Anna Schapire
Sterka
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Als Vorlage diente:
Anna Schapire
Sterka
Dokumente der Frauen
Hrsg.: Marie Lang, Bd. 3, Nr. 5, 6, 7, Wien, 1900
Cover unter Verwendung eines Fotos von Nadine Fichtelberger aus einer öffentlichen Picasa Gallerie.
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© 2008 Peter M. Sporer für ngiyaw eBooks.
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Gesetzt in der Baskerville Book.
Anna Schapire
Sterka
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Sie war ein sonderbares kleines Mädchen, zart, schmächtig, blond, mit grossen blauen Augen und einer ausgesprochen semitischen Nase. Hübsch konnte man sie eigentlich nicht nennen, dazu waren die schlanken Glieder zu eckig und die blonden Zöpfe zu farblos, aber es war etwas in dem kleinen Gesichtchen, das einen anzog, so etwas Fragendes, Suchendes, die blauen Augen schienen immer Räthsel lösen zu wollen, und um den Mund zuckte es oft wie verhaltenes Weinen. Sie war die Tochter eines Rabbiners in einem kleinen russischen Nest, das nicht einmal Bahnverbindung hatte; im Frühling und Herbst, wenn der Regen kam, wurden die Wege grundlos, und das Städtchen war dann wie abgeschnitten von allem Verkehr. Dann sass Sterka oft am Fenster und schaute auf die schmutzige, kothige
Gasse, auf die kleinen niedrigen Häuser mit den schmutzigen Scheiben, auf den plätschernden Regen, der in eintönigen, langsamen Tropfen hinunterfiel. Manchmal glitten ein paar schmutzige, gebückte Gestalten am Fenster vorüber, das waren die Männer, die zu ihrem Vater kamen und mit ihm beteten und disputirten, oder die Geschäftsleute, die zu ihrer Mutter kamen. Einen grossen Unterschied konnte Sterka zwischen den Einen und den Anderen nicht finden. Schmutzig waren sie Alle, schmalbrüstig, und kreischende Stimmen hatten sie. Ob sie mit dem Vater über den Talmud sprachen oder Geldgeschäfte mit der Mutter machten, das war wirklich gleichgiltig, es wurde im Hause so viel gebetet und geschachert, dass Sterka diese beiden Dinge nicht recht auseinanderhalten konnte, Manchmal kam auch Jemand von der »Intelligenz« vorüber, der Arzt, der Apotheker, ein Beamter oder ihre Frauen und Kinder. Aber Sterka kannte sie alle nicht, denn mit Gojem (Christen) durfte sie nicht verkehren. Und sie hätte doch so gern gewusst, wie diese Menschen
leben. Ob es in ihren Häusern auch so schmutzig und unbehaglich sei, ob die Frauen so viel keiften wie ihre Mutter und die anderen Weiber, die Sterka kannte, und ob sie so viel beteten. Zu Hause wurde immerfort gebetet. Des Morgens, vor und nach dem Mittagessen, wenn die Dämmerung kam, immerfort. Und wenn man nicht betete, so las man laut im Talmud. Das eintönige, langsame Gemurmel drang aus dem Nebenzimmer in die Wohnstube, wo Sterka sass und träumte oder nähte; wenn es einmal plötzlich aufhörte, fuhr sie erschreckt zusammen, dann hatte gewiss einer der Brüder nicht aufgepasst, und es gab Ohrfeigen. Eigentlich thaten ihr die Brüder leid, sie waren so blass und so kränklich. Einmal hatte der Aelteste so stark gehustet, dass man den Arzt holen liess. Der Arzt hatte den Kopf geschüttelt und gemeint, Medicinen könnten nicht viel helfen, der Junge müsse frische Luft haben. Aber der Vater hatte geantwortet, ein Rabbinerssohn müsse in erster Reihe lernen, Gesundheit sei nebensächlich, wenn nur der Geist sich entfalte. Und so lernten sie denn von früh bis spät, und ihre grossen
abstehenden Ohren wurden mit jedem Tage durchsichtiger und gelber. Sterka selbst quälte man wenig damit. Man hatte ihr hebräisch lesen und schreiben gelehrt, sie musste jeden Tag ihr Morgengebet sagen, aber im Uebrigen war sie ja nur ein Mädchen, um Mädchen kümmert sich die jüdische Religion wenig. Auch die Mutter betete wenig, und darum hatte sie Zeit, das Geschäft zu führen. Sie kaufte und verkaufte Wechsel, sie gab Darlehen auf Pfänder und verborgte Geld gegen hohe Percente, acht Percent oder zehn, ja wenn es ging, auch fünfzehn und zwanzig. Sterka hörte so oft sagen, dass die Mutter eine tüchtige Geschäftsfrau und ein Segen für ihre Familie sei, dass sie es schliesslich selbst glaubte. Sie gab sich sehr viel Mühe, die Mutter lieb zu haben, aber es fiel ihr schwer. Die Mutter schimpfte so viel mit den Geldmaklern, mit der Köchin, mitunter auch mit dem Vater. Sie war immer beschäftigt und hatte immer ein schmutziges Strickzeug in der Hand. Manchmal stürzte sie eilig in die Wohnstube hinein, fuhr sich mit
dem schmutzigen Aermel hastig über das rothe verschwitzte Gesicht, küsste Sterka auf die Stirn und erzählte ihr, dass sie viertausend Rubel Mitgift bekommen werde. Viertausend Rubel seien zwar keine grosse Summe, aber als Rabbinerstochter bekäme man immer einen reichen Mann, oh! sie, die Mutter, werde ihrem Lieblingskinde schon eine gute Partie verschaffen. Sterka sollte sich nur Mühe geben, recht hübsch auszusehen, wenn der Schadehen kam. Der Schadchen kam jede Woche. Sterka musste ihm ein Glas Schnaps und ein Stück Brot auf einer Tasse hineinbringen, dann setzte er sich mit der Mutter an den Tisch, zog eine zerfetzte Brieftasche aus dem schmierigen Rock und fing an, Partien vorzuschlagen. Bald war es ein Juwelier in Moskau, der einen heiratsfähigen Sohn hatte, bald ein reicher Witwer in Charkow, ein Holzhändler in Kijew, ein Ladenbesitzer in Odessa. Sterka sass still in ihrer Ecke und hörte gleichgiltig zu, nur wenn die Städtenamen an ihr Ohr schlugen, zuckte sie oft zusammen. Kijew! Kijew war eine grosse Stadt am Dnjepr und lag auf einem Berge.
