Meridian 34
Karl-Georg Knobloch Sternenspur im Ozean 2006 digitalisiert von Manni Hesse
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Meridian 34
Karl-Georg Knobloch Sternenspur im Ozean 2006 digitalisiert von Manni Hesse
Deutscher Militärverlag Berlin 1972
Über der Tampa-Bay, am Golf von Mexiko, dämmerte der Morgen eines Junitages herauf. In der ausgedehnten Bucht lag die Forschungsstation „Ozeana". Professor James Timmin, leitete sie von seinem seesternförmigen Hydrohaus aus, das sich einige Kilometer von der Forschungsinsel entfernt in den Tiefen der Bay befand. Nervös trommelte der Vierzigjährige, ein Mann von hünenhafter G e stalt, mit den Fingern auf den Tisch, der im Halbdunkel des Zimmers phosphoreszierend leuchtete. Timmin war unzufrieden. Trotz der zur Verfügung stehenden Unterlagen kam er mit der Weiterentwicklung des Magmaspürgeräts nicht voran. Alle seine Berechnungen waren bisher erfolglos verlaufen. Voll Spannung erwartete er die Antwort des Automaten auf das letzte eingegebene Programm. Doch hohltönend und abgehackt kam es monoton aus dem Apparat: „Programmierung unzureichend — Anfrage bleibt ohne Ergebnis!" Timmin stöhnte verzweifelt. Unruhig lief er aus dem Zimmer, das sich in der Mitte seines Hydrohauses befand und das von fünf Räumen umgeben war. Immer wieder mußte er an das Magmaspürgerät denken. Er wollte daran seine Schöpferkraft beweisen; aber alles, was er bisher unternommen hatte, reichte nicht aus, das Problem zu lösen. Noch einmal ging er alle wesentlichen Fakten durch, doch die Gedankenassoziationen brachten keine ausreichende wissenschaftliche Kombination. Die Zeit drängte. Die Probefahrt des schwimmenden Meeresbergwerks „Gigant" stand bevor. Es sollte seiner Meinung nach nicht nur die Manganknollen auf den Meeresböden und die metallischen Schwebestoffe in den Meeren ernten, sondern darüber hinaus. Erze von künstlich erzeugten Subvulkanen a b -
Bauen und Metalle aus dem flüssigen Magma des Erdinnern gewinnen helfen. Bisher konnte das Magmaspürgerät vulkanische Herde in der Erdrinde feststellen und den Gasgehalt berechnen. Mit Hilfe des Geräts war man in der Lage, die Mächtigkeit der Gesteinsdecke über dem Magma zu bestimmen und die Schwächezonen der Erdrinde zu ermitteln, die dem Magma gute Bedingungen für einen Weg zum Durchbruch zur Krustenoberfläche gaben. Aber das Gerät konnte nicht voraussagen, ob es zu Tiefen- oder Oberflächeneruptionen kommen würde. Auch die Stärke der Vulkanausbrüche und die Menge des ausgestößenen Magmas auf die Erdoberfläche oder auf den Meeresgrund war noch nicht genau bestimmbar. Timmin beabsichtigte, das Magma aus seiner Ansammlung in größeren Tiefen durch Bohrraketen mit Sprengladungen in einem Schlot etwa einen Kilometer bis u n t e r die Erdoberfläche zu führen. Das in Subvulkanen — in einer Tiefe bis zu zweitausend Metern — erstarrte Magma könnte man dann abbauen. Dem Professor ging es im wesentlichen darum, daß es zu keiner stärkeren und etwa unkontrollierbaren Eruption kam. Doch noch war er von der Verläßlichkeit des Geräts nicht überzeugt. Die anderen Wissenschaftler, die das Gerät begutachtet hatten, rieten auch von einer frühzeitigen Erprobung ab. Aber was der Professor Timmin sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, pflegte er zu verwirklichen, auch w e n n er Tag und Nacht daran arbeiten sollte. Mißmutig schüttelte er die Sandalen von den Füßen und empfand gleich darauf die wohltuende Kühle des Bodens. Da kam ihm ein Gedanke. Er ging ans Videofon und sprach einige Zahlen in den Apparat. Auf dem kleinen Bildschirm erschien das junge Gesicht seiner Assistentin Ria Salvatore. „Entschuldigen Sie meinen frühen Anruf, aber was sagen Sie zu der Nachricht aus dem Radiodrom?" Kaum war die Frage heraus, da hätte er sich am liebsten auf die Zunge beißen mögen. Nicht etwa, weil er diese Frage zu so ungewöhnlicher Stunde stellte, sondern weil der Eindruck entstehen könnte, er nähme die ganze Sache zu wichtig. Es gab
