellung aufrechtzuerhalten, dass es doch noch zu einer persönlichen Verbindung kommt. Das heißt, er kann vor sich selbst sagen, dass alles ein Missverständnis darstellt und der Star selbst vielleicht doch anderer Ansicht ist oder dass der Prominente ihn nur einmal persönlich kennen lernen müsste, um festzustellen, wie gut sie zusammenpassen. Aus dem eben skizzierten Muster fällt zumindest auf den ersten Blick heraus, dass ein deutliches Zurückweisen des obsessiven Fans durch den Prominenten selbst häufiger als positive denn als unwirksame Maßnahme bewertet wurde. Das mag überraschen, denn der hartnäckige Verehrer erfährt ja eine persönliche Rückmeldung durch den Star. Allerdings ist die negative Antwort in dem Fall klar und eindeutig formuliert, sodass es dem obsessiven Fan oftmals nicht leicht fallen dürfte, seiner Fantasie einer Beziehung aufrechtzuerhalten. Zudem dürfte hier auch eine Gruppe von anhänglichen Fans zu berücksichtigen sein, die in der Literatur als naive Verfolger (»naive pursuer«) bezeichnet werden (de
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Kapitel 6 · Prominentenstalking
Becker 1994). Solche Fans suchen durch stalkingartiges Verhalten zwar eine enge, oftmals sogar eine romantische Beziehung mit dem Prominenten. Sie sind jedoch nicht in einem so obsessiven Ausmaß wie echte Stalker auf den Star fixiert, sondern ihnen fehlt schlichtweg die Einsicht in die Unangemessenheit ihres Verhaltens. Eine deutliche Konfrontation mit dem Umstand, dass ihr offensives Bemühen um Kontakt realitätsfern und unerwünscht ist und auch keine Aussicht auf Erfolg hat, bringt die Annäherungsversuche der naiven Verfolger in aller Regel zum Erliegen. Auch das Hinzuziehen der Polizei und von Sicherheitsdiensten hat sich nach Einschätzung der Moderatoren oftmals bewährt. Etwa 2 Drittel der Prominenten schätzen solche Maßnahmen als erfolgreich ein und nur etwa 6% sprachen ihr keinerlei Erfolgsaussichten zu. Damit bestätigte sich das Ergebnis einer Untersuchung der Antistalkingeinheit der Polizei aus Los Angeles. Kurz nach ihrer Gründung zu Beginn der 90er-Jahre bearbeitete die der Anteil der männlichen Täter »Threat Management Unit« im Schwerpunkt Fälle von Prominentenstalking. Eine Evaluation ihrer Interventionsmaßnahmen kam zu dem Ergebnis, dass ein offensives Vorgehen der Polizei fast immer zu einem Ende des Stalkings führte (Williams et al. 1996). Auch eine Befragung von deutschen und englischen Stalkingopfern, die aus der allgemeinen Bevölkerung stammten, bestätigte den Trend, wobei hier ein frühzeitiges und konsequentes Vorgehen der Polizei als zentrale Faktoren für ein Zurückdrängen des Stalkings ausgemacht wurden (Hoffmann et al. 2004). In Übereinstimmung mit allen Ratgebern zu allgemeinem Stalking (z. B. Spence-Diehl 1999; Pathé 2002) und zu Prominentenstalking (de Becker 1999) zeigte sich das Ignorieren des Stalkers als erfolgreichste Strategie. Keiner der befragten Moderatoren machte hiermit eine schlechte Erfahrung und nahezu 3 Viertel sprachen sogar von einem durchweg erfolgreichen Vorgehen in diesem Punkt.
Fazit Durch die Befragung der TV-Moderatoren und den Vergleich mit der vorhandenen Literatur ließ sich herausarbeiten, dass zwar Übereinstimmungen zwi-
schen dem Stalking von Prominenten und von »normalen« Bürgern bestehen, zugleich jedoch einige Spezifika vorhanden sind. Diese Besonderheiten sind vor allem auf die Außenwirkung der Moderatoren als öffentliche Personen zurückzuführen, die bestimmte Formen von Kontaktversuchen mit sich bringt und Fixierungen von oftmals psychisch auffälligen Personen auf sich zieht. Eine Prävention von Stalking bei Prominenten könnte damit gezielt bei öffentlichen Auftritten und Interviewäußerungen sowie vor allem bei Reaktionen auf ungewöhnliche Zuschriften und Annäherungen ansetzen. Es erscheint vielversprechend, die hier durchgeführte Befragung von Personen des öffentlichen Lebens nach ihren Erfahrungen mit obsessiven Fans durch Interviews mit Prominentenstalkern zu ergänzen.
7 Erotomanie
7.1
Historische Entwicklung des Erotomaniekonzepts – 116
7.2
De Clérambaults Erotomaniemodell – 119
7.3
Moderne Klassifikation – 121
7.4
Persönlichkeitsbild und Krankheitsverlauf – 121
7.5
Erklärungsmodelle – 122
7.6
Biografisches Entwicklungsmodell – 125
7.7
Geschlechterverteilung – 126
7.8
Erotomanie und Gewalttätigkeit – 127
7.9
Kritik und erweiterte Konzeptionen – 129
7.10 Erotomanisches Prominentenstalking – 131 7.11 Grenzen des Erotomaniekonzepts – 133
Bei der Erotomanie, auch Liebeswahn oder De-Clérambault-Syndrom genannt, geht eine Person fest und unverrückbar davon aus, dass sie von einem anderen geliebt wird, obgleich keinerlei Anhaltspunkte für eine derartige Annahme existieren. Seit den 80er-Jahren ist diese Form der Wahnerkrankung auch kodifiziert: So heißt es in der 4. Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV), Kernmerkmal der
Störung sei die Vorstellung, »dass eine andere Person den Betroffenen liebt. Der Wahn bezieht sich meist eher auf eine idealisierte romantische Liebe und seelische Verbundenheit als auf sexuelle Anziehung. Die Person, von der dies mit Überzeugung angenommen wird, ist gewöhnlich von höhergestelltem Status (z. B. eine berühmte Person oder ein Vorgesetzter)« (APA 1998, S. 353). Hier fällt auf, dass in der Beschreibung prominente Personen explizit als häufiges Zielobjekt der Wahnerkrankung genannt werden. Bemerkenswert ist außerdem, dass Erotomanie die einzige Störung
im DSM darstellt, in der explizit Stalkingverhalten als diagnostisches Merkmal aufgeführt ist. Es heißt dort: »Bemühungen, mit dem Wahnobjekt in Kontakt zu kommen (durch Telefonanrufe, Briefe, Geschenke, Besuche oder sogar durch Überwachung und Nachschleichen), sind häufig, obwohl die Person gelegentlich ihren Wahn geheim hält« (APA 1998, S. 353). Tatsächlich sind schon auf den ersten Blick die Überschneidungen zwischen dem modernen Konzept des Stalkings und der psychiatrischen Kategorie der Erotomanie prägnant. So finden sich in der psychiatrischen Fachliteratur Darstellungen, die geradezu als Definition für obsessive Verfolgung und Belästigung taugen würden. Beispielsweise schrieb die Schweizer Medizinerin Andrea Möhr in ihrer Arbeit über Liebeswahn: Viele Patienten werden aktiv, indem sie Briefe schreiben, andere belästigen die Betroffenen bis 6
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Kapitel 7 · Erotomanie
mehrmals täglich mit Telefonanrufen. Einzelne drohen mit Selbstmord, in seltenen Fällen kommen auch Morddrohungen vor, andere suchen den »Geliebten« in dessen Wohnung oder am Arbeitsplatz auf, wieder andere beginnen Hochzeitsvorbereitungen zu treffen und die Umgebung darüber zu informieren. (Möhr 1987, S. 7 f.)
7
Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass Stalking und Erotomanie unterschiedliche Dinge sind. Denn immer wieder werden die beiden Phänomene in den Massenmedien und in populärwissenschaftlichen Publikationen gleichgesetzt, gerade die pathologische Bedeutung des Begriffs der Erotomanie wird von Laien oft nicht wahrgenommen. So lautete zum Beispiel der Titel des ersten deutschsprachigen Buches über Stalking, verfasst von einer Journalistin, Liebeswahn (Schumacher 2000). Die begriffliche und konzeptionelle Konfusion zieht sich aber auch teilweise durch bis hin zu Professionen, die regelmäßig mit Tätern und Opfern arbeiten. Der Unterschied zwischen Stalking und Erotomanie liegt darin, dass Stalking ein Verhaltenssyndrom darstellt, hinter dem sich eine obsessive Fixierung auf eine andere Person verbirgt. Grund des Kontaktverhaltens und der Verfolgung kann der Wunsch sein, ein Liebesverhältnis einzugehen, aber auch andere Motive wie Rache sind möglich. Die Erotomanie hingegen stellt ein psychiatrisches Syndrom dar, bei dem der Betroffene wahnhaft von einer wechselseitigen Liebe bzw. von der Liebe eines anderen ausgeht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Personen, die unter Erotomanie leiden, zwar häufig auch Stalkingverhalten zeigen, der Stalker aber bei weitem nicht in jedem Fall obsessiver Verfolgung und Belästigung an Liebeswahn erkrankt ist. Es gibt relativ klare Vorstellungen darüber, wie oft Erotomanie in Fällen von Stalking auftritt. Mehrere Studien kamen zu vergleichbaren Ergebnissen und fanden, dass Liebeswahn in diesem Kontext überraschenderweise nicht sehr zahlreich festzustellen ist. Übereinstimmend ermittelten die Untersuchungen eine Häufigkeitsrate von ungefähr 10% oder etwas darüber (Zona et al. 1993; Meloy u. Gothard 1995; Kienlen et al. 1997; Mullen et al. 1999). Allerdings besteht die Vermutung, dass sich bei verschiedenen Gruppen von Zielpersonen Un-
terschiede finden lassen und dass etwa bei bestimmten prominenten Opfern der Anteil erotomanischer Stalker höher liegen könnte. Auf diese Frage wird später noch genauer eingegangen. Umgekehrt stellt sich natürlich die Frage, wie oft an Erotomanie leidende Personen infolge ihrer wahnhaften Vorstellung einer in Wirklichkeit nicht existierenden Beziehung Stalkingverhalten zeigen. In einer Untersuchung einer kleinen Stichprobe von 15 Patienten mit der Diagnose Erotomanie stießen Kennedy et al. (2002) bei weniger als der Hälfte auf Handlungsformen wiederholter Belästigungen, wobei hier häufiger nichtprominente Personen zum Zielobjekt wurden. Auch in eine andere Studie fand man, dass bei einem Sample von psychisch auffälligen Personen das Vorhandensein von Erotomanie Einfluss darauf hat, ob Stalking auftritt. Es wurden die Charakteristika von Psychiatriepatienten, die innerhalb der Klinik Stalkingverhalten zeigten, mit den Merkmalen einer Gruppe nicht stalkender Patienten verglichen (Sandberg et al. 1998). Dabei erwies sich unter anderem die Diagnose einer erotomanischen Störung als Risikofaktor, der die Wahrscheinlichkeit obsessiver Belästigung und Verfolgung erhöht.
7.1
Historische Entwicklung des Erotomaniekonzepts
Die Geschichte von Stalking und Liebeswahn ist eine alte und reicht bis weit in das vorletzte Jahrhundert zurück. Obgleich als Begriff schon lange zuvor in Gebrauch, geht das klinische Konzept der Erotomanie auf den Franzosen Esquirol zurück, der bereits im Jahr 1838 in seinem Lehrbuch über Geisteskrankheiten eine Form des Wahns vorstellt, »die sich durch eine außerordentliche Liebe für einen bekannten oder unbekannten Gegenstand charakterisiert« (zit. nach Möhr 1987, S. 21). Der Erotomane leide an einer sentimentalen Bindung an eine Person, mit der er in Wirklichkeit gar keine oder zumindest keine tiefe Beziehung habe. Er sei Opfer seiner Imagination, die ihn an die äußersten Grenzen amouröser Leidenschaft führe. Dabei ging Esquirol von einer platonisch und nicht sexuell geprägten Liebe aus. In insgesamt 9 Fallbeispielen präsentierte er unterschiedliche Ausformungen der Erotomanie, wobei
117 7.1 · Historische Entwicklung des Erotomaniekonzepts
in einigen der geschilderten Kasuistiken Verhaltensweisen auftreten, die man heute als Stalking bezeichnen würde. Bemerkenswert ist, dass auch hier zum Teil sozial höher stehende Personen als Objekt des Liebeswahns fungieren.
Ein ungebundener 36 Jahre alter Mann entwickelte eine Leidenschaft für eine Schauspielerin von schönem Aussehen. Er unternahm zahllose Versuche, mit ihr in Kontakt zu kommen und näherte sich ihr wiederholt an. Er folgte ihr und wartete vor dem Theater und ihrem Haus. Sie machte deutlich, dass sie kein Interesse an ihm habe und er wurde sowohl von dem Mann der Dame als auch von ihren Schauspielerkollegen verwarnt, aber dennoch setzte er seine Annäherungsversuche fort. Er beobachtete sie abends im Theater und gewann die Überzeugung, dass sie ihn ermutigte durch Blicke in seine Richtung und durch ihr errötetes und strahlendes Gesicht. Er begann sich ihr anzunähern, wann immer sie in der Öffentlichkeit erschien und er verfolgte sie, als sie Paris verließ und auf das Land zog. Er wurde mehrfach von dem Ehemann und Freunden der Schauspielerin verprügelt, weshalb er einmal sogar ins Krankenhaus musste, aber auch dies entmutigte ihn nicht. Er war überzeugt, dass sie gezwungen wurde, nicht mit ihm zu sprechen oder nicht auf seine Avancen zu reagieren. Er gab fast sein gesamtes Einkommen für sein Werben aus und verbrachte den Großteil seiner Wachzeit mit dieser Aufgabe. Esquirol, mit einer brutalen Direktheit, die heutigen Praktikern verloren gegangen ist, fragte den Mann folgendes: »Wie kannst du glauben, dass dich diese Frau liebt? Du hast nichts, was sie für dich einnehmen könnte. Du bist nicht ansehnlich. Du besitzt weder gesellschaftlichen Stand noch bist du wohlhabend.« Seine Antwort lautete: »All dies ist wahr. Aber Liebe braucht keine Gründe und ich habe zuviel gesehen, um noch zu zweifeln, dass ich von ihr geliebt werde.« (Mullen et al. 2000, S. 131 f.).
7
Auch der Pionier der modernen forensischen Psychiatrie, Krafft-Ebing, berichtete im 19. Jahrhundert von dem Phänomen der Erotomanie. Er ordnet sie der Verrücktheit zu, die er als »Irresein mit systematischen Wahnvorstellungen« definierte. Krafft-Ebing beschrieb die Persönlichkeitszüge von Erotomanen als sozial unbeholfen, vor allem im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Seit der Pubertät bestehe bei ihnen eine empfindsame Einstellung, sie erstellten sich ein ideales Bild eines Partners oder verliebten sich in eine ältere Person, die sie kaum kennen. Der Krankheitsverlauf setze dann ein, wenn die Betroffenen eine Person aus höheren Gesellschaftsschichten wahrnehmen, in der sie ihr Ideal erfüllt sehen. Ein zunehmender wahnhafter Prozess beginnt, bei dem am Ende eine halluzinierte Beziehung mit dem Liebesobjekt steht. In einem Fallbeispiel berichtete er von einer jungen Frau, die neben anderen Auffälligkeiten auch erotomanische Symptome zeigte: »Ihre romanhafte Liebe zu dem ‘Bräutigam’, mit dem sie durch ‘Sympathie der Gefühle’ verlobt ist, ist eine kindische ideale Liebeständelei und nichts weniger als eine zielbewusste, leidenschaftliche ernsthafte Neigung« (Krafft-Ebing 1883, S. 163). Dabei wird auch von einer Episode erzählt, in deren Verlauf sie annahm, der Geliebte werde gezielt vor ihr versteckt: »Sie stellte die Angehörigen deshalb zur Rede, war sehr gereizt, suchte den Bräutigam in allen Winkeln des weitläufigen Schlosses.« Krafft-Ebing zählte zahlreiche diagnostische Kriterien für psychische Störungen auf. Unter anderem hielt er es typisch für erotomanische Personen, dass sie besonders viel schrieben, wobei »vielfach Aenderungen der Handschrift, barokke Verzierungen, Schnörkel, Unterstreichungen von Worten und Silben bemerkenswerth« seien (1883, S. 264). Außerdem versuchte er, Wahnideen wie die Erotomanie von den von ihm als Verstandesirrtümer bezeichneten Fehleinschätzungen Geistesgesunder abzugrenzen. Dabei sah Krafft-Ebing nicht primär den Inhalt des Wahns, sondern vor allem dessen individuelle Entstehungsgeschichte und die fehlende Selbsteinsicht des Betroffenen als diagnostisch relevant an. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert erweckte das Syndrom des Liebeswahns schließlich großes Interesse in weiten Kreisen der deutschsprachigen
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7
Kapitel 7 · Erotomanie
Psychiatrie. Emil Kraepelin stellte den Liebeswahn, den er auch als erotische Verrücktheit bezeichnete, in eine Reihe mit anderen paranoiden Erkrankungen, wie beispielsweise Eifersuchts-, Erfinder-, Abstammungs- oder Prophetenwahn. Unabhängig von der inhaltlichen Ausprägung sah er die determinierende Gemeinsamkeit dieser Gruppe von Pathologien darin, dass es sich um eine »aus inneren Ursachen erfolgende, schleichende Entwicklung eines dauerhaften, unerschütterlichen Wahnsystem handelt, das mit vollkommener Erhaltung der Klarheit und Ordnung im Denken, Wollen und Handeln einhergeht« (Kraepelin 1913, S. 1713). Die Beschreibung der erotischen Verrücktheit folgt weitgehend den früheren Konzeptionen der Erotomanie. Es handelt sich um eine schwärmerisch eingefärbte Liebe, meist ohne explizite sexuelle Komponente. Der Kranke glaubt außerdem, von einer höher stehenden Person des anderen Geschlechts geliebt zu werden. Dabei interpretiert er systematisch zufällige Begegnungen oder Handlungen des anderen fehl, wie im folgenden Beispiel Kraepelins (1915, S. 1750): »Eine Kranke bemerkte, dass der Landesfürst sich vor ihr im Theater besonders höflich verneigte, auch seine Kinder dazu anhielt, sie zu grüßen.« Weitergehend sind die sog. Erinnerungsfälschungen, bei denen es nicht nur um die nachträgliche Umbewertung früherer Geschehnisse geht, sondern ebenso erfundene Ereignisse als Erinnerungsbild auftreten. Kraepelin berichtete etwa von einem Fall, in dem eine an Liebeswahn Erkrankte die Wahrnehmung hatte, dass ein gesellschaftlich hochstehender Mann ihr über in einem Zeitungsfeuilleton platzierte Botschaften seine Zuneigung signalisierte und sogar ein Haus für sie gekauft und eine hohe Jahresrente für sie bereit gestellthabe. Zudem ist nach Kraepelin als weiteres Charakteristikum für die erotische Verrücktheit zu nennen, dass der Kranke oftmals glaubt, dass seine Liebe ein öffentliches Geheimnis darstellt und Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit ist. Dabei spricht allerdings kaum jemand offen von der Liaison, die zahlreich auftretenden Anspielungen in den Unterhaltungen anderer erschließen sich jedoch in ihrem tiefen Sinn dem Kranken sofort. Ernst Kretschmer unterschied 1927 mehrere Ausformungen der Erotomanie. In heutiger Termi-
nologie ein wenig befremdlich anmutend, fasste er 2 Fallbeispiele zunächst unter der Kapitelüberschrift »Der erotische Beziehungswahn alter Mädchen« zusammen. In dem Werk beschrieb er später weitere Fälle unter der expliziten Bezeichnung Liebeswahn, wobei ihm eine Wechselwirkung zwischen Charakter, Milieu und Erlebnis maßgeblich für dessen Entstehung erscheint. Einen fundamentalen psychologischen Hintergrund des Geschehens sieht er in der »Neigung, in der Fantasie sich unerfüllte Wünsche zu befriedigen«, die eine »fast allgemein menschliche Eigentümlichkeit« sei (Kretschmer 1950, S. 201). Damit korrespondierend betrachtet er als einfachste und grundlegende Variante des Liebeswahnes die sog. Form der reinen autistischen Wunscherfüllung, die er anhand eines Beispiels wie folgt schilderte: Das Mädchen sieht einen Mann; sie denkt es sich hübsch, wenn er käme, sie zu heiraten. Weiter braucht sie nichts, um glücklich zu sein. Sie braucht keine Realität, die ihren Wunsch erfüllt, und es stört sie auch keine Realität, die ihm widerspricht. Sie wünscht, und indem sie wünscht, entsteht schon in ihr selbst die Erfüllung: sie weiß und ist fest überzeugt, dass er sie heiraten wird. Von dieser Selbstüberzeugung lebt sie jahrelang so glücklich, wie ein Mädchen, die einen wirklichen Bräutigam hat. Ihr Verhalten ist das einer wirklichen Braut: sie errötet und lächelt, wenn man von ihm spricht. (Kretschmer 1950, S. 189).
Diese fast schon literarisch anmutende Beschreibung scheint in der Charakterisierung auch eine Subpopulation von Prominentenstalkern zu erfassen. In Briefen einiger Vielschreiber an Stars findet sich ein Tonfall, der von einer überdauernden ruhigen Verehrung geprägt ist und in denen die Überzeugung bzw. tiefe Hoffnung ausgedrückt wird, dass es eines Tages zu einer Beziehung kommen wird. Als weitere Spielart des Liebeswahns spricht Kretschmer von einer typischen Form sensitiven Beziehungswahns (in dessen Verlauf der Betroffene in der Realität tatsächlich einen Annäherungsversuch unternommen hatte, aber zurückgewiesen wurde), der »im Sinne der beschämenden Insuffizienz verarbeitet und in entsprechenden Beziehungsideen aus-
119 7.2 · De Clérambaults Erotomaniemodell
gemünzt« wird (S. 199). Als weitere Steigerung gilt ihm die Wunschpsychose, die nicht selten durch Abwehrmechanismen, wie Affektverschiebung oder Identifikation, gekennzeichnet ist. Der Psychiater Eugen Bleuler diskutierte in den 1940er Jahren das Phänomen des Liebes- oder Beziehungswahnes ebenfalls unter dem Blickwinkel der Paranoia, die er als psychologisch nachvollziehbare Reaktion eines entsprechend veranlagten Menschen auf innere und äußere Konflikte ansah. Paranoia sei eine chronische, in aller Regel unheilbare Erkrankung, die selten vor dem 40. Lebensjahr in Erscheinung trete. Er betrachtete ebenso wie Kraepelin das paranoide Wahnsystem als normalerweise thematisch eingegrenzt, weshalb Denken, Gedächtnis und andere kognitive Prozesse sowie viele emotionale Reaktionen außerhalb des Wahngebildes relativ normal und unbeeinflusst bleiben würden. So könnten Paranoiker oftmals auch beruflich erfolgreich sein, wenngleich sie vielleicht von ihrer Umwelt als etwas verschroben wahrgenommen würden. Als eine Ausprägung der Krankheit, die für das Phänomen Liebeswahn von Bedeutung ist, führte Bleuler die »Erotiker« an. Die Erotiker glauben sich von irgendeinem Höherstehenden, oft einem Höchststehenden, des anderen Geschlechts geliebt, verfolgen ihn mit allen möglichen Arten von Kundgebungen, beispielsweise, dass sie zu der Ehe bereit seien, oder sie begeben sich mit List oder Gewalt in seine Wohnung, wo sie verlangen, als Gemahl oder Gemahlin behandelt zu werden. (Bleuler 1972, S. 500 f.).
Auch in dieser Beschreibung klingt bereits das Motiv Prominentenstalking an. Beispiele aus jüngerer Zeit, in denen obsessive Fans auf vergleichbare Weise in Wohnungen und Häuser vordrangen, betreffen etwa US-amerikanische Prominente wie David Letterman, Janet Jackson oder Brad Pitt.
7.2
De Clérambaults Erotomaniemodell
Als bis in die Gegenwart wohl einflussreichste, wenn auch nicht mehr gänzlich zeitgemäße Konzeption von Erotomanie gilt das Modell des französischen
7
Psychiaters G.G. de Clérambault, das er in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts erstmals bekannt machte (de Clérambault 1921; Debbelt u. Assion 2001). Wegweisend war vor allem de Clérambaults Unterscheidung zwischen einer primären und sekundären Form der Erotomanie. In der primären oder auch reinen Ausprägung tritt der Wahn, von einer bestimmten Person geliebt zu werden, ohne weitere signifikante psychopathologische Symptome auf. Damit wird die von seinem Landsmann Esquirol ein Jahrhundert zuvor initiierte definitorische Richtung fortgesetzt. De Clérambaults Vorstellungen zufolge findet sich die primäre Erotomanie vor allem bei alleinstehenden Frauen zwischen dem 40. und dem 60. Lebensjah. Sie wird außerdem durch die Merkmale charakterisiert, dass sie im Unterschied zur Paranoia plötzlich auftritt, dass ein konstantes und kein wechselndes Objekt einer imaginierten Liebesbeziehung vorhanden ist und dass sie chronisch verläuft. Er führte auch ein Beispiel von Prominentenstalking avant la lettre für die primäre Form der Erotomanie an.
Eine 53 Jahre alte französische Frau war völlig überzeugt, dass der englische König Georg V. sie liebte. Sie glaubte, englische Seeleute und Touristen in Frankreich wären insgeheim Boten, die der König gesandt hatte, um seine Liebe zu ihr öffentlich zu machen. Vor dieser Wahnvorstellung hatte sie bereits die Überzeugung gehabt, dass ein amerikanischer General und König Edward VII ihr in Leidenschaft zugetan waren. Auf mehreren Englandreisen nach 1918 wartete sie geduldig vor den Toren des Buckingham Palace. Als sie dabei einmal einen sich bewegenden Vorhang sah, interpretierte sie dies als ein Zeichen des Königs. Sie behauptete, dass ganz London von der Liebesbeziehung wüsste, obwohl sie gleichzeitig angab, der König würde ihre Reisepläne stören und hätte dafür gesorgt, dass ihr Gepäck abhanden gekommen sei, in dem auch Geld und Portraits von ihm gewesen wären. Obgleich dieser Schwierigkeiten, die als Versuche ihre Zuneigung zu entmutigen 6
120
Kapitel 7 · Erotomanie
hätten gewertet werden können, nahm sie weiter an, dass eine besondere Art der Beziehung zwischen dem König und ihr bestand, indem sie sagte: »Der König mag mich hassen, aber er kann mich nicht vergessen. Ich werde ihm niemals gleichgültig sein, noch er mir.« (zitiert nach Segal 1989, S. 1261)
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In dieser reinen Ausprägung tritt das Wesen der Erotomanie am deutlichsten hervor. Allerdings stellt diese Variante offenbar die seltenere Form dar und ist in etwa in einem von 4 Fällen zu beobachten. Häufiger treten erotomanische Merkmale in Kombination mit anderen psychiatrischen Symptomen auf. Dieses Muster wurde von de Clérambault als sekundäre Form bezeichnet. Der Liebeswahn wird hier meist als Folgeerscheinung einer anderen psychiatrischen Erkrankung betrachtet, beispielsweise einer weiteren Psychose, einer affektiven Störung oder einer organischen Erkrankung, etwa einer Hirnkrankung. Ein Fallbeispiel aus England, in dem eine paranoide Schizophrenie im Hintergrund stand und in dem der Betroffene außerdem Stalkingverhalten zeigte (Farnham et al. 1997), verdeutlicht das Konzept der sekundären Erotomanie.
Depersonalisation und gab an, dass andere Menschen seine Gedanken lesen könnten, was schließlich zu der Diagnose einer Schizophrenie mit erotomanischen Elementen führte.
In einem anderen Fall – diesmal von Prominentenstalking – waren neben der Erotomanie andere psychotische Symptome zentral. Hier traten vor allem akustische Halluzinationen in Form von Stimmenhören auf, die thematisch in die erotomanischen Vorstellungen eingebettet waren.
Ein 22-jähriger Mann verfolgte und belästigte eine 6 Jahre ältere Nachbarin über einen längeren Zeitraum. Schließlich drang er in ihrer Abwesenheit in ihre Wohnung ein und begann damit auch seine Sachen hereinzutragen, als würde er einziehen. Als ihn wegen der von ihm aufgebrochenen Tür eine Polizeistreife zur Rede stellte, erklärte der Mann, er sei der Verlobte der Wohnungsinhaberin. Sein Verhalten führte zu einer Einlieferung in eine forensische Klinik. Dort berichtete er den Ärzten von einer spirituellen Beziehung zu der Frau, die von einer idealisierten Liebe gekennzeichnet sei. Er deutete offensichtlich irrelevante Handlungen und Gesten als Zeichen ihrer Zuwendung. Er schilderte zudem Symptome von Derealisation und
Frau A., eine 39 Jahre alte geschiedene Frau, war wegen eines ungedeckten Schecks und wegen Nichtbezahlens nach Behandlungen in 2 Schönheitssalons verhaftet worden. Sie wollte sich damit auf die Begegnung mit ihrem erotomanischen Liebesobjekt vorbereiten. Frau A. war nach Los Angeles gekommen, um gegen einen berühmten Sänger eine Anzeige wegen Nichteinhaltens eines Heiratsvertrages zu erstatten. Er habe ihr versprochen sie zu heiraten, dann aber seine Meinung geändert. Sie hatte bereits einige Jahre die Wahnvorstellung, dass der Sänger sie liebte. Sie gab an, seine Stimme gehört zu haben, welche zu ihr sprach. Eine weitere Quelle für ihren Ärger auf den Star war die Annahme, er habe ihr einen Ladendiebstahl in ihrem Heimatort »untergeschoben«, um zu verhindern, dass sie nach Los Angeles fahre. Als sie sich wegen des Diebstahls vor Gericht verantworten musste, ordnete der Richter eine psychiatrische Behandlung an, in deren Rahmen sie auch Antipsychotika verschrieben bekam. Als sie schließlich doch nach Los Angeles reiste, ging sie zur Autozulassungsstelle und legte dort einen Führerschein vor, auf dem der Namen der Frau eines berühmten Talkmasters eingetragen war. Frau A. erklärte, sie habe ihren Namen geändert, da der TV-Star ihre Briefe »akzeptierte«, in denen sie sich über
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6
121 7.4 · Persönlichkeitsbild und Krankheitsverlauf
den Sänger beschwerte. Sie nahm fälschlicherweise an, dass der Talkmaster ihre Position teile, da er nicht antwortete. Einige Zeit später beschuldigte sie ihn jedoch, sich gemeinsam mit dem Sänger gegen sie verschworen zu haben. (Leong 1994, S. 380)
De Clérambault (1921, S. 482) nennt mehrere Kernpostulate, die den wahnhaften Blick des Erotomanen auf die Person, die ihn vermeintlich liebt, determinieren: 5 Das Liebesobjekt kann ohne den Erotomanen kein Glück erreichen. 5 Das Liebesobjekt kann seine ganze Größe nicht ohne den Erotomanen erreichen. 5 Das Liebesobjekt ist frei. Eine eventuelle Heirat ist nichtig und ohne Bedeutung. Den Vorstellungen de Clérambaults zufolge beginnt der Liebeswahn mit Gefühlen von Hoffung, Sehnsucht und Stolz. Doch müsste das Verhalten des Liebesobjekts dem Erotomanen oftmals nicht paradox und widersprüchlich erscheinen, zeigt es doch in der Regel wenig Anzeichen von großer Zuneigung? In der Welt des Liebeswahnes wird dieser Mangel an Liebesausdruck des anderen mit speziellen dissonanzreduzierenden Konstrukten erklärt, beispielsweise in der Art, dass der Verehrte aus Schüchternheit oder Stolz die Liebe verschweigt oder er die Gegenliebe des Erotomanen testen will. Zunehmend stellt sich dann doch Enttäuschung ein, da die erwartete Beziehung ausbleibt. Nun beginnt eine Phase des Grolls und der Wut. Der Erotomane fühlt sich erniedrigt, Hass kommt auf und das Verhalten wird aggressiver und fordernder gegenüber dem Liebesobjekt. Mit dieser Dynamik erklärt de Clérambault das Wechselspiel aus Zuneigung und Erbitterung, wie es nicht selten im Verlauf eines Liebeswahnes zu beobachten ist.
7.3
Moderne Klassifikation
Wie am Anfang des Kapitels kurz erwähnt, wird die Erotomanie seit den 1980er-Jahren in den beiden international meinungsprägenden Krankheitsma-
7
nualen aufgeführt, dem DSM und der ICD der WHO. Dies hatte – wie wenige Jahre später zusätzlich das Einsetzen der Stalkingforschung – einen Aufschwung klinischer und wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Phänomen zur Folge. In den gegenwärtigen Klassifikationssystemen wird Erotomanie den wahnhaften Störungen zugerechnet. Für diese Gruppe psychischer Erkrankungen gilt im DSM-IV als diagnostisches Hauptmerkmal das Vorhandensein von einem oder mehreren nichtbizzaren Wahnphänomenen, die mindestens einen Monat anhalten (APA 1998). Zudem darf keine Schizophrenie vorhanden sein und der Wahn darf auch nicht auf die Einnahme von Drogen oder Medikamenten zurückzuführen sein. Weiterhin findet eine diagnostische Unterscheidung nach dem vorherrschenden Wahnthema statt, wobei neben dem Liebeswahn etwa der Verfolgungsund der Größenwahn als prominente Beispiele zu nennen sind. Allerdings können erotomanische Merkmale nicht nur als mehr oder weniger reine Pathologie auftreten, sondern auch als symptomatische Auffälligkeit eines anderen Störungsbildes klassifiziert werden. Dies ist in mindestens 22 weiteren diagnostischen Kategorien des DSM der Fall (Mullen u. Pathé 1994a).
7.4
Persönlichkeitsbild und Krankheitsverlauf
Schon lange wird in der psychiatrischen Literatur die prämorbide Persönlichkeit von Erotomanen als schüchtern und sozial zurückgezogen beschrieben. Es entsteht das Bild eines Menschen mit geringer zwischenmenschlicher Kompetenz, der einen isolierten Lebensstil führt, sei es aus emotionaler Empfindlichkeit, Misstrauen oder einem Überlegenheitsgefühl gegenüber seiner Umwelt heraus (Mullen et al. 2000). Damit verbunden haben nicht wenige der Betroffenen bislang keine Sexualpartner gehabt oder kaum tiefe soziale Bindungen erfahren. Viele von ihnen sind deshalb nie verheiratet gewesen. Nicht selten fühlen sie sich als physisch unattraktiv oder werden so von ihrer Umwelt wahrgenommen. Oftmals ist der soziale und gesellschaftliche Status von Erotomanen gering, und sie gehen einer wenig qualifizierten Arbeit nach. In aller Regel schildern sie ihr
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7
Kapitel 7 · Erotomanie
soziales Leben auch selbst generell als frustrierend und wenig erfüllend. Dem Ausbruch der Erkrankung geht manchmal eine persönliche Krise voraus, die etwa durch die Trennung von einer nahestehenden Person, eine Entlassung aus dem Beruf oder durch das Ende einer Psychotherapie ausgelöst werden kann (Lloyd-Goldstein 1998). Häufig entsteht für den Betroffenen bei diesem Verlust eines unterstützenden Systems eine narzisstische Verletzung, die durch den Liebeswahn kompensiert werden soll. Die Dauer der erotomanischen Fixierung auf eine andere Person lässt sich eher in Jahren oder Jahrzehnten messen als in Monaten oder Wochen. Beispielsweise schilderte bereits de Clérambault einen sehr extremen Fall, in dem ein Liebeswahn 37 Jahre andauerte. Psychiatrische oder polizeiliche Interventionen werden von Erotomanen oftmals eher als Prüfung für die imaginierte Liebesbeziehung gesehen, die es zu bestehen gilt, denn als Abschreckung. Sind derartige Maßnahmen dennoch erfolgreich oder wird mit den Jahren die Anzahl der Kontaktversuche durch den Lauf der Zeit geringer, bleibt in der Regel trotzdem ein Nachklang des Wahnes bestehen, und der Erotomane gibt sich überzeugt, dass er noch immer aus der Ferne geliebt wird (Segal 1989). Gelegentlich wechseln die Betroffenen auch das Liebesobjekt, sodass sich nicht selten ein Liebeswahn in Serie beobachten lässt. Bemerkenswert ist zudem die häufige Komorbidität der erotomanischen mit anderen psychiatrischen Symptomen. So werden beispielsweise häufig zusätzlich Schizophrenien, aber auch affektive Störungen diagnostiziert. Prominent sind in den Schilderungen der Literatur akustische Halluzinationen, manische und andere wahnhafte Symptome. Auffällig ist zudem, dass bei Patienten mit Erotomanie nicht selten auch weitere direkt verwandte Familienmitglieder an psychotischen Erkrankungen leiden (Kennedy et al. 2002).
7.5
Erklärungsmodelle
Bislang existiert kein Modell für die Entstehung der Erotomanie, das allgemein anerkannt ist. Je nach ihrer theoretischen Herkunft und Ausbildung haben Wissenschaftler allerdings verschie-
dene Ansätze vorgeschlagen, wobei die Diskussion über deren Erklärungswert oft noch immer im Gange ist. Eine theoretische Hauptrichtung stützt sich maßgeblich auf psychoanalytische Vorstellungen. So sah Sigmund Freud die Ursache des Liebeswahns in der Abwehr latenter homosexueller Wünsche. Der nicht tolerierbaren Fantasie, einen Mann zu lieben, wird durch den Mechanismus der Paranoia begegnet. Dies kann etwa in den Formen Verfolgungswahn, Eifersuchtswahn, aber auch Erotomanie seinen Ausdruck finden. Die in einem solchen Zusammenhang wirkende Dynamik des Liebeswahnes beschrieb Freud wie folgt: »Ich liebe nicht ihn – ich liebe ja sie.« Und der nämliche Zwang zur Projektion nötigt dem Satz die Verwandlung auf: »Ich liebe nicht ihn – ich liebe ja sie – weil sie mich liebt.« (Freud 1911, S. 187). Allerdings gilt Freuds Modell mittlerweile als überholt, nicht zuletzt, da in der Literatur immer wieder über Fälle von Liebeswahn bei Homosexuellen berichtet wird. Andere Psychoanalytiker führen den Liebeswahn auf einen unbewältigten ödipalen Konflikt zurück (Möhr 1987). Demnach ist beispielsweise bei weiblichen Erotomanen die Ablösung von der ödipalen Liebe zum Vater nicht gelungen; die Bildung des Über-Ichs, die die auf den Vater gerichteten Wünsche zurückdrängt, war unzureichend. Dadurch bleiben die Triebwünsche stark, führen jedoch im Erwachsenenalter zu Ängsten, die durch den Abwehrmechanismus der Idealisierung kontrolliert werden. Dies geschieht durch die Bindung an einen idealisierten Partner, die der Frau ein Verharren in ihrer naiv-kindlichen Welt ermöglicht, in der sie sich väterlich behütet fühlen kann. In der von Heinz Kohut initiierten Psychologie des Selbst stellt der Liebeswahn den Versuch eines Selbstheilungsprozesses dar, der auf einen strukturellen Defekt in der frühen psychischen Entwicklung verweist. Das Liebesobjekt wird als idealisiertes Selbstobjekt benutzt, welches internalisiert wird, um dem eigenen Selbst ein Gefühl von Schönheit, Wert und Selbstachtung zu gewähren. Die Patientin, die kein adäquates Selbst entwickeln konnte, braucht einen anderen, um sich lebendig und ganz zu füh6
123 7.5 · Erklärungsmodelle
len. Ein Verlust des Liebesobjektes würde einem Verlust des Selbst gleichkommen. So kann die Symptombildung, die eine pathologische Abwehr ist, als eine Quelle narzisstischer Befriedigung verstanden werden. (Möhr 1987, S. 48)
Kohuts Überlegungen folgend sieht auch einer der Pioniere im Bereich der Stalkingforschung, J. Reid Meloy (1989), narzisstisch geprägte kompensatorische Mechanismen bei der Erotomanie wirken, wobei er ebenfalls auf Objektbeziehungstheorien zurückgreift. Beispielsweise kann die wahnhafte Beziehung zu einer grandiosen Figur sozusagen als psychologischer Ersatz Stabilisierungswirkung besitzen für eine Persönlichkeit, die früher in ihrer Biografie ein Liebesobjekt verlor oder sich von ihm als getrennt erlebte. Dieser narzisstische Wunsch nach einer Beziehung mit einer idealisierten Figur zeigt sich etwa deutlich an dem oben aufgeführtem Fallbeispiel de Clérambaults, in dem eine Französin aus dem Volk im erotomanischen Wahn an eine Beziehung zum englischen König glaubte. Wie an anderer Stelle näher ausgeführt, scheint sich in einem solchen oder in vergleichbaren Mechanismen eine psychologische Grundstruktur des Stalkings von Prominenten zu offenbaren. Der US-amerikanische Psychiater J.H. Segal (1989) schlägt ein weiter gefasstes, eher reaktives Erklärungsmodell des Narzissmus vor. Er sieht im Liebeswahn eine selbstgeschaffene »narzisstische Gratifikation«, die generell fehlende Glücks- und Erfolgserlebnisse kompensieren soll. In diesem Zusammenhang weist Segal auf den oftmals sozial zurückgezogenen Lebensstil und die meist fehlenden tiefen emotionalen Bindungen von Erotomanen hin. Die Wahnvorstellung, von einer erfolgreichen, gut aussehenden oder berühmten Person geliebt zu werden, stehe im scharfen Kontrast zu »der ansonsten trostlosen emotionalen Landschaft ihres Lebens« (S. 1264). Nach Segal stellt gerade diese offenkundige Differenz einen Indikator für die Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse dar, die in der Realität ungestillt bleiben. Unter günstigen Rahmenbedingungen muss ein Liebeswahn aus diesem Blickwinkel deshalb nicht als etwas unbedingt Schlechtes gesehen werden: »Vielleicht ist die Erotomanie, wenn sie unter Kontrolle gehalten werden kann, ein nicht gänzlich negatives Phänomen, vermag sie doch Trost
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zu spenden für einige arme Seelen, die ihr Leben ansonsten in ungelinderter Isolation und Einsamkeit verbringen würden« (S. 1265). Einigen Autoren zufolge soll Erotomanie gehäuft bei Personen mit paranoiden Persönlichkeitsstörungen auftreten (Millon u. Davis 1996). Struktureller Hintergrund dieses Zusammenhangs ist die Neigung paranoider Persönlichkeiten, das Verhalten anderer Menschen falsch zu interpretieren, ihre Handlungen auf sich zu beziehen und ihnen verdeckte Motive zuzuschreiben. Als weiterer Einflussfaktor wird dabei das häufig gemeinsame Auftreten von paranoiden und narzisstischen Tendenzen angeführt. Es gibt auch empirische Hinweise für derartige Persönlichkeitsakzentuierungen bei Erotomanen. Beispielsweise diagnostizierten Mullen und Pathé (1994b) in ihrer Stichprobe von 16 Patienten mit Liebeswahn in einem knappen Drittel der Fälle eine paranoide oder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Eine weitere Erklärungslinie begreift erotomanische Phänomene als Effekt einer anderen psychischen Störung, vor allem der Schizophrenie, die keines eigenen Erklärungsmodells bedürfen. Liebeswahn wird hier nicht als Krankheitsentität gesehen; eine eigenständige diagnostische Kategorie der Erotomanie wird abgelehnt. Allerdings hat sich diese Argumentation nicht durchsetzen können. M. Brüne (2001, 2003) führt ein evolutionspsychologisches Modell zur Erklärung der Erotomanie in die Diskussion ein. Er sieht Liebeswahn und in Erotomanie wurzelndes Stalking als pathologische Variante einer biologisch verankerten, langfristigen Partnerwahlstrategie an, der »sexual strategies theory«. Einer der Ausgangspunkte dieser Sichtweise ist die »Inklusive Fitnesstheorie«, die im Unterschied zu klassischen Evolutionstheorien weniger das Überleben der Art als handlungsleitend ansieht als vielmehr auf individueller Ebene den Antrieb, die eigenen genetischen Eigenschaften möglichst oft zu replizieren (Brüne 2002). Diese Motivation führt dazu, dass mehr oder weniger unbewusst KostenNutzen-Rechnungen dahingehend angestellt werden, ob bestimmte Kontakte oder Handlungen sich positiv auf die Überlebens- und Reproduktionschancen auswirken. Dabei gibt es im Bereich der Partnerwahl einen geschlechtsspezifischen Unterschied, da
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Kapitel 7 · Erotomanie
männliche und weibliche Organismen ein unterschiedlich hohes Investment in potenzielle Nachkommen haben. Frauen suchen demnach längerfristige Bindungen mit Partnern, die ihnen Unterstützung und Ressourcen für das Aufwachsen von Kindern bieten können. Deshalb werden häufig etwas ältere Männer bevorzugt, da sie mutmaßlich über einen höheren Sozialstatus verfügen. Im Sinne einer möglichst umfangreichen Fortpflanzung würden Männer eher kurzfristige Bindungen mit wechselnden Partnerinnen eingehen, wobei jüngere, sexuell attraktive Frauen bevorzugt werden, da sie eine potenziell höhere Gebärfähigkeit besitzen. Allerdings macht Brüne (2002) darauf aufmerksam, dass derartige evolutionäre Mechanismen zwar im Hintergrund Kognitionen, Emotionen und Verhalten prägen und steuern, dabei jedoch nicht als starre Handlungsschemata verstanden werden sollten, da der Mensch den entwicklungsgeschichtlichen Einfluss höchst individuell und variabel umzusetzen vermag. Vor dem Hintergrund der »Inklusiven Fitnesstheorie« kann erotomanisches Stalking als Paarungsstrategie verstanden werden, die sozusagen aus dem Ruder gelaufen ist. Hier spielt die Hypothese vom »Sozialen Gehirn« eine entscheidende Rolle (Brüne 2002). Aus evolutionärer Sicht ist es danach bedeutsam, dass der Mensch als ein von Gemeinschaft abhängiges Wesen spezifische Fähigkeiten entwickelt hat, um die Motive, Intentionen und Dispositionen von Artgenossen beispielsweise durch Empathie zu erkennen. Bei Wahnerkrankungen, wie der Erotomanie, ist nun eine Störung des »Sozialen Gehirns« zu vermuten: Versteht man Wahnerkrankungen als in sich logisch strukturierte Urteile, die von falschen Annahmen ausgehen und aufgrund von noch nicht genau bekannten Störungen des sozialen Moduls nicht korrigierbar sind, so wird deutlich, dass es sich bei diesen Störungen mehr um quantitativ, aber nicht qualitativ verschiedene Mechanismen handelt, die auch gesunden Entscheidungsprozessen zugrunde liegen. (Brüne u. Ribbert 2002, S. 153)
Das Pathologische ist dieser Vorstellung zufolge also nicht das völlig Andere, sondern stellt eher eine
überschießende Variation normaler psychischer Prozesse dar. Aus diesen Überlegungen leitete Brüne (2001) mehrere Hypothesen ab, die er an einer Stichprobe von 246 Fällen von Liebeswahn prüfte, die im 20. Jahrhundert in Fachpublikationen erschienen waren (. Tab. 7.1). Die Annahmen über evolutionär begründete Partnerwahlstrategien – Frauen bevorzugen ältere männliche, Männer jüngere weibliche Liebesobjekte – fanden empirische Unterstützung. Zudem bestätigte sich, dass die absolute Mehrheit der Erotomanen unverheiratet war. In einem späteren Auswertungsschritt untersuchte Brüne (2003) die Bedeutung von Stalkingverhalten und Liebeswahn in einem evolutionären Kontext. Hier fand sich ein signifikanter Geschlechtsunterschied. Männliche Erotomanen zeigten deutlich öfter Eifersucht, Gewalt und Stalking als ihre weiblichen Konterparts. In einer Regressionsanalyse erwiesen sich zudem die Variablen männliches Geschlecht, Eifersucht und geringer sozialer Status als Prädiktoren, um forensisch relevantes Verhalten vorherzusagen. Eifersucht wird der »Inklusiven Fitnesstheorie« zufolge als männliche Strategie gesehen, um die Treue einer Partnerin zu sichern, da sich der Mann letztlich niemals sicher sein kann, dass das Kind tatsächlich von ihm stammt. Von Brüne nicht näher ausgeführt, ließe sich spekulieren, ob ein sozial geringer Status bei Männern, der ja aus Evolutionssicht ihre Attraktivität sinken lässt, kompensatorisch zu einem offensiveren Werbeverhalten, beispielsweise in Form von Stalking führt. Des Weiteren könnte mangelndes Sozialprestige häufiger Gewalt zur Folge haben, da eine Ablehnung des Paarungswunsches möglicherweise als frustrierender und bedrohlicher wahrgenommen wird, wenn das Individuum davon ausgehen muss, auch an anderer Stelle keinen Erfolg bei der Partnerwahl zu haben. Die evolutionstheoretische Betrachtungsweise von Liebeswahn und Stalking wirft aber auch einige Fragen auf. Verbunden mit einem erhöhten Gewaltrisiko, das vermutlich deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt, ermorden manche Stalker – sowohl erotomanische als auch nichterotomanische – die früheren Objekte ihrer Zuneigung. Dies stellt sich als konträr zu dem Reproduktionsgedanken dar, der der »Inklusiven Fitnesstheorie« zugrunde liegt. Der Widerspruch tritt auch bei evolutions-
125 7.6 · Biografisches Entwicklungsmodell
7
. Tabelle 7.1. Charakteristika von 246 Personen mit Erotomanie. (Nach Brüne 2003)
Merkmal
Weibliche Erotomanen
Männliche Erotomanen
Geschlechterverteilung Durchschnittsalter Unverheiratet Verheiratet Forensisch auffälliges Verhalten
69,1% 33,5 Jahre 76,4% 23,6% 4,1%
30,9% 28 Jahre 94,9% 5,1% 51,3%
35,8% 59,0% 5,2%
55,1% 40,6% 4,3%
Sozialer Status Niedrig Mittel Hoch
Alter des Liebesobjektes in Relation zu dem des Erotomanen Älter Gleich Jünger
73,5% 7,4% 19,1%
20,5% 12,8% 66,7%
13,2% 86,8%
27,7% 72,3%
Sozialer Status des Liebesobjektes Gering und mittel Hoch
biologischen Überlegungen zur Opferwahl bei Vergewaltigungen und Sexualmorden auf und konnte dort ebenfalls noch nicht zufriedenstellend gelöst werden (Shackelford 2002). Dem Fortpflanzungsaspekt steht zudem ein weiterer Gesichtspunkt in der Konzeption der Erotomanie entgegen: Man geht dort von einer platonisch geprägten Zuneigung aus, die für sexuelle Aktivitäten wohl eher hinderlich als förderlich sein dürfte.