Und viele Kirchen gab es in Kijew. Sterka war noch nie in einer Kirche gewesen, Kirchen sind unrein, sagte der Vater. Aber wenn sie auf der Strasse an der Kirche vorüberging, warf sie immer einen verstohlenen Blick hinein, dann sah sie die goldenen Rahmen der Heiligenbilder und die bunten Decken auf dem Altar. Und dann die grossen, hohen Fenster, es musste da drinnen wirklich hübscher sein als im Bethaus, in der Frauenabtheilung. Oder Odessa! Man hatte ihr einmal gesagt, Odessa läge am Schwarzen Meer. Aber wie kann denn, das Meer schwarz sein, das Meer muss doch weiss sein, und die Häuser in Odessa müssen weiss sein und die Strassen, und viele weisse Blumen muss es in Odessa geben. Sterka hatte der Mutter schon oft gesagt, dass sie etwas lernen möchte, aber die Mutter hatte immer geantwortet, sie sei ein undankbares Kind, wenn man viertausend Rubel Mitgift bekomme, könne man schlechterdings nicht verlangen, dass die Eltern noch Geld für Privatstunden ausgeben. Und in die Schule durfte sie natürlich nicht gehen, dort wäre sie ja mit
Gojem zusammengekommen und hätte am Ende gar noch am Samstag schreiben müssen. Aber einmal meinte auch der Schadchen, es wäre vielleicht besser, wenn Sterka russische Stunden nehmen würde. Die Welt sei heute so sonderbar, freilich er könne auch nicht begreifen, wozu ein jüdisches Kind russische Stunden brauche, aber die Welt sei heute eben sonderbar, zum Beispiel der Juwelier in Moskau sei sehr für Bildung. Vom Juwelier in Moskau und seinem Sohn sprach er am häufigsten. Nun fing die Mutter selbst an, sich nach einer Lehrerin umzuschauen. Eine Goje durfte es natürlich nicht sein, in ein reines, jüdisches Haus haben Gojem keinen Zutritt, höchstens wenn sie nebenbei auch Porez (Edelmann) sind und Geld brauchen. Ein Porez zahlt die höchsten Percente. Aber im Städtchen lebte ja die Verschickte, das war eine Jüdin, und wenn man immer mit Büchern unterm Arm herumläuft, wird man wohl auch Stunden geben können.
Die Verschickte lebte seit einem halben Jahr in Berdyczew. Man erzählte sich, sie sei in eine politische Verschwörung verwickelt gewesen, man hätte zwar nur bei einer Hausdurchsuchung ein paar verbotene Bücher bei ihr gefunden, aber der Staatsanwalt habe ihr doch dringend einen fünfjährigen Aufenthalt in Berdyczew anempfohlen und sie unter den besonderen Schutz der Polizei gestellt. Man sah sie selten auf der Strasse, sie trug immer ein schwarzes Kleid, und das blasse Gesicht schaute oft unsäglich traurig unter dem kleinen Hut hervor, auch einen Zwikker trug sie. Die Mutter dachte zwar, dass Maria Alexandrowna Dawidow ein sehr komisches Subject sei, aber um ihre Verschwörung gegen die russische Regierung kümmerte sie sich nicht weiter, was geht auch den russischen Juden Russland an. Und so wurde Maria Alexandrowna Sterkas Lehrerin. Während der ersten Stunden beschränkten sie sich auf die Regeln der russischen Grammatik, Maria Alexandrowna erklärte, und Sterka hörte sehr aufmerksam zu. Aber bald merkte Maria Alexandrowna, dass
die blonde kleine Rabbinerstochter auch noch für andere Dinge Verständnis haben könne. Sie begann ihr von den Kämpfen zu erzählen, die weit draussen in der grossen Welt geschlagen werden für Freiheit und Recht, von dem Elend des Volkes und der Unterdrückung des Weibes sprach sie. So hatte noch Niemand zu Sterka gesprochen. Man hat Pflichten gegen sich selbst und gegen die Gesellschaft, in der man lebt, sagte Maria Alexandrowna, man muss sich selbst zur höchsten Vollkommenheit seines Daseins zu bringen trachten. Pflichten gegen sich selbst! Sterka verstand das Wort anfangs nicht. Bis jetzt hatte man ihr immer gesagt, dass man beten müsse, um Gott nicht zu erzürnen, dass man Geschäfte machen müsse, um Geld zu verdienen, und dass man hübsch sein müsse, um den Schadchen zu gefallen. Dass man um seiner selbst willen irgend etwas thun müsse, das hörte sie zum erstenmal. Und Pflichten gegen die Gesellschaft. Ja was ist denn das eigentlich: die Gesellschaft? All’ die
schmutzigen Geldmakler ist das die Gesellschaft? Maria Alexandrowna brachte ihr auch Bücher mit, »Die Hörigkeit der Frau« hiess eines. Es kamen Worte in dem Buche vor, die Sterka nicht recht begriff. Sie hatte bis jetzt nie gemerkt, dass die Frauen unterdrückt sind, die Mutter war gar nicht wie eine Sclavin und die anderen Weiber auch nicht. Freilich, sie und die Mutter dankten Gott jeden Morgen, dass er sie nach seinem Willen erschaffen habe, und der Vater und die Brüder sagten: Herr ich danke dir, dass du mich nicht zum Weibe gemacht hast. Aber beten und leben, das sind doch grundverschiedene Dinge. Nur ein Gedanke stieg allmälig in ihr auf und nahm feste Formen an, dass Mann und Frau wohl auch zusammen die Pflichten gegen die Gesellschaft, von denen Maria Alexandrowna so viel sprach, erfüllen müssten. Und konnte man das mit einem wildfremden Manne, den der Schadchen ins Haus bringt, einem Manne, den man schliesslich heiratet, weil die Mutter ihn reich genug findet? Danach musste sie wirklich Maria Alexandrowna fragen.