wahrlich genug andere Probleme. Doch dann beruhigte er sich wieder. Die Information aus dem Radiodrom war ja keine alltägliche Angelegenheit. Aufmerksam blickte Professor Timmin seiner Assistentin ins Gesicht. „Sie meinen den Empfang technischer Signale aus dem Weltall? Wir sind alle sehr skeptisch. Man hätte sich nicht das erste Mal geirrt", antwortete die Ozeanographin. Er nickte zerstreut. „Wie ich vermute, sind Sie anderer Meinung", stellte sie mit leichter Verwunderung fest. „Ja und nein. Wer weiß denn, ob es sich diesmal nicht wirklich um eine Meldung aus dem All handelt?" Seinem Gesicht war eine auffällige Unruhe anzusehen. Er spürte ihren Blick und ärgerte sich über sein Verhalten. „Gab es während meiner Abwesenheit auf der Insel irgend etwas Besonderes?" fragte er, um sie abzulenken. „Nichts Nennenswertes. Bis auf einige Schwierigkeiten am Meeresbergwerk .Gigant'. Die Arbeiten gehen nicht recht voran." Er ließ sich berichten, gab einige Anweisungen und beendete das Gespräch. Danach erschien auf dem Leuchtschirm das breitflächige Gesicht des Direktors der benachbarten Schiffswerft in Tampa. „Entschuldigen Sie, Herr Professor, wenn ich Sie schon so früh störe. Wir hatten heute nacht schon wieder Besuch. Ich lasse mir einmal einen Streich gefallen, doch wie es aussieht, sind diese Burschen weiterhin zum Scherzen aufgelegt." Obwohl Timmin ahnte, was gemeint war, sah er den anderen fragend an. „Na, Sie wissen doch, die geheimnisvollen technischen P r o jekte und Informationen", erklärte der Direktor verwundert. In letzter Zeit erhitzten sich die Gemüter darüber, daß einige Forschungsstellen auf Florida mysteriöse Pläne, Skizzen und Berechnungen erhielten. Die Wissenschaftler fanden diese Pläne vor, ohne zu wissen, woher und von wem sie stammten. Oft wai ihr Niveau so hoch, daß die Betreffenden vor theoretisch unlösbaren Problemen oder vor unüberwindbaren technologischen Schwierigkeiten standen, wenn sie die Anwendbarkeit in der Praxis prüften.
„Nun geht es mir schon wieder so", sagte der Direktor. „Trotz aller Absicherungen ist jemand hier gewesen und hat uns diesmal ein interessantes Schiffsprojekt hinterlassen. Wir lassen uns zwar durch diese Ereignisse keineswegs von unseren Forschungsaufgaben abbringen, bloß wissen möchte man n u n endlich, wer diese Geschichten mit uns macht. — Ach so, fast hätte ich mein eigentliches Anliegen vergessen. Hatten Sie heute nacht ebenfalls Besuch, oder h a t man Sie auch diesmal wieder verschont?" Das Gesicht des Professors w u r d e ernst, fast abweisend. „Bei uns hat sich noch nichts gerührt", versicherte er ruhig. Als das Gespräch beendet war, rief Timmin erneut Ria Salvatore an. „Finden Sie sich heute bitte wieder um die vereinbarte Uhrzeit an der verabredeten Stelle ein", sagte er nur. Sie nickte. Er setzte sich an den Tisch und überlegte. Die Forschungsinsel „Ozeana" glich einem Ypsilon, dessen Schenkel einen geschützten Hafen bildeten. Während im Basisrumpf der schwimmenden Station meereskundliche Institute, Forschungseinrichtungen, insbesondere der industriellen Ozeanographie, und eine Geräuschpeilzentrale untergebracht waren, befanden sich an der Rumpfspitze Verladekais mit den dazugehörigen Verladebrücken. Auf dem Oberdeck zogen sich automatisierte Tanggemüseund Fischverarbeitungsfabriken, Mischbehälter und P u m p e n für Nährlösungen sowie Gemüsetreibhäuser entlang. Am Rande eines Hydroponikparks erstreckte sich ein Wohngebäudekomplex für die Mitarbeiter. Vom darüberliegenden Helikopterflugdeck konnte man Tausende aus dem Wasser ragende Signalbojen erkennen, an denen Schutznetze, u n t e r Impulsstrom stehende Kabel und durchsichtige Plastabschirmungen befestigt waren. Sie teilten die riesigen Fischfarmen und Algenplantagen in Reservate ein, die in einem großen Abschnitt der Bucht angelegt waren. In der Geräuschpeilzentrale der „Ozeana" beugte sich die gedrungene Gestalt des Chefhydrophonisten Arsa Grug über den Oszillographen. „Begreifen Sie das?"