7.6
Biografisches Entwicklungsmodell
Die forensische Psychiaterin Doreen Orion, die selbst mehr als 11 Jahre von einer ehemaligen Patientin gestalkt wurde, schlug 2001 ein prototypisches Entwicklungsmodell für die Genese von Liebeswahn vor, das biologische und soziale Einflussfaktoren gemeinsam wirken sieht. Demnach ist es für Erotomanen charakteristisch, in einer Familie aufzuwachsen, in der ein emotional distanziertes Klima vorherrscht oder sogar Missbrauch stattfand. Das Kind fühlt sich deshalb wertlos und vermag kein adäquates Selbstwertgefühl auszu-
bilden. Es versucht, die Bedürfnisse nach Nähe und einer emotional befriedigenden Beziehung durch die Flucht in eine Fantasiewelt zu stillen. Bei entsprechender genetischer Disposition kann an dieser Stelle bereits die Grenze zu wahnhaften Vorstellungen überschritten werden. Schon in ihrer Adoleszenz führen die Betroffenen oftmals ein zurückgezogenes Leben und werden von ihrem Umfeld als Einzelgänger beschrieben. Dadurch erfährt ihr defizitäres Selbstwertgefühl weitere Verstärkung. Auch in ihrem beginnenden Berufsleben bleiben die meisten von ihnen Minderleister und bevorzugen Jobs, die sie in wenig Kontakt mit anderen bringen. Nach Orions Modell ist Folge dieses Entwicklungsprozesses, dass Erotomanen so gut wie nie verheiratet gewesen sind oder eine enge zwischengeschlechtliche Beziehung erlebt haben. In ihrer Fantasiewelt dominiert weiter der tiefe Wunsch nach einer romantischen Beziehung; ihr Vorstellungsbild bleibt auf dem adoleszenten Level einer idealen Liebe fixiert, durch die ihre emotionalen Wunden geheilt werden und sozusagen alles, was bisher unbefriedigend war, nun gut wird. Mit ihrem erotomanischem Blick auf die Welt verfolgen und kontaktieren sie schwärmerisch ihr Liebesobjekt auf
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Kapitel 7 · Erotomanie
ausdauernde Weise – ein Verhalten, das zwar zumeist in der Pubertät, nicht aber im Erwachsenenalter sozial akzeptiert wird. Dabei werden Abweisungen und Abgrenzungsversuche des Gegenübers systematisch in Äußerungen von Liebe umgedeutet. Orion (2001) vergleicht diese unreife Entwicklungsstufe mit dem Verhalten einer Teenagerin, die sich in den Kapitän der Fußballmannschaft der Schule verliebt hat. Auch sie wird sich in der Turnhalle in seiner Nähe herumzudrücken suchen, jedoch würde ihr ein Ansprechen des umschwärmten Sportlers als unmögliches Unterfangen erscheinen. Voll mit adolszentem Optimismus interpretiert sie seine Gesten fehl und hofft beispielsweise, dass es insgeheim ein Zeichen an sie gewesen sei, wenn er sich das Auge reibt. Gelingt es ihr, einen persönlichen Gegenstand von ihm, etwa ein bekritzeltes Blatt Papier, zu erhaschen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie dieses Souvenir unter ihr Kopfkissen legt, um von dem umschwärmten Jungen zu träumen. Vermutlich zeigt die Schülerin sogar Stalkingverhalten, indem sie versucht herauszufinden, wo ihr Mitschüler seine Nachmittage verbringt oder wer seine Freunde sind. Allerdings stößt sie hier auf altersbedingte Schwierigkeiten. Ohne Führerschein kann sie ihn kaum bis nach Hause verfolgen, und es dürfte ihr auch schwerfallen, ihre Eltern zu überzeugen, sie zu diesem Zwecke zu chauffieren. Diese Grenzen der Mobilität und möglicherweise auch Grenzen mancher Kommunikation, wie ungestörtes nächtliches Telefonieren, hat der erwachsene Erotomane nicht, weshalb seine Belästigungen ein deutlich höheres Ausmaß annehmen können als die seines jugendlichen Pendants.
7.7
Geschlechterverteilung
In ihrem Ursprung ist die Erotomanie vor allem als eine weibliche Psychopathologie konzipiert worden. So benannte Esquirol vor mehr als anderthalb Jahrhunderten eine »weiche weibische Erziehung« als Einflussfaktor auf die Entstehung des Liebeswahnes. Passenderweise zeigt sich nach seiner Meinung als Mittel zur Heilung vor allem ein Weg: »So ist die Heirath fast das einzig wirksame Mittel, denn es geht hier wie mit dem Heimweh; die Kranken können nur durch die Erfüllung ihrer Wünsche geheilt wer-
den« (zit. nach Möhr 1987, S. 21 f.). Das bereits hier angelegte Leitmotiv, dass der unerfüllte Wunsch nach einem Ehemann pathogene Wirkung haben kann, spiegelt wohl zum einen das damals vorherrschende Stereotyp wider, dass eine Frau erst an der Seite (oder im Gefolge) des Mannes ihre wahre Bestimmung erhält. Andererseits ist gesellschaftliche Realität bekanntermaßen oftmals handlungs- und wahrnehmungsrelevant, sodass auch in der Frage der Partnerfindung der psychische Druck auf Frauen teilweise enorm gewesen sein mag. Auf jeden Fall zog sich die Vorstellung der erotomanischen Frau als vergeblich passiv auf die Ehe wartend und sich deshalb in Wunschvorstellungen sozial hineinhalluzinierend weiter fort bis in das letzte Jahrhundert. Kretschmers Rede vom »erotischen Beziehungswahn alter Mädchen« etwa macht deutlich, dass aus dieser Perspektive Wahn im Nichterreichen einer ehelichen Beziehung wurzelt. Die Vorstellung, dass fast ausschließlich Frauen dem Liebeswahn anheimfallen, hielt sich, obgleich es keine empirischen Untersuchungen gab und sich bereits bei Esquirol Beispiele männlicher Erotomanie finden. Tatsächlich erscheinen bis in die Gegenwart psychiatrische und psychologische Arbeiten, die behaupten, dass fast ausnahmslos nur Frauen an Liebeswahn erkranken. Aufgrund zunehmender Forschungstätigkeit hat sich mittlerweile jedoch ein differenziertes Bild ergeben. So finden sich bei klinischen Stichproben von Erotomanen vermehrt Frauen, bei forensischen Samples dagegen häufiger Männer. Mullen und Pathé (1994a) beispielsweise fanden in einer Gruppe von 14 forensisch auffälligen, zumeist gewalttätigen Erotomanen, die das Zielobjekt ihrer Zuneigung belästigten und verfolgten, dass mit 11 von ihnen die große Mehrzahl männlich war. Als ein Erklärungsansatz sind geschlechtstypische Reaktionsmuster auf tiefe Emotionen wie Liebe denkbar (Fitzgerald u. Seeman 2002). Demnach denken Frauen häufiger an Liebe und werden bei Enttäuschungen emotional und gedanklich zermürbt; Männer handeln dagegen bei Liebeskonfusionen öfter auf impulsive oder sogar destruktive Weise. Unter solch einem Blickwinkel wäre es nicht verwunderlich, dass Frauen, die an einer gesteigerten Form der Liebeswahrnehmung leiden und somit fast zwangsweise eine Enttäuschung erleben, eher an diesem psychischen Erleb-
127 7.8 · Erotomanie und Gewalttätigkeit
nis »erkranken« und in Kliniken zu finden sind, während Männer in solchen Fällen eher Gewalt und Aggression als Lösungsstrategie sehen und sich deshalb häufig in einem forensischen Kontext wiederfinden. Welche Geschlechtsverteilungen lassen sich nun generell bei Stalkern mit Liebeswahn finden? Eine Überrepräsentation von Frauen erscheint hier sicher. Mitarbeiter der Threat Management Unit in Los Angeles stießen in ihren Akten auf ein Verhältnis, bei dem 6 von 7 Stalkern mit Liebeswahn Frauen waren (Zona et al. 1993). In seiner bereits erwähnten Analyse von 246 Fällen von Erotomanie zählte Brüne (2003) einen weiblichen Anteil von 69%. In einer Metaanalyse verschiedener Studien kam Meloy (1996) zu der Schlussfolgerung, dass erotomanische Stalker häufiger weiblichen Geschlechts sind als Stalker mit anderen psychischen Störungen oder Motivlagen. Möglicherweise hat sich in den letzten Jahrzehnten aber auch eine schleichende Verschiebung in der Geschlechterverteilung bei der Erotomanie vollzogen. Dies findet etwa in häufigeren Fallbeispielen männlichen Liebeswahns in der Fachliteratur Niederschlag. Bedenkt man, dass ein Aspekt der Erotomanie das Hingezogensein zu einer sozial höher stehenden Person ausmacht, könnte die Zunahme von Frauen in gesellschaftlich angesehenen diesen Anstieg nach sich gezogen haben.
7.8
Erotomanie und Gewalttätigkeit
Schon früh wurde die Erotomanie in der Literatur in Verbindung mit Gewalttätigkeit gebracht. Bereits Esquirol, der das moderne Konzept der Erotomanie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte, berichtete von einem Fall, in dem ein Mann gegenüber einer Schauspielerin ein Verhalten zeigte, das man heute als Stalking bezeichnen würde. Er berührte die von ihm verfolgte Frau unsittlich und griff ihren Ehemann an, den er als zwischen sich und seiner Liebe stehend wahrnahm. Ein Zeitgenosse Esquirols namens Alexander Morrison warnte sogar in einer Schrift explizit vor der Gefahr aggressiver Ausbrüche: »Die Erotomanie veranlasst gelegentlich diejenigen, die unter ihr leiden dazu, sich selbst oder an-
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dere zu zerstören. Obwohl im Allgemeinen ruhig und höflich, wird der Patient gelegentlich wütend, jähzornig und eifersüchtig« (nach Mullen u. Pathé 1994a, S. 470).
Ein Ende des 19. Jahrhunderts in London veröffentlichter Fall war von außergewöhnlicher Tragik. Eine Frau hatte die wahnhafte Vorstellung entwickelt, dass eine romantische Beziehung zwischen ihr und ihrem Arzt bestünde und der Mediziner sie heiraten wolle. Alleine seine Gattin stand nach der Vorstellung der Erotomanin dem ehelichen Bündnis noch im Weg. Aus diesem Grund beschloss sie, die vermeintliche Widersacherin zu ermorden. Sie deponierte in einem Geschäft vergiftete Süßwaren einer Sorte, von der sie wusste, dass der Arzt sie dort für seine Frau immer einkaufte. Der Plan schlug fehl: mehrere Kinder wurden vergiftet, der Gattin passierte nichts. (Mullen et al. 2000).
Wie häufig tritt nun generell Gewalt in Fällen von Liebeswahn auf? In den psychiatrischen Fallbeispielen des letzten Jahrhunderts ist dies eher die Ausnahme, aber dennoch scheint es regelmäßig zu aggressiven Vorfällen gekommen zu sein. In seiner Reevaluation von 246 Fällen ging Brüne (2003) auch dieser Frage nach. Dabei stieß er bei knapp jedem 5. Erotomanen auf aggressive Vorfälle, von ihm als forensisch relevantes Verhalten kodifiziert. Beeindruckend war der Geschlechtsunterschied bei der gezeigten Gewalt. Mehr als 50% aller männlichen Erotomanen war unter diesem Aspekt auffällig, hingegen weniger als 5% aller weiblichen Erotomanen. Anders ausgedrückt lag die Rate von Gewalttätigkeit hier bei Männern über zehnmal höher als bei Frauen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Studie die allgemeine Auftretenswahrscheinlichkeit von Gewalt deutlich überschätzt, da vor allem forensisch und psychiatrisch auffällige Fälle in die Stichproben Einzug gehalten haben und der »normale«, möglicherweise eher unauffällige Verlauf des Liebeswahns damit unterrepräsentiert war. In ihrer Untersuchung zu Stalking von Personen des öffentlichen Lebens ermittelten Dietz et al. eine Subgruppe von 65 erotomanischen Verfolgern und
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7
Kapitel 7 · Erotomanie
Briefschreibern (zit. nach Meloy 1992). Gewalttätige Handlungen waren hier in weniger als 5% aller Fälle zu verzeichnen, wobei in den meisten Fällen Personen attackiert wurden, die als zwischen dem Erotomanen und dem von ihm verehrten Prominenten stehend wahrgenommen wurden. Die australischen Psychiater Mullen und Pathé (1994a, b) untersuchten im Rahmen einer klinischen Evaluation 14 Erotomanen en detail, die auch Stalkingverhalten zeigten. In dieser hochselektiven Stichprobe fanden sich 8 Probanden (57%), die physische oder sexuelle Gewalt gegenüber ihren Opfern ausgeübt hatten. Keinen Unterschied hinsichtlich des Auftretens von aggressivem Verhalten machte es, ob die Patienten eine primäre oder eine sekundäre Form der Erotomanie aufwiesen, bei der zusätzlich andere psychotische Symptome auftraten. Die Ergebnisse anderer Untersuchungen bestätigend war die Gruppe der Gewalttäter bereits früher häufiger wegen delinquentem Verhalten auffällig gewesen, wobei dieses in der Regel nicht im inhaltlichen Zusammenhang mit der Wahnerkrankung stand. In Übereinstimmung mit allgemeinen Stalkingfällen erwies sich die Wahrnehmung, zurückgewiesen zu werden und die daraus resultierende Wut als einer der Hauptauslöser für gewalttätige Handlungen gegenüber der geliebten Person. Des Weiteren trat Eifersucht als Motiv auf, auch dann, wenn sich Täter und Opfer nicht persönlich kannten, wie ein Beispiel erotomanischen Prominentenstalkings von Mullen u. Pathé (1994a) zeigt.
Ein 49 Jahre alter Mann besuchte alle Konzerte einer Sängerin und war auch häufig bei anderen öffentlichen Auftritten von ihr anwesend. Er sprach sie jedoch niemals an und hielt immer räumlichen Abstand zu ihr. Das Umfeld der 25-jährigen Künstlerin äußerte sich besorgt über die fortwährende Präsenz des Fremden. Sie selbst sah jedoch keine Gefahr und nahm ihn als traurigen und zugleich harmlosen Fan wahr. Ohne jede Vorwarnung stach er die Sängerin schließlich auf offener Straße nieder; sie starb an ihren Verletzungen. Wie sich später herausstellte, war der Stalker ursprünglich in 6
seinem Liebeswahn überzeugt, dass die bekannte Musikerin auf seine stumme Anwesenheit reagiert hatte und seine Liebe erwiderte. Er kündigte sogar seiner Mutter und einem Freund die bevorstehende Hochzeit an. Als er dann in der Zeitung las, dass sie sich mit einem Geschäftsmann verlobt hatte, brach für ihn eine Welt zusammen. Wochenlang versank er in eifersüchtigen Grübeleien, bevor er seine tödliche Attacke ausführte.
In ihrer berühmten epidemiologischen Untersuchung Gewalttaten Geistesgestörter (1973) gingen Böker und Häfner der Frage nach, wie sich unterschiedliche Wahnthemen auf Aggressivität auswirken. Hier fiel auf, dass der Liebes- und Eifersuchtswahn, der in einer Gruppe zusammengefasst wurde, das höchste Risiko darstellt im Vergleich mit anderen Wahnformen, wie beispielsweise dem Bedeutungs-, Beziehungs- und Beeinträchtigungswahn oder dem Größenwahn und religiösen Wahn. Bei einer Gegenüberstellung von gewalttätigen und nicht gewalttätigen Schizophrenen ergab sich ein prozentualer Gesamtanteil von Personen mit Liebesund Eifersuchtswahn von 11,2% vs. 1,4%, also ein achtmal höherer Anteil erotomanischer und wahnhaft eifersüchtiger Erkrankungen in der Gruppe der Gewalttäter. Für Böker und Häfner ist dieser signifikante Unterschied darauf zurückzuführen, dass andere Personen in den Wahn eingeschlossen werden. Drehe sich dagegen der Wahn nur um die Person des Kranken selbst, wie etwa beim hypochondrischen oder beim Größenwahn, führe dies zumindest nicht unmittelbar zu Angriffshandlungen. Hintergrund ihrer Argumentation ist, dass beim Liebes- und Eifersuchtswahn eine andauernde Beschäftigung mit einem anderen Menschen stattfindet. Schizophrene hätten in ihrer Kindheit oftmals sehr enge und zwiespältige Primärbeziehungen, d. h. die emotionale Bindung an Elternteile, erlebt. Die wahnhafte Auseinandersetzung mit einem Liebesobjekt in der Gegenwart reaktiviere diese frühe ambivalente Beziehungserfahrung und könne so eine spannungsreiche Aufladung und letztlich elementare Ängste, aber auch elementare Hassgefühle hervorrufen.
129 7.9 · Kritik und erweiterte Konzeptionen
Wer ist nun das bevorzugte Ziel erotomanischer Aggression? Böker und Häfner sehen vor allem das Liebesobjekt gefährdet, auf das sich die Affekte des Erotomanen fokussieren. Auch in mehreren Studien, die sich direkt mit der Verbindung von Liebeswahn und Stalking beschäftigten, kam man zu demselben Schluss (Mullen u. Pathé 1994; Harmon et al. 1995). Allerdings gibt es auch andere Ergebnisse, welche den Personen den höchsten Gefährdungsgrad zusprechen, die als Hindernis auf dem Weg zu dem Liebesobjekt oder als Rivale gesehen werden. Hier sind die bereits erwähnte Untersuchung von Dietz oder die Studie von Menzies et al. (1995) über männliche Erotomanen zu nennen. Eine eindeutige Aussage, ob die ursprünglich geliebte Person oder ein Dritter häufiger Ziel erotomanischer Gewalt werden, kann also nicht gegeben werden. Es scheint aber, dass im Vergleich zu Stalking im Generellen dritte Personen deutlich häufiger gefährdet sind. Eines ist allerdings unzweifelhaft: Im konkreten Umgang mit Erotomaniekranken sollten beide Gruppen als potenzielle Opfer betrachtet und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Wie bei einigen anderen psychischen Störungen auch unterscheiden sich beim Liebeswahn die eigentlichen Motive für delinquentes Verhalten oftmals nicht von den Beweggründen geistesgesunder Menschen. Denn Eifersucht und Wut über Zurückweisung sind auch im Allgemeinen nicht selten Gründe für Gewalttaten. Es ist allerdings zu vermuten, dass aus dem Blickwinkel des Erotomanen solche aggressiven Gefühle schneller aufkommen, da Situationen wahnbedingt anders eingeschätzt werden und Verhalten unterschiedlich interpretiert wird. Vor dieser Folie lässt sich vielleicht auch der eindeutige Gesamtbefund erklären, dass in Fällen von Liebeswahn von einem erhöhten Gewaltrisiko auszugehen ist.
7.9
Kritik und erweiterte Konzeptionen
Der Gedanke einer eigenen Psychopathologie mit dem Namen Erotomanie stieß auch auf Kritik. Nach einem historischen Rückblick auf solche Konzeptionen zogen Berrios und Kennedy (2002) die
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Schlussfolgerung, dass es sich hier nicht um eine Krankheitsentität handelt. Sie identifizierten verschiedene zeitliche Phasen, in denen der Erotomanie sehr unterschiedliche Bedeutungen gegeben wurden (etwa Krankheit, die durch unerfüllte Liebe ausgelöst wird; exzessive Gier nach körperlicher Liebe; oder die aktuelle Definition der Wahnvorstellung, von einer bestimmten anderen Person geliebt zu werden). Dieser Wandel zeige, dass es sich bei der Erotomanie um ein zeitgeistabhängiges Konstrukt handele, das die jeweils gegenwärtigen Auffassungen von Liebe, Sexualität und Geisteskrankheit in Abhängigkeit vom Menschenbild reflektiere. Die Vorstellung einer endgültigen und wirklichkeitsgetreuen Konzeption von Erotomanie sei deshalb naiv, und auch in Zukunft werde es weiter wechselnde Definitionen geben. Allerdings ist einzuwenden, dass Berrios und Kennedy auch sehr alte und vorwissenschaftliche Bedeutungen für das Wort Erotomanie in ihre Betrachtung mit einbezogen, sodass eine größere Heterogenität und Uneindeutigkeit des Begriffs diagnostiziert wurde, als in der psychiatrischen Diskussion der letzten 2 Jahrhunderte tatsächlich gegeben war. Die Einführung eines sozialwissenschaftlichen Konzeptes von Stalking hat ab Ende der 80er Jahre zu einem wieder erweckten Interesse am Liebeswahn und zu einer erneuten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema geführt. Klinische Erfahrungen mit den Ausformungen obsessiver Belästigung und Verfolgung ließen dabei bald Stimmen aufkommen, die die bisherige Definition von Erotomanie als zu eng gefasst für die Bandbreite des Phänomens kritisierten.
Borderline-Erotomanie Meloy stellte im Jahr 1989 sein Konzept der Borderline-Erotomanie vor, die er als zusätzliche Kategorie neben dem herkömmlichen Liebeswahn versteht. Als grundsätzliches Unterscheidungsmerkmal wird aufgeführt, dass der Betroffene nicht mehr wahnhaft davon überzeugt sein muss, dass der oder die andere ihn zurzeit liebt. Der Borderline-Erotomane ist also nicht psychotisch. Er ist charakterisiert durch eine intensive und stürmische Fokussierung auf eine unerwiderte Liebe, wobei sich dahinter eine frühkind-
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7
Kapitel 7 · Erotomanie
liche Bindungsstörung verbirgt, die Fähigkeit zur Realitätsprüfung aber noch grundsätzlich erhalten bleibt. Wie es der Begriff nahe legt, geht Meloy hier von einer Persönlichkeitsstruktur auf einem Borderlinefunktionsniveau im Sinne Kernbergs (1998) aus. Als ein implizites differenzielles Kriterium nennt Meloy (1989, 1992) die Art der Bindung zwischen der erotomanischen Person und ihrem Liebesobjekt. In der klassischen wahnhaften Erotomanie gibt es demnach keine wirkliche Vorbeziehung zwischen beiden, die Bindung erfolgt quasi autistisch an eine innere Objektvorstellung des Erotomanen und ist nicht tatsächlich in der Realität verwurzelt. Die Objektvorstellungen werden dennoch häufig von äußeren Stimuli überformt, wie beispielsweise Fotos der geliebten Person, Antworten auf Fanbriefe oder öffentliche Erscheinungen eines prominenten Liebesobjektes. Aufgrund ihres virtuellen und zugleich übergroßen Charakters sind diesen theoretischen Überlegungen zufolge Personen des öffentlichen Lebens als Ziel eines Liebeswahns besonders geeignet. Bei der Borderline-Erotomanie existiere dagegen irgendeine Form von Vorbeziehung, und sei sie noch so marginal, wie ein direktes Anlächeln oder ein Gespräch auf einer Party. Das Ausmaß der pathologischen Qualität lässt sich dabei nach Meloy durch die Diskrepanz zwischen dem tatsächlich gezeigten Annäherungs- bzw. Bindungsverhalten des Liebesobjekts und der Intensität der emotionalen Bindung des Erotomanen an das Liebesobjekt erfassen. Aus der Sicht der Praxis überwindet das Konzept der Borderline-Erotomanie die in den psychiatrischen Krankheitsmanualen definitorisch geforderte Einschränkung der wahnhaften Überzeugung, von der anderen Person geliebt zu werden, die sich in der Realität bei weitem nicht immer findet. Allerdings ist zu fragen, ob hier das »Label Erotomanie« noch notwendig ist, oder ob es sich nicht vielmehr vor allem um ein psychodynamisches Erklärungsmodell für einige Formen des Stalkings und der obsessiven Fixierungen auf andere Personen handelt. Nichtsdestoweniger könnte sich Borderline-Erotomanie als Fachterminus eignen, der in der Kommunikation unter Experten als Beschreibung eines psychischen Syndroms Verwendung findet.
Pathologische Verliebtheit Auch die australische Stalkingforschungsgruppe um Paul Mullen empfand eine moderne Definition der Erotomanie als unnötig begrenzend, die nur beschränkt klinische und praktische Erfahrungen widerspiegelt. Im Unterschied zu Meloy, der mit der Borderline-Erotomanie eine Ergänzung zu der herkömmlichen Konzeption einführte, stellten Mullen et al. die in den internationalen Manualen ICD und DSM festgelegte diagnostische Kategorie ganz in Frage. Sie schlugen stattdessen einen übergreifenden Rahmen vor, der weit gestreute Phänomene von ungewöhnlichen Liebesfixierungen umfassen soll (Mullen u. Pathé 1994a, b; Mullen et al. 2000). Ihr Modell der pathologischen Verliebtheit (pathological infatuation) umfasst folgende Merkmalskriterien: 5 Es besteht eine intensive Verliebtheit in eine andere Person, ohne dass notwendigerweise die Überzeugung vorherrscht, dass dieses Gefühl erwidert wird. 5 Die Zielperson hat nichts getan, um ein Gefühl der Verliebtheit zu ermutigen, oder hat sogar eine klare Absage an ein derartiges Interesse formuliert. 5 Das Gefühl der Verliebtheit nimmt den Betroffenen in seinem Alltag so sehr in Anspruch, dass andere Interessen nicht mehr wahrgenommen werden, was zu einem deutlichen Bruch im bisherigen sozialen Leben führt. 5 Der Betroffene besteht auf dem Sinn und dem wahrscheinlichen Erfolg seines Bemühens. Die Autoren sehen pathologische Verliebtheit trotz des Namens nicht nur als krankhaften Prozess an. Auch bei normalen Personen können derartige Phasen auftreten, aber sie klingen hier gewöhnlich allmählich ab, wenn das Zielobjekt der Verliebtheit Ablehnung signalisiert. Allerdings wird hier bewusst eine konzeptionelle Spannbreite angestrebt, die phänomenologisch ein weites Spektrum von extremen Pathologien bis hin zu vorübergehenden Zuständen umfasst. Kernmerkmal bleibt jedoch ein von außen deutlich erkennbarer Realitätsverlust. Die Grenze zwischen der Alltäglichkeit gebrochener Herzen und dem Bereich des Pathologischen 6
131 7.10 · Erotomanisches Prominentenstalking
wird überschritten, wenn Fantasie und Selbsttäuschung beginnen, die ausbleibende Reaktion der geliebten Person zu ersetzen. Das Fehlen des Prozesses wechselseitiger Anziehung, der gemeinsamen Leidenschaft und des wachsenden Interesses aneinander, welche Verliebtheit ausmachen, veranlasst den Erotomanen, sich unbegründeten Überzeugungen und Behauptungen hinzugeben. Sein ist nicht die traurige Akzeptanz einer verlorenen Liebe, sondern der entschlossene Anspruch, dass Liebe da ist oder kommen wird, ungeachtet des offensichtlichen Verhaltens und der geäußerten Gefühle der verehrten Person. Liebe wird von dem Erotomanen umgewandelt von der Idee einer tiefen Gemeinschaft in eine ebenso einsame wie leidvolle, das Leben dominierende Fixierung auf einen anderen. (Mullen et al. 2000, S. 135)
7.10
Erotomanisches Prominentenstalking
Formen und Häufigkeit Vielleicht ist Prominentenstalking das Feld, mit dem man Erotomanie intuitiv am ehesten in Verbindung bringt. Denn hier mutet die Hoffnung auf Erfolg am aberwitzigsten an, sodass in der andauernden Liebesobsession mit einem unerreichbaren Star eine wahnhafte Natur geradezu offenkundig erscheint. Und auch in den Medien ist der liebeskranke Fan ein beliebtes Sujet: Sei es der junge Mann, der vor dem Haus der Schauspielerin campiert, oder die Mutter zweier Kinder, die der Hollywoodlegende täglich Liebesbriefe sendet und vergeblich versucht, auch persönlich zu dem Leinwandstar vorzudringen. Dass Liebesbekundungen an Prominente sehr häufig sind, ist nicht zu bestreiten. Zugleich ist für die Diagnose einer Erotomanie der höhergestellte Status der Zielperson charakteristisch. In der Definition des DSM ist sogar explizit als Beispiel von Berühmtheiten die Rede, sodass die Liebesfixierung auf eine Person des öffentlichen Lebens als möglicher Hinweis auf eine erotomanische Störung gewertet werden könnte. Doch fordert die Konzeption der Erotomanie immer auch eine greifbare pathologische Komponente, die eine Realitätsverzerrung mit wahnhafter Qualität beinhaltet. Wie viele der
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Starstalker diese definitorische Hürde überspringen, ist nicht ganz klar. Zunächst gibt es aber einige wenige empirische Hinweise darauf, mit welcher Häufigkeit an Liebeswahn erkrankte Personen auf Prominente fixiert sind. Die britische Forschergruppe um Kennedy (2002) untersuchte eine Gruppe von 15 Erotomanen, die sie als einigermaßen repräsentativ ansah, auch in Hinblick auf diese Frage. Dabei stießen die Psychiater in 40% der Fälle (n=6) auf Personen des öffentlichen Lebens als Opfer, etwa Angehörige des Königshauses oder Opernsänger. In einer australischen Untersuchung einer unausgelesenen Stichprobe von 16 Patienten mit Liebeswahn identifizierten Mullen und Pathé (1994b) bei jedem 4. Vorfall eine Zielperson mit zumindest lokalem Prominentenstatus. Es kann also vermutet werden, dass sich ein nicht unbeträchtlicher Anteil aller Erotomanen wahnhaft mit einer Person des öffentlichen Lebens verbunden sieht. Doch umgekehrt gefragt: Welchen Anteil stellen an Liebeswahn erkrankte Personen insgesamt bei der Population von Prominentenstalkern? Die bislang einzigen Zahlen hierzu liefert die bereits erwähnte Studie von Dietz et al. in den späten 80erJahren. Sie fanden, dass in 214 untersuchten Fällen des Stalkings von Prominenten aus der Unterhaltungsindustrie, 16% Merkmale von Liebeswahn zeigten. Etwa 5% glaubten, dass sie mit dem Star verheiratet sind (Dietz u. Martell 1989). Ein Fallbeispiel aus Deutschland kann eine derartige psychotische Fehlwahrnehmung illustrieren(Hoffmann 2002a).
Ein Mann forderte eine Schlagersängerin in Briefen immer wieder auf, endlich zu ihm, ihrem Gatten, und zu den gemeinsamen Kindern nach Hause zu kommen. Eines Tages stand der offenbar an Liebeswahn Erkrankte mit mehreren Koffern vor dem Wohnhaus der Sängerin und erklärte, er wolle bei seiner Ehefrau einziehen. Erst herbeigerufenen Polizeibeamten gelang es, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
Ein anderes Beispiel aus den USA zeigt, wie sich erotomanisches Stalking auch auf das Umfeld des Prominenten, z. B. die Familie, ausweiten kann.
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7
Kapitel 7 · Erotomanie
Herr B., ein 30 Jahre alter verheirateter Mann, wurde wegen Einbruchs verhaftet. Er glaubte, dass das Haus, in das er einstieg, einer berühmten Sängerin gehörte, gegenüber der er bereits längere Zeit einen Liebeswahn entwickelt hatte. Tatsächlich befand sich das Grundstück in der Nähe des Hauses ihrer Eltern. Dies war nicht das erste Mal, dass er sich dem gut gesicherten Elternhaus genähert hatte. Er war dabei Monate zuvor von der Polizei mitgenommen und unfreiwillig in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert worden. […] Von dort aus schrieb er der Sängerin mehrere Briefe und rief sie unter der Nummer ihrer Eltern an. […] Herr B. hatte seit 5 Jahren die Wahnvorstellung, dass der weibliche Star ihn liebte, die einsetzte, als er ein Musikvideo von ihr gesehen hatte. (Leon 1994, S. 381)
Ein anderes Bild ergab die von Dietz et al. (1991b) vorgenommene Auswertung von obsessiven Kontakten mit US-amerikanischen Politikern. Hier zeigten sich nur in 5% aller Fälle Anzeichen von Erotomanie, und lediglich 2% wiesen die Wahnvorstellung auf, mit einem Politiker verheiratet zu sein. Dieser Häufigkeitsnterschied zwischen Politikern und Stars aus der Unterhaltungsbranche als Zielobjekte eines Liebeswahns lässt sich gut erklären. Der Schauspieler, Sänger oder Fernsehprominente eignet sich durch seine oftmals emotionale Selbstdarstellung und zur Schau getragenen Freundlichkeit besonders gut als fantasierter Gegenpart für eine Liebesbeziehung. Politiker geben sich dagegen häufiger betont sachlich und wirken manchmal eher streng und kühl. Allerdings ist zu beobachten, dass zunehmend die Grenzen zwischen diesen beiden großen Gruppen von Personen des öffentlichen Lebens verschwimmen (Hoffmann 2001a). Einer der Gründe hierfür ist, dass Politiker immer häufiger auch in einem privaten Erscheinungsbild in den Medien auftreten: »Home Stories« von Regierungsmitgliedern oder offensiv zur Schau getragenes Liebesglück, früher kaum denkbar, erscheinen heute wie selbstverständlich in Zeitungen, Lifestyle- und Klatschmagazinen. Politik verkauft sich immer mehr auch auf einer emotionalen und privaten Ebene und
wird damit zugleich zu einem anwachsenden Terrain erotomanischer Begehrlichkeiten. Bedenkt man, dass Dietz et al. ihre Datenerhebungen in den 80er Jahren durchgeführt hatten, so wäre es interessant zu erfahren, ob sich mittlerweile der Anteil von durch Liebeswahn diktierten Kontaktversuchen bei Politikern und bei Prominenten aufeinander zu bewegt. Anekdotische Relevanz hierfür ist in jedem Fall vorhanden. Beispielsweise gibt es immer häufiger Medienberichte, in denen die Rede davon ist, dass Erotomanen Politprominenz in den Fokus ihres Wahns stellen. Doch stellt dies nur die Spitze des Eisbergs dar, geschieht doch die große Mehrzahl derartiger Vorfälle fernab vom Wissen der Öffentlichkeit.
Erotomanische Symptome in Zuschriften an Prominente Der Anteil erotomanischer Zuschriften an Personen des öffentlichen Lebens sollte auch an der Stichprobe der 153 Briefe an deutsche Prominente überprüft werden (7 Kap. 6). Hierbei wurde als Kriterium für die Annahme einer Erotomanie festgelegt, dass der Schreiber die wahnhafte Überzeugung erkennen ließ, dass die TV-Moderatorin ihn ebenfalls lieben würde oder dass eine intime Beziehung zwischen ihr und ihm in der Gegenwart oder in der Vergangenheit vorhanden war. Konkrete Beispiele in den Zuschriften waren die Erwähnung von gemeinsam formulierten Zukunftsplänen, von angeblichen Liebesnachrichten des Prominenten an den Autor und Angaben, dass konkrete Heiratsabsichten bereits dem Umfeld, etwa der Familie oder Freunden, mitgeteilt wurden. Unter Anwendung des oben genannten Kriteriums konnte bei 15% der Briefschreiber ein Liebeswahn festgestellt werden. Die Rate ist nahezu identisch mit der von Dietz und Martell (1989) gefundenen Auftretenshäufigkeit bei Hollywoodprominenten. Dies ist als ein weiterer empirischer Hinweis darauf zu werten, dass Erotomanie bei Stalkern von Prominenten häufiger eine Rolle spielt als bei obsessiven Verfolgern und Belästigern von »normalen« Personen. Als ein weiterer Punkt wurde die Verteilung von primären oder sekundären Formen der Erotomanie im Sinne de Clérambaults (1921, 1999) untersucht.
133 7.11 · Grenzen des Erotomaniekonzepts
Von einer sekundären Variante des Liebeswahns, die als häufiger auftretend angenommen wird, spricht man dann, wenn ebenfalls eine Schizophrenieerkrankung vorliegt. In der Auswertung der vorliegenden Briefe wurde dann von einer vorhandenen Schizophrenie ausgegangen, wenn sich mindestens zwei der positiven A-Symptome (Wahnphänomene, Erwähnung von Halluzinationen, desorganisierte Sprache und Verhalten) aus dem DSM-IV (APA 1998) finden ließen. Hier zeigte sich nahezu eine Gleichverteilung zwischen primärer und sekundärer Form, da sich bei 55,6% der Erotomanen ebenfalls eine Schizophrenie erkennen ließ. Ein Abgleich der Erotomanie mit anderen Formen von Psychopathologie brachte Interessantes zu Tage: Wie von anderen Autoren (z. B. Kraepelin 1913; Meloy 1989; Segal 1989; Millon u. Davis 1996) vermutet, herrschte hier eine hohe Übereinstimmung mit narzisstischen, paranoiden und histrionischen Persönlichkeitsanteilen, die teilweise die 50%-Marke überschritt. In einem nächsten Schritt wurde die Auftretenshäufigkeit der Erotomanie mit der der Pathologischen Verliebtheit gemäß der Konzeption von Mullen et al. (2000) verglichen. Ihre 4 Merkmalskriterien der pathologischen Verliebtheit umfassten die intensive Verliebtheit in eine andere Person, das Nichtvorhandensein irgendeines entsprechenden Signals der anderen Seite, die Dominanz des Gefühls der Verliebtheit über andere Interessen und die Überzeugung, dass das Beharren auf dem Beziehungswunsch sinnvoll ist und vermutlich von Erfolg gekrönt sein wird. Aufgrund der Kenntnis der Literaturlage wird davon ausgegangen, dass in den vorliegenden Briefen das Konzept von Mullen et al. erstmals empirisch untersucht wird: Es zeigte sich, dass den 15% der Schreiber mit einem Liebeswahn weitere 21,7% an Autoren gegenüberstanden, die die Merkmale der pathologischen Verliebtheit erfüllten. Die Trennlinie der psychotischen Symptomatik zwischen beiden Syndromen zeigte sich auch darin, dass die Feststellung einer Schizophrenie bei Schreibern, die eine Erotomanie aufwiesen, etwa siebenmal häufiger war als bei solchen mit den Merkmalen einer pathologischen Verliebtheit (55,6% vs. 7,7%).
7.11
7
Grenzen des Erotomaniekonzepts
Insgesamt betrachtet zeigt sich die Erotomanie in der Praxis oftmals weniger fest umrissen, als es beispielsweise das DSM-IV definitorisch vorschreibt. Grundsätzlich scheint das Kernmerkmal dieser Störung, ähnlich wie es auch Mullen et al. (2000) diskutieren, in der Überzeugung zu liegen, dass eine Liebesbeziehung besteht oder bestehen wird, ohne dass irgendeine Ermutigung hierfür seitens des vermeintlichen Liebespartners gegeben wurde. Als weiteres diagnostisches Merkmal ist die zentrale Stellung dieser Vorstellung im Leben des Betroffenen zu sehen, die ihn oftmals andere soziale Aktivitäten oder Bindungen stark vernachlässigen lässt. Allerdings ist der Liebeswahn nicht immer mit konsistenter Überzeugungskraft im Bewusstsein des Erotomanen präsent, sondern zeigt gelegentlich auch Brüche. Eine solche Eigenheit paranoider Symptome wird auch in der forensischen Psychiatrie bereits seit längerem als relevant angesehen: Der Wahnkranke ist bei aller Unerschütterlichkeit seiner Überzeugung, die als wichtiges Kennzeichen des Wahns gilt, nicht frei von Zweifel. Dieser wird nicht zuletzt an der Doppelspurigkeit seines Verhaltens ablesbar: er bleibt im äußeren Verhalten weitgehend der Welt der anderen angepasst. (Rasch 2000, S. 250)
Das Beispiel einer Prominentenstalkerin soll die Risse verdeutlichen, die gelegentlich in einem Wahngebilde zu sehen sind.
Eine Frau zeigte sich fest davon überzeugt, dass ein bekannter Sänger und sie füreinander bestimmt seien. Sie suchte den Prominenten an seinem Heimatort auf und sprach ihn an, wobei sie ihre Liebesvorstellung nicht enthüllte, sondern sich als normaler Fan ausgab. In bald darauf folgenden Briefen beschrieb sie den Blick des Prominenten bei der kurzen Konversation als unterbewusst ahnend, dass ihm und ihr ein gemeinsames Schicksal bevorstün6
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Kapitel 7 · Erotomanie
de. Weitere Kontaktversuche über das Büro des Sängers wurden von Mitarbeitern abgeblockt mit dem Hinweis, der Star sei nicht in sie verliebt. Daraufhin rief die Stalkerin wiederholt dort an und betonte immer wieder, der Sänger möge zwar bewusst noch nichts von ihrer kommenden Liebesbeziehung wissen, sein Unterbewusstsein würde sich allerdings bereits darauf vorbereiten. In Gedichten und in Briefen, die sie dem Prominenten zuschickte, beschrieb sie immer wieder ihre zukünftige Liebe. Interessanterweise endete eine ihrer Zuschriften mit den Worten: »Und wenn es mit unserem zukünftigem gemeinsamen Schicksal doch nicht wahr wäre? Ich wäre für immer zerstört und wüsste für meinen Irrtum keine Erklärung.«
Strenggenommen würde dieser Fall nicht als Liebeswahn diagnostiziert werden, da die Stalkerin nicht davon ausgeht, dass der andere sie im Augenblick liebt, sondern dies lediglich in der Zukunft der Fall sein wird. Auch ist das Wahnhafte nicht absolut, schimmert doch zumindest in einem Brief die Erkenntnis durch, dass die eigene Sichtweise auch falsch sein könnte. Außerdem zeigt sich hier, dass Wahnerkrankungen oftmals auch thematisch in der individuellen Biografie verankert sind: Die Erotomanie brach in diesem Fall in einer Lebensphase aus, in der sich die Stalkerin beruflich und familiär in einer tiefen Identitätskrise befand, sodass offensichtlich kompensatorische Mechanismen am Wirken waren. Das aktuelle Konzept der Erotomanie greift also in Stalkingfällen nicht selten zu kurz. Die Balance in eventuellen Neujustierungen der Krankheitsdefinition wird nicht zuletzt darin bestehen, sich von einigen traditionellen diagnostischen Kriterien zu trennen – ohne in eine allumfassende Konzeptualisierung zu verfallen, die fast alle Phänomene übersteigerter Liebesgefühle beinhaltet und in der eine deutliche Unterscheidung zwischen pathologisch und nichtpathologisch kaum noch möglich ist.
8 Therapie von Stalkern
8.1
Diagnostischer Prozess – 136
8.2
Behandlung psychischer Störungen – 137
8.3
Unterschiedliche therapeutische Ansätze – 140
8.4
Besonderheiten im therapeutischen Umgang mit Stalkern – 142
8.5
Rückfallgefahr – 144
8.6
Beispiel für einen Therapieplan – 145
8.7
Therapeuten als Stalkingopfer – 146
Die Frage nach spezifischen psychotherapeutischen Behandlungsstrategien für Stalker ist in ihrer Bearbeitung noch in den Anfängen und wird von vergleichweise wenigen Autoren diskutiert, zumeist von Psychiatern und Psychologen, die neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit auch klinisch tätig sind. Zunächst schien unklar, ob Stalkingverhaltensweisen überhaupt einer eigenen Form von therapeutischen Ansätzen bedürfen oder ob sie als Sekundärsyndrom ausschließlich nachgeordnet im Rahmen anderer Psychopathologien behandelt werden sollten. Je nach psychiatrischer und psychologischer Ausbildung wurden hier anfänglich unterschiedliche Standpunkte vertreten. Glücklicherweise entbrannte kein ernstzunehmender Streit zwischen verschiedenen Gedankenschulen und Lehrmeinungen, sondern es etablierte sich ein pragmatischer Ton, sodass mittlerweile einige grundsätzliche Überlegungen zum klinischen Umgang mit Stalking einen weitgehenden Konsens finden. Hierbei nimmt das australische Forscherteam um den Psychiater Paul Mullen
eine Schlüsselrolle ein, weshalb im Folgenden auf deren Ansätze Bezug genommen wird. Tatsächlich erweisen sich Stalker oftmals als eine schwierige Klientel. Die Selbsteinsicht in das Problematische ihres Verhaltens fehlt ihnen häufig, da sie den Effekt ihrer Handlungen leugnen, mimimalisieren oder die eigentliche Schuld bei dem Opfer sehen. Aus diesem Grund ist die Therapiebereitschaft bei Stalkern zumeist nicht sehr ausgeprägt. Viele Kliniker sehen sich deshalb Klienten gegenüber, die vor allem infolge äußeren Drucks vor ihnen sitzen, beispielsweise nach gerichtlichen Anordnungen oder Ermahnungen seitens des Arbeitgebers oder des sozialen Umfeldes. Dennoch zeigen Erfahrungen aus dem Ausland, dass sich auch nicht ganz freiwillige therapeutische Arrangements bei Fällen von Stalking bewähren können, wenngleich Evaluationsstudien über Therapieerfolge in dem Bereich noch ausstehen. Im Umgang mit Stalkern erfahrene Kliniker warnen in diesem Zusammenhang vor dem gelegentlich vertretenem Pessemismus, obsessive Ver-
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8
Kapitel 8 · Therapie von Stalkern
folgung und Belästigung sei so gut gar wie nicht therapierbar. Dies kann sich zum einen als selbsterfüllende Prophezeiung erweisen, wenn nicht alle klinischen Mittel ausgeschöpft werden und der Therapeut letztlich nicht selbst an den Erfolg seiner Maßnahmen glaubt; zum anderen verweisen die Praxis sowie Fallberichte und Untersuchungsberichte über Kleinstgruppen in der Literatur auf vorsichtige therapeutische Erfolge (Rosenfeld 2000). Zudem existiert eine kleine Untergruppe von Stalkern, die ihre eigenen Handlungen selbst nicht unkritisch betrachten. Dies sind meist Personen, die ihre wiederholten Kontaktversuche als regelrecht zwanghaft erleben. Andere wiederum rechnen ihrem Verhalten, zumindest nach außen hin, noch eine gewisse Legitimität zu, suchen aber aktiv nach psychotherapeutischer Unterstützung. Es ist bedauerlich, dass die »Täterseite« in Deutschland und in vielen anderen Ländern nur sehr schwer Ansprechpartner oder Beratungsstellen findet. Abgesehen von dem subjektiven Leiden auch dieser Menschen stellt gerade bei Stalking eine erfolgreiche Therapie einen beträchtlichen und vor allem langfristigen Opferschutz dar. Viele Stalker sind »Wiederholungstäter«, die zum Teil nach langjähriger Pause wieder eine andere Person zum Zielobjekt ihrer Obsession machen, wenn sie nicht inzwischen den zugrunde liegenden inneren Konflikt gelöst haben (Hoffmann et al. 2005). Zum anderen erweisen sich bei manchen Subpopulationen von Stalkern, etwa solchen, die unter wahnhaften Störungen leiden, andere Methoden des Fallmanagements wie gerichtliche Verurteilungen oder sogar Gefängnisaufenthalte als wenig wirksam. Hier bietet eine therapeutische Intervention manchmal eine der wenigen verbleibenden Möglichkeiten, den Stalker an einer weiteren Belästigung des Opfers zu hindern. Angesichts der Komplexität und der Persistenz von Stalking ist es wichtig, eine Therapie von Stalkern nicht als isolierte Maßnahme zu begreifen. Vielmehr erfordert ein erfolgversprechendes Management häufig ein interdisziplinäres Handeln des Klinikers mit anderen Fachleuten (Meloy 1997). So können wie erwähnt polizeiliche und juristische Maßnahmen, aber auch Druck seitens des Arbeitgebers den Stalker zu einer Therapie überhaupt erst motivieren, sodass sich hier eine Abstimmung der Vorgehensweise oft als sinnvoll erweist.
