JACK VANCE
STAUB FERNER SONNEN Science Fiction Erzählungen
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHE...
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JACK VANCE
STAUB FERNER SONNEN Science Fiction Erzählungen
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION Band 06/4202 Titel der amerikanischen Originalausgabe DUST OF FAR SUNS Deutsche Übersetzung von Lore Strassl
Das Umschlagbild schuf Michael M. Pfeiffer Die Innenillustrationen sind von Hubert Schweizer Redaktion: E. Senftbauer Copyright © 1964 by Jack Vance (Einzelrechte siehe im Anschluß an die einzelnen Texte) Copyright © 1985 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1985 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3-453-31176-0
Jack Vance, ein Meister der Fantasy ebenso wie der Science Fiction, ist einzigartig in seiner Kunst, exotische und bizarre Welten und ihre Bewohner zu schildern. In diesem Band sind vier seiner bekanntesten Erzählungen vereint: RAUMSEGLER FÜNFUNDZWANZIG Die Geschichte des trinkfesten Rauhbeins Henry Belt, der eine spezielle Methode entwickelt hat, Raumkadetten auszubilden. DODKINS JOB Die Geschichte von dem kleinen Angestellten, der mit seinen skurrilen Einfällen, die er ins Computernetz einspeist, den ganzen vollcomputerisierten Staatsapparat durcheinanderbringt. ULLWARDS ZUFLUCHT Die Geschichte eines Mannes, der die Chance erhält, der Enge einer hoffnungslos übervölkerten Welt zu entrinnen und in einem Paradies zu leben – doch am Ende gern wieder zurückkehrt. DIE GABE DER SPRACHE Die Geschichte von den fischähnlichen Aliens, denen man eine Sprache beizubringen versucht, um ihre Intelligenz zu testen. »…vielleicht der beste Unterhaltungsschriftsteller des Genres.« Reclams Science Fiction Führer
Raumsegler Fünfundzwanzig
1 Henry Belt hinkte in den Konferenzsaal, stieg auf das Podium und setzte sich hinter das niedrige Pult. Er schaute sich um. Ein flinker Blick genügte ihm, alles auszunehmen – mit fast beleidigender Gleichgültigkeit streifte er über die acht jungen Männer. Henry Belt holte einen Schreibstift und ein dünnes rotes Notizbuch aus seiner Jackentasche und legte beides vor sich auf das Pult. Die acht jungen Männer beobachteten ihn in respektvollem Schweigen. Sie waren sich ziemlich ähnlich: gesunde saubere Burschen mit aufmerksamer, wachsamer Miene. Jeder hatte wahre Legenden über Henry Belt gehört und sich Gedanken gemacht und seine eigenen Vorsätze gefaßt, wie er sich ihm gegenüber verhalten würde. Henry Belt hätte einer anderen Spezies angehören können. Sein Gesicht war breit und flach, Muskeln und Knorpel hoben sich auffallend unter der Haut ab, die in ihrer Farbe und Beschaffenheit an eine Speckschwarte erinnerte. Sein kurzes weißes Borstenhaar war nur noch mit wenig Grau durchzogen. Die klugen Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen, die Nase glich einer unförmigen Knolle. Die Schultern waren breit und kräftig, die Beine kurz und knorrig. »Als erstes«, begann Henry Belt mit einem zahnlückigen Grinsen, »möchte ich betonen: Ich erwarte durchaus nicht, daß Sie mich mögen. Täten Sie es, würde es mich überraschen, aber nicht freuen, denn es bedeutete, daß ich Sie nicht fest genug angepackt habe.«
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte die schweigende Gruppe. »Sie haben bestimmt eine Menge Geschichten über mich gehört und fragen sich, weshalb man mich nicht längst aus dem Raumdienst hinausgeworfen hat – mich, den unverbesserlichen, arroganten Henry Belt, den Trunkenbold Henry Belt (letzteres ist reine Verleumdung, Henry Belt war noch nie in seinem Leben sinnlos betrunken). Weshalb duldet man mich? Dafür gibt es einen einfachen Grund: Man braucht mich. Niemand möchte sich einen Job wie diesen aufhalsen. Nur ein Mann wie Henry Belt hält ihn durch: Jahr um Jahr im Weltraum, mit nur einem halben Dutzend glattgesichtiger junger Hüpfer um sich, die er hinausbringt und wieder zurück, aber nicht alle – und nicht alle, die zurückkamen, sind heute noch Raumfahrer. Aber jeder von denen wird schnell auf die andere Straßenseite gehen, wenn er ihn kommen sieht. Wenn sie seinen Namen hören, erbleichen oder erröten sie. Kein einziger würde lächeln. Einige bekleiden jetzt hohe Posten. Sie könnten mich ohne Schwierigkeiten abservieren, wenn sie es wollten. Fragen Sie sie doch, weshalb sie es nicht tun. Henry Belt ist ein Schinder, werden sie antworten. Er ist bösartig, er ist ein Tyrann, er ist grausam und launenhaft wie eine Frau. Aber eine Raumtour mit Henry Belt bläst den Schaum vom Bier. Er hat viele fertiggemacht und ein paar umgebracht, aber die, die es überstanden haben, sagen voll Stolz: Mein Ausbilder war Henry Belt! Noch etwas haben Sie vielleicht gehört: Das Glück ist auf Henry Belts Seite. Vergessen Sie es. Eine Glückssträhne hält nicht ewig an. Sie sind meine dreizehnte Klasse – und dreizehn ist eine Unglückszahl. Zweiundsiebzig junge Hüpfer wie Sie habe ich bisher mit hinausgenommen. Zwölfmal bin ich zurückgekehrt: Das ist teilweise Henry Belt und teilweise dem Glück zu verdanken. Die Reisen dauern im Durchschnitt zwei Jahre: Wie hält ein Mensch das aus? Nur einen gibt es, der sie
auf die Dauer durchsteht: Henry Belt. Ich habe mehr Zeit im Raum verbracht als irgendein anderer. Aber jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis: Dies ist meine letzte Raumreise. Ich fahre nämlich manchmal schon von seltsamen Träumen geplagt aus dem Schlaf hoch. Nach dieser Klasse quittiere ich den Dienst. Ich hoffe, Sie sind nicht abergläubisch, meine Herren. Eine weißäugige Frau sagte mir voraus, daß ich im All sterben würde. Sie hat mir auch noch mehr prophezeit, und es hat alles gestimmt. Sie und ich, wir werden uns gut kennenlernen. Sie werden sich fragen, wonach ich mich bei meiner Beurteilung richte. Bin ich objektiv und gerecht? Lasse ich persönliche Abneigung aus dem Spiel? Freundschaft gibt es natürlich nicht. Nun, hier ist mein System: Ich führe Buch. Sehen Sie dieses rote Notizbüchlein? Darin werde ich jetzt gleich Ihre Namen eintragen. Sie heißen?« Er deutete auf einen der jungen Männer. »Ich bin Kadett Lewis Lynch, Sir.« »Sie?« »Edward Culpepper, Sir.« »Marcus Verona, Sir.« »Vidal Weske, Sir.« »Marvin McGrath, Sir.« »Barry Ostrander, Sir.« »Clyde von Gluck, Sir.« »Joseph Sutton, Sir.« Henry Belt schrieb die Namen in sein rotes Buch. »So sieht mein System aus: Wenn Sie etwas tun, das mich verärgert, trage ich neben Ihrem Namen ein Minuszeichen ein. Am Ende der Reise zähle ich sie zusammen, füge da und dort noch ein paar dazu und richte mich danach. Einfacher geht es nicht. Was mich verärgert? Ah, das ist nicht so leicht zu beantworten. Einen Minuspunkt gibt’s, wenn Sie zuviel reden. Einen Minuspunkt, wenn Sie den Mund nicht aufmachen. Einen
Minuspunkt, wenn Sie sich für etwas zuviel Zeit lassen, wenn Sie faul sind oder sich vor unangenehmer Arbeit drücken. Einen Minuspunkt, wenn Sie überall dabei sein wollen und im Weg herumstehen. Einen Minuspunkt für Kriecherei. Einen Minuspunkt, wenn Sie einen Streit herbeiführen. Einen Minuspunkt, wenn Sie singen und pfeifen. Einen Minuspunkt, wenn Sie sich und andere langweilen oder Trübsal blasen. Es dürfte Ihnen nicht leicht fallen, den goldenen Mittelweg zu finden. Ich will Ihnen auch noch einen Rat geben, der Ihnen viele Minuspunkte ersparen kann: Ich hasse Klatsch, vor allem, wenn es dabei um mich geht. Ich bin ungemein empfindlich und greife schnell nach meinem roten Buch, wenn ich mich gekränkt fühle.« Wieder lehnte sich Henry Belt zurück. »Irgendwelche Fragen?« Niemand meldete sich. Henry Belt nickte. »Sehr klug. Es wäre nicht gut, seine Unwissenheit so schnell zu zeigen. Was Ihre Gedanken betrifft: Nein, ich halte mich nicht für Gott. Aber Sie dürfen es, wenn Sie wollen. Und noch etwas…« Er hob sein rotes Buch. »Betrachten Sie das als Sündenregister. Also gut. Haben Sie jetzt Fragen?« »Jawohl, Sir«, meldete sich Culpepper. »Sprechen Sie.« »Dürfen alkoholische Getränke mit an Bord gebracht werden?« »Den Kadetten ist es nicht erlaubt. Ich gebe zu, Wasser muß ohnedies mitgenommen werden und die organischen Verbindungen lassen sich herstellen, aber bedauerlicherweise wiegen die Flaschen viel zuviel.« »Ich verstehe, Sir.« Henry Belt erhob sich. »Ein Letztes: Habe ich erwähnt, daß ich auf strengste Disziplin achte? Sage ich springen, erwarte ich, daß auch jeder springt! Unsere Arbeit ist natürlich
gefährlich. Ich kann Ihnen keine Sicherheit garantieren. Ganz im Gegenteil, da man uns die alte Fünfundzwanzig zugeteilt hat, die man schon lange hätte zurückziehen sollen. Sie sind gegenwärtig acht. Nur sechs Kadetten werden die Reise machen. Gegen Ende der Woche werde ich entscheiden, wer mitkommt. Noch irgendwelche Fragen? Na gut. Viel Glück.« Hinkend, als schmerzten ihn die Füße, verschwand Henry Belt in dem dunklen Korridor.
Einen Augenblick herrschte Stille, dann murmelte von Gluck: »Großer Gott!« »Er ist ein tyrannischer Irrer«, brummte Weske. »So was muß man gehört haben! Das ist Größenwahnsinn!« »Psst!« mahnte Culpepper. »Paßt auf, was ihr sagt!« »Pah. Wir leben in einem freien Land. Ich kann schließlich meiner Meinung Ausdruck geben!« erklärte McGrath. Weske stand auf. »Ein Wunder, daß ihn noch niemand umgebracht hat.« »Ich möchte es nicht versuchen.« Culpepper schüttelte sich. »Er ist kein Schwächling.« Er hob warnend die Hand und ging mit gerunzelter Stirn zum Korridor. Henry Belt hatte sich lässig an die Wand gelehnt. »Verzeihen Sie, Sir«, sagte Culpepper höflich. »Wir hatten vergessen zu fragen, wann Sie uns wiedersehen wollten.« Henry Belt kehrte in den Saal und zum Podium zurück. »Am besten gleich jetzt.« Er setzte sich wieder hinter sein Pult und schlug sein rotes Buch auf. »Von Ihnen, Mr. von Gluck, kam der Ausruf ›großer Gott‹, in beleidigendem Tonfall, wohlgemerkt! Ein Minuspunkt! Sie, Mr. Weske, benutzten die Worte ›tyrannischer Irrer‹ und ›Größenwahnsinn‹, auf mich bezogen. Drei Minuspunkte. Sie, Mr. McGrath, bemerkten, daß die Redefreiheit zur Doktrin unseres Landes gehört. Das
ist eine Theorie, über die wir uns aus Zeitmangel jetzt nicht auslassen können. Ich bin der Ansicht, daß Ihrer Zitierung in diesem Fall eine Spur von Aufwieglertum anhaftet. Ein Minuspunkt. Mr. Culpepper, Ihre unerschütterliche Selbstgefälligkeit irritiert mich. Ich zöge es vor, Sie legten ein wenig mehr Unsicherheit, ja vielleicht sogar Unbehagen an den Tag.« »Tut mir leid, Sir.« »Doch jedenfalls nutzten Sie die Gelegenheit, Ihre Kameraden an meine Regeln zu erinnern. Sie bekommen keine Eintragung.« »Vielen Dank, Sir.« Henry Belt lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück und blickte zur Decke. »Hören Sie mir gut zu, denn ich beabsichtige nicht, etwas zu wiederholen. Machen Sie sich Notizen, wenn Sie möchten. Thema: Solarsegel in Theorie und Praxis. Sie sollten mit diesem Stoff bereits vertraut sein. Ich gehe ihn nur kurz durch, um mögliche Mißverständnisse zu klären. Erstens: Warum überhaupt Segel, wenn Schiffe mit Atomstrahltriebwerk schneller, verläßlicher, sicherer und einfacher zu navigieren sind? Es gibt drei gute Gründe dafür: Mit einem Segel lassen sich schwere Lasten billig, wenn auch langsam, durch das All befördern. Die Reichweite der Segel ist unbegrenzt, da wir den mechanischen Druck des Lichtes als Schubkraft benutzen und uns deshalb nicht mit Antriebsmaschinerie, Ausstoßmaterial und Energiespeicher belasten müssen. Das Solarsegel ist viel leichter als sein atombetriebenes Gegenstück und ermöglicht es, mehr Besatzung in einem größeren Schiff unterzubringen. Und last, not least, zur Ausbildung eines Raumfahrers gibt es nichts Besseres als den Umgang mit einem Segel. Natürlich berechnet der Computer den Winkel des Segels und den Kurs.
Tatsächlich hätten wir ohne den Computer keine Chance. Trotzdem vermittelt uns der Umgang mit einem Segel die nützliche Vertrautheit mit den kosmischen Elementen: Licht, Gravitation, Masse und Raum. Es gibt zwei Segeltypen: das reine und das kombinierte Segel. Das erste funktioniert ausschließlich mit Sonnenenergie; das zweite hat eine sekundäre Energiequelle. Uns wurde Nummer Fünfundzwanzig zugeteilt, die zum ersten Typ gehört. Das Schiff besteht aus einer Hülle, einem großen Parabolspiegel, der als Radar und Radioantenne dient und als Reflektor für den Generator, und dem Segel. Der Strahlungsdruck ist natürlich außerordentlich gering – etwa achtundzwanzig Gramm auf viertausend Quadratmeter bei dieser Entfernung von der Sonne. Daher muß das Segel extrem leicht und groß sein. Wir verwenden eine Fluorsilikonfolie von einer Zweitausendstel-Millimeter-Dicke, zur Lichtundurchlässigkeit mit Lithium beschichtet. Ich glaube, die Stärke des Lithiumbelags liegt bei zwölfhundert Molekülen. Eine solche Folie wiegt bei einer Quadratmeile vier Tonnen. Sie ist an einem reifenförmigen Rahmen aus dünnwandigen Rohren befestigt, von dem monokristalline Eisenkabel zur Hülle führen. Wir bemühen uns um einen Gewichtswert von sechs Tonnen pro Quadratmeile, der eine Beschleunigung zwischen g/100 und g/1000 erzeugt, je nach Entfernung zur Sonne, Einstrahlwinkel, Sonnenumlaufgeschwindigkeit und Oberflächenrückstrahlung. Diese Beschleunigung erscheint gering, aber Berechnungen zeigen, daß sie sich enorm summiert, g/1000 ergibt eine Beschleunigungszunahme von achthundert Meilen pro Stunde jede Stunde, achtzehntausend Meilen pro Tag jeden Tag, oder fünf Meilen pro Sekunde jeden Tag. Bei dieser Geschwindigkeit schrumpfen
interplanetare Entfernungen – wenn das Segel richtig bedient wird, wie ich wohl kaum zu betonen brauche. Die Vorzüge des Segels habe ich erwähnt. Es ist billig in der Herstellung und im Gebrauch. Es benötigt weder Treibstoff noch Plasma. Auf seiner Reise durch den Raum fängt die große Fläche verschiedene Ionen ein, die durch den vom Parabolspiegel betriebenen Plasmastrahl ausgestoßen werden können, was zu einer weiteren Erhöhung der Beschleunigung führt. Die Nachteile des Segels sind die des Segelflugzeugs und schiffs, das heißt, die natürlichen Kräfte müssen mit großer Präzision und Fingerspitzengefühl benutzt werden. Es gibt keine Beschränkung in der Größe des Segels. Auf der Fünfundzwanzig verwenden wir ein vier Quadratmeilen großes Segel. Für die bevorstehende Fahrt wird das Schiff mit einem neuen ausgestattet, da das alte abgenutzt und erodiert ist. Das ist alles für heute.« Wieder verließ Henry Belt schwerfällig sein Podium und hinkte in den Gang hinaus. Diesmal enthielt man sich jeder Bemerkung.
2 Die acht Kadetten waren gemeinsam untergebracht, nahmen gemeinsam am Unterricht teil, aßen an einem gemeinsamen Tisch in der Messe. In verschiedenen Werkstätten und Laboratorien montierten, demontierten und setzten sie Computer, Generatoren, Gyroplattformen, Spezialfahrzeuge und Kommunikationsgeräte wieder zusammen. »Es genügt nicht, geschickt mit den Händen zu sein«, sagte Henry Belt. »Findigkeit, Kreativität, die Fähigkeit, erfolgreich zu improvisieren – all das ist viel wichtiger. Wir werden Sie
testen.« Jeder Kadett wurde in einen Raum gebracht, in dem alles mögliche durcheinander auf dem Boden lag: Gehäuse, Drähte, Kabel, Schalter, Teile eines Dutzends verschiedener Mechanismen. »Sie haben sechsundzwanzig Stunden Zeit«, sagte Henry Belt. »Jedem steht das gleiche Material zur Verfügung. Sie dürfen sich untereinander weder beraten, noch einzelne Teile austauschen. Diejenigen, von denen ich einen Verstoß auch nur vermute, fliegen aus der Klasse. Ich möchte, daß Sie als erstes einen Standard-aminex-Mark-NeunComputer bauen, als zweites einen Servomechanismus, der eine Zehnkilomasse nach Mu Hercules ausrichtet. Warum Mu Hercules?« »Weil das Sonnensystem sich in die Richtung von Mu Hercules bewegt, Sir, und wir dadurch einen Parallaxenfehler vermeiden. So unwesentlich er auch sein mag, Sir.« »Ihre letzte Bemerkung war unnötig, Mr. McGrath, sie lenkte nur die Aufmerksamkeit jener ab, die sich bemühen, meine Anweisungen sorgfältig zu notieren. Ein Minuspunkt.« »Tut mir leid, Sir. Ich wollte damit nur ausdrücken, daß ein solches Maß an Genauigkeit für praktische Zwecke unnötig ist.« »Das, Kadett, dürfte allgemein bekannt sein und brauchte nicht extra erwähnt zu werden. Ich schätze Kürze und Präzision.« »Jawohl, Sir.« »Als drittes sollen Sie aus dem vorhandenen Material ein Hundert-Watt-Funkgerät bauen, mit dem eine Sprechverbindung zwischen der Tycho-Basis und Phobos hergestellt werden kann. Die Frequenz ist Ihnen überlassen.«
Die Kadetten begannen alle auf die gleiche Weise. Sie sortierten das Material, dann überprüften und kalibrierten sie
die Meßgeräte. Danach arbeiteten sie auf unterschiedliche Weise. Culpepper und von Gluck, die in dem Test eine Prüfung ihres Mechanikerscharfsinns und ihrer Frustrationsanfälligkeit sahen, regten sich nicht weiter auf, als sich herausstellte, daß einige unentbehrliche Teile fehlten oder nicht funktionierten, und führten jedes Projekt so weit wie möglich durch. McGrath und Weske, die mit dem Computer anfingen, verzweifelten und arbeiteten aufs Geratewohl. Lynch und Sutton beschäftigten sich verbissen mit dem Computer, und Verona plagte sich mit dem Funkgerät ab. Culpepper gelang es als einzigem, zumindest eines der Geräte fertigzustellen, indem er zwei zerbrochene Kristalle zersägte, polierte und zusammenklebte und daraus eine zwar grobe und nicht sehr leistungsfähige, aber immerhin funktionierende Masereinheit zusammenbastelte.
Am Tag nach diesem Test waren McGrath und Weske aus der gemeinsamen Unterkunft verschwunden, ob aus eigener Einsicht oder auf Henry Belts Anweisung, wußte niemand. Dem Test folgte ein freies Wochenende mit Ausgang. Kadett Lynch, der zu einer Cocktailparty eingeladen war, kam ins Gespräch mit einem Oberstleutnant Trenchard, der mitfühlend den Kopf schüttelte, als er erfuhr, wer Lynchs Ausbilder war. »Ich war auch mit dem alten Ekel oben. Ich sage Ihnen, es war ein wahres Wunder, daß wir überhaupt wieder zurückkamen. Zwei Drittel der Reise war Belt stockbesoffen.« »Erstaunlich, daß er nie vor ein Kriegsgericht gestellt wurde«, kommentierte Lynch. »Dafür gibt es einen guten Grund. Alle oben auf der Rangleiter wurden von ihm ausgebildet. Sie hassen ihn, aber auf paradoxe Weise sind sie auch unheimlich stolz darauf, daß
sie von ihm geschunden wurden. Vielleicht hoffen sie, daß eines Tages ein Kadett ihn fertigmacht.« »Hat es je einer probiert?« »O ja! Ich selbst setzte schon mal zu einem Kinnhaken an. Ich konnte von Glück reden, daß ich mit einem gebrochenen Schlüsselbein und zwei verrenkten Knöcheln davonkam. Wenn Sie lebend zurückkehren, stehen die Chancen gut, daß Sie die Leiter bis ganz oben erklimmen.«
»Kommenden Dienstag morgen geht’s auf in den Raum. Wir bleiben ein paar Monate aus«, erklärte ihnen Henry Belt am nächsten Abend. Am Dienstagmorgen nahmen die Kadetten ihre Plätze im »Engelwagen« ein. Henry Belt traf kurz nach ihnen ein. Der Pilot leitete das Take-off ein. »Haltet eure Hüte fest«, mahnte er sie grinsend. »Countdown…« Die Rakete stemmte sich gegen die Erde, hob sich und schoß in den Himmel. Eine Stunde später deutete der Pilot: »Dort ist euer Schiff, die alte Fünfundzwanzig. Die Neununddreißig daneben ist gerade erst aus dem Raum zurückgekommen.« Henry Belt starrte entsetzt durch die Sichtscheibe. »Was haben die denn mit dem Schiff gemacht? Die Kriegsbemalung? Das Rot? Das Weiß? Das Gelb? Ein Schachbrettmuster!« »Das haben Sie irgend so einer Landratte zu verdanken«, antwortete der Pilot. »Jemand erhielt den Auftrag, den alten Kasten zu verschönern, weil ein paar Kongreßmänner ihn besichtigen wollten.« Henry Belt wandte sich an die Kadetten: »Welch eine Verrücktheit! Die Folgen von Eitelkeit und Dummheit! Wir werden ein paar Tage beschäftigt sein, die Farbe wieder zu entfernen.«
Sie waren nun dicht unterhalb der beiden Segler. Nr. Neununddreißig, die gerade erst aus dem Raum gekommen war, sah nüchtern und glänzend aus neben der herausgeputzten Fünfundzwanzig. In der offenen Schleuse der Neununddreißig wartete eine Gruppe Männer. Ihre Ausrüstung schwebte an Tauenden vor ihnen im All. »Seht euch diese Burschen an«, sagte Henry Belt. »Sie sind übermütig. Sie haben einen angenehmen Ausflug um den Mars hinter sich. Sie sind nur mangelhaft ausgebildet. Wenn Sie zurückkommen, meine Herren, werden Sie hager, am Ende Ihrer Kräfte, aber gut ausgebildet sein. Und nun, meine Herren, schließen Sie Ihre Helme.« Alle befolgten seinen Befehl. Henry Belts Stimme kam nun über Funk zu ihnen. »Lynch, Ostrander, Sie bleiben hier und laden aus. Verona, Culpepper, von Gluck, Sutton, Sie springen mit Tauen zum Schiff, setzen die Ladung über und verstauen sie in den jeweiligen Frachträumen.« Henry Belt kümmerte sich selbst um sein Gepäck: mehrere große Behälter. Er ließ sie behutsam in den Raum hinaus, befestigte sie an Seilen, stieß sie zur Fünfundzwanzig und sprang ihnen nach. An der Schleuse angekommen, zog er die Behälter hinein und verschwand mit ihnen im Innern.
Als die Ladung untergebracht war, sammelten die Kadetten sich in der Messe. Henry Belt kam aus der Kapitänskabine. »Meine Herren, wie gefällt sie Ihnen? Nun, Mr. Culpepper?« »Sie ist sehr geräumig, Sir. Und die Aussicht von der Hülle ist überwältigend.« Henry Belt nickte. »Ihre Eindrücke, Mr. Lynch?« »Ich fürchte, Sir, ich kann sie noch nicht überschauen.« »Ich verstehe. Mr. Sutton?« »Der Weltraum ist größer, als ich mir vorgestellt habe, Sir.«
»Ja, er ist unvorstellbar. Ein guter Raumfahrer muß entweder größer sein als der Raum, oder er muß ihn ignorieren. Beides ist schwierig. Nun, meine Herren, nach ein paar Bemerkungen werde ich mich zurückziehen und die Fahrt genießen. Da sie meine letzte ist, beabsichtige ich absolut nichts zu tun. Die Bedienung des Schiffes liegt völlig in Ihren Händen. Ich werde mich nur hin und wieder sehen lassen und mit einem freundlichen Lächeln herumspazieren – oder, um Eintragungen in mein rotes Buch zu machen. Nominell führe ich das Kommando, aber Sie sechs werden die absolute Kontrolle über das Schiff haben. Wenn Sie uns sicher zur Erde zurückbringen, mache ich eine lobende Bemerkung in meinem roten Buch. Wenn Sie Bruch bauen oder uns in die Sonne jagen, werden Sie unglücklicher darüber sein als ich, denn es ist mir vorbestimmt, im Weltraum zu sterben. Mr. von Gluck, ist das ein Grinsen?« »Nein, Sir, ein nachdenkliches leichtes Lächeln.« »Was ist so erheiternd an der Vorstellung meines Ablebens, wenn ich fragen darf?« »Ihr Ableben wäre eine große Tragödie, Sir. Ich dachte lediglich über den sich hartnäckig haltenden Aberglauben, nein, sagen wir lieber die Überzeugung nach, daß es einen subjektiven Kosmos gibt.« Henry Belt kritzelte etwas in sein rotes Buch. »Ich weiß nicht, was Sie mit diesem barbarischen Jargon meinen, Mr. von Gluck. Ganz offensichtlich halten Sie sich für einen Philosophen und Dialektiker. Ich habe nichts daran auszusetzen, solange Ihre Bemerkungen weder Bosheit noch Unverschämtheit durchblicken lassen, gegen beides bin ich äußerst allergisch. Was die Hartnäckigkeit von Aberglauben betrifft: Nur ein armseliger Geist hält sich für das Behältnis absoluten Wissens. Hamlet sprach über dieses Thema zu Horatio, wenn ich mich recht erinnere, in dem wohlbekannten
Werk William Shakespeares. Ich selbst sah Seltsames und Erschreckliches. Waren es Halluzinationen? Waren es Manipulationen des Kosmos durch meinen eigenen Geist oder den Geist eines anderen – oder von etwas anderem? Ich weiß es nicht. Deshalb rate ich zu einer flexiblen Einstellung gegenüber etwas, über das die Wahrheit noch nicht bekannt ist. Ich rate es, weil der Schock eines unerklärlichen Erlebnisses einen zu starren Verstand vernichten kann. Drücke ich mich klar genug aus?«
»Jawohl, Sir.« »Also gut. Wir werden nach einem System vorgehen, wonach jeder der Reihe nach mit jedem der anderen fünf arbeitet. Ich hoffe, dadurch die Bildung von Freundschafteleien oder Cliquen zu verhindern. Sie haben sich das Schiff angesehen. Die Hülle besteht aus einer Lithium-Beryllium-Schicht, Isolierschaum, Fiber und einer Innenhaut. Sie ist sehr leicht und wird mehr durch den Luftdruck als durch das eigentliche Material gehalten. Dadurch haben wir ausreichend Platz, unsere Beine auszustrecken und zu vertreten, und jeder hat ein Fleckchen für sich, wo er ungestört sein kann. Die Kapitänskabine ist links. Unter keinen Umständen darf jemand außer mir sie betreten. Klopfen Sie an die Tür, wenn Sie mich sprechen wollen. Wenn ich mich sehen lasse, gut, wenn nicht, verschwinden Sie. Rechts sind sechs Kabinen, Sie müssen sich selbst einigen, wer welche bekommen soll. Ihre Einteilung ist wie folgt: zwei Stunden zum Lernen, vier Stunden Wache, sechs Freiwache. Ich verlange kein bestimmtes tägliches Pensum für Ihr Studium, aber ich empfehle Ihnen, die Zeit gut zu nutzen. Unser Ziel ist der Mars. Wir werden ein neues Segel anfertigen, und während die Beschleunigung aus dem Orbit einsetzt, werden Sie alle Instrumente und Gerätschaften an Bord sorgfältig überprüfen und ausprobieren. Jeder von Ihnen berechnet Segelwinkel und Kurs. Abweichungen und Fehler müssen Sie gemeinsam korrigieren. Ich werde mich überhaupt nicht um die Navigation kümmern. Natürlich würde ich es begrüßen, wenn Sie mich nicht in irgendein Desaster mit hineinziehen. Kommt es zu einem, hat der Verantwortliche mit nicht nur einem Minuspunkt zu rechnen. Singen, Pfeifen, Summen sind verboten. Ich verabscheue Furcht und Hysterie und werde darauf achten. Niemand kann
öfter als einmal sterben, und schließlich sind wir uns alle der Gefahren des von uns selbst erwählten Berufes durchaus bewußt. Ich dulde keine Dummejungenstreiche an Bord. Sie können eventuelle Streitigkeiten tätlich bereinigen, solange Sie mich nicht stören oder irgendwelche Instrumente zertrümmern, aber ich rate Ihnen davon ab, da es zu Haß führen kann. Ich kannte Kadetten, die einander deshalb umbrachten. Empfehlenswert ist eine höfliche, aber kühle Beziehung zueinander. Den Mikrofilmprojektor dürfen Sie nach Belieben benutzen, nicht jedoch das Funkgerät, weder zum Empfang noch zum Senden. Ich habe es vorsichtshalber außer Betrieb gesetzt, wie bei meinen früheren Fahrten auch. Ich möchte die Tatsache unterstreichen, daß wir völlig auf uns gestellt sind, daß nur unsere eigene Findigkeit uns aus einer Notlage retten kann. Noch irgendwelche Fragen? Also gut. Sie werden feststellen, wenn Sie mit peinlicher Korrektheit und Genauigkeit arbeiten, daß wir zur vorgesehenen Zeit gesund und sicher, ohne Ausfälle und mit einem Mindestmaß an Minuspunkten, zurückkehren werden. Ich muß allerdings zugeben, daß es bei den bisherigen zwölf Fahrten nie so ganz glatt ging. So, wählen Sie jetzt Ihre Kabinen aus und bringen Sie Ihre Sachen unter. Die Fähre bringt morgen das neue Segel hoch, dann können Sie sich an die Arbeit machen.«
3 Die Fähre lieferte ein riesiges Bündel eines 8-ZentimeterRohres aus: papierdünnes Lithium mit Beryllium gehärtet und verstärkt mit monokristallinen Eisenfasern – mit einer Gesamtlänge von acht Meilen. Die Kadetten schweißten die Enden zusammen. Nach einer Viertelmeile wurde das Rohr
gebogen und mit einer Leine zwischen zwei Enden wie ein Bogen gespannt und weitere Teile hinzugefügt. Nach und nach ragte das freie Ende weit hinaus und bog sich zur Schiffshülle zurück. Als das letzte Rohrteil festgeschweißt war, wurde das lose Ende heruntergezogen und befestigt. Es bildete jetzt einen riesigen Reifen von zweieinhalb Meilen Durchmesser. Hin und wieder ließ Henry Belt sich in seinem Raumanzug sehen und machte ein paar spöttische Bemerkungen, auf die die Kadetten jedoch kaum achteten. Ihre Stimmung hatte sich merklich gebessert. Sie fanden es herrlich, schwerelos hoch über der hellen wolkengezeichneten Erdkugel zu schweben, während die Kontinente und Meere sich schwerfällig drehten. Nichts erschien ihnen mehr unmöglich, selbst ihre Ausbildung durch Henry Belt kam ihnen erträglich vor. Als er herauskam, um ihre Arbeit zu begutachten, grinsten sie einander belustigt zu. Sie sahen ihn plötzlich als bedauernswertes Geschöpf, als armen Vagabunden, der über den Durst trank. Nur gut, daß sie nicht so naiv wie seine bisherigen Klassen waren, die ihn ernstgenommen, sich vor ihm geduckt hatten, so daß er sie zu Nervenbündeln hatte machen können. Nein, nicht sie! Keineswegs! Sie durchschauten Henry Belt! Sie brauchten nur den Kopf hoch zu halten, ihre Arbeit zu tun und guter Laune zu sein. Die Ausbildungsfahrt dauerte schließlich nur ein paar Monate, dann begann das wahre Leben. Die kurze Zeit würden sie leicht durchhalten. Am besten war es, Henry Belt so weit wie möglich zu ignorieren. Ja, das war die vernünftigste Einstellung und die leichteste Weise, Herr der Lage zu bleiben. Die Gruppe hatte sich inzwischen ein Bild voneinander gemacht und folgende Meinung gebildet: Culpepper war ruhig, zuvorkommend, von angenehmem Wesen. Von Gluck war eine gefühlsabhängige Künstlernatur, ein guter Feinmechaniker, ungemein sensibel. Lynch war leicht erregbar, von hitzigem Temperament, ein wenig streitsüchtig.
Ostrander war geziert, pingelig und hatte einen Reinlichkeitsfimmel. Sutton war Stimmungen unterworfen, mißtrauisch, stets bereit, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Verona war ein Arbeitstier mit rauher Schale, aber ausdauernd und verläßlich. Der glänzende Reifen schwang um die Schiffshülle. Die Fähre brachte das Segel: eine gewaltige Rolle dunkel glänzenden Materials. Als es auseinandergefaltet und aufgerollt und viele Male wieder auseinandergefaltet war, erkannte man, daß es eine widerstandsfähige, glänzende Folie war, so dünn wie Goldgespinst. Völlig entfaltet, bildete es eine schimmernde Scheibe, die sofort anfing, sich im Licht der Sonne zu kräuseln und aufzublähen. Die Kadetten befestigten sie am Reifenrahmen, spannten sie wie ein Trommelfell und verschweißten sie mit dem Rohrrahmen. Nun mußte das Segel mit der Kante zur Sonne ausgerichtet werden, wollte man nicht, daß es sich sofort unter einem Druck von etwa hundert Pfund davonmachte. Vom Reifen führten dünne Trossen zu einem Ring an der Rückseite des Parabolspiegels, der verglichen mit dem Segel winzig wirkte, genau wie die Schiffshülle im Verhältnis zu ihm. Jetzt war das Segel einsatzbereit. Die Fähre brachte die letzte Ladung: Wasser, Proviant, Ersatzteile, ein neues Magazin für den Mikrofilmbetrachter, Post. »Segel ausrichten!« befahl Henry Belt. Das Segel mußte nun so gedreht werden, daß es das Sonnenlicht einfing, während das Schiff sich von der Sonne weg um die Erde bewegte, und parallel zu den Sonnenstrahlen ausgerichtet werden, sobald es sich in seiner Umlaufbahn wieder der Sonne zubewegte. Kurz gesagt, es galt eine Umlaufbeschleunigung zu erreichen, die schließlich die Fesseln der terrestrischen Schwerkraft abstreifen und
schließlich Segler Fünfundzwanzig zum Mars schnellen würde. Während dieser Zeit überprüften die Kadetten alles an Bord. Abfällig und manchmal erschrocken betrachteten sie einige der Instrumente. Die Fünfundzwanzig war ein altes Schiff mit veralteten Geräten. Henry Belt amüsierte sich sichtlich über ihr Murren. »Wir sind auf einer Ausbildungstour, nicht auf einer Urlaubskreuzfahrt. Wenn Sie Verhätschelung suchten, hätten Sie auf festem Boden bleiben sollen. Ich habe kein Mitleid mit Menschen, die an allem etwas auszusetzen finden. Wenn Sie ein Vorbild brauchen, nehmen Sie mich.« Der mürrische, in sich gekehrte Sutton, gewöhnlich der zurückhaltendste und lakonischste von ihnen, konnte sich eine nicht sehr ratsame Bemerkung nicht verkneifen: »Wenn wir Sie als Vorbild nähmen, würde uns der Whiskey aus den Ohren fließen.« Das rote Buch wurde gezückt. »Eine beispiellose Unverschämtheit, Mr. Sutton. Wie können Sie sich so von Bosheit lenken lassen?« Sutton errötete, seine Augen glänzten, er öffnete die Lippen, doch dann preßte er sie zusammen. Henry Belt, der höflich auf eine Entschuldigung, oder zumindest eine Antwort gewartet hatte, drehte sich um. »Meine Herren, Sie werden bemerkt haben, daß ich die mir selbst gestellten Regeln meiner Verhaltensweise streng einhalte. Nach mir kann man die Uhren stellen. Es gibt keinen besseren, angenehmeren Schiffskameraden als Henry Belt, keinen Gerechteren auf der ganzen Welt. Mr. Culpepper, möchten Sie etwas sagen?« »Nichts von Bedeutung, Sir.«
Henry Belt stapfte zur Sichtscheibe und blickte hinaus zum Segel. Er wirbelte herum. »Wer ist auf Wache?« »Sutton und Ostrander, Sir.« »Meine Herren! Ist Ihnen denn am Segel nichts aufgefallen? Es hat sich gedreht und wendet die Rückseite der Sonne zu. In spätestens zehn Minuten haben wir den schönsten Drahtsalat aus zumindest hundert Meilen Tauwerk.« Sutton und Ostrander sprangen sofort auf, um sich um das Segel zu kümmern. Henry Belt schüttelte tadelnd den Kopf. »Genau das meinte ich mit Unachtsamkeit und Nachlässigkeit. Sie beide haben sich einer schlimmen Unterlassungssünde schuldig gemacht und sich als schlechte Raumfahrer herausgestellt. Das Segel muß jederzeit so ausgerichtet sein, daß die Trossen straff gespannt sind.« »Offenbar stimmt mit dem Sensor etwas nicht«, platzte Sutton heraus. »Er müßte anzeigen, wenn das Segel nachschwingt.« »Ich fürchte, ich muß Ihnen einen zusätzlichen Minuspunkt für diese Entschuldigung eintragen, Mr. Sutton. Es ist Ihre Pflicht, sich zu vergewissern, daß die Warn- und Meßgeräte zu jeder Zeit einwandfrei funktionieren. Maschinen sind kein Ersatz für persönliche Wachsamkeit!« Ostrander blickte vom Kontrollpunkt hoch. »Jemand hat den Schalter auf Aus gedreht, Sir. Das ist nicht als Entschuldigung gemeint, Sir, sondern lediglich als Feststellung.« »Hier die Grenze zu ziehen, ist Ansichtssache, Mr. Ostrander. Bitte merken Sie sich, was ich über Wachsamkeit sagte.« »Jawohl, Sir, aber wer – wer hat das Gerät ausgeschaltet?« »Sowohl Sie als auch Mr. Sutton müßten gerade auf dergleichen achten. Ist Ihnen denn nichts aufgefallen?« »Nein, Sir.« »Fast muß ich Sie weiterer Unachtsamkeit und Nachlässigkeit in diesem Fall beschuldigen.«
Ostrander bedachte Henry Belt mit einem langen, argwöhnischen Blick. »Der einzige, der in die Nähe des Pultes kam, waren Sie, Sir. Aber ich bin sicher, daß Sie nicht an eine solche Sabotage dachten.« Henry Belt schüttelte betrübt den Kopf. »Im Raum darf man sich nie darauf verlassen, daß alle rational handeln. Erst vor ein paar Minuten bezichtigte mich Mr. Sutton unfairerweise eines unnatürlichen Whiskeykonsums. Angenommen, das stimmte? Gesetzt den Fall, und ich meine das rein ironisch, ich habe mich wirklich mit Whiskey vollaufen lassen und bin jetzt betrunken?« »Nun, ich gebe zu, daß alles möglich ist, Sir.« Wieder schüttelte Henry Belt den Kopf. »Das ist die Art Bemerkung, Mr. Ostrander, die ich von Mr. Culpepper gewohnt bin. Eine bessere Antwort wäre gewesen: ›In Zukunft werde ich mich bemühen, auf jede Möglichkeit gefaßt zu sein.‹ Mr. Sutton, hörte ich einen zischenden Laut von Ihnen?« »Ich habe nur geatmet, Sir.« »Dürfte ich Sie ersuchen, mit weniger Heftigkeit zu atmen?« Henry Belt drehte sich um und schritt im Aufenthaltsraum hin und her, betrachtete die Einbauschränke, strich stirnrunzelnd über Flecken auf dem glänzenden Metall. Ostrander flüsterte Sutton etwas zu, und beide ließen Henry Belt nicht aus den Augen, während er herumstapfte. Schließlich kam der Ausbilder auf sie zu. »Sie zeigen großes Interesse für meine Schritte hier, meine Herren.« »Wir sind nur auf alle Möglichkeiten gefaßt, Sir.« »Sehr gut, Mr. Ostrander. Nur so weiter. Im Raum ist nichts unmöglich, das kann ich Ihnen bestätigen.«
4 Henry Belt schickte alle Mann aus, die Farbe von der Oberfläche des Parabolspiegels zu entfernen. Als die Arbeit getan war, lenkten sie das gebündelte Sonnenlicht auf eine Fläche von photoelektrischen Zellen. Die so entstandene Energie wurde zur Erzeugung des Plasmarückstoßes aus den durch das Segel gewonnenen Ionen benutzt. Diese zusätzliche Beschleunigung schob das Schiff in einen Fluchtorbit. Eines Tages schließlich, zu einem vom Computer genau berechneten Zeitpunkt, verließ die Fünfundzwanzig die Erde und glitt tangential hinaus in den Raum, auf einem Kurs zu einer Umlaufbahn um den Mars. Mit einer Beschleunigung von g/100 wuchs die Geschwindigkeit rasch. Die Erde verschwand schrumpfend am Heck – das Schiff war im Weltraum isoliert. Die Begeisterung der Kadetten wich tiefem Ernst. Die Erde immer kleiner werden und zurückbleiben zu sehen, ist ein erschreckender Anblick, der einem ewigen Verlust nahekommt, ja fast einem Sterben gleicht. Die für Gefühle empfänglicheren Kadetten – Sutton, von Gluck, Ostrander – konnten nicht aus dem Heck sehen, ohne daß ihre Augen feucht wurden. Selbst der gleichmütige Culpepper war zutiefst beeindruckt von dem majestätischen Anblick: die Sonne ein unerträglicher Abgrund, die Erde eine plumpe Perle auf schwarzem Samt zwischen Myriaden glitzernder Brillanten. Und fern der Erde, fern der Sonne bot sich ihnen eine neue Pracht völlig anderer Art. Zum erstenmal wurde den Kadetten vage bewußt, daß Henry Belt nicht mit seinen Worten von seltsamen Visionen übertrieben hatte. Hier war der Tod, hier war Frieden, Stille, eine atemberaubende Schönheit, die mit dem Tod nicht das Ende versprach, sondern die Ewigkeit. Sternengruppen, -ströme und vereinzelte Sterne blinkten. Die
vertrauten Konstellationen prunkten in unwahrscheinlichem Glanz: Achernar, Fomalhaut, Sadal, Suud, Canopus… Sutton ertrug es nicht, aus den Sichtscheiben zu blicken. »Nicht, daß ich mich fürchte«, sagte er zu von Gluck. »Aber vielleicht ist es doch Furcht. Es zerrt an mir, will mich hinausziehen… Nun ja, ich hoffe, mit der Zeit gewöhne ich mich daran.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte von Gluck grübelnd. »Ich würde mich nicht wundern, wenn das All zu einem psychologischen Bedürfnis würde – daß man sich auf der Erde immer danach sehnt.« Das Leben an Bord wurde zur Routine. Henry Belt erschien den Kadetten nicht mehr als Mensch, sondern als kapriziöser Teil der Natur, wie ein Sturm oder ein Blitz. Und genau wie eine Naturkatastrophe verschonte er niemanden. Er vergab selbst die ungewolltesten Kränkungen nicht. Außer in den Kabinen, die er nie betrat, entging nichts seiner Aufmerksamkeit. Immer roch er nach Whiskey. Die Kadetten fragten sich heimlich, wieviel von dem Zeug er wohl mit an Bord gebracht hatte. Aber gleichgültig, welche Fahne er hatte und wie unsicher seine Füße waren, seine Augen wirkten immer klar und scharf, und nie war seine Zunge schwer, wenn er etwas erklärte oder seine beißenden Bemerkungen machte. Eines Tages wirkte er ein kleines bißchen betrunkener als gewöhnlich. Er befahl allen, in Raumanzüge zu schlüpfen und das Segel nach meteoritischen Löchern abzusuchen. Diese Anweisung erschien so verrückt, daß die Kadetten ihn ungläubig anstarrten. »Meine Herren«, sagte Belt, »Sie zaudern, Sie zögern, sich anzustrengen, Sie ziehen ein Faulenzerleben vor. Bilden Sie sich vielleicht ein, Sie erholten sich an der Riviera? Marsch, in die Raumanzüge und aus dem Schiff! Überprüfen Sie Reifen, Segel, Reflektor, Trossen und Sensor. Sie werden sich zwei Stunden außerhalb des Schiffes
aufhalten. Wenn Sie zurückkehren, erwarte ich einen ausführlichen Bericht. Mr. Lynch, soviel ich weiß, sind Sie Wachhabender. Sie werden den Report vortragen.« »Jawohl, Sir.« »Noch etwas. Sie werden bemerken, daß das Segel durch den ständigen Strahlendruck leicht gebläht ist. Es ist deshalb wie ein Brennglas mit dem Brennpunkt hinter der Hülle. Aber darauf kann man sich nicht verlassen. Ich habe schon gesehen, wie jemand bei einem solchen Unfall verbrannte. Denken Sie daran!« Zwei Stunden lang schwebten die Kadetten im Raum, angetrieben von Gas in Behältern und Rückstoßdüsen. Alle genossen dieses Erlebnis, außer Sutton, den die Gewalt seiner Gefühle erschreckte. Am wenigsten beeindruckt war der praktisch veranlagte Verona, der das Segel mit einer Genauigkeit überprüfte, die sogar Henry Belt zufriedenstellen mußte. Am nächsten Tag spielte der Computer verrückt. Ostrander war der Wachhabende. Er klopfte an Henry Belts Tür, um es zu melden. Henry Belt öffnete die Tür. Er wirkte verschlafen. »Schwierigkeiten, Mr. Ostrander?« »Jawohl, Sir. Der Computer streikt.« Henry Belt fuhr sich über das graumelierte Borstenhaar. »Das ist nicht ungewöhnlich. Wir sorgen für einen solchen Notfall vor, indem wir unsere Kadetten eingehend in Computerbau und -reparatur ausbilden. Konnten Sie feststellen, wo der Fehler liegt?« »Die Lager der Speichertrennscheiben sind gebrochen, die Achse hat mehrere Millimeter Spielraum, deshalb werden völlig verwirrende Daten an den Abtaster geleitet.« »Ein interessantes Problem. Aber weshalb kommen Sie damit zu mir?«
»Ich hielt es für angebracht, Sie davon zu unterrichten, Sir. Ich glaube nicht, daß wir ein Ersatzlager dieser Art an Bord haben.« Henry Belt schüttelte betrübt den Kopf. »Mr. Ostrander, erinnern Sie sich an meine Erklärung zu Beginn dieser Fahrt, daß Sie, die Herren Kadetten, allein für die Navigation verantwortlich sind?« »Jawohl, Sir, aber…« »Nun, diese Situation gehört mit dazu. Sie müssen entweder den Computer reparieren oder die Berechnungen selber anstellen.« »Jawohl, Sir. Ich werde mein Bestes tun.«
5 Lynch, Verona, Ostrander und Sutton zerlegten den Mechanismus und nahmen das gebrochene Lager heraus. »Völlig verschlissen!« brummte Lynch. »Warum geben sie uns keine anständigen Geräte? Wenn sie uns schon umbringen wollen, wäre es gnädiger gewesen, uns gleich zu erschießen.« »Wir sind noch nicht tot«, sagte Verona. »Hast du dich nach einem Ersatzlager umgesehen?« »Natürlich. Es gibt nichts, was ihm auch nur im entferntesten ähnelt.« Verona betrachtete das Lager zweifelnd. »Wir könnten einen Verbundguß herstellen und ihn zurechttrimmen. Und ich fürchte, das werden wir auch tun müssen – es sei denn, ihr Burschen seid flink genug mit euren Berechnungen.« Sutton blickte hinaus, aber er wandte die Augen schnell wieder ab. »Ich frage mich, ob wir das Segel vielleicht vom Licht wenden sollten.« »Warum?« fragte Ostrander.