Auf dem Gesicht des Achtundzwanzigjährigen lag der Ausdruck gespannter Erwartung. „Das ist mir völlig unverständlich", entgegnete Ras Bera, der Leiter des Schiffbaukollektivs, der sich in der Zentrale aufhielt. Gemeinsam lauschten sie auf eine Störquelle, die ihnen Rätsel aufgab. Ras Bera interessierte sich besonders für dieses Geräusch, weil er annahm, daß irgendwelche Unterwasserfahrzeuge erprobt würden. Die submarinen Ortungsgeräte und fächerartig um die Insel gruppierten Bodenhydrophone stellten Störungen fest, die sich anhörten, als würden sich Riesenkalmare den Algenplantagen und Fischfarmen nähern. „Die Störquelle ist diesmal näher als sonst", murmelte Grug und rief ins Videofon: „Achtung, herhören! Alle Angaben der Ultrarotkameras, der chemischen, elektrischen und thermischen Zäune sind sofort an mich weiterzugeben! Preßluftabwehr klar machen! Auf die Ultraschallsperre achten!" Er beendete das Gespräch und wandte sich erneut an Bera. „Die Schwingersperre bildet den äußeren Ring unserer Sicherungsmaßnahmen", erklärte der Chef hydrophonist. „Deshalb müssen wir besonders auf die Ergebnisse der Ultraschallsperre achten. Das heißt, wenn die, die dieses Geräusch verursachen, auf Grund gehen und in den Schlamm eindringen, der die Ultraschallbündel schluckt, dann ist's auch hier mit unserer Kunst vorbei." Erleichtert verfolgten beide den sich langsam entfernenden Reflex auf der rotierenden Walze des Echolots. Es zeigte den Schallreflektor n u r noch in einer Entfernung von etwa fünfundzwanzig Kilometern an. „Schon seit Tagen tritt fast immer zur selben Zeit und nur für wenige Minuten dieses Geräusch auf. Alle Nachforschungen verliefen bisher ergebnislos", sagte Grug. „Glauben Sie, daß es von Tieren verursacht wird?" fragte Bera. „Das halte ich für ausgeschlossen. Dem Sicherheitsbeauftragten Parker ist aber auch nichts davon bekannt, daß in diesem
Gebiet ein neues technisches Projekt ausprobiert wird. Außerdem ist das auch gar nicht möglich, da in Kürze das Fusionskraftwerk in Betrieb genommen und das Meeres-Chemiekombinat vollendet wird. In diesem Terrain dürfen in Zukunft sowieso keine Erprobungen mehr stattfinden", erwiderte Grug. Bera w u r d e nachdenklich. „Vergessen Sie aber nicht die geheimnisvollen technischen Informationen." Grug fragte ungläubig: „Sie meinen, da könnte ein bestimmter Zusammenhang bestehen?" Bera zuckte die Schultern und fragte: „Was sagt überhaupt Professor Timmin zu dieser Störquelle?" Grug sah ihn verständnislos an. „Der hat jetzt wichtigere Probleme zu lösen, als sich auch noch mit dieser Angelegenheit zu befassen." Bera schmunzelte. „Entschuldigen Sie nur, daß ich fragte." Der fast zwei Meter große Fünfundzwanzig jährige, der Grug um mehr als eine Kopfeslänge überragte, blickte diesen herausfordernd an. Aber Grug war heute nicht zum Streiten aufgelegt. Er sagte bloß: „Der Professor hat eben Köpfchen. Auch Sie, Bera, müssen das dem Professor zugestehen, ob es Ihnen paßt oder nicht. Fehlte noch, daß er sich um unseren Kleinkram kümmern m u ß . Es w ü r d e mich freuen, wenn Sie eines Tages auch von seinen überragenden Fähigkeiten überzeugt wären. Schließlich bereichert er jeden vdh uns mit seinem enormen Können. Das müssen Sie doch zugeben." Bera lachte. „Ich gebe mir ja alle Mühe, seine Hinweise für den ,Gigant' zu beherzigen", sagte er nach einer Weile nachdenklich, „aber vergeblich. Ich habe dabei viele Fragen, die der Professor jedoch unbeantwortet läßt." Grug war ungehalten. „Er zwingt jeden zum Nachdenken. Mir scheint, das schadet keinem von uns. Sie werden mir doch zustimmen, daß man Timmins Anregungen respektieren sollte. Oder ist das zu viel verlangt?" Bera sah Grug kopfschüttelnd an. „Gewiß nicht, wenn damit etwas anzufangen ist und das Kollektiv nicht bis zuletzt in Aufregung gehalten wird. Der ,Gigant' ist für den Probelauf fast