Einem erotomanischen Stalker, der innerhalb einer Behörde eine junge Mitarbeiterin über einen längeren Zeitraum massiv verfolgte, wurde die Alternative einer Psychotherapie angeboten zu der ansonsten anstehenden Versetzung an einen anderen Standort. Er könne dieser Psychotherapie zustimmen, allerdings müsse er den Therapeuten selektiv der Schweigepflicht entbinden, damit er dem Arbeitgeber mitteilen könne, ob sein Liebeswahn eine deutliche Besserung erfahre. Der Angestellte willigte ein. Durch den äußeren Druck des Arbeitgebers gelang es zusätzlich, dass er sein Stalkingverhalten sofort unterband.
In solchen Fällen ist es übrigens gerade auch eine Aufgabe des Klinikers, die anderen, eventuell unerfahrenen Protagonisten, wie beispielsweise Arbeitgeber oder Betriebsräte, über die psychischen Dynamiken und Besonderheiten von Stalking aufzuklären, um so gemeinsame Managementstrategien optimal zu gestalten.
8.1
Diagnostischer Prozess
Einer therapeutischen Intervention vorausgehend sollten zunächst Informationen gesammelt werden, um einen Behandlungsplan zu erstellen. Dabei erweist es sich als vorteilhaft, auch auf externe Informationsquellen zurückzugreifen, um eine bestmögliche Rekonstruktion der tatsächlichen Geschehnisse zu ermöglichen. Wie bereits angesprochen haben viele Stalker eine verzerrte Sicht auf ihre eigenen Aktionen, sodass beispielsweise Interviews mit dem Opfer und Zeugen oder das Studium von Gerichtsakten häufig einen umfangreicheren und vielschichtigeren Blick auf den Fall ermöglichen. Des Weiteren können natürlich auch klinische Test zum Einsatz kommen, um den psychischen Zustand des Stalkers zu erfassen. Gegebenenfalls sind auch Instrumente zur Prognose möglicher zukünftiger Gefährdungen und Gewalttätigkeiten sinnvoll. Mullen et al. (2000, S. 284) erstellten für diagnostische Zwecke bei Stalkern eine spezielle
137 8.2 · Behandlung psychischer Störungen
Checkliste, welche insgesamt 11 aus ihrer Sicht relevante Fragestellungen umfasst: 1. Sind psychische Störungen zur Zeit präsent und wenn ja, welcher Natur sind sie? 2. Gibt es eine Vorgeschichte psychischer Störungen und auf welche Weise wurden sie therapiert? 3. Gibt es relevante individuelle Vulnerabilitäten? 4. Gibt es Hinweise auf Drogen-, Alkohol-, Medikamentenmissbrauch oder Ähnliches? 5. Was ist die Motivation für das Stalkingverhalten? 6. In welchem Kontext trat das Verhalten erstmalig auf und welche Faktoren erhalten es aufrecht? 7. Welche weitere Entwicklung ist bezüglich den Belästigungshandlungen zu erwarten? 8. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Handlungen? 9. Wie ist die gegenwärtige soziale Lage des Stalkers und welche sozialen Netzwerke sind vorhanden? 10. Welche Rolle kann Therapie spielen bezüglich der Verbesserung bzw. Beendigung des Stalkings? 11. Welche Formen von Therapie sind für evtl. vorhandene Störungsbilder induziert? Der Umfang der in der Checkliste abgefragten Informationen verdeutlicht, welche Bedeutung die australischen Stalkingexperten dem diagnotischen Prozess zumessen. Ergänzend zu den hier aufgeführten Punkten sollte ein weiterer Schwerpunkt auf einer biographischen Anamnese liegen, da in nicht wenigen Fällen obsessiver Verfolgung und Belästigung eine der Wurzeln in kindlichen Bindungserfahrungen liegt.
8.2
Behandlung psychischer Störungen
Im Vergleich zu vielen anderen Formen delinquenten Verhaltens findet sich bei juristisch auffälligem Stalking ein vergleichsweise hoher Anteil von Personen mit Psychopathologien. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass eine Verbesserung der psychischen Störung zumindest in einigen Fällen ebenfalls zu einer Abnahme der Stalkinghandlungen
8
führt. Es sind außerdem nur schwer Konstellationen vorstellbar, bei denen eine therapeutische Intervention in dieser Hinsicht negative Konsequenzen haben könnte. Bei der Diagnose einer schwerwiegenden psychischen Störung ist in Fällen von Stalking deshalb immer eine generell auf die Psychopathologie bezogene Behandlungsstrategie überlegenswert. Dennoch sollte nicht der Fehler begangen werden, nur die psychische Störung allein und nicht auch das Stalkingverhalten in seiner spezifischen Funktion und Entstehungsgeschichte therapeutisch anzugehen (Tschan u. Hoffmann 2005).
Psychosen Psychotische Störungen treten häufiger bei Prominentenstalkern auf als in Fällen, in denen eine intime Vorbeziehung oder eine direkte Bekanntschaft vorhanden ist. Die Ausnahme bilden hier Wahnstörungen, insbesondere der Liebes-, Eifersuchts- und eingeschränkt auch der Verfolgungswahn, die sich regelmäßig auch bei der obsessiven Belästigung von Bekannten oder Expartnern beobachten lassen. Lange Zeit ging man davon aus, dass sich Liebeswahn nur sehr schwer wirksam behandeln lässt. Einige frustrierte Kliniker empfahlen sogar Gerichten und Behörden im Umgang mit der Erotomanie, »in der Hoffnung auf das Eindämmen von Liebeswahn nicht zu sehr auf die Psychiatrie und andere Disziplinen aus dem Bereich zu setzen« (Leon 1994, S. 384). In jüngster Zeit findet allerdings ein Umdenken statt. Mullen und Pathé (1994b) berichteten nach eigenen Behandlungen erotomanischer Patienten über eine erfolgversprechende Kombination von gering dosierten Antipsychotika und Psychotherapie,
wobei sie eine gewisse Ausdauer der Bemühungen als erforderlich ansahen, bevor Besserungen eintreten. In einer britischen Stichprobe von 15 Patienten mit Liebeswahn erwies sich eine derartige Medikation ebenfalls als effektiv, die Behandlung schlug vor allem bei Personen mit einer primären, also reinen Form der Erotomanie gut an (Kennedy et al. 2002). In einer Übersicht über Behandlungsansätze bei Wahnstörungen fand Rosenfeld (2000) ebenfalls Evidenz, dass Antipsychotika wirksam sein können.
138
8
Kapitel 8 · Therapie von Stalkern
Lisa, eine 35 Jahre alte Frau, wurde vom Gericht angewiesen, sich einer psychiatrischen Evaluation zu unterziehen. Sie hatte einen erfolgreichen und bekannten Golfspieler über 2 Jahre hinweg verfolgt, darauf insistierend, dass sie insgeheim miteinander verheiratet seien. Sie suchte wiederholt Kontakt zu ihrem vermeintlichen Ehepartner bei Golfturnieren und anderen öffentlichen Auftritten und brach sogar einmal in sein Haus ein, um ihm eine Mahlzeit zu kochen. […] Lisa erhielt die Diagnose Liebeswahn. Die Erotomanie war nicht sekundär zu einer anderen psychischen Hauptstörung, denn abgesehen von der Wahnvorstellung, von diesem berühmten Mann geliebt zu werden, war ihre mentale Funktionsfähigkeit unbeeinträchtigt. Obgleich Lisa wenig Einsicht in ihre Krankheit besaß, und damit auch in ihre Behandlungsbedürftigkeit, stimmte sie zu, antipsychotische Medikamente einzunehmen. »Der Preis, den man für wahre Liebe zahlen muss«, wie sie glaubte. Ihre Wahnvorstellungen flauten in den folgenden Wochen ab und sie beendete ihre Stalkingaktivitäten, zog den »Ehering« aus, den sie zuvor mit Stolz getragen hatte und gab bekannt, dass sie kein Leben führen wolle »in dem man aus dem Koffer lebt und unter Beobachtung der Medien steht«. Einige Zeit darauf setzte sie – unbemerkt von ihrem Psychiater – die Einnahme der Tabletten einige Monate aus. In dieser Zeit fuhr sie mehrere Male am Haus des Golfstars vorüber und kaufte auch Karten für ein Golfturnier. Glücklicherweise wurde das erneute Auftreten der erotomanischen Symptome früh erkannt und die Behandlung konnte wieder aufgenommen werden. Lisa folgt seitdem den ärztlichen Anweisungen, und ihre Wahnvorstellungen kehrten nicht wieder zurück. (Pathé 2002, S. 39 f.)
Schizophrenien können zum einen gemeinsam mit anderen Psychopathologien auftreten, wie dem Liebeswahn, zum anderen aber natürlich auch ohne jede weitere Erkrankung erscheinen. Gerade Prominentstalker leben nicht selten zumindest zeitweise in bizarren Wahnwelten, in denen berühmte Persönlich-
keiten eine zentrale Rolle spielen. Hier ist zu erwarten, dass mit dem Abklingen der Schizophrenie auch derartige Fixierungen verschwinden oder zumindest eine untergeordnete Rolle spielen. In der Behandlung sollte man deshalb wie bei anderen schizophrenen Patienten auch vorgehen; neben dem Einsatz von Antipsychotika sind auch andere Maßnahmen wie Psychotherapien oder die Psychoedukation des Klienten und ggf. seines familiären Umfeldes sinnvoll.
Unter dem Einfluss einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie hatte Dieter K. jahrelang die wahnhafte Wahrnehmung, der Staat würde ihn psychisch foltern und terrorisieren. Aus dem Motiv, dieser Belastung eine Ende zu setzen, verübte Dieter K. am 12. Oktober 1990 ein Attentat auf den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der schwer verletzt wurde. Noch Monate später, während des Prozesses sprach Dieter K. von »Notwehr«, er würde Schäuble, der verantwortlich für sein Leiden sei, erneut zu töten versuchen. Unter dem Eindruck der offenbar immer noch akuten schizophrenen Erkrankung des Attentäters merkte das Gericht an, der Täter lebe immer noch in einer anderen Welt. Dieter K. wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, in dem seine Schizophrenie medikamentös und psychotherapeutisch behandelt wurde. Rund 6 Jahre später bat er Wolfgang Schäuble öffentlich um Entschuldigung. Er sei krank gewesen und habe Stimmen gehört und könne erst nach dem Erfolg seiner medikamentösen Behandlung einsehen, was er damals getan habe. Zwar zeigte Dieter K. kein Stalkingverhalten, seine damalige Fixierung auf bestimmte Personen des öffentlichen Lebens verweist aber auf einen verwandten psychischen Mechanismus.
Das Beispiel soll keineswegs zu dem Schluss führen, dass allein die psychische Erkrankung verantwortlich für die Gewalttat gewesen ist, vermutlich spielten hier zumindest zusätzlich Drogen- und Alkoholkonsum eine Rolle. Zudem sollten bei schweren Psychopathologien auch immer Persönlichkeitseigenschaften berücksichtigt werden. Nichtsdestowe-
139 8.2 · Behandlung psychischer Störungen
niger kann in diesem Fall ziemlich sicher davon ausgegangen werden, dass Dieter K. ohne die psychotische Erkrankung keine derartige Fixierung auf Wolfgang Schäuble und auch auf den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl entwickelt hätte, die er als führende Repräsentanten des Staates für sein psychisches Leid persönlich verantwortlich machte (7 auch Kap. 5).
Persönlichkeitsstörungen Bedenkt man die Wut des Narzissten, verlassen zu werden, die tiefe Hoffnungslosigkeit der dependenten Persönlichkeit nach einer Trennung oder die zerreißende Ambivalenz des Borderlinepatienten gegenüber Nähe, so erscheint es einleuchtend, dass Persönlichkeitsstörungen bei der Genese von Stalkingverhalten nicht selten eine Schlüsselrolle zukommt. Lange galten Persönlichkeitsstörungen als tief in der psychischen Struktur verankert und deshalb als nur schwer therapierbar, mittlerweile gibt es jedoch auch optimistischere Sichtweisen hinsichtlich ihrer Behandelbarkeit. Es gibt einige therapeutische Verfahren, die speziell auf die spezifische Persönlichkeiststörung ausgerichtet sind. Im praktischen Umgang greifen erfahrene Kliniker zudem manchmal auf recht unorthodoxe Strategien zurück, um das Stalkingverhalten bei dieser schwierigen Gruppe abzumildern: Bei den Narzissten beispielsweise legt man den ersten Schwerpunkt auf die individuellen Kosten für den Betroffenen, beispielsweise in Form verlorener Zeit, verwendeter Ressourcen und persönlicher Erniedrigung. Davon ausgehend, dass derartige Personen mehr an ihren eigenen Interessen und Gefühlen interessiert sind als an denen anderer, ist es normalerweise möglich, sie davon zu überzeugen, dass es absurd für sie wäre, ihre Verfolgungen fortzusetzen (»Warum sollte jemand wie Sie ihr Zeit und Energie auf eine solche Person verschwenden?«). Die manipulative Qualität eines solchen Vorgehens, das muss zugegeben werden, ist durchaus tadelungswürdig, als einzige Entschuldigung bleibt, dass sie sowohl für den Patienten als auch für das Opfer vorteilhaft sein kann. (Mullen et al. 2001, S. 338)
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Depressionen Mullen und et al. (2000) mahnen an, depressive Symptome bei Stalkern unbedingt zu behandeln; in ihrer klinischen Erfahrung hat sich der Einsatz von Psychopharmaka bewährt. Selbst in Fällen, in denen die Depression erst reaktiv auf die Folgen der obsessiven Handlungen entsteht, sei dies wichtig. Eine unbehandelte Depression erweist sich offenbar nicht selten als ernstzunehmendes Hindernis für weitere therapeutische Interventionen. Ein anderer Aspekt besteht darin, dass das Auftreten depressiver Phänomen auf einen sich zuspitzenden inneren Weg des Stalkers hinweisen kann. Neben der Eigengefährdung ist dabei auch eine Fremdgefährdung nicht auszuschließen. Wie in 7 Kap. 11 näher beschrieben, existiert eine Dynamik der sog. katathymen Gewalt, wie er bei der Ermordung von Frauen durch stalkende Expartner regelmäßig auftritt. Bei den in der Regel sozial unauffälligen Tätern entsteht dabei im Vorfeld der gewalttätigen Eskalation häufig eine depressive Phase.
Alkohol- und Drogenmissbrauch In den letzten Jahren hat sich in Studien immer deutlicher herausgestellt, dass Alkohol- und Drogenkonsum bei Personen mit psychischen Störungen das Gewaltrisiko signifikant erhöhen (Otto 2000; Monahan et al. 2001). Wie auch bei gesunden Menschen scheint dabei die generelle Impulskontrolle und die psychische Abwehr aggressiver Handlungstendenzen herabgesetzt zu werden. Übrigens findet sich auch bei Stalkern, die an keiner psychischen Störung leiden, dass Substanzmissbrauch mit dem Auftreten von Gewalt assoziiert ist (Harmon et al. 1998; Mullen et al. 1999). Schon aufgrund einer möglichen Gefährdung der Zielpersonen muss also darüber nachgedacht werden, Alkohol- und Drogenprobleme von Stalkern offensiv anzugehen. Zudem ist es natürlich auch im Rahmen der allgemeinen Behandlung so, dass durch den Rausch die Selbstkontrolle eher geschwächt wird und es dem Betroffenen damit tendeziell schwerer fällt, im therapeutischen Prozess von seinen Handlungen obsessiver Kontaktaufnahmen und Verfolgungen loszukommen.
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140
Kapitel 8 · Therapie von Stalkern
8.3
Unterschiedliche therapeutische Ansätze
Welche Formen der Psychotherapie könnten bei Stalkern erfolgsversprechend sein? Mullen et al. (2001) warnen zumindest bei manchen Stalkern vor Gruppentherapien. Ähnlich wie bei Sexualtätern würden in einem solchen Rahmen Stalker oftmals informelle Netzwerke bilden und einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch betreiben. Wie bereits ausgeführt sollten signifikante psychische Störungen bei Stalkern gezielt behandelt werden. Hier ist es natürlich sinnvoll, auf bereits vorhandene und erprobte Therapieformen zurückzugreifen. Folgt man der Argumentation, dass die biografischen Wurzeln des Stalkings häufig in problematischen Bindungs- und Beziehungserfahrungen liegen, erscheinen neben bindungsorientierten und kognitiven Ansätzen prinzipiell auch psychodynamische bzw. tiefenpsychologische Techniken aussichtsreich. Seinen eher klassisch ausgerichteten tiefenpsychologischen Ansatz im therapeutischen Umgang mit Stalkern beschreibt der englische Psychiater Badcock wie folgt: Das Ziel […] ist es, Einblick zu gewinnen in die bewussten und unbewussten Motivationen problematischer Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, um die als verantwortlich angesehenen, zugrunde liegenden Konflikte zu lösen. Obgleich die Therapie einen deutlichen Gegenwartsbezug aufweist, wird der Hauptfokus darauf gelegt, die Ursprünge der Schwierigkeiten aufzuspüren und erneut zu durchleben. Das Ziel ist die kathartische Freigabe unterdrückten Materials, um eine besser angepasste und authentischere Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. (Badcock 2002, S. 135)
Bei modernen psychodynamischen Therapieformen wird jedoch nicht immer ein wiederholtes Durchleben des frühen Konflikts angestrebt. Geht man davon aus, dass bei Stalkern regelmäßig narzisstische Störungen oder das Borderlinephänomen eine signifikante Rolle spielen, die als Folgen einer strukturellen Schwäche der Persönlichkeit verstanden werden können, so wird häufig auch ein stützendes Vorge-
hen empfohlen (Kernberg 1998; Kohut 1979). Bislang sind allerdings keine kasuistischen Erfahrungswerte oder gar entsprechende Studien publiziert worden. Das Potenzial der Tiefenpsychologie für die Therapie von Stalkern muss also wissenschaftlich erst noch ausgelotet werden. Einzelne dokumentierte Erfahrungen bestehen zumindest bei anderen therapeutischen Ausrichtungen. Westrup (1998, 2000) schlägt einen streng behavioristischen Ansatz für die Behandlung von Stalkern vor, der von den Prinzipien des operanten Konditionierens geleitet ist. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Verhalten durch die daraus resultierenden Konsequenzen, seien sie positiver oder negativer Natur, determiniert ist. Zugleich wird angenommen, dass es spezifische Bedingungen gibt, die dem jeweiligen Verhalten vorausgehen. Dem klassischen ABC-Paradigma Skinners (1953) zufolge geht es darum, den Zusammenhang zwischen dem auslösenden Faktor, dem sog. Antezedenten (antecedent = A), dem Verhalten von Interesse (behavior = B) und den sich daraus ergebenden Konsequenzen (consequences = C) herauszuarbeiten. Diese Konsequenzen können direkt verhaltensverstärkend sein oder als Vermeidungsverhalten wirken, um unangenehmen Folgen auszuweichen. Die auf diesen Prinzipien beruhende Funktionale Bedingungsanalyse geht vor allem von 2 Fragen aus: 4 Weshalb entsteht das problematische Verhalten? 4 Wie lässt es sich auf Dauer beenden? Wie der Name des Verfahrens sagt, geht es primär um die Funktion, die das Verhalten für die Person besitzt. Und genau diese Instrumentalität stellt den Ansatzpunkt für die therapeutische Intervention dar. Nach der Analyse des inidviduellen Zusammenhangs von Antezendent, Verhalten und Konsequenz wird über einen Verstärkungsplan versucht, das unerwünschte Verhalten zu modifizieren oder ganz zu unterdrücken. Westrup (2000) verdeutlichte dies mit einem Fallbeispiel.
Ein 19 Jahre alter Student verfolgte einen Kommilitonen. Das Opfer erwirkte ein Näherungsverbot, welches der Stalker brach, als er in der 6
141 8.3 · Unterschiedliche therapeutische Ansätze
Nähe des Hauses der Zielperson mit einem großen Messer aufgegriffen wurde. Er gab an, sich damit selbst verletzen zu wollen, um von dem anderen jungen Mann »gerettet« zu werden. Die Diagnose ergab, dass der Stalker an einer chronischen Schizophrenie litt. Neben einer medikamentösen Behandlung und verschiedenen Therapien wurde auch eine funktionale Analyse durchgeführt. Diese zeigte, dass das Stalking zwei verschiedenen Zielen (in Form von angestrebten Konsequenzen des Verhaltens) diente. Zum einen sollte es Nähe zu einer sozial attraktiven Person schaffen. Das Opfer war beliebt und durch seine Sportlichkeit begehrt und war zunächst freundlich gegenüber dem ansonsten eher Zurückweisung erlebenden Studenten gewesen. Das zweite Ziel wurde enthüllt, als der Stalker in der Therapie homoerotische Gefühle offenbarte, die bei ihm Scham und Verwirrung auslösten. Er hoffte, seine Sehnsüchte durch sein Verfolgen und seine Kontaktversuche erfüllen zu können. In der Therapie wurde an mehreren Punkten angesetzt. Die Antezedenten des Stalkingverhaltens, nämlich Gefühle von Einsamkeit und soziale Frustration, wurden durch ein soziales Training angegangen. Das hatte zur Folge, dass der Student normale Kontakte besser eingehen konnte und diese auch als befriedigender erlebte. In therapeutischen Gesprächen gelangte er außerdem zu der Einsicht, dass er sich für seine Homosexualität nicht zu schämen brauchte und dass intime Beziehungen auf Gegenseitigkeit beruhen und nicht erzwungen werden können. Als negativer Verstärker wurde dem Stalker klar gemacht, dass er nach der Entlassung mit einer nochmaligen Einweisung rechnen müsse, sollte er erneut versuchen, mit dem Opfer Kontakt aufzunehmen.
Ein schrittweises verhaltenstherapeutisches Vorgehen, das sich nicht auf den theoretischen Rahmen des operanten Konditionierens beschränken muss, scheint vielfach realistisch, um Stalkingverhalten einzudämmen. Für viele Stalker ist es kaum vorstellbar, mit ihren Verfolgungen und Belästigungen ab-
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rupt aufzuhören. Eine stufenweise Strategie, möglicherweise eingebettet in andere Maßnahmen, vermag dagegen durchführbar zu sein.
Ein Mann, der sich in eine Bekannte verliebt hatte, wurde in seinem Ansinnen eindeutig abgelehnt. Er bezeichnete die Frau dennoch als Liebe seines Lebens, und obwohl sie zunehmend verärgert reagierte, fuhr er fast täglich langsam an ihrer Wohnung und an ihrem Arbeitsplatz vorbei, in der Hoffnung, sie zu sehen. Außerdem suchte er Lokale und Clubs auf, von denen er wusste, dass sie sie öfter besucht. Da er erkannte, dass ihn sein Stalkingverhalten von seinem eigentlichen Ziel, einen positiven Eindruck bei der Frau zu hinterlassen, eher entfernte, suchte er das Gespräch mit einem Psychologen. Dieser bestärkte die von ihm bereits gehegte, unerfreuliche Vermutung, dass Abstandhalten am sinnvollsten sei.
Inzwischen fließen verhaltenstherapeutische Verfahren immer mehr zusammen mit kognitiven Ansätzen, die in verengten Interpretationen der sozialen und der eigenen inneren Realität die Ursache von psychischen Problemen sehen. Diese dysfunktionalen Kognitionen wurden ursprünglich in der Kindheit erlernt und im weiteren Leben durch verstärkende Mechanismen, wie beispielsweise Vermeidungsverhalten, Grübeln und selektive Wahrnehmung aufrechterhalten (Badcock 2002). Die therapeutische Strategie besteht nun darin, die negativen Kognitionen, die sich oftmals unerkannt hinter vielen kleinen Alltagsannahmen über sich selbst und andere »verstecken«, aufzuspüren und durch Einsicht und neue Lernerfahrungen zu verändern. Eine solche Vorgehensweise des systematischen Uminterpretierens der subjekten Wirklichkeit eines Stalkers wird weiter unten besprochen (7 Abschn. 8.6). Bei manchem Exbeziehungsstalker könnte sich ein spezifisches kognitives Schema etwa in der Annahme verbergen, dass sein Vertrauen in intime Beziehungen von dem Partner prinzipiell verraten wird und dass dies mit der Absicht geschieht, seine persönliche Position zu schwächen (Badcock 2002). Diese Sichtweise führt möglicherweise dazu, dass
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Kapitel 8 · Therapie von Stalkern
der Stalker Situationen, in denen er zurückgewiesen werden kann und in denen damit sein Selbstwert bedroht wird, zu vermeiden versucht. Das kann beispielsweise geschehen, indem er gegenüber dem Opfer eine feindselige Haltung einnimmt oder er Stalking bewusst als Kontrollverhalten einsetzt. In einem ersten deutschsprachigen Konzept zur Therapie von Stalkern wird ein semistrukturiertes Behandlungsprogramm vorgeschlagen, das auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen und psychoedukativen Interventionstechniken basiert (Tschan u. Hoffmann 2005; Tschan 2005). Einzelne Schwerpunkte stellen dabei u. a. das Erlernen neuer Copingstrategien für Stalker dar, die Entwicklung von Opferempathie, die Aufarbeitung eigener Bindungsdefizite und ein Monitoring nach der Therapie, um einen Rückfall zu vermeiden.
8 8.4
Besonderheiten im therapeutischen Umgang mit Stalkern
Stalkingverhalten und die dahinterstehende Fixierung auf eine andere Person haben bestimmte Spezifika, die in der therapeutischen Arbeit Berücksichtigung finden sollten. In der Praxis haben sich inzwischen einige grundlegende Probleme herauskristallisiert; erste Ansätze für das therapeutische Vorgehen wurden vorgeschlagen.
Mangelndes Problembewusstsein Der häufig ausgeprägte Mangel an Einsicht in die Problematik des eigenen Verhaltens bzw. die Weigerung, dafür Verantwortung zu übernehmen, gilt als eines der Haupthindernisse für eine erfolgreiche therapeutische Invervention in Fällen von Stalking. Dieser Widerstand liegt vermutlich darin begründet, dass die obsessive Belästigung eines anderen Menschen häufig eine wichtige psychische Funktion besitzt. Dies kann beispielsweise eine Eigenstabilisierung sein, die den Schwerpunkt von anderen inneren Konflikten wegverlagert, die als bedrohlich und angstbesetzt wahrgenommen werden, wie z. B. Verleugnung, Idealisierung, Verschiebung oder Projektion. In der klinischen Praxis zeigt sich immer wieder, dass Stalker ihr Verhalten mit einer oftmals
verblüffenden Vehemenz und Ignoranz gegenüber dem tatsächlichen Geschehen minimalisieren, rationalisieren oder die Schuld der Zielperson ihrer Belästigungen zuschieben. Dabei ist häufig die Tendenz zu beobachten, sich selbst als Opfer und nicht als Täter zu sehen. Wie bereits erwähnt ist es deshalb für den Therapeuten wichtig, zusätzlich auf externe Informationen über den Stalkingfall zurückzugreifen, wie etwa Opferaussagen oder Unterlagen von Polizei und Justiz. Es wird empfohlen, die Abwehrhaltungen des Stalkers konfrontativ herauszufordern und die von ihm vertretene Sicht der Dinge nicht kommentarlos passieren zu lassen (Mullen et al. 2001).
Mangelnde Empathie für das Opfer Wie eben diskutiert sehen viele Stalker die eigentliche Schuld bei den Betroffenen bzw. negieren sie die psychischen Belastungen, zu denen die andauernden Kontaktversuche und Verfolgungen bei den Opfern führen. Ein zentraler Schritt ist es deshalb, dass der Stalker mehr Empathie gegenüber dem Betroffenen entwickelt, da dies seinen inneren Widerstand gegenüber seiner Obsession erhöhen kann. Dazu ist es für ihn zunächst einmal notwendig, die kognitive Perspektive einzunehmen, wie es wohl sein mag, andauernden Belästigungen mehr oder weniger hilflos ausgesetzt zu sein. In der Praxis erweist sich ein solches Unterfangen nicht immer als leicht. Da vermutlich zumindest hinter vielen solcher Fälle eine negative Bindungserfahrung aus der frühen Biografie steht, deren Eingeständnis äußerst schmerzhaft bzw. sogar bedrohlich ist, trifft man hier häufig auf massive Abwehrhaltungen. Selbst ansonsten gut ansprechbare und anderen Standpunkten prinzipiell zugängliche Stalker reagieren bei Versuchen, ihnen die Wahrnehmung des Opfers nahezubringen, nicht selten mit Aggression oder markanter Indifferenz. Allerdings stößt man in tiefergehenden Interviews manchmal auf erinnerte Situationen, in denen sie kurz erkennen, dass die von ihnen belagerte Person einen gewissen psychischen Leidensdruck erfährt. Dort sollte dann angesetzt werden, da anhand solcher Erfahrungen ein Tor zu einer mehr empathischen Haltung aufgestossen werden kann. Allerdings muss angemerkt werden, dass von Wut und Rache motivierte Stalker gerade aus dem
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antizipierten Leid ihrer Opfer in der Regel eine tiefe Motivation ziehen. Hier kann die Strategie, Mitgefühl mit den Belastungen des Opfers zu wecken, geradezu zum Gegenteil des gewünschten therapeutischen Effekts führen.
Soziale und kommunikative Defizite Im Allgemeinen, insbesondere aber im Bereich des Prominentenstalkings, haben viele der obsessiven Verfolger einen sozial isolierten und zurückgezogenen Lebensstil. Thematisch scheinen zudem häufiger durch die Sehnsucht nach Nähe und Liebe motivierte Stalker eine solche einsame Existenz zu führen als diejenigen, die von Wut und Rache angetrieben sind. Stalking kann hier also auch als kompensatorische Handlung für einen Mangel an befriedigenden zwischenmenschlichen Kontakten gewertet werden. In der Konsequenz heißt dies, dass eine Verbesserung der sozialen Fähigkeiten zugleich einen ersten Schritt in Richtung der Beendigung des chronisch belästigenden Verhaltens bedeutet. Deshalb können soziales Kompetenztraining oder alleine schon die wiederholte Ermutigung des Theraupeuten, einfache soziale Aktivitäten anzugehen, zu einer Verbesserung der Gesamtsituation führen. Das australische Forscherteam um Mullen berichtet von vielversprechenden Erfahrungen mit derartigen Ansätzen. Allerdings kann es hier auch Ausnahmen geben – so kann es z. B. zu einer Problemverschiebung statt zu einer Lösung kommen.
Einer unserer Patienten reagierte auf unsere Anregung, sich in das gesellschaftliche Leben zu begeben, indem er die Beschäftigung mit »Poker-Spielautomaten« in einem lokalen Pub aufnahm. Dieser Schritt erwies sich als absolut erfolgreich unter dem Aspekt, dass die wortwörtlich konstante Belästigung des Opfers, die über ein Jahr angehalten hatte, ein Ende fand. Zugleich bürdete er dem Patienten eine Spielsucht auf, da er sich genauso auf seine neue Aktivität fixierte, wie er es zuvor auf das Stalking getan hatte. (Mullen et al. 2001, S. 341)
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Jedoch muss dringend davor gewarnt werden, soziale Kompetenztrainings mit der selten auftretenden Subpopulation von Stalkern durchzuführen, die eine psychopathische bzw. antisoziale Persönlichkeitsstruktur aufweisen. Es hat sich gezeigt, dass bei derartigen Personengruppen – zumindest bislang – nicht nur wenig Therapieerfolg zu erzielen ist. Manchmal tritt sogar ein kontraproduktiver Effekt ein, indem die Patienten solche Trainings aktiv nutzen, um ihre Fähigkeiten zur Manipulation zu verbessern und ihre Opfer noch bewusster und effektiver schädigen zu können (Hare 1996; Lösel 2001).
Stressmanagement Bekanntermaßen begünstigt Stress den Ausbruch psychischer Erkankungen, sodass in Phasen extremer Stressbelastung sogar vergleichsweise geistig gesunde Persönlichkeiten vorübergehend psychopathologische Symptome zeigen können. Bei Stalkern mit psychischen Störungen kann das Erkennen und Abschalten von Stressoren bzw. das Vermitteln eines besseren Umgangs mit ihnen zu einer deutlichen Entlastung der Gesamtsituation beitragen. Nach Ansicht von Kropp et al. (2002b) spielt dieser Effekt vor allem bei wutmotivierten Stalkern eine Rolle, die einen andauernden Konflikt zwischen sich und dem Opfer sehen, der nicht im Bereich einer Liebes- oder einer früheren intimen Beziehung anzusiedeln ist. Diese Auseinandersetzung stellt sozusagen den zentralen Stressor dar, der die obsessive Belästigung antreibt, indem sich der Stalker an diesem immer wieder »aufreibt«. Im Gegensatz zum ansonsten imperativen Kontaktverbot zwischen Stalking und Opfer werden von den Autoren in derartigen Fällen im Sinne eines Stressmanagements Konfliktlösungsstrategien vorgeschlagen, in denen beide Seiten einbezogen werden. Ein solcher Ansatz ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, da in nicht wenigen Fällen der eigentliche tiefere Konflikt in der Vorstellungswelt des Stalkers stattfindet und nicht in einem durch eine Intervention befriedbaren Ungleichgewicht. Es scheint zugleich so, dass möglicherweise tatsächlich bestehende, wenngleich oftmals deutlich weniger dramatische Ungerechtigkeiten auch eine Rolle spielen. Die überbordende Reaktion des Stalkers verweist jedoch regelmäßig auf die Aktivierung eines
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Kapitel 8 · Therapie von Stalkern
biografisch zurückliegenden Konfliktes oder auf einen Sekundärgewinn des Stalkingverhaltens wie etwa Aufmerksamkeit durch andere.
Hafturlaub (dem ersten Antrag war nicht stattgegeben worden, da ein laufender Briefwechsel von Hinckley mit dem ebenfalls inhaftierten Serienmörder Ted Bundy entdeckt worden war). Als sich nun in Hinckleys Zelle ein Bestellcoupon fand, mit dem er per Post ein Portrait von Jodie Foster bestellen wollte, wurde sein Ansinnen erneut abgelehnt.
Hartnäckigkeit der Fixierung
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Bereits die frühen Erfahrungen der Threat Management Unit der Polizei von Los Angeles, die sich vermutlich weltweit als erste in der Praxis tätige Expertengruppe mit dem Umgang mit Stalking beschäftigt haben, machen das mögliche Ausmaß der Obsession in diesem Feld deutlich. Wurde zunächst ein halbes Jahr ohne Stalkingaktivitäten festgelegt, um einen Fall als abgeschlossen zu den Akten zu legen, musste dieser Zeitraum rasch nach oben korrigiert werden. Der Rahmen ist mittlerweile auf 2 Jahre hochgesetzt mit der Erfahrung, dass dann, zumindest in der Mehrzahl der Fälle, von einem dauerhaften Ende ausgegangen werden kann (Williams et al. 1996). Ähnliche Erfahrungen mit einer verblüffenden Hartnäckigkeit der Fixierung lassen sich auch bei dem Stalking von Prominenten ausmachen.
Ein offensichtlich psychotischer Stalker belästigte eine Darstellerin einer Fernsehserie über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren. Der Mann schrieb ihr Briefe, drang mehrfach zu ihr persönlich vor und versuchte mit einer Rufmordkampagne, die Prominente zu schädigen. Immer wieder gab es Phasen, während deren keinerlei Aktivitäten zu verzeichnen waren. Die längste davon dauerte ca. eineinhalb Jahre. Es gab Hinweise darauf, dass in diesen Zeiträumen die psychotische Erkrankung durch ärztliche Behandlung eingedämmt worden war. Bei dem Stalker John Hinckley, der ein Attentat auf US-Präsident Reagan verübte, um die Schauspielerin Jodie Foster zu beeindrucken, zeigte sich kaum ein Nachlassen der Obsession, obgleich dies bedeutende negative Konsequenzen für ihn mit sich brachte. Mehr als ein halbes Jahrzehnt nach dem Anschlag beantragte der Attentäter zum zweiten Mal einen 6
Bedauerlicherweise unterschätzen Psychotherapeuten regelmäßig die Beständigkeit der inneren Ausrichtung des Stalkers auf sein Opfer. Der Autor selbst hat einen Fall miterlebt, in dem ein Therapeut nach einigen Monaten bescheinigte, dass der Mitarbeiter, der eine Kollegin gestalkt hatte, nun Einsicht zeigte und wieder ohne Einschränkungen an seinem Arbeitsplatz aktiv werden könne. Weitere therapeutische Sitzungen seien nicht nötig. Nach einiger Zeit fiel jedoch auf, dass der Stalker auf subtilere Art versuchte, dem Opfer nachzustellen. Im deutschsprachigen Raum ist die nicht immer ausgeprägte therapeutische Ausdauer vermutlich zum Teil schlicht darauf zurückzuführen, dass Fachwissen über Stalking lange nicht sehr verbreitet war. Dadurch ist manchmal auch ein Mangel an Skepsis gegenüber den Aussagen des Stalkers zu beobachten, wird doch häufig das Ausmaß der Verzerrung seiner Wahnehmung nicht ausreichend berücksichtigt.
8.5
Rückfallgefahr
Stalker gelten als »Serientäter«, obwohl das Stalkingverhalten nicht selten nur in spezifischen Situationen auftritt, wie beispielsweise einer Trennungserfahrung. Somit kann sich die Wiederholung obsessiver Kontaktversuche erst nach wenigen Monaten, nach vielen Jahren oder überhaupt nicht einstellen, je nach den biografischen Erlebnissen des Einzelnen. Beispielsweise berichtete ein Stalker dem Autor, dass seine zweite Stalkingepisode erst fast 3 Jahrzehnte nach der ersten auftrat, da er so lange mit einer Frau verheiratet war und erst dann zum zweiten Mal eine Trennungsphase durchlebte. Jedoch muss auch darauf hingewiesen werden, dass nicht wenige Stalker bestimmte interpersonelle Konfliktmuster immer
145 8.6 · Beispiel für einen Therapieplan
wieder quasi auf das Neue inszenieren und dadurch spezifische Formen wiederholter Belästigungen regelmäßig von diesen Personen ausgehen. Rosenfeld (2003) untersuchte zum ersten Mal auf einer breiteren empirischen Basis die Rückfallgefahr bei Stalkern. Er fand bei einer Stichprobe von 148 verurteilten Stalkern, dass es in nahezu der Hälfte aller Fälle zu einem erneuten einschlägigen Vorfall kam; dies geschah bei der überwiegenden Mehrheit (80%) im ersten Jahr nach dem Kontakt mit den Justizbehörden. Die statistische Auswertung, welche der Einflussgrößen zu einem erhöhten Risiko führten, barg einige Überraschungen. So hatten manche traditionellen Risikovariablen wie frühere Vorstrafen, psychiatrische Unterbringungen oder die Dauer des erstmals behördlich registrierten Stalkingvorfalls keinen signifikanten Effekt. Als ein weiteres Ergebnis, das konträr zu früheren Annahmen stand, verringerten psychotische Erkrankungen wie Erotomanie die Rückfallwahrscheinlichkeit. Ein ungewöhnlicher Punkt, da man bei dem Phänomen der Erotomanie gerade die Ausdauer des Annäherungs- und Kontaktverhaltens für bemerkenswert hielt. Deshalb wurden etwa Haftstrafen für erotomane Stalker als wenig nützlich eingeschätzt, da diese Gruppe eine solche Verurteilung weniger als Strafe denn als Prüfung für die Ausdauer des Liebesgefühls ansehen würde. Rosenfeld bot für seinen Befund die Erklärung an, dass Stalker mit Psychosen als Folge der Auffälligkeit ihrer Symptome möglicherweise eine intensivere psychiatrische Behandlung erfuhren und deshalb weniger häufig rückfällig wurden. Die geringere Rückfallquote wäre damit nicht durch die Auswirkungen der Wahnerkrankung, sondern durch ein professionelleres Management derartiger Fälle zu erklären. Eine gesteigerte Rückfallquote trat dann auf, wenn Stalker und Opfer eine intime Beziehung hatten und in einem geringeren Maße auch beim Gegenteil, nämlich wenn der Stalker ein Fremder war. Stammte der Täter aus dem sozialen Umfeld, dann war ein erhöhtes Risiko nicht zu verzeichnen. Eine Persönlichkeitsstörung – vornehmlich eine solche aus dem zweiten DSM-Cluster wie die antisoiale, narzisstische oder Borderlinestörung – führte zu häufigeren Rückfällen, ebenso eine Vorgeschichte von Alkohol- und Drogenmißbrauch. Als ausgesprochen besorgniserregend erwies sich die Kombi-
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nation dieser beiden Variablen: Alle Stalker in Rosenbergs Stichprobe, die sowohl eine Persönlichkeitsstörung aufwiesen als auch alkohol- oder drogensüchtig waren, wurden wieder rückfällig. Es lassen sich somit offenbar Untergruppen von Stalkern ausmachen, die über ein deutlich erhöhtes Rückfallpotenzial verfügen und deshalb besonderer therapeutischer Aufmerksamkeit bedürfen.
8.6
Beispiel für einen Therapieplan
Wie die verschiedenen therapeutischen Strategien in individueller Kombination zu einem Behandlungsplan zusammengestellt werden können, soll im Folgenden demonstriert werden. Es geht um einen Patienten, der in der Terminologie von Mullen et al. (1999) als intimitätssuchender Stalker (»intimacy seeker«, 7 Kap. 5) eingeordnet wird. Dieser Typus zeichnet sich dadurch aus, dass er ohne jedes Zeichen einer erwiderten Anziehung eine Beziehung mit einer bestimmten Person einzugehen versucht, wobei er zu einer starken Idealisierung neigt. Solche oftmals in fantasierte Beziehungen versunkenen Persönlichkeitstypen finden sich häufig auch bei Prominentenstalking. Mullen et al. (2000, S. 287) gehen in diesen Fällen in 7 Stufen vor: 1. Der Fokus des Patienten wird von der erhofften Liebe des Opfers für ihn auf die eigenen Gefühle gelenkt. Hierbei werden die Hoffnungen und Wünsche des Stalkers besonders thematisiert. 2. Die Funktion des Liebeswunsches zu besprechen, stellt den nächsten therapeutischen Arbeitsschritt dar. Insbesondere wird auf die zugrundeliegende Einsamkeit und das oftmalige Fehlen einer Beziehung eingangen. Der Stalker soll dahin gebracht werden, wahrzunehmen, dass seine Liebesgefühle eher eine Folge dieser unbefriedigenden Lebenssituation sind. 3. Einzelne Szenen der angeblichen Ausdrücke erwiderter Zuneigung des Liebesobjektes werden seziert. Der Therapeut kann hier gegebenfalls mit dem angemessenen Einfühlungsvermögen darauf hinweisen, dass diese Signale auch ganz anders gedeutet werden können. Ein Prozess des Zusammenprallens der verzerrten Vorstellungen des Stalkers mit der Realität setzt ein.
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Kapitel 8 · Therapie von Stalkern
4. Der Stalker soll hier angeleitet werden, sich die persönlichen Kosten seines Handelns deutlich zu machen, wie aufgewendete Zeit und Energie, Gefühle der Demütigung usw. 5. Ansetzend an dem erlebten psychischen Leid des Stalkers wird der Klient nun mit den seelischen Belastungen seines Opfers direkt konfrontiert. 6. Der Stalker erreicht eine Haltung, mit der es ihm möglich wird, sich unter Aufrechterhaltung seines Selbstwertes aus der »Beziehung« zu lösen. Er hat sein Bestes gegeben, aber das Opfer hat sich hierfür als nicht bereit erwiesen. Obwohl er es nicht wollte, hat er es verängstigt und unter Druck gesetzt. Es ist Zeit, weiterzuziehen. 7. Der Stalker wird in die Lage versetzt, realistische Beziehungen aufzubauen und Gefühle in eine Bindung zu investieren, auch wenn dies nur in der Anschaffung eines Haustieres umgesetzt werden kann.