»Wir wollen schließlich nicht noch weiter beschleunigen. Wir haben bereits eine Geschwindigkeit von dreißig Meilen pro Sekunde.« »Mars ist ziemlich weit weg.« »Und wenn wir ihn verfehlen, schießen wir an ihm vorbei. Was dann?« »Sutton, du bist ein Pessimist. Deine morbide Phantasie ist eine Schande für jemanden deines Alters«, tadelte von Gluck. »Ich bin jedenfalls lieber ein lebender Pessimist als ein toter Optimist.« Das neue Gleitlager war schnell gegossen, bearbeitet und eingepaßt. Besorgt überprüften sie die Justierung der Speicherplatten. »Hm«, brummte Verona. »Sie flattern. Inwieweit das die Funktion beeinträchtigt, werden wir sehen. Es müßte helfen, wenn wir die Aufhängung stabilisieren…« Es gelang mit dünnem Papier. Das Flattern war so gut wie behoben. »Füttert das Ding mal«, forderte Sutton die anderen auf. »Wir wollen sehen, wie wir stehen.« Die Koordinaten wurden eingegeben. Der Anzeiger schlug aus. »Segelwinkel um vier Grad vergrößern«, sagte von Gluck. »Wir kommen zu weit nach links ab. Neuer Kurs…« Er drückte Knöpfe und beobachtete die helle Linie, die über den Schirm wuchs und um einen Punkt herumschwang, der den Gravitationsmittelpunkt des Mars darstellte. »Wir nehmen eine elliptische Bahn, bis auf zwanzigtausend Meilen an den Mars heran. Mit der gegenwärtigen Beschleunigung müßte sie uns direkt zur Erde zurückbringen.« Ein weiteres Lager wurde gegossen, bearbeitet und eingepaßt. Die Platten flatterten und kratzten. Die ockerfarbene Scheibe des Mars kam seitwärts immer näher. Da sie sich nicht auf den Computer verlassen konnten, berechneten die Kadetten den Kurs, werteten ihn aus.
Die Ergebnisse wichen zwar nur leicht, aber ausschlaggebend von denen des Computers ab. Die Kadetten blickten einander mißmutig an. »Also«, knurrte Ostrander. »Ein Fehler. Liegt es an den Instrumenten? Der Berechnung? Der Auswertung? Oder am Computer?«
Culpepper sagte müde: »Zumindest werden wir keine Bruchlandung bauen.« Verona studierte erneut den Computer. »Ich verstehe nicht, wieso die Lager nicht besser funktionieren… Die Aufhängungen – könnten sie sich verschoben haben?« Er entfernte die Gehäusewand und schaute ins Innere, dann holte er Werkzeug aus dem Schrank. »Was hast du vor?« fragte Sutton. »Ich werde versuchen, die Aufhängungen zu justieren. Ich glaube, daran liegt es.« »Laß sie lieber in Ruhe. Du wirst so lange daran herumpfuschen, bis der Computer seinen Geist ganz aufgibt«, warnte Sutton. Verona hielt inne, sah sich fragend um. »Was sagt ihr?« »Vielleicht sollten wir uns lieber zuvor an den Alten wenden«, antwortete Ostrander nervös. »Wenn ihr meint – aber ihr wißt, was er sagen wird!« »Losen wir es mit Karten aus. Pik-As geht zu ihm und fragt.« Culpepper bekam das As. Er klopfte an Henry Belts Tür. Es rührte sich nichts. Er wollte noch einmal klopfen, unterließ es dann jedoch. Er kehrte zu den anderen zurück. »Wir müssen warten, bis er sich wieder sehen läßt. Ich stürze lieber auf dem Mars ab, als daß ich Henry Belt mit seinem roten Buch aus seinem Allerheiligsten hole.« Das Schiff überquerte die Marsumlaufbahn weit vor dem beeindruckenden roten Planeten. Er schien mit seltsam plumper und doch majestätischer Größe auf sie zuzurollen: eine gewaltige Kugel, deren überscharfe Einzelheiten so völlig ohne Perspektive waren, daß sich Entfernung und Größe nicht abschätzen ließen. Statt in einer engen elliptischen Kurve Kurs zur Erde zurück zu nehmen, schwang das Schiff in eine stumpfe Hyperbel und schoß weiter in den Raum hinaus mit
einer Geschwindigkeit von fast fünfzig Meilen pro Sekunde. Der Mars blieb seitlich hinter ihnen zurück. Eine neue Region des Raumes lag vor ihnen. Die Sonne war merklich kleiner. Die Erde unterschied sich nicht mehr von den Sternen. Der Mars wurde immer kleiner, und der Weltraum erschien einsam und verlassen.
Henry Belt ließ sich zwei Tage lang nicht sehen. Schließlich klopfte Culpepper doch wieder an seine Tür, und nicht nur einmal, sondern dreimal. Ein seltsam veränderter Henry Belt blickte heraus. Sein Gesicht war eingefallen, seine Haut wie verzogener Karamel. Die rotunterlaufenen Augen stierten, das Haar war stumpf und zerzauster, als es bei einem Bürstenschnitt eigentlich möglich sein sollte. Aber seine Stimme war klar und ruhig wie immer. »Mr. Culpepper, Ihr unbarmherziger Lärm hat mich aus dem Schlaf gerissen. Ich bin sehr verärgert über Sie.« »Tut mir, wirklich leid, Sir. Wir befürchteten, Sie wären krank.« Henry Belt schwieg. Er blickte über Culpeppers Schulter auf den Kreis Gesichter. »Meine Herren, Sie wirken ungemein ernst. Machten Sie sich, meiner vermeintlichen Krankheit wegen, solche Sorgen um mich?« »Der Computer funktioniert nicht, Sir«, sagte Sutton schnell. »Dann müssen Sie ihn eben reparieren.« »Es geht darum, das Gehäuse zu verändern. Wenn wir es nicht richtig hinkriegen…« »Mr. Sutton, bitte belästigen Sie mich nicht mit Navigationsproblemen.« »Aber, Sir, wir befinden uns in einer sehr unangenehmen Lage, wir brauchen Ihren Rat. Wir verfehlten die Marsumkehr…«
»Dann gibt es immer noch den Jupiter. Muß ich Ihnen denn die Anfangsgründe der Astrogation erklären?« »Sir› der Computer funktioniert nicht, wir können uns nicht mehr nach ihm richten.« »Dann werden Sie wohl oder übel die Berechnungen selbst mit Schreibschrift und Papier vornehmen müssen, wenn Sie zur Erde zurückkehren möchten. Wieso muß ich Ihnen das Offensichtliche erklären?« »Jupiter ist noch weit weg«, sagte Sutton mit schriller Stimme. »Warum können wir nicht umdrehen und zurückfliegen?« Seine letzten Worte waren kaum noch ein Flüstern. »Ich sehe schon, ich habe Sie nicht hart genug angepackt«, brummte Henry Belt. »Sie stehen untätig herum und quatschen Unsinn, während die Maschinerie auseinanderbricht und das Schiff aufs Geratewohl dahinbraust. Marsch, alle in die Raumanzüge für eine Segelinspektion. Los! Wir war’s mit ein wenig Mumm in Ihren Knochen? Was sind Sie denn? Wandelnde Leichen? Wieso das Zaudern, Mr. Culpepper?« »Wir nähern uns dem Asteroidengürtel, Sir. Da ich der Wachhabende bin, halte ich es für meine Pflicht, das Segel auszurichten, um einen Bogen um das Gebiet zu machen.« »Tun Sie das. Danach schließen Sie sich dem Rest bei der Segel- und Schiffsrumpfinspektion an.« »Jawohl, Sir.« Die Kadetten schlüpften in Raumanzüge – Sutton mit größtem Widerstreben – und begaben sich hinaus in die dunkle Leere. Hier war wahrhaftig unvorstellbare Einsamkeit. Als sie zurückkehrten, hatte Henry Belt sich wieder in seine Kabine verzogen. »Wie Mr. Belt sagte, haben wir keine große Wahl«, wandte Ostrander sich an seine Kameraden. »Wir verfehlten den Mars, also müssen wir Jupiter nutzen. Glücklicherweise ist er in einer
guten Position – sonst müßten wir bis hinaus zum Saturn oder Uranus…« »Sie sind hinter der Sonne«, warf Lynch ein. »Jupiter ist unsere letzte Chance.« »Dann dürfen wir eben keinen Fehler machen. Ich schlage vor, daß wir uns diese verdammten Lager noch einmal vornehmen…« Erstaunlicherweise hatte das Flattern aufgehört, und die Verzerrung war verschwunden. Die Platten ließen sich einwandfrei abtasten. Der Spurenanzeiger leuchtete grün. »Großartig!« freute sich Lynch. »Füttert ihn mal! Macht euch schon dran! Auf geht’s zum Jupiter. Heiliger Bimbam, ist das eine Tour!« »Und sie ist noch nicht vorbei«, brummte Sutton. Seit seiner Rückkehr von der Segelinspektion waren seine Wangen eingefallen, und er hatte einen seltsam starren Blick. »Und bis es soweit ist, werden wir noch eine Menge durchmachen.« Die anderen taten, als hätten sie ihn nicht gehört. Der Computer spuckte Zahlen aus. Es lag noch eine Milliarde Meilen vor ihnen. Aufgrund der nachlassenden Intensität des Sonnenlichts war die Beschleunigung geringer. Es würde noch ein ganzer Monat vergehen, ehe sie Jupiter nahe kamen.
6 Das Segel dem schwindenden Sonnenlicht zugewandt, glitt das Schiff lautlos wie ein Geist immer weiter hinaus. Jeder Kadett hatte den Kurs ebenfalls berechnet. Alle kamen zum gleichen Ergebnis. Wenn die Schwenkung um Jupiter nicht mit absoluter Genauigkeit durchgeführt wurde und das Schiff nicht wie von der Sehne geschnellt auf den Kurs zurück zur Erde kam, hatten sie kaum noch eine Chance. Saturn, Uranus und
Neptun befanden sich weit hinter der Sonne; das Schiff, das mit hundert Sekundenmeilen dahinschoß, konnte durch die nachlassende Schwerkraft der Sonne weder angehalten, noch konnte es durch Segel und Düsen ausreichend beschleunigt werden, um in eine Kreisbahn eines stabilen Orbits einzuschwenken. Es lag an der Natur des Segels, daß es nicht als Bremse benutzt werden konnte, denn der Lichtdruck trieb es immer von der Sonne weg. Bei den zwischenmenschlichen Beziehungen unter den sieben Männern im Schiff gärte es wie junger Most. Die fundamentale Ähnlichkeit und die menschliche Identität der sieben Männer waren völlig aufgehoben, erkennbar waren nur die Unvereinbarkeiten. Jeder Kadett erschien den anderen als wandelndes Charakteristikum, und Henry Belt ihnen allen als unbekannte Größe – ein Wesen, das zu unvorhersehbarer Zeit aus seiner Kabine kam, um auf dem Schiff herumzustreifen, mit dem leeren Grinsen eines alten achäischen Helden. Jupiter wuchs überwältigend. Als seine Schwerkraft nach dem Schiff griff, zog er es seitwärts an. Die Kadetten achteten jetzt besonders sorgfältig auf den Computer und überprüften alle Ergebnisse doppelt. Verona war am unverdrossensten bei der Sache. Sutton trug mit seiner inneren Unruhe am wenigsten dazu bei und leistete auch keine sehr gute Arbeit. Lynch knurrte, fluchte und schwitzte. Ostrander beschwerte sich mit dünner, mürrischer Stimme. Von Gluck arbeitete mit der Ruhe pessimistischen Fatalismus. Culpepper schien sich keine Sorgen zu machen, er war gelassen und freundlich; seine ungerührte Höflichkeit verwirrte Ostrander, reizte Lynch und erweckte bohrenden Haß in Sutton, während Verona und von Gluck ganz offensichtlich innere Kraft und neuen Mut aus Culpeppers Einstellung gegenüber ihrer Situation gewannen. Henry Belt machte kaum den Mund auf. Ab und zu kam er aus
seiner Kabine und beobachtete die Kadetten mit dem gleichmütigen Interesse eines Besuchers in einer Irrenanstalt. Lynch war die Entdeckung zu verdanken. Er machte mit einem Knurren tiefsten Entsetzens darauf aufmerksam, das zu einem fragenden Brummen Suttons führte. »Großer Gott!« murmelte Lynch. Verona kam zu ihm gerannt. »Was ist denn los?« »Schaut euch das an! Als wir die Platten justierten, verschoben wir das Ganze um eine Phase. Der weiße Punkt da und der andere dort müßten synchron sein. Sie sind um eine Verzahnung versetzt! Sämtliche Ergebnisse stimmen nur deshalb überein, weil sie alle um denselben Faktor verändert sind!«
Verona machte sich sofort an die Arbeit. Er entfernte das Gehäuse und verschiedene Teile. Vorsichtig hob er den Abtastmechanismus an und drückte ihn in die rechte Lage. Die anderen Kadetten beugten sich vor und sahen ihm zu, nur Culpepper nicht, der der Wachhabende war. Henry Belt tauchte auf. »Sie sind zweifellos sehr eifrig bei Ihrer Navigation«, sagte er. »Schon fast Perfektionisten.« »Wir tun unser Bestes«, knirschte Lynch zwischen den Zähnen. »Es ist eine verdammte Schweinerei, uns mit einer solchen Maschine fortzuschicken!« Das rote Buch wurde gezückt. »Mr. Lynch, Sie bekommen einen Minuspunkt, nicht Ihrer persönlichen Meinung wegen, die Ihnen natürlich freisteht, sondern weil Sie sie laut äußerten und dadurch zu einer ungesunden Atmosphäre von Verzweiflung und hysterischem Pessimismus beitragen.« Lynch lief tiefrot an. Er beugte sich über den Computer und schwieg. Aber plötzlich brauste Sutton auf: »Was erwarten Sie eigentlich noch alles von uns? Wir sind hier draußen, um zu
lernen – aber nicht das Gruseln –, und nicht, um für immer und ewig weiterzufliegen!« Er lachte irr. Henry Belt hörte geduldig zu. »Überlegen Sie doch nur!« schrie Sutton. »Wir sieben in dieser Kapsel – für immer!« »Ich fürchte, ich muß Ihnen für Ihren Gefühlsausbruch zwei Minuspunkte eintragen, Mr. Sutton. Ein guter Raumfahrer behält seine Fassung und menschliche Würde unter allen Umständen.« Lynch schaute vom Computer hoch. »Jetzt haben wir die korrigierte Auswertung. Wissen Sie, was uns blüht?« Henry Belt blickte ihn höflich fragend an. »Wir werden am Jupiter genauso vorbeisausen wie am Mars. Jupiter zieht uns herum und stößt uns zum Sternbild der Zwillinge!« Das einsetzende Schweigen war zum Schneiden dick. Henry Belt drehte sich zu Culpepper um, der an der Sichtscheibe stand und mit seiner Kamera Privataufnahmen vom Jupiter machte. »Mr. Culpepper?« »Jawohl, Sir.« »Die Aussicht, mit der Mr. Sutton uns auf seine Weise vertraut machen will, scheint Sie offenbar nicht zu beunruhigen.« »Ich hoffe, sie bedeutet keine unmittelbare Bedrohung.« »Wie können wir das angedeutete Los vermeiden? Was schlagen Sie vor?« »Ich nehme an, wir können um Hilfe funken, Sir.« »Sie haben offenbar vergessen, daß ich das Funkgerät zerstörte.« »Ich erinnere mich, eine Kiste mit der Aufschrift ›Ersatzteile für Funkgerät‹ im Steuerbordladeraum gesehen zu haben.« »Es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß, Mr. Culpepper. Die Aufschrift stimmt nicht mit dem Inhalt überein.«
Ostrander sprang auf und verließ den Raum. Durch die offene Tür war gleich darauf das Scharren von Kisten zu hören, die offenbar verrückt wurden. Niemand sagte etwas, bis Ostrander zurückkehrte. Er funkelte Henry Belt an. »Whiskey!« stieß er hervor. »Nichts als Whiskeyflaschen!« Henry Belt nickte. »Ich sagte es ja.« »Jetzt haben wir kein Funkgerät«, sagte Lynch mit einem häßlichen Zähneknirschen. »Wir hatten nie eines, Mr. Lynch. Ich warnte Sie von vornherein, daß Sie völlig auf sich selbst gestellt sind und Sie uns durch Ihre eigene Initiative heimbringen müssen – damit meine ich natürlich Sie alle, meine Herren. Sie haben versagt und dadurch auch mich in eine unglückliche Lage gebracht. Ich muß übrigens Ihnen allen zehn Minuspunkte eintragen, weil Sie versäumten, die Fracht genau zu überprüfen.« »Minuspunkte«, murmelte Ostrander düster. »Nun, Mr. Culpepper«, sagte Henry Belt. »Was schlagen Sie jetzt vor?« »Ich weiß es noch nicht, Sir.« Mit ruhiger Stimme sagte Verona: »Was würden Sie an unserer Stelle tun, Sir?« Henry Belt schüttelte den Kopf. »Es fehlt mir durchaus nicht an Einfühlungsvermögen und Einfällen, Mr. Verona, aber gewisse Gehirnverrenkungen überlasse ich lieber anderen.« Er kehrte zu seiner Kabine zurück. Von Gluck betrachtete Culpepper interessiert. »Es stimmt. Unsere Lage scheint dich nicht übermäßig zu beunruhigen.« »Vielleicht trügt der Schein? Aber nein, ich bin der Ansicht, daß auch Mr. Belt wieder nach Hause zurückkehren möchte. Und er ist ein viel zu guter Raumfahrer, als daß er nicht genau wüßte, was er tut.« Henry Belts Kabinentür glitt auf. »Mr. Culpepper«, sagte der Gefürchtete. »Ich hörte zufällig Ihre Bemerkung. Ich muß
Ihnen zehn Minuspunkte eintragen. Ihre Einstellung deutet auf einen selbstgefälligen Gleichmut hin, der genauso gefährlich ist wie Mr. Suttons schon fast panische Angst.« Sein Blick streifte über sie alle. »Achten Sie nicht auf Mr. Culpepper. Er täuscht sich. Selbst wenn ich noch etwas gegen dieses Desaster unternehmen könnte, würde ich keinen Finger rühren – denn schließlich wurde es mir ja vorhergesagt, daß ich im Weltraum sterben würde.«
7 Das Segel lag in Nullstellung mit der Kante zur Sonne. Jupiter war ein verschwommener Fleck hinter ihnen. Fünf Kadetten befanden sich im kombinierten Kontroll- und Aufenthaltsraum. Culpepper, Verona und von Gluck saßen und unterhielten sich leise miteinander. Ostrander und Lynch lagen zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen und das Gesicht der Wand zugedreht, auf den Polsterbänken. Sutton hatte sie vor zwei Tagen verlassen. Ruhig war er in seinen Raumanzug geschlüpft, in die Luftschleuse getreten und hatte sich kopfüber ins All gestürzt. Ein Düsenantrieb hatte für zusätzliche Geschwindigkeit gesorgt, und er war verschwunden, ehe die Kadetten noch etwas unternehmen konnten. Kurz danach verfielen Lynch und Ostrander psychischer Inanition: einer Art verzweifelter Hilflosigkeit. Sie waren manisch-depressiv auf abgestumpfteste Weise. Der unerschütterliche Culpepper, der pragmatische Verona und der sensible von Gluck hatten ihren klaren Verstand behalten. Sie sprachen leise, damit Henry Belt sie zumindest von seiner Kabine aus nicht belauschen konnte. »Ich bin immer noch
überzeugt«, sagte Culpepper, »daß es irgendeine Möglichkeit gibt, die Erde wieder zu erreichen, und daß Henry Belt sie sehr wohl kennt.« »Ich wollte, ich könnte es glauben… Wir sind es hundertmal durchgegangen. Wenn wir das Segel zum Saturn oder Neptun oder Uranus setzen, werden uns die von der Sonne wegführenden Vektoren von Schubkraft und Schwung weit über Pluto hinaustragen, ohne daß wir den Planeten nahe genug kämen. Die Plasmatriebwerke könnten unsere Fahrt stoppen, wenn wir genügend Energie hätten, aber der photoelektrische Schild kann sie uns nicht liefern, und eine andere Kraftquelle haben wir nicht…« Von Gluck schlug die Faust in die Hand. »Jungs!« Seine Stimme klang erfreut. »Ich glaube, wir haben doch ausreichend Energie. Wir benutzen das Segel! Es ist gebläht und kann als Spiegel dienen. Seine Oberfläche beträgt fünf Quadratmeilen. Das Sonnenlicht hier ist spärlich, aber solange wir genug davon sammeln können…« »Ich verstehe«, sagte Culpepper. »Wir bringen den Reaktor in den Brennpunkt des Segels und schalten die Triebwerke ein.« Verona meinte ein wenig zweifelnd: »Dann haben wir aber immer noch Strahlungsdruck. Aber schlimmer noch, der Antrieb wirkt auf das Segel. Ergebnis – Null. Wir haben nichts gewonnen.« »Wenn wir die Mitte des Segels ausschneiden – gerade genug, um den Strahl durchzulassen –, können wir diesen Einwand vergessen. Und was den Strahlungsdruck betrifft, der Antrieb wird stärker sein.« »Und womit erzeugen wir das Plasma? Wir haben nichts an Bord.«
»Wir können alles benutzen, was sich ionisieren läßt: das Funkgerät, den Computer, deine Schuhe, mein Hemd, Culpeppers Kamera, Henry Belts Whiskey…«
8 Der ›Engelwagen‹ kam zu Segler Fünfundzwanzig im Orbit neben Segler Vierzig, der gerade dabei war, mit einer neuen Mannschaft auszulaufen. Die Fähre trieb näher heran und hielt an. Drei Männer sprangen hinüber zur Vierzig, ein paar hundert Meter hinter der Fünfundzwanzig, warfen Taue zur Fähre und zogen Ballen und Kisten über die Kluft. Die fünf Kadetten und Henry Belt traten in Raumanzügen ins Sonnenlicht. Die Erde lag in all ihrer Schönheit unter ihnen: grün und blau, weiß und braun, mit ihren so vertrauten Konturen – ihnen so lieb und teuer, daß ihre Augen feucht glitzerten. Die Kadetten, die auf Segler Vierzig übersetzten, musterten sie überrascht. Sobald die Burschen von der Vierzig ihre Fracht abgeholt hatten, gingen die sechs Männer von Segler Fünfundzwanzig an Bord des ›Engelwagens‹.
»Gesund und munter zurück, eh, Henry?« sagte der Pilot. »Ich staune jedesmal wieder.« Henry Belt schwieg. Die Kadetten verstauten ihre Sachen, dann blickten sie hinüber zur Fünfundzwanzig. Die Fähre brach auf. Die beiden Segler schienen über ihnen zu wachsen. Die Fähre steckte die Nase mehrmals in die Atmosphäre, ehe sie untertauchte und schließlich die Flügel ausfuhr, um sanft auf der Mojavewüste zu landen.
Die Kadetten, deren Beine sich in der nicht mehr gewohnten Schwerkraft schlaff und schwach anfühlten, hinkten Henry Belt zum Transporter nach und fuhren zum Verwaltungskomplex. Als sie ausstiegen, winkte Henry Belt die fünf zu sich. »Meine Herren, hier verlasse ich Sie. Heute abend werde ich mein rotes Buch durchgehen und meinen Bericht aufsetzen. Aber ich möchte Sie nicht im Ungewissen lassen. Sie sollen mein einstweilen noch inoffizielles Resümee meiner Eindrücke hören. Mr. Lynch und Mr. Ostrander, ich habe das Gefühl, daß Sie weder für einen Posten geeignet sind, noch sich in einer Situation bewähren würden, wo Sie länger anhaltenden emotionalen Belastungen ausgesetzt sind. Ich kann Sie deshalb nicht für den Raumdienst empfehlen. Mr. von Gluck, Mr. Culpepper und Mr. Verona, Sie genügen den Mindestanforderungen, die ich für eine positive Bewertung voraussetze. Die Bemerkung ›besonders geeignet‹ werde ich allerdings nur neben die Namen ›Clyde von Gluck‹ und ›Marcus Verona‹ setzen. Meine Herren, Sie haben den Segler durch im wesentlichen untadelige Navigation zur Erde zurückgebracht. Unsere Gemeinschaft endet nun. Ich hoffe, Sie haben durch sie profitiert.« Henry Belt nickte jedem der fünf flüchtig zu, dann hinkte er um das Gebäude herum. Die Kadetten blickten ihm nach. Culpepper griff in seine Hosentasche und brachte ein Paar kleiner metallener Gegenstände zum Vorschein. »Kommen sie euch bekannt vor?« fragt er. »Hoppla!« sagte Lynch. »Lager für die Computerplatten! Die Originallager!« »Ich habe sie in der Lade für kleinere Ersatzteile gefunden. Ich weiß aber sicher, daß sie vor kurzem noch nicht dort waren.«
Von Gluck nickte. »Ich erinnere mich, daß die Schäden immer auftauchten, wenn wir von der Segelinspektion zurückkamen.« Lynch sog den Atem pfeifend ein, dann wandte er sich ab und ging weg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ostrander folgte ihm wortlos. Culpepper zuckte die Schultern. Ein Lager gab er Verona, das andere von Gluck. »Als Andenken – oder Orden. Ihr habt sie euch verdient.« »Danke, Ed«, sagte von Gluck. »Danke«, murmelte Verona. »Ich werde mir eine Nadel daran machen lassen und das Ding anstecken.« Die drei, die es vorzogen, einander nicht anzusehen, blickten zum Himmel hoch, wo die ersten Sterne des frühen Abends zu funkeln begannen. Dann traten sie in das Gebäude, wo Familienangehörige, Freunde und jene sie erwarteten, die ihren Herzen nahestanden.
Originaltitel: »Dust of Far Suns« (vormals »Sail 25«) Copyright © 1962 by Ziff-Davis Publishing Co.; mit freundlicher Genehmigung des Autors
Dodkins Job
Die Theorie der Organisierten Gesellschaft (von Kinch, Kolbig, Penton u. a. entwickelt) bietet einen so gewaltigen Schatz wichtiger Information und offenbart eine solche Fülle komplexen Ideenguts und unheildrohender Bilder, daß es nicht schadet, über ihre täuschend einfachen Hauptprämissen (hier von Kolbig dargelegt) nachzudenken. Wenn Mikroeinheiten mit Eigenwillen sich zu einer dauerhaften Makroeinheit zusammenschließen, ist der Verlust gewisser Handlungsfreiheiten unvermeidlich. Dies ist die Grundlage der Organisation. Je zahlreicher und unberechenbarer die Mikroeinheiten sind, desto komplexer müssen Struktur und Funktion der Makroeinheit sein – deshalb die einschneidenden und beschränkenden Maßnahmen der Organisation. aus: Die Obersten Prinzipien der Organisation, von Leslie Penton In der Stadt hatte die Allgemeinheit frühere persönliche Freiheiten längst vergessen, ähnlich der Schlange, die sich auch nicht mehr erinnert, daß ihre Gattung einst Beine hatte. Irgendwo hatte einmal jemand gesagt: »Wenn das Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis einer Kultur sehr groß ist, weist es darauf hin, daß diese Kultur einem raschen Wandel unterworfen ist.« Wenn es danach ging, war die Kultur der Stadt stabil, ja statisch. Das Leben der Bevölkerung war durch Plan, Klassifizierung und Präzedenzien geordnet, und die Bürger wurden durch die schmeichlerischen Belohnungen
der Organisation zufriedengestellt. Aber selbst im gesündesten Zellengewebe sind Bakterien zu finden, und die geringste Unreinheit mindert die Schönheit des Kristalls. Luke Grogatch war vierzig, hager, eckig. Hinter seiner Stirn verbarg sich Starrsinn. Der Zug seiner Lippen wirkte leicht spöttisch, genau wie der Schnitt seiner Brauen. Er hielt den Kopf gewöhnlich eine Spur schief, als quälten ihn Ohrenschmerzen. Er war zu klug, sich zum Nonkonformismus zu bekennen; zu störrisch, spitzfindig, sarkastisch und zu offen heraus, als daß er sich in den Stellungen hätte halten können, die man ihm zugeteilt hatte. Jede Neueinstufung setzte seinen Status herab, und bei jedem neuen Job wurde seine Abneigung heftiger. Als man ihn schließlich als Versager/Klasse D/ungelernt eingestuft hatte, wurde Luke zum Kanalisationssäuberungsdienst im 8892. Bezirk geschickt, wo man ihn für die Nachtschicht als Hilfsarbeiter an der Bohrmaschine der Kanalkolonne 3 einsetzte. Zum Arbeitsantritt meldete Luke sich beim Kolonnenführer Fedor Miskitman, einem großen büffelgesichtigen Mann mit flachsblondem Haar und sanften blauen Augen. Miskitman griff nach einer Schaufel und führte Luke dicht hinter den Messerkopf der Bohrmaschine. Hier sei sein Platz, erklärte ihm Miskitman. Lukes Arbeit war, den Tunnelboden von losem Gestein sauberzuhalten. Wenn der Tunnel zum alten Kanal durchbrach, würde es Steinbrocken und Trümmer geben, ›Naßabraum‹ genannt, die wegzuschaffen waren. Luke hatte die ›Staubfalle‹ sauberzuhalten und dafür zu sorgen, daß sie stets richtig eingestellt war. Während der Arbeitspausen mußte er die Lager ölen, die vom automatischen Schmierungssystem nicht erfaßt werden konnten. Auch die ausgebrochenen Zähne des Messerkopfs mußte er austauschen, wann immer es erforderlich war.
Luke erkundigte sich, ob das die Gesamtheit seiner Pflichten sei. Seine Stimme troff vor Ironie, doch Fedor Miskitman bemerkte es nicht. »Das ist alles«, versicherte er ihm. Er händigte Luke die Schaufel aus. »Die Hauptsache ist der Tunnelboden, er muß immer sauber sein.« Luke schlug eine kleine Veränderung des Auffangtrichters vor, wodurch von vornherein weniger verschüttet würde. Tatsächlich ging er so weit zu fragen, weshalb man sich überhaupt die Mühe machte. Man konnte die winzigen Bruchstücke doch ruhig liegenlassen, sie würden durch die Betonschicht, die gleich darauf aufgesprüht wurde, sowieso überdeckt. Miskitman ließ sich auf nichts ein. Er bestand darauf, daß die Steinbrocken und überhaupt der Schmutz entfernt werden mußten. Als Luke sich erkundigte weshalb, erwiderte Miskitman: »Weil das eben zu deiner Arbeit gehört.« Luke brummte etwas nicht sehr Höfliches. Er probierte die Schaufel aus und schüttelte unzufrieden den Kopf. Der Stiel war zu lang, das Blatt zu kurz. Das sagte er Miskitman auch. Der Kolonnenführer schaute jedoch lediglich auf seine Uhr, dann gab er dem Mann an der Schlagbohrmaschine ein Zeichen. Der Motor heulte auf, dann stieß die Bohrspindel mit ohrenbetäubendem Krachen in den Stein. Miskitman verzog sich, und Luke machte sich an die Arbeit. Im Lauf der Schicht stellte er fest, daß die heiße staubschwangere Abluft der Maschine über seinen Kopf hinwegblies, wenn er geduckt arbeitete. Beim Auswechseln eines Zahnes des Messerkopfs während der ersten Arbeitspause zog er sich eine Brandblase am linken Daumen zu. Nur eine Überlegung hielt Luke am Ende der Schicht davon ab, sich als ungeeignet für diese Arbeit zu erklären: Er würde von seiner gegenwärtigen Klassifizierung als Versager/
Klasse D/ungelernt zur Hilfskraft abgestuft und sein Ausgabenkonto gekürzt werden. Eine solche Deklassierung brächte ihn auf die unterste Statusstufe, und das wollte er doch vermeiden. Sein derzeitiges Ausgabenkonto war ja schon kaum ausreichend. Er konnte sich davon lediglich eine Verköstigung des Typs RP leisten, einen Schlafplatz in einer Unterkunft im 22. Unterstock, dann blieben ihm noch sechzehn Sondercoupons per Monat.
Er gönnte sich davon eine erotische Behandlung der Klasse 14 und durfte zwölf Stunden im Monat in seinem Erholungsklub verbringen und dort nach Belieben Gewicht heben, Tischtennis spielen, sich an einer der zwei Miniaturkegelbahnen vergnügen oder auch vor einer der sechs Fernsehwände, die ständig auf Band H eingestellt waren. Luke träumte oft von einem besseren Leben: von AAAVerköstigung, einer Suite ganz für sich allein, Sondercoupons in Hülle und Fülle, erotischer Behandlung Klasse 7, ja vielleicht sogar Klasse 6 oder 5, denn trotz seiner Verachtung für die Oberen hatte er absolut nichts gegen deren Vergünstigungen, wenn er sie für sich beanspruchen könnte. Mit dem bitteren Ende seiner Tagträume kam immer die Überzeugung, daß er selbst in den Genuß all der guten Dinge hätte kommen können. Er hatte seine Mitmenschen dabei beobachtet, wie sie sich höherschwindelten, und so kannte er all die Tricks und wußte, wie man es anstellte – mit Emsigkeit, Anbiederung, Schlüpfrigkeit, Kriecherei… Warum sollte er sein Wissen nicht nutzen? Nein, lieber bin ich ein D-Klasse-Versager, dachte er abfällig. Hin und wieder beschlichen ihn Zweifel. Vielleicht mangelte es ihm lediglich an Mut, sich mit anderen zu messen und die Welt so zu nehmen, wie sie war. Und diese Zweifel führten zur Selbstverachtung. Er war Nonkonformist, ganz sicher – aber es fehlte ihm der Mut, es zuzugeben! Doch dann machte sich Lukes Starrsinn wieder breit. Weshalb sollte er seinen Nonkonformismus eingestehen, wenn er dann ins Desorganisationshaus mußte? Das war etwas für Verrückte, aber Luke war nicht verrückt. Möglicherweise war er tatsächlich ein Nonkonformist, wie er im Buche steht, vielleicht aber auch nicht – er wollte sich gar nicht wirklich schlüssig werden. Er vermutete, daß man ihn verdächtigte. Hin und wieder fielen ihm verstohlene Blicke seiner
Arbeitskameraden auf, und deren bedeutungsvolle Blicke untereinander. Sollten sie nur schnüffeln, sie konnten ihm nichts beweisen. Aber jetzt war er Luke Grogatch, D-Klasse-Versager, nur durch eine Stufe von der nichtklassifizierten Schicht der Kriminellen, Geistesgestörten, Kinder und erwiesenen Nonkonformisten getrennt. Luke Grogatch mit seinen Träumen von den obersten Stufen, von Stolz und Unabhängigkeit! – Statt dessen war er Klasse-D-Versager, der Befehle von einem strohköpfigen Tölpel entgegennehmen und mit angelernten Arbeitern schuften mußte, deren Status fast so niedrig wie seiner war. Luke Grogatch, der Versager.
Sieben Wochen vergingen. Lukes Abneigung gegen seinen Job wurde zu glühendem Haß. Die Arbeit war anstrengend, heiß, abstoßend. Fedor Miskitman verstand Lukes erbitterte Grimassen nicht und zuckte nur die Schultern oder brummte etwas, wenn Luke Verbesserungsvorschläge unterbreitete oder mit Einwänden kam. Seine Haltung deutete an, daß die Arbeit eben so und nicht anders getan werden mußte, daß sie immer so getan worden war und immer so getan werden würde. Fedor Miskitman erhielt täglich Richtlinien von seinem Vorgesetzten, die er seiner Kolonne während der ersten Arbeitspause der Schicht vorlas. Diese Richtlinien befaßten sich gewöhnlich mit dem Arbeitssoll, Teamgeist, der Zusammenarbeit; gaben hin und wieder neue Anordnungen für die Behandlung des Betonbelags und Ähnliches; warnten gegen Übertreibungen aller Art während der Freizeit, die die Arbeitsleistung und den Arbeitsgeist beeinträchtigen könnten. Luke achtete kaum darauf, bis Fedor Miskitman eines schönen Tages das vertraute gelbe Blatt hervorzog und stumpf vorlas:
MINISTERIUM FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST STADTVERWALTUNG AMT FÜR SANITÄRTECHNIK, 8892. BEZIRK ABTEILUNG KANALISATION – BAU UND INSTANDHALTUNG Verordnung: 6511, Serie BV96 Kode: GZ-AAR-Reg Bezug: G98-7542 Datumskode: BT-EQ-LLT GENEHMIGUNG: LL8-P-SC8892 1. Überprüfung: 48 2. Überprüfung: Von: 92C Von: Lavester Limon, Leiter, Abteilung Kanalisation – Bau und Instandhaltung Via: Alle Kanalisationsbau- und -instandhaltungsabteilungen An: Alle Kanalisationsbauund -instandhaltungsAufsichtsführendenden Zur Weiterleitung an alle Kolonnenführer Betr.: Förderung der Lebensdauer von Werkzeug Anwendung: Ab sofort Dauer: Unbefristet VORGANG: Zu Beginn jeder Schicht muß alles Handwerkszeug aus dem Lagerhaus der Kanalisationsabteilung, 8892. Bezirk, abgeholt werden. Am Ende jeder Schicht muß alles Handwerkszeug sorgfältig gesäubert und ins Lagerhaus der Kanalisationsabteilung, 8892. Bezirk, zurückgebracht werden Anordnung überprüft und weiter geleitet: Butry Keghorn, Direktor Abteilung Kanalisation – Bau Clyde Kaddo, Direktor Abteilung Kanalisation – Instandhaltung
Als Fedor Miskitman den ›Vorgang‹-Teil las, stieß Luke den Atem in einem ungläubigen Schnauben aus. Miskitman las zu Ende, faltete das Blatt mit den dicken Fingern sorgfältig zusammen und blickte auf seine Uhr. »Das ist die Anordnung. Wir haben unsere Pause um fünfundzwanzig Sekunden überzogen. Also schnell zurück an die Arbeit.« »Einen Moment!« rief Luke. »Du mußt mir erst etwas genauer erklären.« Miskitmans sanfte Augen wandten sich Luke zu. »Du hast die Anordnung nicht verstanden?« »Nicht ganz. Wen betrifft sie?« »Die ganze Kolonne.« »Was meinen sie mit ›Handwerkszeug‹?« »Werkzeug, das man in der Hand hält.« »Gehört eine Schaufel auch in diese Kategorie?« »Eine Schaufel?« Miskitman schüttelte die breiten Schultern. »Ja, eine Schaufel ist ein Handwerkszeug.« Luke fragte ungläubig: »Die wollen, daß ich meine Schaufel auf Hochglanz poliere, sie sechseinhalb Kilometer zum Lagerhaus trage und sie morgen wieder abhole, um sie zurückzuschleppen?« Miskitman faltete das Blatt wieder auf, hielt es in Armlänge vors Gesicht und las stumm, bewegte jedoch die Lippen. »Ja, das ist der Befehl.« Er faltete das Papier wieder zusammen und steckte es in seine Hosentasche zurück. Luke täuschte Staunen vor. »Ganz bestimmt ist ihnen da ein Fehler unterlaufen.« »Ein Fehler?« entgegnete Miskitman verwirrt. »Wieso ein Fehler?« »Das können sie doch nicht ernst meinen. Es ist ja nicht nur lächerlich, sondern sehr eigenartig.« »Ich weiß nicht«, brummte Miskitman uninteressiert. »An die Arbeit. Wir sind schon eineinhalb Minuten zu spät dran.«
»Die Reinigung und der Transport des Werkzeugs gehen natürlich auf Organisationszeit«, meinte Luke. Miskitman holte die Anordnung wieder hervor, hielt sie in Armlänge und las erneut. »Davon steht nichts da. An unserem Schichtpensum hat sich nichts geändert.« Das Papier wanderte zusammengefaltet in die Tasche zurück. Luke spuckte auf den Boden. »Ich werde meine eigene Schaufel mitbringen. Dann können sie ihr kostbares Handwerkszeug nach Herzenslust herumschleppen.« Miskitman kratzte sich am Kinn und las die Anordnung zum vierten Mal. Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Hier steht, daß alles Handwerkszeug gesäubert und zum Lagerhaus gebracht werden muß. Es steht nichts darüber da, wem das Werkzeug gehört.« Luke konnte vor Ingrimm kaum sprechen. »Weißt du, was ich von dieser Anordnung halte?« Fedor Miskitman achtete nicht auf ihn. »An die Arbeit. Wir haben schon viel zuviel Zeit vergeudet.« »Wenn ich Direktor wäre…«, begann Luke, aber Miskitman unterbrach ihn. »Wir verdienen uns Vergünstigungen nicht durch müßiges Gerede. An die Arbeit, ehe wir noch mehr Zeit versäumen!«
Die Bohrmaschine heulte auf. Zweiundsiebzig Zähne bissen tief hinein in den graubraunen Sandstein. Der Fangtrichter verschluckte die Steinbrocken und spuckte sie auf die Laufröhre, die sie aus dem Tunnel transportierte. Splitter und kleine Trümmer hagelten auf den Boden. Luke Grogatch mußte sie zusammenklauben und in den Trichter werfen. Hinter ihm installierten zwei Arbeiter Stahlreifen in der neugeschaffenen Öffnung und verbanden sie mit den bereits vorhandenen des fast fertigen Tunnelteils. Aus den
Vorsatzplatten ihrer Handschuhe schossen Flammen, und schnell waren die Reifen verschweißt. Ihnen folgten die Männer, die den Beton aufsprühten, der von zwei weiteren Arbeitern eilig geglättet und glanzbehandelt wurde. Fedor Miskitman marschierte hin und her, überprüfte die Schweißnähte, die Betondicke, die Glätte und studierte immer wieder den Plan an der Rückseite der Bohrmaschine, wo ein Elektronengerät die Maschine auf genauem Kurs hielt und sie durch das Labyrinth von Kanälen und Rohrleitungen für Wasser, Luft, Gas, Dampf, Kommunikation, Fracht und so weiter lotste, die die Stadt zu einer engen, organisierten Einheit zusammenschlossen. Die Nachtschicht endete um vier Uhr morgens. Miskitman machte seine Eintragungen, sorgfältig wie immer, in sein Arbeitsbuch; der Betonsprühmann schaltete die Spritzdüse aus; die Schweißer schlüpften aus den Spezialhandschuhen und ihren Isolieranzügen; Luke Grogatch richtete sich auf, rieb seinen schmerzenden Rücken und funkelte seine Schaufel an. Er spürte Miskitmans ochsengleich ruhigen Blick auf sich. Wenn er die Schaufel wie bisher einfach an die Tunnelseite warf und davonstapfte, würde er sich desorganisierten Verhaltens schuldig machen, und Luke wußte nur zu gut, daß die Strafe dafür eine Tieferstufung war. Kochend vor Wut starrte Luke auf die Schaufel. Entweder er konformierte, oder er wurde tiefergestuft. Sich jetzt nicht zu fügen, würde ihn schon morgen zum Hilfsarbeiter machen. Luke seufzte abgrundtief. Die Schaufel war ziemlich sauber. Das bißchen Staub ließ sich mit ein paarmal Drüberwischen leicht entfernen. Das war es nicht, aber dann mußte er erst noch auf dem überfüllten Laufband zum Lagerhaus fahren und dort Schlange stehen, bis man ihm die Schaufel abnehmen würde, ganz abgesehen davon, daß der Weg von dort zu seiner Unterkunft viel weiter war. Warum diese überflüssige
Anstrengung? Er kannte die Antwort darauf. Irgendein Funktionär in der langen Kette von Dienststellen hatte nicht mehr gewußt, wie er seinen Eifer beweisen und sich bei seinen Vorgesetzten lieb Kind machen konnte. Was war da wirkungsvoller, als seine Sorge für kostbares städtisches Eigentum zu beweisen? So war es zu dieser absurden Anordnung gekommen, die über Fedor Miskitman schließlich das bedauernswerte Opfer, Luke Grogatch, traf. Welch eine Freude es wäre, diesen Funktionär zwischen die Finger zu bekommen, ihm die Nase umzudrehen und einen solchen Fußtritt zu versetzen, daß er auf dem Hintern den Korridor vor seinem eigenen Büro entlangrutschte… Fedor Miskitmans Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. »Putz deine Schaufel. Die Schicht ist zu Ende.« Luke murrte, schon aus reiner Gewohnheit: »Die Schaufel ist sauber. Das ist das Absurdeste, wozu ich je gezwungen wurde. Wenn ich nur…« Ungerührt sagte Fedor Miskitman: »Wenn dir die Verordnung nicht paßt, dann stell ein Gesuch um Abänderung und wirf es in den Kasten für Verbesserungsvorschläge. Dieser Schritt steht allen offen. Doch solange die Anordnung Gültigkeit hat, mußt du dich auch nach ihr richten. So ist das Leben, und so ist die Organisation, wir sind schließlich organisierte Menschen.« »Gib mir die Verordnung!« forderte Luke. »Ich sorge dafür, daß sie geändert wird. Ich werde sie jemandem in den Rachen stopfen. Ich werde…« »Du mußt warten, bis sie eingetragen ist, dann kannst du sie haben. Ich brauche sie dann nicht mehr.« »Ich warte.« Luke knirschte mit den Zähnen. Methodisch und mit größter Sorgfalt überprüfte Miskitman noch alles, wie es zu seinem Job gehörte. Er inspizierte die
Maschine, die Zähne des Messerkopfs, die Spritzdüse des Betonsprühers, den Auffangtrichter, die Laufröhre. Dann ging er zu seinem kleinen portablen Pult hinter der Bohrmaschine und trug den Fortschritt der Arbeiten auf der Karte und im Tagesbericht ein, unterschrieb ein paar Überweisungen und kopierte schließlich die Verordnung auf Mikrofilm für die Ablage. Mit weitausholender Geste streckte er Luke das gelbe Blatt entgegen. »Was willst du damit tun?« »Herausfinden, wer diese idiotische Anordnung ausgebrütet hat. Dann sag’ ich ihm, was ich davon halte, und überhaupt, was ich von ihm halte.« Miskitman schüttelte tadelnd den Kopf. »So geht man so was nicht an.« »Wie würdest du es denn angehen?« erkundigte sich Luke mit einem wölfischen Grinsen. Miskitman überlegte. Er spitzte die Lippen und hob die buschigen Brauen. Schließlich erklärte er ganz einfach: »Überhaupt nicht.« Luke stemmte die Hände an die Hüften und machte sich daran, den Tunnel hochzugehen. Miskitman rief ihm nach: »Du mußt die Schaufel mitnehmen!« Luke blieb stehen. Langsam dreht er sich um und blickte wütend auf den Kolonnenleiter. Gehorchen oder tiefergestuft werden. Schleppenden Schrittes, mit hängenden Schultern, die Augen zu Boden geschlagen, ging er zurück. Er packte die Schaufel und stapfte den Tunnel wieder hoch. Der milde Blick Fedor Miskitmans brannte ihm auf dem Rücken. Der Tunnel dehnte sich als blasses, glänzendes Rohr vor ihm aus, führte die ganze lange Strecke zurück, die sie ausgehoben hatten. Ein merkwürdiger Trick der Lichtbrechung schuf abwechselnd helle und dunkle Ringe entlang der Tunnelröhre, das verwirrte die Augen, hypnotisierte sie und ließ alles zweidimensional erscheinen. Luke schlurfte trübsinnig in
dieses illusorische Bullauge, benommen vor hilfloser Wut, mit der Schaufel als zusätzlicher Last der Verzweiflung. So weit war er also gekommen – er, Grogatch, der so zynisch in seiner Arroganz und kaum verhohlenen Nonkonformität gewesen war. Mußte er sich nun schließlich sklavisch sinnlosen Verordnungen beugen? Wenn er auf der Statusleiter nur ein paar Sprossen höher stünde! Düster malte er sich aus, mit welcher Ironie er sich über diese Verordnung ausgelassen hätte, mit welch spöttischer Nonchalance er die Schaufel einfach hätte fallen lassen… Aber zu spät! Jetzt mußte er sich fügen, mußte gehorsam die Schaufel zum Lagerhaus tragen. In einem heftigen Wutanfall schleuderte er das unschuldige Werkzeug durch den Tunnel, daß es über den Boden klapperte. Nichts konnte er tun! Sich an niemanden wenden! Es gab keine Möglichkeit, sich zu wehren. Die Organisation war glatt und unerbittlich: massiv und träge; tolerant gegenüber den Unterwürfigen, gelassen grausam gegenüber den Ungläubigen… Luke hatte seine Schaufel eingeholt, eine finstere Verwünschung knirschend, hob er sie auf und rannte den bleichen Tunnel weiter. Er kletterte einen Einstiegschacht hoch und kam auf der Ebene der 1123. Avenue-Nabe heraus, wo er sofort von der Menschenmenge zwischen den Rollwegen, die von hier wie Speichen auswärts verliefen, und den unzähligen Rolltreppen verschluckt wurde. Er drückte die Schaufel an seine Brust, kämpfte sich auf die Fontegorollstraße und fuhr südwärts, statt nordwärts, wo seine Unterkunft war. Nach zehn Minuten stieg er bei der Astoria-Nabe ab, nahm die Grimesby-CollegeRolltreppe zwölf Ebenen tiefer und überquerte ein düsteres, klammes Viertel, in dem es nach altem Gestein roch, und stieg auf ein Zubringerband zum Lagerhaus der Kanalisationsabteilung, 8892. Bezirk.