Sie verstand überhaupt Alles viel besser, wenn Maria Alexandrowna mit ihr sprach. Beim Lesen war ihr Vieles unklar, aber wenn Maria Alexandrowna mit ihrer weichen milden Stimme zu ihr sprach, wenn sie mit ihren weichen weissen Händen ihr über das blonde Haar fuhr und von den Märtyrern erzählte, die in Sibirien in Ketten schmachten, weil sie das Volk lieben, dann wurde Sterka zu Muthe, als müsste sie der Menschheit ihr Herzblut opfern, als müsste sie hinausziehen in den Kampf für Freiheit und Recht, mit klingendem Spiel und flatternden Fahnen. .... Sie träumte nicht mehr von weissen Blumen und bunten Heiligenbildern, an Völkerbeglükkung und Menschheitsbefreiung dachte sie, an den grossen Tag, der kommen müsse, um die ganze Menschheit zu erlösen. So vergingen einige Monate, Maria Alexandrowna kam jeden Tag, und Sterka schien es, als würde sie mit jedem Tage klüger werden, ihr war oft, als würde Maria Alexandrowna sie in eine neue Welt einführen, in eine Welt, wo Alles
so gross und hell und schön war, dass sie an all den Schmutz vergass, der sie umgab. Aber eines Nachmittags kam Maria Alexandrowna nicht. Sterka wartete noch den nächsten Tag ab, und als die geliebte Lehrerin auch da nicht kam, dachte sie, dass sie krank sei, und ging zu ihr. Es war ein schöner Septembertag. Sterka ging langsam die Hauptstrasse hinauf und freute sich über die grünen Bäume, die hier und da vor den Häusern standen. Sie waren eigentlich nicht sonderlich schön, manche waren sogar verkrüppelt, andere hatten zu wenig Aeste oder waren zu kurz gerathen, aber der Himmel war so blau und die Luft so klar, dass sie heute Alles hübsch fand, sogar die Häuser sahen nicht so schmutzig und niedrig aus wie sonst. Wenn ich Flügel hätte, könnte ich heute fliegen, dachte sie, und dann müsste sie lächeln. Fliegen! Maria Alexandrowna hatte ihr doch vom Gesetz der Schwere erzählt. Sie schritt über den Marktplatz, wo einige schmutzige Kinder sich unter, grossem Geschrei herumbalgten und ein paar Weiber Aepfel und
Birnen feilboten. Die eine hatte auch bunte Astern zu verkaufen. Sterka hätte gerne einen Strauss für Maria Alexändrowna gekauft, aber sie hatte kein Geld bei sich. Ihr fiel plötzlich ein, dass man doch nichts ohne Geld haben könne, bis jetzt hatte sie noch nie darüber nachgedacht. Vor einem kleinen Holzhause blieb sie stehen, stieg zögernd die hölzernen Stufen hinauf und griff schüchtern nach der Klingel. Sie kam selten mit Fremden in Berührung und war dann immer sehr verlegen. Die Hausthür öffnete sich ein wenig, und ein gelbes Gesicht mit ein paar stechenden Augen schaute Sterka neugierig an. »Ich möchte zu Maria Alexändrowna Dawidow,« sagte Sterka leise, »ich bin ihre Schülerin.« »Zu Maria Alexandrowna?« rief die Frau, »ja wissen Sie denn nicht, dass Maria Alexandrowna verhaftet ist?« Verhaftet! Sterka starrte die Frau sprachlos an. »Nun ja verhaftet,« sagte die Frau, »aber kommen Sie doch herein, Fräuleinchen, Sie sind ja die Tochter von unserem Rabbiner, was brau-
chen Sie sich von den gojeschen Kindern so angaffen zu lassen, der Schlag soll sie treffen.« Sterka trat mechanisch ein. »Sehen Sie, hier hat sie gewohnt,« sagte die Frau und öffnete die Thür in ein kleines, dürftiges Zimmer, »hier hat sie gewohnt, und den ganzen Tag und die ganze Nacht sass sie am Tisch und hat gelesen. Und ich hab’ ihr immer gesagt: Maria Alexandrowna, lesen Sie nicht so viel, Sie haben schon einmal grosses Unglück von Büchern gehabt, hab ich ihr gesagt, aber sie hat einen harten Kopf gehabt, Fräuleinchen, einen jüdischen Kopf. Und vorgestern in der Nacht ist der Isprawnik gekommen mit ein paar Gendarmen, und alle Bücher haben sie durchgesehen und dann haben sie Maria Alexandrowna fortgeführt, nach Sibirien haben sie gesagt. Und sie hat mir nicht einmal die letzte Miethe bezahlt.« Sterka lehnte sich an die Wand, ihr schwindelte. »Und das Zimmer werde ich jetzt gewiss nicht vermiethen können,« fuhr die Frau fort, »bei uns ist das sehr schwer.« »Adieu,« sagte Sterka.