8.7
Therapeuten als Stalkingopfer
Immer wieder belegen Fallberichte, dass Therapeuten Opfer von Stalking werden (generell scheint dies für viele helfende Berufe zu gelten). Hilfsbereitschaft, Offenheit und nicht selten auch Freundlichkeit gehören zum Profil der Arbeit (Borski et al. 2005), und nicht wenige der in diesem Bereich Tätigen, wie beispielsweise Mediziner, verfügen zudem über einiges Sozialprestige. All das sind Faktoren, die für Stalker eine Anziehungskraft ausüben und ihnen die Fantasie einer engen zwischenmenschlichen Beziehung mit dem Kliniker erleichtern. Unter einer pathologischen Bindung verstehen wir Verhaltensweisen, die die üblichen Rahmenbedingungen einer Behandlung überschreiten, bei denen der Patient stillschweigend die Grenzen der professionellen Beziehung akzeptiert, etwa die Besuche auf die Sprechstunden zu beschränken, nur in dringenden Fällen zusätzlich anzurufen und keine Kontakte außerhalb der Behandlung anzustreben. Wenn solche Grenzen nicht eingehalten werden, beginnt der Patient, den Therapeuten auf der Arbeit und zu Hause exzessiv anzurufen, nimmt Kontakt mit Familienmit6
gliedern auf, sendet unangemessene Briefe oder andere Zuschriften, sucht unangekündigt die Praxis auf und folgt gegebenenfalls den Therapeuten bis zu dessen Wohnung. (Lion u. Herschler 1998, S. 163)
Tatsächlich finden sich auch empirische Belege für eine höhere Opferrate bei Ärzten und Psychologen: So stammte bei einer Befragung von 100 Stalkingopfern in Australien ein Fünftel aus helfenden Berufen (Pathé u. Mullen 1997). Bei einer Fragebogenstudie, an der 75 deutsche Stalkingopfer teilnahmen, gaben gut 5% an, im Bereich Pflege und Medizin tätig zu sein und weitere 16% in den Berufsfeldern Soziales, Erziehung und Bildung (Özsöz 2004). Allerdings bestehen deutliche Unterschiede zwischen leichteren Formen der Belästigung und schwerem Stalking. Gerade Psychiater, klinische Psychologen und deren Mitarbeiter sind verstärkt unterschiedlichsten Arten von Grenzverletzungen und Aufdringlichkeiten ausgesetzt. Beispielsweise ergab eine Umfrage in einer psychiatrischen Klinik, dass 53% der dort Tätigen bereits einmal Erfahrungen mit Belästigungen, Drohungen und Stalking durch Patienten machen mussten (Sandberg et al. 2002). Betrachtet man jedoch ausschließlich Stalking und lässt andere Formen der Belästigung unberücksichtigt, so zeigen sich deutlich geringere Zahlen. In einer Erhebung unter Psychologen berichteten lediglich 10%, Stalking durch Klienten erlebt zu haben (Gentile 2001), in einer Umfrage bei Beratungsstellen, in denen unter anderem Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter arbeiteten, waren sogar nur knapp 6% Opfer solcher Verhaltensweisen geworden (Romans et al. 1996). Wenngleich offenbar viele Therapeuten vorübergehend Zudringlichkeiten in der einen oder anderen Ausprägung durch Patienten ertragen müssen, ist der Anteil derjenigen, die dauerhafter Verfolgung und Belästigung ausgesetzt sind, vergleichsweise überschaubar. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Stalking zu werden, in dieser Berufsgruppe deutlich erhöht ist. Denn in den Prozentzahlen wurden alleine die Stalkingerfahrungen mit Patienten erfasst und nicht auch noch solche mit anderen Personengruppen, die einen ungleich größeren Anteil in der Gesamtheit aller Stalkingfälle ausmachen, wie
147 8.7 · Therapeuten als Stalkingopfer
beispielsweise die Gruppe der früheren Beziehungspartner. Interessanterweise stechen einige Spezifika hervor, die Stalking bei helfenden Berufen von der generellen Ausprägung dieses Phänomens abheben. In einem prägnanten Gegensatz zur normalen Bevölkerung ist der Anteil der weiblichen Stalker hier oftmals größer als der Anteil der männlichen (Gentile 2001; Romans et al. 1996). Zudem treten vermutlich deutlich weniger gewalttätige Vorfälle auf als im Allgemeinen. Meloy (2002c) führt die geringere Rate aggressiver Akte teilweise darauf zurück, dass psychologisch geschulte Experten besser und professioneller mit Stalkingfällen umgehen als Laien und deshalb häufig deeskalierend einzuwirken vermögen. Nicht zuletzt gibt es auch auf der motivationalen Ebene für das Stalking Unterschiede. Diese sind zum einen die bereits erwähnten Persönlichkeiten, die den professionellen Kontext der Therapeut-KlientBeziehung systematisch verkennen: Patienten entwickeln romantische oder kindliche Bindungen, die ihnen die Hoffung auf eine tiefere Beziehung geben. Diese Hoffnungen können aufgrund wahnhafter Vorstellungen entstehen – etwa bei der Erotomanie, sprich der falschen Überzeugung, dass man von einer bestimmten anderen Person geliebt wird –, auf der Basis unangemessener Erwartungen einsamer und verzweifelter Seelen oder schlichtweg durch die unrealistische Erwartungshaltung eines Möchtegernverehrers. Die letzte Gruppe setzt sich üblicherweise aus sozial inkompetenten Personen oder aus narzisstischen Egozentrikern zusammen. (Pathé et al. 2002, S. 336)
Noch häufiger scheinen allerdings Stalker von Therapeuten und Ärzten von Wut und Rache angetrieben zu sein. Dies kann zum einen geschehen, wenn ein Mediziner etwa für eine falsche Diagnose verantwortlich gemacht wird, oder dafür, dass eine Behandlung nicht das gewünschte Resultat erbrachte oder eine Operation nicht erfolgreich verlief. Ein tragisches Fallbeispiel hierfür wird von Mullen et al. (2000) berichtet.
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Ein junges Ehepaar war über mehrere Jahre Patient bei einer Hausärztin. Bei einer Routineuntersuchung stellte die Medizinerin eine Geschwulst bei der Frau fest. Sie konnte das Ergebnis jedoch nicht mitteilen, da das Paar sich nicht mehr wie vereinbart bei ihr gemeldet hatte. Die beiden waren in eine andere Stadt gezogen, und trotz Nachforschungen war es der Medizinerin nicht gelungen, die neue Adresse ausfindig zu machen. Als die Frau einige Zeit später in ihrem neuen Wohnort einen anderen Arzt aufsuchte, war der Krebs bereits fortgeschritten und die Patientin starb an der Krankheit. Ihr Mann verklagte die Medizinerin, die er für den Tod seiner Partnerin verantwortlich machte, doch alle Instanzen stellten kein Fehlverhalten bei ihr fest. Der Witwer konnte die Entscheidung nicht akzeptieren und sprach von einer Verschwörung der Besserverdienenden, um einen ärztlichen Kunstfehler zu vertuschen. Er begann mit einer Stalkingkampagne, die 2 Jahre lang andauerte. Er kündigte an, die Ärztin werde lange und quälend leiden, ebenso wie seine verstorbene Frau. Sie erhielt Drohanrufe, ihr Auto wurde mehrfach beschädigt und der Mann tauchte wiederholt in der Praxis auf und beschuldigte die Medizinerin im Wartezimmer vor anderen Patienten, sie hätte seine Frau ermordet. Ein Gerichtsverfahren, in dessen Folge sich der Stalker einer Therapie unterziehen musste, führte schließlich zu einer Beendigung des Psychoterrors.
Meist findet das Stalking von Therapeuten und Ärzten in einem weniger dramatischen Rahmen statt. Die Patienten fühlen sich aus irgendeinem Grund ungerecht behandelt oder erhalten nicht das, was ihnen, wie sie glauben, zusteht – z. B. wenn ihnen der Arzt eine Bescheinigung über eine Berufsunfähigkeit versagt. Auch ein eher konfrontatives Vorgehen, etwa im Rahmen einer Psychotherapie, kann das Muster von Verfolgung und Belästigung auslösen. Am Anfang steht also zumeist eine wahrgenommene Kränkung. Die Frage, weshalb einige wenige Patienten auf solche Erfahrungen in einem klinischen Kontext mit Stalking reagieren, beantwortet
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Kapitel 8 · Therapie von Stalkern
Meloy (2002c) mit der Vermutung, dass bei ihnen ein pathologischer Narzissmus vorhanden ist. Dieser führe dazu, dass eine persönlichkeitsimmantente Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung besteht, auf die mit Wut reagiert werden kann. Aufgrund der erhöhten Gefährdung von Psychologen, Medizinern und verwandten Berufsgruppen, wie Sozialarbeitern, im Rahmen ihres Berufes Opfer von Stalking zu werden, wurde die Forderung erhoben, dass der Umgang mit Stalking in die Ausbildung mit aufgenommen wird (Pathé et al. 2002; Spitz 2003). Dabei geht es um die Schwerpunkte Prävention und Fallmanagement. Mögliche Schutzmaßnahmen sind zum Beispiel die Geheimhaltung der Privatadresse und der sensible Umgang mit eigenen persönlichen Informationen am Arbeitsplatz. Zudem ist es von Bedeutung, problematischen Verhaltensweisen von Patienten möglichst früh entgegenzusteuern und bei Stalkingfällen in Kliniken und Hilfsorganisationen Vorgesetzte einzuschalten, um die persönliche Ebene des Konliktes auf ein allgemeineres, emotional neutraleres Gleis zu bringen.
9 Auswirkungen von Stalking auf Betroffene
9.1
Psychische und soziale Folgen – 151
9.2
Körperliche Belastung – 153
9.3
Auswirkungen auf den Lebensstil – 153
9.4
Posttraumatische Belastungsstörung – 154
9.5
Vulnerabilität – 154
9.6
Therapeutische Interventionen – 155
Erst in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre wurden die Folgen der Viktimisierung durch Stalking zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Die wohl erste Untersuchung über die Auswirkungen von Stalking stammte aus Australien und erschien im Jahr 1997. Insgesamt 100 Betroffenen war ein ausführlicher Fragebogen vorgelegt worden. Die Ergebnisse der Studie waren erschreckend: Die Mehrzahl der Opfer litt unter Furcht und Panik sowie unter chronischen Schlafstörungen; auf die fortgesetzte Belästigung wurde oftmals mit sozialem Rückzug reagiert und die Betroffenen verließen etwa aus Angst seltener ihr Haus oder verloren Kontakte zu Freunden (Pathé u. Mullen 1997). Da es sich hier offenbar um Opfer von schwereren Formen von Stalking handelte – die Teilnehmer der Befragung waren entweder bei einer psychiatrischen Beratung gewesen oder hatten sich hilfesuchend an die Autoren gewandt –, war zu vermuten, dass es im Allgemeinen nur vergleichsweise wenige Personen in der Bevölkerung gab, die einer solchen außerordentli-
chen Belastung durch fortgesetzten Psychoterror ausgesetzt waren. Doch die Hoffnung trog, wie schon bald repräsentative Studien auf internationaler Ebene offenbarten. So ließ etwa das US-amerikanische Justizministerium bei 16.000 Bürgern eine Telefonumfrage durchführen (Tjaden u. Thoennes 1998b, 2000). Ein Drittel der weiblichen Betroffenen und ein Fünftel der männlichen gaben demzufolge an, sich aufgrund des Stalkings in psychotherapeutische Behandlung begeben zu haben. Ein Viertel aller Opfer berichtete von zeitweisen Ausfällen bei der Arbeit. In einer weiteren umfangreichen Studie wurde in Großbritannien eine Gruppe von nahezu 10.000 Bürgern untersucht (Budd u. Mattinson 2000). Dabei sagten 3 Viertel aller Stalkingopfer aus, dass der Vorfall ihnen Leid zugefügt oder sie aus dem Gleichgewicht gebracht habe, und 71% gaben an, dass die Belästigungen ihren Lebensstil verändert hätten, etwa dadurch, dass sie bestimmte Orte mieden, weniger ausgingen oder spezielle Maßnah-
150
9
Kapitel 9 · Auswirkungen von Stalking auf Betroffene
men für ihre persönliche Sicherheit ergriffen hätten. Ähnliche Zahlen fanden Purcell et al. (2000) in einer Zufallsstichprobe von 1844 australischen Bürgern. Knapp 2 Drittel der Betroffenen sprachen von einer Änderung in ihrem Lebensstil als Auswirkung des Stalkings, wie etwa zusätzliche Sicherungsmaßnahmen an der Wohnung oder die Variation täglicher Routinehandlungen, um Übergriffen seitens des Stalkers aus dem Weg zu gehen. Doch nicht nur die Zielpersonen der grenzverletzenden Belästigungen sind betroffen, auch deren Umfeld leidet nicht selten unter dem Stalking. Man spricht in solchen Fällen von Sekundäropfern (Pathé 2002). Hier sind zunächst einmal Familienmitglieder zu nennen. Beispielsweise kann der Ehemann oder ein neuer Freund auch körperlich angegriffen werden, wenn der Stalker eine Beziehung mit dem Opfer anstrebte oder in der Vergangenheit gehabt hatte. Aber es ist zumeist vor allem die seelische Belastung, die dem Opfer nahestehenden Personen zu schaffen macht. Auch sie sind dem Psychoterror ausgesetzt, sie müssen mit ansehen, wie der von ihnen geliebte Mensch psychisch an den Rand gedrängt wird und erleben sich dabei selbst nicht selten als hilflos. Gerade der letzte Punkt kann auch das Selbstbild einiger männlicher Sekundäropfer erheblich belasten, erleben sie es doch manchmal als Demütigung oder Schwäche, die Partnerin nicht wirkungsvoll schützen zu können. Auch die Kinder des Opfers leiden regelmäßig unter der Situation. Außer direkt bedroht zu werden oder Haustiere zu verlieren, erleben sie möglicherweise in einem beträchtlichem Ausmaß elterliche Angst, Depression und Handlungsunfähigkeit. Einige von ihnen sind Sachbeschädigungen, dem Eindringen in die Wohnung oder bizarreren Aktivitäten des Stalkers ausgesetzt, wie beispielsweise das Hinterlassen verstümmelter Tiere an der Haustür. (Pathé u. Mullen 2002, S. 9)
Man kann sich leicht vorstellen, dass solche Erlebnisse für ein Kind oftmals traumatische Qualitäten besitzen. – Eine weitere gefährdete Personengruppe für eine sekundäre Viktimisierung sind Menschen, die dem Opfer beistehen und es sichtbar unterstützen. Sie ziehen nicht selten den Zorn des Stalkers auf sich und werden zum Ziel beispielsweise von anony-
men Telefonterror oder von Beschädigungen an ihrem Auto. Allgemein ist es für Stalkingopfer oft nicht leicht, ernstgenommen zu werden, männliche Betroffene haben hier manchmal sogar besondere Probleme. Gerade wenn diese Opfergruppe von einer Frau belästigt wird, reagieren Polizeibeamte nicht selten mit Spott und regen ironisch an, dass sich der Mann doch über die Zudringlichkeiten des anderen Geschlechts freuen sollte. Hall (1998) berichtete von einem Fall, in dem ein Stalkingopfer von seiner Exfreundin verfolgt wurde. Er versuchte auf juristischem Wege, ein Näherungs- und Kontaktverbot zu erwirken, doch der Richter sagte ihm, er solle sich doch lieber von der Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlen. Einige Wochen später wurde er von der Stalkerin ermordet. Tatsächlich kommt es immer wieder auch hierzulande vor, dass offizielle Stellen die Bedrohlichkeit weiblicher Verfolger verneinen oder sogar das Opfer ins Lächerliche ziehen. So gab in einem Fall, in dem der Autor konsultierend tätig war, eine Polizeibeamtin zu bedenken, dass es sich doch nur eine Frau handeln würde und die Angst des verfolgten Mannes wohl übertrieben sei. Die Stalkerin hatte ihn zuvor mit einem Messer attackiert, worauf er sich hilfesuchend an die Polizei gewendet hatte. Die Vorstellung, dass Stalkerinnen ungefährlicher sind, ist bedauerlicherweise weit verbreitet. Tatsächlich ist die Rate der Gewalttätigkeit bei weiblichen Stalkern ebenso hoch wie bei obsessiven Verfolgern männlichen Geschlechts (Purcell et al. 2001; Meloy u. Boyd 2003). Mittlerweile zeichnet sich ein vergleichsweise klares Bild ab, welche negativen Folgen Stalkingopfer oftmals erleiden müssen. Dabei ergibt sich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen wissenschaftlichen Untersuchungen aus verschiedenen Ländern. Originalzitate von Opfern aus dem deutschsprachigen Raum, sollen die verheerenden Auswirkungen auf eine eher qualitative Weise verdeutlichen (Hoffmann u. Wondrak 2005a, S. 6; 2005c, S. 62): 4 »Nichts ist mehr wie es mal war … habe schon
2 Suizidversuche hinter mir. Ich bin umgezogen, habe meinen Job erst mal verloren.« 4 »Ich gehe nicht mehr alleine raus und schließe mich zuhause ein, verriegele die Türen und Fens-
151 9.1 · Psychische und soziale Folgen
ter, kontrolliere vor jeder Fahrt mein Auto genau, habe Angst, in den Briefkasten zu sehen.« 4 »Ich vermeide bis heute Blickkontakt und reagiere nicht, wenn mich einer anspricht aus Angst, wieder an einen Psychopathen zu geraten der meint, wenn man mal freundlich lächelt und Hallo sagt, man ihn gleich liebt und heiraten will.« 4 »Ich vertraue keinem Menschen mehr. Außerdem glaube ich nicht mehr daran, dass die Polizei ein Freund und Helfer ist … Ich bin nicht mehr beziehungsfähig und bekomme Angst vor Männern, die sich für mich interessieren. Ich habe mein Weltbild verloren und glaube nicht mehr, dass in jedem Menschen auch etwas Gutes steckt.« Wie belastend sich Stalking auswirken kann, zeigt sich auch darin, dass in einer deutschen Studie ein knappes Viertel der Betroffenen angab, deswegen schon einmal krank geschrieben gewesen zu sein (Hoffmann u. Wondrak 2005c). Auch der volkswirtschaftliche Schaden dürfte dabei nicht unbeträchtlich sein, denn die durchschnittliche Fehlzeit betrug 61 Tage. Grob betrachtet lassen sich die Konsequenzen von Stalking für die Opfer in 3 Bereiche unterteilen: 4 psychische und soziale Folgen, 4 körperliche Symptome, 4 Auswirkungen auf den Lebensstil.
9.1
Psychische und soziale Folgen
Hier waren die Belastungen am umfangreichsten und traten in vielerlei Gestalt auf. Im Folgenden soll eine kurze Übersicht gegeben werden. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass die Prozentangaben ausnahmslos von Befragungen von Betroffenen stammen, die zum Ziel vergleichsweise vehementer Formen von Stalking wurden. Der Grund hierfür ist methodischer Natur: Die Stichproben rekrutierten sich aus Personen, die sich aktiv als Opfer von Stalking zu erkennen gaben, und somit in der Regel über einen gewissen Leidensdruck verfügten. Angst und Schreckhaftigkeit. Vielleicht der ver-
breitetste Effekt ist die Allgegenwart von Angst, die
9
eine Viktimisierung durch Stalking mit sich bringt. In einer Befragung von Stalkingopfern aus dem deutschsprachigen Raum berichteten mehr als 90% von Gefühlen der Furcht während der Verfolgung, in nicht wenigen Fällen bis hin zu panikartigen Zuständen (Hoffmann u. Wondrak 2005c). Dabei war die Angst sehr häufig mit Wahrnehmungen verknüpft, die mit dem Stalking direkt in Verbindung stehen, wie etwa das Klingeln des Telefons oder das Schellen an der Haustür. Eine solche Reaktion ist typisch für traumatisierte Menschen. Auf die Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung wird unter 7 9.4 genauer eingegangen. Gar nicht so selten versuchen Opfer dem enormen psychischen Druck durch übermäßigen Alkoholkonsum oder die Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu entkommen. Dieser Kreislauf der Angstbekämpfung kann in letzter Konsequenz auch in einer Abhängigkeit münden. Suizidgedanken und -versuche. Wie groß das Aus-
maß der Verzweiflung ist, offenbart sich vielleicht am ehesten in der bedrückend hohen Anzahl von Betroffenen, die im Verlauf des Stalkingfalls einmal über Selbstmord nachgedacht hatten. Untersuchungen in mehreren Ländern stießen auf einen relativ konstanten Anteil, der zwischen 24 und 31% lag (Pathé u. Mullen 1997; Blaauw et al. 2000; Hoffmann et al. 2004). Wie hoch die tatsächliche Suizidrate bei Stalkingopfern liegt, ist unbekannt. Nicht nur die Auswirkungen des Stalkings direkt, auch die Reaktion des sozialen Umfeldes oder von Behörden auf die Viktimisierung kann eine äußerst tiefe Krise auslösen. Ein Opfer, das mehrere Jahre lang einem extrem gefährlichen Stalker ausgesetzt war, der später eine andere Frau ermordete, berichtete, dass sie ein einziges Mal über Selbstmord nachgedacht hatte – und zwar in dem Moment, als ihr ein Polizeibeamter ins Gesicht sagte, ihre Geschichte sei ihm völlig egal und er möchte sie nicht hören. Depression und Niedergeschlagenheit. Über solche Gefühle (oder treffender Nichtgefühle) berichtet ungefähr die Hälfte aller Betroffenen (Hoffmann u. Wondrak 2005c). Dieses häufig auftretende Belastungssymptom lässt sich gut mit dem psychologischen Konzept der erlernten Hilflosigkeit erklären (Seligman 2000). Stalkingopfer sind über längere
152
Kapitel 9 · Auswirkungen von Stalking auf Betroffene
Zeit hinweg grenzverletzenden Handlungen ausgesetzt, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen können. Alle Versuche der Gegenwehr scheitern, sodass sie schließlich in einen Zustand der Resignation hineingleiten, der durch Hilflosigkeit und ein Abschalten von Emotionen gekennzeichnet ist. Reizbarkeit und Aggressivität. Ein schnelles Wütend-
9
werden und leichte Reizbarkeit gelten als typische Stressreaktionen. Von der Evolutionsgeschichte her ist Stress eine angeborene Reaktion, die den Körper in einer Gefahrenlage blitzschnell in die Lage versetzen soll, zu kämpfen oder zu fliehen, um das eigene Überleben zu sichern. Wut und Aggressivität dienen hierbei der Kampfaktivierung. Tatsächlich befinden sich viele Stalkingopfer in einem fortwährenden Zustand nervlicher Anspannung und Gereiztheit (Hoffmann u. Wondrak 2005c); das evolutionäre Erbe wird in der modernen Welt zu einer Belastung für sich selbst und für nahestehende Personen. Misstrauen gegenüber anderen Menschen. In Be-
fragungen deutschsprachiger Stalkingopfer gaben 2 Drittel und mehr als Auswirkung des Stalkings an, misstrauischer geworden zu sein (Hoffmann et al. 2004; Hoffmann u. Wondrak 2005c). Der Verlust der Offenheit gegenüber anderen Menschen wird dabei oftmals als schmerzlich und als Veränderung der eigenen Persönlichkeit wahrgenommen. Eine Frau, die infolge einer schlimmen Telefonterrorkampagne durch einen Stalker gleich mehrfach Wohnort und Arbeitsstelle wechselte, berichtete dem Autor sichtlich berührt, dass sie nie wieder einem ihr unbekannten Mann mit Freundlichkeit begegnen wird. Ein anderes weibliches Opfer, das von einer Stalkerin nach einer längeren Phase der Verfolgung mit einer Eisenstange niedergeschlagen worden war, hatte eine geradezu phobische Angst davor entwickelt, unter Menschen zu gehen, da sie fürchtete, dass darunter Verrückte seien, die sie attackierten. Die US-Schauspielerin Jodie Foster beschrieb 1982 in einem Artikel der Zeitschrift Esquire ihre Gefühle gegenüber dem Stalker John Hinckley, der sie verfolgte und schließlich ein Attentat auf US-Präsident Reagan verübte, um ihr zu imponieren. Deutlich wird dabei das generalisierte Misstrauen gegenüber Kontaktversuchen und Liebesbekundungen, das typisch für Stalkingopfer ist:
Warum ich? Liebe. Welch ein Wort. Mir tun Leute Leid, die Liebe und Besessenheit verwechseln. Und mir tun Leute weh, die diese Verwechslung an mir auslassen. Liebe hat etwas mit sanftem Atem an nebligen Morgenden an einem geheimen Ort zu tun. Liebe existiert nicht ohne Erwiderung, ohne Umarmen, ohne das Gefühl, dass sich zwei Seelen treffen, zwei Herzen, zwei Hirne, zwei Körper. Besessenheit ist Schmerz und das Streben nach etwas, was es gar nicht gibt. Das größte Verbrechen von John Hinckley war es, dass er Liebe und Besessenheit verwechselt hat. Diese Trivialisierung der Liebe werde ich ihm nie vergessen. Wegen seiner Ignoranz hat er eine Menge verpasst. Eine Lektion jedenfalls habe ich gelernt: Ich werde immer skeptisch sein, wenn sich Menschen zu ihrer Liebe zu mir bekennen. Ich weiß, was Liebe ist. Aber wissen sie es auch? (zit. nach Schumacher 2000, S. 110)
Hall (1998) fragte bei Stalkingopfern nach, ob sie sich seit dem Beginn des Stalkings in der Wahrnehmung ihrer eigenen Persönlichkeit verändert hatten. Die Ergebnisse sprachen eine deutliche Sprache: Ein Gutteil von ihnen erlebte sich als weniger freundlich (89% vs. 53%) und weniger kontaktfreudig (78% vs. 41%) als zuvor. Als noch prägnanter erwies sich die Zunahme negativer Sichtweisen: Vorsicht (15% vs. 88%), Schreckhaftigkeit (4% vs. 52%) und vor allem Paranoia (2% vs. 41%) hatten merklich an Bedeutung gewonnen. Das Misstrauen und der Vertrauensbruch gegenüber anderen Menschen in Verbindung mit einer leichten Reizbarkeit tragen oftmals zur Konfliktbildung in engen zwischenmenschlichen Beziehungen bei. Partnerschaftskrisen oder Zerwürfnisse mit Freunden sind nicht zuletzt deshalb oftmals eine weitere Belastung, die Opfer von Stalking erleiden müssen. Sozialer Rückzug. Viele Opfer kapseln sich von ih-
rem Umfeld ab und ziehen sich zurück. Dieses in der Traumaforschung gut bekannte Reaktionsmuster hat mehrere Gründe. Zum einen verhindert die durch das belastende Ereignis ausgelöste Angst, dass die Betroffenen ihre vertraute Umgebung verlassen. Aufgrund des neu entwickelten Misstrauens meiden sie Kontakt mit ihnen unbekannten Personen. Zudem haben sie nicht selten das Gefühl, dass kaum ein anderer ihre Situation versteht, was in einem Gefühl
153 9.3 · Auswirkungen auf den Lebenssti
der Entfremdung Ausdruck findet. Die besondere Gefahr eines konsequenten sozialen Rückzuges besteht darin, dass die Betroffenen zunehmend ihre sozialen Kontakte verlieren. Auch droht eine Chronifizierung, die in ein dauerhaftes Leben von Isolation und Einsamkeit münden kann.
Drittel der Betroffenen (Pathé u. Mullen 1997; Hoffmann u. Wondrak 2005c). Dabei kann sowohl die Frequenz des Kopfschmerzes als auch seine Intensität zunehmen.
9.3 9.2
9
Auswirkungen auf den Lebensstil
Körperliche Belastung
Die meisten der körperlichen Symptome sind wohl dem Zustand der permanenten Anspannung geschuldet, in der sich viele Stalkingopfer befinden. Die immer präsente Sorge, dass der Verfolger plötzlich auftaucht, gewalttätig wird oder Telefonterror ausübt, führt nicht selten zu einem dauerhaft hohen Stresslevel. Schlafstörungen. Schlafstörungen sind offenbar ei-
nes der Traumasymptome, die bei Stalking am häufigsten auftreten (Brewster 2002b). Das permanente Gedankenkreisen um die Situation der Verfolgung und Belästigung und ein allgemeiner erhöhter Erregungszustand lassen die Betroffenen oft schwer einschlafen, oder sie wachen in der Nacht auf und finden nicht mehr in den Schlaf zurück. Auch Alpträume treten vielfach auf. Offenbar leiden bei schwerem Stalking mehr als 2 Drittel der Betroffenen unter solchen Zuständen (Pathé u. Mullen 1997; Hoffmann u. Wondrak 2005c). Essstörungen und Magenbeschwerden. Auch
hierbei handelt es sich um eine typische Stresssymptomatik. Krisenbedingte Essstörungen können sich sowohl in Appetitlosigkeit als auch in Essattacken ausdrücken. In mehreren Fällen nahmen Opfer sogar bewusst zu in der Hoffnung, weniger attraktiv zu wirken, damit der Stalker von ihnen ablässt. Die von Pathé und Mullen (1997) untersuchten Opfer obsessiver Belästigung in Australien berichteten zu je 50% von Essstörungen und Gewichtsfluktuationen im Zusammenhang mit ihrer Viktimisierung. Mit 43% gaben in einem deutschsprachigen Sample fast ebenso viele Betroffene an, unter Magenbeschwerden zu leiden (Hoffmann u. Wondrak 2005c). Kopfsschmerzen. Größere Probleme mit Kopf-
schmerzen als gewöhnlich haben mindestens ein
Opfer von Stalking zu sein stellt oftmals einen tiefen biografischen Einschnitt dar. Vertraute Gewohnheiten werden geändert, angefangen im Tagesablauf bis hin zu einer kompletten Umstellung des Lebens. Dem Ausmaß dieses Umbruchs stehen oftmals die Betroffenen selbst, aber auch ihr Umfeld fassungslos gegenüber. Im Folgenden werden einige häufig vorkommenden Änderungen aufgezählt. Erhöhte Sicherheitsvorkehrungen. Die Erfahrung andauernder Grenzverletzungen führt vielfach zu einem höheren Bedürfnis nach Sicherheit. In einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage in Großbritannien gaben mehr als 40% aller Stalkingopfer an, zusätzliche Schutzmaßnahmen ergriffen zu haben, wie beispielsweise bestimmte Wege nicht mehr alleine zu gehen, Tränengas mit sich zu führen oder Alarmanlagen im Haus zu installieren (Budd u. Mattinson 2000). Vielfach wird auch das eigene Heim als letzte Schutzbastion wahrgenommen, die Opfer verbarrikadieren sich dort regelrecht, halten auch tagsüber die Jalousien oder Gardinen geschlossen oder schaffen sich Geheimnummern oder Anrufbeantworter an (Meinhardt u. Wondrak 2004). Meiden bestimmter Orte. Die Taktik, Orte zu meiden, an denen man dem Stalker begegnen kann, ist aus einer Sichtweise des Fallmanagements als sinnvoll zu erachten, da die Wahrscheinlichkeit umso größer ist, dass die obsessive Verfolgung und Belästigung aufhört, je länger kein Kontakt besteht. Ob ein solches Verhalten bewusst gewählt wird oder eher als Folge einer Verängstigung auftritt, wird wohl von außen nicht immer zu entscheiden sein. Das Nichtaufsuchen bestimmter Lokalitäten und Plätze geht oftmals mit einer gewissen sozialen Verarmung und einer höheren Einsamkeit einher, gerade wenn es sich bei dem Stalker um den Expartner oder um eine andere Person aus dem nahen Umfeld
154
Kapitel 9 · Auswirkungen von Stalking auf Betroffene
handelt. Denn das bedeutet, dass bestimmte Orte, an denen man Freunde und Bekannte trifft, auf einmal zu bedrohlichem Territorium werden. Umzug und Wechsel des Arbeitsplatzes. Der
9
Wechsel des Wohnortes ist sicherlich als eine äußerst einschneidende Maßnahme zu werten. Dennoch gehen viele Opfer diesen Weg, die schweren Formen der Belästigung und Verfolgung ausgesetzt sind. In der australischen Untersuchung von Pathé und Mullen (1997) zogen 39% der befragten Opfer um (bis zu 5 Mal und vereinzelt sogar sehr weit, bis auf einem anderen Kontinent). Weniger hoch war die Rate in einer deutschen Untersuchung: Hier war es jedes 5. Opfer, das den Wohnort wechselte (Hoffmann u. Wondrak 2005c). Neben sozialen Beeinträchtigungen ging dies zudem oft mit beträchtlichen finanziellen Einbußen einher. In extremen Fällen von Stalking scheint manchmal der Umzug in eine andere Gegend das einzige noch verbleibende Mittel (Sheridan u. Boon 2002; Sheridan u. Blaauw 2002). In letzter Konsequenz kann das sogar das Hintersichlassen des gesamten Freundes- und Bekanntenkreises bedeuten (USamerikanischen Experten prägten hierfür das Schlagwort »social death«). Knapp jedes 10. im deutschsprachigen Raum befragte Opfer wechselte zudem den Arbeitsplatz (Hoffmann u. Wondrak 2005c).
9.4
Posttraumatische Belastungsstörung
Eine Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung wird normalerweise nur unter der Vorraussetzung gestellt, dass die betreffende Person selbst oder als Zeuge eine lebensbedrohliche Situation erlebt hat (APA 1998). Ereignisse, die eine solche Belastungsstörung auslösen, sind typischerweise Gewaltverbrechen, kriegerische Auseinandersetzungen, Naturkatastrophen oder der plötzliche Tod einer nahestehenden Person. Diese oder vergleichbare Bedingungen treten nur in einer Minderzahl der Stalkingfälle auf. Dennoch gleichen sich die psychischen Folgen nicht selten bis ins Detail. Eine Studie in den Niederlanden kam zu dem Ergebnis, dass Stalkingopfer einen ähnlichen psychischen und phy-
sischen Belastungsgrad aufwiesen wie die Überlebenden eines Flugzeugabsturzes (Kamphuis u. Emmelkamp 2001). Es zeigte sich außerdem, dass in Untersuchungsgruppen, die einer erheblichen Belastung durch Stalking ausgesetzt waren, ein beträchtlicher Anteil signifikante Kernkriterien der posttraumatischen Belastungsstörung erfüllten. Bei einer Opferbefragung in Australien ergab sich eine Rate von 37% (Pathé u. Mullen 1997), in einer deutschen Studie lag der Anteil mit 59% sogar noch einmal deutlich erhöht (Hoffmann et al. 2004). Hierbei war allerdings nicht kontrolliert worden, ob die traumatische Belastung nicht doch auf andere Erlebnisse zurückzuführen war. Dennoch lässt sich das Ausmaß der psychischen Folgen nicht immer allein mit der variierenden Schwere oder Aggressivität des Stalkings erklären (Blaauw et al. 2002). Hier scheinen vor allem die Copingstrategien des Betroffenen, also die Fähigkeit effektive Verarbeitungsmechanismen einzusetzen, eine Rolle zu spielen. Es sind dabei offenbar vor allem ein passive Copingstrategien, wie etwa ein innerer Rückzug, Grübeln und Vermeidung, die zumindest in Fällen von Expartnerstalking zu höheren posttraumatischen Belastungswerten beitragen (Kamphuis et al. 2003).
9.5
Vulnerabilität
Die Frage, ob es Personen gibt, die eher Opfer von Stalking werden als andere, besitzt eine gewisse Brisanz, kann sie doch in verkürzter Form zu der Formel führen, dass die Betroffenen selbst die Schuld an ihrem Schicksal sind. Beim Umgang mit Stalkingopfern zeigt sich jedoch, dass es bei einer Untergruppe, beileibe aber nicht bei allen Betroffenen, gewisse Muster gibt, welche möglicherweise den Prozess der Viktimisierung begünstigen. Bereits in der ersten bekannte Stalkingstudie zu Anfang der 80er-Jahre notierten die Forscher Auffälligkeiten bei den von ihnen befragten Frauen, die von früheren Partnern belästigt wurden. Unter den Frauen, die stärker bedroht wurden […] bemerkten die Interviewer gewisse Persönlichkeitscharakteristika, die bei ihnen verbreitet auftraten. 6
155 9.6 · Therapeutische Interventionen
Viele der Frauen wirkten extrem warmherzig und freundlich und schienen gewisse Schwierigkeiten damit zu haben, gegenüber Männern negative oder zurückweisende Aussagen zu treffen. (Jason et al. 1984, S. 266)
Etwas plakativer, aber inhaltlich in dieselbe Richtung zielend, äußerte sich einer der Pioniere im Umgang mit Stalking zum Wechselspiel zwischen »Tätern« und Opfern: Ein Axiom aus der Dynamik des Stalkens lautet: Männer, die nicht loslassen können, wählen Frauen, die nicht nein sagen können. (de Becker 1999, S. 276)
Wissenschaftlich wurde die Frage einer etwaigen Vulnerabilität bei Stalkingopfern bislang kaum untersucht. Eine Ausnahme stellen die Forschungen am Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit dar (Dressing et al. 2005; Gass 2005). Die Forschergruppe hatte bei einer Prävalenzstudie zu Stalking auch das Vorhandensein von Selbstunsicherheit auf einer speziellen Skala erfasst. Es zeigte sich, dass Betroffene von Stalking mit dependenten und selbstunsicheren Persönlichkeitsmerkmalen einen signifikant höheren Wert aufwiesen als Personen, die nicht zum Ziel obsessiver Belästigung wurden. Dies ist ebenfalls ein Hinweis, dass es interpersonelle Stile gibt, die für potenzielle Stalker sozusagen psychologische »Anlegestellen« darstellen. Betrachtet man außerdem manche Interaktionsmuster zwischen Expartnern, bei denen sich eine Person als Stalkingopfer ansieht, zugleich aber immer noch wechselseitige Verstrickungen zu beobachten sind, so scheinen manchmal zudem weitere Persönlichkeitszüge prägnant zu sein. Die Betroffenen weisen manchmal histrionisch anmutende Charaktereigenschaften auf und wirken gelegentlich so, als würden sie eine narzisstische Befriedigung aus der Aufmerksamkeit ziehen, die ihnen ihr Verfolger zuteil werden lässt. Verblüffenderweise sucht in derartigen Konstellationen das Opfer manchmal auch aktiv Kontakt zu dem vermeintlichen Stalker für den Fall, dass dieser sich ein paar Tage nicht zeigt.
9.6
9
Therapeutische Interventionen
Die Therapie von Stalkingopfern ist durch einige Spezifika geprägt. Zunächst hat man es in der Regel mit einer noch andauernden Traumatisierung zu tun. Das heißt, das belastende Ereignis liegt nicht in der Vergangenheit (ist also abgeschlossen und lebt sozusagen »nur« noch in der Psyche des Betroffenen fort), sondern es ist immer noch akut. Ein therapeutischer Rückblick ist deshalb nur eingeschränkt möglich, der Blick muss immer auf die Gegenwart gerichtet sein und dem Opfer konkrete Verhaltensempfehlungen für die eigene Sicherheit mit an die Hand geben. Als eine weitere Besonderheit, die auch in Fällen von häuslicher Gewalt gegeben ist, besteht oftmals eine Verstrickung mit dem »Täter«, denn in nahezu der Hälfte aller schweren Stalkingfälle sind Expartner beteiligt (Hoffmann u. Wondrak 2005b). Damit einhergehend sind Scham, Selbstzweifel und Schuldgefühle nicht selten zu beobachten. Die therapeutische Intervention muss deshalb oft stützende Funktion besitzen. Die Vermittlung von Copingstrategien, die Aufklärung über Belastungssymptome traumatischer Natur, Techniken zum Stressmanagement, all das sind Elemente, die für Betroffene nützlich sein können (Mechanic 2002). Auch der Abbau depressiver Inaktivität mit Hilfe von Strategien aus der kognitiven Verhaltenstherapie sowie die Bearbeitung von übergeneralisierten Ohnmachtgefühlen, die sich etwa in dem Glauben auszudrücken vermögen, dass die Welt prinzipiell ein unsicherer Ort ist, kann das Leid von Betroffenen mildern (Kühner u. Weiß 2005). Es ist aus mehrerlei Gründen wichtig, dass Therapeuten, die Stalkingopfer behandeln, sich Fachwissen über das Wesen obsessiver Verfolgung und Belästigung erarbeitet haben. Zum einen lässt sich mit dem Mittel der Psychoedukation das Gefühl der Machtlosigkeit und Scham auf Seiten des Opfers oftmals zumindest mindern. Wenn Betroffene über die generellen Dynamiken von Stalking aufgeklärt werden und zudem vielleicht noch ein individuelles psychologisches Profils ihres Verfolgers präsentiert bekommen, wird die Wahrnehmung des eigenen Kontrollverlustes reduziert. Sie »verstehen« besser, was passiert und können die Handlungen des Stalkers
156
9
Kapitel 9 · Auswirkungen von Stalking auf Betroffene
genauer einschätzen; das potenziell traumatisierende Gefühl der Hilflosigkeit verliert an Dominanz. Dazu gehört zudem, die Grundregeln für den Umgang mit Stalking zu erläutern und ggf. auch den ungewollt eigenen Anteil des Opfers daran zu klären, dass das Verhaltensmuster der Verfolgung und Belästigung stabilisiert wurde, indem es etwa wiederholt auf den Stalker eingegangen ist. Dies darf natürlich nicht als Schuldzuweisung aufgefasst werden. Die australischen Forscher um Mullen verfügen auch in der therapeutischen Arbeit mit Stalkingopfern über beträchtliche praktische Erfahrungen (Mullen et al. 2000; Pathé u. Mullen 2002). Sie schlagen vor, ggf. auch die Partner und die Familie in die psychologische Behandlung zu integrieren. Dem Opfer nahestehende Personen seien durch das Stalking ebenfalls oft psychisch stark belastet, sodass auch sie von der therapeutischen Unterstützung profitieren könnten. Gruppentherapien hätten dagegen den Vorteil, dass sie Betroffenen helfen das Gefühl von Isolation und Entfremdung zu überwinden, welches regelmäßig mit einer Viktimisierung durch Stalking einhergeht. Schließlich sei es wichtig, in Einrichtungen, in denen Stalkingopfer beraten oder behandelt werden, alle Mitarbeiter in speziellen Vorsichts- und Schutzmaßnahmen zu unterrichten. Gerade die Herausgabe von Informationen über Klienten gelte es zu verhindern, an die Stalker nicht selten unter einem Vorwand gelangen. Es müssten zudem Handlungsstrategien erarbeitet werden, wie mit obsessiven Verfolgern umzugehen ist, die direkt versuchen zu dem Opfer vorzudringen.
10 Management
10.1 Ansatzpunkte verschiedener Berufsgruppen und Institutionen – 157 10.2 Grundregeln für den Umgang mit Stalking – 161 10.3 Individuelles Fallmanagement – 163 10.4 Besonderheiten beim Prominentenstalking – 166
Nicht wenige Berufsgruppen haben regelmäßig mit Stalkingfällen zu tun, ob sie es wollen oder nicht. Hier Tätige müssen erfragen, was vorgefallen ist, dann eine Einschätzung der Geschehnisse vornehmen und schließlich überlegen, welche Maßnahmen sie ergreifen können. In der Praxis sind es zunächst einmal helfende Berufe, die mit dem Phänomen Stalking konfrontiert sind. Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter, sie werden von Opfern um Beistand und Unterstützung gebeten (Spitz 2003). Aufgrund ihrer Profession, die als Teil der Arbeit eine gewisse Zuwendung gegenüber solchen Menschen beinhaltet, die psychisch labil sind oder einsam und zurückgezogen leben, werden helfende Berufe dabei gar nicht selten auch selbst zum Ziel obsessiver Verfolgung und Belästigung (Borski u. Nedopil 2005). Polizeibeamte und Juristen stellen weitere Berufsgruppen dar, die sich häufig mit Stalking auseinandersetzen müssen und von Betroffenen um Hilfe gebeten werden. Für ein erfolgreiches Fallmanagement stellt ein interdisziplinäres
Vorgehen oftmals den Schlüssel zum Erfolg dar (Meloy 1997; Hoffmann 2002b). Zu diesem Zweck hat sich die Bildung von Netzwerken auf lokaler Ebene bewährt, in denen Betroffene auf unkomplizierte Weise an andere Stellen weitervermittelt werden können und in denen zwischen den Experten auf informellem Weg Absprachen getroffen werden (Hoffmann 2005).
10.1
Ansatzpunkte verschiedener Berufsgruppen und Institutionen
Polizei Wenn sie kompetente Ansprechpartner bereitstellt und rasch handlungsfähig ist, kommt der Polizei eine zentrale Rolle im Kampf gegen Stalking zu. Mehrere Studien haben gezeigt, dass ein frühes und offensives Vorgehen der Polizei vielfach ein effekti-
158
10
Kapitel 10 · Management
ves Mittel ist, dem Stalker Einhalt zu gebieten (Williams et al. 1996; Hoffmann et al. 2004). Gerade sozial gut angepasste Belästiger schreckt ein Auftreten staatlicher Macht ab. Zudem wird eine fantasierte Beziehung mit dem Opfer oder der Machtrausch eines privaten Rachefeldzuges empfindlich gestört, wenn eine dritte Partei auftaucht, die außerdem signalisiert, dass für den Stalker möglicherweise unangenehme Konsequenzen zu befürchten sind, wenn er seine Aktionen fortsetzt. Von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung ist das Wissen des einzelnen Polizeibeamten über Stalking. Dies ist zum einen wichtig, um dem Verfolger konsequent gegenüberzutreten, zum anderen, um das Opfer in seiner seelischen Belastung angemessen zu betreuen. Gerade im letzten Punkt ist die Lage im deutschsprachigen Raum, aber auch in vielen anderen Ländern noch nicht befriedigend. So berichteten in einer groß angelegten Opferbefragung 69% der Betroffenen, die sich an die Polizei wandten, dass sie Schwierigkeiten hatten, den Beamten den Ernst der Lage zu vermitteln (Voß et al. 2005), und 4 von 5 Opfern gaben an, mit den Maßnahmen der Polizei nicht zufrieden gewesen zu sein. Hier ist auch ein Effekt im Sinne einer sekundären Traumatisierung zu befürchten, die das seelische Leiden der Opfer noch einmal verstärkt. Sie fühlen sich bereits ohnmächtig und zutiefst verunsichert, denn sie können sich der Belästigungen und Verfolgungen durch den Stalker nicht erwehren – und dann wird ihnen noch von der Gesellschaft in Gestalt der Polizei oder anderer Behörden signalisiert, dass ihr Problem ein Privatproblem ist, das nicht unbedingt ernst zu nehmen ist (Hoffmann 2003). Dass die Unzufriedenheit der Betroffenen nicht allein auf eine Art allgemeinen psychischen Zustand durch die Viktimisierung zurückzuführen ist, in dem generell über mangelnde Hilfe geklagt wird, belegt der Vergleich zwischen verschiedenen Polizeibehörden. In Bremen, wo seit dem Jahr 2001 spezielle Stalkingbeauftragte verteilt auf verschiedene regionale Abschnitte tätig sind, zeigte sich einer Evaluationsstudie zufolge die Mehrheit der Opfer mit der Arbeit der Polizei zufrieden (Bettermann 2002; Oehmke 2004). Es ist hier also allein durch die Einführung spezieller Ansprechpartner ein gegenteiliger Effekt zu verzeichnen als im gesamten deutschsprachigen Raum, in dem die Opfer bei den Beamten
in vielen Fällen auf wenig Kompetenz in Sachen Stalking stießen. Dies wird auch durch eine eigene internationale Studie unterstützt, in der die die Erfahrungen mit der Polizei von deutschen und von englischen Stalkingopfern verglichen wurden (Hoffmann et al. 2004). In Großbritannien verfügen die meisten Beamten zumindest über ein Basiswissen im Umgang mit Stalking, da infolge der Einführung eines Antistalkinggesetzes im Jahr 1997 dort umfangreiche Fortbildungen durchgeführt wurden. Die Auswirkungen dieser Qualifikationsmaßnahmen erwiesen sich in der Gegenüberstellung mit den Verhältnissen in Deutschland zum gleichen Zeitpunkt als überdeutlich: Polemisch ausgedrückt war es zumindest zum Zeitpunkt der Datenerhebung für ein Stalkingopfer in Deutschland statistisch betrachtet besser, nicht zur Polizei zu gehen, wenn es anstrebte, seine Situation zu verbessern. Denn in nur in etwa 15% der Fälle erwirkte eine polizeiliche Intervention eine Beendigung der obsessiven Verfolgung und Belästigung und in knapp 9% eine Abschwächung des Stalkings. Der Anteil, bei dem das polizeiliche Einschreiten nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer Verschlechterung der Lage führte, lag hingegen mit 29% darüber. Damit führte den Erfahrungen der Opfer zufolge ein Einschreiten der Polizei häufiger zu einem negativen als zu einem positiven Effekt. Ganz anders präsentierte sich die Lage in England. Dort bewirkte ein Einschalten der Polizei in der Mehrzahl der Fälle (52%) ein Ende des Stalkings, und in 10% führte es immerhin zu einer Minderung des problematischen Verhaltens. In weniger Fällen als in Deutschland, nämlich in 21%, führte der Einsatz zu einer Verschlimmerung des Geschehens. Die Studie lässt somit den Schluss zu, dass das Vorgehen der Polizei maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Verlauf eines Stalkingfalles zu nehmen vermag. (Hoffmann 2005) Zwar ermöglicht der Polizei das Vorliegen eines speziellen Antistalkingstraftatbestandes entschlossener und schneller zu handeln, dennoch bilden nach wie vor Fachwissen über Stalking, eine individuelle Fallbearbeitung und Opferberatung sowie die Zusammenarbeit mit Stellen außerhalb der Polizei die Säulen einer erfolgreichen Intervention. Diese Erfahrung wurde immer wieder auch in Ländern gemacht, in denen bereits Stalkingbekämpfungsge-
159 10.1 · Ansatzpunkte verschiedener Berufsgruppen und Institutionen
setze im Strafgesetz vorliegen (Pathé et al. 2004). Vor allem in Nordamerika wird die Prävention von schweren Gewalttaten und von Stalking zunehmend als ernstzunehmende Herausforderung gesehen, der mit speziellen polizeilichen Mitteln begegnet werden muss. Seit Beginn der 90er Jahre wurden beispielsweise in den USA und später auch in Kanada neue Einheiten gegründet, die Threat Management Units (Boles 2001; Maxey 2002; Kropp et al. 2002b). Dabei wird versucht – schon bevor strafrechtlich Relevantes geschieht – den Opfern beizustehen und die Bedrohungslage abzuwenden. Interdisziplinäre Ansätze, gerade in der Zusammenarbeit mit Psychiatern und Psychologen, gelten bei den Threat Management Units als unabdingbarer Bestandteil der Arbeit, in den meisten Fällen sind solche Berufsgruppen sogar fest in die Einheit integriert.