Das Lagerhaus war hell erleuchtet, und es war allerhand los. Hunderte von Arbeitern waren im Kommen und Gehen. Die, die wie Luke kamen, trugen Werkzeuge, die, die das Lagerhaus verließen, hatten leere Hände. Luke stellte sich am Ende einer Schlange an, die sich vor dem Werkzeuglager gebildet hatte. Fünfzig oder sechzig Männer waren vor ihm: ein grauer Wurm mit viel zu vielen Armen, Schultern, Köpfen, Beinen, von dem zu beiden Seiten Werkzeuge aller Art herausragten. Der Hundertfüßler bewegte sich nur langsam, und die Männer alberten miteinander und tauschten schlechte Witze aus. Beim Anblick ihrer sichtlichen Geduld erwachte Lukes übliche Reizbarkeit. Schau sie dir doch an, dachte er, da stehen sie wie die Schafe, stehen stramm, wenn eine neue Verordnung raschelnd geöffnet wird. Haben sie nach dem Grund dieser Anweisung gefragt? Machen sie sich Gedanken, ob diese Schikane tatsächlich notwendig ist? Nein, bestimmt nicht! Diese Dummköpfe grinsen und lachen und unterhalten sich angeregt und nehmen diese neue Anordnung schicksalsergeben hin, als wäre sie eine Naturgewalt… Und er, Luke Grogatch, war er mit seiner Einstellung besser oder schlechter dran als sie? Die Frage brannte in Lukes Kehle wie Reste des Mageninhalts, nachdem man sich übergeben hat. Aber ob besser oder schlechter, er hatte keine Wahl. Einfügen oder Niederstufung. Natürlich konnte er immer noch eine Eingabe machen über den Vorschlagskasten, wie Miskitman – vermutlich ohne es ernst zu meinen – empfohlen hatte. Luke knurrte tief in der Kehle. Auf eine solche Eingabe hin würde er vermutlich nach Wochen ein Standardschreiben bekommen, auf dem ein Schreiber/Versager oder eine Hilfsschreibkraft einen von verschiedenen Antwortsätzen eingerahmt hatte: »Die in Ihrer Eingabe beschriebene Situation wird bereits von zuständiger Stelle untersucht. Wir danken Ihnen für Ihr
Interesse.« Oder: »Die in Ihrer Eingabe beschriebene Situation ist vorübergehend und wird vielleicht schon in Kürze geändert. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse.« Oder: »Die in Ihrer Eingabe beschriebene Situation erwies sich aufgrund neuer Erkenntnisse als erforderlich und wird nicht geändert werden. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse.« Ein neuer Gedanke kam Luke. Er könnte sich anstrengen und höher gestuft werden… Aber er wies diese Idee schnell von sich. Er war schließlich nicht mehr der Jüngste. Viel zu viele junge Männer versuchten vor ihm die Rangleiter hochzuklettern. Selbst wenn er sich zum Wettbewerb durchringen könnte… Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. Hinter Luke brach ein dicklicher kleiner Mann unter der Last eines VelstroKippmessers fast zusammen. Eine Stirnlocke hellbraunen dünnen Haares baumelte ins Mondgesicht. Die Lippen waren konzentriert gespitzt. Die Augen wirkten absurd ernst. Er trug einen auffallenden rosa-braunen Coverall, dazu orangerote Stiefel und eine blaue Mütze aus weichem Stoff mit den drei orangefarbenen Pompons der Velstro-Techniker. Zwischen dem schäbig gekleideten Luke mit dem verkniffenen Zug um die Lippen und diesem kleinen Mann mit dem selbstzufriedenen Vollmondgesicht und der dandyhaften Kleidung bestand eine so ins Auge springende Gegensätzlichkeit, daß die beiderseitige Abneigung unausbleiblich war. Die leicht hervorquellenden haselnußbraunen Augen des kleinen Mannes richteten sich auf Lukes Schaufel und wanderten nachdenklich über Lukes beschmutzte Hose und Jacke, dann wandte er den Blick ab. »Kommst du von weit her?« fragte Luke verschlagen. »Nein«, antwortete Mondgesicht.
»Hast wohl Überstunden gemacht, was?« Luke blinzelte ihm zu. »Möchtest sicher die Leiter eine Sprosse höher fallen.« »Wir haben nur den Auftrag zu Ende gebracht«, antwortete der kleine Dicke mit Würde. »Ohne jeglichen Hintergedanken! Warum sollten wir morgen die halbe Schicht damit vergeuden, wenn wir heute nur fünf Minuten anzuhängen brauchten?« »Ich wüßte einen Grund«, brummte Luke. »Um zu zeigen, was ihr für Kerle seid.« Das Mondgesicht verzog sich zu einem unsicheren Lächeln, bis ihm klar wurde, daß die Bemerkung nicht freundlich gemeint war. »Das ist nicht meine Art«, sagte er steif. »Das Ding muß ganz schön schwer sein«, bemerkte Luke, der sah, wie die rundlichen Arme sich mit dem unförmigen Werkzeug abplagten. »Das ist es auch«, antwortete der Kleine. »Eineinhalb Stunden!« knurrte Luke. »Soviel Zeit kostet es mich, die Schaufel abzuliefern. Nur weil irgend so ein Idiot da oben sich wichtig machen will. Und wir armen Teufel unten dürfen es ausbaden.« »Ich bin nicht unten auf der Leiter. Ich bin Techniker.« »Na und?« höhnte Luke. »Das ändert nichts am Zeitverlust. Und nur, weil jemand eine idiotische Idee gehabt hat.« »So idiotisch ist sie nicht«, protestierte Mondgesicht. »Ich bin sicher, daß es einen guten Grund für diese Anordnung gibt.« Luke schüttelte wütend die Schaufel. »Und deshalb muß ich jeden Tag dieses verdammte Ding auf dem Laufband hin und her schleppen?« »Von wem immer auch diese Anordnung stammt, er weiß bestimmt genau, was er tut – sonst würde er seine hohe Einstufung nicht haben.«
»Wer ist denn dieser unbesungene Held?« knurrte Luke. »Ich würde ihn gern kennenlernen! Ich möchte wissen, weshalb er verlangt, daß ich jeden Tag drei Stunden vergeude!« Mondgesicht betrachtete Luke jetzt wie eine Fliege, die er aus seiner Suppe gefischt hatte. »Du redest daher wie ein Nonkonformist! Entschuldige, wenn ich dich beleidigt habe.« »Du wirst dich doch nicht für etwas entschuldigen, das in deinem Wesen liegt!« brummte Luke und wandte ihm den Rücken zu. Er warf dem Mann an der Annahme die Schaufel zu und bekam dafür einen Schein. Damit drehte er sich wieder zu dem kleinen Dicken um und steckte das Stück Papier in die Brusttasche des rosa-braunen Coveralls. »Behalt es! Du wirst die Schaufel noch vor mir benutzen!« Hocherhobenen Kopfes schritt er stolz aus dem Lagerhaus. Eine grandiose Geste, aber – er zögerte, ehe er auf das Zubringerband trat – war sie vernünftig? Der Techniker im rosa-braunen Coverall eilte hinter ihm aus dem Lagerhaus, warf ihm einen mißbilligenden Blick zu und sah zu, daß er wegkam. Luke drehte sich um und schaute an der Schlange entlang. Wenn er jetzt umkehrte, konnte er noch alles in Ordnung bringen, dann gäbe es morgen keine Schwierigkeiten. Stürmte er jedoch zu seiner Unterkunft, war eine Tieferstufung unvermeidlich. Luke Grogatch, Hilfsarbeiter! Luke kramte in seiner Hosentasche und holte die Verordnung heraus, die er sich von Fedor Miskitman hatte geben lassen: ein gelbes Blatt Papier, ein Computerausdruck, nichts Besonderes an sich – aber es symbolisierte die Organisation: eine unwiderstehliche Gewalt. Nervös zupfte Luke an dem Papier und blickte wieder ins Lagerhaus. Der Techniker hatte ihn Nonkonformist genannt. Lukes Lippen verzogen sich zu einer müden Grimasse. Er hatte damit nicht recht gehabt. Luke war weder
Nonkonformist noch sonst irgend etwas Besonderes. Luke brauchte sein Bett, seine Proviantmarken, sein kärgliches Ausgabenkonto. Er stöhnte unterdrückt. Er war am Ende, am Fuß der Leiter angelangt. Hatte er sich je eingebildet, er könnte die Organisation besiegen? Vielleicht war seine Einstellung falsch, und die aller anderen richtig? Möglich, dachte er, ohne innere Überzeugung. Miskitman schien mit seinem Los recht zufrieden zu sein, und der Techniker nicht nur das, sondern auch noch ziemlich selbstzufrieden. Luke lehnte sich an die Lagerhauswand – mit brennenden, vor Selbstbedauern feuchten Augen. Nonkonformist! Außenseiter! Was sollte er tun? Boshaft verzog er die Lippen und stieg auf das Zubringerband. Hol der Teufel sie alle! Sollten sie ihn doch herabstufen! Dann würde er eben Hilfsarbeiter sein und sich darüber lustig machen! Bedrückt fuhr Luke zur Grimesby-Nabe zurück. An der Rolltreppe blieb er stehen, blinzelte, rieb sein langes bleiches Kinn, als ihm plötzlich ein neuer Gedanke gekommen war. Er bot die Chance – aber nein. Sehr unwahrscheinlich – und doch, warum nicht? Erneut studierte er die Verordnung. Lavester Limon, Leiter der Abteilung Kanalisation, Bau und Instandhaltung. Er hatte diese Verordnung herausgegeben, also müßte er sie auch wieder aufheben können. Wenn Luke ihn dazu überreden könnte, wären seine Schwierigkeiten zwar nicht aus der Welt geschafft, aber doch nicht mehr ganz so schlimm. Er könnte ohne die verdammte Schaufel zur Arbeit zurückkehren und Fedor Miskitmans fragenden Blick mit einem triumphierenden Grinsen beantworten. Vielleicht würde er sich sogar die Mühe machen, den mondgesichtigen kleinen Techniker mit dem Kippmesser aufzuspüren… Luke seufzte. Sinnlos, diesen Wunschträumen nachzuhängen! Zuerst mußte Lavester Limon dazu gebracht werden, die
Verordnung zurückzuziehen – wie sah es damit aus? Vielleicht war das gar nicht so schwierig? grübelte Luke, während er die Rollstraße zu seiner Unterkunft betrat. Die Verordnung war zweifellos nicht logisch durchdacht. Sie war eine zusätzliche Belastung für viele und brachte so gut wie nichts ein. Wenn er das Lavester Limon klarmachen, ihn darauf aufmerksam machen könnte, daß durch diese Verordnung sein Prestige, sein guter Ruf in Gefahr kamen, wäre er möglicherweise bereit, diese Anweisung zurückzuziehen. Kurz nach sieben kam Luke in seiner Unterkunft an und ging sofort in die Fonzelle, rief die Abteilung Kanalbau des 8892. Bezirks an und erfuhr, daß Lavester Limon ab acht Uhr dreißig in seinem Büro sein würde. Luke machte sorgfältig Toilette und investierte, nach reiflicher Überlegung, sogar vier Sondercoupons für eine neue Ausstaffierung: eine enge schwarze Jacke und eine blaue Hose, beides von uniformähnlichem Schnitt und bedeutend besserer Qualität, als er sich üblicherweise leistete. Als er sich im großen Spiegel des Waschraums betrachtete, fand er, daß er keine schlechte Figur machte. Er nahm seine Frühstückszuteilung in einem nahegelegenen Verköstigungsdienst-Lokal des Typs RP ein, dann fuhr er zum 14. Untergeschoß und auf der Rollstraße zur Abteilung Kanalisation des 8892. Bezirks. Eine kesse Bürodame, das dunkle Haar im modischen »Raubritter«-Stil ins Gesicht gekämmt, führte Luke in Lavester Limons Büro. An der Tür blickte sie respektvoll zurück, und Luke war froh, daß er sich neue Kleidung geleistet hatte. Ermutigt straffte er die Schultern und marschierte selbstbewußt durch die Tür. Lavester Limon sprang höflich, aber flüchtig hinter seinem Schreibtisch auf. Er war ein freundlich aussehender Mann mittleren Alters und mittelgroß, der das goldbraune Haar
sorgfältig über eine sonnengebräunte, sommersprossige kahle Stelle gekämmt hatte. Er trug eine goldbraune weiche Jacke und eine goldbraune Cordhose. Er deutete auf einen Sessel. »Bitte setzen Sie sich doch, Mr. Grogatch«, forderte er Luke auf. Bei soviel Freundlichkeit schwand Lukes Aufsässigkeit, ja sogar ein wenig Hoffnung erwachte. Limon schien ein Mann zu sein, mit dem man reden konnte. Vielleicht war die Verordnung nur ein verwaltungstechnischer Fehler? Limon hob fragend die goldbraunen Brauen. Luke kam, ohne Zeit zu vergeuden, zur Sache. Er brachte den gelben Computerausdruck zum Vorschein. »Das hier bringt mich zu Ihnen, Mr. Limon, eine Verordnung, die offenbar Sie herausgegeben haben.« Limon nahm das gelbe Blatt, überflog es und nickte. »Ja, sie kommt von mir. Stimmt irgend etwas nicht?« Luke empfand Überraschung und eine Spur böser Vorahnung. Ein vernünftiger Mensch müßte doch den Unsinn dieser Anordnung erkennen! »Sie ist nicht durchführbar«, erwiderte er ernst. »Tatsächlich ist sie von Grund auf unvernünftig!« Lavester Limon schien absolut nicht beleidigt zu sein. »Na so was! Wie kommen Sie darauf? Übrigens, Mr. Grogatch, Sie sind…« Die goldbraunen Brauen hoben sich erneut fragend. »Ich bin Klasse-D-Versager bei einer Ausschachtungskolonne«, erklärte Luke. »Es kostete mich heute eineinhalb Stunden, meine Schaufel abzuliefern, und morgen werde ich genausoviel Zeit damit vergeuden müssen, sie wieder abzuholen – und das während meiner Freizeit! Ich halte das nicht für zumutbar!« Lavester Limon las die Verordnung noch einmal durch, spitzte die Lippen, nickte ein paarmal, dann drückte er auf die Taste seines Sprechgeräts. »Fräulein Rab, bringen Sie mir die
Unterlagen für…« Er warf noch einmal einen Blick auf die Verordnungsnummer. »… sieben-fünf-vier-zwo, Aktenzeichen G achtundneunzig.« Mit leicht abwesender Stimme sagte er zu Luke: »Diese Dinge werden manchmal etwas kompliziert.« »Aber Sie können die Verordnung doch ändern?« platzte Luke heraus. »Sie pflichten mir doch bei, daß sie unvernünftig ist?« Limon legte den Kopf ein wenig schräg und verzog zweifelnd das Gesicht. »Sehen wir uns erst einmal den Vorgang an. Wenn ich mich recht erinnere…« Seine Stimme verlor sich. Zwanzig Sekunden vergingen. Limon trommelte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch. Eine Glocke läutete sanft. Limon drückte auf einen Knopf. Auf seinem Schreibtischbildschirm erschien das Verlangte: eine Verordnung ähnlich der, die Luke mitgebracht hatte. MINISTERIUM FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST STADTVERWALTUNG AMT FÜR SANITÄRTECHNIK, 8892. BEZIRK DIREKTION Verordnung: 2888, Serie BQ008 Kode: GZP-AAR-REF BEZUG: OP 9 123 DATUMSKODE: BR-EQ-LLT GENEHMIGUNG: JR D-SDS 1. Überprüfung: AC 2. Überprüfung: CXMcD Von: Judiath Ripp, Direktor Via:--An: Lavester Limon, Leiter, Abteilung Kanalisation – Bau und Instandhaltung Betr.: Sparmaßnahmen Anwendung: Ab sofort
Dauer: Unbefristet VORGANG: Ihre monatliche Zuteilung an Materialien der Kategorie A, B, D, F, H wird hiermit um 2,2 % gekürzt. Sie werden ersucht, alles betroffene Personal davon in Kenntnis zu setzen und Maßnahmen zur Kosteneinsparung einzuleiten. Vor allem der Verschleiß an Material der Kategorie D überstieg die berechnete Norm. Vorschlag: Größere Sorgfalt durch die Benutzer des Werkzeugs und dessen Unterbringung über Nacht im Lagerhaus. »Material der Kategorie D«, sagte Lavester Limon trocken, »ist Handwerkszeug. Der alte Ripp verlangt strengste Sparmaßnahmen. Ich gebe seinen Befehl nur weiter. Das steckt hinter 6511.« Er gab diese Verordnung Luke zurück und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. »Ich verstehe ja, daß Sie betroffen sind, aber…« Er hob die Hand in einer fast gleichgültigen Bewegung, »… aber so funktioniert eben die Organisation.« Luke setzte sich steif vor Enttäuschung auf. »Dann ziehen Sie die Verordnung nicht zurück?« »Mein guter Mann! Wie könnte ich?« Luke bemühte sich um Gleichmut. »Unter den Hilfsarbeitern ist immer noch Platz für mich. Ich ließ keine Zweifel offen, was sie mit ihrer Schaufel tun können.« »Hmm. Unüberlegt! Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann.« Limon musterte Luke interessiert, dann verzog er die Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Warum versuchen Sie es nicht beim alten Ripp?« Luke bedachte ihn mit einem mißtrauischen Blick. »Was sollte das schon nutzen?« »Man kann nie wissen«, sagte Limon großspurig. »Vielleicht kommt ihm die Erleuchtung – vielleicht ändert er seine
Verordnung. Ich kann es mir nicht leisten, mich mit ihm herumzustreiten, aber ich sehe keinen Grund, weshalb Sie es nicht wagen sollten; zu verlieren haben Sie ja kaum noch etwas.« Er lächelte Luke verschmitzt an. Da verstand Luke, daß Lavesters Freundlichkeit, obwohl sie ehrlich war, eine nützliche Tarnung für seinen Eigennutz darstellte, daß er damit seine eigenen Zwecke förderte. Luke erhob sich abrupt. Er öffnete die Lippen, um Lavester Limon zu erklären, daß er gar nicht daran dächte, für jemanden die Kastanien aus dem Feuer zu holen, da zog die Szene vor dem Lagerhaus noch einmal an seinem inneren Auge vorbei, und er sah sich dem Techniker verächtlich den Aufbewahrungsschein in den Coverall stecken. Mit grandiosen Gesten war er immer schon schnell zur Hand gewesen – mit seinem unüberlegten Stolz, der ihm keine Entschuldigung, keine Wiedergutmachung gestattete. Wann würde er je lernen, sich zu beherrschen? Dumpf fragte er: »Wer ist dieser Ripp genau?« »Judiath Ripp, Direktor des Amtes für Sanitärtechnik unseres Bezirks. Es wird nicht ganz einfach sein, an ihn heranzukommen. Er ist ein schwieriger alter Tyrann. Warten Sie, ich werde mich erkundigen, ob er in seinem Amt ist.« Er schaltete sein Sprechgerät ein, und seine Sekretärin meldete nach einer kurzen Weile, daß Judiath Ripp soeben im Bezirksamt im 3. Untergeschoß, unter dem Bramblebury-Park, eingetroffen sei. Limon gab Luke ein paar taktische Ratschläge. »Er ist Choleriker und versucht mit seiner Bärbeißigkeit alle abzuschrecken. Achten Sie ganz einfach nicht darauf – er respektiert eine feste Haltung. Hauen Sie auf den Tisch. Brüllen Sie zurück. Speichellecker schmeißt er sofort hinaus. Zahlen Sie ihm jedes Wort mit gleicher Münze heim, dann wird er Ihnen schließlich zuhören.«
Luke blickte Lavester Limon durchdringend an. Er war sich nur allzu bewußt, daß der Glanz seiner Augen boshaftem Spott zuzuschreiben war. »Ich hätte gern eine Kopie der anderen Verordnung, damit Ripp weiß, wovon ich spreche.« Limons Lächeln schwand. Luke las seine Gedanken: Wird Ripp mich dafür verantwortlich machen, wenn dieser arme Irre in seinem Büro erscheint? Doch es ist das Risiko wert. »Aber sicher«, sagte Limon. »Lassen Sie sich von meiner Sekretärin eine geben.« Luke fuhr zur 3. Unterebene hinunter und spazierte durch die dreistöckige Arkade unterhalb des Bramblebury-Parks, vorbei an dem hohen Aquarium, dessen Oberfläche unter dem freien Himmel lag und vom Tageslicht und der Sonne erhellt wurde. Am Ende der Arkade trat er auf das Laufband, von dem er drei Minuten später vor dem Amt für Sanitärtechnik des 8892. Bezirks abstieg. Das Amt war in einer geräumigen Suite untergebracht, die an einen gepflegten Garten anschloß. Luke kam durch einen Gang mit Mosaikfliesen in Blau, Grau und Grün und betrat ein weißgetünchtes Zimmer mit blaßgrau und rosa Mobiliar. Eine der langen weißen Wände wurde durch einen geschwungenen gold-schwarz-weißen Gesimsstreifen aufgelockert, die gegenüberliegende durch die Ranken einer immergrünen Pflanze in einem tischhohen Trog. Hinter einem Schreibtisch saß die Empfangsdame: ein dickliches Mädchen mit Pausbacken. Sie trug einen künstlichen Knochen durch die Nase, und von einem Silberkettchen um den Hals hing ein Haifischzahn. Das Haar hatte sie einer Weizengarbe ähnlich über dem Kopf gebündelt. Ein schwarz-braunes Primitivensymbol, über das Luke unwillkürlich lächeln mußte, schmückte ihre Stirn. Luke erklärte ihr, daß er Mr. Judiath Ripp, den Direktor des Amtes, zu sehen wünschte.
Vielleicht klang Lukes Stimme, aus seiner Unsicherheit heraus, etwas brüsk. Jedenfalls blinzelte das Mädchen überrascht und betrachtete ihn neugierig. Nach kurzem Zögern schüttelte sie zweifelnd den Kopf. »Könnten Sie nicht mit jemand anderem sprechen? Mr. Ripps Termine erlauben keine Einschiebung. Weshalb wollten Sie ihn denn sehen?« Luke versuchte ein einnehmendes Lächeln, daraus wurde jedoch eine finstere bedeutungsvolle Grimasse. Das Mädchen erschrak ganz offensichtlich. »Vielleicht melden Sie Mr. Ripp, daß ich hier bin«, sagte Luke. »Eine seiner Verordnungen – nun, es kam zu Fehlentscheidungen, oder vielleicht einer falschen Auslegung…« »Fehlentscheidung?« Das Mädchen schien nur das eine Wort gehört zu haben. Sie sah ihn mit großen Augen an. Jetzt fiel ihr auch sein tadelloser neuer schwarz-blauer Anzug im uniformähnlichen Schnitt auf. Eine Inspektion? fragte sie sich. »Ich werde Sie bei Mr. Ripp melden«, sagte sie nervös. »Ihr Name, Sir, und Status?« »Luke Grogatch. Mein Status…« Wieder lächelte Luke, und das Mädchen senkte die Augen. »… ist nicht wichtig.« »Einen Augenblick, Sir, bitte.« Sie drehte sich um, drückte auf eine Taste und sprach in ihren Schreibtischschirm. Dann blickte sie Luke an und sagte noch etwas. Eine dünne Stimme raspelte etwas. Das Mädchen wandte sich wieder Luke zu und nickte. »Mr. Ripp kann ein paar Minuten erübrigen. Gleich diese Tür, Sir.« Sie wies ihm die Richtung. Mit steifen Schultern trat Luke in ein hohes Zimmer mit Holzvertäfelung. Entlang einer Wand standen mehrere Aquarien mit flinken roten und gelben Fischen. Am Schreibtisch saß Judiath Ripp, ein großer schwergewichtiger Mann, der selbst Ähnlichkeit mit einem Fisch hatte. Sein Kopf war schmal, bleich wie eine Makrele und ruhte zwischen
seltsam rückwärts geneigten Schultern. Sein Kinn unter dem an einen Karpfen erinnernden Mund verschmolz ohne Übergang mit dem Hals. Blasse Augen über kleinen geblähten Nasenflügeln blickten Luke entgegen. Ein kurzes Haarbüschel ragte wie dürres Gras am Hinterkopf hoch. Luke erinnerte sich an Lavester Limons Charakterisierung dieses Mannes. Er sei cholerisch, hatte Limon gesagt. Nicht sehr zutreffend, fand Luke. Konnte Limon Ripp nicht ausstehen? Benutzte er ihn, Luke, jetzt vielleicht als Instrument seiner Rache? Luke fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut. Mit kalten, reglosen Augen betrachtete Judiath Ripp ihn. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Grogatch? Meine Sekretärin meldete mir, Sie seien Prüfer oder Ähnliches.« Luke dachte über die Situation nach, ohne die dunklen Augen von Ripps Gesicht zu nehmen. Dann sagte er völlig wahrheitsgemäß: »Ich habe mehrere Wochen als Klasse-DVersager bei einer Ausschachtungskolonne gearbeitet.« »Was, zum Teufel, überprüfen Sie bei einer Tunnelbaukolonne?« erkundigte sich Ripp auf finstere Weise amüsiert. Luke machte eine Geste, die viel oder nichts besagen mochte – der andere konnte aus ihr schließen, was er wollte. »Gestern abend las der Kolonnenleiter eine Verordnung vor, die von Lavester Limon, dem Leiter der Abteilung Kanalisation, stammte. Etwas Schwachsinnigeres ist mir nie untergekommen.« »Wenn die Verordnung von Limon kommt, kann ich es mir gut vorstellen!« knirschte Ripp zwischen den Zähnen. »Ich suchte ihn in seinem Büro auf. Er behauptete, nicht dafür verantwortlich zu sein, und verwies mich an Sie.« Ripp richtete sich noch gerader in seinem Schreibtischsessel auf. »Um welche Verordnung handelt es sich?«
Luke schob ihm die beiden gelben Computerausdrucke über den Schreibtisch zu. Ripp las sie sorgfältig durch, dann gab er sie zögernd zurück. »Ich verstehe nicht ganz…« Er hielt inne. »Diese Verordnungen geben genau die Anweisungen wieder, die ich erhielt und weitergab. Wo ist das Problem?« »Nun, ich werde Ihnen meine persönliche Beobachtung schildern«, sagte Luke. »Heute morgen – in meiner gegenwärtigen Stellung als Versager – trug ich eine Schaufel vom Ausschachtungsort zum Lagerhaus, um sie dort, wie angeordnet, abzugeben. Dazu brauchte ich eineinhalb Stunden. Müßte ich diesen Job auf die Dauer behalten, empfände ich diese Bestimmung als Schikane. Sie ist demoralisierend!« Ripp blieb ungerührt. »Ich kann Sie nur an meine Vorgesetzten weiter verweisen.« Er schaltete das Sprechgerät ein. »Übermitteln Sie Akte OR neun, Punkt eins-zwei-drei.« Er drehte sich wieder Luke zu. »Ich zeichne weder verantwortlich für die Verordnung, noch kann ich sie aufheben. Dürfte ich mich erkundigen, welche Art von Überprüfung Sie in die Schächte führt? Und wem Sie unterstehen?« Da Luke nicht wußte, was er darauf antworten sollte, entschied er sich für eine Haltung abfälligen Schweigens. Judiath Ripp runzelte die Stirn. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr verwundert mich die ganze Sache. Weshalb die Überprüfung? Und wer…« Aus einem Schlitz glitt die von Ripp angeforderte Verordnung. Er warf einen flüchtigen Blick darauf, dann reichte er sie Luke. »Sie werden sehen, daß sie mich der Verantwortung völlig enthebt.« Die Verordnung war von einem Luke inzwischen hinreichend bekannten Format:
MINISTERIUM FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST STADTVERWALTUNG Verordnung: 449, Serie UA-14-G2 Kode: GZP-AAR-REF Bezug: TQ-9-1422 Datumskode: BP-EQ-LLT GENEHMIGUNG: PU-PUD-Org. 1. Überprüfung: G. Evan 2. Überprüfung: Hernon Klanech Von: Parris de Vicker, Direktor der Stadtverwaltung Via: Alle Abteilungen des Amtes für Sanitärtechnik An: Alle Abteilungsleiter Betr.: Dringende Erfordernis sofortiger Kosteneinsparung in der Benutzung von Gerätschaften und dem Verbrauch von Materialien. Anwendung: Ab sofort Dauer: Unbefristet VORGANG: Alle Abteilungsleiter werden angewiesen, strengste Sparmaßnahmen in der Benutzung von Gerätschaften und Materialien einzuleiten und durchzuführen, vor allem bei solchen, die ganz oder teilweise aus Metall sind. Eine Kosteneinsparung von wenigstens 2% ist unerläßlich. Statuserhöhung hängt von dem jeweiligen Erfolg der Sparmaßnahmen ab. Anordnung überprüft und weitergeleitet: Lee John Smith Leiter des Amtes für Sanitärtechnik 8892. Bezirk Luke erhob sich. Er wollte nun nichts mehr, als schnellstmöglich von hier wegzukommen. Er deutete auf die Verordnung. »Ist das eine Kopie?« »Ja.«
»Ich nehme sie, wenn Sie nichts dagegen haben.« Er steckte sie, ohne auf Erlaubnis zu warten, zu den beiden anderen. Judiath Ripp beobachtete ihn mit leichtem Argwohn. »Ich werde mir nicht klar, in wessen Auftrag Sie handeln.« »Manchmal ist es besser, so wenig wie möglich zu wissen«, sagte Luke. Das Mißtrauen schwand aus Judiath Ripps Fischgesicht. Nur ein Mann, der sich seines Status sicher ist, durfte sich erlauben mit einem Angehörigen der unteren hohen Stufen so zu reden. Er nickte. »Ist das alles, was Sie benötigen?« »Nein«, antwortete Luke, »aber alles, was ich von Ihnen bekommen kann.« Er drehte sich zur Tür um und spürte Ripps durchdringenden Blick in seinem Rücken. Plötzlich sagte Ripp schneidend: »Einen Moment!« Luke wandte sich langsam wieder um. »Wer sind Sie? Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.« Luke lachte rauh. »Ich habe keinen.« Judiath Ripp sprang auf. Die Knöchel hoben sich weiß von den Händen ab, die er auf die Schreibtischplatte preßte. Luke erkannte, daß Judiath Ripp doch ein Choleriker war. Sein bisher makrelenbleiches Gesicht wurde lachsrosa. »Weisen Sie sich aus«, befahl er heiser, »oder ich rufe den Wachmann.« »Gewiß«, sagte Luke. »Ich habe nichts zu verbergen. Ich bin Luke Grogatch. Ich arbeite als Klasse-D-Versager in der Ausschachtungskolonne 3 der Abteilung Kanalisationsbau und -Instandhaltung.« »Und Sie erlauben sich, mir unter Vortäuschung falscher Tatsachen die Zeit zu stehlen!« »Von Vortäuschung falscher Tatsachen kann überhaupt nicht die Rede sein!« brauste Luke auf. »Ich bin hierhergekommen, um herauszufinden, weshalb ich meine Schaufel zum Lagerhaus bringen mußte. Es kostete mich eineinhalb Stunden
meiner Zeit! Das Ganze ist völlig unvernünftig! Sie wurden angewiesen, eine Kosteneinsparung von zwei Prozent zu erzielen, und die Folge ist, daß ich jeden Tag drei Stunden mit dem Spazierentragen meiner Schaufel verliere.« Judiath Ripp blickte Luke ein paar Sekunden durchdringend an, dann setzte er sich abrupt. »Sie sind ein Klasse-DVersager?« »Allerdings.« »Hmm. Sie waren also in der Abteilung für Kanalisation, und der Leiter hat Sie hierhergeschickt?« »Nein. Er gab mir eine Kopie seiner Anweisung, genau wie Sie.« Das Lachsrosa war aus Ripps flachen Wangen verschwunden. Der Karpfenmund verzog sich kaum merklich amüsiert. »Nun, daran kann man keinen Anstoß nehmen. Was hoffen Sie denn zu erreichen?« »Ich will die verdammte Schaufel nicht jeden Tag hin und her schleppen müssen, deshalb möchte ich, daß Sie eine entsprechende Verordnung erlassen.« Judiath Ripps bleiche Lippen dehnten sich zu einem kalten Lächeln. »Bringen Sie mir eine entsprechende Anweisung von Parris de Vicker, dann tu ich es gern. Und jetzt…« »Würden Sie mich anmelden?« »Anmelden?« fragte Ripp verwirrt. »Bei wem?« »Dem Direktor der Stadtverwaltung.« »Pahhh!« Ripp fuchtelte empört mit der Rechten. »Sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen!«
Kochend vor Wut auf Ripp, Limon, Miskitman und jeden lästigen Funktionär stand Luke im blauen Mosaikeingang. Wenn er nur zwei Stunden lang Vorsitzender des Ausschusses wäre (sein häufiger Wunschtraum), dann würden sie was
erleben! Vor seinem inneren Auge sah er Judiath Ripp Unmengen von Schlamm mit einer Bleischaufel auf das Band heben, während eine überdimensionale Bohrmaschine mit ohrenbetäubendem Krach, einem Wirbelsturm gleich, heißen Staub und Steinsplitter auf ihn ausspuckte. Lavester Limon mußte die rauchenden Zähne des Messerkopfs mit einem winzigen rostigen Schraubenschlüssel auswechseln, und Fedor Miskitman vor und nach der Schicht Schaufel, Schraubenschlüssel und abgenutzte Zähne zum Lagerhaus und zurück schleppen. Fünf Minuten stand Luke brütend im Gang, ehe er an die Oberfläche fuhr, die an dieser Stelle, dank dem BrambleburyPark, auch als echt zu erkennen war, nicht nur als weiteres Stockwerk zwischen anderen. Ganz in seine Gedanken versunken, stapfte er über die Kieswege und achtete gar nicht auf den freien Himmel. Er war in einer Sackgasse angelangt. Mehr konnte er in seiner Sache nicht unternehmen. Judiath Ripp hatte spöttisch vorgeschlagen, daß er ja noch mit dem Direktor der Stadtverwaltung sprechen könnte. Doch selbst wenn es ihm gelänge, einen Termin bei ihm zu bekommen, was würde es nutzen? Weshalb sollte der Direktor eine Verordnung zurückziehen, die so wichtig für die Kosteneinsparung war? Sogar Lukes Phantasie versagte bei der Vorstellung, daß man für ihn eine Ausnahme machen könnte. Er lachte rauh – ein Laut, der die futtersuchenden Tauben auf dem Spazierweg erschreckte. Was jetzt? Zurück zu seiner Unterkunft? Er durfte sie, oder vielmehr sein Bett, täglich zwölf Stunden benutzen; tat er es nicht, nutzte er sein Privileg, für das er aus seinem Ausgabenkonto bezahlte, nicht optimal aus. Aber Luke war jetzt absolut nicht nach Schlafen zumute. Als er zu den Türmen rings um den Park hochblickte, beschlich ihn eine melancholische Freude. Er liebte den freien Himmel, so strahlend blau wie jetzt.
Aber er fröstelte, denn der Morgenthau-Mondturm verbarg die Sonne, und die Luft war kühl. Luke durchquerte den Park, um sich ein wenig in die Sonne zu setzen, wo ihre Strahlen zwischen den Türmen Durchlaß fanden. Die Bänke waren fast alle von alten Männern und Frauen belegt, die zufrieden in die Sonne blinzelten, aber schließlich fand er doch noch ein freies Plätzchen. Auch er blickte zum Himmel hoch und genoß die sanfte natürliche Sonnenwärme. Wie selten er jetzt die Sonne sah. In seiner Jugend hatte er häufig lange Wanderungen kreuz und quer durch die Straßen der Oberfläche gemacht. Er hatte den ständig ihr Antlitz wechselnden Wolken nachgeblickt, und die Sonne hatte angenehm auf seiner Haut gebrannt. Mit der Zeit waren seine Ausflüge immer seltener geworden, und jetzt konnte er sich kaum noch erinnern, wann er zuletzt auch nur einen Spaziergang auf der Oberfläche gemacht hatte. Welchen Träumen er damals doch nachgehangen hatte, welchen herrlichen Visionen! Alle Hindernisse waren ihm so gering erschienen. Er hatte sich die Leiter bis zur Spitze erklimmen sehen. So sicher war er gewesen, daß ihm ein großes Ausgabenkonto zur Verfügung stehen würde, Privilegien noch und noch, und zahllose Sondercoupons! Er hatte fest mit einem privaten Luftwagen gerechnet, der besten Verköstigung, einem Apartment hoch über der Oberfläche, ganz für sich allein, mit allem Komfort… Träume! Seine lose Zunge, sein aufbrausendes Temperament, sein Widerspruchsgeist, sein Eigensinn hatten ihm immer wieder ein Bein gestellt. Tief im Herzen war er gar kein Nonkonformist, war es nie gewesen. Luke war für die obersten Stufen geboren, und durch gute Beziehungen hatte er gleich einen hohen Status in der Organisation erhalten. Aber die Umstände und seine chronische Aggressivität hatten ihn ständig gegen eingefahrene
Geleise aufbegehren lassen, und so war er die Statusleiter hinuntergerutscht, bis er nun als Versager, Klasse D, vor der endgültig niedersten Stufe stand – und immer noch war er zu eitel, eine Schaufel zu tragen. Nein, verbesserte sich Luke. Mit Eitelkeit hatte das nichts zu tun. Seine Eitelkeit hatte er längst schon abgelegt, zusammen mit seinen überschwenglichen Jugendträumen. Nur sein Stolz war ihm geblieben, sein Recht, das Wort »ich« in bezug auf sich zu benutzen. Sich der Verordnung 6511 zu fügen, bedeutete die Aufgabe dieses Rechtes. Er würde von den Massen der Organisation absorbiert werden wie Luftblasen in der Gischt des Meeres… Nervös sprang Luke auf. Mit schlangengleicher Bosheit hatte Judiath Ripp ihn an den Direktor der Stadtverwaltung verwiesen. Nun gut, Luke würde zusehen, daß er eine Änderungsanweisung von Parris de Vicker bekam, und sie Ripp unter die bleiche runde Nase halten. Aber wie? Luke rieb sich das Kinn. Er ging in eine Fernsprechzelle und blätterte durch das Fonbuch. Wie vermutet, befand sich das Büro des Direktors der Stadtverwaltung im Zentralturm der Organisation in Silverado, das war im 3666. Bezirk, hundertfünfzig Kilometer nördlich des 8892. Bezirks. Luke blieb im schwachen Sonnenschein stehen und hoffte auf eine Inspiration. Die greisen Nichtstuer, die wie Spatzen vor dem Wintereinbruch aussahen, beobachteten ihn gleichgültig. Noch einmal freute er sich, daß er sich die neue Kleidung geleistet hatte. Jetzt machte er wirklich eine gute Figur. Aber wie konnte er einen Termin beim Stadtverwaltungsdirektor bekommen? Wie ihn dazu bringen, die Verordnung zu ändern? Ihm kam keine rettende Idee. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß es immer noch Vormittag war. Also immer noch ausreichend Zeit, zur
Organisationszentrale zu fahren und rechtzeitig zum Schichtbeginn zurück zu sein… Luke verzog das Gesicht. Ruhte sein Entschluß auf so schwachen Beinen? Mußte er schließlich heute abend doch wieder mit der verhaßten Schaufel in den Tunnel zurückschleichen? Er schüttelte müde den Kopf. Er wußte es nicht. Am Bramblebury-Bahnhof stieg Luke in den Expreß, der nordwärts zur Silverado-Station führte. Zischend und wimmernd schoß der glänzende Metallwurm vorwärts, glitt zur dreizehnten Ebene hoch und tauchte immer wieder in den Sonnenschein hinein und hinaus, brauste durch Tunnels, über Klüfte zwischen Türmen, und die nervöse Betriebsamkeit der Stadt lag tief unter ihm. Viermal hielt er seufzend an: bei der IBM-Universität, in Braemar, an der Nordkreuzung, und schließlich, dreißig Minuten, nachdem Luke zugestiegen war, in der Silverado-Zentrale. Luke verließ ihn und blickte ihm nach, während er geschmeidig wie ein Aal weiterglitt. Luke betrat das Foyer des Zentralturms auf der zehnten Ebene – eine gewaltige Halle aus Marmor und Bronze, durch die sich wahre Menschenmassen wälzten: grimmige hochgestellte Persönlichkeiten, die das Schicksal vieler entschieden, ihre Assistenten, die Assistenten ihrer Assistenten, Funktionäre aller Stufen, alle trugen die Kleidung der oberen Gruppen – die der niedrigen Stufen in der Hoffnung, für höhergestellt angesehen zu werden. Alle hatten angespannte Gesichter, alle waren in Eile oder taten zumindest so, denn die Niedrigeren hatten keinen wirklichen Grund zur Eile. Luke schaffte sich mit den Ellbogen Platz und zwängte sich zum Zentralkiosk durch, wo er die Tafel studierte. Parris de Vicker, der Direktor der Stadtverwaltung, hatte sein Büro im 59. Stock. Luke überging ihn und fand den Minister für den öffentlichen Dienst, einen Mr. Sewell Sepp, auf der 81. Etage. Luke hatte keine Lust mehr, Zeit mit Untergebenen zu
vergeuden. Diesmal gehe ich bis ganz nach oben, sagte er sich. Wenn jemand etwas in dieser Sache tun kann, dann Sewell Sepp. Er stieg in den Lift und trat ins Foyer des Ministeriums für den öffentlichen Dienst – einen prächtigen Raum in disziplinierten funkelnden Farben, mit Zierat im pseudoantiken zweiten institutionalen Stil. Die Wände waren aus poliertem Milchglas und mit blitzenden Kaleidoskopplatten verziert. Der Boden hatte ein Rautenmuster aus blauem und weißem Glitzerstein. Sechs Bronzestatuen zogen den Blick auf sich, die die Grundsäulen des öffentlichen Dienstes symbolisierten: Kommunikation, Transport, Bildungswesen, Wasser, Energie und Sanitärwesen. Luke machte einen Bogen um die Piedestale zum Empfang, hinter dem zehn junge Frauen in knappgeschnittenen braun-schwarzen Uniformen standen. Luke wählte eines dieser Mädchen, das automatisch die Lippen zu einem leeren Lächeln verzog. »Was kann ich für Sie tun, Sir?« »Ich wünsche, Mr. Sepp zu sehen«, erklärte Luke kühn. Das Lächeln der jungen Frau blieb leer, während sie ihn erstaunt anschaute. »Wen, bitte?« »Sewell Sepp, den Minister für den öffentlichen Dienst.« Das Mädchen fragte sanft: »Haben Sie einen Termin mit ihm, Sir?« »Nein.« »Dann ist es unmöglich, Sir.« Luke nickte säuerlich. »Dann werde ich mit Mr. de Vicker, dem Leiter der Stadtverwaltung, sprechen.« »Haben Sie einen Termin mit ihm?« »Ich fürchte nein.« Das Mädchen schüttelte leicht amüsiert den Kopf. »Man kann diese Herren nicht einfach belästigen, Sir. Sie sind sehr
beschäftigt. Wer mit ihnen sprechen möchte, braucht einen Termin.« »Na na«, sagte Luke. »Es ist doch zumindest vorstellbar…« »Tut mir leid, Sir.« »Dann ersuche ich eben jetzt um einen Termin«, erklärte Luke. »Ich möchte, wenn möglich, noch heute mit Mr. Sepp sprechen.« Das Mädchen verlor das Interesse an Luke. Sie nahm wieder ihre Haltung unpersönlicher Höflichkeit an. »Ich setze mich mit dem Büro von Mr. Sepps Empfangssekretär in Verbindung.« Sie sprach in einen Schirm und drehte sich wieder Luke zu. »Es sind keine Termine in diesem Monat mehr frei, Sir. Möchten Sie mit jemand anderem sprechen? Einem Sekretär oder Assistenten vielleicht?« »Nein«, antwortete Luke. Er verkrampfte die Hand um die Platte des Schalters. Er war schon dabei sich abzuwenden, als ihm noch etwas einfiel. »Wer arrangiert diese Termine?« »Der erste Assistent des Sekretärs, der die Liste der Antragssteller überprüft.« »Dann möchte ich mit diesem ersten Assistenten sprechen.« Das Mädchen seufzte. »Dazu brauchen sie einen Termin, Sir.« »Sie meinen, ich benötige einen Termin, um einen Termin zu beantragen?« »So ist es, Sir.« »Brauche ich einen Termin, um einen Termin für einen Termin beantragen zu können?« »Nein, Sir. Das können Sie direkt veranlassen.« »Wo?« »In Suite zweiundvierzig der Rotunde, Sir.« Luke trat durch eine vier Meter hohe und breite Flügeltür aus Kristallglas und schritt einen kurzen Korridor entlang.