fertig und noch immer gibt der Professor Hinweise zur Veränderung." Zur selben Stunde markierten im Gebäude des Weltsicherheitskomitees in Moskau Lichtimpulse die Umrisse der Halbinsel Florida und des Golfs von Mexiko auf einer Karte. „Das ist Ihr künftiges Einsatzgebiet", sagte Pedro Almeida, der Vorsitzende des Weltsicherhertskomitees, zu Wassili Michailowitsch Franzusow. „Ziemlich umfangreich", entgegnete er und blickte seinen Vorgesetzten nachdenklich an. „Sie begeben sich fürs erste auf die ,Ozeana'", erklärte Almeida. „Dort verfügen Sie über eine Geräuschpeilzentrale und gleichzeitig über einen tadellosen Helikopterplatz, von dem aus Sie bequem alle Institute auf Florida erreichen können." Er strich sich übers Kinn. „Es wäre besser, wenn Sie kein Zimmer auf der Insel beziehen würden, sondern sich in Tampa einquartierten." Wassili blickte ihn fragend an. „Sie müssen in dieser Gegend ganz anders vorgehen. Dieses Gebiet hat sich als letztes entschlossen, den gleichen Weg wie wir zu gehen. Vielleicht gibt es dort noch Rudimente der Vergangenheit. Deshalb dürfen wir diesmal n u r wenige einweihen. Das ist bedauerlich und für uns völlig ungewohnt. Es würde genügen, wenn Sie als Begründung Ihres Aufenthalts auf der Insel vorgäben, einen Ozeana-Report schreiben zu wollen. Als Bioozeanograph und Journalist wird man Ihnen das ohne weiteres abnehmen. Vermeiden Sie alles, was Ihre wahren Absichten verraten könnte, sonst finden wir diese mysteriösen Projektmacher, die wahrscheinlich auch diese Geräusche im Meer verursachen, bestimmt nicht so schnell." Obwohl Almeida versuchte, sich zu beherrschen, spürte Was^ sili doch seine Erregung. „Von Ihrem Erfolg hängt der Fortgang der wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Meeresteil in ganz besonderem Maße ab." Almeida schwieg eine Weile. Dann sagte e r : „Leider kann der Sicherheitsbeauftragte dieses Gebiets, Tom Parker, Sie nicht
sofort unterstützen. Er m u ß die Inbetriebnahme des Fusionskraftwerks überwachen. Bis dahin sind Sie also ganz auf sich selbst angewiesen." Wassili war enttäuscht. Er hatte im' stillen auf die Unterstützung dieses Mannes gehofft. Tom Parker arbeitete schon seit fünf J a h r e n in diesem Gebiet und hatte reiche Erfahrungen. Pedro Almeida schüttelte nachdenklich den Kopf. „Unverständlich, was dort unten in Florida vor sich geht. Na, wir w e r den sehen." Almeida trat auf ihn zu. „Arbeiten Sie mit einem ausgesuchten Kreis von Menschen zusammen, ohne daß die ganze Umgebung gleich erfährt, worum es geht. Ich bin sicher, daß Sie diese Aufgabe erfolgreich lösen werden." Ermutigend klopfte er Wassili auf die Schulter. Wassili Franzusow befand sich n u n schon seit vier Tagen auf der „Ozeana". Weder in den Instituten auf Florida noch auf der Insel hatte er bisher den geringsten Erfolg gehabt. Er war in der Geräuschpeilzentrale gewesen, hatte mit Arsa Grug, Ras Bera und den anderen Mitarbeitern gesprochen. Doch nirgends gab es einen Anhaltspunkt. Während er hier war, tauchten weder technische Projekte noch die rätselhaften Geräusche auf. Wassili blieb Zeit, sich auf der Insel umzusehen. Ria Salvatore, die Assistentin des Professors, eine gut aussehende, schwarzhaarige Frau, w u r d e ihm als fachliche Beraterin zugeteilt. Ein silbrig glänzender Elektro-Personenkraftwagen raste die Küstenstraße von Florida entlang. Die beiden Suchgeräte tasteten das unterirdische Metallband ab und übertrugen elektrische Impulse auf das Lenksystem des Wagens. Plötzlich kündigten Warnsignale Störungen im Steuerungssystem an. Wassili, der auf dem Fahrersitz saß, zuckte zusammen. Seine Begleiterin, Ria Salvatore, stieß einen unterdrückten Schrei aus. „Der Strom im Metallband wird immer schwächer", stellte Wassili fest und bemerkte, daß die Frau neben ihm unruhig wurde. „Kein Grund zur Aufregung", beruhigte sie der Mann. Er