Psychiater und Psychologen Psychiater und Psychologen können in mehrerlei Hinsicht in diesem Feld wirksam eingreifen. Zum einen gilt dies für die Seite der Opfer: Hier können Aufklärungsgespräche über die psychologischen Hintergründe von Stalking das Geschehen etwas weniger »unheimlich« und damit weniger unberechenbar machen. Zudem kann eine individuelle Analyse der Falldynamiken den Betroffenen neue Handlungskompetenzen eröffnen, wie sie mit ihrem Verfolger umgehen können. Es ist außerdem häufig wichtig, die zum Teil beträchtlichen psychischen Folgen für Opfer abzumildern bzw. eine Chronifizierung vorhandener Belastungssymptome zu verhindern. Hierbei können verschiedene psychotherapeutische Verfahren zum Einsatz kommen, in besonders schweren Fällen auch Psychopharmaka. Für das Fallmanagement generell ist eine Einschätzung des Gewalt- und Eskalationspotenzials ein Feld, das im Bereich Stalking sicherlich an Bedeutung gewinnen wird. Auch für diese Aufgabe ist psychologisches und psychiatrisches Fachwissen von wesentlicher Bedeutung.
Justiz und Rechtsanwälte Durchaus nicht wenige Experten sind der Ansicht, dass die Frage, ob ein wirksames Strafgesetz gegen
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Stalking in einem Staat vorhanden ist, einen der entscheidendsten Faktoren für ein erfolgreiches Management von Stalking darstellt (z. B. Mullen u. MacKenzie 2004; James 2004). Vor allem im englischsprachigen Raum waren ebenfalls die Gesetzgeber einiger Länder schon vergleichsweise früh derselben Meinung. Ausgehend von den USA, gefolgt von Australien und Kanada und später auch von England und Wales wurden spezielle strafrechtliche Bestimmungen geschaffen; später kamen in Europa noch Belgien und die Niederlande hinzu (Pelikan 2004). In Deutschland trat im Januar 2002, allerdings nur im Zivilrecht angesiedelt, das sog. Gewaltschutzgesetz in Kraft. Eigentlich für den Kampf gegen häusliche Gewalt konzipiert, wurde schließlich noch ein eigener Stalkingpassus hinzugefügt, ohne den eigentlichen Begriff zu nennen. Mit dem Gewaltschutzgesetz wurde den von obsessiver Verfolgung und Belästigung Betroffenen ermöglicht, gerichtlich eine Unterlassung zu erwirken, wenn sie durch einen anderen Menschen dahingehend unzumutbar belästigt werden, dass dieser ihnen »gegen den ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder sie unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln verfolgt.« In der Praxis erwiesen sich die auf diesem Weg erwirkbaren Näherungs- und Kontaktverbote nicht immer als probates Mittel für den Schutz und die Entlastung der Opfer. Eine Studie mit 75 Betroffenen in Deutschland zeigte, dass sich nur etwa jeder 5. Stalker an derartige Verbote hielt; der Rest setzte seine Belästigungshandlungen trotz rechtlicher Intervention fort (Özsöz 2004). Viele Betroffene beklagten, dass die Konsequenzen für das Nichteinhalten dieser Verfügungen unzureichend sind und keine abschreckende Wirkung besitzen. Außerdem fordert der zivilrechtliche Weg den Betroffenen viel an Energie und juristischem Wissen in einer ohnehin schon äußerst belasteten Lebenssituation ab. Einzelfälle zeigen überdies immer wieder, dass die Beratung durch einen in diesem Feld erfahrenen Rechtsanwalt manchmal unerlässlich ist. Die Empfehlung einiger Polizeieinrichtungen und Juristen, in jedem Fall auf zivilrechtlichem Weg ein Näherungs- und Kontaktverbot anzustreben, ist in einer derartigen Ausschließlichkeit als problematisch anzusehen. Vor allem in den USA mahnen einige Stalkingexperten, dass infolge der Zurückwei-
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Kapitel 10 · Management
sung und der damit einhergehenden Kränkung des Stalkers ein solcher Schritt regelmäßig eine Eskalation bis hin zu schweren Gewalttaten regelrecht auslösen kann (de Becker 1994; Spitzberg 2002). Auch der Autor wies bereits auf derartige Gefahren hin: »Tatsächlich sind jedoch Risikofaktoren bekannt, die einschätzen helfen, ob eine zivilrechtlich erwirkte Verfügung in einem konkreten Fall das Gewaltrisiko erhöht« (Hoffmann 2002b). Statt des pauschalen Rates an das Opfer, grundsätzlich zivilrechtlich eine derartige Verfügung zu erwirken, sollte deshalb erst in einer ausführlichen Einzelfallberatung das Pro und Kontra eines solchen Schrittes abgewogen werden, bevor man gemeinsam mit dem Betroffenen eine Entscheidung über das weitere Vorgehen trifft« (Hoffmann 2005). Um die Frage, ob das zivilrechtlich ausgelegte Gewaltschutzgesetz für den rechtlichen Umgang mit Stalking ausreicht, entspann sich unter deutschen Juristen und Praktikern rasch eine teilweise sehr kontrovers geführte Diskussion (z. B. von Pechstaedt 2002, 2005; Meyer 2003; Gropp u. von Pechstaedt 2004). Schließlich brachte das Bundesland Hessen im Sommer 2004 einen Vorschlag für ein Gesetz zur Bekämpfung von Stalking in den Bundesrat ein. Fünfsinn (2005), einer der Architekten des Entwurfes, führte mehrere Gründe an, die für die Einführung eines solchen Strafgesetzes sprechen, und zwar konkret erweiterte Handlungsmöglichkeiten der Polizei, eine höhere Abschreckung und die Signalwirkung, auch an die Opfer, dass derartige grenzverletzende Handlungen gesellschaftlich nicht akzeptiert werden. Auch andere Bundesländer legten eigene Gesetzesvorschläge auf den Tisch. Im Jahr 2005 einigte man sich im Bundesrat schließlich auf einen gemeinsamen Entwurf mehrerer Länder für ein Stalkingbekämpfungsgesetz, und auch die Bundesregierung präsentierte ein entsprechendes Gesetzespapier, das allerdings in einigen Punkten abwich. Welche Erwartungen können an ein spezielles Antistalkinggesetz gestellt werden? Ganz sicher ist eine solche Regelung kein Allheilmittel, wenngleich sie auch für das Management von Stalking hilfreich sein kann. Erfahrungen aus dem Ausland zeigten, dass auf diesem Wege vor allem der Polizei mehr Handlungssicherheit verliehen wird, was wiederum ein offensiveres Vorgehen ermöglicht (z. B. für Aus-
tralien Dussuyer 2000; für Großbritannien Harris 2000; für die Niederlande Malsch 2004). Dadurch scheinen vor allem frühzeitige Interventionen erleichtert zu werden, also ein Einschreiten, bevor es zu einer schwerwiegenden Eskalation kommt. Der direkte strafrechtliche Effekt spielt dagegen eine offenbar deutlich geringere Rolle. Aus England und Wales wird berichtet, dass das dortige Antistalkinggesetz zu einem Gutteil bei leichteren Formen der Belästigung nach einer Trennung und bei Nachbarschaftsstreitigkeiten herangezogen wurde (Harris 2000). In einer US-amerikanischen Opferbefragung gab lediglich ein Prozent der Opfer an, deren Fall bereits beendet war, an, dass eine strafrechtliche Verurteilung den Stalker gestoppt hatte (Tjaden u. Thoennes 1998b). Zugleich nannten 15% der Betroffenen eine Verwarnung der Polizei als den entscheidenden Punkt für ein Ende der Belästigungen und Verfolgungen. Die Erfahrung, dass ein entschlossenes polizeiliches Eingreifen für ein erfolgreiches Fallmanagement prinzipiell wichtiger erscheint als eine strafrechtliche Verurteilung konnte auch in Befragungen deutscher und britischer Stalkingopfer bestätigt werden (Hoffmann et al. 2004). Nicht zuletzt wegen der offenbar mangelnden direkten Wirksamkeit spricht Albrecht (2005) strafrechtlichen Antistalkinggesetzen vor allem eine symbolische Wirkung zu, die vor allem einer Verstärkung des Sicherheitsgefühls in der Bevölkerung dient. Ebenso muss davor gewarnt werden, zuviel Hoffnung in ein Stalkingbekämpfungsgesetz zu setzen. Dies ist lediglich ein Instrument neben anderen im Umgang mit Stalking, das von eine qualifizierten Opferberatung begleitet werden muss (Hoffmann u. Wondrak 2005a).
Opferberatungsstellen Für viele Betroffene liegt die Hemmschwelle, bei einer Opferberatungsstelle Hilfe zu suchen, niedriger als bei der Polizei. Zudem machen Opfer nicht selten die Erfahrung, dass für ihr Problem nur wenige zeitliche und personelle Ressourcen auf den Polizeirevieren vorhanden ist und dass dort zudem spezifisches Fachwissen zum Thema Stalking wie gesagt nicht immer in ausreichendem Maß besteht. Opferhilfestellen sind oftmals die einzigen Einrichtungen,
161 10.2 · Grundregeln für den Umgang mit Stalking
die Betroffene auch über einen längeren Zeitraum begleiten. Sie bieten häufig kontinuierliche Beratungs- und Unterstützungsangebote an, was sich gerade in einer schwierigen Lebensphase, die durch die Viktimisierung durch Stalking und vielleicht außerdem noch durch physische Gewalt gekennzeichnet ist, als wesentlich für das emotionale Überleben erweisen kann. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in derartigen Institutionen verfügen oft über eine beträchtliche Erfahrung mit bestimmten Opfergruppen, wie zum Beispiel Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Kombiniert mit Fachwissen über Stalking kann hier eine sehr spezifische, zielgenau auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtete Beratung erfolgen.
Selbsthilfegruppen In ihrer möglichen Dynamik sind Selbsthilfegruppen aus psychotraumatologischer Sicht als zwiespältig zu sehen. Potenziell problematisch ist, dass sich derartige Gruppen über den Status des Opfers konstituieren. Die andauernde Beschäftigung mit den belastenden Ereignissen kann eine Vertiefung der traumatisierenden Wirkung mit sich bringen, da eine Rückkehr zur Normalität und eine notwendige innere Entfernung von dem Trauma erschwert werden kann (Fischer 2003). Außerdem ist von Zeit zu Zeit zu beobachten, dass eine solche Gruppe von einem gegenwärtigen oder früheren Stalkingopfer geleitet wird, welches eventuell dazu neigt, die eigenen Erfahrungen anderen Betroffenen quasi »überzustülpen«, – und somit nur ein eingeschränkter Spielraum für den Ausdruck von individuellen Erfahrungen besteht. Gelegentlich werden deshalb sog. angeleitete Selbsthilfegruppen als bessere Alternative genannt, bei denen eine außen stehende Person mit entsprechender Fachkompetenz die Treffen betreut. Außerdem wird empfohlen, dass in solchen Gruppen weniger die psychischen Belastungen thematisiert werden, sondern stattdessen praktische gegenseitige Hilfe und der sachliche Informationsaustausch im Vordergrund stehen (Fischer 2003).
10.2
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Grundregeln für den Umgang mit Stalking
Zwar ist jeder Fall individuell zu betrachten und angebliche Patentrezepte für den Umgang mit Stalking schaden oft mehr als sie nutzen, dennoch lassen sich einige Grundregeln ausmachen, die nahezu allen Stalkingopfern behilflich sein können (Hoffmann 2002b). Diese Maßnahmen stellen sozusagen die Grundlage dar, auf die einzelfallspezifische Strategien folgen sollten.
Konsequente Kontaktvermeidung mit dem Stalker Diese Regel ist mittel- und langfristig eine der effektivsten Maßnahmen und zugleich eine der am schwierigsten umsetzbaren. Es gilt, dem Stalker gegenüber einmal eine eindeutige Aussage zu treffen, dass man keinen weiteren Kontakt mehr wünscht, und dann nicht mehr zu reagieren. Jede darauf folgende vermeintliche letzte Aussprache, jede wütende Reaktion auf den wiederholten nächtlichen Anruf bewirkt genau das Gegenteil des Gewünschten und verlängert tendenziell die ungebetenen Kontaktund Annäherungsversuche. Für den Stalker ist es besser, negativ als überhaupt nicht wahrgenommen zu werden, weshalb auch aggressive Reaktionen wie Beschimpfungen eher dazu betragen, das Stalkingverhalten zu stabilisieren. Gerade in Fällen von Stalking durch Expartner oder falls es gemeinsame Kinder gibt, ist ein konsequenter Kontaktabbruch gelegentlich schwer durchzuhalten. Mitgefühl mit dem früheren Lebensgefährten und die Hoffnung, nach Monaten oder sogar Jahren des Getrenntseins ein neues, entspanntes Miteinander zu finden, haben nicht selten zu einem Aufflammen der obsessiven Belästigung und Verfolgung geführt. Gerade ein Auseinandergehen, das durch wiederholte Trennungen und Versöhnungen geprägt ist, birgt ein besonderes Eskalationspotenzial in sich bis hin zu Gewalttätigkeiten. Es hat sich als essenziell erwiesen, dass Stalkingbetroffene die Notwendigkeit einer fortwährenden Kontaktvermeidung begreifen und umzusetzen versuchen, mag es ihnen am Anfang vielleicht auch nicht immer in letzter Konsequenz gelingen. Opfern, die den Schritt des strikten Abbruchs jedwe-
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Kapitel 10 · Management
der direkten Kommunikation nicht gehen möchten, ist nur schwer zu helfen; ein wirksames Fallmanagement ist in solchen Fällen schlichtweg oft nicht möglich. In diesem Zusammenhang ist bei Stalking von dem Mittel des »Täter-Opfer-Ausgleiches« unbedingt abzuraten. Die Idee dieses Konzepts ist es, dass sich unter Leitung eines professionellen Vermittlers Täter und Opfer persönlich gegenübertreten, um eine Wiedergutmachung und den weiteren Umgang miteinander zu vereinbaren. In Deutschland gab es unglücklicherweise bereits erste Versuche, dieses Verfahren auch bei Fällen von Stalking anzuwenden. Dies funktionierte so gut wie nie, denn jeder direkte Kontakt zwischen einem Stalker und seinem Opfer nährt in aller Regel die Obsession des Verfolgers und führt eher zu einer Verlängerung des Vorfalls (Hoffmann 2003c).
Sich »unsichtbar« machen
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Dieser Punkt stellt sozusagen die Fortsetzung der ersten Verhaltensregel dar. Es ist nicht nur sinnvoll, auf den Stalker nicht mehr zu reagieren, sondern es sollten aktiv Situationen gemieden werden, in denen es zu einem Zusammentreffen kommen kann. Hier spielt die Zeit langfristig für das Opfer, denn jeder Tag, jede Woche, jeder Monat, in dem es zu keiner Begegnung kommt, erhöht die Chance, dass das Stalking ein Ende findet. Handelt es sich bei dem Stalker um eine Person aus dem sozialen Umfeld oder gar um einen früheren Partner, kann das »Unsichtbar machen« erhebliche Einschränkungen im Privatleben mit sich bringen. Bestimmte Kneipen und Restaurants können nicht mehr aufgesucht werden, Aktivitäten und soziale Kontakte in Sportvereinen und Bekanntenkreisen werden unterbrochen. Viele Betroffene empfinden es nachvollziehbarerweise als ungerecht, wenn sie ihr Leben ändern und Einschnitte hinnehmen müssen, sind sie doch die Opfer und der Stalker der »Täter«. Doch bedauerlicherweise ist die Viktimisierung durch obsessive Verfolgung keine gerechte, sondern per se eine ungerechte Angelegenheit. Die Betroffenen müssen sich oftmals zwischen wenig erfreulichen Alternativen entscheiden, nämlich entweder dem Stalker weiter zu begegnen (und damit in der Regel auch fort-
während bedrängt zu werden) oder sich in bestimmten Bereichen aus lieb gewordenen sozialen Gemeinschaften zurückzuziehen.
Dokumentation Hierbei gilt es, alle Stalkingvorfälle detailliert zu dokumentieren. Das bedeutet zum einen, jedwede Kommunikation des Stalkers aufzubewahren. Briefe sollten so eingepackt werden, dass etwaige Fingerabdrücke erhalten bleiben, E-Mails auf der Festplatte gesichert und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter gespeichert oder auf ein anderes Medium überspielt werden. Eine solche Aufgabe ist für Betroffene nicht immer leicht zu bewältigen. Denn häufig löst alleine die Stimme des Stalkers auf dem Band eine solche Angst oder Wut aus, dass der Impuls stark ist, die Löschentaste zu drücken. Oder die Handschrift auf dem Umschlag eines Briefes des Belästigers lässt bei dem Opfer den dringenden Wunsch entstehen, das Schreiben zu zerknüllen und in den Papierkorb zu werfen. Auch um die psychische Belastung durch die Konfrontation mit den Kontaktversuchen abzumildern, kann überlegt werden, ob nicht der Partner, ein Freund oder Nachbar des Opfers die Nachrichten durchsieht und archiviert. Eine weitere sinnvolle Maßnahme ist es, eine Art Stalkingtagebuch anzulegen. Darin sollte jeder Vorfall, jedes Auflauern und Verfolgen, jede Kommunikation genau mit Datum, Uhrzeit, Ort und etwaigen Zeugen aufgeschrieben werden. Weshalb ist die Dokumentation des Geschehens so wichtig, stellt sie doch oft eine nicht unbeträchtliche Belastung für die Opfer dar? Vor allem für den Erfolg eines juristischen Vorgehens oder einer Strafanzeige sind handfeste Belege ein großer Vorteil, aber auch für eine Bedrohungsanalyse durch einen Stalkingexperten ist es günstig, wenn eine genaue Dokumentation die Dynamik des Geschehens im Längsschnitt abbildet.
Bekanntmachen des Stalkingvorfalls Einige Opfer schämen sich für das Stalking, gerade wenn es der Expartner ist, vom dem die andauernden Kontaktversuche und Belästigungen ausgehen. Es ist
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dennoch zumeist vorteilhaft, offensiv mit dem Vorfall umzugehen, sowohl im privaten Umfeld als auch am Arbeitsplatz. Damit soll nicht bestritten werden, dass dort gelegentlich eine verständnisvolle Reaktion ausbleibt oder vielleicht sogar mit Ablehnung reagiert wird. Doch ist die »Flucht nach vorne« vielleicht nicht immer, sicherlich aber in den meisten Fällen das Mittel der Wahl, und dies gleich aus mehreren Gründen. Zum Beispiel können Betroffene ihr Umfeld bitten, ihnen mitzuteilen, wenn der Stalker irgendwo in Erscheinung tritt, sodass sie ein kompletteres Bild über die Aktivitäten ihres Verfolgers gewinnen. Des Weiteren ist es somit möglich, den Stalker daran zu hindern, Informationen über das Opfer zu erhalten, indem er beispielsweise unter einem Vorwand bei Arbeitskollegen oder Bekannten den Aufenthaltsort seines Objektes der Fixierung zu erfragen versucht. Nicht zu unterschätzen ist schließlich das Phänomen, dass manche Stalker beträchtliche Anstrengungen unternehmen, ihr Opfer zu verleumden, und dies durchaus regelmäßig mit einer gehörigen Portion an List und Heimtücke. So fanden sich Betroffene etwa bereits in der unangenehmen Lage, bei ihrem Arbeitgeber diffamiert, bei Behörden angezeigt oder sogar selbst zum Stalker erklärt zu werden. Es gelang dabei nicht immer leicht aufzuklären, was tatsächlich vor sich ging und wer das eigentliche Opfer war. Es ist deshalb besser, wenn Opfer ihr Umfeld früh aufklären, dass sie verfolgt und belästigt werden; destruktive Aktivitäten des Stalkers wie Rufschädigung laufen dann eher ins Leere.
Suche nach Unterstützung Opfer von Stalking zu sein bringt nicht automatisch, aber doch in vielen Fällen eine beträchtlich seelische Belastung mit sich. Manche Betroffene versuchen das Erlebte mit sich alleine auszumachen, sei es, dass sie es von ihrem Selbstbild her kritisch sehen andere heranzuziehen oder in ihren Augen über Gebühr zu beanspruchen, oder weil sie sich dafür schämen Opfer zu sein, gerade wenn eine Vorbeziehung mit dem Stalker bestand oder sie sich gar selbst die Schuld für das Geschehen geben. Die Traumaforschung hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass das Reden über belastende Ereignisse eine wichtige Rolle für die Verarbeitung spielt und somit einen gewis-
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sen Schutz vor psychischen Langzeitfolgen bietet. Betroffene sollten sich deshalb mit Freunden, ihrer Familie oder anderen nahestehenden Personen über das Erlebte austauschen. Bei schweren psychischen Auswirkungen erweist es sich zudem oft als sinnvoll, therapeutische Hilfe heranzuziehen, um Entlastung zu finden und um eine Chronifizierung einer eventuellen Belastungssymptomatik zu verhindern. Auch ist eine kompetente Fachberatung zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu empfehlen, da Interventionsmaßnahmen und das richtige Verhalten im Umgang mit dem Stalker um so besser wirken, je weniger der Verfolger emotional in die obsessive Beziehung investiert hat (de Becker 1999).
10.3
Individuelles Fallmanagement
Da Stalking seinem Wesen nach zumeist ein dynamisches und hochkomplexes Geschehen ist, erfordert jeder Einzelfall eine spezifische Analyse und ein individuelles Krisenmanagement (Hoffmann 2002b). Dabei ist eine Vielzahl von Aspekten zu beachten: 4 Als wie gefährlich ist der Stalker momentan einzustufen? 4 Gibt es soziale Berührungspunkte zwischen dem Betroffenen und seinem Verfolger? 4 Wie stark ist das Opfer psychisch belastet, und ist deshalb möglicherweise eine sofortige Intervention vonnöten? Natürlich stellen sich noch viele weitere Fragen, und auch jeder Fall birgt bestimmte Spezifika in sich, denen man zuvor noch nie begegnet ist. Wichtig ist es, dass sich Berater und Opfer über die Ziele des Managements verständigen. Dabei muss immer genau diskutiert werden, welche Dinge erreicht werden können und welche Hoffnungen leider unrealistisch sind. Den oft geäußerten Wunsch, dass Verfolgung und Belästigung sofort aufhören sollen, muss der Berater in der Regel enttäuschen. Stattdessen gilt es dem Opfer zu verdeutlichen, dass eine Zeitspanne von Wochen, vermutlich aber sogar von Monaten oder in seltenen Fällen Jahren veranschlagt werden muss, bis das Stalking endet. Auch ist es wichtig zu erörtern, welche Ziele sich bei näherer Betrachtung als wirklich sinnvoll erwei-
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Kapitel 10 · Management
sen. Sollte beispielsweise mit aller Macht der Versuch unternommen werden, den Stalker vom Schreiben weiterer Briefe abzuhalten? Oftmals weist das Opfer Zuschriften seines Verfolgers als unerwünscht zurück oder schickt sie sogar ungeöffnet an den Absender zurück. Daraus entwickelt sich nicht selten eine Art Pingpongspiel, und der Stalker versucht seine Nachricht erneut, aber diesmal auf einem anderen Weg zu überbringen. Tatsächlich ist schließlich das Gegenteil des Gewünschten eingetreten: Das Stalking hat sich auf noch höherem Niveau stabilisiert und die Belästigungen sind vielleicht sogar noch größer geworden. Auch bleibt zu fragen, ob es in letzter Konsequenz erstrebenswert ist, dass keinerlei Schreiben mehr eintreffen. Liefert der Verfolger doch hiermit regelmäßig eine Art »Wasserstandsmeldung« über seinen inneren Zustand ab, eine Informationsquelle aus erster Hand, die Rückschlüsse auf das weitere Geschehen und auf mögliche bevorstehende Eskalationen zulässt. Es muss immer genau herausgearbeitet werden, welche Interventionsstrategien für welches Ziel eingesetzt werden sollen. Mullen und McKenzie (2004) haben 4 Kernbereiche ausgemacht, auf die ein zweckmäßiges Fallmanagement abzielt. Dabei sollten folgende negative Entwicklungen abgewendet werden: 4 Der Fall eskaliert in physischer oder sexueller Gewalt. 4 Das Stalking setzt sich dauerhaft fort. 4 Das Stalking hört nur vorübergehend auf und setzt anschließend wieder ein. 4 Das Opfer erleidet psychische Schäden oder erfährt soziale Beeinträchtigungen. Es ist also zumeist notwenig, beim Fallmanagement nicht nur eines, sondern mehrere Ziele im Auge zu behalten. Ein strukturiertes Vorgehen scheint vorteilhaft, wobei sich die 3 Phasen Informationserhebung, Fallbewertung und Entwicklung von Managementstrategien voneinander unterscheiden lassen. Dies ist jedoch nicht als starres Schema zu verstehen, das zu einem einmaligen Endergebnis führt. Gibt es neue Entwicklungen und Dynamiken, dann sollte der Prozess erneut durchlaufen werden, bis der Stalkingfall zu einem für das Opfer befriedigenden Ende gekommen ist.
Informationserhebung Die meisten Informationen lassen sich in der Regel im Gespräch mit dem Opfer gewinnen. Dabei ist es ein bewährtes Verfahren, die Betroffenen zunächst zu bitten, das Geschehene frei und in chronologischer Reihenfolge zu berichten. Fragen sollten überlegt gestellt werden, wobei der Schwerpunkt auf der Handlungsebene liegen sollte, also der Frage, wer hat konkret was, wann getan oder gesagt. Dadurch ist es am ehesten möglich, ein objektives Bild des Falles zu erhalten. Nicht selten führen emotional beeinflusste Schilderungen, die etwa durch Wut oder Angst geprägt sind, zu einem undeutlichen Eindruck beim Zuhörer. Auch gilt es Unschärfen aufzuklären. Hinter der Formulierung »Sie hat mich bedroht« kann sich beispielsweise so Unterschiedliches verbergen wie eine direkte Morddrohung oder die Ankündigung, über den anderen unangenehme Details zu verbreiten. Aus der kriminologisch-kriminalitischen Methode der Fallanalyse entlehnt, erweist es sich auch bei der Einschätzung von Stalkingfällen als hilfreich, zunächst eine sequenzielle Rekonstruktion des Verhaltens der beteiligten Protagonisten anzustreben (Dern 2000). Daraus lassen sich die Dynamiken des Falles oftmals gut herauslesen, etwa ob es eine Steigerung mit zunehmender Eskalation gegeben hat, ob die Verhaltensmuster des Stalkers relativ stabil sind oder ob Reaktionen des Opfers unbeabsichtigt zu einer Stabilisierung des Stalkings beigetragen haben. Es hat sich zudem bewährt, direkte Dokumente des Stalkings – falls vorhanden – auszuwerten. Betroffene sollten deshalb gebeten werden, Briefe des Verfolgers, SMS, EMails, Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und ähnliches für die Analyse zur Verfügung zu stellen. Doch ist es nicht ausreichend, sich auf die Erhebung der unmittelbaren Fakten des Stalkings zu beschränken. Kontextfaktoren sollten abgefragt werden, wie beispielsweise ob (und wenn ja, welche) Berührungspunkte im Alltag mit dem Stalker bestehen, etwa durch gemeinsame Kinder oder einen gemeinsamen Freundeskreis, da solche Faktoren das Stalking wieder entflammen lassen können. Weitere relevante Punkte sind die Fragen, wie hoch die psychische Belastung durch die fortwährende Belästigung ist oder über welche sozialen und finanziellen Ressourcen das Opfer verfügt, um sich in kritischen Phasen in Sicherheit vor dem Stalker zu bringen.
165 10.3 · Individuelles Fallmanagment
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Bewertung
Praktisches Vorgehen
Auf der Basis der möglichst objektiven Informationslage sollte in einem nächsten Schritt eine Bewertung des Falles hinsichtlich mehrerer Faktoren vorgenommen werden. Zunächst ist ein wesentliches Augenmerk auf die Person des Stalkers zu richten. Beispielsweise bieten typologische Systeme, wie etwa das von Sheridan oder von der Forschergruppe um Mullen (7 Kap. 5), einen guten ersten Anhaltspunkt, den Verfolger psychologisch einzuschätzen. Weitere zu klärende Aspekte im Hinblick auf den Stalker betreffen psychiatrische Auffälligkeiten oder gar Erkrankungen oder Hinweise, die eine Einschätzung des Gewaltpotenzials erleichtern. Unbedingt sollte die Geschichte der Interaktion zwischen dem Betroffenen und dem Verfolger bewertet werden. Gelegentlich lässt sich eine wechselseitige Kommunikation ausmachen, die das Stalking regelrecht zementiert. Auch der psychosoziale Belastungsgrad des Opfers ist wesentlich zu berücksichtigen, vor allem dahingehend, ob überhaupt noch Handlungsspielraum im Umgang mit dem Stalker besteht oder ob es zunächst um die Abfederung der psychischen Folgen des Betroffenen gehen muss. Wie ein Fall einzuschätzen ist, ist auch immer von den konkreten lokalen Unterstützungsressourcen abhängig. Gibt es Polizeibeamte, die über Stalking informiert sind und die sich zudem auch willens zeigen, dem Verfolger offensiv und über einen längeren Zeitraum hinweg gegenüberzutreten? Sind Opferberatungsstellen erreichbar, die eine kontinuierliche Fallbegleitung, etwa bei Gerichtsverfahren, anbieten können? Beim Einschätzen eines Stalkingfalls sollte zudem immer der Blick in die Zukunft gerichtet werden. Existieren Risikokonstellationen, die möglicherweise eine Kränkung oder Zurückweisung des Stalkers in sich bergen, etwa ein abweisender Gerichtsbescheid beim Sorgerecht oder ein neuer Partner, der in das Leben des Opfers tritt? Diese »dramatic moments« (Meloy 1997) gelten als die Punkte mit einer der höchsten Gefährdungsraten. So ist eventuell nach der Analyse des Falles in bestimmten Zeitfenstern ein besonderes Schutzkonzept für das Opfer besonders wichtig.
Die Ausarbeitung von Managementstrategien muss immer in enger Kooperation mit dem Betroffenen geschehen. Hierbei ist ein pragmatisches Vorgehen anzustreben, das die Wünsche und den Leidensdruck des Opfers berücksichtigt und zugleich die Möglichkeiten des Machbaren auslotet. Zunächst sollte die Palette denkbarer Maßnahmen durchgegangen werden, wobei immer der Weg offen stehen sollte, dass in dem konkreten Fall ein individuelles, bisher noch nicht bekanntes Vorgehen Berücksichtigung findet. In nicht wenigen Fällen ist eine individuelle Verhaltensberatung des Opfers erstaunlich hilfreich, wie auf Kontaktversuche und Annäherungsversuche seitens des Stalkers reagiert werden sollte. Grundsätzlich ist zu überlegen, ob zunächst ein offensives oder ein defensives Fallmanagement sinnvoll erscheint. Bei der ersten Variante steht man sozusagen mit dem Stalker »im Ring«, denn für ihn ist ersichtlich, dass gegen ihn vorgegangen wird. Man führt hier fast zwangsweise einen gewissen Eskalationslevel ein, von dem nicht so schnell wieder zurückgetreten werden kann. Bei der defensiven Strategie, bei der das Fallmanagement unbemerkt vom Stalker durchgeführt wird, ist zu prüfen, ob es erfolgversprechend erscheint, den Stalker quasi ins Leere laufen zu lassen, bis er sich vermutlich abwendet. Auf der anderen Seite kann hier auch unnötig Zeit verloren werden, wenn es später doch zu offensiven Maßnahmen kommt. Für die Entscheidung, ob eine offensive oder eine defensive Strategie gefahren wird, gibt es kein Patentrezept, sondern die Ausrichtung im Fallmanagement muss immer aus der Einzelfalleinschätzung abgleitet werden. Wie eingangs erwähnt ist es häufig von Vorteil, Vertreter verschiedener Berufsgruppen zu konsultieren. Beispielsweise kann der Rechtsanwalt einschätzen, ob es juristische Vorgehensweisen gibt, die mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg zu zeitnahen und empfindlichen Konsequenzen für den Stalker führen; der Sozialarbeiter beim sozialpsychiatrischen Dienst ist in der Lage, Auskunft zu geben über die notwendigen Vorraussetzungen für eine Einweisung oder Zwangsbetreuung und unterstützt gegebenenfalls diesen Schritt. Aufgeklärt über das Wesen von obsessiver Verfolgung und Belästigung können
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Kapitel 10 · Management
Betriebsrat und Arbeitgeber Druck auf den Mitarbeiter ausüben, der eine Kollegin stalkt, dass er seine Handlungen einstellt und sich in Therapie begibt. Die Polizei bietet als Dienstleistung eine Beratung an, mit welchen Mitteln eine Wohnung besser vor einem möglichen Eindringling geschützt werden kann, oder sie verstärkt ihre Streifentätigkeit am Haus des Opfers. Schließlich ist es für ein erfolgreiches Fallmanagement nicht selten wichtig, den Kontakt und die Kommunikation zwischen den beteiligten Protagonisten anzuregen, zu begleiten und die einzelnen Maßnahmen miteinander zu koordinieren. Für die Unterstützung von Stalkingbetroffenen ist gelegentlich ein langer Atem vonnöten. Wenn sich die Fälle hinziehen und immer wieder Rückschläge zu verzeichnen sind, ist es auch für die Helfer häufig schwer, sich nicht zu sehr frustrieren zu lassen und das das Engagement für ein Zurückdrängen des Stalkings mit ausreichender Energie fortzusetzen. Laut de Becker (1999), einem der Pioniere im Management obsessiver Belästigungen, ist es Beharrlichkeit, die als Strategie den Kern des Stalkings bildet. Doch Beharrlichkeit funktioniert auch als Gegenstrategie. Wenn eine Maßnahme keinen Erfolg zeigt, sollte man nicht aufgeben, sondern eine neue Managementstrategie ausprobieren. Schon viele Stalkigfälle, die am Anfang schwer zu beenden schienen, konnten nicht zuletzt durch Ausdauer und Konsequenz des Opfers und seiner Helfer zu einem guten Ende gebracht werden.
10.4
Besonderheiten beim Prominentenstalking
Das Stalking von »normalen« und von prominenten Personen sind zwar verwandte, nicht aber identische Phänomene, weshalb sie zumeist auch eines unterschiedlichen Managements bedürfen. Gerade für die Gruppe der bekannten Persönlichkeiten ist die Frage der Prävention von zentraler Bedeutung. Wie der Prominente und sein Umfeld mit Fankontakten umgehen, wie auf ungewöhnliche und vielleicht sogar auffällige Kommunikationsversuche reagiert wird, entscheidet darüber, ob ein Einfallstor für Stalker vorhanden ist oder nicht. Stalker suchen bei den Stars Identität und Größe, die sie in sich selbst nicht
finden können. Erfolgt ein direkter oder indirekter Kontakt in einer Form, die dieses Bedürfnis befriedigt, ist dies nicht selten der Beginn einer einseitigen obsessiven Beziehung. So werden immer häufiger Sicherheitsexperten benötigt, die wie Gavin de Becker und sein Team in den USA oder das Antistalkingnetzwerk in Deutschland, dem auch der Autor angehört, Personen des öffentlichen Lebens und ihre Mitarbeiter dahingehend schulen und beraten, wie sie sich vor Stalkern schützen können. Vor einiger Zeit entwickelte der Autor zusammen mit L. Sheridan ein Konzept für den Umgang mit Stalkern und obsessiven Charakteren, die auf Prominente, Unternehmer und Politiker fixiert sind, das mittlerweile bei mehreren Konzernen, Fernsehsendern und Schauspielagenturen Anwendung findet (Hoffmann u. Sheridan 2005). Es enthält folgende Stufen: 4 Screening, 4 psychologische Analyse, 4 passive und aktive Informationsrecherche, 4 Entwicklung individueller Strategien. Screening. Ziel des Screenings ist es, ungewöhnliche Kontaktversuche und Annäherungen wahrzunehmen und zu bewerten, ob die Gefahr einer potenziellen Eskalation besteht. Hierfür werden u. a. speziell geschulten Mitarbeitern, etwa in Sekretariaten, Checklisten an die Hand gegeben, um eingehende Briefe, E-Mails, Anrufe und Ähnliches zu filtern und ggf. weiterzumelden. Diese Listen werden nach dem fortlaufenden Forschungsstand und Erfahrungswissen periodisch aktualisiert. Beim Screening ist von Bedeutung, dass auch kontraintuitive Risikofaktoren bestehen, wie beispielsweise der Ausdruck einer überbordenden, fanatischen Liebesbeziehung mit dem Prominenten. Psychologische Analyse. Treten auffällige Schrei-
ben oder andere Kontakt- oder Näherungsversuche auf, dann werden sie einer weitergehenden Analyse durch Experten unterzogen. Dabei wird meist ein psychologisches Profil erstellt. In dessen Rahmen finden besondere Aspekte Berücksichtigung, wie etwa das Motiv für den Kontakt, statische und dynamische Risikofaktoren, psychiatrische Auffälligkeiten oder die Schwere und Form der Fixierung auf den Prominenten.
167 10.4 · Besonderheiten beim Prominentenstalking
Passive Informationsrecherche. Bestätigt sich die psychologische Analyse, dass von dem Stalker oder obsessiven Kontaktsucher möglicherweise problematische Verhaltensweisen zu erwarten sind, werden wenn möglich weitere Informationen herangezogen, um ein genaueres Bild zu erhalten. Der Ausdruck passive Recherche bedeutet, dass der Stalker nicht mitbekommt, dass er wahrgenommen wird, denn alleine diese Tatsache könnte seine Fixierung verstärken. Mögliche Informationsquellen, die herangezogen werden können, bilden etwa das Internet, der Prominente selbst oder Personen aus seinem Umfeld, die bereits direkten Kontakt mit dem Stalker hatten. Aktive Informationsrecherche. Dies ist ein sehr
heikler Schritt, der zuvor genau geprüft werden sollte, denn hier besteht die Gefahr, dass der Stalker ein solches Vorgehen bemerkt, was wie bereits ausgeführt zu einer Verschärfung der Lage führen kann. Bei der aktiven Recherche werden der Stalker selbst oder ihm nahestehende Personen wie Familienmitglieder, Nachbarn oder Arbeitskollegen direkt angesprochen. Dies kann auf offene Art geschehen oder auch verdeckt. Bei verdeckter Recherche sollte der Stalker nicht mitbekommen, dass er im Zusammenhang mit seinen Kontaktversuchen ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten ist. Ziel dieser nicht unriskanten Maßnahme ist es, an Informationen zu kommen, die auf anderem Wege kaum zu erhalten sind. Dies betrifft etwa sog. attentatsbezogene Verhaltensweisen, wie das Auskundschaften eines möglichen Angriffsorts oder die Ankündigung im Umfeld, dass bald etwas Großes geschehen werde. Entwicklung individueller Managementstrategien. Wie schon beim generellen Stalking gilt es hier,
ein individuelles Fallmanagement zu entwickeln und umzusetzen. Mögliche Strategien sind beispielsweise Verhaltensinstruktionen an den Prominenten oder sein Umfeld; oder es ist eine Zusammenarbeit mit der Polizei, psychiatrischen Diensten oder der Familie des Stalkers in Erwägung zu ziehen. Fallmanagement ist seinem Wesen nach ein dynamisches Geschehen. Wenn der Prominentenstalker ein neuartiges Verhalten zeigt, dann ist eine weitere psychologische Bewertung vonnöten; wenn bestimmte Managementstrategien nicht greifen, dann
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müssen weitere entwickelt werden. Es findet ein fortlaufender Prozess zwischen Analyse und Intervention statt, bis die akute Eskalationsgefahr gebannt ist oder sich ein praktikabler Umgang mit dem Stalker etabliert hat.
11 Gewaltanwendung und Gewalterfahrung
11.1 Häufigkeit von Gewalt – 170 11.2 Tödliche Gewalt – 172 11.3 Ziele von Stalkinggewalt – 174 11.4 Vorhersagefaktoren der Gewalt – 176 11.5 Wirkmechanismen der Gewalt – 178
Die wissenschaftliche, polizeiliche oder politische Auseinandersetzung mit Stalking begann nicht selten als Reaktion auf konkrete Akte der Gewalt. Geradezu prototypisch hierfür ist der bereits erwähnte Fall der durch einen früheren Fan erschossenen USSchauspielerin Rebecca Schaeffer im Jahr 1989. Als außerdem im darauffolgenden Jahr in Kalifornien innerhalb von 6 Wochen 4 Frauen ermordet wurden, die zuvor von ihren Expartnern verfolgt und bedroht worden waren, setzte in den USA ein gesellschaftliches Umdenken im Umgang mit Stalking ein. In Australien erwies sich eine Tat im persönlichen Umfeld eines Politikers als ausschlaggebend. Die Mitarbeiterin eines Staatssenators war von ihrem Exehemann zunächst gestalkt und schließlich getötet worden; der Vorfall initiierte eine spezielle Antistalkinggesetzgebung. In Bremen, das als erstes Bundesland in Deutschland behördlich auf das Phänomen des Stalkings reagierte, führten u. a. Medienberichte über eine Bürgerin, die von einer Stalkerin schwer verletzt wurde, zu dieser Entwicklung.
Ein großer, aber leider häufig zu beobachtender Fehler ist es jedoch, Stalking vorschnell mit physischer Gewalt gleichzusetzen. Die Reduzierung obsessiver Verfolgung auf einige wenige spektakuläre Gewalttaten, wie dies regelmäßig in den Massenmedien geschieht, hat klare negative Konsequenzen. Denn letztlich impliziert eine solche Verkürzung, dass wiederholte Belästigungen und Verfolgungen nur dann als »richtiges« Stalking anerkannt werden, wenn auch physische Attacken auftreten. Es gab sogar bereits Fälle, in denen Betroffenen institutionelle Unterstützung nicht gegeben wurde mit der Begründung, dass sie keine Gewalt erfahren hätten und deshalb auch keine echten Stalkingopfer seien. Diese grundlegende Fehleinschätzung kann sich außerdem auf die Selbstwahrnehmung der Betroffenen auswirken. Immer wieder schätzen Personen, die dauerhafter Verfolgung ausgesetzt sind, ihre objektiv vorhandene Belastung als nicht gewichtig genug ein, um Hilfe zu suchen, wenn sie nicht zugleich Opfer eines körperlichen Angriffs wurden.
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Kapitel 11 · Gewaltanwendung und Gewalterfahrung
Ein weiteres Problem der Formel »Stalking = körperliche Gewalt« stellt die damit letztlich einhergehende Herabwürdigung der psychischen Auswirkungen obsessiver Belästigung dar. Mehrere Studien (z. B. Kamphuis u. Emmelkamp 2001; Hoffmann et al. 2004) zeigten, dass in schweren Fällen Stalking ähnlich verheerende posttraumatische Konsequenzen für die Betroffenen haben kann wie Opfer eines folgenschweren Unfalls, einer Naturkatastrophe oder eines Gewaltverbrechens zu werden. Die seelischen Verletzungen sind oftmals beträchtlich und bedürfen zur Legitimation nicht erst einer physischen Schädigung. In diesem Zusammenhang soll noch einmal betont werden, dass keine einzige wissenschaftliche Begriffsbestimmung existiert, in der Gewalttätigkeit als definitorische Voraussetzung zur Feststellung von Stalking gesehen wird. Vielmehr gelten physische Übergriffe als eine mögliche, aber nicht zwingend auftretende Eskalationsstufe des Phänomens. Auch in juristischen Festlegungen, die sich stärker an deutlich delinquentem Verhalten orientieren müssen, sind Gewaltakte nicht explizit zur Feststellung des Tatbestandes erforderlich; vielmehr ist dort gelegentlich von einer notwendigen ausgesprochenen Drohung seitens des Täters die Rede oder einem berechtigten Gefühl des Opfers, bedroht zu sein. Es herrscht bei Fachleuten allerdings Konsens darüber, dass Gewalt bei Stalkingvorfällen besorgniserregend häufig auftritt – in welchem Ausmaß genau, ist jedoch noch Gegenstand der Diskussion. Zwar gibt es mittlerweile einige wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Fragestellung, aber auch sie ermöglichen es bislang nicht, eine Grundwahrscheinlichkeit in stabile Zahlen zu fassen. Die Gründe für die quantitative Unschärfe liegen in unterschiedlichen Designs der Studien und in den variierenden Definitionen erfasster Gewalt. So reicht die Spannbreite in den verschiedenen Forschungsarbeiten von Sachbeschädigungen über leichte physische Handgreiflichkeiten wie etwa Ohrfeigen bis hin zu schweren Körperverletzung und Mord. Des Weiteren hatte die unterschiedliche Stichprobenzusammensetzung der Studien großen Einfluss: In den Ergebnissen schlug sich deutlich nieder, ob die Probanden etwa aus dem dem Gefängnis oder aber aus der Normalbevölkerung rekrutiert wurden.
Im Folgenden wird eine Übersicht über verschiedene Populationen von Stalkern gegeben, in denen Gewalttätigkeit gemessen wurde.
11.1
Häufigkeit von Gewalt
Bei der wissenschaftlichen Erforschung physischer Aggression von Stalkern, die in der ersten Hälfte der 90er-Jahre einsetzte, zeigte sich eine erstaunliche Spannbreite. Der Anteil gewalttätiger Stalker reichte hier von einer so geringen Zahl wie knapp 3% bis hinauf zu mehr als 3 Vierteln aller Täter (vgl. auch die Übersichten von Meloy 2002a und James u. Farnham 2002). Die Mehrzahl der Ergebnisse bewegt sich im Bereich zwischen 30 und 50%. Am unteren Ende des Spektrums befinden sich Fälle mit prominenten Opfern. Hier ist vor allem die Studie der Threat Management Unit der Polizei von Los Angeles zu nennen (Zona et al. 1993), die als eine der grundlegenden Pionierarbeiten der Stalkingforschung gilt (7 Kap. 5). Der Großteil der untersuchten Vorfälle bezog sich auf die in Hollywood lebenden Stars der Filmindustrie. In lediglich 2 von 74 Fällen traten dabei Gewalttätigkeiten auf, und selbst diese beiden stammten aus einer Untergruppe, die vermutlich nicht zur Prominentenszene gehörte, da Täter und Opfer hier eine persönliche Vorbeziehung aufwiesen. In Kalifornien werteten die Psychologen Mohandie und Meloy im Rahmen der Entwicklung einer neuen Stalkingtypologie mehr als 1000 einschlägige Fälle obsessiver Verfolgung und Belästigung aus, ein gutes Viertel betraf prominente Personen (Meloy 2005). In der Gruppe der Expartnerstalker fand sich die höchste Gewaltrate mit über 50%; bei Prominenten lag der Anteil hingegen um 2%. Dieser Trend wurde auch von europäischen Stichproben bestätigt. So trat in den Niederlanden bei 35 Stalkingfällen, die Personen des öffentlichen Lebens betrafen, kein einziges Mal Gewalttätigkeit auf (Malsch et al. 2002); in der vorliegenden Arbeit war bei 43 Stalkingvorfällen aus Deutschland ein einziger Angriff auf eine Prominente zu verzeichnen. Diese Befunde lassen sich als klarer empirischer Beleg werten, dass die Basisrate für Gewalt (also die prinzipielle Wahrscheinlichkeit, Ziel eines Angriffs zu werden) bei Prominenten deutlich geringer ist als bei anderen Opfergruppen von Stalking.