Huschende Muster in bunten Farben folgten ihm wie Schatten an beiden Wänden. Groteske kubistische Formen waren es, die seine Bewegung parodierten: ein launischer Einfall, der Luke überraschte und der ihm unter anderen Umständen bestimmt Spaß gemacht hätte. Er trat durch eine weitere Flügeltür aus Kristallglas in die Rotunde. Sechs Ebenen höher waren auf der Kuppeldecke Szenen aus alten Sagen abgebildet. Hinter einem Ring aus ledernen Polsterbänken gingen die Türen zu den Büros ringsum ab. An einer Tür, unmittelbar dem Eingang gegenüber, stand in großen Lettern: MINISTERIUM FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST Gut fünfzig Leute, Männer und Frauen, warteten mehr oder weniger geduldig auf den Polsterbänken. Die kultivierte Verachtung, mit der sie einander musterten, ließ auf ihren hohen Status schließen, und die Häufigkeit, mit der sie auf ihre Uhren blickten, erweckte den Eindruck, daß sie jeden Moment aufbrechen würden. Eine weiche Stimme klang aus dem Lautsprecher: »Mr. Artur Coff, Sie werden im Büro des Ministers erwartet.« Ein untersetzter Mann warf die Zeitschrift, die er ungeduldig durchgeblättert hatte, zur Seite und sprang auf. Er ging auf die bronze-schwarze Glastür zu und hindurch. Luke schaute ihm neidisch nach, dann wandte er sich dem Türbogen mit dem Schild Suite 42 zu. Ein Mann in braunschwarzer Uniform trat auf ihn zu. Luke erklärte ihm, was er wollte. Der Mann brachte ihn in einen kleinen Glasraum. Ein junger Mann hinter einem metallenen Schreibtisch blickte ihm scharf entgegen. »Setzen Sie sich, bitte«, forderte er Luke auf. Er deutete auf einen Stuhl. »Ihr Name?« »Luke Grogatch.«
»Was führt Sie zu mir, Mr. Grogatch?« »Ich habe dem Minister für den öffentlichen Dienst etwas zu sagen.« »Worum geht es?« »Es ist eine persönliche Angelegenheit.« »Tut mir leid, Mr. Grogatch, aber der Herr Minister ist sehr beschäftigt. Dringende Organisationsgeschäfte beanspruchen seine Zeit. Wenn Sie jedoch mir Ihr Problem darlegen, werde ich Sie gern an das zuständige Büro verweisen.« »Das wird mir kaum nutzen«, sagte Luke. »Ich möchte den Minister in bezug auf eine kürzliche Verordnung sprechen.« »Die der Herr Minister herausgegeben hat?« »Ja.« »Sie möchten dagegen Beschwerde einlegen?« Widerwillig gab Luke es zu. »Dafür sind die genau vorgeschriebenen Wege einzuhalten«, sagte der Assistent mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Füllen Sie dieses Formular aus – nicht hier, in der Rotunde – und werfen Sie es in den Verbesserungsvorschlagkasten, gleich rechts vor der Tür, wenn Sie das Amt verlassen…« In plötzlicher Wut zerknüllte Luke das Formular und warf es auf den Schreibtisch. »Er muß doch fünf Minuten Zeit haben…« »Ich fürchte nicht, Mr. Grogatch«, sagte der Assistent mit eisiger Stimme. »In der Rotunde sitzen viele sehr hochgestellte, wichtige Persönlichkeiten, von denen manche schon seit Monaten darauf warten, fünf Minuten mit dem Herrn Minister sprechen zu dürfen. Wenn Sie einen Antrag ausfüllen wollen, auf dem Sie Ihre Angelegenheit in allen Einzelheiten erläutern, werde ich dafür sorgen, daß er in die richtigen Hände gelangt.«
Luke stapfte ergrimmt aus der Glaszelle. Der Assistent schaute ihm mit einem düsteren Lächeln der Abneigung nach. Der Bursche hat offenbar nonkonformistische Tendenzen, dachte er. Man sollte ihn im Auge behalten. »Was nun?« murmelte Luke in der Rotunde. »Was nun? Was nun?« Sein Blick wanderte über die eingebildeten wichtigen Persönlichkeiten, die arrogant auf ihre Uhren sahen und ungeduldig mit den Füßen scharrten. »Mr. Jepper Prinn!« rief die weiche Stimme über Lautsprecher. »Sie werden im Büro des Ministers erwartet.« Luke sah zu, wie Jepper Prinn zur bronze-schwarzen Glastür schritt. Luke ließ sich auf eine Polsterbank fallen. Er kratzte die lange Nase und schaute sich verstohlen um. Ganz in der Nähe saß ein großer Mann mit Stiernacken, rotem Gesicht, wulstigen Lippen und dichtem fahlblondem Haar. Er sah wie ein sehr wichtiger Mann aus, der gewohnt war zu befehlen. Luke erhob sich und ging an ein Schreibpult, das für Besucher reserviert war. Er nahm mehrere Blatt Papier mit dem Turmbriefkopf und ging unauffällig um die Rotunde zum Eingang der Suite 42. Der stiernackige Magnat achtete nicht auf ihn. Luke knöpfte seinen Kragen zu, zupfte die Jacke zurecht und schnallte den Gürtel enger. Er holte tief Luft und schritt auf den Stiernackigen zu, als dieser in seine Richtung blickte. Er schaute sich kurz auf dem Polsterbankring um, tat als konsultiere er seine Papiere, dann runzelte er die Stirn und blieb vor dem Bonzen stehen. »Ihr Name, Sir?« fragte er. »Ich bin Hardin Arthur«, sagte der Mann scharf. »Wieso?« Luke nickte, studierte erneut seine Papiere. »Für welche Zeit wurden Sie bestellt?« »Elf Uhr zehn. Was soll das?«
»Der Herr Minister läßt Sie fragen, ob Sie mit ihm Mittag essen könnten, um dreizehn Uhr dreißig?« Arthur überlegte. »Ich glaube, es ließe sich ermöglichen«, brummte er. »Ich muß allerdings etwas umdisponieren – ja, es läßt sich machen.« »Ausgezeichnet«, sagte Luke. »Der Herr Minister ist der Ansicht, daß er sich beim Essen ungezwungener und ausführlicher über Ihre Angelegenheit mit Ihnen unterhalten kann, als während der sieben Minuten, die er Ihnen um elf Uhr zehn zugestehen kann.« »Sieben Minuten!« rief Arthur erbost. »In sieben Minuten kann ich ja nicht einmal einen Überblick geben…« »Eben deshalb schlug der Herr Minister vor, daß Sie mit ihm essen.« Mürrisch erhob sich Arthur. »Also gut. Mittagessen um dreizehn Uhr dreißig, richtig?« »Genau, Sir. Wenn Sie die Güte hätten, dann direkt in das Büro des Herrn Ministers zu kommen?« Arthur verließ die Rotunde, und Luke ließ sich auf des Magnaten bisherigem Platz nieder. Die Zeit verging sehr langsam. Zehn nach elf rief die weiche Stimme: »Mr. Hardin Arthur, der Herr Minister erwartet Sie.« Luke erhob sich. Er schritt würdevoll über die Rotunde und durch die bronze-schwarze Glastür. Hinter einem langen schwarzen Schreibtisch blickte der Minister ihm entgegen. Er war ein unscheinbarer Mann mit grauem Haar und scharfen grauen Augen. Er hob die Brauen, als Luke näher kam – offensichtlich hatte er sich Hardin Arthur anders vorgestellt. »Setzen Sie sich, Mr. Arthur«, forderte der Minister Luke auf. »Ich will ganz offen sein, wir halten Ihr Vorhaben für unpraktisch. Mit wir meine ich mich und den Prüfungsausschuß. Wir haben natürlich den Planer zugezogen.
Es steht fest, daß die Kosten jedes vernünftige Maß übersteigen. Außerdem ist nicht garantiert, daß Sie Ihr Programm mit dem der anderen Magnaten übereinstimmen können. Drittens machte der Ausschuß darauf aufmerksam, daß der Planer die Notwendigkeit für eine solche neue Kapazität bezweifelt.« »Ah.« Luke nickte weise. »Ich verstehe. Nun, es ist nicht so wichtig.« »Nicht wichtig?« Der Minister richtete sich in seinem Sessel auf und blinzelte verwundert. »Ihre Worte überraschen mich.« Luke machte eine gleichmütige Geste. »Vergessen wir es. Das Leben ist zu kurz, sich Sorgen über dergleichen zu machen. Tatsächlich wollte ich über eine andere Angelegenheit mit Ihnen sprechen.« »Ah?« »Sie mag auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen, aber die Folgen sind enorm. Ein früherer Angestellter machte mich auf die Sache aufmerksam. Er ist jetzt als Versager bei einer der Ausschachtungskolonnen der Kanalisationsabteilung, ein großartiger Bursche. So sieht es aus: Irgendein idiotischer Bürohengst hat eine Verordnung herausgegeben, die den Mann zwingt, jeden Tag seine Schaufel vom Lagerhaus zur Arbeitsstätte zu schleppen und sie wieder zurückzubringen – das ergibt einen Zeitverlust von drei Stunden. Ich habe mir die Mühe gemacht, dieser Sache nachzugehen. Sie führt hierher.« Er brachte die drei Computerausdrucke zum Vorschein. Stirnrunzelnd überflog der Minister sie. »Sie scheinen mir durchaus vorschriftsmäßig zu sein. Was erwarten Sie von mir?« »Daß Sie eine Direktive herausgeben, die diese Verordnung abändert. Es geht doch nicht, daß die armen Teufel jeden Tag
drei Stunden unvergütet Überstunden machen müssen, und alles wegen einer Unüberlegtheit.« »Unüberlegtheit?« echote der Minister ungehalten. »Das bestimmt nicht, Mr. Arthur. Ich erhielt die Anweisung vom Verwaltungsrat, vom Vorsitzenden höchstpersönlich, und wenn…« »Mißverstehen Sie mich nicht«, sagte Luke hastig. »Ich bin absolut nicht gegen Kosteneinsparung, ich möchte lediglich, daß sie vernünftig durchgeführt wird. Eine Schaufel jeden Tag ins Lagerhaus zu schleppen – was läßt sich dabei einsparen?« »Multiplizieren Sie diese Schaufel mit einer Million, Mr. Arthur«, sagte der Minister kalt. »Also gut, dann haben wir eine Million Schaufeln. Wie viele dieser Million Schaufeln bleiben durch diese Verordnung besser erhalten? Zwei oder drei im Jahr?« Der Minister zuckte die Schultern. »Bei so allgemeinen Anweisungen wie dieser sind Diskrepanzen unvermeidlich. Ich gab die Verordnung heraus, weil ich den Auftrag erhielt. Wenn Sie sie geändert haben wollen, müssen Sie mit dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats sprechen.« »Also gut. Können Sie einen Termin für mich vereinbaren?« »Wir wollen die Sache noch schneller klären«, sagte der Minister. »Und zwar sofort. Wir sprechen über den Schirm mit ihm, auch wenn die Angelegenheit, wie Sie sagen, unbedeutend zu sein scheint…« »Eine Demoralisierung der Arbeitskräfte ist keine Trivialität, Minister Sepp.« Der Minister zuckte die Schultern, drückte auf einen Knopf und sprach ins Schirmgerät: »Den Vorsitzenden des Verwaltungsrats, bitte, falls er nicht beschäftigt ist.« Der Schirm leuchtete auf. Der Vorsitzende blickte ihnen entgegen. Er saß bequem in einem Liegestuhl auf dem Dach seines Penthauses ganz oben auf dem Turm. Er hielt ein Glas
mit blasser sprudelnder Flüssigkeit in der Hand. Hinter ihm war strahlender Sonnenschein zu sehen, ein blauer Himmel und ein Ausschnitt der Stadt. »Guten Morgen, Sepp«, grüßte der Vorsitzende freundlich. Er nickte Luke zu, »auch Ihnen einen angenehmen Morgen, Sir.« »Herr Vorsitzender, das ist Mr. Arthur, er protestiert gegen die Kosteneinspardirektive, die Sie vor ein paar Tagen herunterschickten. Er behauptet, sich strikt an den Buchstaben der Verordnung zu halten, führe zur Unzufriedenheit der Arbeiterschaft, zu ihrer Demoralisation, wie er sagte. Es hat etwas mit Schaufeln zu tun.« Der Vorsitzende überlegte. »Kosteneinsparungsdirektive? Ich weiß nicht genau, was Sie meinen.« Minister Sepp gab ein Resümee, zitierte Kode- und Bezugsdaten. Der Vorsitzende nickte. »Ja, ich erinnere mich. Es ging um die Metallknappheit. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen, Sepp, oder vielmehr, Mr. Arthur. Der Prüfungsausschuß schickte mir die Unterlagen herauf. Offenbar werden die Mineralien knapp. Also was können wir tun? Wir müssen eben den Gürtel ein wenig enger schnallen. Ist schlimm für uns alle. Was hat es mit den Schaufeln auf sich?« »Darum geht es ja überhaupt!« rief Luke plötzlich mit so schriller Stimme, daß sowohl der Minister als auch der Vorsitzende ihn fast erschrocken anstarrten. »Eine Schaufel zum Lagerhaus schleppen und wieder zurück – drei Stunden jeden Tag! Das ist keine Einsparung, das ist eine desorganisierte Farce!« »Na, na, Mr. Arthur«, rügte der Vorsitzende humorvoll. »Warum die Aufregung, solange Sie die Schaufel nicht selbst zu tragen brauchen? Aufregung legt sich auf den Magen, das mußten Sie doch wissen. Bis der Prüfungsausschuß seine
Meinung ändert, müssen wir uns eben nach der Verordnung richten. Er ist dafür verantwortlich.« »Was tut das zur Sache?« brummte Luke. »Jeden Tag drei Stunden eine Schaufel schleppen…« »Nun, vielleicht ist es eine Ungelegenheit für die Betroffenen«, gestand der Vorsitzende sichtlich ungeduldig zu, »aber Sie müssen die Sache eben aus weiter Sicht sehen. Sepp, wie wär’s, wenn Sie mit mir Mittag essen? Ein wundervoller Tag, herrliches Wetter.« »Danke, Herr Vorsitzender. Sehr gern.« »Also gut. Um halb zwei, oder wann immer es Ihnen paßt.« Der Schirm erlosch. Minister Sepp stand auf. »Sie sehen selbst, Mr. Arthur, ich kann nichts weiter tun.« »Vielen Dank, Herr Minister«, murmelte Luke dumpf. »Tut mir leid, daß ich Ihnen in der anderen Sache nicht behilflich sein kann, doch wie ich sagte…« »Es ist unwichtig.« Luke verließ das elegante Büro und kehrte durch die bronzeschwarze Glastür in die Rotunde zurück. Durch die Bogentür zur Suite 42 sah er einen großen stiernackigen Mann mit hochrotem Gesicht, der sich über den Schreibtisch beugte. Luke trat aus der Rotunde, gerade als der echte Mr. Arthur in einem heftigen Gespräch mit dem Assistenten aus dem Türbogen kam. Luke trat an den Auskunftsschalter. »Wo finde ich den Prüfungsausschuß?« »In der neunundzwanzigsten Etage dieses Gebäudes Sir.« In der Abteilung des Prüfungsausschusses sprach Luke mit einem eleganten, höflichen jungen Mann mit seidig glänzendem Schnurrbart, dessen Titel Plan-Koordinator war. »Aber gewiß!« versicherte er Luke auf seine Frage. »Kompetente Auskunft ist die Grundlage für kompetente Organisation. Eingehendes Material wird vom
Kompendiumsamt zusammengefaßt und dem Prüfungsausschuß vorgelegt.« Luke erklärte sein Interesse am Kompendiumsamt. Der junge Mann wirkte sofort gelangweilt. »Was sind die dort schon mehr als Würmer, die sich durch die Statistiken wühlen und kaum zu einem verständlichen Satz in der Lage sind? Wenn wir nicht wären…« Seine Brauen, so seidig wie der Schnurrbart, deuteten die Katastrophen an, die über die Organisation kommen würden, gäbe es den Prüfungsausschuß nicht. »Sie arbeiten in einer Suite unten im sechsten Geschoß.« Luke fuhr zum Kompendiumsamt hinunter. Er hatte keinerlei Schwierigkeiten, ins Hauptbüro vorzudringen. Ganz im Gegensatz zu dem reichlich nebulösen Intellektualismus des Prüfungsausschusses wirkte das Kompendiumsamt wie ein ganz normales alltägliches Büro. Eine Frau mittleren Alters von gemütlicher Korpulenz erkundigte sich freundlich, was Luke hierherführte, und als er sich als Journalist ausgab, führte sie ihn ohne Zögern im Amt herum. Aus dem Hauptfoyer, dessen Wände mit cremefarbiger Stukkatur und vergoldeten Friesen verziert waren, kamen sie durch einen Gang mit kleinen, zellenartigen Büros, wo die Angestellten hinter Projektionstischen saßen und Bänder studierten, Ideesequenzen heraushoben, Auszüge machten, Korrekturen vornahmen und Kürzungen, und schließlich die Zusammenfassung an den Prüfungsausschuß weiterleiteten. Lukes dicke, fröhliche Führerin brühte eine Kanne Tee auf und stellte Luke Fragen, die er vage und unverbindlich beantwortete. Er bemühte sich, ihr an scheinbarer Herzlichkeit nicht nachzustehen, und auch er fragte sie allerhand. »Ich bin an Statistiken über die Verknappung von Metall oder Erzen oder Ähnlichem interessiert, die vor kurzem an den Prüfungsausschuß gingen. Wissen Sie etwas darüber?«
»Großer Gott, nein!« antwortete die Frau. »Es kommt ganz einfach zuviel Material herein – eben alles, was die Organisation betrifft.« »Und woher kommt dieses Material? Wer schickt es Ihnen?« Die Frau lächelte mit einer Spur von Verachtung. »Von der Registratur, im Untergeschoß zwölf. Ich kann Ihnen darüber nicht viel sagen, denn wir verkehren nicht mit dem Personal. Die Leute sind von niedrigem Status: einfache Schreibkräfte und so, nicht viel mehr als Automaten.« Luke drückte sein Interesse an der Quelle aus, von der das Kompendiumsamt seine Informationen bezog. Die Frau zuckte die Schultern, als wollte sie sagen, jedem Tierchen sein Pläsierchen. »Ich rufe den Chef der Registratur an. Ich kenne ihn, wenn auch nur über den Schirm.«
Der Leiter der Registratur, Mr. Sidd Boatridge, war sehr von sich eingenommen und ungemein brüsk, als wüßte er, wie mißachtend man im Kompendiumsamt von ihm und seiner Abteilung sprach. Er wehrte Lukes Fragen mit steinernem Gesicht ab. »Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, Sir. Wir registrieren die Sachen hier, vergleichen sie mit bereits vorhandenen Angaben und geben alles in die Informationsspeicher ein, aber wir beschäftigen uns nur wenig mit den abgehenden Daten. Meine Pflichten sind hauptsächlich verwaltungstechnisch. Ich rufe einen Registrator, der Ihnen mehr sagen kann als ich.« Der Angestellte, der von Boatridge herbeizitiert wurde, war ein kleiner Mann mit Rübengesicht und glanzlosem rotem Haar. »Bringen Sie Mr. Grogatch in den Annex«, sagte Mr. Boatridge mürrisch. »Er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Im Annex, wo sein Chef ihn nicht mehr hören konnte, legte der Angestellte sofort seine unterwürfige Haltung ab und nahm eine mürrische, eingebildete Miene an, als ahne er Lukes Status. Er nannte sich Zeilenprüfer, da dieser Job offenbar von höherer Klassifikation war als einfacher Registrator. Seine »Zeilenprüfung« bestand darin, daß er neben einer Tafel saß, auf der unzählige orange und grüne Registratorlämpchen blinkten. »Die orangen Lichter stehen für die Information, die gespeichert wird«, erklärte er von oben herab. »Die grünen Lichter zeigen an, daß jemand von oben – gewöhnlich aus dem Kompendiumsamt – Information abruft.« Luke beobachtete das orange und grüne Blinken eine kurze Weile, dann erkundigte er sich: »Welche Information wird gerade eingegeben?« »Könnte ich nicht sagen«, brummte der Zeilenprüfer. »Es ist alles verschlüsselt. Drunten im alten Büro hatten wir eine Monitormaschine, aber wir benutzten sie nie. Wir haben viel zuviel anderes zu tun.« Luke überlegte. Der Bursche schien ungeduldig zu werden. Lukes Gedanken überschlugen sich. Er fragte: »So, wie ich es sehe, legen Sie die Information ab beziehungsweise speichern Sie sie, aber ansonsten haben Sie nichts mehr damit zu tun?« »Wir legen sie ab und geben ihr ein Kodezeichen. Wer Information abrufen will, gibt ein Programm ein, und sie geht direkt an ihn. Wir selbst bekommen sie nie zu Gesicht, es sei denn, wir würden uns die Mühe machen, die alte Monitormaschine zwischenzuschalten.« »Die immer noch in Ihrem alten Büro ist?« Der Zeilenprüfer nickte. »In der Basiskammer, wie man es jetzt nennt. Es ist nichts dort als die Eingangs- und Ausgangsrohrleitungen, der Monitor und der Kustos.« »Wo ist die Basiskammer?«
»Ganz unten, hinter den Speicherbänken. Viel zu tief für mich, als daß ich dort arbeiten könnte. Meine Ambitionen gehen höher.« Zur Betonung spuckte er auf den Boden. »Sie sagten, ein Kustos sei dort?« »Ein alter Hilfsarbeiter namens Dodkin. Er ist schon hundert Jahre dort.« Luke nahm einen Expreßlift für die nächsten dreißig Etagen abwärts, dann fuhr er auf der Rolltreppe noch sechs Ebenen tiefer bis zum Untergeschoß 46 und stieg von der Treppe in das düstere Stockwerk, wo gleich rechts ein Verköstigungssaal für die untersten Kategorien war und ein Schlafsaal. Die Luft roch, wie fast überall tief unter dem Verköstigungssaal einer Mischung aus klammem Beton, Phenol, Merkaptan und leicht, aber doch eindringlich nach menschlicher Ausdünstung. Mit amüsierter Verbitterung erkannte Luke, daß er in eine vertraute Umwelt zurückgekehrt war. Er folgte den Anweisungen, die ihm der Zeilenprüfer widerwillig gegeben hatte, und trat auf ein rasselndes Laufband mit der Aufschrift 902 – Speicher. Schließlich gelangte er zu einem hellbeleuchteten Korridor, an dessen Eingang ein großes schwarz-gelbes Schild hing. INFORMATIONSSPEICHER – TECHNISCHE STATION stand darauf. Hinter einer offenen Tür saßen mehrere Mechaniker mit baumelnden Beinen auf hohen Hockern und unterhielten sich untätig. Luke wechselte auf ein Nebenband über, das sich anhörte und auch so aussah, als würde es jeden Moment seinen nichtvorhandenen Geist aufgeben. Bei der zweiten Kreuzung – hier gab es kein Schild – verließ er das Laufband und bog in einen schmalen Gang ein, in dem in der Ferne ein schwaches gelbes Licht brannte. Der Gang war leer und wirkte irgendwie unheimlich, so völlig abseits von dem regen Leben der Stadt.
Unter der gelben Glühbirne hing ein Schild an einer eingebeulten Metalltür: INFORMATIONSSPEICHER – BASISKAMMER ZUTRITT VERBOTEN Luke probierte den Knauf und mußte feststellen, daß die Tür verschlossen war. Er klopfte und wartete. Die Stille hing schwer im Gang, nur das ferne Rasseln des altersschwachen Laufbands war zu hören. Wieder klopfte Luke, und nun waren schlurfende Schritte zu hören. Die Tür glitt zurück. Blasse ruhige Augen blickten heraus. Eine etwas schwache Stimme erkundigte sich: »Ja, Sir?« Luke bemühte sich um eine forsche und doch freundliche Stimme. »Sie sind Dodkin, der Kustos?« »Ja, mein Herr, ich bin Dodkin.« »Bitte öffnen Sie, ich möchte hinein.« Die blassen Augen blinzelten leicht verwundert. »Das ist nur die Basiskammer, Sir. Hier gibt es nichts zu sehen. Der Speicherkomplex ist vorn. Sie brauchen nur zur Kreuzung zurückzugehen…« Luke sprudelte heraus: »Ich komme gerade von der Registratur, mit Ihnen möchte ich sprechen.« Wieder blinzelten die blassen Augen erstaunt, die Tür glitt ganz auf. Luke betrat die lange, schmale Basiskammer mit ihrem Betonboden. Tausende von Leitungen fielen von der Decke herab und verschwanden – gebogen, in Schleifen und Schlingen – in der Wand. Von jeder Leitung baumelte ein kleines Metallschild. Am Ende der Kammer stand eine verschmutzte Liege, offenbar Dodkins Bett, am anderen ein langer schwarzer Kasten: die Monitormaschine?
Dodkin wirkte durch seine gebeugte Haltung noch kleiner, als er ohnedies war, aber trotz seines offensichtlich hohen Alters war er sehr behende. Sein weißes Haar war fleckig, doch
ordentlich gekämmt. Seine schwachen wässerigen Augen wirkten offen und hingen interessiert an Luke. Er fing zu reden an, und seine Worte sprudelten wie ein Wasserfall. Luke versuchte mehrmals vergeblich ihn zu unterbrechen. »Es kommen nicht oft Besucher von oben hierher. Stimmt etwas nicht?« »Nein, es ist alles in Ordnung.« »Sie sollten es mir sagen, wenn etwas nicht stimmt, oder vielleicht gibt es neue Anordnungen, über die man mich nicht informierte.« »Nein, nichts dergleichen, Mr. Dodkin. Ich bin nur ein Besucher…« »Ich komme nicht mehr soviel raus wie früher, aber vergangene Woche…« Luke täuschte vor, ihm zuzuhören. Die Stimme des Alten plätscherte als Hintergrundgeräusch zu seinen bitteren Gedanken dahin. Die Kontinuität der Direktiven, die von Fedor Miskitman zu Lavester Limon geführt hatte und weiter zu Judiath Ripp, dann über Parris de Vicker hinweg zu Sewell Sepp und dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats, von dort die Statusleiter zurück zum Prüfungsausschuß, zum Kompendiumsamt und schließlich zur Registratur – – diese Kontinuität endete nun endgültig hier. Der Faden, dem er mit solch verzweifelter Hoffnung gefolgt war, schien sich hier zu verlieren. Nun, sagte sich Luke, ich habe Miskitmans Herausforderung angenommen und versagt. Jetzt war er wieder am Ausgangspunkt angekommen. Er konnte die Schaufel zum Lagerhaus hin und zurück tragen, oder auf die Verordnung pfeifen, die Schaufel hinwerfen und sich beweisen, daß er ein Mann mit eigenem Willen war, was natürlich zu seiner Tieferstufung führte, und dann würde er ein Hilfsarbeiter sein wie der alte Dodkin, der immer noch keuchend und schnaufend pausenlos dahinredete.
»… etwas nicht stimmt, könnte ich es ja gar nicht wissen, weil mir ja nie jemand was sagt. Jahr um Jahr vergeht und es ist ganz ruhig ist es hier unten, und niemand löst mich ab. Nur selten komme ich noch hinauf, höchstens einmal alle vierzehn Tage, na ja, aber wenn man den Himmel einmal gesehen hat – ich meine, er ändert sich ja nicht. Und die Sonne, sicher, sie ist ein Wunder, aber wenn man einmal ein Wunder gesehen hat…« Luke holte tief Luft. »Ich gehe einer Information nach, die die Ablage erreichte. Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen können.« Dodkin blinzelte. »Worum geht es, Sir? Selbstverständlich bin ich Ihnen gern behilflich, aber…« »Es geht um Kosteneinsparung in der Benutzung von Metall und metallhaltigem Werkzeug.« Dodkin nickte. »Ich erinnere mich sehr gut.« Jetzt starrte Luke ihn erstaunt an. »Sagten Sie, Sie erinnerten sich daran?« »Gewiß. Sie war, wenn ich so sagen darf, eine meiner kleinen Interpolationen. Eine persönliche Bemerkung, die ich anderem Material einfügte.« »Wären Sie so liebenswürdig, mir das zu erklären?« Dodkin tat es nur zu gern. »Vorige Woche hatte ich die Gelegenheit, einen alten Freund in Claxton Abbey zu besuchen, einen guten Konformisten, anpassungsfähig und kooperativ, aber leider ein Hilfsarbeiter wie ich. Das ist dem guten, braven Evans gegenüber natürlich nicht abfällig gemeint. Wie ich wartet er auf seine Pensionierung – auch wenn die Rente heutzutag viel zu gering ist…« »Die Interpolation?« »O ja. Auf dem Heimweg auf dem Laufband – wenn ich mich recht entsinne, war es im Untergeschoß zweiunddreißig – – sah ich einen Arbeiter – ich glaube, er war ein Elektriker –,
der von der Schicht kam, verschiedenes Werkzeug einfach in einen Spalt werfen. Was für eine Verantwortungslosigkeit, dachte ich, einfach schändlich! Was, wenn der Mann vergißt, wo er sein Handwerkszeug versteckt hat? Niemand würde es finden! Unsere Eisenerzreserven schrumpfen immer mehr – das weiß doch jeder –, und von Jahr zu Jahr wird unser Meerwasser schwächer und gehaltloser. Dieser Mann dachte überhaupt nicht an die Zukunft der Organisation. Wir müssen dankbar für unsere Bodenschätze und natürlichen Reserven sein und sie achten, da pflichten Sie mir doch bei, Sir, nicht wahr?« »Ja, selbstverständlich. Aber…« »Jedenfalls kehrte ich hierher zurück und verfaßte ein paar entsprechende Zeilen, die ich dem Material beifügte, das zur Registratur hoch geht. Ich dachte, vielleicht würden sie ihn so beeindrucken daß er mit jemandem von Einfluß darüber spricht, mit dem Leiter der Registratur vielleicht. Das jedenfalls ist die Geschichte meiner Interpolation. Natürlich bemühte ich mich, ihr Gewicht zu verleihen, indem ich auf die unvermeidliche Abnahme unserer Bodenschätze hinwies.« »Ich verstehe«, murmelte Luke. »Haben Sie schon öfter solche Interpolationen vorgenommen?« »Hin und wieder«, gestand Dodkin. »Natürlich freue ich mich darüber, wenn ich dann feststelle, daß man weiter oben meine Ansichten teilt. Vor drei Wochen wurde ich mehrere Minuten zwischen Claxton Abbey und Kittsville im Untergeschoß dreißig aufgehalten. Ich nahm es zum Anlaß einer Interpolation, und schon vorige Woche bemerkte ich, daß man mit dem Bau einer neuen achtbahnigen Rollstraße zwischen diesen zwei Punkten begonnen hat – eine großartige, ganz moderne Straße. Vor einem Monat fiel mir eine Gruppe schamloser Mädchen auf, die sich wie Wilde bemalt hatten. Welch eine Vergeudung, dachte ich. Welche Eitelkeit und
Torheit! Ich wies in einer kleinen Notiz an den Hilfsregistrator darauf hin, und offenbar sind viele meiner Meinung, denn bereits zwei Tage später kam ein Schreiben des Kultusministeriums heraus, das eine Abschaffung dieser Unsitte für erforderlich anzeigte.« »Interessant«, murmelte Luke. »Ja, ungemein interessant. Wie fügen Sie denn diese – Interpolationen in die Informationen ein?« Dodkin humpelte flink zur Monitormaschine. »Der Ausstoß von den Speichern kommt hier durch. Ich tippe ein paar Zeilen auf der Schreibmaschine und schiebe sie ein, wo der Hilfsregistrator sie sehen muß.« »Bewundernswert«, lobte Luke. »Ein Mann Ihrer Intelligenz müßte auf der Statusliste viel höher stehen.« Dodkin schüttelte ruhig den Kopf. »Dazu fehlen mir sowohl der Ehrgeiz als auch die Eignung. Ich bin nur zu einfacher Arbeit fähig und dazu gerade noch. Ich würde schon morgen in Pension gehen, hätte der Leiter der Registratur mich nicht gebeten, noch eine Weile zu bleiben, bis er geeigneten Ersatz für mich gefunden hat. Offenbar ist es allen hier unten zu still.« »Vielleicht dürfen Sie schon eher in Pension gehen, als Sie denken«, sagte Luke.
Luke schlenderte gemächlich die lange glänzende Tunnelröhre mit ihren abwechselnd hellen und dunklen Spiegelungen entlang. Links vorn war Gemurmel zu hören und Glitzern zu sehen, wo Lampenschein auf Metall fiel. Die Arbeiter der Tunnelkolonne 3 standen untätig und unruhig herum. Fedor Miskitman fuchtelte mit uncharakteristischer Heftigkeit mit beiden Armen. »Grogatch! Auf deinen Posten!
Du hast uns alle aufgehalten!« Sein grobes Gesicht war rot angelaufen. »Wir sind bereits vier Minuten zu spät dran!« Luke spazierte näher. »Beeil dich!« brüllte Miskitman. »Was glaubst du, was das ist? Eine verdammte Promenade vielleicht?« Wenn das überhaupt möglich war, verringerte Luke sein Tempo. Fedor Miskitman senkte den großen Schädel und blickte ihm grimmig entgegen. Luke blieb vor ihm stehen. »Wo ist deine Schaufel?« fragte Fedor Miskitman. »Weiß ich nicht«, brummte Luke. »Du bist doch für das Werkzeug zuständig.« Fedor Miskitman blinzelte ungläubig. »Hast du die Schaufel denn nicht ins Lagerhaus gebracht?« »Doch, allerdings«, antwortete Luke. »Wenn du sie haben willst, dann hol sie doch!« Fedor Miskitman öffnete den Mund. »Du bist gefeuert! Mach, daß du wegkommst!« »Wie du willst«, brummte Luke, »du bist der Kolonnenführer.« »Komm ja nicht zurück!« donnerte Miskitman. »Ich werde dich noch heute melden. Von mir bekommst du keine Empfehlung, die deinem Status förderlich ist, das darfst du mir glauben!« »Status?« Luke lachte. »Tu, was du nicht lassen kannst. Stuf mich doch zum Hilfsarbeiter herab. Denkst du vielleicht, das macht mir was aus? Ganz bestimmt nicht. Und ich sag’ dir auch, warum. Es wird zu ein paar Veränderungen kommen. Wenn die Dinge anders ausschauen, dann denk an mich!«
Luke Grogatch, Hilfsarbeiter, sagte dem Kustos der Basiskammer, der jetzt in seine wohlverdiente Pension ging, Lebewohl. »Sie brauchen mir wirklich nicht danken«,
versicherte ihm Luke. »Ich bin aus eigener Initiative hier. Tatsächlich… Aber das dürfte Sie nicht interessieren. Fahren Sie hoch, setzen Sie sich in die warme Sonne und genießen Sie die frische Luft.« Endlich humpelte Dodkin freudig und traurig zugleich das letztemal den düsteren Gang zu dem rasselnden altersschwachen Laufband hoch. Luke blieb allein in der Basiskammer zurück. Ringsum summten fast unhörbar die Informationsleitungen. Hinter der Wand klickten Millionen von Relais. Der Monitor spuckte pausenlos gelbe Streifen aus, die sich automatisch aufrollten. Daneben stand die Schreibmaschine. Luke setzte sich davor. Was sollte seine erste Interpolation sein? Freiheit für die Nonkonformisten? Ein Vorschlag, daß die Kolonnenführer das Werkzeug für die ganze Kolonne tragen? Ein höheres Ausgabenkonto für Hilfsarbeiter? Luke stand auf und kratzte sich am Kinn. Macht – subtil eingesetzt! Wozu sollte er sie nutzen? Um Vergünstigungen für sich herauszuschlagen? Ja, natürlich, das würde er über verschiedene Umwege leicht erreichen. Und dann? Luke dachte an die Milliarden Männer und Frauen, die für die Organisation arbeiteten und unter ihr lebten. Er blickte nachdenklich auf die Schreibmaschine. Er konnte das Leben dieser Menschen formen, ihre Gedanken, ihre Einstellung lenken, konnte die Organisation desorganisieren. Wäre das klug? Wäre es richtig? Amüsant? Luke seufzte. Vor seinem inneren Auge sah er sich von einem Dachgarten die Stadt überblicken. Luke Grogatch, Vorsitzender des Verwaltungsrats. Nicht unmöglich, nein, durchaus vorstellbar. Nach und nach die richtigen Interpolationen… Luke Grogatch, Vorsitzender des Verwaltungsrats. Ja. Ein guter Anfang.
Aber er mußte vorsichtig, mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Wieder setzte er sich vor die Schreibmaschine und tippte mit einem Fingen seine erste Interpolation.
Originaltitel: »Dodkin’s Job« Copyright © 1959 by Street & Smith Publications, Inc.; mit freundlicher Genehmigung des Autors
Ullwards Zuflucht
Bruham Ullward hatte drei Bekannte zum Lunch auf seine Ranch eingeladen: Ted und Ravelin Seehoe und ihre halbwüchsige Tochter Iugenae. Nach dem Mahl, das nicht nur ein Augenschmaus gewesen war, sondern unter dem fast der Tisch zusammengebrochen war, bot Ullward auf einem kleinen Tablett die Verdauungspillen an, die ihm zu seinem Reichtum verholfen hatten. »Ein köstliches Mahl«, sagte Ted Seehoe fast andächtig. »Ich habe doch tatsächlich zuviel gegessen. Ich werde mir eine Ihrer Pastillen nehmen. Die Algen waren einfach himmlisch.« Ullward lächelte. »Sie sind eben echt.« Ravelin Seehoe, ein lebensbejahende junge Frau von achtzig oder neunzig mit frischem Gesicht, griff ebenfalls nach einer Pastille. »Nur bedauerlich, daß sie so rar sind. Das synthetische Zeug, das wir bekommen, ist ja kaum noch als Algen zu erkennen.« »Ja, es ist ein Problem«, gab Ullward zu. »Ich habe mich mit ein paar Freunden zusammengetan. Wir erstanden ein kleines Wasserstück im Rossmeer und ziehen uns die Algen selbst.« »Na so was!« rief Ravelin. »Ist das nicht schrecklich teuer?« Ullward schnitt eine Grimasse. »Leider muß man für alles Gute tief in die Tasche greifen. Glücklicherweise kann ich mir hin und wieder etwas Besonderes leisten.« »Ich sage Ted schon die ganze Zeit…«, begann Ravelin, redete jedoch nicht weiter, als Ted ihr einen warnenden Blick zuwarf. Ullward überging taktvoll die plötzliche Spannung. »Geld ist nicht alles. Ich habe ein kleines Stück Algenwasser und meine
Ranch. Sie haben Ihre Tochter – ich bin überzeugt, Sie würden nicht tauschen wollen.« Ted tätschelte Iugenaes Hand. »Wann werden Sie Ihr Kind bekommen, Lamster Ullward?« (Lamster: Zusammenziehung von Landmeister – die übliche Höflichkeitsanrede) »Das wird noch eine geraume Zeit dauern. Ich stehe irgendwo an siebenunddreißigmilliardster Stelle auf der Liste.« »Das ist wirklich schade«, bedauerte ihn Ravelin Seehoe, »wo Sie einem Kind doch so viel bieten könnten.« »Irgendwann wird es schon noch klappen, ehe ich zu alt bin.« »Ja, es ist traurig, aber es muß wohl so sein. Noch fünfzig Milliarden Menschen, und wir hätten überhaupt keine Privatsphäre mehr!« Sie schaute sich bewundernd in dem Zimmer um, das lediglich als Küche und Eßraum diente. Ullward stützte die Hände auf die Armlehnen und beugte sich ein wenig nach vorne. »Hätten Sie Lust, sich die Ranch anzusehen?« Er blickte gleichmütig von einem zum anderen. Iugenae klatschte begeistert in die Hände, Ravelin strahlte. »Wenn es keine zu große Ungelegenheit für Sie bedeutet?« »Schrecklich gern, Lamster Ullward!« rief Iugenae. »Ich wollte mir Ihre Ranch schon immer gern ansehen«, sagte Ted. »Ich habe so viel darüber gehört.« »Es ist eine einmalige Gelegenheit, die ich Iugenae nicht vorenthalten möchte«, fügte Ravelin schnell noch hinzu. Dann blickte sie das Mädchen an und hob mahnend den Finger. »Denk daran, Kätzchen, daß du nichts berührst, dir aber alles gut ansiehst.« »Darf ich Bilder machen, Mutter?« »Da mußt du Lamster Ullward fragen.« »Aber selbstverständlich«, gestattete Ullward es. »Warum denn nicht?« Er stand auf. Er war etwas größer als der Durchschnittsmann – und etwas rundlicher, hatte glattes sandfarbiges Haar, runde blaue Augen und eine etwas groß
geratene Hakennase. Fast dreihundert Jahre war er alt, aber er lebte so gesundheitsbewußt, daß man ihn höchstens auf zweihundert schätzte. Er trat an die Tür, verglich die Zeit, dann berührte er einen Zeiger an der Wand. »Sind Sie bereit?« »Ja«, versicherte ihm Ravelin. Ullward ließ die Wand zurückgleiten. Eine traumhafte Aussicht auf eine Lichtung bot sich ihnen. Eine mächtige Eiche lieh ihren Schatten einem kleinen Teich, aus dem Rohr wuchs. Ein Pfad führte durch ein Feld zu einem etwa eineinhalb Kilometer entfernten bewaldeten Tal. »Wunderbar«, seufzte Ted ehrfürchtig. »Einfach wunderbar!« Sie traten hinaus in den Sonnenschein. Iugenae breitete die Arme aus und drehte sich auf einem Bein im Kreis. »Schaut!« jubelte sie. »Ich bin allein! Ich bin ganz allein hier draußen!« »Iugenae!« rief Ravelin scharf. »Vorsichtig! Bleib auf dem Pfad! Das ist echtes Gras! Du darfst es nicht beschädigen!« Iugenae rannte den anderen voraus zum Teich. »Mutter!« rief sie begeistert. »Sieh dir diese komischen kleinen Hüpfdinger an! Und die Blumen!« »Die ›Hüpfdinger‹ sind Frösche«, erklärte ihr Ullward. »Sie machen eine interessante Entwicklung durch. Siehst du die kleinen fischähnlichen Wesen im Wasser?« »Oh, die sind aber komisch! Mutter, komm doch her!« »Man nennt sie Kaulquappen. Sie werden zu Fröschen und sind dann nicht mehr von denen zu unterscheiden, die du hier siehst.« Ravelin und Ted schritten mit etwas mehr Würde näher, aber sie interessierten sich genauso für die Frösche wie ihre Tochter. »Atme tief ein!« riet Ted Ravelin. »Diese herrlich frische Luft. Man könnte meinen, wir wären in der guten alten Zeit.« »Es ist zauberhaft«, murmelte Ravelin. Sie schaute sich um.
»Kommen Sie hier herüber«, rief Ullward von der anderen Teichseite. »Hier ist ein Steingarten.« Staunend bewunderten die Seehoes die Felsleiste, die mit roten und gelben Flechten überzogen und mit Moosbüscheln betupft war. Farne wuchsen aus einem Spalt, und zarte weiße Blumen standen in kleinen Gruppen. »Du darfst gern an den Blumen riechen, wenn du möchtest«, wandte Ullward sich wieder an Iugenae. »Aber bitte berühr sie nicht, sie sind sehr empfindlich.« Iugenae bückte sich und roch daran. »Mmmmm!« murmelte sie entzückt. »Sind sie echt?« erkundigte sich Ted. »Das Moos, ja, auch die Farne und Flechten. Die Blumen entwarf ein Hortikulturist für mich. Sie sind exakte Abbildungen einer alten Gattung mit verbessertem Duft.« »Wundervoll! Wundervoll!« sagte Ted. »Bitte kommen Sie jetzt hierher – . nein, drehen Sie sich nicht um. Ich möchte, daß Sie einen Gesamteindruck bekommen.« Sein Gesicht verdüsterte sich plötzlich. »Stimmt etwas nicht?« erkundigte sich Ted. »Ah, das ist verdammt ärgerlich!« brummte Ullward. »Hören Sie es?« Ted wurde sich eines tiefen schwachen Rumpelns bewußt. »Ja, hört sich wie eine Fabrik an.« »Ist es auch. Im unteren Stockwerk. Ein Teppichwerk. Einer der Webstühle macht diesen furchtbaren Krach. Ich habe mich schon beschwert, aber sie nehmen überhaupt keine Notiz von meinen Einwänden… Wir müssen es eben ignorieren. So, stellen Sie sich hierher – und sehen Sie sich um.« Seine Gäste hielten den Atem an. Die Aussicht aus diesem Blickwinkel ging auf ein Landhaus in einem Gebirgstal, und die Tür war die Öffnung in Ullwards Eßzimmer.