Sie ging wieder über den Marktplatz nach Hause. Wenn sie späterhin an jenen Nachmittag dachte, wunderte sie sich, immer, dass sie richtig nach Hause gekommen war. Im Kopfe sauste es ihr, vor ihren Augen standen grosse schwarze Flecke, und in den Ohren gellte ihr noch immer die Stimme der Frau. Verhaftet! Ihre Maria Alexandrowna verhaftet. In der Wohnstube sassen die Mutter und der Schadchen. »Maria Alexandrowna ist verhaftet,« sagte Sterka. »Herr Gott,« rief die Mutter, »sie ist doch auch ein jüdisches Kind gewesen, übrigens wirst du jetzt so wie so keine Zeit zum Lernen haben, Sterka, morgen kommt ein Bräutigam dich anschauen, der Juwelier aus Moskau kommt mit seinem Sohn.« Der Juwelier aus Moskau und sein Sohn. Sterka hatte in den letzten Wochen gar nicht daran gedacht. Sie schaute die Mutter einen Augenblick verständnisslos an, dann ging sie ins Nebenzimmer,
warf sich auf ihr Bett und weinte, sie weinte den ganzen Abend und die ganze Nacht. Erst gegen drei Uhr Morgens schlief sie ein, aber um sechs wachte sie schon wieder auf, und als ihr einfiel, dass Maria Alexandrowna nun nach Sibirien geschickt werde und dass heute der Juwelier aus Moskau und sein Sohn kommen sollten, fing sie sofort wieder zu schluchzen an; gegen acht Uhr kam die Mutter mit einer Tasse Thee hinein, streichelte sie und fing an, ihr gütig zuzureden. Aber Sterka drehte sich um und weinte noch heftiger, da wurde die Mutter böse und begann zu schimpfen. Und als auch das nicht half, packte sie das Mädchen an den Schultern und schüttelte es heftig. Da erschrak Sterka und liess sich von der Mutter anziehen und waschen wie ein kleines Kind. Die Mutter kämmte sorgfältig ihre langen blonden Haare und zog ihr ihr bestes Kleid an, sie sollte hübsch sein, wenn der Bräutigam kam. Sterka liess Alles mechanisch über sich ergehen, sie weinte nicht mehr, aber sie war auch nicht imstande zu denken, nur ein dumpfes Angstgefühl empfand sie, wie einen Druck auf
der Brust, der immer höher stieg, bis in den Hals hinauf, so dass sie nicht sprechen konnte. Sie wusste wenig von den Beziehungen zwischen Mann und Weib, Maria Alexandrowna hatte nie mit ihr darüber gesprochen, und die Mutter sagte immer nur, dass man heiraten müsse. Aber eines wusste sie, dass man zusammen schläft, wenn man verheiratet ist, und dass man Kinder bekommt. Und wenn ihr einfiel, dass sie sich vor einem fremden Manne ausziehen und mit ihm zusammen ins Bett legen solle, überkam sie ein furchtbarer Ekel. Sie musste die Zähne zusammenbeissen, um nicht laut zu schreien vor Angst. Um zwölf Uhr kamen die Gäste, und blieben über Mittag. Der Juwelier war ein dicker grosser Mann mit einer goldenen Uhrkette und einem langen schwarzen Vollbart. Er hatte eine laute tiefe Stimme und lachte sehr viel. Er kniff Sterka in die Wangen und sagte, dass sie hübsch sei und dass er sie zur Schwiegertochter haben wolle.