171 11.1 · Häufigkeit von Gewalt
Allerdings lässt sich nicht daraus ableiten, dass Gewalt in Fällen von Prominentenstalking keine nennenswerte Rolle spielt. Es scheint, dass im Medienzeitalter auch die Anzahl der Anschläge auf Prominente zugenommen hat. So schätzte der amerikanische Psychiater Dietz, dass in den USA in den 2 Jahrzehnten zwischen 1968 und 1989 ebenso viele Attentate von psychisch kranken Menschen auf Personen des öffentlichen Lebens verübt wurden wie insgesamt in den 175 Jahren zuvor (Gross 2000). Wie schon erwähnt können berühmte Persönlichkeiten aus allen Bereichen Opfer derartiger Angriffe werden. So wurden Politiker (z. B. der damalige US-Präsident Ronald Reagan), Sportler (z. B. die Tennisspielerin Monica Seles, . Abb. 4.7), Schauspieler (z. B. die TV-Darstellerin Rebecca Schaeffer), Sänger (z. B. Olivia Newton-John) und Fernsehmoderatoren von gewalttätigen Stalkern ins Visier genommen (7 Kap. 6). Würde man zudem die Attentate von Personen hinzuzählen, die auf Personen des öffentlichen Lebens fixiert waren, ohne typisches Stalkingverhalten in Form wiederholter Kontaktversuche und Annäherungen zu zeigen, so stiege die Zahl noch einmal deutlich an. In Deutschland wurden beispielsweise die Politiker Oscar Lafontaine und Wolfgang Schäuble sowie der Studentenführer Rudi Dutschke bei Anschlägen von Einzeltätern schwer verletzt. Außerdem gab es mehrere Angriffe auf Landespolitiker, bei denen ein schlimmerer Ausgang verhindert werden konnte. Zudem ist das Dunkelfeld versuchter Attentate von Stalkern hoch, und viele Taten gelangen niemals an die Öffentlichkeit, u. a. aufgrund der berechtigten Angst, Nachahmungstäter anzuziehen. Entsprechende, nie publik gewordene Fälle sind dem Autor sowohl aus Deutschland als auch aus England bekannt (s. auch Hoffmann u. Sheridan 2005). Der US-amerikanische Secret Service führte eine umfangreiche Studie über Gewaltakte gegen Personen des öffentlichen Lebens und Anschlagsversuche durch. Dabei wurden im Zeitraum zwischen 1949 und 1996 insgesamt 83 Attentäter identifiziert (Fein u. Vossekuil 1997, 1999; 7 Kap. 6). Rund 40% von ihnen hatten im Vorfeld der Tat das Büro, die Privatwohnung oder einen anderen Aufenthaltsort ihres späteren Opfers aufgesucht. Fast jeder 4. Attentäter näherte sich seiner Zielperson zuvor persönlich und jeder 10. hatte den Prominenten
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verfolgt. Hierbei dürfte es sich aber weniger um emotional aufgeladenes Stalking gehandelt haben, bei dem eine enge Beziehung fantasiert wurde, sondern vor allem um instrumentelles Stalking, bei dem nach einer günstigen Gelegenheit für die Durchführung eines Anschlags gesucht wurde.
Ergebnisse von Opferbefragungen In Studien, in denen Stalkingbetroffene befragt wurden, wie häufig Gewalt auftrat, ergaben sich vergleichsweise konsistente Daten. So variierte hier die Anzahl gewalttätiger Attacken zwischen etwa einem Drittel und gut der Hälfte aller Fälle (vgl. auch die Übersicht bei Blaauw et al. 2002). Für die ähnlichen Ergebnisse war vermutlich auch die Tatsache verantwortlich, dass in allen Studien die meisten Betroffenen von der gleichen Tätergruppe, nämlich Expartnern, gestalkt wurden. Ein typisches Beispiel für ein derartiges Forschungsprojekt stellt etwa die Arbeit von Brewster aus dem Jahr 2002 dar. Bei der Untersuchung von 187 weiblichen Stalkingopfern, die sie über Anzeigen in den Medien rekrutiert hatte, fand die US-Amerikanerin, dass knapp die Hälfte der Frauen Gewalterfahrungen machen musste. Dabei erlitten 37% physische Verletzungen. Auch hierzulande zeigten sich vergleichbare Ergebnisse. In einer Befragung von über 550 Stalkingopfern aus dem deutschsprachigen Raum fand sich ein Anteil von 39%, die über physische Angriffe berichteten (Voß et al. 2005). In jedem 3. dieser Fälle geschahen dabei schwerwiegendere Attacken, wie Schläge mit der Hand, in jedem 5. Fall sogar Angriffe mit Gegenständen. Manche der Betroffenen waren so extremen Formen der Gewalt ausgesetzt wie schwerem Würgen, Messerangriffen oder dem Versuch des Stalkers, sie mit dem Auto zu überfahren. Außerdem gaben 14% der Stalkingopfer an, sexuellen Übergriffen und vereinzelt sogar Vergewaltigungen erlebt zu haben. Manche Studien wählten einen mehr differenziellen Blick auf das Problem der Stalkinggewalt. Über einen eklatanten Geschlechtsunterschied bei der Schwere der Viktimisierung berichtet etwa eine US-amerikanische Arbeit (Bjerregaard 2002). In einer Gruppe von Collegestudenten zeigte sich, dass weibliche Stalkingbetroffene ein vielfach höheres
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Kapitel 11 · Gewaltanwendung und Gewalterfahrung
Risiko hatten, physische Gewalt zu erfahren, als männliche Opfer. Demgegenüber fanden sich bei Gewaltdrohungen relativ geringe Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dieses Muster weist gewisse Analogien mit Forschungserkenntnissen aus dem Bereich der häuslichen Gewalt auf. Demzufolge treten innerhalb von Beziehungen sowohl bei Männern als auch bei Frauen im vergleichbaren Ausmaß physische Aggressionen auf, schwere körperliche Verletzungen fügen hingegen in den meisten Fällen aber nur Männern Frauen zu, nicht umgekehrt. Anders ausgedrückt: Bei der Ausübung leichter Formen der Gewalt gibt es offenbar wenig Unterschiede zwischen den Geschlechtern, bei schwerwiegender Gewalt sind in der Regel Männer die Täter und Frauen die Opfer.
Andere Datenquellen
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Bei der Messung der Gewaltrate anhand von Stichproben von Stalkern wurde vor allem auf sog. Extremsamples zurückgegriffen. Hier waren den Forschern vor allem Personen zugänglich, die meist durch Stalking oder andere delinquente Handlungen auffällig geworden waren und in Gefängnissen einsaßen oder in psychiatrischen Einrichtungen behandelt wurden. Dennoch fanden sich hier Quoten, die durchaus mit denen übereinstimmen, die bei Opferbefragungen festgestellt wurden. Mullen et al. (2000) stießen in einer Gruppe von über 150 Stalkern, die von ihnen behandelt oder begutachtet worden waren, bei gut einem Drittel auf Gewalttätigkeiten. Rosenfeld und Harmon (2002) kamen bei der Auswertung der forensischen Daten von 204 Personen, die in New York wegen Stalking psychiatrisch untersucht wurden, auf eine fast identische Zahl von 34% gewalttätiger Stalker. Die zuverlässigsten Einschätzungen zur Basisrate des Auftretens von Gewalt bei Stalking liefern vermutlich Umfragen anhand repräsentativer Stichproben, die aus der Allgemeinbevölkerung gezogen werden. Hierzu liegen mittlerweile Untersuchungen aus mehreren Ländern vor. In England und Wales wurden 1998 knapp 10.000 Personen in eine Umfrage speziell über Stalking miteinbezogen. Dabei ergab sich, dass jedes
5. Stalkingopfer Gewalterfahrungen hatte, in Form von »Stoßen, Schlagen, Treten oder dem Einsatz einer Waffe« (Budd u. Mattinson 2000, S. 119); 9% der Frauen und 3% der Männer wurden zudem nach eigener Aussage zu sexuellen Handlungen gezwungen. Berücksichtigt man, dass 11,8% in ihrem Leben einer Periode andauernder und ungewollter Aufmerksamkeit ausgesetzt waren, lässt sich ableiten, dass ungefähr 2,4% der erwachsenen Bevölkerung Gewalt in einem Kontext von Stalking erlebt hat (James u. Farnham 2002). Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine australische Untersuchung jüngeren Datums (Purcell et al. 2002). Dort wurden 3700 Männer und Frauen über das Wahlverzeichnis ausgewählt und erhielten einen Fragebogen. Von Gewalterfahrungen berichteten 18% der so erfassten Stalkingbetroffenen, die Hälfte von ihnen erlitt physische Verletzungen, wobei in schweren Fällen ausgeschlagene Zähne, blaue Augen und Würgemale am Hals notiert wurden; 2% waren zudem Opfer sexueller Überfälle. Ergebnisse über den Zusammenhang zwischen Gewalt und einer Untergruppe von Stalkingopfern lieferte eine repräsentative telefonische Umfrage unter 16.000 US-Bürgern (Tjaden u. Thoennes 1998b). Frauen, die von ihrem aktuellen oder früheren Partner gestalkt wurden, machten in 81% der Fälle auch physische Gewalterfahrungen, und in 31% waren sie zudem Opfer sexueller Gewalt. Den Autorinnen zufolge bedeutet dies, dass das Auftreten von Stalking viermal häufiger mit physischer Gewalt und sechsmal häufiger mit sexueller Gewalt einhergeht als in der Normalbevölkerung.
11.2
Tödliche Gewalt
Durch immer wieder in den Medien publizierte Fälle von Tätern, die nach obsessiver Verfolgung ihre Opfer ermorden, hat sich ein Zusammenhang zwischen Stalking und tödlicher Gewalt im öffentlichen Bewusstsein gebildet. Die Kriminalisten Goebel und Lapp (2003) analysierten 5 aufsehenerregende Tötungsdelikte, bei denen im Vorfeld Stalking auftrat, um mögliche Implikationen für die polizeiliche Arbeit herauszuarbeiten. In 4 der 5 Fälle waren Anzeigen erstattet bzw. war die Polizei eingeschaltet worden, dennoch wurde die Gewalttat nicht verhindert.
173 11.2 · Tödliche Gewalt
Goebel und Lapp schätzten, dass es allein im Bundesland Hessen jährlich 10–15 Fälle von Stalking mit tödlichem Ausgang geben könnte. Auch Ritter-Witsch (2004) wies in einem Beitrag mit einer Reihe von Fallbeispielen, die von Psychoterror bis hin zur Ermordung des Stalkingopfers reichten, auf die Problematik hin. Sie erkannte neben anderen Institutionen auch eine präventive Zuständigkeit der Polizei, um schwerste Gewalttaten bei Stalking zu verhindern, betonte allerdings auch, dass derartige Interventionsmöglichkeiten in der Praxis oftmals an Grenzen stoßen. Ein Fallbeispiel soll die Problematik und auch Dramatik verdeutlichen, dass trotz frühen Einschaltens von Polizei und Justiz auch in Deutschland Stalkingvorfälle gelegentlich in tödlicher Gewalt enden.
Für die 34-jährige Monika H. war die Beziehung nach eigener Aussage immer nur eine »lose Geschichte« gewesen. Für James S. war die Sache dagegen ernster. Der 42 Jahre alte Lagerarbeiter akzeptierte das Ende der Liebschaft nicht. Er begann, Monika H. zu stalken, er überschüttete sie mit Nachrichten und stand stundenlang vor ihrer Wohnung und ihrer Arbeitsstelle. Für die zweifache Mutter wurde es zum Nervenkrieg, sie ging am 7. Oktober 2003 und auch in den darauffolgenden Tagen einige Male zur Polizei und erstattete Anzeige. Es gelang ihr zudem relativ schnell, ein Kontaktverbot über das Gewaltschutzgesetz zu erwirken. An die Verfügung hielt sich James S. lediglich einen Monat, dann setzte das Stalking wieder ein. Insgesamt ging Monika H. bis zu ihrem Todestag am 2. März 2004 noch 26 Mal zur Polizei, um ihren Stalker anzuzeigen. Die Beamten wurden schon früh aktiv. Ertappten sie James S. auf frischer Tat, dann ließ er sich widerstandslos festnehmen und zahlte zudem die 2000 Euro Ordnungsgeld wegen der Verstöße gegen das Kontaktverbot ohne Murren. James S. war nie zuvor wegen Gewalttätigkeiten auffällig gewesen; bei einer Durchsuchung seiner Wohnung fanden sich keine Hasstiraden oder ähnliches gegen Monika H., sondern al6
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lein Liebesschwüre. Infolge des Einwirkens der Beamten ließ sich James S. sogar stationär psychiatrisch untersuchen, die Ärzte sahen allerdings keinen Handlungsbedarf. Auch am Tage ihrer Ermordung ging Monika H. auf das Polizeirevier. Um 19 Uhr klingelte es dann an ihrer Wohnungstür. Ihr siebenjähriger Sohn öffnete, James S. schob ihn zur Seite, ging hinein und schoss insgesamt 11 Mal auf Monika H., die unmittelbar starb. Mit der 12. Kugel erschoss sich James S. selbst.
Es wurde auch schon versucht, die Verknüpfung von Stalking und Tötungsdelikten zu quantifizieren. Nach einer Metaanalyse verschiedener Studien ging der Psychologe J.R. Meloy zunächst von einer Tötungsrate von bis zu 2% bei Stalkingfällen aus. Später korrigierte er diese Schätzung herunter auf maximal 0,25%, zudem beschränkt auf die Hochrisikogruppe des Stalkings durch Expartner (Meloy 2002a). Bezogen auf die Mordrate in den USA bedeutet das allerdings, dass das Risiko, ermordet zu werden, immer noch 25 Mal höher ist als im Bevölkerungsdurchschnitt. Erschreckende Ergebnisse erbrachten darüber hinaus Studien, die retrograd Fälle der Ermordung von Frauen durch ihre früheren oder aktuellen Partner zum Thema hatten. Eine Untersuchung mehrerer hundert solcher Morde oder Tötungsversuche in den USA ergab, dass mindestens 2 Drittel, vermutlich aber sogar ein noch größerer Anteil der Täter in den vorhergehenden 12 Monaten die Opfer gestalkt hatte (McFarlane et al. 1999, 2002). Bei einer vorhergehenden Studie mit einem ähnlichen Design waren in einem knappen Viertel der Fälle obsessive Verfolgung und Belästigung der Tötung des Intimpartners vorausgegangen (Moracco et al. 1998). Allerdings blieb die Datenquelle hier auf Polizeiakten beschränkt, wohingegen in den vorher aufgeführten Studien mit den höheren Raten auch das Umfeld der Opfer gezielt danach befragt wurde, ob Stalking durch den Täter vor dem Gewaltakt aufgetreten war, was einer realistischeren Einschätzung der tatsächlichen Auftretenshäufigkeit obsessiver Verfolgung und Belästigung zugute kommt.
174
Kapitel 11 · Gewaltanwendung und Gewalterfahrung
Bei vielen Morden bleibt Stalking unentdeckt. Die Tötung eines Menschen überstrahlt als unfassbares Ereignis vieles, was im Vorfeld der Tat geschah. Vielleicht führt die zunehmende Würdigung des Phänomens in der Kriminalistik, Psychologie, Psychiatrie und Kriminologie auch zu genaueren Erkenntnissen über Stalkingdynamiken, die einen tödlichen Ausgang nehmen können.
11.3
Ziele von Stalkinggewalt
Stalkinggewalt tritt in sehr unterschiedlichen Bereichen auf. So richtet sich die Wut des Stalkers nicht immer nur direkt auf die Betroffenen, regelmäßig werden auch andere Ziele attackiert. Es lassen sich grob folgende 3 Gruppen unterscheiden: 4 Gewalt gegen Dritte, 4 Gewalt gegen Haustiere, 4 Gewalt gegen Sachen.
Gewalt gegen Dritte
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Nicht nur die Zielperson des Stalkings, auch ihr nahestehende Menschen können Opfer von Gewalt werden. Das geschieht offenbar am ehesten bei der obsessiven Belästigung durch Verehrer oder ehemalige Partner (Palarea et al. 1999). Es sind vor allem Personen gefährdet, die vom Stalker als zwischen sich und dem Opfer stehend wahrgenommen werden. Dabei kann es sich beispielsweise um einen neuen Freund handeln, aber auch um Arbeitskollegen oder Verwandte, die dem Betroffenen in der Stalkingsituation beistehen. Angriffe gegen Dritte sind nicht selten. Sheridan et al. (2001b) fanden derartige Vorfälle bei 17% der von ihnen befragten Opfer, eine repräsentative Studie in Australien ermittelte eine etwas darunter liegende Rate von 10% (Purcell et al. 2002). In Fällen von Prominentenstalking existiert in diesem Zusammenhang eine spezifische Dynamik. Wie schon erwähnt gab es Fälle, in denen der Stalker mit einem Gewaltakt, der gegen eine andere Person des öffentlichen Lebens gerichtet war, die Aufmerksamkeit eines von ihm verehrten Stars auf sich zu ziehen versuchte. Dieses Motiv fand sich auch, ein-
gebettet in einer allgemeinen Sehnsucht danach, etwas Besonderes zu sein, dem Reagan-Attentäter John Hinckley (7 Kap. 4). Unmittelbar bevor er seinen Anschlag verübte, schrieb er einen Brief an die Schauspielerin Jodie Foster, deren Liebe er zuvor mit zahlreichen Briefen und Anrufen vergebens zu erringen erhofft hatte. Darin heißt es: Ich will dir gestehen, dass der Grund, warum ich den [Attentats-]Versuch jetzt voranbringe, darin liegt, dass ich nicht mehr länger damit warten kann, dich zu beeindrucken. […] Indem ich meine Freiheit und möglicherweise mein Leben opfere, hoffe ich, dass du deine Meinung über mich änderst. (zit. nach Caplan 1984, S. 11)
Ein entsprechendes Beispiel gibt es in Deutschland. Der Stalker Günter P. wollte mit der Messerattacke auf den Tennisstar Monica Seles ihrer Konkurrentin Steffi Graf, die er verehrte, zwar vordergründig die Rückkehr an die Spitze der Weltrangliste ermöglichen. Neben seiner narzisstischen Wut dürfte ihn vermutlich das Motiv getrieben haben, dass Graf, der er zuvor immer nur anonym geschrieben hatte, von seinem Einsatz für sie erfährt (der Fall des Günter P. wird ausführlich in 7 Abschn. 4.8 besprochen). Auch Sicherheitspersonal, dessen Aufgabe es ist, einen Kontakt zwischen dem Stalker und dem Star zu verhindern, kann gefährdet sein:
Der psychisch kranke Nathan »Nick« Trupp war auf den Schauspieler Michael Landon (aus der »Bonanza«-Serie) fixiert und verfolgte ihn. Er glaubte wahnhaft, dass der TV-Star ein Nazi sei. Im Dezember 1989 versuchte der 42-jährige, auf das Gelände der Universal Filmstudios in Los Angeles vorzudringen, um Michael Landon zu treffen, der dort in einer Unterhaltungsshow auftrat. Zwei unbewaffnete Wachmänner hielten ihn davon ab. Der Stalker erschoss die beiden 18 und 27 Jahre alten Sicherheitskräfte. In einem anschließenden Feuergefecht mit der Polizei wurde er selbst schwer verletzt. Trupp war kurze Zeit vor der Tat in einer psychiatrischen Klinik als ungefährlich eingestuft und entlassen worden.
175 11.3 · Ziele von Stalkinggewalt
Beim Fallmanagement darf man sich demnach nicht alleine auf die Sicherheit der unmittelbaren Opfer konzentrieren. Es muss immer noch bedacht werden, ob sich nicht Situationen ergeben können, in denen sich die Wut des Stalkers auch gegen andere Personen richtet.
Gewalt gegen Haustiere Über Gewalttätigkeiten gegenüber Haustieren wird in einem kleinen Teil aller Stalkingfälle berichtet; oftmals ist der Expartner der Täter ist. Durch Opferbefragungen ermittelte Prozentzahlen, wie häufig der Stalker drohte, ein Haustier zu attackieren oder dies auch tatsächlich tat, lagen bislang im Bereich zwischen 8 und 13% (Hall 1998; Tjaden u. Thoennes 1998). Allerdings war hier unklar, in welchen Anteilen es zu wirklichen aggressiven Akten kam oder wie oft die Gewalt nur angedroht wurde. In einer repräsentativen Untersuchung in Australien (Purcell et al. 2002) wurde dagegen explizit gefragt, ob der Stalker ein Haustier verletzt oder getötet hatte, was immerhin 3% der Stalkingopfer bejahten. Dabei treten auch immer wieder sehr brutale Vorfälle auf, wie Experten berichten: Opfer, die zu uns in die Klinik kamen, erzählten eine Reihe furchtbarer Geschichten von Haustieren, die getötet und verstümmelt wurden. Sie berichteten über Hunde, die vergiftet wurden, eine Katze, die zerstückelt und anschließend dem entsetzten Opfer mit der Post zugeschickt wurde, gekochte Goldfische, abgeschlachtete Hühner und mehrere Hunde, die man absichtlich mit dem Auto überfuhr, und über einen kleinen Hund, der an die Haustür des unglücklichen Opfers genagelt wurde. (Mullen et al. 2000, S. 216)
Was für Motive liegen der Gewalt gegen Tiere zugrunde? Geht es nur um Psychoterror, um das Ausleben von Gefühlen wie Wut und Rache seitens der Stalker? Ein Blick in die Forschung zur häuslichen Gewalt vermag möglicherweise ein differenzierteres Bild zu geben. Deutlich öfter als in reinen Stalkingfällen, zu mehr als 2 Dritteln, treten hier entsprechende Drohungen oder aggressive Handlungen auf, falls Tiere im Haushalt vorhanden sind (Medway u.
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Howitt 2003). Interessanterweise finden sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen Tätern, die drohen und solchen, die tatsächlich gewalttätig werden. Denn die letztere Gruppe weist oftmals eine Geschichte genereller Gewalttätigkeiten auf, die sich nicht nur gegen den Beziehungspartner, sondern auch gegen andere Menschen richteten. Die Ausübung von Gewalt scheint hier allgemein in der Person verankert zu sein, was einen Hinweis auf eine antisoziale Persönlichkeitsakzentuierung oder -störung darstellt. Die Gruppe, die ohne Konsequenzen androhte, dem Tier etwas anzutun, war zumeist nur gegen die eigene Frau, kaum aber gegen andere Personen handgreiflich. Die Drohung gegenüber dem Haustier diente hier vor allem der Kontrolle über den Partner, nämlich ihm am Verlassen der Beziehung zu hindern, eine Strategie, die oftmals auch funktionierte (Faver u. Strand 2003). Interessanterweise kommt es nach einer Tötung des Haustieres nicht selten dazu, dass die misshandelte Frau den letzten Schritt unternimmt und sich trennt. Der häusliche Gewalttäter hat sein letztes Faustpfand verloren und damit offenbar ein entscheidendes Mittel zur Manipulation.
Sachbeschädigungen Aufgeschlitzte Reifen und tiefe Kratzer am Auto, eingeschlagene Fenster, Graffitis am Haus und abgerissene Briefkästen: Viele Opfer machen die Erfahrung, dass ihr Eigentum von ihrem Verfolger beschädigt oder gar zerstört wird. Dies geschieht in etwa jedem 4. Fall, wie internationale Studien zeigen, die in dieser Frage zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommen (z. B. Tjaden u. Thoennes 1998b; Purcell et al. 2002; Voß et al. 2005). Erschreckend oft wird auch eingebrochen. Bei der Opferbefragung von Voß et al. (2005) gaben 17% der Betroffenen an, dass der Stalker illegitimerweise in ihre Wohnung eingedrungen war. Es lassen sich spezielle Risikofaktoren für Gewalt gegen Dinge ermitteln. Mullen et al. (1999) stießen in der Gruppe dieser Stalker gehäuft auf Vorstrafen sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch. Weitere Unterschiede fanden sich in der Form des Stalkings (Mullen et al. 2000): So war die Wahrscheinlichkeit von Eigentumsbeschädigungen fünfmal höher in
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Kapitel 11 · Gewaltanwendung und Gewalterfahrung
Fällen, in denen der frühere Partner der Täter war, als bei Stalkern, die von einer romantischen, eher schwärmerischen Liebe angetrieben waren.
11.4
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Vorhersagefaktoren der Gewalt
Es ist auch für praktische Arbeit von hoher Relevanz, ob sich Risikovariablen ausmachen lassen, die in konkreten Fällen helfen, die Gefährdung für die Opfer einzuschätzen. Tatsächlich konnten einige Faktoren identifiziert werden, die für ein erhöhtes Gewaltpotenzial sprechen. Allerdings treten dabei offenbar nur wenige universelle Risikomarker hervor, die für einen Großteil aller Stalkingfälle Gültigkeit besitzen. Viele Gefahrensignale scheinen nur unter bestimmten Rahmenbedingungen akut zu werden, sodass sich ein Trend abzeichnet, statistisch ermittelte Kennwerte in die individuelle Fallgeschichte eingebettet zu betrachten, um deren Signifikanz für einen vorliegenden Fall zu bewerten (Hart 2003). Das macht deutlich, dass die verlockende Idee, eine Stalkinggefährlichkeitsskala zu entwickeln, die sozusagen jedem einzelnen Fall einen eindeutigen Punktewert des Eskalationsrisikos zuordnet, schwierig umsetzbar ist, da die Wege zur Gewalt sehr unterschiedlich sind.
Vorbeziehungen Wie sich in Untersuchungen immer und immer wieder herauskristallisierte, bildet eine intime Vorbeziehung einer der stabilsten Zusammenhänge zwischen Stalking und Gewalt (z. B. Palarea et al. 1999; Sheridan u. Davis 2001a; Meloy et al. 2001; Voß et. al. 2005). Hierin spiegelt sich eine in vielen anderen kriminologischen Studien gewonnene Erkenntnis wider: Je besser sich Leute kennen, desto häufiger tun sie sich Gewalt an. Der Hintergrund hierfür sind vermutlich ebenso enge wie ambivalente zwischenmenschliche Verstrickungen, eine Dynamik, die Meloy wie erwähnt pointiert als »violent attachments« bezeichnete. Daraus lässt sich ableiten, dass es umso seltener zu aggressiven Handlungen kommt, je größer die soziale Distanz zwischen Stalker und Opfer ist. Der Zusammenhang ist offenbar auch in Fällen von Prominentenstalking relevant. Hier be-
steht ja in aller Regel keinerlei persönliche Beziehung. Dementsprechend ist statistisch betrachtet der Anteil von Gewalttätigkeiten geringer als bei anderen Stalkingopfergruppen.
Alkohol- und Drogenkonsum Interessanterweise stellte sich Alkohol- und Drogenkonsum als ein Risikofaktor heraus, der sowohl in Fällen von Prominentenstalking als auch bei anderen Formen obsessiver Verfolgung eine Rolle spielt. So berichteten mehrere Studien mit Stalkingopfern aus der allgemeinen Bevölkerung über einen solchen Zusammenhang, wenngleich dieser statistisch eher moderat zu sein schien (Mullen et al. 1999; Meloy et al. 2001; Brewster 2002). In einer Untersuchung von 180 Frauen, die ein Kontaktverbot gegen ihren früheren Partner erwirkt hatten, zeigte sich, dass unter Alkohol- und Drogenkonsum des Mannes die Wahrscheinlichkeit sowohl von Stalking als auch von Gewalttätigkeiten zunahm (Willson et al. 2000). In einem privaten Kontext erhöht dabei offensichtlich die enthemmende Wirkung von Alkohol das Gewaltrisiko. Bei einer US-amerikanischen Untersuchung von Attentätern und gewalttätigen Prominentenstalkern stieß man in deutlich mehr als jedem 3. Fall auf eine Vorgeschichte von Alkoholmissbrauch, in einigen Fällen aber auch auf den früheren Konsum von schweren Drogen (Fein u. Vossekuil 1999). Zugleich schienen die Stalker, die Personen des öffentlichen Lebens attackiert hatten, zum Zeitpunkt ihres Angriffs eher selten unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol zu stehen. So ist der Missbrauch von Rauschmitteln bei dieser Gruppe offenbar vor allem Ausdruck einer gescheiterten und unglücklichen Biografie, in der durch den Anschlag auf die berühmte Persönlichkeit doch noch ein Sinn in der Hoffnungslosigkeit der eigenen Existenz gesucht wird.
Kriminelle Vorgeschichte Bei der Variable Vorstrafen handelt es sich offenbar um eine widersprüchliche Angelegenheit. Einige wenige Untersuchungen stellten hier einen Zusammenhang zur Gewalt her (z. B. Mullen et al. 1999), andere hingegen berichteten von einer wenn über-
177 11.4 · Vorhersagefaktoren der Gewalt
haupt nur schwach vorhandenen Verbindung (z. B. Palarea et al. 1999; Rosenfeld u. Harmon 2002). Hier spielt offenbar die Täterpersönlichkeit eine moderierende Rolle. Beim einer antisozialen Persönlichkeitsausprägung besitzen Vorstrafen wahrscheinlich eine recht gute Vorhersagekraft für zukünftige Aggression und Gewalt. Dahingegen lässt sich eine solche Verknüpfung bei der kleinen Gruppe von sozial eher überangepassten Stalkern, die schwere Gewalttaten begehen und dabei eine katathyme Dynamik aufweisen, gerade nicht ausmachen (James u. Farnham 2002).
Gewaltdrohungen Je besser sich Täter und Opfer kennen, desto mehr stellen Gewaltdrohungen einen nicht zu unterschätzenden Risikofaktor für eine Eskalation dar. Gerade im Kontext einer dem Stalking vorangehenden intimen Beziehung findet sich hierfür immer wieder Evidenz (vgl. z. B. die Übersicht bei Rosenfeld 2004). Zwar muss jede Drohung ernst genommen werden, dennoch führt glücklicherweise bei weitem nicht jede Ankündigung von Gewalt zu einer aggressiven Handlung. De Becker (1999) vergleicht Drohungen mit Versprechen und merkt an, dass diese zwar schnell gegeben, aber nicht immer gehalten werden. Diese Beobachtung wird auch von der empirischen Forschung gestützt: Insgesamt treten Drohungen insbesondere bei Expartnerstalking sehr häufig auf. In einer Umfrage aus dem deutschsprachigen Raum berichteten 54% aller Opfer von Drohungen, jede 5. Betroffene gab sogar an, dass dies wiederholt geschah (Voß et al. 2005). Die Rate der falsch-positiven Fälle, also derjenigen, auf denen nach einer Drohung keine Gewalt folgt, lag verschiedenen Studien zufolge zwischen 41 und 75% (Meloy 2002a). Der Anteil der falsch-negativen Fälle, bei denen Gewalt auftritt, ohne dass vorher eine Drohung ausgesprochen wird, war relativ gering und bewegte sich zwischen 13 und 23% (Meloy 2002a). Gerade in Fällen von Expartnerstalking sollte auf Drohungen geachtet werden, für eine abschließende Gefährlichkeitseinschätzung ist es jedoch wichtig, noch weitere Risikofaktoren hinzuzuziehen. Für das Stalking von Prominenten gilt der Zusammenhang offenbar nicht. In einer Auswertung
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ungewöhnlicher Schreiben an Personen des öffentlichen Lebens fanden Dietz et al. (1991a), dass schriftliche Gewaltdrohungen an Prominente aus der Unterhaltungsbranche keinerlei Einfluss darauf hatten, ob sich der Stalker oder der psychisch auffällige Fan auch physisch dem Star annäherte. Bei Politikern minderten Drohschreiben sogar statistisch betrachtet die Wahrscheinlichkeit, dass der Stalker persönlich in Erscheinung trat (Dietz et al. 1991b). Allerdings wurden in den Dietz-Untersuchungen Drohungen nicht als Prädiktor für Gewalttaten berechnet, da nicht genügend derartige Fälle für statistische Analysen vorlagen. Drohungen wurden alleine als Vorhersagefaktor für reines Annäherungsverhalten betrachtet, das meist nicht feindseliger Natur war. Das Konzept in der Anlage der Studie bestand darin, dass physische Nähe die Vorraussetzung für einen Anschlag darstellen könnte und deshalb ein erster Filter mit Indikatorvariablen entwickelt werden sollte, um Zuschriften unter diesem Aspekt beleuchten zu können. Neuere Untersuchungen zeigten jedoch, dass mit Drohungen an Politiker durchaus vorsichtig und aufmerksam umgegangen werden sollte. Scalora et al. (2002) fanden bei Stalkingfällen, dass jedem fünften persönlichen Kontaktversuch mit einem US-Senator Drohschreiben vorangegangen waren, bei gewalttätigen Annäherungen verdoppelte sich dagegen der Anteil auf 42%. In einer Untersuchung des US-amerikanischen Secret Service von Anschlägen und Attentatsversuchen auf Personen des öffentlichen Lebens wurde ebenfalls das Kommunikationsverhalten der Täter untersucht (Fein u. Vossekuil 1997b; 7 Kap. 6). Zwar trat fast jede Vierte der 83 untersuchten Personen mit dem Politiker oder Prominenten zuvor in Kontakt; die Attentäter, denen der tödliche Anschlag gelang, formulierten dabei jedoch niemals eine Drohung. Zählte man außerdem die Fälle hinzu, in denen die Täter mit ihrem Vorhaben scheiterten, ergab sich eine Rate von 10% von Drohungen. Es existieren zwei mögliche Gründe für dieses Ergebnis: Zum einen wäre für Attentäter eine Drohung an die Zielperson äußerst kontraproduktiv, würde sie ja den Plan des Anschlags bekanntgeben und ihn damit gefährden. Zum anderen ist ein systematischer Stichprobenfehler in der Studie nicht unwahrscheinlich. Gegen aggressive Schreiber werden vermutlich von Sicherheitsverantwortlichen und der
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Kapitel 11 · Gewaltanwendung und Gewalterfahrung
Polizei schon im Vorfeld Maßnahmen ergriffen, sodass hier trotz einer möglichen Intention kein Anschlag durchgeführt werden kann.
werden. Auf den Zusammenhang zwischen Psychose und aggressiven Akten wird im Folgenden noch näher eingegangen werden.
Schwere psychische Störungen
11.5
Allgemein gelten schwere psychische Störungen bei Stalkern als eine Einflussgröße, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Gewalt verringert (vgl. die Übersicht bei Rosenfeld 2004). An diesem Punkt zeigen sich die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man den Versuch unternimmt, Risikofaktoren herauszuarbeiten, die für jeden Stalkingfall unter allen Rahmenbedingungen gelten. Zwar ist der negative Zusammenhang zwischen schweren seelischen Erkrankungen wie Psychosen und dem Auftreten von Gewalt in zahlreichen Studien empirisch gut gesichert. Dennoch gibt es möglicherweise eine Untergruppe von psychotischen Stalkern, von denen ein erhöhtes Gewaltrisiko ausgeht, deren Anzahl aber relativ gering ist und die darum statistisch keine Berücksichtigung findet. Wiederholt zeigte sich in Untersuchungen bei Personen, die im Akutstadium an bestimmten schweren psychischen Störungen leiden, ein deutliche erhöhte Gewaltrate (Monahan 2001; Nedopil 2004). Dabei gilt offenbar die paranoide Schizophrenie als eines der riskantesten Störungsbilder. Obgleich Gegenstand kontroverser Diskussionen und Forschungsergebnisse, gelten die sog. Threat/control-override-Symptome noch immer als Risikomarker für Gewalt (Link u. Stueve 1994; Bjorkly u. Havik 2003). Diese Symptome sind durch die Wahrnehmungen gekennzeichnet, dass der eigene Verstand durch Kräfte von außerhalb kontrolliert wird, d. h., dass dem Erkrankten fremde Gedanken und Wahrnehmungen sozusagen aufgezwungen werden. Interessanterweise trifft dieses psychiatrische Profil auch auf den Attentäter des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble zu. Dieter K. litt an einer paranoiden Schizophrenie und war davon überzeugt, dass ihm die Regierung fremde Gedanken einflößte. Trotz seiner Fixierung auf bestimmte Personen des öffentlichen Lebens zeigte Dieter K. allerdings kein Stalkingverhalten (7 Kap. 5). Es treten jedoch immer wieder Fallbeispiele auf, in denen psychisch schwer kranke Stalker gewalttätig
Insgesamt fällt in den Studien die Heterogenität der Formen von Gewalt auf. Eine New Yorker Forschungsgruppe (Harmon et al. 1998) kodierte Gewalttätigkeit etwa bei einem Stalker, wenn dieser wiederholt an die Tür pochte, oder im anderen Extrem das Opfer attackierte bis zu dessen Ermordung. Auch eine andere Studie beschrieb eine enorme Bandbreite bei den physischen Schädigungen der Opfer: Leichtere Formen wie Blutergüsse und Hautschürfungen wurden hier gemeinsam mit mehrfachen Stichverletzungen, gebrochenen Kiefern und Vergewaltigungen erfasst (Mullen et al. 1999). Wenn sich hinter der statistischen Häufigkeit derart verschiedene Gewaltformen verbergen, erschwert dies die Interpretation der Ergebnisse natürlich maßgeblich. Es stellt sich die Frage, ob die Daten überhaupt ein einziges Phänomen oder nicht vielmehr Gewaltformen unterschiedlicher Natur erfassen. Tatsächlich gibt es offenbar schon auf einer biologischen Ebene verschiedene Arten der Gewalt bei Stalking. Meloy (2001a, 2002a, 2003) unterscheidet zwei unterschiedliche Aktivierungsformen, die evolutionär verwurzelt sind, nämlich den »Jagdmodus« (predatory violence) und den »affektiven Modus« (affective violence) der Gewalt. Wie es bereits der Name verrät, diente die erste Form ursprünglich der Nahrungssuche und der Jagd auf Beute. Das spezifische biologische Muster ist hier u. a. eine emotionale und physiologische Ruhe, motorische Kontrolliertheit und eine sehr zielorientierte Wahrnehmung. Der affektive Modus entspricht hingegen der klassischen Kampf-oder-Flucht-Reaktion im Sinne der akuten Stressreaktion. Er hat das Ziel, Körperkraft und Reaktionsfähigkeit blitzschnell in höchste Leistungsbereitschaft zu versetzen, um eine konkrete Gefahr abzuwehren oder ihr entfliehen zu können. Typische Merkmale dafür sind beispielsweise eine Selbstwahrnehmung ausgeprägter Emotionen wie Wut oder Angst oder eine Erregung des autonomen Nervensystems. Bezogen auf Stalking wird der Jagdmodus vor allem mit Anschlägen auf Prominente in
Wirkmechanismen der Gewalt
179 11.5 · Wirkmechanismen der Gewalt
11
. Tabelle 11.1. Stalkinggewalt gegen Prominente und Privatpersonen. (Nach Meloy 2003) Prominente
Privatpersonen
»Jagdmodus« der Gewalt Verschiedene Tatmotive Häufig psychotisch Selten vorhergehende Drohung Geringe Basisrate der Gewalt
Zum Teil affektive Form, zum Teil Jagdmodus der Gewalt Motiviert durch wahrgenommene Zurückweisung, Erniedrigung oder Wut Selten psychotisch Häufig vorhergehende Drohung Hohe Basisrate der Gewalt
Verbindung gebracht, Taten, denen ja meist eine gewisse Planung vorausgeht. Der affektive Modus spielt hingehen bei »privatem« Stalking verstärkt eine Rolle, in der Aggression oftmals reaktiv auf eine wahrgenommene Kränkung oder Zurückweisung erfolgt (. Tab. 11.1). Betrachtet man die Zusammenhänge zwischen obsessiver Verfolgung und Aggressivität genauer und fasst man die bisherigen Forschungsergebnisse zusammen, so wird schnell deutlich, dass mehr als 2 Formen von Gewaltdynamiken existieren. Tatsächlich lassen sich mehrere prototypische Verläufe identifizieren, die oftmals mit unterschiedlichen Risikofaktoren, Tätercharakteristika und situativen Bedingungen korrespondieren. Im Folgenden werden nun exemplarisch 2 Wirkmechanismen der Stalkinggewalt dargestellt, die katathyme und die psychotische Gewalt (es gibt noch weitere Formen, wie beispielsweise narzisstische oder antisoziale Gewaltdynamiken, auf die hier nicht explizit eingegangen wird).
Katathyme Gewalt Dieser Form der Gewalt geht eine lange Phase unterdrückter Wut voraus, die sich unvermittelt und überraschend eruptiv entlädt. Einer solchen Gruppe zugeordnete Stalker sind in der Regel sozial unauffällig, sie sprechen im Vorlauf der Tat nicht unbedingt Drohungen aus, und ihre Opfer stammen meist aus dem direkten persönlichen Umfeld und sind z. B. Expartner. Das psychiatrische Konzept der Katathymie entstand Anfang des letzten Jahrhunderts. Der Begriff setzt sich aus den griechischen Wörtern κατα und θυµοζ zusammen und heißt übersetzt etwa »in
Übereinstimmung mit den Gefühlen«. Dabei wird ein psychischer Prozess beschrieben, in dessen Verlauf Affekte die Gedankengänge des Individuums vorübergehend prägen und verändern. Psychodynamisch gesprochen gerät dadurch das seelische Gleichgewicht ins Wanken, indem der dem Realitätsprinzip verbundene Sekundärprozess vorübergehend außer Kraft gesetzt wird (Meloy 1992). Als katathyme Erscheinungen galten seinerzeit etwa das magische Denken sog. primitiver Völker, aber auch Traumerleben, in denen die Gesetze der realen Welt aufgehoben sind; im Bereich der Psychopathologie wurden hier Phänomene wie beispielsweise paranoide Wahnvorstellungen zugeordnet. In den 1930er-Jahren übertrug der New Yorker Psychiater Frederic Wertham erstmalig das Modell des katathymen Prozesses explizit auf delinquentes Verhalten. Er ging dabei bei einigen Gewalttaten von einer spezifischen mehrstufigen Entwicklung aus, die er als katathyme Krise bezeichnete (Meloy 1992). Demnach steht am Anfang ein psychologisches Trauma, das einen unlösbaren inneren Konflikt initiiert und so zu einer dauerhaften emotionalen Anspannung führt. Der Täter projiziert die Verantwortung für seinen inneren Belastungszustand komplett auf die äußere Situation. Daraufhin wird sein Denken zunehmend egozentrisch. Plötzlich setzt sich in ihm die Idee fest, dass ein gewalttätiger Akt gegen sich selbst oder gegen andere den einzigen Ausweg darstellt. Der Täter kämpft eine Zeit lang gegen diese Vorstellung an. Am Ende führt er die Tat dann doch durch. Augenblicklich verschwindet damit auch sein innerer Spannungszustand, und nach einer Phase des Ignorierens des gewaltsamen Geschehens entwickelt er allmählich Einsicht in seine Täterschaft. Die Annahme Wertheims, dass der Gewaltakt »symbolische Bedeutung besitzt und das
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Kapitel 11 · Gewaltanwendung und Gewalterfahrung
Opfer nicht als Person zählt, sondern Teil eines übermächtigen Bildes ist« (zit. nach Revitch u. Schlesinger 1981, S. 128) ist ein Hinweis darauf, dass hier tiefliegende psychodynamische Prozesse am Werk sind, wobei die aktuelle Krise einen weit in der Biografie zurückliegenden Konflikt des Täters aktualisiert. An dieser Stelle lässt sich theoretisch gut ein Bogen zu den Bindungsproblematiken der frühen Kindheit schlagen, die häufig bei Stalkern auftreten. Etwa 4 Jahrzehnte später wurde Werthams Modell in den USA grundlegend überarbeitet. Ein Ablaufkonzept der Katathymie entstand, das bis heute in forensischen Fachkreisen als Arbeitsgrundlage weitgehend anerkannt ist. Hierbei wird zwischen einer akuten und einer chronischen katathymen Krise unterschieden (Revitch1996), wobei nur letztere für das Verständnis von Stalkinggewalt relevant ist. Die chronische katathyme Krise wird in nur noch 3 Entwicklungsschritte unterteilt (Schlesinger 2002, S. 65 ff.): 4 In der Inkubationsphase, die von mehreren Tagen bis zu einem Jahr reichen kann, beschäftigt sich der zukünftige Täter immer obsessiver mit dem späteren Opfer, einer Person, die ihm nahe steht, wie etwa eine frühere oder aktuelle Freundin oder ein Elternteil. Dabei besteht ein innerer Konflikt mit dem Gegenüber. Der auftauchende Gedanke, mit einer Gewalttat die Situation zu lösen, wird zunächst als Ich-fremd erlebt und abgelehnt. Diese Vorstellung gewinnt jedoch mehr und mehr an Intensität, sodass sich ein immer größerer Handlungsdruck aufbaut. 4 Die sich akkumulierende Spannung gipfelt in der Phase aktueller Gewalt schließlich in einer extremen Gewalttat. Hierbei handelt es sich meist um eine Tötung oder einen Tötungsversuch. 4 In der Erleichterungsphase empfindet der Täter nach der Tat starke Entlastung. Dabei wandeln sich auch seine Gefühle gegenüber dem Opfer von vorhergehender Wut hin zu Zuneigung. Bei katathym motivierten Tötungshandlungen handelt es sich somit nicht um einen Akt der Rache, sondern um die gewalttätige Auflösung eines Konflikts, den der Täter mit seinen vorhandenen Copingstrategien nicht bewältigen konnte.
Interessanterweise entwarf bereits vor Jahrzehnten der deutsche Psychiater Wilfried Rasch in seiner klassischen Untersuchung Tötung des Intimpartners (1964) ein Ablaufmodell von Tötungsdelikten bei Paarbeziehungen, das deutliche strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Konzept der katathymen Gewalttat aufweist. So entwickelt sich in der Phase der homizidalen Tatbereitschaft eine spezielle Stimmungslage, die nicht durch gezielte Aggressivität, sondern durch Gefühle der Hilflosigkeit, Verzweiflung, Depression, Isolierung und Ausweglosigkeit charakterisiert ist. Der spätere Täter erlebt sich hier den äußeren Bedingungen ausgeliefert, eine Allesoder-Nichts-Einstellung tritt auf. »Der Täter hat sich in eine Situation manövriert, die eigentlich nur noch den katastrophalen Ausgang zulässt; im Stürzen zieht er einen anderen mit in die Tiefe« (Rasch 1995, S. 68). In der darauf folgenden Etappe der Tatanlaufzeit, die sich über Stunden, Wochen aber auch Monate ziehen kann, findet eine grundlegende Änderung in der inneren Ausrichtung des Täters statt. Themen wie die »große Liebe« oder auch die Hoffnungslosigkeit werden zentral im Denken und Fühlen. Die Bereitschaft zu einer finalen Handlung, die die Auflösung der so unendlich belastenden Situation bringt, ist um eine weitere Stufe angestiegen. Die tatsächliche Tat ist dann wie eine Komplettierung der inneren Verfasstheit durch das Agieren in der äußeren Welt, wenngleich dem Täter auch seine eigene im Konflikt geborene Motivation unklar bleibt und quasi über ihn hereinbricht. Im Unterschied zur Theorie des katahymen Gewaltakts ist Raschs Erklärungsmodell nicht so sehr in der Biografie des Täters verankert, sondern stützt sich eher auf seine aktuellen Lebensumstände. Im Folgenden geht es um 2 Tötungsdelikte mit katathymen Dynamiken.