»Welcher Eindruck von Weite!« rief Ravelin hingerissen. »Man könnte glauben, man wäre allein.« »Eine großartige Arbeit«, lobte Ted. »Ich könnte schwören, das Haus sei fünfzehn, oder mindestens zehn Kilometer entfernt.« »Ich habe viel Platz hier«, versicherte Ullward ihm stolz. »Fast dreiviertel Morgen. Möchten Sie es bei Mondlicht sehen?« »Oh, dürften wir?« Ullward trat an eine verkleidete Schalttafel. Die Sonne schien über den Himmel zu rasen. Abendrot überzog in tiefem Glühen das Tal. Der Himmel leuchtete pfauenblau, golden, grün, dann senkte die Dämmerung sich herab, und schließlich ging der Vollmond hinter den Bergen auf. »Es ist einfach wundervoll!« sagte Ravelin leise. »Wie bringen Sie es nur fertig, es zu verlassen?« »Es fällt mir schwer«, gestand Ullward. »Aber ich muß mich ja auch um die Geschäfte kümmern. Mehr Geld, mehr Platz.« Er drehte einen Knopf. Der Mond glitt über den Himmel. Sterne funkelten und formten uralte Muster. Ullward erklärte die Sternbilder und nannte die größeren Sterne bei Namen. Als Zeigestab benutzte er einen Glühstift. Und dann überzog der Himmel sich lavendelfarbig und zitronengelb, und die Sonne ging auf. Unsichtbare Leitungen bliesen kühle Luft durch die Lichtung. »Ich verhandle gerade um Raum hinter dieser Wand.« Er tupfte auf das dargestellte Gebirge: eine Illusion, der durch Laminierung in der Scheibe der Schein von Echtheit und Dreidimensionalität verliehen wurde. »Er ist ziemlich groß – mehr als dreißig Quadratmeter. Natürlich verlangt der Eigentümer ein Vermögen dafür.«
»Erstaunlich, daß er überhaupt verkaufen will«, wunderte sich Ted. »Dreißig Quadratmeter gewähren einem eine echte Privatsphäre!« »Es ist auch nur aufgrund eines Todesfalls in der Familie zu vergeben«, erklärte Ullward. »Der Ururururgroßvater des Besitzers starb, deshalb ist der Raum zu haben.« Ted nickte. »Ich hoffe, Sie bekommen ihn.« »Das hoffe ich auch. Ich habe ziemlich große Ambitionen: Ich möchte versuchen, nach und nach den ganzen Viertelblock zu erstehen. Aber das dauert natürlich. Niemand verkauft gern seinen Wohnraum, während alle scharf darauf sind zu kaufen.« »Nicht wir!« erklärte ihm Ravelin frohmütig. »Wir haben unser kleines Zuhause, es ist mollig und gemütlich, und wir sparen unser Geld für ein günstiges Investment.« »Sehr klug«, lobte Ullward. »So viele Menschen sind platzarm, und wenn sie dann eine Chance hätten, Geld anzulegen, wo es sich rentiert, haben sie nicht genügend. Bis ich meinen Volltreffer mit den Verdauungspastillen machte, wohnte ich in einem winzigen Mietalkoven. Es war enger als eng – aber ich bedauere es bis heute nicht.« Sie kehrten durch die Lichtung zu Ullwards Haus zurück. An der Eiche blieben sie stehen. »Sie ist mein besonderer Stolz«, sagte Ullward. »Eine echte Eiche!« »Echt?« staunte Ted. »Ich hielt sie für eine Nachahmung.« »Das tun viele«, erwiderte Ullward. »Nein, sie ist wirklich echt.« »Mach eine Aufnahme davon, Iugenae, bitte. Aber rühr sie nicht an, du könntest die Rinde beschädigen.« »Nein, nein, sie darf sie ruhig berühren«, versicherte ihnen Ullward. »Sie ist nicht empfindlich.« Er blickte zu den Ästen hoch, dann schaute er auf den Boden, bückte sich und hob ein Blatt auf. »Das ist auf dem Baum gewachsen«, erklärte er dem Mädchen. »Komm mal mit,
Iugenae, dann zeige ich dir etwas.« Er nahm sie mit zum Steingarten und rückte einen simulierten Stein zur Seite. Ein Schränkchen mit Waschbecken kam zum Vorschein. »Paß nun gut auf«, sagte er. Er deutete auf das Blatt. »Siehst du? Es ist verdorrt, braun und zerfällt fast in der Hand.« »Ja, Lamster Ullward.« Iugenae verrenkte sich beinahe den Hals. »Zuerst tauche ich es in diese Lösung.« Er nahm ein weites Gefäß mit dunkler Flüssigkeit von einem Fach. »So, dadurch bekommt es seine grüne Farbe wieder. Wir waschen das Zuviel ab und trocknen das Blatt. Jetzt reiben wir diese Flüssigkeit vorsichtig ein. Schau, wie biegsam und stark es jetzt ist! Und nun noch eine Lösung – eine Plastikbeschichtung, schon ist es fertig, und da haben wir es, ein richtiges Eichenblatt, völlig echt. Es gehört dir! « »Danke! Vielen, vielen Dank!« Sie rannte zu ihren Eltern, die am Teich standen und die Illusion der Weite genossen und die Frösche beobachteten. »Seht doch, was Lamster Ullward mir geschenkt hat!« »Paß gut darauf auf«, mahnte Ravelin. »Wir suchen zu Hause einen hübschen Rahmen dafür, dann kannst du es in deine Nische hängen.« Die simulierte Sonne stand am Westhimmel. Ullward führte die drei zu einer Sonnenuhr. »Eine Antiquität, unvorstellbar alt – reiner Marmor, handbehauen. Sie funktioniert sogar. Passen Sie auf. Drei Uhr fünfzehn nach dem Schatten auf der Uhr…« Er blickte auf seine Gürteluhr, dann blinzelte er zur Sonne hoch. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.« Er rannte zur Armaturentafel und nahm eine kleine Änderung vor. Die Sonne schlingerte zehn Grad höher. Ullward kehrte zurück, verglich noch einmal Sonnen- und Gürteluhr. »So ist es schon besser«, sagte er. »Sehen Sie, drei Uhr fünfzehn auf beiden. Ist das vielleicht nichts?«
»Es ist wundervoll«, sagte Ravelin ernst. »Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe«, flüsterte Iugenae. Ravelin schaute sich noch einmal um und seufzte wehmütig. »Wir gehen nur ungern«, gestand sie, »aber ich fürchte, wir müssen nach Hause zurück.« »Es war ein herrlicher Tag, Lamster Ullward«, versicherte Ted dem Gastgeber. »Ein köstlicher Lunch, und es war ein großartiges Erlebnis für uns, Ihre Ranch bewundern zu dürfen.« »Sie müssen bald wieder heraus kommen«, lud Ullward sie ein. »Ich freue mich immer über Besuch.« Er führte sie ins Eßzimmer, durch das Wohnschlafzimmer zur Tür. Die Seehoes warfen einen letzten Blick auf das geräumige Innere, dann schlüpften sie in ihre Mäntel und die Laufschuhe und verabschiedeten sich. Ullward ließ die Tür zur Seite gleiten. Die Seehoes schauten hinaus und warteten auf eine Verkehrslücke. Als es soweit war, zogen sie die Kapuzen tief ins Gesicht und traten hinaus auf den Korridor. Die Laufschuhe beförderten sie. Sie wählten die programmierten Biegungen und glitten automatisch in die richtigen Schwebelifte. Deflektorfelder zwängten sie durch die Menschenrassen. Wie die Seehoes trug jeder einen Kapuzenmantel aus dünnem reflektierendem Material, um die Privatsphäre zu sichern. Die Illusionsscheiben an der Korridordecke zeigten Türme, die in einen strahlendblauen Himmel ragten, so daß der Eindruck erweckt wurde, die Fußgänger spazierten über eine der windigen Straßen auf der Oberfläche. Die Seehoes näherten sich ihrem Zuhause. Zweihundert Meter davor sahen sie zu, daß sie an die Wand kamen und sich dort halten konnten, denn wenn der Verkehr sie vorbeitrug, wären sie gezwungen, sich um den ganzen Block herumtragen
zu lassen, um vielleicht bei einem zweiten Versuch in ihr Heim zu gelangen. Die Tür glitt bei ihrem Herankommen auf. Sie warfen sich in die Öffnung und schwangen herum, wobei sie sich an der Metallklammer festhielten. Sie schlüpften aus ihren Mänteln und Laufschuhen und glitten geschickt aneinander vorbei. Iugenae drehte sich auf einem Bein hinein in die Toilette, und so hatten Ted und Ravelin Platz, sich niederzusetzen. Die Wohnung war für drei ziemlich klein. Sie hätten gut noch drei oder vier Quadratmeter mehr brauchen können, aber statt die unverschämt hohe Miete dafür zu bezahlen, wollten sie das Geld lieber für Iugenae sparen, für später. Ted seufzte zufrieden und streckte die Beine genußvoll unter Ravelins Stuhl aus. »Ullwards Ranch ist ja herrlich, aber es ist doch schön, wieder zu Hause zu sein.« Iugenae zwängte sich rückwärts aus der Toilette. Ravelin blickte auf. »Zeit für deine Pille, Kind.« Iugenae schnitt eine Grimasse. »O Mama! Warum muß ich Pillen nehmen? Ich bin völlig gesund.« »Sie sind gut für dich, Liebes.« Iugenae nahm verdrossen eine Pille aus einer Dose. »Runy sagt, ihr laßt uns die Pillen bloß nehmen, damit wir nicht so schnell groß werden.« Ted und Ravelin wechselten einen Blick. »Nimm deine Pille, und achte nicht auf Runys Gerede.« »Aber woher kommt es dann, daß ich mit achtunddreißig eine Figur wie ein Brett habe, und Ermara Burk, die erst zweiunddreißig ist, wie eine erwachsene Frau aussieht?« »Keine Widersprüche, Liebling. Schluck deine Pille.« Ted sprang auf. »Komm, Baby, setz dich.« Iugenae protestierte, aber Ted hob die Hand. »Ich setze mich in die Nische. Ich muß noch ein paar Anrufe machen.«
Er zwängte sich seitwärts an Ravelin vorbei und kauerte sich in die Nische vor den Kommunikationsschirm. Die Illusionsscheibe dahinter war eine Sonderanfertigung – Ravelin hatte sie höchstpersönlich entworfen. Sie simulierte eine fröhliche Räuberhöhle: Die Wände waren mit roter und gelber Seide behangen, auf einem Holztisch stand eine Schale mit Früchten, auf der Holzbank lag eine Gitarre, und auf einem eisernen Herd sprudelte Wasser in einem kupfernen Teekessel. Die Scheibe war ziemlich teuer gewesen, aber wenn jemand die Seehoes anrief, war sie das erste, das der Anrufer sah, und so hatte Ravelin, die stolz auf ihr kleines Heim war, sich hier nicht lumpen lassen. Ehe Ted den Kommunikator benutzen konnte, blinkte das Licht. Er drückte auf den Einschalter. Loren Aigle, sein Freund, erschien auf dem Schirm, und es sah aus, als säße er in einer romantischen Gartenlaube, über die Schafchenwolken dahinzogen – eine Illusion, die Ravelin gleich beim erstenmal als billige Tausendware erkannt hatte. Loren und seine Frau Elme waren furchtbar neugierig, etwas über den Besuch der Seehoes auf Ullwards Ranch zu erfahren. Ted beschrieb den Nachmittag in allen Einzelheiten. »Platz, Platz und noch mehr Platz! Eine reine und simple Zurückgezogenheit! Absolute Privatsphäre! Du kannst es dir nicht vorstellen! Ein Vermögen an Illusionsscheiben.« »Schön«, murmelte Loren Aigle. »Jetzt erzähl’ ich dir was, das du kaum glauben kannst. Ich habe heute einen ganzen Planeten auf einen Mann eingetragen!« Loren arbeitete im Registrierbüro der Agentur für extraterrestrischen Besitz. Ted blinzelte verwirrt. Er verstand nicht recht. »Einen ganzen Planeten? Wie kam es dazu?« Loren erklärte. »Der Mann ist freiberuflicher Raumfahrer. Ein paar gibt es immer noch.« »Aber was will er mit einem ganzen Planeten machen?«
»Dort leben«, sagt er. »Allein?« Loren nickte. »Ich unterhielt mich eingehend mit ihm. Die Erde ist schön und gut, sagt er, aber er zieht die Zurückgezogenheit seines eigenen Planeten vor. Kannst du dir das vorstellen?« »Um ehrlich zu sein, nein! Genausowenig wie die vierte Dimension. Erstaunlich, wirklich!« Sie beendeten ihr Gespräch, und der Schirm wurde dunkel. Ted drehte sich zu seiner Frau um. »Hast du das gehört?« Ravelin nickte. Sie hatte es gehört, aber nicht sonderlich darauf geachtet, weil sie dabei war, die Speisekarte der Verpflegungsfirma zu studieren, bei der sie für ihre Verköstigung eingetragen waren. »Nach diesem ausgiebigen Mittagessen genügt etwas Leichtes«, meinte sie und blickte Ted fragend an. »Sie bieten wieder einmal simulierte synthetische Algen an.« Ted rümpfte die Nase. »Die sind bei weitem nicht so gut wie die echt synthetischen.« »Aber billiger, und schließlich hatten wir zum Lunch ja wirklich mehr als genug.« »Mir brauchst du nichts bestellen, Mama!« rief Iugenae. »Ich gehe mit Runy aus.« »Oh, tatsächlich? Und wohin geht ihr, wenn ich fragen darf?« »Wir machen eine kleine Fahrt um die Welt. Wir nehmen den Shuttle um neunzehn Uhr. Ich muß mich also beeilen.« »Komm nach der Rundreise sofort heim!« befahl Ravelin streng. »Mach ja keinen Abstecher irgendwohin.« »Um Himmels willen, Mama, du stellst dich ja an, als würde ich ausreißen oder so was.« »Hör auf mich, Kätzchen. Auch ich war einmal ein junges Mädchen. Hast du deine Medizin genommen?«
»Ja, habe ich.« Iugenae verließ die Wohnung. Ted schlüpfte in die Nische. »Wen rufst du denn jetzt an?« fragte Ravelin. »Lamster Ullward. Ich möchte mich noch einmal für die Gastfreundschaft bedanken.« Ravelin pflichtete ihm bei, daß das für einen so schönen Nachmittag auch angebracht war. Ted bekam seine Verbindung, sagte noch mal seinen herzlichen Dank, und dann erwähnte er zufällig den Mann, dem ein Planet gehörte. »Ein ganzer Planet?« erkundigte sich Ullward. »Er muß doch bewohnt sein.« »Nein, soviel ich verstanden habe, nicht, Lamster Ullward. Stellen Sie sich das nur vor! Denken Sie nur an die Privatsphäre, an die Zurückgezogenheit!« »Und was glauben Sie, was ich habe?« fragte Ullward fast beleidigt. »Oh, natürlich, Lamster Ullward, Ihre Ranch ist etwas, um das Sie jeder beneiden muß!« »Der Planet muß sehr primitiv sein«, sagte Ullward nachdenklich. »Aber trotzdem, interessant – das heißt, wenn man so was mag. Wer ist denn der Besitzer?« »Das weiß ich nicht, Lamster Ullward, doch ich könnte es sicher erfahren, wenn Sie möchten.« »O nein, nein, machen Sie sich nicht die Mühe. So sehr interessiert es mich auch nicht. War nur ein flüchtiger Gedanke. Armer Kerl, lebt vermutlich unter einer Kuppel.« »Das wäre schon möglich, Lamster Ullward. Also noch einmal, herzlichen Dank, und gute Nacht.«
Der Name des Raumfahrers war Kennes Mail. Er war etwas kurz geraten und dünn, aber so zäh wie ein synthetischer
Hering und braun wie zu lange getoastetes Hefebrot. Er trug sein graues Haar im Bürstenschnitt, und die blauen Augen verrieten Scharfsinn. Er zeigte höfliches Interesse an Ullwards Ranch, aber Ullward fand seine wiederholte Bemerkung »geschickt gemacht« ein wenig taktlos. Ehe sie zum Haus zurückkehrten, blieb Ullward an der Eiche stehen, um sie wie immer zu bewundern. »Sie ist absolut echt, Lamster Mail. Ein lebender Baum aus einer längst vergangenen Zeit. Haben Sie auf Ihrem Planeten auch so schöne Bäume?« Kennes Mail lächelte. »Lamster Ullward, verglichen mit meinen Bäumen ist das nicht viel mehr als ein Strauch. Setzen wir uns doch irgendwo hin, dann zeige ich Ihnen Bilder.« Ullward hatte bereits erwähnt, daß er nicht abgeneigt wäre, extraterrestrischen Landbesitz zu erwerben. Mail seinerseits hatte nicht verschwiegen, daß er Geld brauchte und sich deshalb vielleicht etwas arrangieren ließ. Als sie am Tisch saßen, öffnete Mail sein Köfferchen. Ullward schaltete den Wandschirm ein. »Sie sollten sich zuerst die Karte ansehen«, meinte Mail. Er wählte eine Rolle aus und steckte sie in den Tischanschluß. Die Abbildung eines Globus leuchtete an der Wand auf: Meere, eine gewaltige äquatoriale Landmasse namens Gaea, und kleinere Kontinente, die er Atalanta, Persephone und Alcyone nannte. Auf der Tafel neben dem Globus stand: MAILS PLANET Claim eingetragen und von der Agentur für extraterrestrischen Besitz bestätigt OBERFLÄCHE: .87 Erdnorm GRAVITATION: . 93 Erdnorm ROTATION: 22,15 Erdstunden
SONNENUMLAUF: 2,97 Erdjahre ATMOSPHÄRE: Belebend KLIMA: Gesundheitsfördernd NEGATIVE EIGENSCHAFTEN: Keine BEVÖLKERUNG: 1 Mail deutete auf einen Punkt an der Ostküste Gaeas. »Ich lebe hier. Im Augenblick habe ich nur ein einfaches Camp. Ich brauche Geld, um mich einrichten zu können. Ich bin bereit, einen der kleineren Kontinente zu verpachten, oder, wenn es Ihnen lieber ist, einen Teil von Gaea, sagen wir von den Nebelbergen im Westen bis zum Meer.« Mit einem Lächeln wehrte Ullward ab. »Nein, mit einem Stück begnüge ich mich nicht, Lamster Mail. Ich möchte die ganze Welt kaufen. Sie nennen mir einen Preis, und wenn ich ihn für angemessen halte, stelle ich Ihnen einen Scheck aus.« Mail warf ihm einen schrägen Blick zu. »Sie haben ja noch nicht einmal die Bilder gesehen.« »Stimmt.« Mit geschäftsmäßigem Ton sagte Ullward: »Natürlich, die Bilder. Zeigen Sie sie mir.« Mail drückte auf den Vorführknopf. Landschaften von ungewöhnlich wilder Schönheit waren auf dem Schirm zu sehen: schroffe Berge, tobende Flüsse, schneebepuderte Wälder, Sonnenaufgang auf dem Meer und Sonnenuntergang in der Prärie, grüne Hügel, Wiesen mit farbenfrohen Blumen, Strand so weiß wie Milch. »Recht freundlich«, sagte Ullward. »Recht nett.« Er zog sein Scheckbuch. »Wieviel?« Mail lachte und schüttelte den Kopf. »Ich verkaufe nicht. Ich bin bereit, ein Stück zu verpachten – vorausgesetzt, ich bekomme, was ich verlange, einschließlich einer Garantie, daß meine Gesetze anerkannt werden.«
Ullward kniff sichtlich verärgert die Lippen zusammen und schüttelte ganz leicht den Kopf. Mail stand auf. »Nein, nein«, hielt Ullward ihn hastig zurück. »Ich überlegte nur… Lassen Sie mich die Karte noch einmal sehen.« Mail schaltete auf die Karte um. Ullward studierte die einzelnen Kontinente und erkundigte sich nach Physiographie, Klima, Flora und Fauna. Schließlich traf er seine Entscheidung. »Ich pachte Gaea.« »Nein, Lamster Ullward«, wehrte Mail ab. »Das ganze Gebiet, von den Nebelbergen und dem Calliopefluß ostwärts, ist für mich reserviert. Der westliche Teil steht zur Verfügung. Er ist etwas kleiner als Atalanta oder Persephone, aber dafür herrscht dort milderes Klima.« »Aber es gibt keine Berge im Westen«, protestierte Ullward. »Nur diese unbedeutende Felsburg-Formation, wie Sie sie nennen.« »Sie sind alles andere als unbedeutend«, versicherte ihm Mail. »Außerdem gehören die Purpurvogelberge dazu, und hier im Süden liegt der Monte Cariasco, ein tätiger Vulkan. Was können Sie mehr verlangen?« Ullward blickte über seine Ranch. »Ich bin es gewohnt, in großen Maßstäben zu denken.« »Westgaea ist ein sehr großer Besitz.« »Na gut«, brummte Ullward. »Und Ihre Auflagen?« »Ich bin nicht habgierig, was Geld anbelangt«, antwortete Mail. »Für eine zwanzigjährige Pacht, würde ich sagen, zweihunderttausend im Jahr, und für die ersten fünf Jahre zahlbar im voraus.« Ungläubig starrte Ullward ihn an. »Lamster Mail!« protestierte Ullward. »Das ist ja fast die Hälfte meines Einkommens!« Mail zuckte die Schultern. »Ich will mich nicht an Ihnen bereichern. Ich möchte mir lediglich ein Blockhaus bauen. Das
kostet Geld. Wenn Sie es sich nicht leisten können, muß ich eben jemanden suchen, der das Geld hat.« Gereizt versicherte ihm Ullward: »Natürlich kann ich es mir leisten, aber es ist zuviel, meine ganze Ranch hier kostet weniger als eine Million.« »Entweder Sie wollen, oder Sie wollen nicht«, brummte Mail. »Ich nenne Ihnen meine Bedingungen, dann können Sie es sich ja immer noch überlegen.« »Was für Bedingungen?« fragte Ullward heftig mit hochrotem Kopf. »Völlig simpel, und sie sollen nur dazu dienen, eine Verletzung unserer Privatsphären auszuschließen. Als erstes: Sie haben auf Ihrem eigenen Grundstück zu bleiben. Also keine Ausflüge auf meinem Eigentum. Zweitens: Sie dürfen nicht weiterverpachten. Drittens: keine Bewohner, außer Ihnen selbst und Ihrer Familie und Ihren Dienstboten. Ich will auf keinen Fall, daß dort irgendwelche Künstlerkolonien oder Ähnliches aus dem Boden sprießen, genausowenig wie ich eine laute Kuratmosphäre dort dulden würde. Selbstverständlich steht es Ihnen frei, Gäste einzuladen, aber auch sie dürfen die Grenzen Ihres Grundstücks nicht überschreiten.« Er warf einen schnellen Seitenblick auf Ullwards düsteres Gesicht. »Das sind keine unvernünftigen Forderungen, Lamster Ullward. Gute Zäune sorgen für gute Nachbarschaft, und ich halte es für besser, wir klären das jetzt mit freundlichen Worten, als später mit Strahlengewehren und endlosen Streitigkeiten.« »Lassen Sie mich die Bilder noch einmal sehen«, bat Ullward. »Zeigen Sie mir Westgaea.« Er betrachtete die Landschaft noch einmal ausgiebig und seufzte tief. »Also gut, einverstanden.«
Der Bautrupp war aufgebrochen. Ullward war nun allein auf Westgaea. Er spazierte um das neue Blockhaus herum, atmete tief und genußvoll die herrliche Luft ein und erfreute sich der absoluten Ruhe und Abgeschlossenheit. Das Haus hatte ein Vermögen gekostet, aber wie viele Menschen besaßen – oder vielmehr hatten etwas gepachtet, das mit dem hier vergleichbar wäre? Er wandelte um die vordere Terrasse, blickte stolz über Kilometer – echte, nicht simulierte Kilometer – und Kilometer Landschaft. Für sein Haus hatte er sich eine Felsenplatte ziemlich am Fuß des Ullward-Gebirges (er hatte die Purpurvogelberge umgetauft) ausgesucht. Vor ihm dehnte sich eine gewaltige goldene Savanne mit blaugrünen Bäumen aus, und dahinter erhoben sich hohe graue Felswände. Ein Wildbach toste durch eine schmale Kluft. Er schäumte und spritzte und kühlte angenehm, bis er schließlich in einem herrlich klaren See zur Ruhe kam, an dessen Ufer Ullward ein Badehäuschen aus rotem, grünem und braunem Kunststoff hatte errichten lassen. Am Fuß der Felswände und aus den Spalten wuchsen büschelweise stachelige blaue Kakteen, saftige grüne Büsche mit roten Trompetenblumen und dickblättrige weiße Pflanzen mit hohen weißen Blütenstengeln.
Abgeschiedenheit! Eine echte herrliche Einsamkeit! Keine vibrierenden Fabriken, kein donnernder Verkehrslärm kaum einen Meter vom Bett entfernt! Einen Arm ausgestreckt, den anderen an die Brust gewinkelt, führte Ullward einen begeisterten Freudentanz auf. Wäre er dazu imstande gewesen, hätte er Rad geschlagen. In einer solch unbeschränkten Privatsphäre ist nichts verboten! Noch einmal schritt Ullward die Terrasse auf und ab und warf einen letzten zufriedenen Blick zum Horizont. Die Sonne
ging zwischen rotumsäumten Wolken unter. Welch wundervolle Farbentiefe! Und diese leuchtenden Rottöne, wie sie nur in den besten Illusionsscheiben erreicht werden konnten. Er betrat sein Haus und traf seine Auswahl aus dem Verköstigungsschrank. Nach einem geruhsamen Mahl ging er ins Wohnzimmer, und nach kurzem Überlegen zurück auf die Terrasse! Es war eine herrlich klare Nacht voll funkelnder Sterne, die wie weiße Lämpchen am Firmament standen, fast so, wie er sie sich immer vorgestellt hatte. Zehn Minuten lang bewunderte er den Nachthimmel, dann kehrte er ins Haus zurück. Was jetzt? Er drehte sich zum Wandschirm mit seiner Auswahl aufgezeichneter Programme um. Wohlig und zufrieden genoß Ullward die kürzliche Aufführung eines Musicals. Das ist wahrer Luxus, sagte er sich. Zu schade, daß er seine Freunde nicht über Nacht einladen konnte. Aber eben unmöglich, wenn man die lange Reise von der Erde zum Mailsplaneten bedachte. Doch schon in drei Tagen würde sein erster Besuch eintreffen. Er hatte Elf Intry eingeladen, eine junge Frau, die auf der Erde mehr als freundlich zu ihm gewesen war. Wenn sie erst hier war, würde er eine Sache zur Sprache bringen, die ihm schon lange durch den Kopf ging, nämlich genau seit er zum erstenmal von Mails Planeten gehört hatte.
Elf Intry kam am Frühnachmittag in einer Kapsel an, die vom wöchentlichen Außenringexpreß abgeschossen worden war. Obwohl sie normalerweise gut gelaunt war, begrüßte sie Ullward gereizt. »Wer ist dieser Bursche auf der anderen Planetenseite?«
»Der alte Mail«, antwortete Ullward ausweichend. »Wieso, was ist denn passiert?« »Der Idiot im Expreß hat der Kapsel die falschen Koordinaten eingegeben, und sie landete auf einem Strand. Ich sah ein Haus und dann einen nackten Mann hinter Büschen Seilhüpfen. Natürlich dachte ich, du bist es. Ich schlich mich an, um dich zu erschrecken, und rief ›Buhu!‹ Du hättest hören sollen, wie er mich angefahren hat!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, daß du einen solchen Burschen auf deinem Planeten duldest.« Der Summer der Kommunikationsanlage enthob Ullward einer Antwort. »Das ist Mail«, erklärte Ullward. »Bleib du hier. Ich werde ihm sagen, was ich von seiner Behandlung meiner Gäste halte.« Kurz darauf kehrte er auf die Terrasse zurück. Elf küßte ihn auf die Nasenspitze. »Ully, du bist ja bleich vor Zorn! Ich hoffe, du hast nicht deine Beherrschung verloren.« »Nein«, murmelte Ullward. »Wir haben lediglich – nun, wir kamen zu einer Einigung. Komm mit, sieh dich um.« Er führte Elf um das Haus, zeigte ihr den See, den Wasserfall und die Felsen darüber. »So etwas siehst du auf keiner Illusionsscheibe! Das ist alles echt!« »Reizend, Ully, sehr nett. Allerdings dürfte der Farbton etwas dunkler sein. Fels sieht nicht so aus.« »Nein?« Ullward betrachtete das Gestein kritisch. »Ich fürchte, dagegen kann ich nichts unternehmen. Wie findest du die Abgeschiedenheit?« »Wundervoll! Es ist so still, fast unheimlich!« »Unheimlich?« Ullward schaute sich um. »So empfand ich es eigentlich nicht.« »Nun, du bist nicht so sensibel, was diese Dinge anbelangt, Ully. Aber es ist recht nett, wenn man von der Anwesenheit dieser unangenehmen Kreatur Mail in dieser Nähe absieht.«
»Nähe?« entgegnete Ullward. »Er ist doch auf der anderen Seite des Kontinents!« »Das schon«, erwiderte Elf. »Es ist wohl alles relativ. Wie lange gedenkst du hier zu bleiben?« »Das kommt darauf an. Gehen wir hinein. Ich möchte mit dir sprechen.« Er bot ihr einen Sessel an und brachte ihr ein Kugelglas Glukofruchtoidnektar. Für sich selbst mixte er einen Drink aus Ethylalkohol, Wasser und ein paar Tropfen Haigs Altem Ester. »Elf, wo stehst du auf der Reproduktionsliste?« Sie hob die schmalen Brauen und schüttelte den Kopf. »So tief unten, daß ich es mir gar nicht gemerkt habe. An fünfzig- oder sechzigmilliardster Stelle.« »Ich an siebenunddreißigmilliardster. Das ist einer der Gründe, weshalb ich dieses Landstück gekauft habe. Warteliste, pah! Niemand hat ein Recht, Bruham Ullward zu sagen, wie viele Kinder er auf seinem eigenen Planeten haben darf!« Elf schüttelte traurig den Kopf. »So geht es nicht, Ully.« »Und weshalb nicht?« »Weil du die Kinder nicht zur Erde mitnehmen kannst. Sie dürften sie überhaupt nicht betreten.« »Das stimmt, aber denk doch nur, wie schön es wäre, hier von Kindern umgeben zu leben! Kinder, soviel man will! Und absolute Privatsphäre! Was mehr kann man sich wünschen?« Elf seufzte. »Du hast so herrliche Illusionen, Ully. Nur für mich wäre das nichts. Ich liebe Ruhe und Einsamkeit, aber ich möchte doch mehr Leute ringsum, von denen ich mich absondern kann.«
Der Außenringexpreß kam vier Tage danach vorbei. Elf küßte Ullward zum Abschied. »Es ist einmalig hier, Ully. Die Einsamkeit ist so großartig, daß ich Gänsehaut davon bekomme. Es war ein schöner Urlaub.« Sie stieg in die Kapsel. »Auf Wiedersehen auf der Erde.« »Einen Moment noch«, hielt Ullward sie plötzlich zurück. »Ich möchte, daß du ein paar Briefe mitnimmst.« »Beeil dich! Ich habe nur zwanzig Minuten.« Ullward war in zehn zurück. »Einladungen«, erklärte er atemlos. »An Freunde.« »Gut.« Sie küßte ihn auf die Nasenspitze. »Lebe wohl, Ully.« Sie schloß die Schleuse, die Kapsel zischte hoch, dem Expreß entgegen. Die neuen Gäste trafen drei Wochen später ein: Frobisher Worbeck, Liornetta Stobart, Harris und Hyla Cabe, Ted, Ravelin und Iugenae Seehoe, Juvenal Aquister und ihr Sohn Runy. Ullward, der braun vom Sonnenbaden war, begrüßte sie begeistert. »Willkommen in meiner kleinen Zuflucht. Ich freue mich riesig, euch alle hierzuhaben! Frobisher, Sie rosiger alter Gauner! Und Iugenae! Hübscher denn je! Passen Sie bloß auf, Ravelin! Ich habe ein Auge auf Ihre Tochter! Aber da Runy hier ist, dürfte ich wohl kaum eine Chance haben! Liornetta, wie schön, daß Sie kommen konnten! Und Ted! Wundervoll, Sie wiederzusehen, alter Junge! Das hier verdank’ ich im Grund genommen eigentlich alles Ihnen, wissen Sie? Harris, Hyla, Juvenal – kommen Sie herauf! Und jetzt einen Begrüßungsdrink!« Ullward rannte von einem zum anderen, klopfte ihnen auf die Schulter, tätschelte sie am Arm und zog den etwas langsamen Frobisher Worbeck mit sich, als er die Gäste den Hang zur Terrasse hinaufführte. Oben drehten sie sich um und
bewunderten die Aussicht. Ullward lauschte ihren Bemerkungen mit zufriedenem Lächeln. »Großartig!« »Herrlich!« »Absolut echt!« »Der Himmel ist so weit weg, daß ich fast Angst bekomme!« »Der Sonnenschein ist so rein!« »Das Echte ist eben noch immer das Beste, nicht wahr?« Runy sagte fast ein wenig sehnsuchtsvoll: »Ich dachte, Sie wohnten am Strand, Lamster Ullward.« »Am Strand? Hier ist Bergland, Runy, und weites, offenes Land! Schau doch mal über diese Ebene!« Liornetta Stobart legte die Hand auf Runys Schulter. »Nicht jeder Planet hat Küsten, Runy. Das Geheimnis des Glücklichseins liegt darin, mit dem zufrieden zu sein, was man hat.« Ullward lachte fröhlich. »Oh, ich habe Küsten und Strand, keine Angst. Etwa siebenundfünfzig Kilometer von hier ist ein unvergleichlicher Strand. Und jeder Fuß davon UllwardGebiet.« »Dürfen wir dort hin?« fragte Iugenae aufgeregt. »Dürfen wir, Lamster Ullward?« »Gewiß doch! Der Schuppen unten am Hang ist das Hauptquartier von Ullwards Fluglinie. Wir fliegen zum Strand und schwimmen in Ullwards Meer. Doch zuerst eine kleine Erfrischung. Nach der überfüllten Kapsel muß Ihnen die Gurgel völlig ausgetrocknet sein!« »So überfüllt war sie ja gar nicht«, versicherte ihm Ravelin Seehoe. »Wir waren doch nur zu neunt.« Sie blickte kritisch die Felswand hoch. »Als Illusionsscheibe würde ich sie grotesk finden.« »Meine teure Ravelin!« rief Ullward. »Sie ist beeindruckend! Einfach unnachahmbar!«
»Ganz sicher«, pflichtete ihm Frobisher Worbeck bei, ein hochgewachsener Mann mit weißem Haar, rosiger Gesichtsfarbe und blauen gütigen Augen. »Na, Bruham, wie wär’s jetzt mit den Drinks?« »Natürlich! Ted, wir kennen uns ja schon lange, wie wär’s, wenn Sie die Bar übernähmen? Hier ist der Alkohol, da das Wasser, und hier die Ester. Und ihr zwei«, wandte Ullward sich an Runy und Iugenae, »was haltet ihr von schöner kalter Limonade?« »Was haben Sie denn eigentlich für eine?« erkundigte sich Runy. »Alle möglichen Geschmacksrichtungen. Wir sind hier schließlich in Ullwards Zuflucht. Es gibt Methylamylglutamine, Cykloprodakterolphosphate, Methathiobromin-4-Glycocitrose…« Runy und Iugenae trafen ihre Wahl. Ullward brachte die Kugelgläser, dann beeilte er sich, es den Erwachsenen bequem zu machen. Schließlich saßen alle in weichen Sesseln und entspannten sich. Iugenae flüsterte Ravelin etwas zu. Ihre Mutter nickte nachsichtig. »Lamster Ullward, erinnern Sie sich an das schöne Eichenblatt, das Sie Iugenae schenkten?« »Aber natürlich.« »Es ist immer noch so frisch und grün. Wäre es vielleicht möglich, daß Sie ihr ein paar Blätter von diesen anderen Bäumen hier geben?« »Meine liebe Ravelin!« Ullward lachte laut. »Sie kann einen ganzen Baum haben, wenn sie möchte!« »O Mutter, bitte…« »Iugenae, mach dich nicht lächerlich!« rief Ted scharf. »Wie sollten wir ihn heim bekommen? Wo würden wir ihn einpflanzen? In der Toilette, vielleicht?«
Tröstend sagte Ravelin: »Sucht ein paar schöne Blätter, du und Runy, aber verlauft euch nicht.« »Nein, Mutter.« Iugenae winkte Runy zu. »Komm, nimm einen Korb mit.« Die anderen blickten über die Savanne. »Eine herrliche Aussicht, Ullward«, sagte Frobisher Worbeck. »Wie weit reicht denn Ihr Land?« »Von hier siebenhundertfünfzig Kilometer westwärts bis zum Meer, tausend Kilometer bis zu den Bergen im Osten, fünfzehnhundert Kilometer zum Norden, und dreihundert Kilometer in den Süden.« Worbeck nickte ernst. »Sehr schön. Nur schade, daß Sie nicht den ganzen Planeten bekommen konnten, dann hätten Sie eine wirkliche Privatsphäre.« »Ich versuchte es natürlich«, erklärte ihm Ullward. »Aber der Besitzer ließ sich nicht dazu überreden, den Planeten zu verkaufen.« »Zu dumm!« Ullward brachte eine Karte zum Vorschein. »Aber sehen Sie, ich habe einen schönen Vulkan, ein paar beeindruckende Flüsse, eine Bergkette, und hier am Delta des Cinnamons einen absolut miasmatischen Sumpf.« Runy blickte auf den Ozean. »Das ist ja das Einsame Meer! Ich dachte, es hieße Ullward-Meer.« Ullward lachte ein wenig verlegen. »Was ist schon ein Name? Meine Rechte gelten bis fünfzehn Kilometer seeeinwärts. Das dürfte zum Schwimmen genügen.« »Das heißt demnach, daß Sie im Meer nicht machen dürfen, was Sie wollen, eh, Lamster Ullward?« sagte Harris Cabe lachend. »Nun, nicht ohne Einschränkung«, gestand Ullward. »Wie schade!« bemerkte Frobisher Worbeck.
Hyla Cabe deutete auf die Karte. »Sehen Sie sich doch diesen herrlichen Gebirgszug an! Das Wundergebirge! Und hier drüben – die Elysischen Gärten! Oh, ich möchte sie gern sehen, Lamster Ullward.« Verlegen schüttelte Ullward den Kopf. »Ich fürchte, das ist leider unmöglich. Sie sind nicht auf meinem Land. Ich habe sie selbst noch nicht einmal gesehen.« Seine Gäste blickten ihn erstaunt an. »Aber gewiß…« »Ich habe einen hieb- und stichfesten Vertrag mit Lamster Mail, nach dem wir beide uns in jedem Punkt peinlichst genau halten müssen«, erklärte Ullward. »Er betritt mein Land nicht, ich seines nicht, so ist unsere Privatsphäre gesichert.« »Sehen Sie her!« wandte Hyla Cabe sich an Ravelin. »Die Unvorstellbaren Höhlen! Macht es Sie nicht verrückt, daß Sie sie nicht sehen dürfen?« Hastig warf Aquister ein: »Es ist einfach herrlich, nur hier zu sitzen und diese wundervolle frische Luft atmen zu dürfen. Kein Lärm, keine Menschenmassen, kein Gedränge, keine Eile!« Bis zum Spätnachmittag saßen alle bei angeregter Unterhaltung und kühlen Getränken im angenehmen Sonnenschein. Mit Ravelin Seehoes und Hyla Cabes Hilfe stellte Ullward ein einfaches Mahl aus Hefepillen, spezialbehandelten Proteinen und dicken Scheiben Algenkräckern zusammen. »Kein tierisches Fleisch oder gekochte Pflanzen?« fragte Worbeck neugierig. »Probierte ich alles gleich am ersten Tag aus«, gestand Ullward. »Entsetzlich! Ich war eine ganze Woche krank.« Nach dem Essen sahen sie sich eine melodramatische Komödie auf dem Wandschirm an. Danach zeigte Ullward seinen Gästen ihre Zimmer, und nach einer Weile lauter
Neckereien und Hin- und Hergerufes wurde es still im Blockhaus. Am nächsten Tag ersuchte Ullward seine Gäste, die Badekostüme anzuziehen. »Wir fliegen zur Küste, aalen uns auf dem Strand und toben in der sanften Brandung des Einsamen Ullward-Meeres herum.« Die Gäste drängten sich vergnügt in den Luftwagen. Ullward zählte die Häupter seiner Besucher. »Alle an Bord!« rief er. »Auf geht’s!« Der Wagen stieg auf und flog westwärts, niedrig über die Savanne und dann hoch, um einen guten Überblick über die Felsburgformation zu haben. »Der höchste Gipfel – der dort im Norden – ist fast dreitausend Meter hoch. Sehen Sie, wie er hochragt! Und alles massives Gestein! Möchten Sie, daß das Ihnen auf die Zehen fällt? Na, Runy? Wäre nicht so angenehm, hm? Gleich werden wir eine Steilwand von dreihundert Metern sehen, die glatt wie ein Spiegel ist. Schauen Sie – dort! Was sagen Sie dazu?« »Sehr beeindruckend!« murmelte Ted. »Wie das Wundergebirge dann erst sein muß!« sagte Harris Cabe. »Wie hoch ist es, Lamster Ullward?« erkundigte sich Liornetta Stobart. »Wie hoch ist was?« »Das Wundergebirge!« »So genau weiß ich es nicht. Zehn- bis zwölftausend Meter, nehme ich an.« »Wie herrlich die Aussicht von dort sein muß!« seufzte Frobisher Worbeck. »Dagegen gleicht das hier vermutlich niedrigen Hügeln.« »Oh, auch diese Berge sind schön«, beeilte Hyla Cabe sich einzuwerfen.
»Selbstverständlich«, murmelte Frobisher Worbeck. »Ein großartiger Anblick. Sie sind zu beneiden, Bruham!« Ullward lachte und lenkte den Luftwagen westwärts. Sie flogen über ein sanftes bewaldetes Hügelland, und schon bald lag das Einsame Meer schimmernd vor ihnen. Ullward landete am Strand, und die Gesellschaft stieg aus.
Es war ein warmer Tag, und die Sonne strahlte hell. Eine frische Brise blies vom Ozean herbei. Die Brandung warf sich schäumend über den Sand. Die Gäste blickten mit gemischten Gefühlen darauf. Ullward breitete die Arme aus. »Na, gehen wir’s an? Lassen Sie sich doch nicht extra bitten. Wir haben das ganze Meer für uns.« »Es sieht gefährlich aus!« sagte Ravelin. »Diese tosenden Wellen!« Liornetta Stobart drehte sich kopfschüttelnd um. »Illusionsscheibenbrandung ist so sanft – aber das hier kann einen ja mitreißen und völlig durchschütteln!« »Etwas so Naturgewaltiges hatte ich nicht erwartet«, gestand Harris Cabe. Ravelin winkte Iugenae herbei. »Halt dich fern davon, Kätzchen. Ich möchte nicht, daß die Brandung dich hinaus in den Ozean trägt, dann würdest du feststellen, wie einsam dieses Meer tatsächlich ist.« Runy näherte sich dem Wasser, watete vorsichtig in zurückweichender Gischt. Eine hohe Welle brauste ihm entgegen. Hastig hüpfte er zurück. »Puh, ist das Wasser kalt!« beschwerte er sich. Ullward richtete sich hoch auf. »Ich geh’ es an. Ich werde Ihnen zeigen, wie man es macht!« Er trottete ins Wasser, blieb stehen, dann warf er sich auf eine Sturzwelle, mitten hinein in die weißen Schaumkronen.
Die Gruppe auf dem Strand sah ihm zu. »Wo ist er denn?« fragte Hyla Cabe. Iugenae deutete ins Wasser. »Ich sah irgendwas von ihm da draußen – ein Bein oder einen Arm.« »Dort ist er!« rief Ted. »Wuff! Eine andere Welle hat ihn erfaßt. Na ja, manche Leute würden das vielleicht Sport nennen…« Ullward taumelte auf die Füße und torkelte durch die sich zurückziehenden Wogen an den Strand. »Ha! Großartig! So richtig belebend! Ted! Harris! Juvenal! Versucht es doch!« Harris schüttelte den Kopf. »Nein, Bruham, lieber nicht gleich heute.« »Ich auch erst das nächstemal«, rief Juvenal Aquister. »Vielleicht sind die Wogen dann nicht so grob.« »Aber lassen Sie sich von uns nicht aufhalten«, sagte Ted. »Schwimmen Sie ruhig, solange es Ihnen Spaß macht. Wir warten hier auf Sie.« »Oh, für heute genügt es mir«, antwortete Ullward. »Entschuldigen Sie mich bitte, während ich mich umziehe.« Als Ullward zurückkehrte, saßen seine Gäste bereits im Luftwagen. »Na, sind Sie alle schon aufbruchsbereit?« »Es ist so heiß in der Sonne«, erklärte Liornetta, »und von innen können wir die Aussicht besser genießen.« »Wenn man durch das Glas schaut, ist es fast wie eine Illusionsscheibe«, sagte Iugenae. »Aha, ich verstehe. Möchten Sie sich anderswo auf Ullwards Land umsehen?« Alle bekundeten ihre Zustimmung. Ullward startete den Luftwagen. »Wir können nordwärts zum Nadelwald fliegen, oder südwärts über den Monte Cariasco, der nur leider im Augenblick gerade nicht aktiv ist.« »Wohin immer Sie möchten, Lamster Ullward«, sagte Frobisher Worbeck. »Zweifellos ist es überall schön.«
Ullward ließ die verschiedenen Attraktionen seines gepachteten Gebiets vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. »Am besten zuerst zum Cinnamonsumpf.« Zwei Stunden lang flogen sie über den Sumpf, dann über den rauchenden Krater von Monte Cariasco, danach ostwärts zum Rand der Nebelberge, den Calliopefluß entlang bis zu seiner Mündung im Goldblattsee. Ullward deutete auf besondere Merkmale. Das bewundernde Gemurmel hinter ihm nahm allmählich ab und verstummte ganz. »Na, reicht es Ihnen?« rief Ullward fröhlich zurück. »Ein halber Kontinent an einem Tag ist ein wenig viel. Wollen wir uns etwas für morgen aufheben?« Einen Augenblick herrschte Stille, dann sagte Liornetta Stobart: »Lamster Ullward, wir sind einfach versessen darauf, das Wundergebirge zu sehen. Glauben Sie denn nicht, daß wir ganz kurz darüberfliegen könnten? Ich bin sicher, daß es Lamster Mail nichts ausmachen wird.« Ullward schüttelte mit etwas starrem Lächeln den Kopf. »Ich mußte unterschreiben, daß ich mich seinen genau definierten Bestimmungen füge. Ich hatte deshalb bereits eine kleinere recht unangenehme Auseinandersetzung mit ihm.« »Wie sollte er es denn überhaupt erfahren?« fragte Juvenal Aquister. »Er würde es vermutlich nicht«, gab Ullward zu, »aber…« »Es ist eine Gemeinheit, daß er Sie in diese öde, trostlose Halbinsel verbannt hat!« sagte Frobisher Worbeck ungehalten. »Bitte, Lamster Ullward!« schmeichelte Iugenae. »Na gut«, erwiderte Ullward nachgiebig. Er lenkte den Luftwagen westwärts. Die Nebelberge verloren sich hinter ihm. Die Gesellschaft blickte aus den Fenstern und bewunderte lautstark das verbotene Gebiet. »Wie weit ist das Wundergebirge entfernt?« erkundigte sich Ted.
»Oh, nicht sehr weit, noch etwa fünfzehnhundert Kilometer.« »Warum fliegen Sie so dicht über dem Boden?« fragte Frobisher Worbeck. »Hoch in die Luft, Mann, wir möchten die Gegend sehen!« Ullward zögerte. Mail schlief vermutlich. Und überhaupt, wenn man es so recht bedachte, hatte er doch gar kein Recht, einen harmlosen kleinen Ausflug zu verbieten… »Lamster Ullward!« rief Runy. »Da ist ein Luftwagen hinter uns.« Der Luftwagen flog dicht neben dem ihren. Kenneth Mails blaue Augen begegneten denen Ullwards über die geringe Entfernung. Er bedeutete Ullward zu landen. Ullward kniff die Lippen zusammen und lenkte den Wagen in die Tiefe. Ein Gemurmel der Entrüstung und des Bedauerns wurde auf den Rücksitzen laut. Unter ihnen erstreckte sich dunkler Nadelwald. Ullward setzte in einer hübschen kleinen Lichtung auf. Mail landete ganz in der Nähe, sprang ins Gras und winkte Ullward zu sich. Die beiden Männer entfernten sich von den Wagen. Die Gäste blickten ihnen nach und steckten ungehalten die Köpfe zusammen. Ullward blieb nicht lange aus. »Jeder zurück auf seinen Sitz!« sagte er knapp. Er startete den Wagen und flog westwärts. »Welche Entschuldigung hatte der Bursche denn, uns einfach aufzuhalten?« fragte Worbeck. Ullward kaute an der Unterlippe. »Er wollte wissen, ob wir uns verirrt hätten«, antwortete er schließlich. »Wir trennten uns in gutem Einvernehmen…« Seine Stimme klang nicht sehr überzeugend. Aber schließlich zwang er sich zu einem Anflug von Fröhlichkeit.
»Wir werden uns einen vergnügten Nachmittag zu Hause machen. Was interessieren uns Mail und seine verdammten Berge?« »Das ist die richtige Einstellung!« lobte Frobisher Worbeck.
Ted und Ullward wechselten sich am Abend an der Bar ab. Entweder der eine oder der andere mischte mehr Alkohol mit weniger Ester als üblich und gewohnt. Als Folge wurde die Party immer lärmender, und die Feiernden benahmen sich immer übermütiger. Ullward schimpfte über Mails ständige Einmischung. Worbeck zitierte Gesetze der vergangenen sechstausend Jahre, um zu beweisen, daß Mail ein Tyrann war. Die Frauen kicherten. Iugenae und Runy beobachteten sie mit unkindlichem Zynismus, dann zogen sie sich unauffällig zurück, um einem plötzlichen Einfall nachzugehen. Am nächsten Morgen schliefen alle ziemlich lange. Ullward schleppte sich als erster auf die Terrasse. Die anderen folgten nach und nach, bis nur noch Runy und Iugenae fehlten. »Diese Bälger!« stöhnte Worbeck. »Wenn sie sich verirrt haben, müssen sie ihren Weg zurück schon allein finden. Ich bin nicht imstande, bei einem Suchtrupp mitzumachen.« Gegen Mittag kehrten Runy und Iugenae in Ullwards Luftwagen zurück. »Großer Gott!« rief Ravelin schrill. »Iugenae, komm sofort zu mir! Wo seid ihr gewesen?« Juvenal Aquister blickte seinen Sohn streng an. »Hast du den Verstand verloren, Runy? Dir ohne Erlaubnis Lamster Ullwards Luftwagen zu nehmen!« »Ich habe ihn gestern abend darum gebeten!« erklärte Runy gekränkt. »Er sagte, wir dürften alles haben, außer dem Vulkan, weil er dort schläft, wenn er kalte Füße hat, und den
Sumpf sollten wir auch in Ruhe lassen, denn da wirft er seine leeren Dosen hinein.« »Trotzdem!« sagte Juvenal verärgert. »Du hättest vernünftiger sein müssen. Wo wart ihr überhaupt?« Runy wand sich verlegen unter seinem Blick. Iugenae antwortete: »Wir sind erst eine Weile südwärts geflogen, dann nach Westen abgebogen – nein, ich glaube, es war nach Osten. Wir dachten, wenn wir ganz tief fliegen würden, sähe uns Lamster Mail nicht. Also flogen wir tief, durch die Berge, und kamen bald zu einem Meer. Wir hielten uns an die Küste, bis wir ein Haus sahen. Wir landeten, um festzustellen, wer dort wohnte, aber es war niemand daheim.« Ullward unterdrückte ein Stöhnen. »Was will jemand überhaupt mit einem riesigen Käfig voll Vögel?« brummte Runy. »Vögel? Was für Vögel? Wo?« »Beim Haus. Da war ein Außenkäfig mit vielen großen Vögeln, aber irgendwie sind sie freigekommen, während wir sie angeschaut haben, und sie sind alle weggeflogen.« »Jedenfalls kamen wir zu dem Schluß«, fuhr Iugenae munter fort, »daß es nur Lamster Mails Haus sein konnte. Also schrieben wir auf einen Zettel, was wir alle von ihm halten, und befestigten ihn an der Haustür.« Ullward fuhr sich über die Stirn. Er war ganz bleich geworden. »Ist das alles?« »Na ja, fast alles«, antwortete Iugenae ein wenig ausweichend. Sie blickte Runy an, dann kicherten die beiden nervös. »Was noch?« brüllte Ullward. »Was, um Himmels willen, noch?« »Nicht viel mehr«, versicherte ihm Iugenae, während ihre Zehe einem Spalt im Terrassenboden folgte. »Wir haben einen
Eimer voll Wasser über der Tür versteckt, damit Mail naß wird, wenn er sie aufmacht.« Der Kommunikator im Haus summte. Alle blickten Ullward an. Ullward seufzte herzerweichend, erhob sich und ging hinein.
An diesem Nachmittag mußte der wöchentliche Außenringexpreß an Mails Planeten vorüberkommen. Frobisher Worbeck hatte plötzlich Gewissensbisse, daß er sein Geschäft vernachlässigte, während er sich hier faul in der Sonne aalte. »Aber, mein Teurer!« rief Ullward. »Die Entspannung ist gut für Sie!« »Sicher«, pflichtete Frobisher Worbeck ihm bei, wenn man ganz sicher wüßte, daß man sich auf seine Untergebenen auch wirklich verlassen könnte. Aber er hatte da schon Dinge erlebt. Sosehr er es auch bedauerte und obwohl er am liebsten noch wochenlang in dieser herrlichen Umgebung Urlaub machen wollte, hielt er es doch für nötig, daß er zu seinen Geschäften zurückkehrte – spätestens an diesem Nachmittag mußte er aufbrechen. Weitere der Gruppe erinnerten sich ebenfalls wichtiger Geschäfte zu Hause, und die, die eigentlich noch geblieben wären, hielten es für eine Verschwendung, die Kapsel halbleer hochzuschicken, und beschlossen ebenfalls heimzukehren. Ullwards Überredungsversuche stießen auf taube Ohren. Bedrückt begleitete er seine Gäste zur Kapsel, um ihnen Lebewohl zu sagen. Als sie durch die Schleuse traten, bedankten sie sich noch einmal überschwenglich. »Bruham, es war einfach himmlisch!« »Sie können sich ja gar nicht vorstellen, Lamster Ullward, wie wir den Besuch bei Ihnen genossen!«
»Die Luft, das weite Land, die Abgeschiedenheit – nie werde ich es vergessen!« »Es war unübertrefflich!« Die Schleuse schloß sich. Ullward trat ein paar Schritte zurück und winkte unsicher. Ted Seehoe griff nach dem Aktivierungsknopf. Ullward sprang mit einem Satz zur Kapsel und hämmerte an die Schleuse. »Warten Sie!« brüllte er. »Ich habe auch was auf der Erde zu erledigen! Ich komme mit!«
»Herein! Nur herein!« rief Ullward herzlich. Er öffnete seinen drei Bekannten die Tür: Coble und Heulia Sansom und ihrer jungen hübschen Kusine Landine. »Ich freue mich, daß Sie kommen konnten!« »Und wie sehr wir uns erst über Ihre Einladung freuten! Wir haben schon so viel über Ihre herrliche Ranch gehört, daß wir es kaum erwarten konnten, bis die Stunden heute endlich vergingen und wir aufbrechen durften.« »Na, na! So was Besonderes ist es nun auch wieder nicht!« »Nicht für Sie, vielleicht – da Sie ja immer hier leben!« Ullward lächelte. »Nun, ich muß gestehen, daß ich selbst sehr gern hier wohne. Möchten Sie zuerst einen kleinen Lunch, oder wollen Sie sich lieber zuvor ein wenig umsehen? Ich bin gerade mit ein paar Änderungen fertig geworden, und ich muß sagen, daß alles in bester Ordnung ist.« »Wir würden uns schrecklich gern gleich umschauen, dürfen wir?« »Aber gewiß. Kommen Sie hier herüber. Stellen Sie sich so. Jetzt – sind Sie bereit?« »Ja.« Ullward ließ die Wand zurückgleiten.