Sein Sohn war sehr schüchtern und stotterte beim Sprechen, aber während des Essens lenkte der Vater das Gespräch auf den Talmud und war über die Antworten des jungen Mannes entzückt, auch der Mutter gefiel er sehr gut; dass seine rechte Schulter etwas höher war als die linke, du lieber Gott, das war ja doch kein Unglück. Nach dem Mittagbrot empfahlen sich die Gäste, und der Schadchen kam. Er hatte ein langes lebhaftes Gespräch mit der Mutter. Der Juwelier verlangte fünftausend Rubel Mitgift, und die Mutter wollte nur viertausend geben. Sie führte die höhere Schulter des Bräutigams ins Treffen, aber der Schadchen meinte, es gäbe ja auch schönere Mächen als Sterka, sie sei so mager und klein. Schliesslich einigte man sich auf viertausendfünfhundert. Die Verlobung sollte am selben Abend stattfinden, der Juwelier hatte wichtige Geschäfte und wollte am nächsten Morgen abreisen. Man holte die silbernen Armleuchter aus dem Schrank hervor, in der Küche wurde nach Lei-
beskräften gebraten und gekocht, die Brüder mussten zu den Bekannten und Verwandten gehen und sie einladen; und als der Abend kam, feierte man die Verlobung. In der Wohnstube sass der Bräutigam mit den Männern und im anstossenden Raum waren die Frauen und Sterka. Man hatte sie auf das Sofa gesetzt und alle Frauen sprachen mit ihr, die Mutter ging mit strahlendem Gesicht umher und schaute von Zeit zu Zeit nach, ob die Männer genug Schnaps und Meth hatten. Von den Männern kam nur der Schadchen manchmal zu den Frauen herüber, er war bei vorzüglicher Laune und trug sogar ein neues Halstuch. Er hatte ein gutes Geschäft gemacht. Nach dem Essen rief man die Weiber zu den Männern hinein. Die Mutter und eine Tante nahmen Sterka in die Mitte und führten sie feierlich hinüber. Auf dem grossen Tisch, unter dem messingenen Kronleuchter lag ein beschriebenes Stück Pergament, das sollten Braut und Bräutigam unterschreiben. Als Sterka unterschreiben sollte, bekam sie einen Schwindelanfall und wurde ohnmächtig. Die Frauen umringten sie sofort
unter grossem Geschrei und spritzten ihr Wasser ins Gesicht. Als sie die Augen wieder aufschlug, drückte man ihr sofort die Feder in die Hand, und sie unterschrieb. Dann sagte, der Vater einen langen Segensspruch, man zerbrach einen Teller, alle Leute beglückwünschten sie, der Schwiegervater küsste sie auf die Stirn und, schenkte ihr vierzig Rubel, und nun war sie verlobt. Am nächsten Morgen reisten die Fremden ab. Beim Abschied sagte die Mutter dem Bräutigam, dass er seine Braut küssen dürfe. Er näherte sich ihr linkisch, aber Sterka schrie laut auf und schlug beide Hände vors Gesicht. Der junge Mann starrte sie mit blöden Augen an, und die Mutter und der Schwiegervater lachten aus Leibeskräften. »Sie ist noch so ein Kind,« sagte die Mutter stolz, »aber sie wird das schon lernen, wir werden sie bald verheiraten.« . Am Nachmittag kamen noch einige verspätete Gratulanten. Dann schloss man die silbernen Armleuchter wieder in den Schrank, die Mutter
zog wieder ihr altes, schmutziges Kleid an, und es war Alles wieder wie früher. Nur Maria Alexandrowna fehlte. Sterka konnte sich erst gar nicht daran gewöhnen, wie ein dumpfer Traum kam ihr Alles in den ersten Tagen vor, Maria Alexandrownas Verhaftung, ihre plötzliche Verlobung, war das wirklich Alles wahr, konnte das wahr sein? Aber die Mutter sprach so viel von der Hochzeit, und in ihrem Schrank lagen die vierzig Rubel vom Schwiegervater, es musste doch so sein. Und heiraten könnte sie ihn nicht, das ging einfach nicht, sie konnte sich von diesem Menschen nicht anrühren lassen, nein, lieber nach Sibirien geschickt werden, wie Maria Alexandrowna. Und hatte sie denn nicht kämpfen wollen, kämpfen für Freiheit und Recht, hatte sie nicht im Stillen geschworen, dass sie sich für die Menschheit aufopfern wolle. Marie Alexandrowna hatte ihr von jungen Mädchen und Männern erzählt, die aus dem Elternhause geflohen waren, um dem Volke zu dienen. Warum
konnte sie das nicht auch, warum konnte sie nicht fliehen, sie hatte ja sogar Geld, sie hatte ganze vierzig Rubel. Ja sie wollte fliehen und ein neues Leben anfangen, ihre Pflichten gegen die Gesellschaft wollte sie erfüllen, Maria Alexandrowna hatte gesagt, das müsse jeder Mensch, und als verheiratete Frau, als Schwiegertochter des Juweliers würde sie das gewiss nicht thun können. Der Gedanke an die Flucht wurde bei ihr zu einer fixen Idee, sie machte sich keine klaren Vorstellungen darüber, was sie nach der Flucht beginnen wolle, wovon und wie sie leben werde, nur fort wollte sie, fort von zu Hause, fort von all den Menschen, die sie quälten und nicht verstanden. Sie wollte nach Warschau fliehen. In Warschau hatte Maria Alexandrowna früher gewohnt, dort lebte auch ihr Freund Schmulow, vielleicht würde der etwas für Maria Alexandrowna thun können und auch ihr selbst helfen. Zehn Tage nach ihrer Verlobung floh sie aus dem Hause.