lehnte sich an das Kopfpolster zurück und zog die daran befestigte Haube bis in die Stirn. Damit schuf er einen direkten Kontakt zwischen sich und dem Wagen. „Ich lenke ihn jetzt über den Biostromsender." Denkend befahl er: Höchstgeschwindigkeit! Der Wagen, der ins Schleudern geraten war, fing sich sofort und jagte nun wieder in schnellem Tempo dahin. Ria atmete erleichtert auf. Wassili erklärte: „Das Warnsignal .Stromausfall' hatte die Biozellen veranlaßt, einige Relais selbständig von den Brennstoffzellen auf den Bakterienkulturenträger umzuschalten. Jetzt erzeugen Bakterien die elektromotorische Kraft. Es ist mir u n verständlich, w a r u m diesmal die Umschaltung einsetzen konnte. Der Stromausfall war doch im Metallband unter der Straße. Wahrlich eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, diese Umschaltung." Kaum hatte er das ausgesprochen, korrigierte sich die Automatik auch schon von selbst. Die Brennstoffzellen waren wieder angeschlossen. Aufgeschreckt fuhr sich seine Begleiterin mit der Hand an die Stirn. „Daß ich das vergessen konnte", rief sie aus, „Sie sind ja erst einige Tage hier und können nicht wissen, daß für die Strecke von Tampa bis Sarasota ein kurzer Stromausfall angekündigt worden ist. Die Abschaltung hängt mit der Inbetriebnahme des Kraftwerks zusammen. Sie sind n u n bestimmt böse auf mich, nicht w a h r ? Ich habe ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Aber bei dieser Geschwindigkeit werden wir Sarasota sicherlich noch rechtzeitig erreichen", versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Aus ihrem gebräunten Gesicht blickten ihn große hellblaue Augen an, die einen reizvollen Kontrast zu den dunklen Brauen bildeten. „Schon gut, es ist ja nichts passiert", erwiderte er. „Warum haben Sie mich so lange auf der ,Ozeana' warten lassen?" fragte er, das Thema wechselnd. „Schuld daran war der Professor. Er verläßt uns heute wieder für ein paar Tage. Da hat er mir einige wichtige Aufträge erteilt. Außerdem mußte er an einer Besprechung teilnehmen, zu der auch ich zugegen sein sollte."
„Bera sprach davon." „Sie wissen, worum es ging?" „Ras Bera deutete an, daß das Klima im Kollektiv zur Debatte stand." „So! Na, dann brauche ich Ihnen ja nichts m e h r zu erklären." „Ras Bera hat bestimmt wieder seine Bedenken über die Arbeitsweise des Professors geäußert." „Meinen Sie nicht, daß da was Wahres dran ist?" „Nennen Sie mir dafür triftige Gründe. Sie werden vergebens danach suchen." „Nun, zum Beispiel die Schwierigkeiten, die sich beim Meeresbergwerk herausstellten." „Hören Sie damit auf. Gerade hier kommt Beras wahrer Charakter zum Vorschein. Der Professor bemüht sich, ihm zu helfen; er aber schlägt alle gut gemeinten Ratschläge in den Wind. Heißen Sie das etwa gut?" Was sollte Wassili darauf antworten? Von Grug hatte er Ä h n liches gehört. Einige andere Kollegen hatten die gleiche Meinung über den Professor wie Ras Bera. Ach was, w a r u m sollte er sich ausgerechnet damit belasten. Er mußte die Geräuschquelle finden und konnte seine Zeit nicht mit Nebensächlichkeiten vergeuden. In Gedanken versunken, schaute er auf die Straße und vergaß dabei ganz, daß eine Frau — noch dazu eine, die ihm gefiel — neben ihm saß. Ria ärgerte sich über sein plötzliches Schweigen. Bisher hatte sie auf Männer immer Eindruck gemacht. Manchmal war es ihr geradezu lästig, so umschwärmt zu werden. Daß sie jemand derart kühl behandelte, war ungewohnt für sie. Um wieder ein Gespräch in Gang zu bringen, sagte sie: „Erzählen Sie mir doch, was Sie bisher erreicht haben. Als Ihre fachliche Beraterin interessieren mich auch die Vorarbeiten zum Ozeana-Report." „Es geht einigermaßen voran", entgegnete er kurz. „Hoffentlich lenken die geheimnisvollen Projekte und die Geräusche Sie nicht zu sehr von Ihrer Arbeit ab." Wassili horchte auf. „Was wissen Sie denn davon?"