»Ohhh!« hauchte Landine. »Es ist wunderschön!« »Dieser viele Platz! Die Weite!« »Oh, ein Baum! Welch herrliche Simulation!« »Das ist keine Simulation«, versicherte ihnen Ullward. »Das ist eine echte Eiche!« »Lamster Ullward, Sie verkohlen uns doch nicht?« »Ich würde eine so hübsche junge Dame bestimmt nie belügen. Kommen Sie mit, dort hinüber.« »Lamster Ullward, die Felswand wirkt so echt, daß sie mich fast erschreckt.« Ullward grinste. »Ja, es ist eine bemerkenswert gute Arbeit.« Er bedeutete den anderen stehenzubleiben. »So – drehen Sie sich jetzt um.« Die drei drehten sich um. Sie blickten über eine weite goldene Savanne mit blaugrünen Bäumen. Ein großes Blockhaus erhob sich an ihrem Rand. Die Tür war die Öffnung in Ullwards Wohnzimmer. Die drei standen in ehrfürchtiger Bewunderung. Dann seufzte Heulia: »So viel Platz!« »Ich könnte schwören, ich sehe kilometerweit«, sagte Coble. Ullward lächelte eine Spur wehmütig. »Freut mich, daß Ihnen meine kleine Zuflucht gefällt. Nun, was halten Sie jetzt von Lunch? Es gibt echte Algen!«
Originaltitel: »Ullward’s Retreat« Copyright © 1958 by Galaxy Publishing Corps.; mit freundlicher Genehmigung des Autors
Die Gabe der Sprache
Es war Mittnachmittag über den Untiefen. Der Wind hatte sich gelegt. Das Meer lag träge und von Seidenglanz überzogen. Im Süden hing, einem schwarzen Besen gleich, Regen unter den Wolken, ansonsten war die Luft schneidend dick in rötlicher Düsternis. Dichte Seetangschichten schwammen auf der Oberfläche der Untiefe und trugen ein Biomineralfloß: ein metallenes Rechteck, sechzig Meter lang und dreißig Meter breit. Um sechzehn Uhr blies ein Horn hoch oben am Mast zum Schichtwechsel. Der stellvertretende Leiter kam aus der Messe, überquerte das Deck zum Büro, schob die Tür zurück und schaute hinein. Carl Raights Sessel am Schreibtisch, wo er gewöhnlich seine Produktionsberichte ausfüllte, war leer. Fletcher blickte über die Schulter das Deck hinunter zur Fabrikation – Raight war nirgendwo zu sehen. Sehr merkwürdig! Fletcher durchquerte das Büro und überprüfte die Liste des heutigen Ertrags in Tonnen: Rhodium Trichlorid: 4,02 Tantalsulfid: 6,87 Tripyridylrhenichlorid: 0,43 Der Bruttotonnengehalt per Schicht kam nach Fletchers Berechnungen demnach auf durchschnittlich 5,31. Er lag also besser als Raight im Rennen. Morgen war Monatsende, das bedeutete, daß Raights Haig & Haig ihm schon so gut wie sicher war. Fletcher stellte sich Raights Proteste vor und pfiff grinsend durch die Zähne. Er war bester Laune und voll
Selbstvertrauen. In einem weiteren Monat war sein 6-MonatsVertrag zu Ende, dann ging es mit sechs Monatsgehältern zurück nach Starholme. Wo, zum Teufel, steckte Raight bloß? Fletcher schaute zum Fenster hinaus. Der Hubschrauber war am Pfosten der Sabrialinie vertäut. Außerdem waren der Mast zu sehen, der Generator, der Wassertank und am Rand des Floßes die Zerkleinerer, die Laugentanks, die Tswettrohre und die Sammelbehälter. Etwas Dunkles schob sich in die Tür. Fletcher drehte sich um, aber es war nur Agostino, der Maschinenführer der Tagschicht, den gerade Blue Murphy, Fletchers Mann, abgelöst hatte. »Wo ist Raight?« fragte Fletcher. Agostino schaute sich im Büro um. »Ich dachte, er sei hier.« »Und ich dachte, er sei im Werk.« »Ist er nicht. Ich komm’ ja gerade von dort.« Fletcher überquerte noch einmal das Büro und warf einen Blick in den Waschraum. »Da ist er auch nicht.« Agostino drehte sich um. »Ich geh’ mich duschen.« An der Tür sagte er über die Schulter: »Wir haben kaum noch Entenmuscheln.« »Ich schick’ das Boot hinaus«, versprach Fletcher und folgte Agostino an Deck, wo er zur Fabrikation stapfte. Er kam an den vertäuten Booten vorbei und betrat die Zerkleinerungsanlage. Die Einer-Walze zermahlte Entenmuscheln, um Tantal zu gewinnen, die Zweier pulverisierte rheniumhaltige Seeschnecken. Die Kugelmühle wartete auf Nachschub an Korallen von der orangerosafarbenen Art mit Knötchen, die Rhodiumsalze enthielten.
Blue Murphy mit dem roten Gesicht, das von roten Haares umgeben war, überprüfte routinemäßig Lager, Schäfte, Ketten, Laufzapfen, Ventile und Meßgeräte. Fletcher brüllte ihm ins Ohr, um über den Lärm der Mühlen gehört zu werden. »Ist Raight hier durchgekommen?« Murphy schüttelte den Kopf. Fletcher ging weiter in die Laugenkammer, wo die erste Trennung der Salze vorgenommen wurde, und hinaus durch, den Wald von Tswettrohren, zurück an Deck. Kein Raight. Aber inzwischen mußte er ja im Büro sein. Doch das Büro war auch jetzt leer. Fletcher suchte weiter und kam dabei in die Messe. Agostino hockte über einer Schale Chilis. Dave Jones, der Steward mit den scharfgeschnittenen Zügen, stand am Eingang zur Kombüse. »War Raight schon hier?« erkundigte sich Fletcher. Jones, der sich nie zu zwei Worten herabließ, wenn eines genügte, schüttelte lediglich den Kopf. Agostino schaute hoch. »Haben Sie auf dem Entenmuschelkahn nachgesehen? Vielleicht ist er zu den Bänken hinausgefahren.« Fletcher blinzelte erstaunt. »Was macht dann Mahlberg?« »Er tauscht die Zähne des Schürfkübelbaggers aus.« Fletcher versuchte sich daran zu erinnern, wie viele Boote er an der Plattform vertäut gesehen hatte. Wenn Mahlberg, der für die Boote verantwortlich war, mit Reparaturen beschäftigt war, konnte es natürlich durchaus sein, daß Raight selbst ausgefahren war. Fletcher schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Ja, er muß wohl hinausgefahren sein«, brummte er. Er setzte sich. »Allerdings sieht es Raight nicht ähnlich, daß er freiwillig Überstunden macht.« Mahlberg kam in die Messe. »Wo ist denn Carl? Ich muß neue Zähne für den Bagger bestellen.« »Er ist fischen«, antwortete Agostino.
Mahlberg lachte über den guten Witz. »Will wohl einen dürren Aal fangen oder eine Dekabrache.« Dave Jones brummte: »Dann kocht er das Zeug aber selber.« »Oh, Dekabrachen dürften gar nicht so schlecht schmecken«, meinte Mahlberg, »so wie sie den Seehunden ähneln.« »Wer ißt schon Seehunde?« gab Jones zu bedenken. »Ich finde, daß sie Nixen ähnlicher sind – mit zehnzackigen Seesternen als Köpfen.« Fletcher stellte seine Kaffeetasse ab. »Ich möchte wissen, wann Raight weg ist.« Mahlberg zuckte die Schultern, Agostino rührte sich überhaupt nicht. »Es ist doch nur eine Stunde bis zu den Bänken. Er müßte schon zurück sein.« »Vielleicht hat er Schwierigkeiten mit dem Motor«, brummte Mahlberg. »Obgleich der Kahn in letzter Zeit eigentlich keine Mucken gemacht hat.« Fletcher stand auf. »Ich werde ihn anrufen.« Er verließ die Messe und kehrte zum Büro zurück, wo er T3 auf dem internen Schirm wählte – das Signal für das Entenmuschelboot. Der Schirm blieb dunkel. Fletcher wartete. Das Lämpchen leuchtete in gleichmäßigem Rhythmus, und verlosch, um wieder aufzuleuchten, also wurde das Signal auf dem Kahn empfangen. Aber niemand beantwortete es. Eine vage Unruhe bemächtigte sich Fletchers. Er verließ das Büro, schritt zum Mast und fuhr mit dem Flaschenzug zum Korb hoch. Von hier konnte er sowohl den halben Morgen der Floßplattform vollkommen überblicken, als auch die fünf Morgen Seetangschicht und den Ozean in weitem Umkreis. In ziemlicher Ferne im Nordosten, nahe der Grenze der Untiefe, war die Plattform der neuen Pelagischen Wiedergewinnungsstation als kleiner dunkler Punkt zu sehen,
durch den Dunst fast verborgen. Im Süden, wo die Äquatorialströmung durch eine Lücke in der Untiefe brauste, erstreckten sich die Entenmuschelbänke in einer langen losen Linie. Im Norden, wo der Macpherson aus der Tiefe aufstieg und sich der Oberfläche bis auf zehn Meter näherte, trugen Aluminiumgerüste die Seeschneckenfallen. Da und dort trieben gewaltige Mengen von Seetang, die zum Teil am Meeresboden verankert waren oder durch die Strömungen an Ort und Stelle gehalten wurden. Fletcher richtete das Fernglas auf die Entenmuschelbänke und entdeckte den Kahn sofort. Er drehte am Binokel, um es näher heranzubringen, und richtete es auf die Kontrollkabine. Er sah niemanden, allerdings vermochte er das Fernglas auch nicht ruhig genug zu halten, um sichergehen zu können. Fletcher betrachtete den Rest des Bootes. Wo war Carl Raight? Vermutlich außer Sicht in der Kontrollkabine. Er fuhr wieder zum Deck hinunter, ging zur Aufbereitung und blickte hinein. »He, Blue!« Murphy kam zur Tür. Er wischte sich die mächtigen roten Pranken an einem alten Lumpen trocken. »Ich fahr’ mit dem Motorboot hinaus zu den Bänken«, erklärte Fletcher. »Der Kahn ist draußen, aber Raight meldet sich nicht am Schirm.« Murphy schüttelte verwirrt den großen Kahlkopf. Er begleitete Fletcher zum Anlegeplatz des Motorboots. Fletcher löste die Vertäuung und sprang ins Boot. Murphy rief zu ihm hinunter: »Soll ich nicht lieber mitkommen? Hans könnte mich inzwischen ablösen.« Hans Heinz war der Ingenieur. Fletcher zögerte, schließlich antwortete er: »Nein, es dürfte nicht nötig sein. Falls Raight etwas zugestoßen ist – nun, ich
schaffe es schon allein. Aber haben Sie ein Auge auf den Schirm, ich werde mit Ihnen in Verbindung bleiben.« Er stieg ins Cockpit, setzte sich, klappte die Kanzeldecke zu und schaltete die Pumpe ein.
Das Motorboot schlingerte und hüpfte, bis es schließlich schneller wurde, seine stumpfe Nase unter das Wasser steckte, daß nur noch die Kanzel herausragte. Fletcher schaltete die Pumpe ab. Das Wasser schoß durch die Nase herein, wandelte sich in Dampf, der am Heck hinausströmte. Biomineral wurde zu einem grauen Klumpen in dem rötlichen Dunst, wählend die Umrisse des Entenmuschelboots und der Bänke klarer und allmählich größer wurden. Fletcher schaltete die Energiezufuhr um. Das Boot tauchte wieder ganz auf, näherte sich der dunklen Schiffshülle und legte mit Magnetkugeln daran an, die gestatteten, daß beide Boote voneinander unabhängig im leichten Wellengang schaukelten. Fletcher ließ die Kanzel zurückgleiten und kletterte zum Deck hoch. »Raight!« rief er. »He, Carl!« Er bekam keine Antwort. Fletcher blickte das Deck auf und ab. Raight war ein großer Mann, kräftig und aktiv – trotzdem konnte ihm natürlich etwas zugestoßen sein. Fletcher schritt das Deck entlang zur Kontrollkabine. Er kam am Laderaum 1 vorbei, der fast randvoll war mit schwarzgrünen Entenmuscheln. Von Nummer 2 war der Kran ausgefahren, die Schaufel auf der Bank in Bereitschaft, jeden Augenblick aus dem Wasser zurückgeholt zu werden. Laderaum 3 war geschlossen, die Kontrollkabine leer. Carl Raight war nirgends an Bord zu finden.
Hubschrauber oder Motorboot könnten ihn abgeholt haben – aber Fletcher wußte, daß das nicht der Fall war. Blieb nur die Möglichkeit, daß er über Bord gefallen war. Fletcher blickte in alle Richtungen in das dunkle Wasser und mußte sich anstrengen, durch die reflektierende Oberfläche sehen zu können. Plötzlich beugte er sich weit über die Reling, aber das bleiche Etwas war eine Dekabrache von Mannesgröße, glatt wie Satin, sie bewegte sich geschmeidig. Nachdenklich blickte Fletcher nordostwärts, wo die Pelagische Wiedergewinnungsstation hinter einem Vorhang rosigen Dunstes schwamm. Es war ein neues Unternehmen, erst vor drei Monaten von Ted Chrystal ins Leben gerufen, der zuvor Biochemiker bei Biomineral gewesen war. Das Sabriameer war unerschöpflich, und der Rohstoffmarkt unersättlich. Die beiden Stationen waren keineswegs Konkurrenten. Fletcher würde nie, auch nicht im Traum, daran denken, daß Chrystal oder seine Männer Carl Raight etwas antun würden. Ja, er mußte tatsächlich über Bord gefallen sein. Fletcher kehrte zur Kontrollkabine zurück und kletterte die Leiter zur »fliegenden Brücke« bis ganz oben hinauf. Ein letztesmal blickte er sich ringsum um, obgleich er wußte, daß es sinnlos war, denn die Strömung, die gleichmäßig mit zwei Knoten hier hindurchfloß, hätte Raights Leiche sofort in die Tiefsee hinausgerissen. Fletcher suchte den Horizont ab. Die Bankreihe verschwamm in der rosigen Düsternis. Der Mast auf dem Biomineralfloß ragte im Nordwesten in den Himmel. Das Floß der Pelagischen Wiedergewinnung lag außer Sicht. Weit und breit war nichts Lebendes zu sehen. In der Kabine summte der Kommunikator. Fletcher ging hinein. Blue Murphy war auf dem Schirm. »Was gibt’s Neues?« »Nichts. Gar nichts«, antwortete Fletcher.
»Was wollen Sie damit sagen?« »Raight ist nicht hier.« Das breite rötliche Gesicht verzog sich. »Wer ist dann draußen?« »Niemand. Es sieht ganz so aus, als wäre Raight über Bord gefallen.« Murphy pfiff durch die Zähne. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Schließlich fragte er. »Haben Sie eine Ahnung, wie es geschehen konnte?« Fletcher schüttelte den Kopf. »Nicht die geringste.« Murphy benetzte die Lippen. »Vielleicht sollten wir hier dicht machen.« »Warum?« fragte Fletcher. »Nun – zum Gedenken an den Toten, sozusagen.« Fletcher grinste schief. »Das können wir ihm auch widmen, während wir arbeiten.« »Wie Sie wollen. Aber wir haben kaum noch Entenmuscheln.« »Carl hat eineinhalb Laderäume gefüllt…« Fletcher zögerte und seufzte tief. »Ich kann ja noch etwas hochholen.« Murphy zuckte zusammen. »Es ist irgendwie ungut, Sam. Müssen Sie dabei denn nicht ständig an Carl denken?« »Für ihn ändert es nichts mehr. Und wir brauchen die Entenmuscheln ja schließlich. Es bringt nichts ein, wenn wir trübsinnig herumsitzen.« »Sie haben vermutlich recht«, murmelte Murphy zweifelnd. »Ich komme in etwa zwei Stunden zurück.« »Fallen Sie ja nicht auch noch über Bord!«
Der Schirm wurde dunkel. Fletcher dachte darüber nach, daß nun er die alleinige Verantwortung hatte und Leiter des Floßes
war, bis die neue Besatzung in einem Monat ankam. So scharf war er gar nicht auf diese Verantwortung. Er kehrte an Deck zurück und kletterte ins Kranführerhaus. Eine Stunde lang zog er Bankteile aus der See, hielt sie über dem Laderaum, während die Schaber die schwarzgrünen Muscheln abkratzten, und senkte dann die Bankstücke zurück ins Meer. Hier hatte Raight vor seinem Verschwinden gearbeitet. Es war unvorstellbar, wie er aus dem Führerhaus über Bord gefallen sein konnte. Unruhe bemächtigte sich Fletchers. Er stellte den Bagger ab und kletterte hinunter auf das Deck. Abrupt blieb er stehen und betrachtete das Tau zu seinen Füßen. Ein seltsames Tau war es – glitzernd, durchscheinend, etwa zweieinhalb Zentimeter dick. Es lag locker aufgerollt auf den Planken, und ein Ende hing ins Wasser. Fletcher wollte daran vorbei, doch dann betrachtete er es genauer. Ein ungewöhnliches Tau, das ganz sicher nicht zur Ausstattung des Schiffes gehörte. Eine innere Stimme warnte Fletcher. Dicht neben dem Tau hing ein Handschaber, ein Werkzeug, das einer kleinen Hacke glich. Er wurde zum Abkratzen der Bankstücke benutzt, wenn die automatischen Schaber aus irgendeinem Grund versagten. Fletcher machte einen Schritt an der Taurolle vorbei. Das Tau erzitterte und legte eine Schlinge um Fletchers Knöchel. Fletcher warf sich nach vorn und hielt sich am Schaber fest. Das Tau zog ruckartig an. Fletcher fiel aufs Gesicht, und der Schaber entglitt seinen Fingern. Er schlug um sich, wehrte sich, aber das Tau zog ihn mühelos zur Reling. Er streckte verzweifelt die Rechte nach dem Schaber aus und bekam ihn gerade noch zu fassen. Das Tau hob seinen Knöchel und machte sich daran, ihn über die Reling zu zerren. Fletcher schlug mit dem Schaber auf das Tau ein und hackte immer
wieder zu, bis er es durchtrennt hatte. Das längere Stück glitt über Bord. Fletcher kam auf die Füße und stolperte zur Reling. Er sah noch, wie das Tau im Wasser verschwand. Etwa einen Meter unter der Oberfläche schwamm eine Dekabrache. Fletcher blickte auf die rosig-goldenen Tentakel, die sich wie die eines Seesterns ausbreiteten, und auf den schwarzen Fleck in ihrer Mitte, der ein Auge sein mochte. Fletcher wich von der Reling zurück, verwirrt, erschrocken und bedrückt über die Erkenntnis, wie nahe er dem Tod gewesen war. Er verfluchte seine Arglosigkeit. Wie konnte er nur so unüberlegt gewesen sein, hierzubleiben, um das Boot fertig zu beladen? Es war doch vom ersten Augenblick an klar gewesen, daß Raight nicht einem Unfall zum Opfer gefallen war. Etwas hatte Raight umgebracht, und er, Fletcher, hatte dieses Etwas geradezu eingeladen, auch noch ihn zu töten. Er hinkte zur Kontrollkabine und schaltete die Pumpen ein. Wasser wurde in die Bugöffnung gesaugt und durch die Ventile ausgestoßen. Der Kahn entfernte sich von den Bänken. Fletcher stellte den Kurs zur Biomineralplattform im Nordwesten ein, dann ging er hinaus an Deck. Der Abend war nicht mehr fern. Der Himmel verfinsterte sich zu Weinrot, der Dunst wurde dick wie blutiges Wasser. Geidion, ein stumpfroter Riese, die größere der zwei Sonnen Sabrias, ging unter. Ein paar Minuten lang verzauberte der Schein des blaugrünen Atreus die Wolken. Der Dunst nahm eine blaßgrüne Färbung an, die ein Trick des Lichtes viel heller erscheinen ließ als das vorherige Rosa. Dann ging auch Atreus unter, und der Himmel verdunkelte sich. Vorn schien das Licht am Mast von Biomineral und wuchs mit der Annäherung des Bootes immer höher in den Himmel. Fletcher sah schwarze Gestalten, die sich gegen den Schein abhoben.
Die gesamte Besatzung erwartete ihn: die beiden Maschinenführer, Agostino und Murphy, Mahlberg, der Lademeister, Damon, der Biochemiker, Dave Jones, der Steward, Manners, der Techniker, und Hans Heinz, der Ingenieur. Fletcher legte den Lastkahn an, kletterte die weichen, aus dem Tang gehauenen Stufen hoch und blieb vor den ihm stumm entgegenblickenden Männern stehen. Er schaute von
einem Gesicht zum anderen. Während sie in der Ungewißheit auf dem Floß warteten, war ihnen Raights merkwürdiger Tod viel stärker bewußt gewesen als ihm, der auf dem Lastkahn so beschäftigt gewesen war. Das jedenfalls las er aus ihren Mienen. Er beantwortete die unausgesprochene Frage: »Es war kein Unfall. Ich weiß jetzt, wie es passiert ist.« »Wie?« fragte einer. »Da ist etwas wie ein durchscheinendes Tau«, antwortete Fletcher. »Es gleitet aus dem Meer hoch und rollt sich auf. Wenn ihm jemand nahe kommt, wickelt es sich um dessen Beine und zieht ihn über Bord.« Erschrocken fragte Murphy: »Sind Sie sicher?« »Es hätte fast mich auch erwischt.« »Ein lebender Strick?« erkundigte sich Damon, der Biochemiker, skeptisch. »Nun ja, ich nehme an, daß es lebendig war.« »Eigenes Leben?« Fletcher zögerte. »Ich blickte über die Reling und sah Dekabrachen – einen ganz sicher, aber eher zwei oder drei.« Kurzes Schweigen setzte ein. Die Männer blickten hinaus aufs Meer. Mit staunender Stimme murmelte Murphy: »Dann sind es also die Dekabrachen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Fletcher angespannt. »Ein weißes Tau oder irgendwie durchscheinende Fasern legten sich um mein Bein. Ich zerschnitt sie. Als ich über Bord blickte, sah ich Dekabrachen.« Die Männer blickten einander mit großen Augen an. Fletcher drehte sich um und ging zur Messe. Die anderen blieben am Anlegeplatz und spähten hinaus aufs Meer. Die Lichter der Plattform schienen weit hinaus. Aber es war nichts zu sehen.
Am Spätabend stieg Fletcher zum Labor über dem Büro hoch. Eugene Damon saß über einen Mikrofilmbetrachter gebeugt. Damon hatte ein schmales Gesicht mit spitzem Kinn, strähniges blondes Haar und die Augen eines Fanatikers. Er war fleißig und gründlich, aber man sah in ihm immer noch nur den Nachfolger Ted Chrystals, der seinen Posten bei Biomineral gekündigt hatte, um sein eigenes Floß nach Sabria zu bringen. Chrystal war ein ungemein fähiger Mann, ja schon fast ein Genie. Er hatte die Vanadium ausscheidenden irdischen Seeschnecken den Bedingungen in sabrinischen Gewässern angepaßt, und die Tantalentenmuscheln aus einer seltenen und kränklichen Gattung zu einer kräftigen Art entwickelt, die hohe Erträge lieferte. Damon arbeitete täglich doppelt so lang wie Chrystal und machte seine Routinearbeit auch gut, aber ihm fehlten eben die Begabung und der Einfallsreichtum, die Chrystal geholfen hatten, scheinbar mühelos und ohne Übergang vom Problem zur Lösung zu gelangen. Er blickte auf, als Fletcher das Labor betrat, dann studierte er weiter den Mikroschirm. Fletcher schaute ihm eine Weile zu, ehe er fragte: »Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Damon antwortete auf die schwerfällige, leicht pedantische Weise, die Fletcher manchmal amüsierte, ihm jedoch hin und wieder auch gegen den Strich ging. »Ich gehe den Index durch, um das lange, durchscheinende ›Tau‹ zu finden, das Sie angegriffen hat.« Fletcher brummte etwas Unverständliches und schaute nach der Einstellung der Mikrofilmkartei. Damon hatte auf ›lang, dünn, von der Klassifizierung E, F und G‹ geschaltet. Der Selektor, der danach die gesamte Katalogisierung von sabrinischen Lebensformen durchging, hatte die Karteikarten von sieben Organismen ausgespuckt.
»Haben Sie etwas gefunden?« erkundigte sich Fletcher. »Bis jetzt noch nicht.« Damon schob eine neue Karte in den Betrachter. ›Sabrinischer Ringelwurm, RRS-4924‹ stand am oberen Rand der Karte, und auf dem Schirm erschien die schematische Skizze eines langen, gegliederten Wurmes. Nach der Maßstabtabelle war er etwa zweieinhalb Meter lang. Fletcher schüttelte den Kopf. »Die Kreatur, die mich angegriffen hat, war gut vier- oder fünfmal so lang.« »Der Wurm da kommt Ihrer Beschreibung bisher aber noch am nächsten«, sagte Damon. Er blickte Fletcher zweifelnd an. »Und Sie sind sicher, daß es lang, durchscheinend und tauähnlich war?« Fletcher ignorierte ihn, nahm die sieben Karten, steckte sie in die Kartei zurück, schlug im Kodebuch nach und stellte den Selektor neu ein. Damon kannte die Kodebezeichnungen auswendig, und so las er direkt laut ab: ›»AUSWÜCHSE: lang, Klassifizierung D, E, F und G‹.« Der Selektor spuckte drei Karten aus. Die erste zeigte das Bild einer bleichen schalenförmigen Kreatur, die durchs Wasser glitt und vier lange dicke Barthaare hinter sich herzog. »Sie war es nicht«, erklärte Fletcher. Auf der zweiten war ein kugelförmiger schwarzer Wasserkäfer mit Rückenstachel zu sehen. »Der auch nicht.« Auf der dritten war eine Molluskenart abgebildet, deren Körpermasse auf einer Selen-, Silizium-, Fluor- und Kohlenstoff-Basis aufgebaut war. Ihre Schale war eine Halbkugel aus Siliziumkarbid, von der ein dünner Tentakel hochragte. Der Kreatur hatte man den Namen ›Stryzkal-Monitor‹ gegeben, nach Esteban Stryzkal, dem berühmten Taxonompionier Sabrias.
»Das könnte der Übeltäter sein«, meinte Fletcher. »Er ist nicht beweglich«, entgegnete Damon. »Nach Stryzkal ist er in den nördlichen Untiefen in den Pegmatitdeichen verankert, wo sich die Dekabrachkolonien befinden.« Fletcher las die Beschreibung: »›Der Fühler ist elastisch, ohne erkennbare Beschränkung, und dient offenbar zur Nahrungseinholung, zur Sporendissemination und als Tastorgan. Der Monitor ist hauptsächlich in der Nähe der Dekabrachkolonien zu finden. Eine Symbiose zwischen den beiden Lebensformen ist nicht ausgeschlossen.‹« Damon blickte Fletcher fragend an. »Na?« »Ich habe mehrere Dekabrachen an den Bänken gesehen.« »Ja, aber Sie können nicht sicher sein, daß ein Monitor Sie angegriffen hat.« Damon schüttelte zweifelnd den Kopf. »Schließlich können sie ja nicht schwimmen.« »Behauptet Stryzkal«, brummte Fletcher. Damon wollte etwas sagen, doch als ihm Fletchers Miene auffiel, überlegte er es sich offensichtlich, und er meinte nur gedämpft: »Irrtümer sind natürlich immer möglich. Selbst Stryzkal konnte nicht mehr als einen großen Überblick über die planetaren Lebensformen geben.« Fletcher hatte inzwischen weitergelesen. »Hier ist Chrystals Analyse des einen, den er hochgebracht hat.« Sie studierten die Elemente und Primärverbindungen eines Chrystalsyzkal-Monitors. »Nichts von kommerziellem Interesse«, murmelte Fletcher. Damon hing seinen eigenen Gedanken nach. »Ist Chrystal tatsächlich hinunter und hat einen Monitor gefangen?« »Ja, im Wasserflitzer. Er war viel unter Wasser. Jeder hat seine eigenen Methoden«, sagte Damon kurz.
Fletcher steckte die Karten in die Kartei zurück. »Ob Sie ihn nun mögen oder nicht, er ist ein tüchtiger Forscher, daran gibt’s nichts zu rütteln.« »Meiner Meinung nach ist das Forschungsstadium vorbei«, brummte Damon. »Wir müssen uns jetzt um die Gewinnung kümmern, und wenn man den Ertrag steigern will, muß man sich voll und ganz damit beschäftigen. Andere sind vielleicht anderer Ansicht.« Fletcher lachte und klopfte Damon auf die knochige Schulter. »Ich habe doch nichts an Ihrer Arbeitsmethode auszusetzen, Gene. Tatsache ist, daß es so viele Möglichkeiten gäbe; wollte man ihnen nachgehen, wären vier Männer voll ausgelastet.« »Vier?« sagte Damon. »Zwölf würden nicht reichen. Auf Sabria gibt es gegenüber der einzigen Kohlenstoffgruppe auf der Erde gleich drei verschiedene protoplasmatische Phasen! Selbst Stryzkal konnte nur eine oberflächliche Klassifizierung vornehmen.« Er beobachtete Fletcher eine Zeitlang, dann erkundigte er sich neugierig: »Was suchen Sie eigentlich jetzt noch?« Fletcher war mit dem Index beschäftigt. »Das, weshalb ich ursprünglich hierherkam – ausführliches Material über die Dekabrachen.« Damon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Dekabrachen? Warum?« »Wir wissen so viel über Sabria noch nicht«, antwortete Fletcher. »Waren Sie schon jemals unten und haben sich eine Dekabrachenkolonie angesehen?« Damon antwortete mit verkniffenen Lippen: »Nein.« Die Dekabrachenkarte glitt in den Betrachter. Der Schirm zeigte Stryzkals Originalfotozeichnung, die in vielerlei Hinsicht mehr Information bot als die Farbstereos. Das abgebildete Exemplar war etwa zwei Meter groß, mit bleichem, seehundähnlichem Körper, der in drei flossengleiche
Gliedmaßen auslief. Am Kopf befand sich der Strahlenkranz aus zehn Greifarmen, denen das Tier den Namen verdankte. Diese flexiblen Gliedmaßen waren fünfundvierzig Zentimeter lang und umgaben die schwarze Scheibe, von der Stryzkal annahm, daß es das Auge war. Fletcher überflog die flüchtige Beschreibung von Lebensraum, Nahrung und Fortpflanzungsmethode des Tieres und seine protoplasmatische Klassifikation. Unzufrieden runzelte er die Stirn. »Viel ist hier nicht darüber zu erfahren«, beschwerte er sich. »Wenn man bedenkt, daß sie eine der wichtigeren Spezies sind. Schauen wir uns ihre Anatomie an.« Das Skelett der Dekabrache bestand aus einer Knochenkuppel mit drei flexiblen knorpeligen Wirbelsäulen, die in Schwimmflossen ausliefen. Das war alles, was die Karte zu bieten hatte. »Ich dachte, Sie sagten, Chrystal studierte die Dekabrachen«, brummte Damon. »Das hat er allerdings.« »Wenn er so ein guter Forscher ist, wo sind dann seine Angaben?« Fletcher grinste. »Woher soll ich das wissen? Ich arbeite nur hier.« Er steckte die Karte noch einmal in den Betrachter. Unter Allgemeines war folgende Bemerkung Stryzkals zu finden: »Dekabrachen scheinen in die sabrinische A-KlassenGruppe zu gehören, in die Silizium-Kohlenstoff-Nitrid-Phase, obgleich sie davon in mancher Hinsicht abweichen.« Er hatte ein paar Theorien über die Artverwandtschaft der Dekabrachen mit anderen sabrinischen Spezies aufgeführt. Chrystals Anmerkung war lediglich: »Auf kommerzielle Nutzbarkeit überprüft. Keine spezielle Eignung festgestellt.« Fletcher enthielt sich eines Kommentars. »Wie genau hat er sie denn überprüft?« wollte Damon wissen.
»Auf seine übliche spektakuläre Weise. Er tauchte mit dem Wasserflitzer, harpunierte eine und schleppte sie ins Labor. Er verbrachte drei Tage damit, sie zu sezieren.« »Für den Zeitaufwand hat er aber verdammt wenig hier notiert«, empörte sich Damon. »Wenn ich drei Tage an einer neuen Spezies wie den Dekabrachen arbeitete, könnte ich ein ganzes Buch über sie schreiben.« Sie ließen die gesamten Angaben noch einmal ablaufen. Da deutete Damon mit einem langen knochigen Finger auf etwas: »Sehen Sie doch! Da wurde etwas gelöscht! Die schwarzen Dreiecke am Rand sich noch zu erkennen – das sind die Streichungszeichen!« Fletcher rieb sich das Kinn. »Das wird ja immer merkwürdiger!« »Das ist geradezu eine Gemeinheit!« empörte sich Damon. »Einfach Material zu löschen, ohne Angabe eines Grundes!« Fletcher nickte bedächtig. »Ich glaube, jemand wird sich mit Chrystal in Verbindung setzen müssen.« Er überlegte. »Warum nicht sofort?« Er ging hinunter ins Büro und rief die Pelagische Wiedergewinnung. Chrystal meldete sich persönlich auf dem Schirm. Er war ein großer blonder Mann mit gesunder rosiger Haut und unschuldsvoller Freundlichkeit, die seinen scharfen geradlinigen Verstand tarnte, genau wie seine Rundlichkeit die kräftigen Muskeln verbarg. Er begrüßte Fletcher mit vorsichtiger Herzlichkeit. »Na, wie geht’s bei Biomineral? Manchmal wünschte ich, ich wäre noch bei euch drüben. Unternehmer zu sein, hat auch seine Schattenseiten.« »Wir hatten einen Unfall«, fiel Fletcher mit der Tür ins Haus. »Ich hielt es für angebracht, Sie zur Vorsicht zu ermahnen.« »Unfall?« fragte Chrystal besorgt. »Was ist passiert?« »Carl Raight ist mit dem Lastkahn rausgefahren – und nicht zurückgekommen.«
»Aber das ist ja furchtbar«, sagte Chrystal erschrocken. »Wie…« »Offenbar zog ihn etwas ins Wasser. Ich glaube, es war eine Monitormolluske – ein Stryzkal-Monitor.« Chrystals rosiges Gesicht verzog sich verwirrt. »Ein Monitor? War der Kahn denn in seichtem Wasser? Aber so seicht ist es hier ja nirgends. Ich verstehe es nicht.« »Ich auch nicht.« Chrystal drehte einen weißen Metallwürfel zwischen den Fingern. »Das ist aber sehr merkwürdig. Raight ist wohl – tot?« Fletcher nickte düster. »Das ist anzunehmen. Ich habe jeden hier gewarnt, allein auszufahren. Sie sollten die Warnung vielleicht auch an Ihre Leute weitergeben.« »Das ist sehr anständig von Ihnen, Sam.« Chrystal runzelte die Stirn. Er betrachtete den weißen Metallwürfel in seiner Hand und legte ihn zur Seite. »Es hat noch nie irgendwelche Ungelegenheiten auf Sabria gegeben«, murmelte er. »Ich habe Dekabrachen unter dem Lastkahn gesehen. Vielleicht haben sie etwas damit zu tun.« Chrystal blinzelte verwirrt. »Dekabrachen? Sie sind doch völlig harmlos.« Fletcher nickte gleichmütig. »Ach, übrigens, ich wollte mich in der Mikrobibliothek über die Dekabrachen informieren, aber es war nicht allzuviel über sie zu finden, obwohl es bedeutend mehr gegeben haben muß. Eine ganze Menge Zeilen waren gelöscht.« Chrystal hob die blassen Brauen. »Weshalb erzählen Sie mir das?« »Weil die Löschung aller Wahrscheinlichkeit nach von Ihnen vorgenommen wurde.« Chrystal war sichtlich gekränkt. »Weshalb sollte ich so was tun? Ich habe wirklich schwer für Biomineral gearbeitet, Sam,
das wissen Sie doch ganz genau. Jetzt arbeite ich eben auf eigene Faust, und es ist verdammt nicht leicht.« Er nahm geistesabwesend den metallenen Würfel wieder in die Hand. Als er bemerkte, daß Fletchers Blick darauf fiel, legte er ihn auf den Schreibtisch zurück und schob ihn bis fast zur Kante, neben Coseys Universalhandbuch der Konstanten und physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Nach kurzer Pause fragte Fletcher: »Nun, haben Sie einen Teil der Dekabrachen-Angaben gelöscht oder nicht?« Chrystal runzelte überlegend die Stirn. »Ich könnte vielleicht ein oder zwei Theorien gelöscht haben, die sich als falsch erwiesen – aber ganz sicher nichts Wichtiges. Mir ist vage, als hätte ich die Angaben aus dem Speicher zurückgenommen.« »Welche Theorien waren das denn genau?« fragte Fletcher argwöhnisch. »Ich kann mich im Augenblick nicht genau erinnern. Vermutlich hatte es etwas mit der Nahrungsaufnahme zu tun. Ich vermutete, daß die Deks sich von Plankton ernährten, aber das scheint nicht der Fall zu sein.« »Nein?« »Eher von Unterwasserfungi, die auf den Korallenbänken wachsen, glaube ich jetzt.« »Ist das alles, was Sie gelöscht haben?« »Mir fällt nichts anderes ein.« Fletchers Blick wanderte zurück zu dem weißlichen Metallwürfel. Ihm fiel auf, daß er den Titel des Handbuchs vom rechten Längsstrich des V’s in »Universalhandbuch« bis zur Mitte des R’s in »der« verdeckte. »Was haben Sie denn da auf Ihrem Schreibtisch, Chrystal? Interessieren Sie sich für Metallurgie?« »O nein«, antwortete Chrystal. Er hob den Würfel wieder auf und betrachtete ihn kritisch. »Nur eine Legierung, die ich auf
ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Reagenzien prüfe. Danke für Ihren Anruf, Sam.« »Sie haben keine Ahnung, wie es Raight erwischt haben könnte?« Chrystal blickte ihn überrascht an. »Warum, um Himmels willen, fragen Sie mich das?« »Weil Sie mehr über Dekabrachen wissen als irgendein anderer auf Sabria.« »Nein, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen, Sam.« Fletcher nickte. »Gute Nacht.« »Gute Nacht, Sam.« Fletcher starrte auf den dunklen Schirm. Monitormollusken – Dekabrachen – der zum Teil gelöschte Mikrofilm. Es gab hier einen Zusammenhang, über den er sich nicht klar wurde. Die Dekabrachen waren irgendwie im Spiel, und durch reine Assoziation Chrystal. Fletcher traute Chrystals Beteuerungen nicht. Er vermutete, daß der Biochemiker aus Eigennutz – und nicht nur in dieser Beziehung – log. Er dachte an den Metallwürfel. Chrystal hatte seine Frage etwas zu beiläufig abgewehrt und sich schnell verabschiedet. Fletcher holte sein eigenes Handbuch hervor. Er maß den Abstand zwischen dem rechten Schrägstrich des V’s und der Mitte des R’s. Es waren genau 4,9 cm. Der Würfel war vermutlich ein Kilogramm Masse, wie es bei solchen Musterwürfeln üblich war. Fletcher überschlug im Kopf: in einen Würfel von 4,9 cm Kantenlänge gingen 119 cm3. Nahm man eine Masse von 1000 g an, ergab sich ein Raumgewicht von 8,4 g pro cm3. Diese Zahl war nicht sonderlich aufschlußreich. Bei dem Material des Würfels mochte es sich um hunderterlei Legierungen handeln, und es war sinnlos, einer Reihe von Hypothesen nachzugehen. Trotzdem schlug er im Handbuch nach. Nickel war 8,6 g pro cm3, Kobalt 8,7, Niobium 8,4 etc.
Fletcher lehnte sich zurück und überlegte. Niobium? Das war ein sehr teures Element, und kaum synthetisch herzustellen. Natürlich kam es nur beschränkt vor, und die Nachfrage war übergroß. Hm, hatte Chrystal möglicherweise eine biologische Quelle für Niobium erschlossen? Wenn ja, war ihm ein Vermögen sicher. Fletcher machte es sich in seinem Sessel bequem. Er war ziemlich erschlagen, sowohl körperlich als auch seelisch. Er dächte an Carl Raight, stellte sich vor, wie seine Leiche durch die Dunkelheit trieb und immer tiefer im Meer versank, wo nie auch nur der geringste Lichtschein Zulaß fand. Warum hatte Carl Raight sterben müssen? Hilfloser Grimm nagte an Fletcher. Dieser unwürdige Tod Carl Raights! Carl war ein viel zu guter Mann gewesen, als daß er es verdient hätte, in die finsteren Tiefen des sabrinischen Meeres gezogen zu werden. Ruckartig erhob sich Fletcher und stieg ins Labor hinauf.
Damon war noch mit seiner Routinearbeit beschäftigt. Er arbeitete gegenwärtig an drei Projekten. Zwei hatten mit Platinabsonderung durch sabrinische Algenspezies zu tun, das dritte war ein Versuch, die Rheniumabsorption durch einen Alphard-Alpha Flachschwamm zu erhöhen. In jedem Fall war die Grundmethode gleich: Die jeweils neuen Generationen unter mutationsgünstigen Bedingungen einer zunehmenden Konzentration metallischer Salze zu unterziehen. Gewisse Organismen würden schließlich das Metall funktionell nutzen. Diese sollten dann isoliert und in sabrinisches Gewässer gesetzt werden. Ein paar würden den Schock vermutlich überleben und einige sich den neuen Lebensbedingungen anpassen und anfangen, das für sie nun notwendige Element zu absorbieren.
Durch selektive Züchtung konnte die Qualität dieser Organismen erhöht werden. Die Züchtung würde darauf in großem Maßstab weitergeführt werden, und die beinah unerschöpflichen sabrinischen Gewässer würden dann bald ein weiteres Produkt zu bieten haben. Als Fletcher das Labor betrat, richtete Damon gerade die Schalen mit Algenkulturen in geometrisch genauen Reihen aus. Säuerlich blickte er über die Schulter auf Fletcher. »Ich habe mit Chrystal gesprochen«, sagte Fletcher. Damons Interesse erwachte. »Was hat er gesagt?« »Daß er möglicherweise ein paar Theorien, die sich als falsch erwiesen hatten, ausgelöscht hat.« »Lächerlich!« schnaubte Damon. Fletcher trat an den Tisch und betrachtete nachdenklich die Algenkulturreihen. »Sind sie zufällig auf Niobium auf Sabria gestoßen, Gene?« »Niobium? Nein, zumindest nicht in erwähnenswerter Konzentration. Natürlich gibt es Spuren davon im Meer. Ich glaube, eine der Korallenarten weist eine Reihe von Niobiumeinlagen auf.« Er legte neugierig den Kopf schräg wie ein Vogel. »Weshalb fragen Sie?« »Oh, es war nur eine ziemlich unwahrscheinliche Vermutung.« »Von Chrystal haben Sie wohl keine zufriedenstellende Antwort erhalten?« »Allerdings nicht.« »Wie geht es weiter?« Fletcher setzte sich auf den Tisch. »Ich weiß noch nicht so recht. Es gibt nicht sehr viel, das ich tun könnte. Außer…« Er zögerte. »Außer… was?« »Ich sehe mich selbst unter Wasser um.« Entsetzt fragte Damon: »Was versprechen Sie sich davon?«
Fletcher lächelte. »Wenn ich das wüßte, brauchte ich ja nicht zu tauchen. Ich dachte nur daran, daß Chrystal sich unten umschaute – und Information löschte, als er zurückkam.« »Das ist mir durchaus klar«, sagte Damon. »Trotzdem, ich halte es für zu gefährlich, nach dem, was geschehen ist.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Fletcher rutschte vom Tisch. »Ich werde sowieso bis morgen warten.« Er überließ Damon seiner Arbeit und stieg wieder aufs Hauptdeck hinunter. Blue Murphy wartete auf der untersten Stufe auf ihn. »Was gibt’s Murphy?« erkundigte sich Fletcher. Das runde rote Gesicht wirkte verwirrt. »Agostino oben?« Fletcher blieb stehen. »Nein.« »Er hätte mich vor einer halben Stunde ablösen sollen. Ich hab’ ihn im Schlafraum gesucht und in der Messe.« »Großer Gott!« entfuhr es Fletcher. »Doch nicht auch er!« Murphy blickte über die Schulter auf das Meer. »Vor einer halben Stunde war er noch in der Messe.« »Kommen Sie mit!« forderte Fletcher Murphy auf. »Wir werden das ganze Floß absuchen.«
Sie schauten überall nach: in der Zerkleinerungsanlage, im Mastkorb, in dem kleinsten Winkel, in dem ein Mensch nur stecken konnte. Die Lastkähne lagen alle am Anlegeplatz, genau wie das Motorboot und der Katamaran. Der Hubschrauber stand auf dem Deck. Es stand fest, daß Agostino nirgendwo auf dem Floß war, aber keiner wußte, wohin er verschwunden war, noch genau wann. Die Floßbesatzung sammelte sich in der Messe. Alle waren nervös, und immer wieder blickte der eine oder andere durch die Bullaugen hinaus aufs Meer.
Fletcher fand nicht viele Worte. »Was auch immer hinter uns her sein mag – und wir wissen nicht, was es ist –, ist imstande, uns zu überraschen. Wir müssen vorsichtig sein, mehr als vorsichtig!« Murphy hieb gedämpft mit der Faust auf den Tisch. »Aber was können wir denn tun? Doch nicht einfach untätig herumsitzen!« »Theoretisch ist Sabria ein ungefährlicher Planet«, sagte Damon. »Nach Stryzkal und dem Galaktischen Index gibt es hier keine dem Menschen feindlichen Lebensformen.« »Ich wollte, der alte Stryzkal wäre jetzt hier. Ich hätte ihm allerhand zu sagen!« schnaubte Murphy. »Vielleicht könnte er Raight und Agostino zurücktheoretisieren.« Dave Jones blickte auf den Kalender. »Wir haben noch einen ganzen Monat vor uns.« »Wir werden nur eine Schicht arbeiten, bis wir Ersatz bekommen!« bestimmte Fletcher. »Ersatz?« brummte Mahlberg. »Lieber Verstärkung!« »Morgen nehm’ ich mir den Flitzer«, erklärte Fletcher, »und seh’ mich unten um, damit wir uns eine Vorstellung machen können, was vorgeht. Und jeder hier soll sich mit einem Beil oder was Ähnlichem bewaffnen.« Ein sanftes Klopfen war an den Bullaugen und auf dem Deck zu hören. »Regen«, murmelte Mahlberg. Er blickte zur Wanduhr. »Mitternacht.« Jetzt begann der Regen durch die Luft zu zischen und gegen die Wände und Glasscheiben zu trommeln. Das Wasser floß über das Deck, und die Mastlichter verschwammen hinter dem schrägfallenden Regenvorhang. Fletcher trat ans Fenster und blickte durch die Sturzbäche zu der Zerkleinerungsanlage. »Ich glaube, wir sollten für heute alles dichtmachen. Ich sehe keinen Grund…« Er blinzelte
durch die Glasscheibe, dann rannte er zur Tür und hinaus in den Regen. Wasser peitschte ihm ins Gesicht. Außer dem Lichtschein vom Mast war wenig zu sehen – nur etwas, das sich wie ein alter weißlicher Gartenschlauch gegen das glänzende Grauschwarz des Decks abhob. Etwas riß an seinen Knöcheln, und der Boden wurde ihm unter den Füßen weggezogen. Er fiel auf das wasserüberströmte Metall. Hinter ihm platschten Schritte; wilde Flüche, ein Scharren und Hauen waren zu hören, und Fletchers Knöchel waren wieder frei. Er sprang auf und stolperte gegen den Mast. »Etwas ist in der Zerkleinerungsanlage!« brüllte er. Die Männer trampelten durch den Regen. Fletcher folgte ihnen. Aber es war nichts zu sehen. Die Türen standen weit offen, die Räume waren hell beleuchtet. Die Zerkleinerungsmaschinen standen unberührt links und rechts, dahinter die Druckkessel, die Bottiche und die Rohre in sechs verschiedenen Farben. Fletcher griff nach dem Hauptschalter. Das Summen und Mahlen der Maschinerie verstummte. »Sperren wir zu und ziehen uns in die Schlafräume zurück«, brummte er. Am Morgen war die Reihenfolge umgekehrt. Erst färbte die grüne Düsternis Atreus’ den Himmel, um schließlich dem rosigen Schein Geidions zu weichen. Es war ein rauher Tag mit Sturmböen aus allen Richtungen. Fletcher frühstückte, dann schlüpfte er in einen hautengen, mit Heizfäden durchzogenen Coverall, über den er einen wasserdichten Anzug mit Kunststoffschutzhelm zog. Der Flitzer hing an drehbaren Kranarmen am Ostrand des Floßes. Seine Hülle bestand aus transparentem Plastik. Die Pumpen waren in einer Metallzelle in der Mitte versiegelt.