Ein 27 Jahre alter Mann lernte während eines Gottesdienstes eine 5 Jahre jüngere Frau kennen. Obwohl allgemein bekannt war, dass sie einen Freund hatte, verliebte er sich in sie und entwickelte die Hoffnung, dass ihre Beziehung auseinander brechen würde. Er begann damit, sie mehrmals täglich anzurufen, regelmäßig an 6
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ihrem und dem Haus ihres Freundes vorbeizufahren und sie auch auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle zu verfolgen. Etwa ein Jahr nach Beginn des Stalkings, als er das Haus ihres Freundes passierte, kam ihm spontan der Gedanke, sie umzubringen und anschließend Selbstmord zu begehen, da ihm ein Leben ohne sie sinnlos erschien. Er hielt sich allerdings psychisch für nicht in der Lage, eine derartige Tat zu begehen. Als er einen Brief von ihr erhielt, in dem sie in rücksichtsvollen Worten noch einmal erklärte, dass er sich keine Hoffnung machen sollte, spürte er einen aufsteigenden starken Drang sie zu ermorden. Einige Tage darauf fuhr er zu der Kirche, in der er sie das erste Mal gesehen hatte, lauerte ihr auf und verletzte sie mit einem Messer tödlich. Anschließend stach er sich mehrfach selbst in den Bauch, überlebte jedoch. Die der Tat folgende klinische Evaluation ergab, dass er weder eine delinquente noch eine psychiatrische Vorgeschichte aufwies, jedoch Anzeichen einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung und einer Depression zeigte. (zit. nach Schlesinger 2002)
Ein weiteres Beispiel stellt der Fall des amerikanischen Footballstars O.J. Simpson dar (7 Kap. 4), der zivilrechtlich abgeurteilt wurde, im Jahr 1994 seine Exfrau Nicole Brown und ihren damaligen Freund Ron Goldman ermordet zu haben.
Nach ihrer Trennung 1992 begann Simpson, seine Frau zu stalken, indem er in unmittelbarer Nähe ihres Hauses wiederholt auf sie wartete und anrief. Er brach außerdem in ihre Wohnung ein. In den Wochen vor ihrer Ermordung hatte Nicole Brown gegenüber Simpson immer wieder betont, dass ihre Beziehung endgültig beendet sei. Der Tatort schließlich zeigte deutliche Spuren des sog. Übertötens, sprich exzessiver Gewaltanwendung, die ihre Ursache nicht selten in einer gescheiterten Vorbeziehung und daraus resultierender Wut hat (Hoffmann 6
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2001c). Nicht zuletzt durch seine soziale Kompetenz und dem Mangel an Gewalttätigkeit außerhalb der Beziehung zu Nicole Brown passt O.J. Simpson in das Muster katathymer Täter. Allerdings ist dieser Fall trotz der Berühmtheit seiner Akteure kein Beispiel für genuines Prominentenstalking, da die obsessive Verfolgung hier in einer intimen Vorbeziehung zwischen Täter und Opfer gründete.
In jüngerer Zeit berichteten mehrere Autoren, die sich mit gewalttätigem Stalking von Expartnern oder ähnlichen Phänomenen beschäftigen, über Verlaufsmuster, die dem der Katathymie entsprechen: 4 In Kanada untersuchten Dutton und Kerry (1999) 50 Männer, die wegen Mordes an ihrer Partnerin im Gefängnis saßen, und verglichen diese mit 50 in der Beziehung gewalttätigen Männern, die nicht gemordet hatten. Es zeigte sich, dass die Mörder in ihrer Persönlichkeit oftmals passiv-aggressive, vermeidende und dependente Akzentuierungen aufwiesen. Zudem zeigten ihre Taten häufig Anzeichen des Übertötens und die verwendete Waffe war meist ein Messer. 4 Anhand detaillierter Fallstudien von 22 Tätern, die überraschend plötzlich ihnen nahestehende Personen attackierten oder töteten, entwickelte Cartwright (2002) einen prototypischen Modellverlauf derartiger Taten, der auf psychodynamischen Annahmen basiert. Er fand sozial gut angepasste Männer, die in der Interaktion mit anderen oft darauf bedacht waren, freundlich und harmonisch zu agieren, auch um ihre eigenen unbewussten Aggressionen zu umgehen. Durch eine identitätsbedrohende Krise, etwa eine Trennung oder ein Jobverlust, wird zunächst die spezifische, fundamentale Abwehrstruktur dieser Personen geschwächt, die von Cartwright als narzisstisches Skelett bezeichnet wird. Dies löst zumeist eine depressive Phase oder eine innere Unruhe aus, wobei sich hier im Unterschied zur klassischen katathymen Konzeption keine Mordgedanken im Bewusstsein formieren. Durch eine letzte Provokation, die völlig unbedeutend erscheinen kann, bricht schließlich die narzisstische Abwehr komplett zusammen, und
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Kapitel 11 · Gewaltanwendung und Gewalterfahrung
die Gewalttat entlädt sich eruptiv. Cartwright fand in seinem Sample allerdings kaum Stalkingverhalten im Vorfeld der Taten. Er sah dies aber möglicherweise als eine durch seine kleine Stichprobe bedingte Verzerrung an und nicht notwendigerweise als repräsentatives Ergebnis. 4 Bei einer Befragung von 120 Männern und Frauen in den USA, die wegen häuslicher Gewalt behördlich auffällig geworden waren, zeigte sich bei einer Untergruppe ein Stalkingmuster, das dem kathatymen Prozess stark ähnelte. Die Täter »tauchen förmlich ab mit ihrem heimlichen Verhalten, welches anonyme oder gleich wieder aufgelegte Telefonanrufe und das Eindringen in die Wohnung des Opfers ohne dessen Erlaubnis beinhaltet. Bevor sie sich zu erkennen geben, gibt es eine Phase, in der sie zwischen Liebes- und Hassgefühlen pendeln und Blumen und Geschenke schicken. Wenn sie diese Mischung aus geheimen und erkennbaren Verhalten schließlich hinter sich lassen und ihr Stalkingverhalten offen zeigen, bricht es plötzlich aus ihnen heraus und sie sie suchen das Opfer in dessen Haus auf und werden sehr gewalttätig« (Burgess et al. 1997, S. 399) 4 In einer britischen Studie verglichen James und Farnham (2002) die Charakteristika von 27 Stalkern, die ihre Opfer ermordeten oder schwer verletzten, mit 58 Stalkern, die nicht derartig gewalttätig waren. Bemerkenswerterweise fanden sich bei den klassischen Risikovariablen für Gewalt wie Alkohol- und Drogenmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen keine Unterschiede. Dagegen stalkten die schwere Gewalt ausübenden Täter ihre Opfer häufiger an deren Wohnung und hatten keinerlei Vorstrafen. Sie litten zudem häufiger an Depressionen, waren sozial gut integriert und zuvor nicht aggressiv auffällig. Die Gefahr einer katathymen Gewalttat, gerade bei Exbeziehungsstalking, birgt für den Opferschutz beträchtliche Implikationen. Man sollte sich demzufolge nicht mehr allein nur auf diejenigen Stalker konzentrieren, die schon in der Beziehung aggressiv und gewalttätig waren. Außerdem muss bedacht werden, dass auch eine Phase nichtggressiver Stalkinghandlungen nach der Trennung nicht automatisch eine Risikominderung bedeutet. Es scheint, dass vor al-
lem überkontrollierte, zu Depressionen neigende Personen, die vorher sozial unauffällig waren, ein Risiko für schwere Gewalttaten darstellen.
Psychotische Gewalt Psychotische Gewalt geschieht vor der Folie krankheitsbedingter Fehlwahrnehmungen der Realität und kann oftmals auch nur in diesen Bezügen verstanden werden. Sie stellt nicht selten eine rationale Reaktion auf eine irrationale Wahrnehmung dar, wie z. B. bei einem Paranoiker, der sich gegen seine vermeintlichen Verfolger zur Wehr setzt. Als eine erste Gruppe sind hier die Wahnerkrankungen zu nennen (zum Zusammenhang zwischen Liebeswahn und Gewalt 7 Kap. 7). Ein anderer Wahn, der mit Gewalt bei Stalkingfällen in Verbindung gebracht wurde, ist der Eifersuchtswahn. Silva et al. (2000) berichteten über einen Fall, in dem ein Mann sein Erwachsenenleben lang seine Partnerinnen wiederholt schlug, damit sie ihre Untreue gestehen, und sie außerdem beschattete, um ihrer vermeintlichen Untreue auf die Spur zu kommen. Auch hier wurden die Wut und das Verfolgungsverhalten des Stalkers von der wahnhaften Vorstellung angetrieben, er würde immer wieder von seinen Frauen betrogen werden. Wahnhaftes Stalking und Gewalt können zudem aus einem Motiv der Rache für vermeintliches Unrecht heraus geschehen. Hierbei ist es nicht selten schwierig festzustellen, ob das Indexerlebnis, das zu der Kränkung geführt hatte, nicht tatsächlich so oder ähnlich geschehen war oder ob schon damals eine wahnhaft verzerrte Wahrnehmung vorherrschend war. Oftmals steht jedoch das ungerecht erlebte Ereignis in keiner angemessenen Relation zu dem Rachewunsch, der in manchen Fällen sogar einen zentralen Teil des Denkens und Fühlens dominiert. Dressing et al. (2002) schildern ein Beispiel, in dem ein Angriff eines Stalkers mit einem lange zurückliegenden Vorfall begründet wurde.
Ein 28 Jahre alter Mann hatte das Haus und das Auto eines ehemaligen Klassenkameraden wiederholt beschädigt und auch Müll auf dem 6
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Grundstück verstreut. Schließlich kam es zu mehreren gewaltsamen Angriffen. Beispielsweise lauerte der junge Mann seinem früheren Bekannten an der Universität auf und schlug ihm von hinten auf den Kopf oder attackierte ihn in einem Restaurant. Als Grund für seine aggressiven Aktionen gab er an, vor über 10 Jahren von dem Stalkingopfer sexuell missbraucht worden zu sein. Tatsächlich – wie auch von Zeugen bestätigt wurde – hatten ihn auf einer Schulfahrt mehrere Klassenkameraden, unter ihnen das Stalkingopfer, im Schlaf ausgezogen, sein Schamhaar teilweise abrasiert und ihn in dieser degradierenden Pose fotografiert. Lange Jahre maß er diesem Ereignis offenbar keine große Bedeutung bei. Als er jedoch Mitte 20 war, eine intime Beziehung auseinander brach und er in eine tiefe Lebenskrise stürzte, erinnerte er sich wieder an den Vorfall. An diesem Punkt setzte eine wahnhafte Dynamik ein. Denn von nun an führte er all seine Probleme, vom Studienabbruch bis zu Akne, auf den bösartigen Streich zurück. Das brachte ihn schließlich auf den Gedanken, sich an seinem ehemaligen Peiniger zu rächen, auch um aus seiner Sicht wieder seine Selbstachtung zu erlangen. Er entwickelte eine eigene, subjektive Theorie des Traumas, um sein eigenes Schicksal zu erklären, die er gegen jede Alternativhypothese und jede Realitätstestung immunisierte.
Wie bereits diskutiert, kann Gewalt in Stalkingfällen auch unter dem Einfluss einer schizophrenen Erkrankung entstehen, wenn also Dinge über Sinnesorgane wahrgenommen werden, die nicht der Realität entsprechen. Insbesondere bei einer paranoiden Störung des Stalkers gilt es wachsam zu sein. Noch bevor Stalking als gesellschaftliches Problem erkannt wurde, erregte in den USA das Attentat eines schizophrenen Stalkers auf einen Filmstar großes Aufsehen (Saunders 1998; Ogilvie 2000b).
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Am 18. März 1982 verließ die junge Schauspielerin Theresa Saldana das Haus und wurde kurz vor ihrem Auto von einem fremden Mann angesprochen. »Sind sie Theresa Saldana?«, fragte der Unbekannte und sein Auftreten wirkte so unheimlich, dass die junge Frau versuchte wegzurennen. Der Mann verfolgte sie und stach mit einem Messer zehnmal auf sie ein, bevor ihn ein Lieferant, der Wasser in der Gegend ausfuhr, überwältigte und damit das Leben des Jungstars rettete. Der aus Schottland stammende Arthur Richard Jackson hatte Theresa Saldana in einem Film gesehen. Er verliebte sich in sie, sah jedoch zugleich, dass sein Ansinnen einer Beziehung wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Er entwickelte den Plan in die USA zu reisen, Saldana zu ermorden, gefasst und hingerichtet zu werden, um schließlich im Jenseits mit ihr zusammenzukommen. In Los Angeles angekommen, versuchte er zunächst über Management und Familie die Privatadresse der Schauspielerin herauszubekommen. Dabei gab er sich als Assistent des Regisseurs Martin Scorsese aus, verhielt sich dabei jedoch so auffällig, dass Saldana von ihrem Manager gewarnt wurde, ein »Verrückter« versuche mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie wandte sich an die Polizei, erhielt jedoch als Antwort, dass sie sich nicht sorgen solle, denn von 99% solcher Fälle ginge keinerlei Gefahr aus. Jackson gelang es schließlich über einen Privatdetektiv ihre Adresse herauszubekommen und so seinen Angriff durchzuführen. Er wurde aufgrund der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie in einer forensischen Psychiatrie untergebracht.
Zwar ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer physischer Aggression zu werden, bei prominenten Stalkingopfern deutlich geringer als in der normalen Bevölkerung, dennoch scheint es sehr wahrscheinlich, dass hier der Prozentsatz psychotischer Gewalt bei Angriffen im Vergleich zu anderen Opfergruppen höher liegt. Denn hinter dieser Form der Gewalt steht eine Beziehung, die allein in der Vorstellungswelt des Stalkers existiert und damit jeder realen Basis entbehrt.
12 Stalking als Fortsetzung häuslicher Gewalt
12.1 Definitionen – 185 12.2 Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens – 186 12.3 Formen – 187 12.4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Stalkern und häuslichen Gewalttätern – 188 12.5 Praktisches Vorgehen – 189
Gerade in der Praxis, etwa bei Opferberatungsstellen oder der Polizei, stellt sich häufig die Frage, auf welche Weise die Phänomene Stalking und häusliche Gewalt zusammenhängen. Dieser Punkt besitzt sehr konkrete Relevanz für ihre Arbeit, sind doch Menschenzu beraten, die ebenso physischer Gewalt durch ihren Expartner wie andauernder Verfolgung und Belästigung ausgesetzt sind. Auch die Entscheidung, welche Interventionsschritte eingeleitet werden, hängt nicht selten davon ab, wie die Dynamik von Stalking und häuslicher Gewalt eingeschätzt wird.
12.1
Definitionen
Auf welche Weise sich Stalking und häusliche Gewalt voneinander abgrenzen lassen, ist Gegenstand einer andauernden Diskussion. Zunächst einmal ist schon der Begriff der »häuslichen Gewalt« alles andere als eindeutig bestimmt. Kontrovers blieb über
lange Zeit, welche Formen und welche Schweregrade der Gewalt hierunter subsumiert werden (Gelles 2002; Franke et al. 2004). Mittlerweile hat sich eine Unterscheidung in folgende Bereiche etabliert: 4 körperliche Gewalt, 4 sexualisierte Gewalt, 4 psychische Gewalt. So heißt es beispielsweise bei Walker und Meloy (1998): »Häusliche Gewalt wurde begrifflich gefasst als der Versuch eines Missbrauchs, bei dem physische, sexualisierte oder psychologische Gewalt angewandt wird, um einer Frau die Macht und Kontrolle über ihr Leben zu entreißen« (S. 140). Im Zusammenhang mit Stalking ist auch in Fachdiskussionen oft nicht klar, mit welchen der 3 Aspekten der häuslichen Gewalt ein Zusammenhang hergestellt werden soll, was manchmal zu entsprechender Konfusion führt. Grundsätzlich ist zu fragen, wo häusliche Gewalt aufhört und an welcher Stelle Stalking anfängt. So lässt sich eine wiederholte
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Kapitel 12 · Stalking als Fortsetzung häuslicher Gewalt
Verfolgung und Belästigung zum einen schlichtweg als Fortsetzung häuslicher Gewalt mit bestimmten Mitteln verstehen. Stalking ist der Name, der einer Kombination von Aktivitäten gegeben wird, die jemand missbräuchlich mit dem Ziel durchführt, dass er von seinem Partner nicht getrennt wird. Vielleicht die erfolgreichste Methode, die häusliche Gewalttäter einsetzen, um ihr Ziel der Kontrolle zu erreichen, ist die systematische Isolation der Frau von ihrer Familie, ihren Freunden und anderen sozialen Unterstützungssystemen. Obgleich schwer zu greifen – weil das gezeigte Verhalten oftmals nur die Extremform typischer Verhaltensweisen zwischen Partnern darstellt, wie etwa Fragen nach den Aktivitäten des anderen oder Anrufe, um herauszufinden, wie der Tag gelaufen ist [Åc] –, ab dem Punkt, ab dem eine Form der Beobachtung, der Überwachung und von übertriebenen Besitzansprüchen erreicht ist, die Angst auslöst, nähern wir uns dem Stalking. Wie viele andere Muster psychologischer Manipulationen bleibt der Beginn dieses Verhaltens wegen der großen Ähnlichkeit zu normalen Interaktionen bei Paaren unbemerkt. (Walker u. Meloy 1998, S. 142)
12
Mit einer etwas differierenden Schwerpunktsetzung wird Stalking als eine Form der Ausübung von Macht und Kontrolle gesehen, die dem häuslichen Gewalttäter generell zu eigen ist und auf anderem Wege auch alleine durch körperliche Gewalt realisiert werden könnte (Brewster 2003). Eine andere Position, wie sie etwa von Mullen et al. (2000) vertreten wird, besteht darin, dass häusliche Gewalt und Stalking zusammen eigentlich nicht auftreten können. Häusliche Gewalt ist demzufolge zeitlich vor einer Trennung einzuordnen, Expartnerstalking danach. Wird andererseits Stalking als kontrollierendes und verfolgendes Verhalten ausschließlich dem nachpartnerschaftlichem Zeitraum zugeordnet, d. h. beziehen sich die Stalkingaktivitäten nur auf den/ die ehemaligen PartnerIn, geht mit der Trennung ein Motivationswechsel einher. Handlungsleitend ist dann nicht die Aufrechterhaltung von Machtund Gewaltstrukturen, sondern die Wiederherstel-
lung der Beziehung, ihre »Rettung«, die Wiedergewinnung der Partnerin, wobei auch hier bei Misserfolg die Schadenszufügung aus Rache als weiteres Motiv hinzutreten kann. (Ohms 2004, S. 124)
Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, sich vor Augen zu führen, dass es ebenso wenig den Stalker wie den häuslichen Gewalttäter gibt. Beide Konstrukte sind primär keine Markierungen bestimmter Charaktereigenschaften oder spezieller Persönlichkeitstypen, sondern sie sind Beschreibungen eines bestimmten Musters von Verhaltensweisen: Einmal der Ausübung von dominanten und aggressiven Handlungen gegenüber einem Beziehungspartner, zum anderen der andauernden wiederholten Belästigung oder Verfolgung eines anderen Menschen gegen dessen Willen. Ein Stalker oder ein häuslicher Gewalttäter zu sein schließt sich also gegenseitig nicht aus, es gilt vielmehr näher zu betrachten, zu welchem Zeitpunkt in einer Beziehungsgeschichte welche grenzverletzenden Handlungen in welcher Situation gesetzt werden.
12.2
Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens
Wie häufig treten Stalking und häusliche Gewalt gemeinsam auf? Hierbei geht es auch um die Frage, wie eng beide Phänomene ihrem Wesen nach miteinander zusammenhängen. In einer Studie, bei der gut 550 Stalkingopfer aus dem deutschsprachigen Raum befragt wurden, scheinen die Handlungsmuster bei weitem nicht immer zusammenzulaufen, denn nur jeder 5. Betroffene gab an, sowohl Stalking als auch häuslicher Gewalt in Form körperlicher Aggression ausgesetzt gewesen zu sein (Voß et al. 2005). Diese Zahl lässt sich so aufschlüsseln, dass etwa jedes 2. Stalkingopfer von seinem früheren Partner verfolgt und belästigt wurde und dass es wiederum in 40% dieser Fälle von Exbeziehungsstalking schon vor der Trennung Gewalt gegeben hatte. Es zeigte sich in der Studie ebenso eine deutliche Kontinuität der Gewalt. Diejenigen Betroffenen, die bereits in der Beziehung physische Gewalt erfahren hatten, waren zu 3 Vierteln auch in der nachfolgenden Stalkingphase körperlichen Angriffen ausgesetzt, eine
187 12.3 · Formen
Rate, die etwa doppelt so hoch lag wie der Durchschnittswert über alle Stalkingfälle hinweg. Eine deutlich engere Verknüpfung zwischen Stalking und Beziehungsgewalt fand sich bei einer repräsentativen Befragung in den USA. Hier berichteten mehr als 80% der Opfer von Expartnerstalking, bereits während der Beziehung körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein (Tjaden u. Thoennes 1998a). Genau aus der anderen Richtung näherten sich Burgess et al. (1997) der Fragestellung. Sie untersuchten eine Stichprobe von 120 häuslichen Gewalttätern und befragten diese mit Hilfe einer speziellen Checkliste nach Stalkingverhalten. Dies war bei einem knappen Drittel der Fall. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass bei einer stabilen Minderheit aller Fälle eine prozentual signifikante Überschneidung zwischen häuslicher Gewalt und Stalking zu findetn ist.
12.3
Formen
Bereits der Titel der ersten wissenschaftlichen Publikation zum Thema gab sich programmatisch, lautete er doch »Stalking as a variant of domestic violence« (Kurt 1995). Hier war man allerdings noch weit entfernt von einer theoretisch fundierten Zusammenführung der beiden Phänome; lediglich einige Fallbeispiele und eine kurze Literaturübersicht über die beiden Themengebiete wiesen den Weg zu einer neuen Fragestellung. Schon bald darauf unternahm Coleman (1997) den Versuch, Handlungsformen der obsessiven Verfolgung und Belästigung in bereits bekannte Strukturmuster der häuslichen Gewalt einzuordnen. Er brachte Stalking mit dem sog. Zyklus der häuslichen Gewalt (»cycle of violence«) in Verbindung. Dieser Kreislauf besteht in seiner grundlegenden Form aus 3 Phasen, die wie in einer Schleife immer wieder durchlaufen werden: 4 Während der Phase des Spannungsaufbaus (»tension-building stage«) stauen sich beim häuslichen Gewalttäter die Aggressionen allmählich an, die Spannung liegt auch für den Partner immer spürbarer in der Luft. 4 In der Phase der Gewaltexplosion (»explosion phase«) kommt es zu den eigentlichen Akten körperlicher, sexueller und psychischer Aggression.
4
12
Die »Honeymoonphase« schließlich ist dadurch gekennzeichnet, dass der häusliche Gewalttäter sich reuevoll zeigt, dass er um Vergebung bittet und verspricht, nie wieder Gewalt anzuwenden. (Damit ist der Gesamtzyklus abgeschlossen, und die Phase des Spannungsaufbaus setzt erneut ein.)
Coleman vermutet, dass Stalking vor allem dann auftritt, wenn das Opfer den Kreislauf durchbrechen will und versucht, sich von dem häuslichen Gewalttäter zu trennen. Wenn der Mann gewahr wird, dass seine Partnerin anstrebt ihn zu verlassen und dass seine üblichen Methoden der Kontrolle nicht mehr effektiv sind, ist es wahrscheinlich, dass er den Ausweg in extremeren Formen der Gewalt sucht. […] Zu diesem Zeitpunkt unterliegt das Opfer zudem einem höherem Risiko, zum Ziel wiederholter, unerwünschter Aufmerksamkeit und Belästigung zu werden […]. Diese Aufmerksamkeit kann in unzählig verschiedenen Formen Ausdruck finden. Der Expartner verschickt möglicherweise Geschenke, er macht Anrufe oder nähert sich seiner früheren Gefährtin zu Hause oder auf der Arbeit. Die Zuwendung wandelt sich in zunehmend in Gewalttätigkeit, wenn seine Versuche, die Beziehung wieder zusammen zu führen, scheitern. (Coleman 1997, S. 422)
Doch bleibt die Meinung, dass es vor allem dann zu obsessiver Verfolgung und Belästigung kommt, wenn die Betroffene versucht, den Zyklus der häuslichen Gewalt hinter sich zu lassen, nicht unangefochten. Baldry (2002) etwa sieht Stalking geradezu als ein Kernmerkmal dieses Kreislaufs an. Douglas und Dutton (2001) gehen davon aus, dass die Formen des Stalkings in verschiedenen Phasen des häuslichen Gewaltzirkels differieren. Die Periode des Spannungsaufbaus kann etwa durch hartnäckige, konfrontative Verhaltensweisen charakterisiert sein, wie beispielsweise kontrollierende Telefonanrufe oder wiederholte Drohungen, die Honeymoonphase hingegen durch andauernde Anrufe und Briefe voller Liebesbekundungen.
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188
Kapitel 12 · Stalking als Fortsetzung häuslicher Gewalt
12.4
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Stalkern und häuslichen Gewalttätern
Mehrere Studien haben gezeigt, dass sich zwischen Opfern von häuslicher Gewalt und Stalking aus soziodemografischer Sicht im wesentlichen keine größeren Unterschiede erkennen lassen (Löbmann 2004; Küken, Hoffmann u. Voß 2005). Auch auf Seiten der »Täter« gibt es offenbar Übereinstimmungen. Bei einer Literaturauswertung fanden Douglas und Dutton (2001) eine hohe Kongruenz zwischen Expartnerstalkern und häuslichen Gewalttätern des Borderline- bzw. zyklischen Typus. Bei beiden Gruppen wurden gehäuft Persönlichkeitsstörungen aus der zweiten Gruppe des DSM (beispielsweise narzisstischer Natur) sowie bestimmte psychologische Charakteristika wie ein Hang zu Eifersucht und Aggression, emotionale Unbeständigkeit, primitive Abwehrmechanismen und frühe negative Bindungserfahrungen festgestellt. Küken et al. (2005) versuchten herauszufinden, inwiefern sich Männer, die entweder Stalking oder häusliche Gewalt oder aber sogar beide Handlungsmuster zeigten, sich zuvor im Beziehungsverhalten voneinander unterschieden. Für diesen Zweck gaben sie an insgesamt 150 Frauen, die in dieser Hinsicht unterschiedliche Erfahrungen gemacht hatten, Fragebögen aus, in denen das Verhalten ihres früheren Partners abgefragt wurde. Die Erhebung enthielt auch eine Kontrollgruppe mit Personen, die keiner-
lei negative Erlebnisse dieser Art vor, während oder nach der Trennung gemacht hatten. Insgesamt 11 Kategorien von Beziehungsverhalten wurden erfasst, die von aggressiven Handlungen wie Einschüchterung, Kontrolle und Gewalt bis hin zu eher passiv ausgerichteten Mustern wie Liebesbeweise und Furcht vorm Verlassenwerden (»ängstliche Bindung«) reichten (. Tab. 12.1). Rein quantitativ betrachtet zeigten die beiden Gruppen, in denen häusliche Gewalt auftrat – und zwar einmal mit und einmal ohne Stalking – die mit Abstand auffälligsten Beziehungsmuster. Hier gab es viele aggressive Verhaltensweisen. Die reine Stalkinggruppe offenbarte sich mit den beiden auffälligen Beziehungsmustern »Ängstliche Bindung« und »Falsche Versöhnung« in der Partnerschaft als eher ängstlich und versuchte durch ein vornehmlich nicht aggressives Interaktionsverhalten den anderen an sich zu binden. Zwar traten diese ängstlichen Bindungsmuster ebenfalls in der sowohl Stalking als auch häusliche Gewalt zeigenden Gruppe auf, doch dominierte hier insgesamt deutlich aggressives Verhalten. Was lässt sich nun aus diesen Ergebnissen ableiten? Vor allem eines: Stalking ist nicht gleich Stalking. Aufgrund der großen Ähnlichkeit zwischen den Männern, die häusliche Gewalt einmal mit und einmal ohne späteres Stalking ausübten, scheint hier die Schlussfolgerung berechtigt, dass es in beiden Gruppen vor allem um Macht und Kontrolle geht. Stalking ist dabei ein integrativer Teil des Musters häuslicher Gewalt. Ganz anders hingegen erweist sich die Lage bei den Männern, die aus-
. Tabelle 12.1. Beziehungsverhalten im Hinblick auf Stalking und häusliche Gewalt. (Nach Küken et al. 2005)
Stalking
Stalking und häusliche Gewalt
Häusliche Gewalt
– Ängstliche Bindung – – – – – – Falsche Versöhnung – –
Kontrolle Ängstliche Bindung Ärger, Eifersucht »Liebesbeweise« – Isolation Kritik Körperliche und sexuelle Gewalt Falsche Versöhnung – Narzisstische Kränkung
Kontrolle – Ärger, Eifersucht – Einschüchterung Isolation Kritik Körperliche und sexuelle Gewalt – Erpressung Narzisstische Kränkung
189 12.5 · Praktisches Vorgehen
schließlich Stalkingverhalten zeigten. Bei ihnen scheint die obsessive Verfolgung und Kontaktaufnahme vor allem ein Versuch sein, die Beziehung wiederherzustellen.
12.5
Praktisches Vorgehen
Angehörige von Berufsgruppen, die mit Opfern oder mit den Verfolgern selbst zu tun haben, sollten in Fällen von Expartnerstalking genauer hinsehen. Denn offenbar treten sehr unterschiedliche Dynamiken auf, je nachdem ob die Beziehung zuvor von Gewalt geprägt war oder nicht. Dieses Wissen ist gerade in der Beratungsarbeit von großer Bedeutung. Es gibt mancherorts die Tendenz, die Bearbeitung von Stalking an bereits vorhandene Strukturen anzuschließen, die sich schwerpunktmäßig mit häuslicher Gewalt beschäftigen. Dabei handelt es sich z. B. um Opferberatungsstellen oder um spezielle Ansprechpartner bei der Polizei. Das Instrumentarium zum Umgang mit häuslicher Gewalt ohne weitere Differenzierung auf Stalkingfälle anzuwenden, ist allerdings problematisch (Hoffmann u. Wondrak 2005b; Sieverding 2004). Zwar mag sich ein solches Vorgehen gelegentlich als effektiv erweisen, manchmal wird es jedoch kontraproduktiv sein. Und noch ein weiterer Aspekt im Zusammenspiel von häuslicher Gewalt und Stalking ist zu nennen: Beide Faktoren treten regelmäßig gemeinsam im Vorfeld schwerer Gewalttaten von Expartnern auf (Aldridge u. Browne 2003). Dieser Zusammenhang ist schon länger auch aus Fallberichten der forensischen Psychiatrie bekannt (Rasch 1995). Zum Schutz und zur Sicherheit der Opfer sind also im Einzelfall die genaue Erfassung und die Bewertung des Wechselspiels beider Phänomene durch einen geschulten Experten wichtig.
12
13 Vorgebliche Stalkingopfer (»Falsches-Opfer-Syndrom«) 13.1 Häufigkeit – 191 13.2 Typologie – 192 13.3 Mögliche Merkmale – 194
Das Phänomen, dass sich Personen als Opfer von Stalking ausgeben, obgleich dies in Wirklichkeit nicht der Fall ist, bezeichnet man im englischsprachigen Raum als »false victimization syndrome« oder auch als »false reports of stalking«. Das Auftreten unechter Stalkingviktimisierungen ist durchaus als Problem zu betrachten, werden doch therapeutische, juristische und polizeiliche Ressourcen gebunden und Unschuldige möglicherweise als Stalkingtäter verdächtigt.
13.1
Häufigkeit
Die empirischen Befunde zur Auftretenshäufigkeit dieses Verhaltenssyndroms sind abhängig von der Gruppe von Personen, die dem Falschen-OpferSyndrom zugerechnet werden. So stießen Experten der Threat Management Unit der Polizei von Los Angeles nur auf ein geringes Aufkommen. Bei einer Untersuchung von 341 Stalkingfällen aus ihrem Er-
mittlungsfundus fanden sie, dass es sich lediglich bei 6 Taten, also knapp 2%, um einen vorgetäuschten Vorfall handelte (Zona et al. 1998). Hierbei bezogen sie offenbar keine Personen mit Wahnvorstellungen mit ein. Dennoch dürfte die Zahl zu niedrig angesetzt sein, ist hier doch nur der Ausschnitt derjenigen Fälle erfasst, die überhaupt bei der Polizei gemeldet und dort untersucht wurden. Eine neuere Studie (Sheridan u. Blaauw 2004) kam auf Anteile von 10% vorgetäuschter Vorfälle in einer niederländischen Gruppe von Stalkingopfern und 20% in einer britischen Stichprobe. In knapp 3 Vierteln der Fälle standen Wahnvorstellungen hinter dem Falschen-OpferSyndrom. Diese Ergebnisse korrespondieren mit den Erfahrungen von Klinikern und professionellen Stalkingberatern in der Praxis. Danach berichten vorgebliche Opfer typischerweise oft über regelrechte Netzwerke von Stalkingtätern, die sie verfolgen, oder über spezielle Beobachtungsmaßnahmen des Stalkers, die in der Realität nur selten vorkommen, wie
192
Kapitel 13 · Vorgebliche Stalkingopfer (»Falsches-Opfer-Syndrom«)
das Überwachen der Telefonleitung oder die Installierung von Wanzen oder Kleinstkameras. Auch in Deutschland lässt sich seit einiger Zeit feststellen, dass mit zunehmender Medienberichterstattung über Stalking und der damit einhergehenden größeren Bekanntheit des Begriffs häufiger Personen mit einem Verfolgungswahn annehmen, selbst Opfer von Stalking zu sein. Diese Beobachtung ist insofern plausibel, als sich Wahninhalte erfahrungsgemäß häufig an öffentlich diskutierten Themen bzw. kollektiven Bedrohungsängsten orientieren. Zudem fügt sich das Konzept des Stalkings, also der dauerhaften Belästigung und Verfolgung durch andere, passgenau in die Wahrnehmungswelt des Paranoikers.
13.2
Typologie
Es wurden bislang 5 verschiedene Untergruppen des Falschen-Opfer-Syndroms ausgemacht (Pathé et al. 1999; Mullen et al. 2000; Sheridan u. Blaauw 2004).
13
Gruppe 1. Hier handelt sich um Stalker, die angeben, selbst Opfer zu sein (»stalker-victim reversals«). Eine solche zunächst grotesk anmutende Rollenvertauschung tritt häufiger auf, als sich vielleicht auf den ersten Blick vermuten lässt. Hinter dem Phänomen können sich unterschiedliche Ursachen verbergen. Zum einen versuchen manche Stalker auf diese Weise, bevorstehenden juristischen Maßnahmen entgegenzuwirken. Des Weiteren erstatten einige Täter Anzeige wegen Stalkings gegen die eigentlich von ihnen bedrängten Opfer, um diese noch perfider zu terrorisieren – eine Taktik, die bedauerlicherweise nicht selten aufgeht. Die vielleicht größte Gruppe von Stalkern dieser Gruppe (meist mit psychischen Auffälligkeiten) glaubt tatsächlich, verfolgt zu werden bzw. flüchtet sich in eine solche Phantasie, um das eigene belästigende Verhalten zu rationalisieren oder Aufmerksamkeit zu erhalten.
Ein Stalker verfolgte eine prominente Sportlerin über Jahre hinweg und setzte ihr außerdem mit Telefonterror zu. Plötzlich beschuldigte er den Star, Privatdetektive auf seine Spur 6
gesetzt zu haben, die ihn permanent beschatteten. Dies entsprach mitnichten der Wahrheit. Der Stalker versuchte dennoch, bei Polizeibehörden, Datenschutzbeauftragten und Medien gegen die vermeintliche Verfolgung seiner Person vorzugehen. Dabei wirkte er emotional sehr aufgewühlt, indem er seine Schilderungen manchmal weinend, manchmal wutentbrannt schreiend zum Ausdruck brachte. Ein anderer Stalker, der wegen wiederholter Belästigung der Schauspielerin Nicole Kidman gerichtlich mit einem Annäherungs- und Kontaktverbot versehene US-Amerikaner Matt Hooker, bezichtigte den Star auf seiner Internetseite, in Wirklichkeit ihn verfolgt zu haben. Dort heißt es: »Sie flirtete mit mir … Sie wollte, dass ich ihr folge … ich hatte zu tun und lehnte ab … Nachdem Nicole noch einige andere Dinge tat, um mir zu zeigen, dass sie Interesse an mir hat, wollte ich sie und ihre Kinder an einem Sonntag Nachmittag zum Eisessen ausführen … Nachdem ich Blumen hinterließ, schickte sie mir einen Sicherheitsmann hinterher, der versuchte, mich festzunehmen und mich beschimpfte.«
Gruppe 2. Wenn Wahnvorstellungen auftreten, gestalkt zu werden (»delusional false victims«), ist die vermeintliche Viktimisierung Folge einer psychischen Erkrankung, die in der Regel psychotischer Natur ist. Wie bereits ausgeführt, verfügen die Betroffenen häufig über ein Wahnsystem, in dem sie von einer Vielzahl von Tätern verfolgt und überwacht werden. Wie ein Beispiel zeigt, kann es sich dabei auch primär um sexuelle Übergriffe handeln.
Das niederländische Model Karen Mulder berichtete im Herbst 2001 in einer Aufzeichnung für eine französische Talkshow, sie sei von einem »gekrönten Haupt«, ihrem Vater und einem leitenden Angestellten einer Mannequinagentur sexuell missbraucht worden. Vor lau6
193 13.2 · Typologie
fender Kamera erlitt die 31-Jährige dabei einen Nervenzusammenbruch. Zeugen der nicht öffentlich ausgestrahlten Sendung beschrieben Mulders Zustand als eine Art paranoides Delirium. Der Mannequinstar unterzog sich anschließend einer stationären psychiatrischen Behandlung. Obgleich die von ihr geschilderten Erlebnisse ganz offensichtlich zumindest teilweise auf Wahnvorstellungen zurückzuführen waren, ist es selbstverständlich möglich, dass Mulders psychotische Episode in tatsächlichen Missbrauchserfahrungen wurzelt.
In seltenen Fällen schlägt sich auch Erotomanie, d. h. die irrige Überzeugung, von einer bestimmten anderen Person geliebt zu werden (7 Kap. 7), in einer Symptomatik von falschen Verfolgungsgefühlen nieder (Mullen et al. 2000).
Eine Frau, die gegen einen Kollegen Wahnvorstellungen erotomanischer Natur entwickelte, war wegen wiederholter Überschreitung eines von ihm erwirkten Annäherungsverbotes verurteilt worden. Während ihrer Haftstrafe gab sie an, dass er sie mit telepathischen Nachrichten sexuellen Inhaltes regelrecht bombardierte. Nach ihrer Entlassung zeigte sich die Frau überzeugt, dass ihr Kollege nachts heimlich in ihre Wohnung eindrang, Sex mit ihr ausübte, während sie schlief, und dass er versprach zurückzukommen, um sie zu heiraten.
Gruppe 3. Die dritte Gruppe vermeintlicher Opfer setzt sich aus Personen zusammen, die in der Vergangenheit tatsächlich einmal Opfer von Stalking wurden und in der Angst einer erneuten Viktimisierung übersensibel auf vermeintliche Annäherungshandlungen anderer Personen reagieren (»reversal false victims«). Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die traumatische Erfahrung einer wiederholten und andauernden Verletzung des persönlichen Raumes zu einem massiv erhöhten Misstrauen gegenüber anderen Menschen führen kann, insbesondere gegenüber Personen, die dem früheren Täter in einem
13
bestimmten Merkmal ähneln. Tatsächlich findet man in Gesprächen mit Stalkingopfern gelegentlich stark auf Vorsicht ausgerichtete, ängstliche und manchmal schon fast paranoide Gedanken, ein Befund, der auch empirisch Bestätigung fand (Hall 1998).
Ein Schauspieler, der über einen längeren Zeitraum einem sehr heftigen Stalkinggeschehen ausgeliefert war, entwickelte die Idee, dass er aufgrund seiner blauen Augen und blonden Haare geradezu schicksalhaft prädestiniert sei, Zielobjekt obsessiver Fankontakte zu werden. In der folgenden Zeit glaubte er wahrzunehmen, dass ihn mehrere Personen sowohl auf der Straße nahe seiner Wohnung als auch im Aufnahmestudio beschatteten, ein Eindruck, der in seinem Umfeld nicht geteilt wurde.
Gruppe 4. Personen mit einer vorgetäuschten Störung (»factitous disorder«) simulieren willentlich psychologische oder physiologische Symptome, um in der Rolle des Kranken bzw. des Opfers Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten. Ein solcher Hintergrund ist gelegentlich auch bei vermeintlichen Stalkingbetroffenen festzustellen. Es kann dabei zu einer regelrechten »Opferkarriere« kommen, in der diese Form des vorgetäuschten Betroffenenstatus zu einer grundlegenden Problemlösungssstrategie wird.
Die Managerin einer großen Plattenfirma gab an, wiederholt Drohschreiben und zudem Drohanrufe an ihrem Arbeitsplatz erhalten zu haben. Sie hatte sich kurz zuvor von ihrem langjährigen Lebensgefährten getrennt; ihr beruflicher Aufstieg steckte bereits seit einiger Zeit in einer Sackgasse. Ihr Arbeitgeber zeigte sich sehr besorgt und bot ihr umfangreiche Unterstützung an. Zugleich schaltete das Unternehmen die Polizei ein, um den aggressiven Stalker, der hier offenbar am Werk war, dingfest zu machen. Tatsächlich ergaben die Ermittlungen relativ schnell, dass die Managerin die Briefe 6
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Kapitel 13 · Vorgebliche Stalkingopfer (»Falsches-Opfer-Syndrom«)
selbst verfasst und die Anrufe frei erfunden hatte. Außerdem stellte sich heraus, dass sie bereits 15 Jahre zuvor während einer beruflichen Krise in einer anderen Firma einen ähnlichen Stalkingfall fingiert hatte.
Gruppe 5. Angehörige dieser Gruppe versuchen durch das Vortäuschen Stalkingopfer zu sein einen handfesten Gewinn oder Vorteil zu erzielen, beispielsweise finanzieller Natur. Tatsächlich existiert in dieser Kategorie auch ein spezielles Falsches-OpferSyndrom, das von der Motivlage her ausschließlich für Personen des öffentlichen Lebens Sinn ergibt. Hierbei ist das vornehmliche Ziel, durch die mediale Berichterstattung über einen Stalkingvorfall Aufmerksamkeit zu erregen und somit die Karriere und den eigenen Starstatus voranzubringen. Diese Sonderform einer simulierten Stalkingopferrolle wird in einen Fall aus Australien (Mullen et al. 2000) deutlich.
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Die australische Entertainerin Fairlie Arrow gab öffentlich vor, sie werde von einem obsessiven Fan gestalkt. Tatsächlich ging sie schließlich so weit, ihre eigene Entführung vorzutäuschen, um ihrer stagnierenden Karriere durch die so gewonnene Aufmerksamkeit neuen Aufschub zu geben. Der Schwindel flog auf und Arrow wurde zu einer Geldstrafe von 23.500 australischen Dollar verurteilt, die sie durch einen Nacktauftritt im Penthouse-Magazin aufbrachte.
13.3
Mögliche Merkmale
Auf der Grundlage von Erfahrungen der Threat Management Unit der Polizei von Los Angeles (Mohandie et al. 1998) und denen einiger klinischer Psychiater und Psychologen (Mullen et al. 2000) lassen sich bestimmte Merkmale ausmachen, die eine vorgetäuschte oder fälschlich geglaubte Viktimisierung nahe legen. Diese Faktoren umfassen zum einen die Art der Selbstdarstellung der vermeintlichen Opfer: Diese sind demnach weniger ambivalent in ihren
Schilderungen der Verfolgung und Belästigung, zeigen kaum echte Angst und treffen selten ernstzunehmende Schutzmaßnahmen für ihre persönliche Sicherheit. Zudem erzielen sie häufig einen sozialen und psychologischen Gewinn aus der Rolle des Betroffenen, indem sie etwa die Anteilnahme und das Mitgefühl ihres Umfeldes auf sich ziehen. Vereinzelt sind auch handfeste Motive für eine simulierte Opferhaltung erkennbar, beispielsweise um die mit einer geheimgehaltenen Affäre einhergehenden Telefonanrufe zu erklären. In ihrer Vergangenheit hat diese Gruppe vermeintlicher Stalkingbetroffener nicht selten andere manipuliert und beschwindelt und war bereits unter ähnlich mysteriösen Umständen wie im aktuellen Fall schon einmal »Opfer« geworden. Die Personen wollen Aufmerksamkeit erheischen oder weisen eine Vorgeschichte vorgetäuschter oder überdramatisierter Krankheitsbilder auf. Als weitere Auffälligkeit werden gelegentlich soziale Stressfaktoren beobachtet, die sich etwa um Beziehungs- oder Entwicklungsproblematiken drehen, sodass ein Falsches-Opfer-Syndrom in diesem Zusammenhang der Konfliktvermeidung dient. Auch in empirischen Studien wurden biografische und psychostrukturelle Variablen untersucht, um Besonderheiten zu finden, die möglicherweise gehäuft bei vermeintlichen Stalkingopfern auftreten. Die australische Forschungsgruppe um Mullen stieß zwar hinsichtlich der Variablen Alter, Geschlecht und Beschäftigung auf keine Auffälligkeiten, auffälligerweise befand sich aber keines der vorgetäuschten Opfer in einer festen intimen Beziehung (Pathé et al. 1999; Mullen et al. 2000). Zugleich agierten die vermeintlichen Opfer expressiver, indem sie häufiger Hilfsorganisationen und Psychiater aufsuchten, öfter juristisch vorgingen und Selbstmordabsichten kundtaten. In der Wahl ihrer Unterstützer erwiesen sie sich als recht sprunghaft und wechselten oftmals die Ansprechpartner, sofern diese Zweifel an ihrer Geschichte äußerten. Allerdings ließen sich nicht alle Unterschiede in zwei europäischen Stichproben replizieren, und einige Ergebnisse widersprachen sogar den Ergebnissen aus Australien (Sheridan u. Blaauw 2004). Bislang gibt es also kein eindeutiges empirisch fundiertes Merkmalsschema, mit dem sich vermeintliche von echten Stalkingopfern sicher differenzieren ließen. Die entsprechenden Faktoren, die
195 13.3 · Mögliche Merkmale
bislang aus Forschung und praktischer Arbeit gewonnen wurden, scheinen auf unterschiedliche Weise in einigen Fällen zu gelten, in anderen hingegen nicht. Dennoch können die einzelnen Merkmale als Heuristiken dienen, die bei einer individuellen Einschätzung als Ausgangspunkt für eine weitere Untersuchung eingesetzt werden. Dabei erscheint es sinnvoll, auf den konkreten Kontext des verdächtigen Falles zu achten und sich auch die Frage zu stellen, weshalb die Einnahme der Opferrolle für die entsprechende Person von Nutzen sein könnte. Beispielsweise beschreiben Jones und Lipson (2001) eine spezifische Form des FalschenOpfer-Syndroms, die sie in US-amerikanischen Universitäten fanden. Die typische Ablaufstruktur ist folgendermaßen: Eine bislang schulisch erfolgreiche junge Frau kann auf der Hochschule ihren gewohnten Leistungsstandard nicht mehr halten. Zugleich sieht sie sich mit einer hohen Erwartungshaltung seitens ihrer Familie konfrontiert. Als eine nach außen hin plausible Erklärungsmöglichkeit, weshalb ihre akademischen Erfolge unterhalb der übersteigerten Erwartungen bleiben, erscheint es ihr als Ausweg, sich als Opfer eines Stalkers darzustellen. Dadurch ist ihr außerdem noch die Zuneigung des sozialen Umfeldes sicher. Auffällig an derartigen Fällen war, dass sich die Selbstdarstellung der Opfer stark an Medienklischees orientierte und dass es sich bei dem angeblichen Stalker immer um einen unbekannten Täter handelte, der eine unklare Motivation hatte, außer derjenigen, Terror auszuüben. Für die angeblichen Vorfälle war es zusätzlich meist typisch, dass niemals Dritte als Zeugen zugegen waren. Durch zunehmende Aufmerksamkeit und etwa dem Einschalten der Polizei kann das vermeintliche Stalkingopfer immer mehr unter Druck geraten und die Inszenierung hinsichtlich der Dramaturgie sukzessiv steigern. Jones und Lipson (2001) machen in diesem Zusammenhang auf die negativen Auswirkungen aufmerksam, die vorgetäuschte Stalkingvorfälle auf die betroffenen Institutionen haben können.