Es war ein Freitag. Sie wartete, bis alles im Hause schlief, dann schnürte sie etwas Wäsche zu einem Bündel zusammen, steckte die vierzig Rubel zu sich, zog ihren Mantel an und ein Kopftuch und schlich vorsichtig hinaus. Bis zur nächsten Bahnstation musste sie vier Stunden gehen. Sie hatte absichtlich einen Freitag gewählt. Wenn die Mutter ihre Flucht noch in der Nacht entdecken sollte, so würden doch weder sie, noch der Vater und die Anderen in der Nacht zwischen Freitag und Samstag oder am Samstage selbst fahren. Und so hatte sie immerhin, einen Vorsprung. Denn fahren darf man an Festtagen nur, wenn es sich um Schwerkranke handelt, und sie war ja nicht krank, sie war nur ein undankbares Kind, man würde sie vielleicht zu Hause verfluchen, vielleicht auch nicht. Das war ihr jetzt ganz gleichgiltig, sie wollte ja ein neues Leben anfangen und nie mehr zurückkommen. So lange sie in der Stadt war, hielt sie sich ängstlich im Schatten der Häuser und zog das Tuch tief über die Stirn. Wenn man sie doch erkannt hätte. Einmal schaute ihr ein Nachtwächter neu-
gierig nach, ein Hund bellte, sonst blieb Alles todtenstill. Draussen auf der Landstrasse athmete sie tief auf. Es war eine herrliche klare Nacht. Aber Sterka war viel zu erregt, um darauf zu achten. Sie schritt rasch vorwärts, und ihre Phantasie malte ihr glühende Bilder. Strassenkämpfe sah sie, sie trug eine flatternde Fahne hoch in der Rechten und spornte die Menge mit begeisterten Worten an. Und dann hatte das Volk gesiegt, und die Tyrannei lag am Boden und sie zog mit ihren Getreuen in die Gefängnisse und befreite die Märtyrer der Freiheit. Und Maria Alexandrowna umarmte sie und nannte sie ihre Freundin und sagte, sie hätte das immer von ihr erwartet ... Als sie an den Bahnhof kam, begann es schon zu dämmern, sie fühlte sich plötzlich sehr abgespannt, und ihre alte Schüchternheit überfiel sie. »Eine Karte nach Warschau dritter Classe,« sagte sie ganz leise am Schalter. »Fünf Rubel sechzig Kopeken,« antwortete der Beamte, »der Zug geht in vierzig Minuten.«
Sie setzte sich in eine Ecke des Wartesaals und wartete. Sie zog die Knie in die Höhe und stützte die Arme darauf und auf die Arme legte sie den Kopf, er that ihr so furchtbar weh, und ihre Augen brannten, und dann hatte sie wieder Angst, dass man sie erkennen könne, die Rabbinerstochter aus Berdyczew kannten ja auch viele Leute aus der Umgegend. Doch der Wartesaal blieb ganz leer. Die heruntergeschraubten Petroleumlampen qualmten und verbreiteten einen unangenehmen Geruch, durch die schmutzigen Fensterscheiben drang das erste fahle Licht des Morgens, die braunen Holzbänke und der Fussboden starrten vor Schmutz, es sah Alles so öde und trostlos aus. »Einsteigen, nach Warschau,« gellte es plötzlich in Sterkas Ohren, ein verschlafener Bahnbeamter ging mit einer grossen Glocke durch den Saal. Ausser Sterka, die gleich an der Thür sass, wartete Niemand auf den Zug, aber er ging vorschriftsmässig einmal hinauf und einmal hinunter. Sie nahm ihr Bündel und lief auf den Perron hinaus. Der Zug kam aus Kijew und war fast
ganz besetzt. Sie fand mit knapper Noth einen Platz. Sie setzte sich neben einem grossen, dicken Mann mit einem gutmüthigen, rothen Gesicht, der sie neugierig betrachtete. Nach einer Weile zog er Brot und getrockneten Fisch aus einer Tasche und begann mit grossem Appetit zu essen. Sie schaute ihm mit stillem Neide zu, sie merkte plötzlich, dass sie furchtbar hungrig war. Er schien es zu sehen und lud sie freundlich ein, sein Frühstück mit ihm zu theilen, sie griff nur zögernd zu, aber er ermuthigte sie und sie begannen zu plaudern. Ob das kleine Fräulein wohl nach Warschau in Dienst gehe, fragte er. »Ja,« antwortete sie. Und ob sie schon einen Dienst hätte. »Ja,« antwortete sie wieder. Nun das sei gut, für so junge Mädchen sei es gefährlich, allein in eine grosse Stadt zu fahren, sie werde es hoffentlich gut bei ihrer Herrschaft haben, sie sei so blass und zart. Nach dem Essen entkorkte er eine Branntweinflasche und nahm ein paar tüchtige
Schluck, dann reichte er sie auch Sterka. Sie wollte trinken, aber als sie den starken Fuselgeruch spürte, fuhr sie angeekelt zurück. Er lachte. »Ihre Eltern hätten Sie doch noch ein paar Jahre zu Hause behalten sollen,« meinte er kopfschüttelnd. »Sie sind noch so klein und jung.« Am Nachmittage kamen sie in Warschau an. Der dicke Mann schüttelte ihr die Hand und wünschte ihr recht viel Glück, und dann stand Sterka ganz allein in der weiten Halle. Gepäckträger liefen schreiend an ihr vorüber, Reisende kamen und gingen, ein Zug fuhr ab, und sie stand noch immer da und starrte und starrte. So fremd kam ihr Alles vor, so fremd und kalt. Dämmernd, halb unbewusst stieg es in ihr auf, dass der Kampf für Freiheit und Recht wohl doch nicht so leicht sei, wie sie gedacht hatte. Sie spürte einen sonderbaren Druck im Halse und es drängte so heiss zu den Augen hinauf. Das waren doch nicht Thränen? Sie schüttelte trotzig den Kopf und wandte sich zum Gehen. Sie wollte stark sein.