Beim Tauchen füllte die Hülle sich durch Ventile mit Wasser, die sich dann schlossen. Der Flitzer konnte bis in eine Tiefe von hundertzwanzig Meter tauchen. Die Hülle hielt etwa dem halben Druck stand, das eingeschlossene Wasser dem Rest. Die Wirkung auf den Insassen glich dem Druck in etwa sechzig Meter Tiefe – also beinahe dem Tiefenrausch. Fletcher kletterte in das Cockpit. Murphy verband die Schläuche der Lufttanks mit Fletchers Helm, dann schraubte er die Kanzel zu. Mahlberg und Hans Heinz schwangen die Kranarme hinaus. Murphy trat an die Kontrollen. Einen Augenblick zögerte er. Er blickte vom dunklen, da und dort rosig betupften Wasser zu Fletcher und zurück zum Wasser. Fletcher winkte. »Lassen Sie uns schon hinunter«, drang seine Stimme aus dem Lautsprecher am Schott hinter ihnen. Murphy zog am Hebel. Der Flitzer tauchte ins Wasser, das durch die Ventile strömte und sich rings um Fletcher verteilte. Luftblasen stiegen aus dem Helmablaßventil auf. Fletcher überprüfte die Pumpen, dann streifte er die Greifer ab. Der Flitzer stieß schräg in die Tiefe. Murphy seufzte. »Soviel Mumm wie er hab’ ich noch nie gehabt.« »Wenn was hinter ihm her ist, kann er ihm davonsausen«, sagte Damon. »Möglicherweise ist er in seinem Flitzer sicherer als wir hier auf der Plattform.« Murphy klopfte ihm auf die Schulter. »Damon, mein Junge, Sie können doch klettern. Hoch oben auf dem Mast sind Sie sicher. Es ist unwahrscheinlich, daß sie so hochgleiten, um Sie ins Wasser zu ziehen.« Murphy hob den Blick zum Korb, dreißig Meter über dem Deck. »Und ich glaube, dorthin werd’ ich mich verziehen – wenn mir jemand das Essen bringen würde.« Heinz deutete auf das Wasser. »Da sieht man die Blasen noch. Er ist unter das Floß getaucht und fährt nordwärts.«
Der Tag wurde immer stürmischer. Gischt schäumte über das Deck. Sich hinauszuwagen, bedeutete, daß man überspült wurde. Hin und wieder, wenn die Wolkendecke dünner wurde, zeichneten sich Geidion in Blutorange und Atreus in Limonengrün ab. Plötzlich erstarb der Sturm. Das Meer glättete sich in der unnatürlichen Stille. Die Besatzung trank Kaffee in der Messe und unterhielt sich einsilbig mit unsicheren Stimmen. Damon war zu unruhig, um sitzenzubleiben, und ging hinauf in das Labor. Doch schon wenige Minuten später kam er zurück in die Messe gerannt. »Dekabrachen!« rief er. »Unter dem Floß. Ich habe sie vom Beobachtungsdeck aus gesehen!« Murphy zuckte die Schultern. »Von mir haben sie nichts zu befürchten.« »Ich hätte ganz gern eine«, sagte Damon. »Lebend.« »Haben wir nicht schon genug Probleme?« brummte Dave Jones. Damon erklärte geduldig: »Wir wissen nichts über Dekabrachen. Sie sind eine hochentwickelte Spezies. Chrystal vernichtete alle Angaben, die wir über sie hatten. Wenigstens ein Exemplar, an dem ich arbeiten könnte, wäre von großem Nutzen.« Murphy erhob sich. »Nun ja, es dürfte nicht allzu schwierig sein, eines mit dem Netz einzufangen.« »Gut.« Damon strahlte. »Ich bereite den großen Tank vor.« Die Mannschaft ging gemeinsam hinaus auf Deck. Die Luft war drückend, das Meer glatt und ölig, im Dunst verschmolzen Wasser und Himmel zu einer abgestuften Rottönung von einem schmutzig-dunklen Scharlachrot in Floßnähe zu einem blassen Rosa hoch über ihnen. Der Kran wurde ausgefahren und das daran befestigte Netz ins Wasser gelassen. Heinz stand an den Kontrollen, während
Murphy sich über die Reling lehnte und konzentriert ins Wasser blickte. Eine bleiche Gestalt schwamm unter dem Floß hervor. »Anheben!« befahl Murphy. Das Tragseil straffte sich. Spritzend kam das Netz aus dem Wasser. Eine zwei Meter lange Dekabrache schlug um sich. Ihre Kiemen waren weit geöffnet. Der Ausleger schwang herein. Das Netz öffnete sich, die Dekabrache glitt in den Plastiktank. Sie schoß vorwärts und rückwärts. Der Kunststoff beulte sich, wo sie dagegenschlug. Dann verhielt sie sich in der Tankmitte völlig ruhig und drückte die Kopftentakel an den Rumpf. Alle drängten sich um den Tank. Der schwarze Augenfleck starrte durch die transparente Wand zurück. »Was jetzt?« wandte sich Murphy an Damon. »Ich hätte den Tank gern direkt vor dem Labor.« »Wird gemacht.« Der Tank wurde gehoben und an der Stelle abgesetzt, auf die Damon deutete. Der Biochemiker zog sich aufgeregt ins Labor zurück, um seine Untersuchung vorzubereiten. Die anderen betrachteten die Dekabrache noch etwa zehn bis fünfzehn Minuten, dann gingen sie wieder in die Messe.
Die Stunden vergingen. Heftige Böen peitschten das Wasser. Um vierzehn Uhr kam ein leises Zischen aus dem Lautsprecher. Die Männer hielten in ihren Gesprächen inne und hoben die Köpfe. Fletchers Stimme klang aus der Membrane. »Hallo, ihr an Bord des Floßes. Ich befinde mich drei Kilometer nordwestlich. Macht euch bereit, mich an Bord zu holen.« »Ha!« rief Murphy grinsend. »Er hat es geschafft!«
»Ich hätte vier zu eins dagegen gesetzt«, sagte Mahlberg. »Gut, daß niemand wetten wollte.« »Wir müssen uns beeilen, sonst ist er hier, ehe wir soweit sind.« Die Männer rannten zum Anlegeplatz. Der Flitzer glitt durch das bewegte dunkle Wasser. Greifer legten sich um Heck und Bug. Der Kran knarrte und hob das kleine Fahrzeug hoch, das seinen Wasserballast ausspuckte. Fletcher sah abgespannt und müde aus. Steif kletterte er aus dem Flitzer, streckte sich, öffnete den wasserdichten Anzug und nahm den Helm ab. »Ich bin zurück!« Sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Erstaunt?« »Ich hätte meinen Einsatz verloren, wenn ich gewettet hätte«, gestand Mahlberg. »Was haben Sie herausgefunden?« erkundigte sich Damon gespannt. »Überhaupt etwas?« Fletcher nickte. »Eine Menge. Aber ich muß mich unbedingt erst umziehen. Ich bin patschnaß – vom Schweiß.« Sein Blick fiel auf den Tank am Labordeck. »Wann habt ihr die denn an Bord gebracht?« »Gegen Mittag«, erwiderte Murphy. »Damon wollte eine für seine Untersuchungen.« Mit völlig hängenden Schultern starrte Fletcher auf den Tank. »Stimmt etwas nicht?« fragte Damon. »Es könnte nicht schlimmer sein, als es bereits ist«, murmelte Fletcher und ging zum Schlafraum. Die Besatzung wartete in der Messe auf ihn. Nach zwanzig Minuten kam er. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich. »Ich bin natürlich nicht sicher, aber es sieht ganz so aus, als steckten wir tief in der Tinte.«
»Dekabrachen?« fragte Murphy. Fletcher nickte. »Ich wußte es doch!« triumphierte Murphy. »Man sieht es diesen Dingern doch an, daß sie nichts Gutes im Schilde führen!« Damon runzelte die Stirn in Ablehnung dieser gefühlsmäßigen Beurteilung beziehungsweise dieses Vorurteils. »Wie sieht es aus?« fragte er Fletcher. »Oder vielmehr, was halten Sie von der Situation?« Fletcher wählte seine Worte sorgfältig. »Es geht so allerhand vor, dessen wir uns nicht bewußt waren. Die Dekabrachen haben eine Gesellschaftsform.« »Soll das heißen, daß sie – intelligent sind?« Fletcher schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Es ist möglich, genausogut ist es aber auch möglich, daß sie vom Instinkt geleitet werden und eine Sozietät wie beispielsweise die Ameisen haben.« »Wie ist das…«, begann Damon, aber Fletcher wehrte ihn ab. »Ich werde alles erzählen, und dann können Sie Fragen stellen.« Er trank seinen Kaffee. »Als ich untertauchte, hielt ich natürlich wachsam Ausschau. Ich fühlte mich zwar sicher im Flitzer, war aber nach allem, was passiert war, doch ein bißchen nervös. Ich sah, kaum daß ich im Wasser war, die Dekabrachen, fünf oder sechs waren es.« Fletcher machte eine Pause, um einen weiteren Schluck Kaffee zu nehmen. »Was machten sie?« erkundigte sich Damon. »Nichts Besonderes, sie trieben im Wasser um einen großen Monitor, der sich im Seetang verankert hatte. Sein Tentakel hing bis außer Sicht hinab. Ich fuhr ein wenig näher, um zu sehen, was die Deks tun würden. Sie wichen zurück. Ich wollte nicht zuviel Zeit unter dem Floß vergeuden, darum wandte ich
mich nordwärts zu den Tiefen. Auf halbem Weg fiel mir etwas Merkwürdiges auf, das heißt, ich fuhr daran vorbei und kehrte um, um es mir genauer anzusehen. Etwa ein Dutzend Deks hatten einen Monitor bei sich – ein riesiges Exemplar. Er hing an einer Formation von Ballons oder Blasen – irgendeine Art von Pflanzenkapsein –, die ihn trugen, und die Deks schoben ihn… in unsere Richtung!« »Zum Floß?« murmelte Murphy. »Was taten Sie daraufhin?« erkundigte sich Manners. »Vielleicht war es nur ein harmloser Ausflug, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Der Greifarm dieses Monitors mußte wie eine Trosse sein. Ich richtete den Flitzer auf die Ballonkapseln, brachte einige zum Platzen und verstreute die restlichen. Der Monitor sank wie ein Stein. Die Deks ergriffen die Flucht. Diese Runde hatte ich jedenfalls gewonnen. Ich fuhr weiter nordwärts und kam zu der Stelle, wo die Klippen steil abfallen. Ich war bisher in etwa sieben Meter Tiefe gefahren, jetzt ging ich auf siebzig hinunter. Ich mußte natürlich die Lampen einschalten. Dieses rote Zwielicht erhellte das Wasser nicht sonderlich.« Fletcher gönnte sich wieder einen Schluck Kaffee. »Während des ganzen Weges durch die Untiefe bin ich über Korallenbänke hinweggeglitten und mußte wahren Wäldern aus Tang ausweichen. Wo der Boden zu den Tiefen abfällt, werden die Korallen einfach phantastisch! Ich nehme an, weil das Wasser dort bewegter ist und es mehr Nahrung und Sauerstoff gibt. Sie wachsen gut dreißig Meter hoch und bilden alle möglichen Formen – Türme, Schirme, Plattformen, Bogen – in Weiß, Blaßblau und Fahlgrün. Ich kam zum Rand der Klippe. Es war ein Schock: Gerade noch streiften meine Lichter die Korallen, all diese weißen Türme und Gipfel… und dann war nichts mehr. Ich fuhr über die Tiefe. Ein wenig nervös war ich schon. Dumm von mir,
natürlich.« Fletcher grinste verlegen. »Das Echolot verriet mir, daß der Meeresboden dreihundertsechzig Meter unter mir lag. Ich hatte ein komisches Gefühl im Magen. Ich wendete, da bemerkte ich Lichter rechts von mir. Ich schaltete meine aus und fuhr auf die anderen zu. Sie waren weit verstreut, und es sah aus, als flöge ich über eine Stadt – und so was wie eine Stadt war es wohl auch.« »Dekabrachen?« fragte Damon. Fletcher nickte. »Dekabrachen.« »Sie meinen, sie haben sie selbst gebaut? Mit Licht und allem?« Fletcher zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht so sicher. Die Korallen waren auf eine Art gewachsen, die ihnen Eingänge und gewisse Räumlichkeiten bot. Ganz gewiß brauchen sie keinen Schutz vor Regen. Sie haben diese Korallengrotten auch nicht gebaut wie wir ein Haus, aber natürlich gewachsen wirkten die Korallen bestimmt nicht. Ich gewann den Eindruck, daß sie den Wuchs der Korallen so beeinflußten, wie es für ihre Zwecke dienlich war.« Zweifelnd murmelte Murphy: »Dann sind sie also intelligent.« »Das muß nicht sein. Schließlich bauen auch Wespen komplizierte Nester allein durch ihren Instinkt.« »Was halten Sie davon?« erkundigte sich Damon. Fletcher schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, welche Normen anwendbar sind. ›Intelligenz‹ ist ein sehr vielschichtiges Wort. Wir benutzen es gewöhnlich in einem künstlichen, spezialisierten Sinn.« »Da komm’ ich nicht mit«, brummte Murphy. »Ich versteh’ nicht, was Sie meinen. Halten Sie diese Deks nun für intelligent oder nicht?« Fletcher lachte. »Sind Menschen intelligent?« »Sicher. Zumindest behaupten sie es.«
»Nun, was ich sagen will, ist, daß wir die menschliche Intelligenz nicht als Maßstab für die Dekabrachen anlegen können. Wir müssen sie nach anderen Werten messen. Menschen benutzen Werkzeug aus Metall, Keramik, aus anorganischem Material. Ich kann mir aber sehr wohl Zivilisationen vorstellen, die sich lebenden Werkzeugs bedienen: spezialisierte Lebewesen, die von der Hauptgruppe für spezielle Zwecke benutzt werden. Angenommen, das ist bei den Dekabrachen der Fall? Sie lenken auf irgendeine Weise den Wuchs der Korallen. Sie benutzen die Monitoren als Kräne oder Winden, als Fallen, oder um etwas aus der Luft über der Wasseroberfläche zu holen.« »Sie halten die Dekabrachen demnach für intelligent«, sagte Damon. Fletcher schüttelte den Kopf. »Intelligenz ist nichts weiter als ein Wort, das von seiner Auslegung abhängt. Was die Deks tun, läßt sich vielleicht in keine unserer Definitionen dieses Wortes fügen.« »Ich versteh’ immer weniger«, brummte Murphy und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Damon war hartnäckig. »Ich bin weder Metaphysiker noch Semantiker, aber ich bin sehr dafür, daß wir einen Test vornehmen, oder zumindest versuchen, einen durchzuführen.« »Und was spielt es schon für eine Rolle, ob sie nun intelligent sind oder nicht?« fragte Murphy. »Was die Rechtslage betrifft, eine sehr große«, antwortete Fletcher. »Ah!« sagte Murphy. »Die Verantwortungsdoktrin!« »Richtig.« Fletcher nickte. »Man könnte uns von Sabria verweisen, weil wir intelligente Autochthonen verletzt oder getötet haben. Das kam auf anderen Planeten schon vor.« »Stimmt«, bestätigte Murphy. »Ich war auf Alkaid II, als die Graviton Gesellschaft in einen solchen Fall verwickelt wurde.«
»Wenn die Deks also tatsächlich intelligent sind, müssen wir verdammt aufpassen. Deshalb bin ich auch etwas erschrocken, als ich die Dekabrache im Tank entdeckt habe.« »Ja, aber die Frage ist, sind sie nun intelligent oder nicht?« warf Mahlberg ein. »Es gibt einen beweiskräftigen Test«, erklärte Damon. Alle blickten ihn erwartungsvoll an. »Na?« fragte Murphy. »Heraus damit!« »Verständigung.« Murphy nickte nachdenklich. »Klingt vernünftig.« Er wandte sich an Fletcher. »Ist Ihnen aufgefallen, daß sie sich untereinander verständigten?« Fletcher schüttelte den Kopf. »Morgen nehme ich eine Kamera mit, dann werden wir sehen.« »Übrigens«, fragte Damon, »weshalb haben Sie sich nach Niobium erkundigt?« Fletcher hatte es fast vergessen. »Chrystal hatte einen Würfel auf seinem Schreibtisch. Er war möglicherweise aus Niobium, sicher bin ich mir nicht.« Damon nickte. »Es kann natürlich Zufall sein, aber die Deks sind voll damit.« Fletcher sperrte die Augen auf. »Es befindet sich in ihrem Blut und stark konzentriert in ihren inneren Organen.« Fletcher nahm die Tasse, aus der er gerade hatte trinken wollen, wieder von den Lippen. »Genug, daß es sich lohnt?« Damon nickte. »Vermutlich mehr als hundert Gramm in den Organen.« »So, so«, murmelte Fletcher. »Das ist ja äußerst interessant.«
Nachts regnete es in Strömen. Ein heftiger Wind kam auf, der Regen und Gischt vor sich her peitschte. Von der Besatzung
hatten sich die meisten schlafen gelegt, nur Dave Jones, der Steward, war aufgeblieben, um Manners, der Funkdienst hatte, Gesellschaft zu leisten. Die beiden saßen über ein Schachbrett gebeugt, als ein neuer Laut sich über Wind und Regen erhob: ein metallisches Ächzen und Knarren, das bald zu laut wurde, als daß man es länger hätte ignorieren können. Manners sprang auf und ging ans Fenster. »Der Mast!« rief er. Nur verschwommen war er durch die Regenschwaden zu erkennen. Er schaukelte wie Rohr im Wind und schlug immer weiter aus. »Was können wir tun?« schrie Jones erschrocken. Ein Satz Halteseile riß. »Nichts mehr«, brummte Manners. »Ich hole Fletcher.« Jones rannte zu den Schlafräumen. Nach einem heftigen Ruck verharrte der Mast eine kurze Weile in einem unvorstellbaren Winkel, dann stürzte er auf die Zerkleinerungsanlagen. Fletcher kam herbeigerannt. Er blickte durchs Fenster. Ohne die Mastlichter war das Floß unheildrohend dunkel. Er zuckte die Schultern. »Heute nacht können wir nichts mehr tun. Es wäre lebensgefährlich, aufs Deck hinauszugehen.« Am Morgen stellten sie fest, daß zwei der Halteseile sauber durchgesägt oder durchgeschnitten waren. Der Mast aus leichtem Material war schnell in mehrere Stücke zertrennt, und die verbogenen Teile wurden in eine Ecke des Floßes gezerrt. Ohne den Mast wirkte die Plattform ungewohnt kahl und flach. »Jemand oder etwas ist darauf aus, uns so viele Schwierigkeiten wie nur möglich zu bereiten«, sagte Fletcher. Er blickte über das stumpfrosa Meer in die Richtung, wo das Floß der Pelagischen Wiedergewinnung außer Sichtweite war. »Offenbar denken Sie dabei an Chrystal«, sagte Damon. »Ich habe einen Verdacht.«
Damon folgte seinem Blick. »Und ich bin mir fast sicher.« »Verdacht ist kein Beweis«, entgegnete Fletcher. »Was hätte Chrystal denn schon davon, wenn er uns angreift?« »Was hätten die Dekabrachen davon?« »Keine Ahnung«, murmelte Fletcher, »aber ich möchte es gern herausfinden.« Er ging, um seinen Unterwasseranzug anzuziehen. Der Flitzer wurde bereitgemacht. Fletcher schloß eine Tonbildkamera an der Außenhülle an, dann kletterte er in das Cockpit und zog die Kanzel über den Kopf. Der Flitzer wurde ins Meer gelassen. Er füllte sich mit Wasser, und seine glänzende Hülle verschwand unter der Oberfläche. Die Mannschaft reparierte das Dach der Zerkleinerungsanlagen und stellte die Antenne behelfsmäßig auf. Der Tag verging, die Dämmerung verdrängte ihn und wich selbst dem pflaumenfarbigen Abend. Der Lautsprecher knisterte, bis Fletchers hörbar müde und angespannte Stimme zu vernehmen war: »Macht euch bereit, ich komme zurück.« Die Besatzung lehnte sich an die Reling und versuchte, durch die Dunkelheit zu spähen. Eine der dumpfschimmernden Wellen behielt ihre Form bei. Sie kam näher und entpuppte sich als der Flitzer. Die Greifer wurden hinuntergelassen. Das kleine Fahrzeug entleerte sein Ballastwasser und wurde hochgezogen. Fletcher sprang auf Deck und lehnte sich erschöpft an einen Kran. »Mir reicht das Tauchen für eine Weile«, erklärte er. »Was haben Sie herausgefunden?« erkundigte sich Damon aufgeregt. »Ich habe alles mit der Kamera aufgenommen. Sobald mein Kopf zu brummen aufhört, schauen wir es uns an.«
Fletcher gönnte sich eine heiße Dusche, dann ließ er sich von Jones in der Messe einen Riesenteller Eintopf vorsetzen, während Manners Fletchers Film in den Projektor einlegte. »Ich bin zu zwei Folgerungen gekommen«, erklärte Fletcher. »Erstens: die Dekabrachen sind intelligent. Zweitens, falls sie sich miteinander verständigen, dann auf eine Weise, die Menschen nicht feststellen können.« Damon blinzelte überrascht und unzufrieden. »Das ist ja fast ein Widerspruch.« »Sie brauchen sich bloß den Film anzusehen, dann können Sie selbst urteilen.« Manners schaltete den Projektor ein. Der Schirm leuchtete auf. »Auf dem ersten Meter ist nicht viel zu sehen«, sagte Fletcher. »Ich fuhr direkt zum Rand der Platte und dann an ihm entlang. Sie fällt dort steil ab, als wäre es das Ende der Welt. Etwa fünfzehn Kilometer von der gestrigen fand ich eine riesige Kolonie, eine Großstadt fast.« »Allein das Wort bedeutet schon Zivilisation«, erklärte Damon belehrend. Fletcher zuckte die Schultern. »Wenn Zivilisation Manipulation der Umwelt bedeutet – irgendwo hörte ich diese Definition –, dann sind sie zivilisiert.« »Aber sie verständigen sich nicht?« »Sehen Sie sich doch den Film an.« Der Schirm wurde dunkel in der Farbe des Meeres. »Ich fuhr kurz in die Tiefe hinaus«, erklärte Fletcher, »dann schaltete ich meine Scheinwerfer aus und die Kamera ein und fuhr langsam auf die Stadt zu.« Eine blasse, sternenähnliche Konstellation tauchte in der Schirmmitte auf und verteilte sich zu einem Funkenschwarm, der heller wurde und sich ausbreitete. Hinter den Funken waren Umrisse von Korallenminaretten, -türmen und hohen
-spitzen zu erkennen, die immer deutlicher wurden, je näher Fletcher an sie herankam. Seine aufgenommene Stimme erklang vom Schirm: »Diese Gebilde variieren an Höhe von fünfzehn bis sechzig Meter, in einer Geländebreite von dreiviertel Kilometer.« Die Gebilde kamen näher. Dunkle Öffnungen wurden in ihnen sichtbar, durch die bleiche Dekabrachen aus und ein schwammen. »Achten Sie auf den Platz vor der Kolonie. Er scheint ein Sims oder Lagerhof zu sein. Von hier ist es schlecht zu erkennen. Ich werde etwa dreißig Meter tiefer gehen.« Das Bild wechselte, der Schirm verdunkelte sich. »Ich tauche jetzt, der Tiefenmesser zeigt hundertzehn Meter an… hundertfünfzehn… Ich kann nicht besonders gut sehen… ich hoffe, die Kamera nimmt alles auf.« Jetzt kommentierte Fletcher das Bild auf dem Schirm. »So ist es viel besser zu erkennen, als ich es sehen konnte. Das Leuchten der Korallen ist dort unten nicht so stark.« Auf dem Schirm sah man das Fundament der Korallengebilde und ein fast ebenes Sims, etwa fünfzehn Meter breit. Die Kamera schwenkte über den Rand in die Schwärze. »Ich war neugierig«, sagte Fletcher. »Das Sims sah nicht aus, als wäre es natürlichen Ursprungs – und ist es auch nicht. Sehen Sie die Umrisse dort? Sie sind allerdings kaum zu erkennen. Das Sims ist eine Art Terrasse oder Veranda.« Die Kamera schwenkte jetzt zu der Bank zurück, die offenbar in verschiedene Felder von sich vage unterscheidenden Farbtönungen aufgeteilt war. »Diese farbigen Felder sind wie Beete in einem Garten. Auf jedem Feld sind andere Pflanzen oder Tiere zu finden. Ich gehe näher heran. Hier sind Monitoren.« Zwei oder drei Dutzend plumpe Halbkugeln waren zu sehen.
Dann wanderte die Kamera weiter zu einem Feld mit etwas, das wie Aale mit Sägezähnen an den Seiten aussah, die sich mit Saugnäpfen an der Bank festhielten. Als nächstes kamen schwebende Blasen, und danach eine größere Zahl schwarzer Kegel mit sehr langen geschmeidigen Schwänzen. Verwirrt fragte Damon: »Was hält sie denn dort fest?« »Das müssen Sie schon die Dekabrachen fragen«, antwortete Fletcher. »Das täte ich ja gern, wenn ich wüßte, wie.«
»Ich habe sie immer noch nicht etwas Intelligentes tun sehen«, brummte Murphy. »Passen Sie auf.« Ein Dekabrachenpaar schwamm ins Blickfeld. Die schwarzen Augenflecken schienen geradewegs auf die Männer in der Messe zu starren. »Dekabrachen«, erklang Fletchers aufgezeichnete Stimme vom Schirm. »Ich glaube, bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie mich noch nicht bemerkt«, wandte Fletcher sich an seine neben ihm sitzenden Kameraden. »Ich hatte ja kein Licht an und hob mich nicht vom Hintergrund ab. Aber sie hatten wohl die Pumpe gespürt.« Die Dekabrachen wendeten gemeinsam und tauchten scharf hinunter zur Bank. »Sie sahen ein Problem, und die Lösung fiel ihnen beiden gleichzeitig ein. Eine erkennbare Verständigung gab es nicht.« Die Dekabrachen waren zu verschwommenen Flecken auf einem der dunklen Felder verblaßt. »Ich wußte nicht, was sich tat, aber ich hielt es für besser zu verschwinden. Und dann – das zeigt die Kamera allerdings nicht – spürte ich etwas gegen die Hülle poltern, als würfe man mit Steinen danach. Ich konnte nicht sehen, was vorging, bis etwas direkt vor meinem Gesicht auf der Kanzel aufschlug. Es war ein kleines Torpedo mit einer langen Spitze wie eine Stricknadel. Ich machte, daß ich wegkam, ehe den Deks etwas Wirkungsvolleres einfiel.« Der Schirm wurde dunkel. Fletchers Stimme sagte: »Ich bin jetzt über der Tiefe und fahre parallel zum Rand der Klippe.« Unbestimmbare Konturen huschten über den Schirm, verschwommen und blaß durch Wasser und Entfernung. »Ich kehrte zum Rand der Bank zurück«, sagte Fletcher, »und fand die Kolonie, die ich gestern gesehen hatte.«
Wieder zeichneten sich Türme und Spitzen in Blaßblau, Fahlgrün und Elfenbein auf dem Schirm ab. »Ich gehe näher«, erklang Fletchers Stimme. Die Türme wurden breiter, vorne tauchte eine dunkle Öffnung auf. »Hier schaltete ich den Vorderscheinwerfer ein«, sagte Fletcher. Die schwarze Öffnung wurde zu einem hellen zylindrischen Raum, etwa viereinhalb Meter tief. An den Wänden waren glitzernde farbige Kugeln, Christbaumschmuck ähnlich, aufgereiht. Eine Dekabrache schwamm in der Mitte des Raumes. Durchscheinende Ranken, die in knolligen Auswüchsen endeten, erstreckten sich von den Wänden und schienen die seehundglatte Haut zu massieren. »Ich weiß nicht, was das soll«, erklang Fletchers Stimme, »aber dem Dek gefällt es offenbar nicht, daß ich ihn beobachte.« Die Dekabrache wich in den hinteren Teil des Zimmers, wenn man es so nennen konnte, aus. Die Knollenranken verschwanden in den Wänden. »Ich schaute in die nächste Öffnung.« Ein weiteres schwarzes Loch wurde zum hellen Zimmer, als der Scheinwerfer hineinstrahlte. Eine Dekabrache ruhte in der Mitte des Raumes und hielt sich eine gallertige rosa Scheibe vor das Auge. Hier war von Wandranken nichts zu sehen. »Dieser Dek rührte sich überhaupt nicht«, sagte Fletcher. »Er schlief entweder oder war hypnotisiert oder vor Angst gelähmt. Ich machte mich daran weiterzufahren, da erschütterte ein furchtbarer Schlag den Flitzer. Ich dachte schon, es sei aus mit mir.« Das Bild auf dem Schirm schwankte heftig. Etwas Schwarzes schoß vorbei und verschwand in der Tiefe. »Ich schaute hoch«, fuhr Fletcher fort. »Ich sah nur etwa ein Dutzend Deks. Offenbar hatten sie einen riesigen Stein über
mich gehoben und ihn dann fallen lassen. Ich schaltete die Pumpe ein und machte mich auf den Rückweg.« Der Schirm erlosch. Damon war beeindruckt. »Ich muß zugeben, daß ihr Benehmen Intelligenz verrät. Haben Sie irgendwelche Laute gehört?« »Keinerlei. Übrigens war der Recorder die ganze Zeit eingeschaltet. Außer den Schlägen auf die Flitzerhülle war nichts zu hören.« Damon verzog mißmutig das Gesicht. »Sie müssen sich doch irgendwie untereinander verständigen – wie könnten sie sonst koordiniert handeln?« »Vielleicht sind sie Telepathen?« meinte Fletcher. »Ich habe ganz genau aufgepaßt. Sie gaben keinerlei Laute von sich und verständigten sich auch nicht mit Bewegungen.« »Könnten sie vielleicht Radiowellen ausstrahlen? Oder Infrarot?« fragte Manners. Dumpf antwortete Damon: »Der im Tank tut es jedenfalls nicht.« »Ach was«, brummte Murphy, »gibt es denn keine intelligenten Rassen, die sich nicht untereinander verständigen?« »Keine«, versicherte ihm Damon. »Sie benutzen verschiedene Methoden: Schallwellen, Signale, Ausstrahlung usw. Aber alle verständigen sich.« »Ich persönlich glaube, daß ihre Gedanken konform sind und sie sich deshalb nicht durch irgendwelche Methoden verständigen müssen.« Damon schüttelte zweifelnd den Kopf. »Nehmen wir an«, fuhr Fletcher fort, »ihr Zusammenleben beruht auf rassischer Empathie, daß sie sich eben so entwickelt haben. Menschen sind individualistisch, sie brauchen die Sprache. Die Dekabrachen sind identisch, sie sind sich alle
gleichermaßen bewußt, was vorgeht, ohne es durch andere erfahren zu müssen.« Er überlegte kurz. »In gewisser Weise, glaube ich, verständigen sie sich doch. Gesetzt den Fall, ein Dek möchte den Garten vor seinem Turm vergrößern, dann wartet er vermutlich, bis ein anderer Dek vorüberkommt, und trägt einen Stein hinaus – damit deutet er an, was er zu tun beabsichtigt.« »Verständigung durch ein Beispiel«, murmelte Damon. »Ja, in etwa – wenn man das Verständigung nennen kann. Das gestattet ein Maß an Zusammenarbeit, aber ganz sicher keine Unterhaltung, kein Planen für die Zukunft, keine Tradition.« »Vielleicht sind sie sich der Vergangenheit und Zukunft überhaupt nicht bewußt!« rief Damon. »Ja möglicherweise nicht einmal der Zeit!« »Es ist schwierig, ihre angeborene Intelligenz abzuschätzen. Sie kann genausogut erstaunlich hoch wie erschreckend gering sein. Das Fehlen einer Verständigungsweise ist ein großer Nachteil.« »Nachteil oder nicht«, brummte Mahlberg, »jedenfalls sind sie plötzlich hinter uns her.« »Und warum?« knurrte Murphy und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Das möchte ich wirklich gern wissen. Wir haben ihnen nie etwas getan, sie auf keine Weise belästigt. Und mit einemmal töten sie Raight und Agostino und zerstören unseren Mast. Wer weiß, was ihnen heute nacht einfällt! Warum, frage ich, warum?« »Genau das werde ich Ted Chrystal morgen fragen!« erklärte Fletcher.
Fletcher zog einen frischgewaschenen blauen Körpercoverall an, frühstückte schweigend und ging hinaus aufs Flugdeck.
Murphy und Mahlberg hatten die Halteseile des Hubschraubers gelöst und wuschen die Salzschicht von der Kanzelhaube. Fletcher setzte sich hinter die Armaturen und drehte den Kontrollknopf. Grünes Licht blinkte – alles war in Ordnung. Mit heimlicher Hoffnung sagte Murphy: »Vielleicht sollte ich lieber mitkommen, Sam. Vielleicht kommt es zu Schwierigkeiten.« »Schwierigkeiten? Warum sollte es?« »Na ja, ich traue Chrystal nicht mehr so recht.« »Ich auch nicht«, versicherte ihm Fletcher. »Aber er wird keine Schwierigkeiten machen.« Er schaltete den Motor ein. Der Hubschrauber startete und flog nordostwärts. Biomineral zeigte sich nur noch als heller Fleck auf der unregelmäßigen Seetangschicht. Es war ein schwüler, völlig windstiller Tag. Möglicherweise braute sich eines dieser fürchterlichen Gewitter zusammen, die alle paar Wochen über dem Meer tobten. Fletcher beschleunigte und nahm sich vor, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Kilometer um Kilometer Ozean glitten unter ihm dahin, bis endlich die Pelagische Wiedergewinnung vor ihm auftauchte. Dreißig Kilometer südwestlich von der Plattform überholte Fletcher einen kleinen Lastkahn, der mit Rohstoffen für Chrystals Einweichbütten und Laugentanks beladen war. Fletcher sah zwei Mann an Bord. Beide hatten sich in die Plastikkanzel zurückgezogen. Vielleicht hat auch die Pelagische Wiedergewinnung ihre Probleme mit den Deks, dachte er. Chrystals Floß unterschied sich kaum von dem der Biomineral, nur daß sein Mast noch vom Mitteldeck hochragte und offensichtlich in der Zerkleinerungsanlage gearbeitet
wurde. Was immer auch ihre Schwierigkeiten waren, sie hatten den Betrieb nicht schließen müssen. Fletcher landete auf dem Flugdeck. Als die Rotoren anhielten, kam Chrystal aus seinem Büro. Er war ein großer blonder Mann mit einem Gesicht, das aussah, als wäre er ständig zu irgendwelchen Scherzen aufgelegt. Fletcher sprang aufs Deck. »Hallo, Ted«, grüßte er mit tonloser Stimme. Chrystal näherte sich mit vergnügtem Lächeln. »Hallo, Sam. Lange her, seit wir uns gesehen haben.« Er schüttelte Fletcher die Hand. »Was gibt’s Neues bei Biomineral? Tut mir leid, das mit Carl.« »Deshalb bin ich hier. Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen.« Fletcher blickte sich um. Zwei Männer von der Besatzung standen herum und beobachteten sie. »Können wir in Ihr Büro gehen?« »Aber selbstverständlich.« Chrystal stapfte voraus und schob die Tür auf. »Nur herein.« Fletcher trat ein. Chrystal ging hinter seinen Schreibtisch. »Setzen Sie sich, bitte.« Er wartete, bis Fletcher Platz genommen hatte, dann setzte er sich in seinen Schreibtischsessel. »Also – was gibt’s? Aber wie wär’s zuerst mit einem Drink? Wenn ich mich recht erinnere, mögen Sie gern Scotch.« »Heute nicht, danke.« Fletcher überkreuzte die Beine. »Ted, wir sind leider auf ein sehr ernstes Problem hier auf Sabria gestoßen. Ich hielt es für angebracht, persönlich mit Ihnen darüber zu sprechen.« »Ja, natürlich. Reden Sie.« »Carl Raight ist tot, und Agostino ebenfalls.« Erschrocken hob Chrystal die Brauen. »Agostino ebenfalls? Wie?« »Das wissen wir nicht. Plötzlich war er nicht mehr da.«
Chrystal brauchte einen Augenblick, bis er das verdaut hatte, dann schüttelte er verwirrt den Kopf. »Das verstehe ich nicht. So etwas ist doch die ganze Zeit nicht vorgekommen.« »Und hier bei Ihnen ist nichts passiert?« Chrystal runzelte die Stirn. »Nun – nichts Besonderes. Ihr Anruf warnte uns ja, und wir waren deshalb besonders vorsichtig.« »Die Dekabrachen scheinen dahinterzustecken.« Chrystal blinzelte und spitzte die Lippen, schwieg jedoch. »Haben Sie sich vielleicht Dekabrachen geholt, Ted?« »Hm, nun, Sam…« Chrystal zögerte. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch. »Das ist wohl kaum eine faire Frage. Selbst wenn wir mit Deks arbeiteten – oder Polypen oder Bärlapp oder Aalen –, glaube ich nicht, daß ich es Ihnen gern sagen würde.« »Ich interessiere mich nicht für Ihre Geschäftsgeheimnisse«, versicherte ihm Fletcher. »Die Sache ist, daß die Deks offenbar eine intelligente Spezies sind. Ich habe Grund zur Annahme, daß Sie sie ihres Niobiumgehalts wegen verarbeiten. Und es sieht ganz so aus, als versuchten sie alles in ihrer Macht Stehende, sich zu rächen, und es ist ihnen egal, wen sie erwischen. Sie haben zwei unserer Leute getötet. Ich habe ein Recht zu erfahren, was vorgeht.« Chrystal nickte. »Ich verstehe Ihre Einstellung, aber ich kann Ihrem Gedankengang nicht folgen. Sie sagten mir beispielsweise, daß ein Monitor Raight umgebracht habe. Und jetzt schließen Sie plötzlich auf Dekabrachen. Außerdem, wie kommen Sie darauf, daß ich auf Niobium aus bin?« »Ted, wir wollen einander nichts vormachen!« Chrystal wirkte zuerst schockiert, dann verärgert. »Als Sie noch für Biomineral arbeiteten, entdeckten Sie, daß die Deks voll Niobium sind. Sie löschten diese Information aus
der Kartei, beschafften sich den nötigen Kredit und bauten dieses Floß. Seither fangen Sie Deks ein.« Chrystal lehnte sich zurück und musterte Fletcher kühl. »Ziehen Sie nicht etwas voreilige Schlußfolgerungen?« »Nun, falls ich es tue, brauchen Sie es ja nur zu sagen.« »Ich finde Ihre Einstellung nicht sehr freundlich.« »Ich bin auch nicht aus einem freundlichen Anlaß hier. Wir haben zwei Männer und unseren Mast verloren. Wir mußten den Betrieb einstellen.« »Tut mir leid, das zu hören…«, begann Chrystal. Fletcher unterbrach ihn. »Bis jetzt gestehe ich Ihnen sozusagen mildernde Umstände zu.« »Was wollen Sie damit sagen?« erkundigte sich Chrystal erstaunt. »Ich nehme an, Sie wußten nicht, daß die Deks intelligent sind und deshalb durch die Verantwortungsdoktrin geschützt werden.« »Und?« »Nun wissen Sie es und können sich nicht mehr damit entschuldigen, daß Sie es nicht wissen.« Chrystal schwieg ein paar Sekunden. »Sie stellten da ein paar erstaunliche Behauptungen auf, Sam«, sagte er schließlich. »Und bestreiten Sie sie?« »Selbstverständlich!« sagte Chrystal plötzlich. »Und Sie verarbeiten also keine Dekabrachen?« »Nicht so schnell, Sam. Schließlich ist das hier mein Floß. Sie können nicht einfach an Bord kommen und mich herumkommandieren. Wird Zeit, daß Sie das einsehen!« Fletcher rückte ein wenig zurück, als wäre Chrystals Nähe ihm unangenehm. »Ich habe noch keine eindeutige Antwort von Ihnen!«
Chrystal lehnte sich zurück, drückte die Fingerspitzen aneinander und blies die Wangen auf. »Ich habe auch nicht vor, Ihnen eine zu geben.« Der Lastkahn, den Fletcher auf dem Weg zur Pelagischen Wiedergewinnung überholt hatte, war gerade dabei anzulegen. »Was hat er geladen?« erkundigte sich Fletcher. »Ich würde sagen, das geht Sie nichts an.« Fletcher stand auf und trat ans Fenster. Chrystal protestierte, aber Fletcher achtete nicht auf ihn. Die beiden Männer waren noch in der Kontrollkabine. Offensichtlich warteten sie auf die Gangway, die soeben vom Kran angelegt wurde. Fletcher sah mit wachsender Neugier überrascht zu. Die Gangway war wie ein Trog mit hohen Sperrholzwänden gebaut. Er drehte sich zu Chrystal um. »Was geht dort draußen vor?« Chrystal kaute an seiner Unterlippe. Sein Gesicht war tiefrot angelaufen. »Sam, Sie kommen hierher gestürmt, bombardieren mich mit wilden Beschuldigungen, beschimpfen mich – durch Andeutungen –, und ich schweige, denn ich halte Ihnen die Anspannung zugute, unter der Sie zweifellos leiden, und ich möchte schließlich die guten Beziehungen zwischen unseren beiden Firmen aufrechterhalten. Ich werde Ihnen einige Papiere zeigen, die Ihnen ein für allemal beweisen dürften…« Er wühlte in einer Schreibtischlade. Ein Auge auf das gerichtet, was draußen geschah, und das andere auf Chrystal, blieb Fletcher am Fenster stehen. Die Gangway war nun eingerastet. Die beiden Männer machten sich zum Aussteigen bereit. Fletcher beschloß sich zu vergewissern, was vorging. Er ging zur Tür. Chrystals Miene wurde eisig. »Sam, ich warne Sie, gehen Sie nicht hinaus!« »Warum nicht?«
»Weil ich es sage.« Fletcher schob die Tür auf. Chrystal sprang halb auf, doch dann ließ er sich wieder schwer in seinen Sessel fallen. Fletcher trat aus der Tür und überquerte das Deck zum Lastkahn. Ein Mann in der Aufbereitung sah ihn durch das Fenster und fuchtelte wild mit den Händen. Fletcher zögerte, dann wandte er den Blick dem Lastkahn zu. Noch ein paar Schritte, dann konnte er in den Frachtraum sehen. Er trat näher heran. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Mann in der Aufbereitung noch wilder herumfuchtelte, dann verschwand er vom Fenster. Der Laderaum war voll schlaffer weißer Dekabrachen. »Schnell, zurück, Idiot!« brüllte der Mann von der Aufbereitung, der jetzt an der Tür aufgetaucht war. Vielleicht war es ein leises Surren, das Fletcher warnte. Statt zurückzuspringen, warf er sich auf das Deck. Ein kleines Geschoß sirrte vom Meer her über seinen Kopf. Es prallte gegen ein Schott und fiel auf das Deck – es war ein fischähnliches Torpedo mit einem langen nadelgleichen Rüssel. Flossenflatternd zischte es auf Fletcher zu, der schnell auf die Füße sprang und geduckt im Zickzack zurück zum Büro rannte. Zwei weitere der fischähnlichen Geschosse verfehlten ihn um Fingerbreite. Fletcher warf sich durch die Tür ins Innere.