Eine Studentin gab an, auf dem Campus von einem unbekannten Mann wiederholt verfolgt und bedroht worden zu sein. Die Geschichte 6
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erregte derart viel Aufsehen, dass zahlreiche Fernsehsender darüber berichteten. Auf dem Campus stieg die Angst, auch zum Opfer zu werden, und es herrschte Misstrauen, dass der aus dem Hinterhalt agierende Stalker aus der Studentenschaft stammen und etwa der nette Junge aus dem Nachbarappartement sein könnte. Der Universitätsverwaltung drohten zudem Anzeigen, da sie angeblich nicht mehr die Sicherheit der Studierenden gewährleisten könne.
Dies ist sicher ein Extrembeispiel, doch steht zu befürchten, dass mit zunehmender Akzeptanz der teilweise beträchtlichen psychischen Auswirkungen von Stalking auch in Deutschland Fälle zum Problem werden könnten, bei denen Menschen in einer Krise eine Viktimisierung bewusst vortäuschen. Aufgrund der Erfahrung, dass mögliche Warnsignale nicht eindeutig sind und dass Stalker gelegentlich sehr ungewöhnliche Verhaltensweisen bei der Verfolgung ihrer Opfer zeigen, muss bei der Einstufung eines Falles in die Kategorie »Falsches-Opfer-Syndrom« immer auf große Sorgfalt geachtet werden. Es gab auch unter Prominenten Fälle, in denen echte Opfer als vermeintliche Simulanten dargestellt wurden. So geriet ein US-amerikanischer Talkmaster in den Verdacht, den tätlichen Angriff eines Stalkers vorgetäuscht zu haben, da zunächst weder Zeugen noch Indizien identifizierbar waren. Erst Jahre später wurde der Vorfall als reales Ereignis öffentlich verifiziert, als der Stalker nach einem anderen Gewaltdelikt verhaftet werden konnte. Auch in Deutschland wurde an der Darstellung einer Sängerin gezweifelt, sie sei in ihrer Garderobe Opfer einer Stalkingattacke geworden, obgleich es keinerlei stichhaltige Hinweise auf eine wahrheitswidrige Darstellung gab.
14 Cyberstalking
14.1 Empirische Befunde – 198 14.2 Besondere Qualitäten – 198 14.3 Formen – 201 14.4 Prävention – 204
Auf den ersten Blick mag Cyberstalking wie ein Modeschlagwort wirken, das vor allem dem Boom der virtuellen Welten Tribut zollt, aber letztlich inhaltlich ohne eigentliche Substanz bleibt. Tatsächlich gilt der Begriff auch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft mittlerweile als fest etabliert – nicht zuletzt weil die Erfahrungen in der realen Welt zeigen, dass es sich hier um ein ernstzunehmendes Problem im Kontext von Stalking handelt. Cyberstalking bezeichnet Stalkingverhalten, das sich eines vernetzten Computers bedient. Es handelt sich um die obsessive Verfolgung oder Belästigung einer anderen Person unter Nutzung des Internets, von E-Mails, eines Intranets oder verwandter elektronischer Medien. Cyberstalking kann zum einen völlig eigenständig auftreten, aber auch Teil eines Stalkingvorfalls sein, bei dem zusätzlich herkömmliche Stalkingverhaltensweisen wie Telefonanrufe oder physische Annäherungen zu beobachten sind. Es ist anzunehmen, dass Cyberstalking mit der Ver-
breitung und Selbstverständlichkeit der Nutzung dieser Technologien weiter ansteigen wird. Obgleich zunächst nur anekdotische Hinweise und Erfahrungswerte von Experten über Cyberstalking bestanden, nahm sich die US-amerikanische Regierung der Fragestellung schon vor einigen Jahren auf höchster Ebene an. Im Februar 1999 gab der damalige Vizepräsident Al Gore dem Justizministerium den Auftrag, einen Bericht über das Ausmaß des Problems zu erstellen, der bereits ein halbes Jahr später fertiggestellt wurde (US Department of Justice 1999a). Etwa zu diesem Zeitraum fing man auch in Australien an, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Das Australian Institute of Criminology hatte zuvor bereits andere Bereiche von Cyberkriminalität bearbeitet und widmete sich nun auch dem Cyberstalking. Man begann mit einer beschreibenden Erfassung und theoretischen Einordnung des Phänomens, ohne eigene quantitative Studien durchzuführen (Ogilvie 2000, 2001).
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198
Kapitel 14 · Cyberstalking
14.1
Empirische Befunde
Empirisch-wissenschaftliche Untersuchungen, die speziell Cyberstalking zum Gegenstand haben, sind erst nach der Jahrtausendwende durchgeführt worden. Zunächst wurden im Rahmen anderer Studien und durch die Befragung offizieller Stellen Anhaltspunkte dafür gesucht, wie häufig Stalker E-Mails und das Internet einsetzen (US Department of Justice 1999a). So ergab eine Umfrage unter USamerikanischen Collegestudentinnen in den späten 90er-Jahren, dass bei einem Viertel der 700 dort gemeldeten Stalkingvorfälle auch Cyberstalkingaktivitäten auftraten. Für die gleiche Zeitperiode nannten die Staatsanwaltschaften in Manhattan und Los Angeles ähnliche Zahlen. Ihren Schätzungen zufolge war bei etwa 20% der von ihnen behandelten Stalkingfälle auch Cyberstalking zu beobachten. Eine spezielle Polizeieinheit für Computerkriminalität in New York meldete, dass in gut 40% ihrer Ermittlungen auch elektronische Bedrohungen und Belästigungen zu verzeichnen waren. Eine an dieser Stelle durchgeführte Aktenstudie (D’Ovidio u. Doyle 2003) ergab, dass die Täter in knapp 80% der Fälle männlich waren und der Altersdurchschnitt bei 24 Jahren lag; ein gutes Viertel der obsessiven Belästiger waren Jugendliche. Überraschenderweise wurde in aller Regel pro Stalkingfall nur ein einziges Kontaktmedium der Cyberwelt verwendet, wie beispielsweise E-Mail oder Chatroom, und nicht mehrere. Zielobjekte des virtuellen Stalkings waren in gut der Hälfte der Vorfälle Frauen, in 35% Männer und in dem restlichen Teil Institutionen oder Unternehmen. Weitere Zahlen lieferte die Internet Community WHOA (Working to Halt Online Abuse 2003), die es sich zum Ziel gesetzt hat, gegen (Online-)Belästigungen im Netz vorzugehen. Die Organisation erfasste demografische Daten von insgesamt 609 Fällen, die in den Jahren 2000 und 2001 an sie herangetragen wurden. Die Geschlechterverteilung der Opfer entsprach dabei im Unterschied zu der eben erwähnten Untersuchung in New York mit rund 15% männlichen und 85% weiblichen Betroffenen in etwa denjenigen Studien, in denen die traditionellen Formen des Stalkings untersucht worden waren. Bei der Frage nach dem Geschlecht der Stalker hingegen fiel das Ergebnis nicht mehr ganz so stark mit einem
männlichen Übergewicht aus: Hier waren etwa ein Drittel Frauen und 2 Drittel Männer zu verzeichnen. Beunruhigend war, dass sich in mehr als einem Viertel aller Fälle neben der virtuellen Form auch ein Verhaltensmuster von Stalking in der realen Welt herausbildete. Wie oft treten obsessive Belästigungen überhaupt online auf? Spitzberg und Hoobler (2002) untersuchten dies in einer Gruppe Studenten (es ist zu erwarten, dass Studenten aufgrund ihrer selbstverständlichen und häufigen Nutzung des Internets derartige Erfahrungen häufiger als viele andere machen). Die Zahlen waren bemerkenswert: Ein knappes Drittel der 235 befragten Studenten berichtete, unerwünschten und obsessiven Kommunikationen ausgesetzt gewesen zu sein, die über das Internet oder andere elektronische Medien übertragen wurden. Dabei waren übertriebene Äußerungen von Zuneigung am verbreitetesten. Immerhin jeder Fünfte gab aber auch an, sexuell belästigt worden zu sein und jeder Zehnte erhielt explizite Drohungen über das Internet.
14.2
Besondere Qualitäten
Trotz vieler struktureller Ähnlichkeiten gibt es spezifische Unterschiede zwischen der virtuellen und der »Offline-Form« wiederholter Verfolgung und Belästigung (McGrath u. Casey 2002; US Department of Justice 1999a). Zwar ermöglichen auch beim »klassischen« Stalking Medien wie Telefon, Faxe oder Briefe grundsätzlich die Überwindung einer größeren geografischen Distanz zwischen Verfolgern und Verfolgten, doch ist dies mit den Mitteln elektronischer Kommunikation deutlich einfacher zu bewerkstelligen. Zu jedem Zeitpunkt kann eine Nachricht ohne nennenswerten Aufwand von zu Hause aus auf den Weg gebracht werden – und dies über eine beliebige Entfernung. So gibt es mittlerweile sogar Fälle von kontinentübergreifendem Stalking
Ein deutscher Geschäftsmann ging in Singapur mit einer Gruppe einheimischer Geschäftspartner essen. Dieses einmalige Treffen stellte für 6
199 14.2 · Besondere Qualitäten
eine der singapurischen Teilnehmerinnen offensichtlich den Beginn einer außergewöhnlichen Passion dar. Nach seiner Rückkehr erhielt der deutsche Geschäftsmann zunächst E-Mails von ihr, in denen sie schrieb, dass sie hoffe ihn wiederzusehen. Im Laufe der Zeit steigerten sich die Nachrichten in Liebesbekundungen, und schließlich formulierte die junge Frau immer häufiger, dass sie ihr Leben als trostlos empfand und der Mann aus Europa ihre große Hoffnung auf ein besseres Leben sei. Der Geschäftsmann antwortete in der Anfangsphase mit einer E-Mail, dass er ihre Gefühle nicht teile und an keinem weiteren Kontakt interessiert sei. Dies blieb seine einzige Reaktion auf ihre Kontaktversuche. Drei Jahre schrieb sie dennoch regelmäßig weiter. Schließlich erwartete ihn die Stalkerin eines Morgens überraschend am Eingang des Bürogebäudes in einer deutschen Großstadt, in dem er arbeitete. Sie war aus Singapur angereist, um ein Gespräch mit dem Ingenieur zu führen in der Hoffnung, dass er doch noch ihre Liebesbemühungen erwidern würde. Ebenfalls aus dem Ausland erhielt ein deutscher Eiskunstlaufstar jahrelang Liebesbekundungen via Internet und E-Mail. Der Mann hatte eine spezielle Homepage eingerichtet, auf der er in aufwendigen grafischen Darstellungen ihre Schönheit pries und seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass sie seine Gefühle eines Tages erwidern würde. Einmal suchte er auch persönlichen Kontakt zu ihr und legte einen Blumenstrauß vor ihrem Trainingsort ab, kehrte aber wieder zum Muster des alleinigen Cyberstalkings zurück, als seine Annäherungen keine Resonanz fanden.
Ein weiteres besonderes Merkmal der virtuellen Belästigung liegt darin, dass der Stalker über das Internet auch eine Öffentlichkeit schaffen kann und so dritte Personen ermutigt, sich an einer Kampagne gegen das Opfer zu beteiligen. Dies kann geschehen, indem er etwa auf sog. Bulletinboards, Homepages oder in Chatrooms entsprechende Nachrichten lanciert.
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In einem außerordentlich bösartigen Beispiel von Cyberstalking hatte ein 50-jähriger ehemaliger Wachmann das Internet gewählt, um sich an seinem Opfer zu rächen (US Department of Justice 1999a). Die 28-jährige Frau hatte zuvor die Avancen des Mannes auf eine romantische Beziehung abgelehnt. Als Reaktion hinterließ der Stalker in mehreren Onlineforen Nachrichten unter ihrem Namen, die vorgaben, dass sie die sexuelle Fantasie hegte, vergewaltigt zu werden. Dabei gab er auch ihre Adresse und Telefonnummer an. Mindestens sechsmal suchten daraufhin Männer die Wohnung der Frau auf und gaben an, sie wollten sie vergewaltigen.
Auch ist regelmäßig zu beobachten, dass enttäuschte obsessive Fans oder Gegner via Internet versuchen, Stimmung gegen Prominente zu machen.
In einem international Aufmerksamkeit erregenden Fall verlangte der US-Amerikaner Matt Hooker im Mai 2002 von der Schauspielerin Nicole Kidman und mehreren Medienunternehmen Schadensatz in Höhe von 200 Millionen Dollar. Er gab als Grund an, Kidman hätte seinem Ruf geschadet. Tatsächlich hatte der Filmstar gegen den offensichtlich psychisch gestörten Hooker mehr als ein Jahr zuvor gerichtlich ein Annäherungsverbot erwirkt, da sie von ihm verfolgt worden war. Auf seiner Homepage hatte er daraufhin zum Boykott von allen Filmen aufgerufen, in denen Nicole Kidman mitspielt. Dort beschuldigte er die Schauspielerin zudem, in Wirklichkeit hätte sie ihn gestalkt und nicht umgekehrt. Außerdem habe sie versucht, durch das Verfahren gegen ihn Publicity für ihre Karriere zu gewinnen.
Als weiteres Charakteristikum des Cyberstalkings sind die vergleichsweise niedrigen Hemmschwellen anzusehen: Es ist nicht nötig, dem Opfer persönlich aufzulauern, noch müssen Schreiben zum Briefkasten gebracht, noch muss darauf gewartet werden,
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Kapitel 14 · Cyberstalking
dass die Zielperson eines Anrufs am anderen Ende der Leitung abhebt. Diese Möglichkeit des Zugangs stellt gerade für Prominentenstalker oft den einzigen Weg oder die Hoffnung dar, mit ihrem Anliegen zu dem abgeschirmten Star vorzudringen. Zudem ist es beim Cyberstalking relativ einfach möglich, in völliger Anonymität zu agieren.
Ein 49-jähriger Kanadier hatte über E-Mails und über eine Internetseite Todesdrohungen an mehrere Bundesrichter und an den MicrosoftGründer Bill Gates gesendet (US Department of Justice 1999b). Um seine Identität zu verbergen, bediente er sich unter anderem falscher EMail-Adressen und sog. Remailer – also Seiten im World Wide Web, über die Nachrichten anonymisiert weitergeleitet werden können. Insgesamt dauerten die Ermittlungen 2 Jahre, bis es möglich war, den Täter zu lokalisieren. Dabei musste die Polizei zahlreiche technische Mittel einsetzen, wodurch es unter anderem gelang, die elektronischen »Schlüssel« für ein chiffriertes Drohschreiben auf dem Rechner des Mannes zu identifizieren.
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Das anonyme Agieren im Internet kann auch zu einem Gefühl der Unverwundbarkeit seitens des Stalkers führen. Im einem prominenten Fall hatte der Cyberstalker seine Belästigungen trotz mehrerer Warnungen sogar noch ausgeweitet, was für ihn schließlich mit einer zweijährigen Haftstrafe endete (Proctor 2003).
Die Darstellerin Jeri Ryan, bekannt geworden durch die US-Fernsehserie »Star Trek Voyager«, und ihr Lebensgefährte erhielten Tausende EMails von einem Stalker. Der Mann sendete dabei auch Drohungen an den Partner von Ryan, wie beispielsweise »Ich werde dich fesseln und nahe an einem heißen Feuer positionieren«. Sie erhielt vor allem Mails mit sexuellem Inhalt, zudem sendete der Stalker Nacktbilder von sich. Als ihm deutlich gemacht wurde, er solle mit 6
seinen Belästigungen aufhören, steigerte sich seine Kampagne, und er versuchte Geld zu erpressen. Sie solle ihm 100.000 Dollar geben, damit er sich ein Auto kaufen und so eine Freundin bekommen könne. Es stellte sich heraus, dass der virtuelle Belästiger ein versierter Kampfsportler war, was sein Drohpotenzial erhöhte. Schließlich wurde der Mann wegen Stalkings und Erpressung festgenommen und erhielt eine Bewährungsstrafe unter der Bedingung, keine elektronischen ommunikationsmittel mehr zu nutzen. Bereits 2 Wochen später brach er die gerichtliche Auflage. Bei seiner Verhaftung sagte er: »Ich dachte nicht, dass ihr mich noch einmal bekommen würdet.«
Es scheint plausibel, dass die wahrgenommene Anonymität am Computerschirm und die dort bestehende sensorische Reizarmut bestimmte psychische bzw. psychodynamische Prozesse begünstigen (Meloy 1998a). Beim Cyberstalking sieht, hört, riecht und berührt man keine andere Person, noch erspürt man sie im direkten Gegenüber. Der in der Unerkanntheit vorherrschende Mangel an sozialer Kontrolle kann etwa bewirken, dass bestimmte Emotionen wie Wut, Eifersucht und ein Bedürfnis nach Macht nicht unterdrückt werden und aggressives Stalking somit erleichtert wird. Dabei spielt auch das Fehlen von nonverbalen Rückmeldungen eines direkten Interaktionspartners eine Rolle, die in der Kommunikation sozial regulierend wirken (Ellison 1999). Signale wie etwa Gesichtsausdruck, Körperhaltung oder Tonfall der Stimme haben oftmals einen eindämmenden Effekt auf auftauchende Aggressivität und Feindseligkeit. Der Mangel an sensorischen Eindrücken und die Zurückgezogenheit an der Pforte zum Internet können auch die Fantasietätigkeit des Stalkers erhöhen. Er ist in der Lage, elektronisch in jede beliebige Identität zu schlüpfen und beispielsweise sein Opfer in seiner Fantasie zu kontrollieren oder es durch die Selbstzuschreibung ihm attraktiv erscheinender Attribute zu beeindrucken. So wird aus Sicht des Stalkers eine befriedigende Beziehung virtuell konstruiert, und er erlebt sich selbst in einer Annäherung an eine narzisstische Perfektion, die als Verstärker für
201 14.3 · Formen
eine Fortsetzung seines Stalkingverhaltens wirken kann. Dabei kann es auch zu einem Verschwimmen der Grenzen zwischen Realität und Fantasie kommen sowie zu einer für den Stalker immer wichtiger werdenden Pseudointimität mit dem Opfer. Gerade Prominente in ihrer übergroßen Attraktivität und in ihrer Funktion als gesellschaftliche Projektionsfläche können ein Zielobjekt für narzisstische Größenfantasien darstellen, die sich in seltenen Fällen aus der virtuellen hinein in die reale Welt bewegen (Hoffmann 2002a). Auf der Homepage des deutschen Schlagerstars Kristina Bach beispielsweise waren zunächst Nachrichten wie »Irgendwann krieg’ ich Dich« und »Sieh’ Dich vor« aufgetaucht, bevor die Sängerin in ihrer Garderobe von einem maskierten Mann überfallen wurde (7 Abschn. 5.3.3).
14.3
Formen
Auf den ersten Blick scheint es, dass Cyberstalking seinem Wesen nach nur über eine überschaubare Anzahl von Facetten verfügen kann. Die Erfahrung hat jedoch genau das Gegenteil gezeigt. Die technischen Möglichkeiten des Internets erlauben eine Vielzahl von Formen obsessiver Belästigung oder Bedrohung. Die folgende Aufzählung (angelehnt an Spitzberg u. Cupbach 2001), die nicht vollständig sein kann, gibt einen kurzen Überblick über die Komplexität der Handlungsmuster beim Cyberstalking: 4 Wiederholtes und unangemessenes Zusenden von Gefühlsäußerungen oder Drohungen über E-Mails, elektronische Postkarten etc. 4 Weitergabe von privaten Informationen des Opfers an andere über Chaträume, Massen-E-Mails, Internetseiten etc. 4 Versenden von Grafiken oder Fotomontagen, in denen das Opfer in aggressiver, sexuell beleidigender oder anderer verunglimpfender Art dargestellt ist. 4 Verbreitung von Gerüchten und übler Nachrede über das Opfer. 4 Rauben der Identität des Opfers und Aufnahme schädigender Kontakte unter dessen Namen. 4 Kontaktaufnahme mit dem Opfer unter einem elektronischen Alias, also mit vorgetäuschter Identität.
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4 Systematisches Verfolgen der Internetaktivitäten
des Opfers. 4 Abfangen von elektronischer Kommunikation
des Opfers, z. B. E-Mails. 4 Versuche, den Computer des Opfers auszuspio-
nieren, etwa durch trojanische Pferde. 4 Versuche, den Computer des Opfers zu schädi-
gen, beispielsweise durch Viren. 4 Manipulation der elektronischen Identität des
Opfers, etwa durch Veränderung seiner Signatur oder privaten Homepage. 4 Systematische Internetrecherche über private Informationen des Opfers Cyberstalking lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten noch einmal in mehrere Untergruppen aufteilen. Kategorien, die bisher erstellt wurden, betrafen beispielsweise die Motive der Stalker (Burgess u. Baker 2002) sowie die verschiedenen Rahmenbedingungen, unter denen das Internet von Stalkern genutzt wurde (Ogilvie 2000; McGrath u. Casey 2002). Als einfache und funktionale Möglichkeit erwies sich die Differenzierung in Bereiche und Funktionsmöglichkeiten der virtuellen Welt, die vom Stalker genutzt werden. Hierbei kann grob zwischen den 3 Gruppen E-Mail-, Internet- und Computerstalking unterschieden werden (Ogilvie 2001).
E-Mail-Stalking Obsessive Kontaktversuche mittels E-Mails stellen vermutlich die am häufigsten auftretende Variante des Cyberstalkings dar (. Tab. 14.1). Auf der Verhaltensebene besteht hier zudem die größte strukturelle Ähnlichkeit mit den »klassischen« Handlungsmustern von Stalking, die etwa wiederholte Telefonate und Briefkontakte beinhalten. E-Mail-Stalking lässt sich also vielfach als eine durch technologischen Fortschritt ermöglichte Erweiterung eines bereits vorhandenen Verhaltensrepertoires begreifen. Dem wird in mehreren US-Staaten auch juristisch explizit Rechnung getragen. So ergänzte beispielsweise Kalifornien sein Antistalkinggesetz um einen speziellen Cyberstalkingpassus. Dort heißt es, dass Stalking auch anzunehmen ist bei der »Benutzung eines elektronischen Kommunikationsmediums oder bei einer Bedrohung durch ein Verhal-
202
Kapitel 14 · Cyberstalking
tensmuster oder einer Kombination aus verbalem, geschriebenen oder elektronisch übermittelten Mitteilungen« (US Department of Justice 2002, S. 5). Auf Grundlage der gesetzlichen Maßnahmen wurden mehrfach Personen wegen Cyberstalkings verurteilt, auch in Fällen der obsessiven Belästigung von bekannten Persönlichkeiten.
Im US-Staat Ohio begann im Frühjahr 2000 ein gewisser Eric Bowker, der Fernsehjournalistin Tina Knight wiederholt E-Mails zu schicken, deren Tonfall immer obszöner wurde. Zudem beleidigte der 39 Jahre alte Mann sie am Telefon und fing an sie gerichtete E-Mails ab. Um dem Stalking zu entkommen, wechselte die Reporterin schließlich den Sender und zog in einen anderen Bundesstaat. Auch dort setzte Bowker seine Kampagne fort. Er wurde schließlich zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt und erhielt zugleich die Auflage, sich einer Therapie zu unterziehen.
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Obgleich E-Mails eine distanzierte Form der Kommunikation darstellen, können sie doch die Privatsphäre der Opfer verletzen und nicht zuletzt dadurch psychische Belastungen verursachen. Gefühle der Verunsicherung, Ohnmacht und Wut werden nicht zuletzt durch die exzessive Wiederholung der elektronischen Nachrichten von Stalkern hervorgerufen. Für viele Menschen ist das Versenden von E-Mails inzwischen ein ebenso gebräuchliches Medium der Kommunikation wie das Telefon und spielt damit im sozialen Leben eine bedeutende Rolle, sodass hier eine spezifische Verwundbarkeit auf einer sehr persönlichen Ebene gegeben ist. Wie schon bei »klassischen« Formen des Stalkings lässt sich auch beim E-Mail-Stalking gelegentlich eine Entwicklung von distanzierten Kommunikationsformen hin zu einer physischen Annäherung beobachten. Dieses Muster trat bereits sowohl bei nichtprominenten als auch bei prominenten Betroffenen von Stalking auf, wie z. B. bei der Schlagersängerin Kristina Bach (7 oben).
Internetstalking Das Medium Internet hat in der Informationsrecherche völlige neue Dimensionen eröffnet. Dabei lassen sich nicht nur allgemeine, sondern häufig auch private Daten ermitteln. Es ist wenig überraschend, dass sich in zahlreichen Fällen auch Stalker diese »Goldmine von online zugänglichen persönlichen Informationen« (Lloyd-Goldstein 1998, S. 209) zu Nutze machen und Hinweise auf ihre Zielpersonen aus dem Internet ziehen. Tatsächlich gibt es sogar kommerzielle Angebote im Netz, die damit werben, innerhalb weniger Minuten u. a. die Adresse einer bestimmten Person und ihre Telefonnummer herauszufinden, selbst wenn diese nicht in öffentlichen Verzeichnissen aufgelistet ist. Zwar gibt ein Unternehmen wie beispielsweise »Net Detective« an, dass den Kunden nur Positives ermöglicht werden soll, wie beispielsweise alte Klassenkameraden und verlorene Geliebte wiederzuentdecken. Doch sind das Missbrauchspotenzial und die verlockende Möglichkeit, sensible, sonst nur schwer zugängliche private Informationen zu erhalten, natürlich für jeden Besucher der Site offensichtlich. Ähnliche virtuelle Quellen existieren auch für Personen, die vornehmlich an Prominenten interessiert sind. So gibt es etwa Internetseiten, auf denen Adressen und gegenwärtige Aufenthaltsorte von Stars der Unterhaltungsbranche zum Teil täglich aktualisiert werden. Verblüffenderweise soll vor einigen Jahren sogar eine Homepage speziell für Personen eingerichtet worden sein, die sich als Stalker versuchen möchten (Mullen et al. 2000). Nachdem das gewünschte Geschlecht und der Wohnort eingegeben wurde, erschien auf der Internetsite eine Liste mit potenziellen Opfern und deren Adressen und Telefonnummern. Glücklicherweise verschwand dieser mehr als fragwürdige Service wieder aus dem Internet. Ein Faktor, der das Internetstalking begünstigt, besteht darin, dass viele Surfer im World Wide Web ihre Anonymität massiv überschätzen (Ellison u. Akdeniz 1998). Tatsächlich hinterlässt jede Aktivität im Netz individuelle Spuren, die von dritter Seite unerkannt beobachtet werden können. So lassen sich beispielsweise u. a. Informationen über die Seiten, die eine Person im Internet besucht hat oder Details über den von ihr genutzten Computer relativ
203 14.3 · Formen
leicht erfassen. Es gibt sogar kommerzielle Anbieter, die diese virtuellen Spuren systematisch auswerten und individuelle Profile erstellen, die sie dann etwa für Marketingzwecke gemeinsam mit der E-MailAdresse des Users verkaufen. Obwohl regelmäßig Berichte über derartige Praktiken auch in den Massenmedien erscheinen, ist für viele Menschen, wenn sie alleine am Computer im Internet surfen, die Illusion von Privatheit und Unerkanntheit so mächtig, dass aufkommende Bedenken leicht weggeschoben werden. Eine weitere Sorglosigkeit, die das Internetstalking erleichtert, ist die weit verbreitete Angewohnheit, private Homepages ins Netz zu stellen, die mit einer Fülle ebenso sensibler wie persönlicher Angaben versehen sind. Stolz werden Anschriften, Festnetz- und Handynummern präsentiert, aber auch private Fotografien, die geeignet sind, bei manchem Betrachter Fantasien einer intimen Nähe auszulösen. Mehr als einmal nahm eine lange Periode von Stalking durch eine fremde Person ihren Anfang beim zufälligen Anklicken einer privaten Homepage. Eine besondere Gefährdung besteht für Personen, die aufgrund ihrer Profession bereits ein erhöhtes Risiko besitzen, Opfer von Stalking zu werden. Hierzu zählen beispielsweise Ärzte, Therapeuten, Politiker, aber natürlich auch Prominente. Gerade diese Berufsgruppen sollten ihre Internetpräsenz wohlüberlegt gestalten.
Eine bekannte Adelige war von einem erotomanischen Stalker über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgt worden. Mit der Zeit ließen die belästigenden Aktivitäten deutlich nach. Dies änderte sich schlagartig wieder, als die Prominente in einem Interview angab, sie sei Single und würde sich einen Partner wünschen. Der Stalker suchte daraufhin einen kleinen See nahe des Anwesens der Adeligen auf, den sie auf ihrer Homepage als einen Ort beschrieben hatte, an dem sie alleine gerne ihren Gedanken nachhängt – sie hatte auch ein Foto dieses dieses Weihers auf ihre Site gestellt.
In einem anderen Teilgebiet des Internetstalkings setzt der Stalker bewusst auf die Öffentlichkeitswirk-
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samkeit des elektronischen Mediums, ein deutlicher Unterschied zur intimeren, weil nur zweiseitigen Form der Kommunikation beim E-Mail-Stalking. Wie bereits aufgeführt kann dies Diffamierungen beinhalten, etwa durch die Veröffentlichung komprimierender Informationen und Bilder, bis hin zu Aufforderungen an andere Internetnutzer, das Opfer ebenfalls zu belästigen. Im Bereich prominenter Betroffener ist zudem zu beobachten, dass manche Stalker ihrer Obsession für den Star auf den Seiten des World Wide Web Ausdruck verleihen, wobei die inhaltliche Spannbreite groß ist und sich zwischen aggressiven Wahnvorstellungen und anrührenden Liebesbekundungen bewegen kann. Ein für Stalking ebenfalls relevanter Bereich des Internets sind Chatrooms. Hier findet sich ein geradezu prototypischer Delikts- und Tätertypus: Typischerweise »trifft« der zumeist männliche Cyberstalker das Opfer in einem Chatroom und entwickelt dort seine Obsession. Sodann versucht er, in eine enge Beziehung mit seinem nichts ahnenden Opfer zu treten. Falls er zurückgewiesen wird, reagiert er mit einer regelrechten Kampagne von Cyberspacebelästigungen, die von der virtuellen in die reale Welt übergehen können, falls die entsprechenden persönlichen Angaben des Opfers dem Stalker zugänglich sind. (Pathè 2002, S. 72).
Schließlich sind Instant Messengers ein weiteres von Stalkern häufig genutztes Internetinstrumentarium (. Tab. 14.1). Mit Hilfe dieser Software lassen sich, wenn beide Parteien zeitgleich online sind, Text-, Audio- oder Videonachrichten austauschen. Kennt der Stalker die nötigen Zugangsdaten der Gegenseite, kann er seine Belästigungen in Echtzeit auf dem Bildschirm des Opfers erscheinen lassen.
Computerstalking Bei dieser Form des Cyberstalkings greift der Täter online direkt auf den Computer des Betroffenen zu. Dies kann etwa das Löschen oder Verändern von Daten sein, das gezielte Herunterladen von persönlichen Dateien wie etwa Textdokumenten oder das »Abhören« des Opfers, beispielsweise mit wem es E-Mails austauscht.
204
Kapitel 14 · Cyberstalking
. Tabelle 14.1. Häufigkeit verschiedener Formen von Cyberstalking (n=201). (Nach D’Ovidio u. Doyle 2003)
[%] E-Mails Instant Messenger Chat Room Message Board Internet Site Usegroup Falsches Userprofil
79 13 8 4 2 1 1
Das Eindringen in den Computer stellt die mit Abstand seltenste Form der virtuellen Belästigung und Verfolgung dar. Zugleich kann dies, etwa wenn der Stalker für das Opfer unmittelbar erkennbar die Herrschaft über den Rechner übernimmt, zu einem besonders ausgeprägten Gefühl des Kontrollverlustes führen (Ogilvie 2001).
Eine Frau erhielt die bedrohliche Nachricht »Ich werde Dich kriegen!« Um seine Macht zu beweisen, manipulierte der Stalker online ihren Computer, indem er das CD-Rom-Laufwerk öffnete.
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Bei dieser Form des Cyberstalkings können auf dem Rechner des Opfers auch spezielle Programme installiert werden (z. B. trojanische Pferde), die dem Stalker, für das Opfer unerkannt, Informationen aus dem Computer zukommen lassen.
Prominentenstalking Das Internet und die E-Mail-Kommunikation eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten gerade auch für Stalker, die auf Personen des öffentlichen Lebens fixiert sind. Die vorgestellten Beispielsfälle zeigen, dass wiederhole E-Mail-Nachrichten mittlerweile regelmäßig zum Handlungsrepertoire von Prominentenstalkern gehören. Manchmal stellt die virtuelle Kommunikation sogar die einzige Chance dar, Kontakt mit der berühmten Person aufzunehmen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Internet
als Informationsquelle zu nutzen, um beispielsweise Angaben über Aufenthaltsorte von Prominenten zu recherchieren und somit ein physisches Annäherungsverhalten vorzubereiten. Gelegentlich geschieht es, dass Stalker eigene Homepages einrichten, auf denen sie ihre obsessive Fixierung geradezu regelrecht ausleben. Prominente sollten sich ihrer »Verwundbarkeit« über das Internet bewusst sein, sensible Informationen etwa auf ihrer eigenen Homepage nicht erwähnen und bestimmte Kontaktmöglichkeiten unterbinden. Tatsächlich bietet ihnen das Internet gelegentlich sogar Möglichkeiten, sich besser zu schützen, lassen sich dort doch oftmals wertvolle Informationen über bestimmte Individuen finden, die auf sie innerlich fixiert sind.
14.4
Prävention
Cyberstalking ein Bereich, in dem man präventiv vergleichsweise gut tätig werden kann. In mehreren Antistalkingratgebern sind spezielle Maßnahmenkataloge zum Schutz vor Onlinebelästigungen aufgeführt (z. B. Brown 2000; Pathé 2002). Als erster wichtiger Punkt ist ein vorsichtiger und bewusster Umgang mit der Veröffentlichung persönlicher Informationen im Internet zu nennen, beispielsweise über private Homepages. Der Sicherheitsexperte de Becker (2000) drückt dies in plakativer Anschaulichkeit aus, wenn er warnt, nichts auf einer Webseite zu platzieren, was man nicht auch an jedem schwarzen Brett im ganzen Land angeschlagen sehen möchte. Es kann sich lohnen, über Suchmaschinen den eigenen Namen einzugeben, um zu sehen, ob nicht andere Personen sensible Informationen hierzu in das Netz gestellt haben. Dies geschieht oft ohne schlechte Absicht. Die schlichte Bitte, die persönlichen Angaben wieder zu löschen, hat sich vielfach als ein ebenso einfacher wie effektiver Weg bewährt. Eine weitere Empfehlung betrifft die Eigendarstellung im Internet. Ein eher geschlechtsneutrales Synonym als E-Mail-Adresse oder in Chatrooms verringert die Wahrscheinlichkeit, Zielobjekt einer potenziell unangenehmen Kontaktaufnahme zu werden; aufreizende oder sexuell eingefärbte Namensgebungen beispielsweise sind also zu vermei-
205 14.4 · Prävention
den. Auch sollte kein einfacher Rückschluss vom virtuellen auf den realen Namen möglich sein, um ein Übergreifen von Onlinebelästigungen in die physische Welt zu erschweren. Vorsicht ist bei im Internet geknüpften Kontakten geboten, sich auch persönlich zu treffen. Was man über die andere Person weiß, ist nicht sehr sicher, kann sie doch in der elektronischen Kommunikation ihre Motive, ja sogar das Geschlecht oder ihr Alter verfälscht haben. Deswegen sollte ein derartiges Zusammenkommen in einem öffentlichen Raum in der Anwesenheit anderer Menschen stattfinden, wenn möglich zur Tagzeit. Zudem ist es vorteilhaft, im Vorfeld Freunden oder der Familie von dem Treffen zu erzählen und auch den Ort bekannt zu geben. Allgemein gilt, dass unangemessene oder belästigende Onlinekommunikation sofort abgebrochen werden sollte; Chatrooms, in denen derartiges passiert, sollten verlassen werden. Ist man dennoch zum Opfer eines Cyberstalkers geworden, gilt es wie bei anderen Formen obsessiver Belästigung auch, das gesamte Stalkingverhalten zu dokumentieren, um eventuelle juristische, polizeiliche oder sicherheitspsychologische Schritte zu erleichtern.
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Über den Autor
Dr. Jens Hoffmann, Dipl.-Psychologe
Jens Hoffmann lehrt und forscht an der Arbeitsstelle für Forensische Psychologie der TU Darmstadt. Daneben erhielt er Lehraufträge an Hochschulen in Berlin, Gießen, Hamburg und Regensburg und publizierte zahlreiche Beiträge zu kriminalpsychologischen Themen in deutsch-, französisch- und englischsprachigen Publikationen. Als Koautor und Mitherausgeber veröffentlichte er beispielsweise zwei Bücher über die Erstellung psychologischer Täterprofile, die in der Forschungsreihe des BKA und im Springer-Verlag erschienen. Neben der wissenschaftlichen Arbeit gründete er mit zwei ehemaligen Polizeipsychologen die Beratungsgruppe »Team Psychologie & Sicherheit«. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte besteht darin, Risikoanalysen und Fallmanagement für Unternehmen und Personen des öffentlichen Lebens durchzuführen, die von Stalking, ungewöhnlichen Kontaktversuchen und Drohungen betroffen sind. Nähere Informationen über die Arbeit von Jens Hoffmann finden sich im Internet auf den Seiten www.kriminalpsychologie.de, www.t-p-s.org und www.anti-stalking-netzwerk.de.
1
Sachverzeichnis
A Abwehrmechanismen 142, 188 – Idealisierung 122 – Rationalisierung 36, 50 – Reaktionsbildung 45 – Spaltung 43, 44, 58–59, 64 – Sublimierung 45 – Verneinung 58 – Verdrängung 45, 58 Affektive Störungen (7 Depression) Alkohol 7, 138, 139, 145, 151, 175, 176, 182 Amoklauf 23–24 Angststörungen, Angst 95, 151 Antipsychotika 120, 137–138 Anti–Stalking–Strafgesetze 2, 18, 158–160 Arbeitsmodelle 38–39
Arbeitsplatzwechsel 154 Attentat, Attentäter 9, 24, 55–57, 79, 82, 84, 87, 96–98, 144, 167, 171, 177
B Bach, Kristina 201–202 Bachmann, Josef 24–25, 87–88 Bardo, Roberto 9, 45, 61, 85, 95 Beratungsstellen 160–161, 185 Bibel 14, 16 Bindung – Bindungserfahrung 142 – Bindungsfähigkeit 48 – Bindungsperson 38, 52, 83 – Bindungsstile, Bindungstypen 39–41 biographische Anamnese 137
Borderline–Erotomanie (7 Liebeswahn) Borderlinepersönlichkeitsstörung (7 Persönlichkeitsstörungen) Borderlinepersönlichkeitsstruktur nach Kernberg 31, 43, 44, 48, 65 Bremer, Arthur 23, 87 Bundy, Ted 144
C Chapman, Mark 56–57, 87 »circle of violence« (7 Kreislauf der Gewalt) Crime Classification Manual 55
220
Sachverzeichnis
D de Niro, Robert 22, 55 Depression 30–31, 50, 54, 58, 95, 122, 139, 151–152, 155, 181 Derealisation 120 Depersonalisierung 120 Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen (DSM) 45, 115, 121, 130, 131, 133 Drogen 121, 138, 139, 145, 146, 175, 176, 182 Drohungen, Drohbriefe 5, 39, 61, 70, 73, 74, 77, 80, 97, 108, 110, 116, 164, 172, 177–178, 198 Dutschke, Rudi 24, 87–88, 171
E Eifersucht 41, 76, 124, 188 Eifersuchtswahn 118, 122, 128, 137, 182 Einfühlungsvermögen (7 Empathie) Eltern–Imago 53–54, 57–58, 60, 63–64 emotionale Überflutung 35–36 Empathie 47, 48, 142 erlernte Hilflosigkeit 151 Erotomanie (7 Liebeswahn) Essstörungen 153 Evolutionspsychologie 34, 37, 123–125
F Fallanalyse 164 Fan 4, 80, 88, 93–95, 100–102, 113–114 Fänger im Roggen 24 Fantasie 3, 23, 31, 37, 46, 47, 80, 94, 110, 125, 200–201 – Größenfantasien 49–50
FBI 55–56 Fixierung 1, 43, 72, 80, 82–83, 91, 98, 138, 144 Foster, Jodie 9, 144, 152, 174
G Gates, Bill 200 Gewalt – häusliche 40, 51, 75, 76, 155, 161, 175, 182, 185–189 – katathyme 139, 179–182 Gewaltschutzgesetz 159–160, 173 Graf, Steffi 62–65, 174 Größenselbst 53–55, 59–60 Grübeln 35, 141
J Jackson, Arthur 46–47 Justiz 159–160
K Kampf–oder–Flucht–Reaktion 178 Kidman, Nicole 192, 199 Konditionierungsprozesse (7 Verstärker) Kontaktvermeidung 161–162 Kontrolle, Kontrollverhalten 41, 188 Kopfschmerzen 153 Kreislauf der Gewalt 51, 187 Kulturschock 31
H Haustiere 5, 146, 150, 175 Hinckley, John 9, 23–24, 55, 144, 152, 174 Hoffman, Dustin 16 Hoskins, Robert 87
I Idealisierung 45–46, 48, 51, 57–58, 60–61, 63–64, 122, 125, 145 Identität 34, 45, 81, 94 Ignorieren 106, 114 Inklusive Fitnesstheorie 123–124 Interaktion Opfer – Stalker 36–37 interdisziplinäres Vorgehen 136, 155, 159 International Statistical Classification of Deseases ICD 121, 130 Internet 202–203
L Lafontaine, Oscar 171 Landon, Michael 174 Lennon, John 24, 56–57 Liebeswahn 20, 28–30, 55–56, 71–73, 77, 80–82, 85, 95, 115–134, 137, 145, 182, 193 – Borderline–Erotomanie 70, 129–130 – Pathologische Verliebtheit 130–131 Loslösung und Individuation 42–43
M Macht 34 Madonna 87 Männlichkeitsbild 34 McCartney, Paul 17 McEwan, Ian 22–23 Medienpersönlichkeit 92, 112
221 Sachverzeichnis
Misstrauen 152 Morrissey 21
N Näherungs- und Kontaktverbot 36, 150, 159–160, 173 Narzissmus – maligner 48 – narzisstische Abwehr 181 – narzisstische Bedürfnisse 46, 87 – narzisstische Frustration 66 – narzisstische Mechanismen 123 – narzisstische Persönlichkeit 48–49, 54 , 98 – narzisstische Wut 51, 59–60, 64–65, 174 – pathologischer 49–50, 148 – primärer 44, 52 – sekundärer 44 Newton–John, Olivia 171 Nixon, Richard 23, 87
O Ono, Yoko 56 Opferberatung (7 Beratungsstellen)
– antisoziale 7, 40, 143, 145, 175 – Borderline 47, 77, 139, 145 – dependente 73, 139 – histrionische 133 – narzisstische 73, 133, 139, 145 – paranoide 73, 74, 133 – schizotypische 181 Poddar, Prosenjit 30 Police, The 21 Politiker 84, 96–99, 132, 166, 177, 203 Polizei – polizeiliche Ansätze 75, 106, 114, 157–159 Posttraumatische Belastungsstörung 154 Prävalenzstudien 10–11 Prävention 166, 173, 204–205 Prominentenstalking 3, 7, 18, 28, 31–32, 45, 56–58, 79–114, 143, 166–167, 170–171, 174–175, 199–204 Psychiatrische Dienste 77 Psychoedukation 138 Psychopathy 40–41, 78, 143 Psychosen, psychotisch 7, 29, 70, 72–73, 81, 82, 84, 87, 95, 96, 102–103, 121, 126, 137–139, 141, 178, 182–183, 191–193 Psychotherapie 121, 137, 140–142, 155–156
Q P Paranoide – Reaktion 31 – Tendenzen 48, 122 – Erkrankungen 118–119, 192 Paraphilien 74, 86 Patriarchat 27 Persönlichkeit, masochistische 47–48 Persönlichkeitsstörungen 7, 97, 139, 182, 188
Querulanz 74
R Rachestalking (7 Stalkingformen) Reagan, Ronald 9, 23–24, 55, 82, 152, 171 Realitätsprüfung 44, 46, 65 Regression 44, 48, 60 Reizbarkeit 152
D–S
Rollen 84–89, 107, 112 Rückfallgefahr 144–145
S Sachbeschädigung 76, 175–176 Sadismus 48–49, 77–78 Saldana, Theresa 46, 81 Schaeffer, Rebecca 9, 45, 61, 85, 95, 169 Schäuble, Wolfgang 86, 138, 171, 178 Schily, Otto 86 Schizophrenie 7, 77, 120, 133 – paranoide 29, 31, 46, 86, 120, 138, 178 Schlafstörungen 104, 153 Secret Service 97–98, 171, 177 Sekundäropfer 150 Selbsthilfegruppen 161 Selbstmord (7 Suizid) Selbstpsychologie 52, 62, 63 Selbstunsicherheit 155 Selbstwertgefühl 35 Seles, Monica 62–65, 82, 171, 174 Serienverhalten, Serientäter 39, 73, 136 sexuelle Gewalt, sexuelle Belästigung 5, 164, 198 Sexualmord 48, 125 Shakespeare, William 20–21 Sicherheitsvorkehrungen 100, 105, 153 Simon & Garfunkel 16 Simpson, O. J. 51, 181 Sozialer Rückzug 152–153 Soziales Kompetenztraining 143 Sozialkontrolle 13 Spaltung (7 Abwehrmechanismen) Spiegelung 53–55 – Alter-Ego-Zwillingsübertragung 55, 57 – Spiegelübertragung 55 – Verschmelzungsübertragung 55, 57, 61 Spielberg, Steven 74
222
Sachverzeichnis
Stalkingbeauftragte der Polizei 158 Stalkingformen – beziehungssuchendes Stalking 70, 76–77, 81 – Expartnerstalking 69–70, 71–72, 76–77 – identitätsmotiviertes Stalking 81 – instrumentelles Stalking 4 – Jagdstalking 74 – Rachestalking 34, 70, 142 – sadistisches Stalking 77–79 – schwärmerisches Stalking (7 beziehungssuchendes Stalking) – wahnhaftes Stalking 70, 77–79, 81 – zurückweisungsmotiviertes Stalking 81 Stalkingtagebuch 162 Stressmanagement 143 Suizid, Suiziddrohungen 5, 21, 97, 103, 116, 151, 181
T Tarasoff, Tatjana 30–31 Täter–Opfer–Ausgleich 162 Taxi Driver 23, 55 Therapieplan 145 Threat/Control–override– Symptome 178 Threat Management Unit 9, 71–72, 74, 127, 144, 159, 170, 191, 194 Tötungsdelikte 36, 172–174, 180–181 Trauma, traumatische Erfahrung 57, 161, 163, 179, 193 Traumatisierung, sekundäre 158
U Übertöten 181 Umzug 154 US Marshals Service 96
V Verfolger, naiver 81 Verfolgungswahn 137 Vergewaltigung 5, 40, 125 Verhaltenspsychologie – Konditionierung 140 – Verstärker, Verstärkung 3, 37, 51, 141 – Funktionale Verhaltensanalyse 37, 140 Vernehmung 78 Verstärker (7 Verhaltenspsychologie) Vorstrafen 145, 175, 176–177, 182 Vulnerabilität 154–155
W Wahnstörungen, Wahnerkrankungen (7 Psychosen) Wahrnehmung, selektive 141 Wiederholungsdrang (7 Serienverhalten)
Z Zurückweisen 106, 113