In erster Reihe wollte sie sich ein Zimmer miethen und dann wollte sie Schmulow aufsuchen. Sie wusste seine Adresse. Die breiten Strassen kamen ihr sonderbar vor und auch über die hohen Häuser wunderte sie sich ein wenig. Aber eigentlich war sie enttäuscht, sie hatte sich Alles farbenprächtiger, schöner vorgestellt. Sie lief zwei Stunden planlos umher und kam in eine Art Vorstadt, die Häuser wurden niedriger, die Gassen schmäler, hie und da hingen Zettel an den Hausthüren, »Zimmer zu vermiethen« stand mit grossen, gedruckten oder geschriebenen Lettern darauf. Sie überwand ihre Schüchternheit und ging in eines der Häuser hinein. Das Zimmer lag im dritten Stock. Eine alte Frau mit einer Brille auf der rothen Nase öffnete ihr und ein Hund fuhr wüthend auf sie los. Die Alte sprach ein Gemisch von Russisch und Polnisch, und Sterka konnte nicht Alles verstehen, was sie sagte. Sie setzte Sterka auseinander, dass sie eigentlich nur an Herren vermiethe und dass es eine ganz besondere Gefälligkeit sei, wenn sie einmal eine Dame
nehme. Aber wenn das Fräulein, anständig sei und acht Rubel monatlich für die Kammer zahlen werde, dann wolle sie in Gottes Namen einen Versuch machen. Sterka war so müde, dass sie zu Allem ja sagte. Sie fand zwar acht Rubel sehr hoch, aber das muss wohl so sein, dachte sie. Die Kammer war klein und niedrig, den grössten Raum nahm das Bett ein. Ueber dem Kopfende hing die Mutter Gottes mit dem Christkinde in einem vergoldeten Rahmen, aber schön war das nicht; wenn sie in Berdyczew an der Kirche vorübergegangen war, hatten die Heiligenbilder ganz anders ausgesehen. Doch sie war viel zu müde, um lange darüber nachzudenken, sie warf sich aufs Bett und schlief gleich ein. Zu Schmulow wollte sie morgen gehen. Am nächsten Morgen ging sie in seine Wohnung, aber der Hausverwalter sagte ihr, Herr Schmulow sei vor sechs Wochen verreist und habe keine Adresse hinterlassen. Da blieb ihr nichts Anderes übrig als wieder nach Hause zu gehen.
Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl, den ihre Kammer aufwies, vor den wackligen Tisch und zählte ihre Barschaft, viel war es nicht, die Reise, die Miethe, sie hatte noch 25 Rubel und 42 Kopeken. Sie begriff, dass sie davon nicht lange würde leben können. Sie musste also irgend eine Arbeit suchen. Aber was? Sie konnte kämpfen für Freiheit und Recht, sie konnte für die Menschheit ihr Herzblut opfern, aber arbeiten: Arbeiten war etwas ganz Anderes und die Gesellschaft schien gerade Arbeit von ihr zu verlangen. Die langen, schnurgeraden Strassen, die grossen, hohen Häuser, die Droschkenkutscher mit ihren sauberen, numerirten Wagen, Alles schaute sie so spöttisch an und schien zu sagen: Herzblut, Herzblut ist kein Handelsartikel, wir verlangen Arbeit. Aber was um des Himmels Willen sollte sie denn arbeiten. Sie grübelte einige Tage.
Stunden geben konnte sie nicht, dazu verstand sie selbst viel zu wenig, sollte sie Arbeit in einer Fabrik suchen, sie hatte so kleine schwache Hände, wer würde sie denn in einer Fabrik aufnehmen? Einen Dienst suchen als Kindermädchen oder Stubenmädchen, sie hatte ja nicht einmal kochen gelernt, ja, das wollte sie thun. Sie ging in ein Dienstvermittlungsbureau. »Sind sie aus Warschau?« fragte die Frau. »Nein.« »Haben sie Ihre Documente,« examinirte die Frau weiter und musterte das kleine, blasse Figürchen, »ohne Documente können Sie nirgends eintreten, die Polizei ist sehr streng bei uns.« »Ich bringe sie morgen,« stotterte Sterka. Also dieser Weg war auch abgeschnitten für sie. Sie hatte ja keine Documente. Sie wagte es nicht zum zweitenmal in das Bureau zu gehen. Die Frau hatte sie so verdächtig angeschaut, wenn sie sie bei der Polizei angeben würde, würde man dann nicht die fortgelaufene Rabbinerstochter unter Polizeibedeckung zurück-
schicken, und dann würde das alte Elend wieder anfangen und dann die Hochzeit. O! nein, nein, das konnte sie nicht. Lieber sterben. Und eigentlich, warum nicht sterben? Kämpfen konnte sie nicht. Zu Hause in Berdyczew hatte sie sich den Kampf gegen die Gesellschaft sehr leicht vorgestellt, aber seit sie der Gesellschaft Aug’ in Aug’ gegenüberstand, waren diese kindischen Träume in ein Nichts zusammengesunken. Was sollte sie mit ihren schwachen Kinderhänden gegen die Gesellschaft, gegen dies grosse zusammengefügte Ganze, das sich Cultur nennt. Was man gemeinhin Cultur und Luxus heisst, ist Sünde, so lange noch ein Mensch hungert, hatte einmal Maria Alexandrowna gesagt. Aber was sollte sie, das kleine, schwache Mädchen, dagegen thun. Sie konnte höchstens mithungern und das that sie denn auch. Es war ein ganz sonderbares Gefühl. Zu Hause hatte sie das nicht gekannt. Es war erst ein Nagen in der Magengegend, dann stieg es in die Schläfen hinauf und setzte sich dort fest als ein höhnender, stechender Schmerz, dann