Chrystal saß noch hinter dem Schreibtisch. Keuchend stellte Fletcher sich vor ihn. »Schade, daß ich nicht getroffen wurde, nicht wahr?« »Ich warnte Sie davor, hinauszugehen.« Fletcher drehte sich um und blickte über das Deck. Die Männer vom Lastkahn rannten über die trogähnliche
Laufplanke zur Fabrikation. Ein ganzer Schwarm Torpedofische sprang aus dem Wasser und prallte gegen die Preßholzplatten. Fletcher wandte sich an Chrystal. »Ich habe Dekabrachen im Lastkahn gesehen – Hunderte!« Chrystal hatte seine Fassung wiedergewonnen. »Na und?« »Sie wissen genau wie ich, daß sie intelligent sind.« Chrystal schüttelte lächelnd den Kopf. Fletcher konnte sich kaum noch beherrschen. »Ihretwegen werden wir alle Sabria verlassen müssen!« Chrystal hob eine Hand. »Nicht so hastig, Sam. Fische sind Fische!« »Nicht, wenn sie intelligent sind und als Vergeltungsmaßnahme Menschen töten.« Chrystal schüttelte den Kopf. »Sind sie denn intelligent?« Fletcher wartete, bis er seine Stimme wieder unter Kontrolle hatte. »Ja, das sind sie allerdings!« »Woher wollen Sie das denn wissen? Haben Sie sich mit ihnen unterhalten?« »Natürlich nicht!« »Nun, sie haben vielleicht eine gewisse Gesellschaftsform, aber das läßt sich auch von Seehunden sagen.« Fletcher trat näher an ihn heran und blickte ihn schneidend an. »Ich beabsichtige nicht, mich mit Ihnen über Definitionen auszulassen. Ich verlange, daß Sie aufhören, Dekabrachen zu jagen, weil Sie damit die Männer sowohl Ihres als auch unseres Floßes in Lebensgefahr bringen.« Chrystal lehnte sich ein wenig zurück. »Aber Sam, Sie wissen doch, daß Sie mich nicht einschüchtern können.« »Durch Sie sind bereits zwei meiner Leute umgekommen, und ich selbst bin inzwischen schon dreimal um Haaresbreite dem Tod entgangen. Ich bin nicht bereit, weitere Risiken einzugehen, nur damit Sie reich werden.«
»Sie ziehen da einfach Folgerungen«, protestierte Chrystal. »Sie haben überhaupt noch nicht bewiesen…« »Ich habe genug bewiesen! Sie haben mit der Jagd auf die Dekabrachen aufzuhören, mehr gibt es nicht zu sagen!« Chrystal schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht, wie Sie mich davon abhalten könnten, Sam.« Er brachte seine Rechte, die er unter den Schreibtisch gehalten hatte, zum Vorschein. Sie hielt einen kleinen Handstrahler. »Niemand kommandiert mich herum, nicht auf meinem eigenen Floß!« Fletcher handelte reaktionsschnell und überraschte Chrystal. Er faßte ihn am Handgelenk und hieb es gegen die Tischkante. Der Strahler blitzte und brannte eine Furche in die Schreibtischplatte, ehe er Chrystals schmerzenden Fingern entglitt. Chrystal fluchte wie ein Wilder. Er bückte sich nach dem Strahler, aber Fletcher schwang sich über den Schreibtisch und kippte Chrystal mitsamt Sessel nach hinten. Im Fallen trat Chrystal nach Fletchers Gesicht und traf ihn so heftig an der Wange, daß Fletcher auf die Knie sank. Beide Männer tasteten nach der Waffe. Fletcher erreichte sie als erster. Er erhob sich und ging rückwärts zur Wand. »Jetzt wissen wir, wie wir stehen«, brummte er. »Nehmen Sie die Waffe weg!« Fletcher schüttelte den Kopf. »Ich stelle Sie unter Arrest. Sie kommen mit mir zur Biomineral, bis der Inspektor eintrifft.« Chrystal starrte ihn verblüfft an. »Wa… as?« »Ich sagte, ich nehme Sie zur Biomineral mit. Der Inspektor ist in drei Wochen fällig. Ich werde Sie ihm übergeben.« »Sie sind verrückt, Fletcher!« »Vielleicht. Aber ich gehe keine Risiken mit Ihnen ein.« Fletcher wies mit dem Strahler die Richtung. »Also los. Hinaus zum Hubschrauber!«
Chrystal verschränkte die Arme. »Ich werde mich nicht von der Stelle rühren. Fuchteln Sie ruhig mit dem Strahler herum, damit jagen Sie mir keine Angst ein.« Fletcher hob den Arm, zielte und drückte ab. Der Feuerstrahl streifte ganz leicht Chrystals Gesäß. Chrystal hüpfte erschrocken zur Seite und preßte die Hand auf die versengte Haut. »Der nächste Schuß wird ein wenig mehr als nur die Haut verbrennen«, versprach ihm Fletcher. Chrystal funkelte ihn wütend an. »Es ist Ihnen doch klar, daß ich Sie wegen Kidnapping anzeigen kann?« »Ich entführe Sie nicht, ich stelle Sie lediglich unter Arrest.« »Ich werde Biomineral verklagen, daß sie bankrott geht!« »Wenn Biomineral nicht Sie zuerst verklagt. Also, los jetzt!«
Die gesamte Besatzung erwartete den Hubschrauber: Damon, Blue Murphy, Manners, Hans Heinz, Mahlberg und Dave Jones. Chrystal sprang arrogant auf Deck. Sein Blick wanderte von oben herab über die Männer, mit denen er einmal zusammengearbeitet hatte. »Ich habe euch allen etwas zu sagen!« Die Männer beobachteten ihn schweigend. Chrystal deutete mit einem Daumenzucken auf Fletcher. »Sam hat sich da ganz schön in Schwierigkeiten gebracht. Ich sagte ihm, daß er nichts zu lachen haben würde.« Er blickte von Gesicht zu Gesicht. »Wenn ihr ihm helft, macht ihr euch zu Mitschuldigen. Ich rate euch, nehmt ihm den Strahler ab und fliegt mich zu meinem Floß zurück.« Noch einmal machte sein Blick die Runde, doch nur Ablehnung, ja sogar Feindseligkeit begegneten ihm. »Na gut,
dann macht ihr euch derselben Straftat schuldig wie Fletcher. Entführung ist ein schweres Verbrechen, bedenkt das!« Murphy wandte sich an Fletcher: »Wohin mit ihm?« »Sperrt ihn in Carls Kabine. Da ist er gut aufgehoben. Kommen Sie, Chrystal.« Nachdem sie Chrystal eingeschlossen hatten, gingen alle in die Messe. Fletcher sagte: »Ich brauche es wohl nicht zu betonen: Seid vorsichtig, Chrystal ist gerissen. Sprecht am besten überhaupt nicht mit ihm, und laßt euch zu nichts von ihm überreden. Wenn er etwas verlangt, dann gebt mir Bescheid. Ist das klar?« Damon fragte zweifelnd: »Gehen wir nicht etwas zu weit?« »Was würden Sie vorschlagen?« fragte Fletcher. Damon überlegte. »Könnte er nicht versprechen, daß er keine Dekabrachen mehr jagt?« »Er weigert sich. Ich habe es bereits versucht.« »Nun ja«, sagte Damon widerstrebend, »ich nehme an, was wir tun, ist richtig. Aber wir müssen die Anklage beweisen. Dem Inspektor wird es egal sein, ob Chrystal die Biomineral betrogen hat oder nicht.« »Wenn etwas schiefgeht, übernehme ich die gesamte Verantwortung«, sagte Fletcher. »Unsinn!« brummte Murphy. »Wir sitzen alle im gleichen Boot. Ich finde, daß Sie es genau richtig gemacht haben. Eigentlich sollten wir ihn ja den Deks ausliefern und sehen, was sie ihm zu sagen haben.«
Eine Weile später gingen Fletcher und Damon zum Labor hoch, um sich den gefangenen Dek anzusehen. Er schwamm ruhig in der Mitte des Tanks, die zehn Arme im rechten Winkel zu seinem Körper. Das schwarze Auge blickte durch das Glas.
»Wenn er intelligent ist«, sagte Fletcher, »muß er sich genauso für uns interessieren wie wir uns für ihn.« »Ich bin mir gar nicht so sicher, daß er intelligent ist«, sagte Damon. »Warum versucht er nicht, sich irgendwie zu verständigen?« »Ich hoffe, der Inspektor denkt nicht wie Sie«, brummte Fletcher. »Wir haben schließlich keine hieb- und stichfesten Beweise gegen Chrystal.« Damon blickte besorgt drein. »Bevington scheint mir ein Mann zu sein, der nur Tatsachen gelten läßt. Ich glaube nicht, daß er viel Phantasie hat.« Fletcher und die Dekabrache betrachteten einander. »Ich weiß, daß sie intelligent sind – aber wie kann ich es beweisen?« »Wenn sie intelligent sind«, beharrte Damon, »müssen sie sich auch verständigen können.« »Und wenn sie es nicht können, müssen wir etwas tun.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Wir müssen es diesem Burschen beibringen.« Damon blickte so bestürzt drein, daß Fletcher in schallendes Gelächter ausbrach. »Was finden Sie so lustig?« beschwerte sich Damon. »Was Sie da vorschlagen – nun, es ist jedenfalls beispiellos.« »Das mag wohl sein, aber wir müssen es trotzdem tun. Wie sieht es eigentlich mit Ihren sprachlichen Fähigkeiten aus?« »Hm, ich habe keine große Erfahrung.« »Ich auch nicht.« Stumm betrachteten sie die Dekabrache. »Vergessen Sie nicht«, sagte Damon, »wir müssen sie am Leben halten. Das bedeutet, daß wir sie füttern müssen.« Er warf Fletcher einen etwas sarkastischen Blick zu. »Sie geben doch zu, daß sie frißt.«
»Ich weiß jedenfalls, daß sie nicht durch Photosynthese leben, denn dafür gibt es ganz einfach zu wenig Licht. Wenn ich mich recht erinnere, hat Chrystal auf dem Mikrofilm erwähnt, daß sie Korallenfungi fressen. Einen Moment.« Er rannte zur Tür. »Wo wollen Sie denn hin?« »Chrystal fragen. Er hat doch zweifellos ihren Mageninhalt überprüft.« »Aber er wird Ihnen nichts verraten«, rief Damon Fletcher nach.
Zehn Minuten später kehrte Fletcher zurück. »Na?« fragte Damon skeptisch. »Korallenfungi«, erwiderte Fletcher sichtlich mit sich zufrieden. »Seetangsprossen, Stylaxwürmer und Seeorangen.« »Das hat Ihnen Chrystal alles gesagt?« fragte Damon ungläubig. »Allerdings. Ich erklärte ihm, daß sowohl er als auch die Dekabrache unsere Gäste seien und wir beide gleich behandeln würden. Wenn die Dekabrache gut zu essen bekäme, würde auch er es. Das genügte eigentlich.«
Wieder standen Fletcher und Damon im Labor und sahen zu, wie die Dekabrache schwarzgrüne Fungibälle verzehrte. »Und was haben wir in den zwei Tagen erreicht?« fragte Damon säuerlich. »Nichts.« Fletcher war weniger pessimistisch. »Wir haben Fortschritte gemacht, wenn auch in negativer Hinsicht. Wir sind jetzt sicher, daß sie keinen Gehörsinn haben, daß sie auf Laute nicht reagieren und offenbar keine von sich geben können. Wir
müssen deshalb versuchen, mit visuellen Methoden Verbindungen aufzunehmen.« »Ich beneide Sie um Ihren Optimismus«, brummte Damon. »Der Dek hat noch in keiner Weise zu vermuten gegeben, daß er fähig zur Verständigung oder wenigstens daran interessiert ist, sich zu verständigen.« »Nur Geduld«, mahnte Fletcher. »Er weiß vermutlich überhaupt nicht, was wir zu tun versuchen, und vermutet wahrscheinlich das Schlimmste.« »Wir müssen ihm nicht nur eine Sprache beibringen«, beschwerte sich Damon, »wir müssen ihn auch noch mit der Vorstellung vertraut machen, daß eine Verständigung möglich ist – und dann eine Sprache erfinden!« Fletcher grinste. »Also, gehen wir’s an!« »Gern«, brummte Damon. »Die Frage ist nur, wie?« Sie musterten die Dekabrache, und der schwarze Augenfleck blickte durch die Glaswand des Tanks zurück. »Wir müssen eine Reihe visueller Übereinkommen ausarbeiten«, antwortete Fletcher. »Seine zehn Arme sind seine sensibelsten Organe und werden vermutlich von seinem am höchsten organisierten Gehirnteil gelenkt. Also arbeiten wir eine Reihe von Signalen aus, die von den Armbewegungen ausgehen.« »Gibt uns das denn genügend Spielraum?« »Ich denke schon. Die Arme sind flexible Muskelröhren. Sie sind imstande, zumindest fünf verschiedene Haltungen anzunehmen: gerade nach vorn, schräg nach vorn, senkrecht nach unten, schräg nach hinten und gerade nach hinten. Da der Dek zehn Arme hat, ergeben sich zehn hoch fünf Kombinationsmöglichkeiten, also hunderttausend.« »Dürfte reichen.« »Wir müssen also eine Syntax und ein Vokabular ausarbeiten – etwas schwierig für einen Ingenieur und einen Biochemiker, aber wir werden schon etwas auf die Beine stellen.«
Damon begeisterte sich allmählich für das Projekt. »Es ist im Grund genommen nur eine Sache einer gut durchdachten Grundstruktur, die konsequent weiterentwickelt werden kann. Wenn der Dek überhaupt einen Verstand hat, wird er begreifen, was wir vorhaben.« »Und wenn nicht«, sagte Fletcher, »können wir einpacken, und es kommt so weit, daß Chrystal das Biomineral-Floß übernimmt.« Sie setzten sich an den Labortisch. »Wir müssen von der Voraussetzung ausgehen, daß die Deks keine Sprache haben«, sagte Fletcher. Damon murmelte zweifelnd etwas Unverständliches und fuhr mit den Fingern durchs Haar. »Aber es ist nicht bewiesen. Allerdings muß ich ehrlich sein: Ich halte es für unwahrscheinlich. Wir können natürlich ad infinitum argumentieren, ob sie mir rassischer Empathie oder Ähnlichem auskommen oder nicht, aber das beantwortet unsere Frage nicht. Sie könnten Telepathie benutzen, wie wir schon sagten; sie könnten modulierte Röntgenstrahlen senden und lange und kurze Kodesignale in einem uns unbekannten Sub-, Hyperoder Interraum geben – sie könnten so ziemlich alles tun, wovon wir noch nie auch nur je etwas gehört haben. Für uns wäre es natürlich am besten – und wir könnten es nur hoffen –, wenn sie eine Art von Kode hätten, durch den sie sich untereinander verständigen. Sie müssen ein internes Kodeund Kommunikationssystem haben, also das, was eine neuromuskuläre Struktur mit Feedback-Schleifen ist. Jeder komplexe Organismus muß interne Kommunikation haben. Eine Sprache wird deshalb bei der Klassifizierung von fremden Lebensformen gefordert, um zwischen echten Gesellschaftsformen mit individuellen denkenden Wesenheiten
und den dem Insektenstaat ähnlichen mit scheinbar intelligenten Einzelwesen unterscheiden zu können. Wenn wir jetzt da drüben einen ameisen- oder bienenähnlichen Staat haben, sitzen wir in der Tinte, und Chrystal triumphiert. Man kann einer Ameise das Sprechen nicht beibringen – nur die Gruppe verfügt über Intelligenz, nicht die einzelne Ameise. Also müssen wir voraussetzen, daß sie eine Sprache haben – oder allgemeiner gesagt, einen formalisierten Kode für Eigenverständigung. Wir können also annehmen, daß unser Dek irgendeine Möglichkeit hat, die unserem Organismus nicht gegeben ist. Klingt das vernünftig?« Fletcher nickte. »Es ist jedenfalls eine Hypothese, von der wir ausgehen können. Wir wissen, daß wir bis jetzt noch nichts an dem Dek bemerkt haben, das auf einen Verständigungsversuch schließen läßt.« »Was daran denken läßt, daß er nicht intelligent ist.« Fletcher ignorierte die Bemerkung. »Wenn wir mehr über ihre Gewohnheiten, Gefühle, Einstellungen und so weiter wüßten, hätten wir einen besseren Grundstock für diese neue Sprache.« »Er sieht recht ruhig aus.« Die Dekabrache bewegte lässig die Arme vor und zurück. Der Augenfleck studierte die beiden Männer. »Also gut«, sagte Fletcher seufzend. »Zuerst einmal ein Bezeichnungssystem.« Er stellte ein Modell eines Dekabrachenkopfs, das Manners angefertigt hatte, auf den Tisch. Die Arme waren aus flexiblen Rohren, die sich in verschiedene Stellungen biegen ließen. »Wir numerieren die Arme von 0 bis 9 im Uhrzeigersinn, und fangen mit dem hier oben an. Die fünf Stellungen – nach vorn, schräg nach vorn, senkrecht, schräg nach hinten und nach hinten – nennen wir A,
B, K, X, Y. K ist normale Position. Wenn ein Arm in K ist, notieren wir es nicht.« Damon nickte zustimmend. »Klingt vernünftig.« »Der erste logische Schritt, würde ich sagen, sind Zahlen.« Gemeinsam arbeiteten sie ein Numerierungssystem aus und machten eine Aufstellung. Ein Doppelpunkt (:) bedeutet ein zusammengesetztes Signal, also zwei oder mehr Einzelsignale.
NUMMER R SIGNAL
0 OY 10 OY, 1Y 20 OY, 2Y 100 0X, 1Y 110 0X, 1Y: 0Y, 1Y 120 0X, 1Y: OY, 2Y 200 OX, 2Y 1000 OB, 1Y 2000 OB, 2Y
1 1Y 11 OY, 1Y: 1Y 21 OY, 2Y: 1Y 101 OX, 1Y: 1Y 111 OX, 1Y: OY, 1Y: 1Y 121 OX, 1Y: OY, 2Y: 1Y 201
2 2Y 12 OY, 1Y: 2Y 22 OY, 2Y: 2Y 102 OX, 1Y: 2Y 112 OX, 1Y: OY, 1Y: 2Y 122 OX, 1Y: OY, 2Y: 2Y 202
usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw. usw.
Damon sagte: »Es ist konsequent – aber vielleicht doch etwas umständlich. Um beispielsweise das Signal fünftausendsiebenhundertsechsundsechzig zu geben, muß man folgende Signale machen – ah, lassen Sie mich sehen: OB, 5Y, dann OX, 7Y, dann OY, 6Y, dann 6Y.« »Vergessen Sie nicht, daß es eben Signale und keine Worte sind«, gab Fletcher zu bedenken. »Aber selbst so ist es nicht umständlicher als ›fünftausendsiebenhundertsechsundsechzig‹!« »Ja, Sie haben wohl recht.« »So, und jetzt Worte.« Damon lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wir können nicht einfach ein Vokabular aufstellen und es dann Sprache nennen.« »Ich wollte, ich verstünde mehr von linguistischer Theorie«, sagte Fletcher. »Auf Abstraktionen verzichten wir besser.« »Die Grundstruktur der englischen Sprache wäre vielleicht gar nicht so schlecht«, überlegte Damon, »mit englischen Satzteilen. Sagen wir, Substantive sind Dinge, Adjektive die Eigenschaften von Dingen, Verben die Tätigkeiten, denen die Dinge unterzogen werden oder das Fehlen von Tätigkeiten.« Fletcher dachte nach. »Wir könnten das Ganze vereinfachen und nehmen nur Substantive, Verben und verbale Modifikationen.« »Geht denn das? Wie würden Sie, beispielsweise, ›das große Floß‹ ausdrücken?« »Wir nehmen ein Verb wie ›wachsen‹. ›Floß gewachsen‹ oder so was Ähnliches.« »Hmm«, murmelte Damon. »Sie haben also keine sonderlich ausdrucksvolle Sprache im Sinn.« »Sie kann durchaus ausdrucksvoll werden. Wahrscheinlich werden die Deks, was immer wir ihnen geben, modifizieren, um es ihren Bedürfnissen anzupassen. Wir brauchen ihnen nur
eine Reihe von Grundbegriffen zu geben, sie können das Ganze dann selbst nach Belieben erweitern. Oder vielleicht ist bis dahin jemand hier, der sich besser auskennt.« »Also gut«, sagte Damon. »Machen Sie weiter mit Ihrem Dekabrachisch für Anfänger.« »Stellen wir erst einmal eine Liste mit Begriffen auf, die für einen Dek nützlich sind und mit denen er vertraut ist.« »Ich nehme die Substantive«, sagte Damon, »Sie kümmern sich um die Verben, und die Modifikationen überlasse ich auch Ihnen.« Er schrieb: 1. Wasser.
Nach eingehender Besprechung und mehreren Änderungen hatten sie schließlich eine knappe Liste mit Substantiven und Verben aufgestellt und teilten die Signale zu. Der simulierte Dekabrachenkopf wurde mit einer Reihe Lämpchen auf einer Tafel daneben, die die Zahlen darstellten, vor dem Tank abgesetzt. »Mit einer Kodemaschine brauchten wir unsere Worte nur zu tippen«, sagte Damon. »Sie würde die Impulse dann direkt in die Arme des Modells übertragen.« Fletcher pflichtete ihm bei. »Aber uns fehlen sowohl die nötige Ausrüstung als auch die Zeit, mit ihr herumzuspielen. Schade, aber es läßt sich nicht ändern. Also, fangen wir an. Zuerst die Zahlen. Sie kümmern sich um die Lämpchen, ich mich um die Arme. Zuerst nur von eins bis neun.« Mehrere Stunden vergingen. Die Dekabrache trieb ruhig im Tank, während ihr Augenfleck sie beobachtete. Die Fütterungszeit kam. Damon zeigte ihr den schwarzgrünen Fungusball. Fletcher stellte das Signal für ›Essen‹ mit den Armen des Modells und warf ein paar kleine Kostproben in den Tank. Die Dekabrache saugte sie in ihren Rüssel.
Damon ging die Pantomime durch, dem Modell Nahrung anzubieten. Fletcher bewegte die Arme auf das Signal ›Essen‹. Mit auffälligen Bewegungen gab Damon den Fungusball in den Rüssel des Modells, dann drehte er sich zum Tank um und zeigte der Dekabrache die Nahrung. Die Dekabrache beobachtete ihn gleichmütig.
Zwei Wochen vergingen. Fletcher ging zu Raights ehemaliger Kabine, um mit Chrystal zu sprechen, der gerade ein Buch aus der Mikrofilmbibliothek las. Chrystal schaltete den Schirm aus, schwang die Beine vom Bett und setzte sich auf. »In ein paar Tagen kommt der Inspektor«, sagte Fletcher. »Na und?« »Ich ließ mir alles durch den Kopf gehen. Es ist möglich, daß Sie tatsächlich einem Irrtum aufgesessen sind – zumindest wäre es vorstellbar.« »Danke«, knurrte Chrystal. »Ich möchte nicht, daß Sie für etwas bestraft werden, das tatsächlich nicht mehr als eine Fehleinschätzung war.« »Noch einmal danke – aber was wollen Sie eigentlich?« »Wenn Sie mich unterstützen, daß die Dekabrachen als intelligente Lebensform anerkannt werden, werde ich keine Anklage gegen Sie erheben.« Chrystal hob die Brauen. »Wie großzügig von Ihnen! Und ich soll meine Anklage gegen Sie vergessen?« »Wenn die Deks intelligent sind, gibt es keinen Grund zur Anklage.« Chrystal blickte Fletcher scharf an. »Sie sehen nicht sonderlich glücklich aus. Der Dek will wohl nicht raus mit der Sprache, eh?« Chrystal lachte laut über seinen Scherz.
Fletcher unterdrückte seinen Ärger. »Wir tun unser Bestes mit ihm.« »Aber Sie glauben offenbar nicht mehr so recht, daß er so intelligent ist, wie Sie dachten.« Fletcher drehte sich zum Gehen um. »Unserer im Tank beherrscht einstweilen erst vierzehn Signale, aber er lernt jeden Tag zwei oder drei neue dazu.« »He!« rief Chrystal. »Warten Sie!« Fletcher blieb an der Tür stehen. »Worauf?« »Ich glaube Ihnen nicht.« »Das können Sie halten, wie Sie wollen.« »Lassen Sie mich sehen, wie dieser Dek Zeichen gibt.« Fletcher schüttelte den Kopf. »Sie sind hier besser aufgehoben.« »Ist das nicht eine sehr unfreundliche Einstellung?« Chrystal funkelte ihn an. »Ich hoffe nicht.« Er sah sich in der Kabine um. »Fehlt irgend etwas zu Ihrer Bequemlichkeit?« »Nein.« Chrystal drehte den Schalter, und der Schirm leuchtete wieder auf. Der Buchtext erschien. Fletcher verließ die Kabine. Die Tür schloß sich hinter ihm, der Riegel rastete ein. Chrystal setzte sich wachsam auf. Mit erstaunlicher Behendigkeit sprang er auf die Füße, schlich zur Tür und lauschte. Fletchers Schritte verloren sich auf dem Korridor. Mit zwei Sätzen war Chrystal am Bett zurück. Er langte unter das Kopfkissen und brachte ein Stück Kabel zum Vorschein, das von einer Schreibtischlampe abgezwickt war. Er hatte zwei Bleistifte als Elektroden angeschlossen, indem er den Holzmantel einschnitt und einen Draht am Graphitkern befestigte. Als Widerstand diente ihm eine Glühbirne. Dann trat er ans Fenster. Er konnte von hier aus das Deck entlang bis zum Ostrand des Floßes sehen, genau wie die
Rückseite des Büros zu den Vorratsbehältern hinter der Aufbereitung. Das Deck war leer. Das einzige, das sich bewegte, waren eine weiße Dampffahne, die aus dem Umlaufrohr aufstieg, und die eiligen rosa und scharlachroten Wolken am Himmel. Chrystal machte sich an die Arbeit. Lautlos pfiff er durch gespitzte Lippen. Er steckte das Kabel in die Bodensteckdose, hielt die beiden Bleistifte ans Fenster, erzeugte einen Lichtbogen und brannte eine minimale Rille fast ums halbe Fenster – die einzige Weise, auf die er durch das gehärtete Beryllsilikaglas schneiden konnte. Er mußte sehr vorsichtig vorgehen, und es war ungemein zeitraubend. Der Lichtbogen war schwach und unbeständig. Die Dämpfe quälten Chrystals Kehle. Aber er biß die Zähne zusammen, blinzelte durch tränende Augen und wandte immer wieder den Kopf ab. Um sechzehn Uhr dreißig, eine halbe Stunde ehe man ihm sein Abendessen bringen würde, hörte er auf. Er wagte es nicht, im Dunkeln zu arbeiten, weil er befürchtete, man könnte das Flimmern des Lichtes sehen.
Die Tage vergingen. Jeden Morgen färbten Geidion und Atreus den Himmel scharlachrot bzw. fahlgrün, und jeden Abend verschwanden sie in düsteren Sonnenuntergängen im westlichen Meer. Man hatte eine behelfsmäßige Antenne vom Labordach zu einer Stange über den Wohnräumen errichtet. An einem frühen Nachmittag stieß Manners ins Signalhorn. Sein jubelndes Schmettern bedeutete, daß die LG-19 sich gemeldet hatte und Sabria – wie alle sechs Monate einmal – anlaufen würde. Morgen würden die Fähren aus dem Orbit herabkommen und den Gebietsinspektor mitbringen, außerdem Nachschub und
die Ablösung für die Besatzung sowohl der Biomineral als auch der Pelagischen Wiedergewinnung. Flaschen wurden in der Messe geköpft, fröhliches Lachen war zu hören, angeregte Unterhaltung und kühne Pläne. Genau nach Plan brachen die Fähren – vier Stück – durch die Wolkendecke. Zwei landeten im Meer neben Biomineral, die beiden anderen neben dem Floß der Pelagischen Wiedergewinnung. Mit dem Motorboot wurden Trossen zu den Fähren gebracht und die Raumboote am Floß vertäut. Als erster ging Inspektor Bevington an Land – ein energischer Mann von kleinem Wuchs, fast peinlich adrett in seiner dunkelblau-weißen Uniform. Er war hier der Vertreter der Regierung und verkörperte ihre Vielzahl an Gesetzen und Bestimmungen. Er konnte Verhaftungen vornehmen, Verstöße oder gar Verbrechen wider das Galaktische Gesetz untersuchen und ahnden, allgemeine Lebensbedingungen überprüfen, ebenso die Sicherheitsvorkehrungen, konnte Abgaben, wie Steuern und Zollgebühren, einheben. Er verkörperte die Regierung in jeder Hinsicht. Eine Position wie seine forderte Bestechungen geradezu heraus und mochte den Mann, der sie innehatte, zu einem kleinlichen Tyrannen machen – daß es nicht soweit kam, dafür sorgten die ständigen Überprüfungen, denen diese Inspektoren durch höhere Stellen unterworfen wurden. Bevington war als der gewissenhafteste und humorloseste von allen bekannt. Er war zwar nicht sonderlich beliebt, dafür aber zumindest geachtet. Fletcher kam ihm am Rand des Floßes entgegen. Bevington blickte ihn scharf an, denn er verstand nicht, weshalb Fletcher unverhohlen grinste. Wie sollte er auch wissen, daß der andere dachte, welch dramatischer Moment es wäre, wenn einer der Monitore der Dekabrachen aus dem Meer griffe und seinen
Tentakel um Bevingtons Fußgelenk schlänge. Aber es blieb alles ruhig. Bevington konnte ungehindert auf das Floß springen. Er schüttelte Fletcher die Hand und blickte sich auf dem Deck um. »Wo ist Mr. Raight?« Fletcher blinzelte verwirrt, er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, daß es Raight nicht mehr gab. »Er… er ist tot.« Jetzt blinzelte Bevington seinerseits verwirrt. »Tot?« »Kommen Sie bitte mit ins Büro«, ersuchte ihn Fletcher. »Dann berichte ich alles. Die letzten vier Wochen waren recht unerfreulich.« Er blickte zu Raights ehemaliger Kabine hoch und erwartete, Chrystal herunterschauen zu sehen. Aber das Fenster war leer. Fletcher blieb abrupt stehen. Und wie leer! Es hatte nicht einmal mehr eine Scheibe! Er rannte los. »Was haben Sie denn?« rief ihm Bevington nach. »Wohin laufen Sie?« Fletcher hielt nur flüchtig an, um über die Schulter zu brüllen: »Schnell, kommen Sie mit!« Er hastete zur Tür der Messe. Leicht verwirrt und verärgert folgte ihm Bevington. Fletcher warf einen Blick in die Messe, zögerte, trat zurück aufs Deck und starrte zu der scheibenlosen Fensteröffnung hoch. Wo war Chrystal? Da er auf der vorderen Floßseite nicht gesehen worden war, mußte er zur Aufbereitung gelaufen sein. »Hierher!« rief Fletcher. »Warten Sie!« protestierte Bevington. »Ich möchte wissen, was…« Aber Fletcher rannte bereits auf der Ostseite des Floßes zur Aufbereitung, wo die Fährenbesatzung die Kisten mit wertvollen Metallen begutachtete, die sie mit hochnehmen sollten. Sie schauten auf, als Fletcher und Bevington angestürmt kamen. »Ist gerade jemand vorbeigekommen?« fragte Fletcher. »Ein großer Blonder?«
»Er ist dorthin!« Die Leute von der Fähre deuteten auf die Zerkleinerungsanlagen. Fletcher wirbelte herum, rannte durch die Tür. Neben den Laugenbehältern stand ein sichtlich verärgerter Hans Heinz. »Ist Chrystal hier durchgekommen?« keuchte Fletcher. »Und ob! Wie ein Orkan! Er hat mich fast umgeworfen!« »Wohin ist er?« Heinz zeigte die Richtung. »Zum Vorderdeck.« Fletcher und Bevington rannten weiter. Nörgelnd erkundigte sich Bevington: »Was geht hier eigentlich vor?« »Ich erkläre es Ihnen gleich«, brüllte Fletcher über die Schulter zurück. Er rannte, auf das Deck und schaute zu den vertäuten Booten. Kein Ted Chrystal. Er konnte nur in eine Richtung gelaufen sein: zurück zu den Wohnräumen, nachdem er Fletcher und Bevington im Kreis herumgeführt hatte. »Der Hubschrauber!« fiel Fletcher plötzlich ein. Aber der Hubschrauber stand unberührt. Murphy kam auf sie zu. Er blickte verwirrt über die Schulter. »Haben Sie Chrystal gesehen?« brüllte Fletcher. Murphy deutete mit dem Arm. »Er ist die Stufen hoch.« »Das Labor!« stöhnte Fletcher zu Tode erschrocken. Mit heftig pochendem Herzen stürmte er die Stiege hoch. Murphy und Bevington folgten ihm dichtauf. Wenn nur Damon im Labor wäre und nicht irgendwo drunten auf dem Deck oder in der Messe! Das Labor war leer – wenn man vom Tank mit der Dekabrache absah. Das Wasser im Tank war bläulich trüb. Die Dekabrache peitschte mit den zehn Armen um sich. Fletcher sprang auf einen Labortisch und tauchte kopfüber in den Tank. Er legte die Arme um den sich windenden Körper
und hob ihn. Der geschmeidige Leib entwand sich seinem Griff. Fletcher faßte erneut zu, hob die Dekabrache verzweifelt hoch und aus dem Tank. »Schnell!« zischte er Murphy zwischen zusammengebissenen Zähnen zu. »Legen Sie sie auf den Tisch!« Damon kam hereingestürzt. »Was ist los?« »Gift!« knurrte Fletcher. »Helfen Sie Murphy.« Damon und Murphy gelang es, die Dekabrache auf den Tisch zu legen. Fletcher brüllte: »Zur Seite!« Er zog die Klammern von den Tankwänden. Das flexible Plastik sank zusammen. Viertausendfünfhundert Liter Wasser ergossen sich über den Boden. Fletchers Haut begann zu brennen. »Säure! Damon, schnell einen Eimer. Waschen Sie den Dek ab! Halten Sie ihn naß!« Immer noch pumpte die Anlage Meerwasser in den Tank. Fletcher riß sich die Hose herunter, die die Säure an seiner Haut festgehalten hatte, duschte sich hastig unter dem Wasserschwall, dann drehte er das Rohr der Umlaufleitung, daß die Säure abgespült wurde. Die Dekabrache lag schlaff auf dem Tisch, ihre Schwimmflossen zuckten. Fletcher war übel. »Versuchen Sie kohlensaures Natron!« wandte er sich an Damon. »Vielleicht können wir ein wenig der Säure neutralisieren.« Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er drehte sich zu Murphy um. »Suchen Sie Chrystal! Lassen Sie ihn nicht entkommen!« In diesem Augenblick spazierte Chrystal in das Labor. Er blickte sich leicht erstaunt um und hüpfte auf einen Stuhl, um dem Wasser zu entgehen. »Was machen Sie denn da?« Fletcher starrte ihn grimmig an. »Das werden Sie schon noch sehen.« Zu Murphy sagte er: »Lassen Sie ihn nicht entwischen!«
»Mörder!« Damons Stimme überschlug sich vor Sorge, Anspannung und Wut. Chrystal hob eine Braue. »Mörder?« Seine Stimme klang schockiert. Bevington blickte von Fletcher zu Chrystal und Damon und zurück. »Mörder? Was soll das eigentlich alles?« »Mord nach der Definition des Gesetzes: Wissentliche und vorsätzliche Vernichtung einer intelligenten Spezies gleich Mord.« Der Tank war ausgespült, die Seiten wurden hochgehoben und festgeklammert. Neues Meerwasser floß ein. »Heben Sie den Dek wieder hinein«, bat Fletcher. Damon schüttelte traurig den Kopf. »Sinnlos. Er rührt sich nicht mehr.« »Wir legen ihn trotzdem in den Tank zurück«, bestimmte Fletcher. »Ich hätte gute Lust, Chrystal zu ihm hineinzustecken«, sagte Damon erbittert. »Nehmen Sie sich zusammen!« rügte Bevington ihn. »Ich weiß immer noch nicht, worum es hier eigentlich geht, aber was ich höre, gefällt mir nicht.« Chrystal wirkte amüsiert. »Ich habe auch keine Ahnung, was los ist.« Sie hoben die Dekabrache zurück in den Tank. Das Wasser stand erst fünfzehn Zentimeter hoch und floß für Fletchers Geschmack zu langsam ein. »Sauerstoff!« rief er. Damon rannte zum Wandschrank. Fletcher funkelte Chrystal an. »So, Sie wissen also nicht, was los ist, eh?« »Ihr Lieblingsfisch stirbt, aber versuchen Sie nicht, es mir anzuhängen!«
Damon reichte Fletcher ein Atemrohr aus dem Sauerstoffbehälter. Fletcher steckte es ins Wasser, unmittelbar neben die Kiemen der Dekabrache. Sauerstoffblasen stiegen auf. Fletcher rührte im Wasser und schob es zu den Kiemenöffnungen. Das Wasser war nun etwa fünfundzwanzig
Zentimeter tief. »Kohlensaures Natron!« rief er über die Schulter. »Genügend, um die letzten Überreste der Säure zu neutralisieren.« Bevington erkundigte sich mit unsicherer Stimme: »Wird er am Leben bleiben?« »Ich weiß es nicht.« Bevington blickte Chrystal schräg an. Der schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts dafür.« Das Wasser stieg. Die Dekabrachenarme trieben schlaff in alle Richtungen, wie die Schlangen eines Medusenhaupts. Fletcher wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn ich nur wüßte, was wir noch tun könnten! Ich kann ihm doch nicht einen Schluck Kognak einflößen, der würde ihn vermutlich nur vergiften.« Die Arme schienen fester zu werden. Sie breiteten sich aus. »Ah!« hauchte Fletcher erleichtert. »So ist es schon besser.« Er winkte Damon zu. »Gene, übernehmen Sie hier. Sehen Sie zu, daß der Sauerstoff weiter direkt in die Kiemen strömt.« Er sprang auf den Boden, den Murphy mit immer neuen Kübeln voll Wasser rein spülte.
Chrystal sprach ernst und eindringlich zu Bevington: »Die vergangenen drei Wochen mußte ich um mein Leben bangen! Fletcher ist von seiner Idee besessen, er ist absolut wahnsinnig! Lassen Sie doch möglichst schnell einen Arzt herunter kommen, oder vielleicht besser einen Psychiater.« Er hielt kurz inne, als Fletcher langsam quer durch das Labor auf ihn zukam, doch dann wandte er sich wieder an den Inspektor, der beunruhigt und unsicher dreinblickte. »Ich erstatte eine Anzeige«, fuhr Chrystal fort. »Gegen Biomineral im allgemeinen und Sam Fletcher im besonderen.
Ich verlange, daß sie als Vertreter des Gesetzes Fletcher wegen krimineller Handlung wider meine Person festnehmen.« »Nun«, murmelte Bevington und warf einen überlegenden Blick auf Fletcher. »Ich werde selbstverständlich eine Untersuchung einleiten.« »Er hat mich mit Waffengewalt entführt«, rief Chrystal, »und drei Wochen lang eingesperrt gehalten!« »Ja, damit Sie aufhören, Dekabrachen umzubringen!« sagte Fletcher heftig. »Sie beschuldigen mich schon zum zweitenmal!« beschwerte sich Chrystal. »Bevington ist mein Zeuge. Ich kann Sie wegen böswilliger Verleumdung belangen!« »Wahrheit ist keine Verleumdung!« »Ich habe Netze für Dekabrachen gelegt, na und? Ich schneide auch Laminarien und fange Hohlstachler in Netzen. Das tun Sie hier ja auch.« »Die Deks sind intelligent, da liegt der Unterschied.« Fletcher wandte sich an Bevington. »Das weiß er genausogut wie ich. Er würde Menschen um des Kalziums in ihren Knochen wegen verwerten.« »Lügner!« brüllte Chrystal. Bevington hob beide Hände. »Beruhigen Sie sich, meine Herren. Wie soll ich den Dingen auf den Grund gehen, wenn mir nicht endlich einer Beweise vorlegt?« »Er hat keine Beweise, weil es keine gibt!« behauptete Chrystal. »Er versucht, mich von Sabria zu vertreiben, weil er keine Konkurrenz verträgt!« Fletcher ignorierte ihn. Er wandte sich an Bevington. »Sie wollen Beweise, und deshalb ist die Dekabrache im Tank, und das ist auch der Grund, warum Chrystal Säure auf sie goß!« »Wir wollen zuerst einmal eines klarstellen«, sagte Bevington und blickte Chrystal durchdringend an. »Haben Sie Säure in diesen Tank gegossen?«
Chrystal überkreuzte die Arme. »Welch lächerliche Frage!« »Das ist keine Antwort! Haben Sie es getan oder nicht?« Chrystal zögerte, dann sagte er fest: »Nein. Und es gibt auch keine Spur von Beweis, daß ich es getan haben könnte.« Bevington nickte. »Ich verstehe.« Er drehte sich Fletcher zu. »Sie sprachen von Beweisen. Welcher Art?« Fletcher trat an den Tank, wo Damon immer noch sauerstoffangereichertes Wasser an die Kiemen der Dekabrache drängte. »Wie geht es ihm?« Damon schüttelte zweifelnd den Kopf. »Er benimmt sich merkwürdig. Ich frage mich, ob seine inneren Organe vielleicht von der Säure abbekommen haben?« Fletcher beobachtete die lange bleiche Gestalt eine halbe Minute. »Versuchen wir unser Glück, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Er holte das Modell des Dekabrachenkopfs aus einer Ecke und trug es zum Tisch neben dem Tank. Chrystal lachte und wandte sich angewidert ab. »Was haben Sie vor?« erkundigte sich Bevington. »Ich werde Ihnen vorführen, daß die Dekabrache intelligent ist und sich verständigen kann.« »Na so etwas«, staunte Bevington. »Das ist aber völlig neu, nicht wahr?« »Allerdings«, bestätigte Fletcher und schlug sein Notizbuch auf. »Wie haben Sie denn ihre Sprache gelernt?« »Es ist nicht ihre, sondern ein Kode, den wir untereinander ausgearbeitet haben.« Bevington betrachtete das Modell, dann studierte er die Angaben im Notizbuch. »Sind das die Zeichen?« Fletcher erklärte das System. »Der Dek hat ein Vokabular von achtundfünfzig Worten, die Zahlen bis neun nicht mitgerechnet.«
»Ich verstehe«, murmelte Bevington. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Fangen Sie an.« Chrystal drehte sich wieder um. »Ich brauche diesen Schwindel nicht mitanzusehen.« »Es ist besser für Sie, wenn Sie hierbleiben und Ihren Fall vertreten«, riet ihm Bevington. »Wenn Sie es nicht tun, tut es niemand.« Fletcher bewegte die Arme des Modells. »Es ist, zugegeben, alles grob ausgearbeitet, aber mit mehr Zeit und Geld läßt sich das Ganze schon verbessern. So, ich fange jetzt mit Zahlen an.« Abfällig warf Chrystal ein. »Ich könnte einem Kaninchen beibringen, auf diese Weise zu zählen.« »Danach«, erklärte Fletcher, »werde ich etwas Schwierigeres versuchen. Ich werde den Dek fragen, wer ihn vergiftet hat.« »Einen Moment!« brauste Chrystal auf. »So können Sie mich nicht belasten!« Bevington griff nach dem Notizbuch. »Wie werden Sie ihn fragen? Welche Zeichen benutzen Sie?« Fletcher deutete auf sie. »Zuerst ›Frage‹. Die Idee der Frage ist ein Abstraktum, das der Dek noch nicht so recht versteht, aber er weiß bereits, was eine Wahl oder Abwechslung ist, das haben wir ihm bei der Fütterung beigebracht. Wir stellen ihm also die Frage: ›Was möchtest du?‹ Vielleicht begreift er, worauf wir aus sind.« »Also gut – ›Frage‹. Was dann?« »Dekabrache – bekommt – heiß – Wasser. ›Heißes Wasser‹ steht in unserem Fall für Säure. ›Frage: Mann – geben – heiß – Wasser?‹« Bevington nickte. »Klingt vernünftig. Fangen Sie an.« Fletcher gab die Signale. Der schwarze Augenfleck beobachtete das Modell. Damon murmelte besorgt: »Er ist
unruhig, vielleicht verängstigt, oder er fühlt sich immer noch nicht wohl.« Fletcher beendete die Signalreihe. Die Dekabrachenarme winkten ein paarmal, ehe sie sich verwirrt einzogen. Fletcher wiederholte die Zeichenreihe und fügte die Zeichen »Frage – Mann?« an. Die Arme des Deks bewegten sich langsam. »Mann«, las Fletcher. Bevington nickte. »Mann, stimmt. Aber welcher Mann?« Fletcher rief Murphy zu. »Stellen Sie sich vor den Tank.« Er signalisierte: »Mann – geben – heiß – Wasser – Frage.« Die Dekabrachenarme bewegten sich. »Null«, las Fletcher. »Also nein. Damon stellen Sie sich nun vor den Tank.« Wieder signalisierte er dem Dek: »Mann – geben – heiß – Wasser – Frage.« »Null.« Fletcher bat Bevington, sich vor den Tank zu stellen. Er gab die Signale. »Null.« Alle blickten Chrystal an. Fletcher an der Reihe«, sagte Fletcher. »Stellen Sie sich vor den Tank.« Chrystal kam zögernd näher. »Ich bin ja kein Idiot, Fletcher«, brummte er. »Ich durchschaue Sie!« Die Dekabrache bewegte die Arme. Fletcher las die Signale, während Bevington über seine Schulter ins Notizbuch schaute. »Mann – geben – heiß – Wasser.« Chrystal wollte protestieren. Bevington wehrte seinen Wortschwall ab. »Stellen Sie sich endlich vor den Tank!« forderte er ihn auf. Dann wandte er sich an Fletcher. »Fragen Sie noch einmal.« Fletcher signalisierte. Die Dekabrache reagierte sofort. »Mann – geben – heiß – Wasser. Gelb. Mann. Scharf. Kommen. Geben – heiß – Wasser. Gehen.«
Schweigen herrschte im Labor. »Nun«, sagte Bevington schließlich. »Sie haben Ihren Beweis erbracht, Fletcher.« »So leicht können Sie es sich nicht machen«, protestierte Chrystal. »Halten Sie den Mund!« sagte Bevington scharf. »Es besteht wohl kaum noch ein Zweifel, was sich zugetragen hat…« »Und Sie werden auch gleich sehen, was passiert!« Chrystals Stimme bebte vor Wut. Er hielt Fletchers Strahler in der Hand. »Ich lieh ihn mir aus, ehe ich heraufkam, und es sieht ganz so aus, als…« Er richtete den Strahler auf den Tank. Die Knöchel der Prankenhand hoben sich weiß ab. Eisige Finger schienen sich um Fletchers Herz zu legen. »He!« brüllte Murphy. Chrystal zuckte zusammen. Murphy warf seinen Eimer. Chrystal feuerte auf Murphy, verfehlte ihn jedoch. Damon sprang ihn an. Chrystal schwang die Waffe herum. Der weißglühende Strahl streifte Damons Schulter, der aufheulte und die knochigen Arme um Chrystal schlang. Fletcher und Murphy stürmten herbei, entwanden Chrystal die Waffe und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Bevington sagte grimmig: »Selbst wenn es zuvor noch Zweifel gegeben haben mochte, haben Sie sich nun ganz schön in Schwierigkeiten gebracht, Chrystal.« Fletcher warf ein: »Er hat Hunderte und Aberhunderte von Dekabrachen umgebracht. Indirekt hat er auch Carl Raight und John Agostino getötet. Er wird sich für eine Menge zu verantworten haben.«
Die Ablösung für die Floßbesatzung war nun von der LG-19 heruntergekommen. Fletcher, Damon, Murphy und der Rest
der alten Mannschaft saßen in der Messe – mit fünf Monaten Urlaub vor sich. Damons linker Arm lag in einer Schlinge, mit der Rechten spielte er mit der Kaffeetasse. »Ich weiß nicht so recht, was ich tun soll. Ich habe keine Pläne, um ehrlich zu sein, ich hänge in der Luft.« Fletcher trat ans Fenster und blickte über den dunkelroten Ozean. »Ich bleibe.« »Wa… as?« rief Murphy. »Hab’ ich recht gehört?« Fletcher kehrte an den Tisch zurück. »Ich verstehe es selber nicht so richtig.« Murphy schüttelte ungläubig den Kopf. »Das können Sie doch nicht ernst meinen!« »Ich bin Ingenieur, ein Mann der Tat«, sagte Fletcher. »Ich bin weder machthungrig, noch scharf darauf, das Universum zu verändern… aber es sieht ganz so aus, als hätten Damon und ich was in Bewegung gesetzt – etwas Wichtiges –, und ich möchte es gern bis zum Ende verfolgen.« »Sie meinen, Sie wollen den Deks beibringen, sich zu verständigen?« »Genau. Chrystal griff sie an und zwang sie dadurch dazu, sich zu schützen. Er revolutionierte ihr Leben. Damon und ich krempelten das Leben dieses einen Deks auf völlig andere Weise um, aber wir haben damit erst angefangen. Denken Sie nur an die Möglichkeiten! Stellen Sie sich doch Menschen in einem fruchtbaren Land vor, Menschen wie wir, die nie sprechen gelernt haben. Und dann kommen sie in Berührung mit einer ihnen bisher fremden Lebensform. Stellen Sie sich doch ihre Reaktion vor! Ihre neue Lebensanschauung! Die Deks sind jetzt in dieser Lage – nur, daß wir gerade erst mit ihnen angefangen haben. Niemand kann auch nur ahnen, was alles in ihnen steckt, welcher Leistungen sie fähig sind. Ich möchte ganz einfach dabei sein, möchte miterleben, wie es
weitergeht. Ganz abgesehen davon, daß ich es einfach nicht fertigbrächte, einen Job nicht zu Ende zu führen.« Damon murmelte: »Ich glaube, ich bleibe auch.« »Ihr zwei seid total verrückt«, brummte Jones. »Ich kann nicht schnell genug von hier weg!«
Die LG-19 war vor drei Wochen aufgebrochen. Auf dem Floß nahm alles wieder seinen geregelten Lauf. Schicht folgte Schicht, die Behälter füllten sich mit neuem Rohmaterial und Blöcken kostbaren Metalls. Fletcher und Damon hatten viele lange Stunden mit der Dekabrache gearbeitet. Heute stand das große Experiment bevor. Der Tank wurde an den Rand der Plattform gehoben. Fletcher erklärte dem Dek ein letztesmal: »Mann zeigen dir Signale. Du bringen viele Dekabrachen, Mann zeigen Signale. Frage.« Die Dekabrachenarme bewegten sich bestätigend. Fletcher trat zurück. Der Tank wurde über die Seite gehoben und ins Meer getaucht. Die Dekabrache tauchte hoch, schwamm einen Augenblick nahe der Oberfläche, ehe sie in das dunkle Wasser glitt. »Da zieht Prometheus dahin«, sagte Damon, »mit der Gabe der Götter.« »Wohl besser mit der Gabe der Sprache.« Fletcher grinste. Die bleiche Gestalt war außer Sicht verschwunden. »Fünfzig zu zehn, daß er nicht zurückkommt«, bot Caldur, der neue Leiter, ihnen eine Wette an. »Ich wette nicht«, wehrte Fletcher ab. »Ich hoffe nur.« »Was werden Sie tun, wenn er nicht zurückkommt?«
Fletcher zuckte die Schultern. »Vielleicht fangen wir einen neuen ein und lehren ihn das gleiche. Er wird vermutlich auch nicht dümmer sein.« Drei Stunden vergingen. Nebel stieg auf, und Regen verbarg den Himmel. Damon, der sich über die Reling gebeugt hatte, blickte hoch. »Ich sehe einen Dek. Aber ist es unserer?« Eine Dekabrache tauchte an die Oberfläche. Sie bewegte die Arme: »Viele – Dekabrachen. Zeigen – Signale.« »Professor Damon«, sagte Fletcher strahlend, »Ihre erste Klasse!«
Originaltitel: »The Gift of Gab« Copyright © 1955 by Street & Smith Publications, Inc.; mit freundlicher Genehmigung des Autors