ergoss es sich wie Blei in die Glieder und machte sie so schwer und müde. Und jetzt konnte sie sich doch noch immer etwas Brot und Milch kaufen, wie sollte es werden, wenn auch das aufhörte, sie hatte ja fast gar kein Geld mehr. Nein, Sterben war wirklich das Vernünftigste. Aber wie sterben? Sollte sie sich vom Fenster herunterstürzen? Und dann unten liegen mit zertrümmertem Kopf und von allen Leuten begafft werden. Vielleicht würde ein Hund sie zuerst bemerken, vielleicht würde dieser Hund ihr Gehirn auffressen, wie ein rohes Stück Fleisch. Sie schauderte. Das war zu ekelhaft. Lieber ins Wasser. Ins Wasser gehen ist doch nicht schwer, man kann sich ja einbilden, dass man baden geht. Sie malte es sich ganz genau aus. Sie wird die Nacht abwarten und dann wird sie ganz ruhig an den Fluss gehen, dort wo das Ufer flach ist. Sie wird Schuhe und Strümpfe ablegen und dann wird sie ins Wasser hineinge-
hen, immer weiter. Das Wasser ist kalt in Octobernächten, aber daran gewöhnt man sich. Das Wasser umspült erst ihre Füsse, dann erreicht es die Knöchel, nun spürt sie es an den Knien, jetzt ragt nur noch der Oberkörper hinaus, dann fühlt sie’s am Hals. Und dann? Ja, dann würde sie umfallen und dann würde es wohl aus sein. Aus, wirklich gleich aus? Hatte sie nicht einmal gehört, dass Ertrinkende stundenlang mit dem Tode ringen. Stundenlang im Wasser liegen und spüren, wie der Tod stückweise kommt. Das konnte sie nicht. Sterben, ja — aber sofort, schmerzlos. Sie grübelte wieder ein paar Tage. Sie wollte so gerne leben. Leben und lernen und nachher arbeiten. Wenn sie nicht kämpfen konnte für die Menschheit, so wollte sie wenigstens arbeiten für die Menschheit. Mit siebzehn Jahren sterben, nein, das ging nicht. Und da schrieb sie endlich an die Mutter.
Die Mutter solle Mitleid mit ihr haben und Geld schicken. Sie wolle lernen, viel lernen und dann Lehrerin werden wie Maria Alexandrowna. Sie würde das Geld schon zurückgeben, später, in ein paar Jahren. Die Antwort kam nach drei Tagen. Aber die Mutter schickte kein Geld, sondern eine Eisenbahnkarte und einen langen Brief dazu. Erst kam eine Strafpredigt, wie Sterka das nur habe thun können, sie sei doch sonst so ein gutes, frommes Kind gewesen, aber daran sei eben nur diese verrückte Person, diese Maria Alexandrowna schuld. Nun sei es freilich zu spät und sie habe mit ihren Kindereien ihr Glück verscherzt, der Juwelier in Moskau wolle nichts mehr von ihr hören. Lehrerin werden sei ein schrecklicher Unsinn, diesen Gedanken solle sie sich nur aus dem Kopfe schlagen. Sie solle nach Charkow zu ihrem Onkel fahren, der wolle sie schon längst für seinen Sohn haben. Bis jetzt habe die Mutter sich geweigert, weil der Onkel nicht reich war, aber ein fortgelaufenes Mädchen macht keine gute Partie, Sterka solle
nach Charkow fahren und ihren Cousin heiraten. Als Sterka den Brief gelesen hatte, dachte sie lange nach. Sie hatte noch achtzehn Kopeken in ihrer Tasche, davon konnte sie sich gerade noch ein Brot kaufen. Und dann fiel ihr der Onkel ein. Er war vor ein paar Jahren in Berdyczew gewesen. Er hatte ihr besser gefallen als die anderen Leute, die ins Haus kamen, er hatte sie damals auf den Knien geschaukelt und mit ihr gespielt. Sein Sohn war gewiss nicht so ekelhaft, wie ihr Bräutigam. Und müsste sie sich denn gleich mit ihm verloben, wenn sie hinfuhr? Am nächsten Morgen reiste sie ab. *** Es sind drei Jahre vergangen. Sterka ist eine stille, ruhige Frau geworden, mit einem müden, blassen Gesichte und ein Paar traurigen Augen. Ihr Mann rühmt aller Welt ihre Herzensgute und spricht von ihrem glücklichen Familienleben. Und sie ist wirklich nicht unglücklich, sie
kann sogar lachen, wenn sie mit ihrem Kinde spielt. Nur manchmal, wenn sie allein ist und es ganz still um sie her ist, dann legt sie den Kopf in die Hände und es überkommt sie langsam, leise wie eine Ahnung, wie die Melodie eines längst verklungenen, vergessenen Liedes, ein Lied von dem, was sie geworden ist und was sie hätte werden können.