„Grug erzählte mir von Ihrem Besuch in der Geräuschpeilzentrale. Daher weiß ich auch von Ihrem Interesse für diese außergewöhnlichen Geschehnisse. Eigenartigerweise ist in den letzten Tagen nichts Derartiges passiert." „Hat man schon einen Verdacht?" fragte Wassili interessiert. „Verdacht schon, aber noch keine Beweise. Die einen behaupten, Fische wären die Ursache. Die Geräusche, die hier aufgetreten sind, haben sich auch ganz so angehört, als stammten sie von unentdeckten Riesenkalmaren. Andere jedoch halten es für möglich, daß hier unangemeldet neue Technik erprobt wird, mit einem den Kalmaren ähnlichen Fortbewegungsantrieb. Die ganz Ängstlichen befürchten sogar, daß sich Wesen aus dem All in unseren Meeren aufhalten." Wassili sah sie erstaunt an. „Wie kommen Sie denn darauf? Hat man Anhaltspunkte dafür?" „Vor einem J a h r ging bei den Ten Thousand Inseln ein Meteorit nieder. Man munkelt, es wäre eine Rakete mit außerirdischen Wesen gewesen. — Aber wie gesagt, es ist nur ein Gerücht." Ria schwieg plötzlich und blickte nachdenklich vor sich hin. Wassili spürte, daß sie irgend etwas beschäftigte, worüber sie aber nicht sprechen wollte. Was kann das n u r sein? fragte er sich. Sollte er mit Tom Parker über die Hypothesen sprechen? Morgen, entschied er sich. . Dann nahm das neue Wahrzeichen der Halbinsel Florida, der kugelförmige Plasmareaktionskessel des gigantischen Fusionskraftwerks seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Er warf einen Blick auf die Kühlwasserleitungen, die auf riesigen Sockeln in den Golf führten, dessen Wasser heute verhältnismäßig ruhig war. Rhythmisch bewegt von aufblitzenden Wellenkämmen, die an der Küste zerstäubten, erholte sich das Meer von den Tornados, die es immer und immer wieder aufwühlten und wild machten. Wassili stellte die Klimaanlage aus und öffnete das Verdeck. Der Wind spielte in Rias langem Haar. Ein frischer Duft des Meeres wehte zu ihnen herüber. Endlich unterbrach Wassili das Schweigen.
„Sarasota werden wir leider nicht rechtzeitig erreichen können." Als sie kurze Zeit darauf vor dem Fusionskraftwerk hielten, war die feierliche Eröffnung bereits in vollem Gange. „Seit heute ist Wasserstoff im Reaktor eingeschlossen", bemerkte der Direktor in seinen Schlußausführungen. „Dieses Werk versorgt von n u n an einen ganzen Kontinent mit elektrischer Energie. Sowohl die zahlreichen Forschungsstellen auf Florida als auch das benachbarte Meeres-Chemiekombinat w e r den künftig unbegrenzt ihren Bedarf an elektrischer Energie decken können." Anschließend besichtigten alle das neue Kraftwerk und waren von den Anlagen fasziniert. In einem großen Saal konnten sich danach die Tanzlustigen im Rhythmus der Musik wiegen. Ria und Wassili saßen an einem kleinen runden Tisch, tranken Libatione, ein aus Meeresfrüchten hergestelltes Getränk, und unterhielten sich angeregt. Immer wieder stellte der Journalist Fragen. Vielleicht konnte sie ihm einen Schritt weiterhelfen? „Ich finde es eigenartig, daß Sie sich so für die industrielle Ozeanographie interessieren. F ü r Ihren Ozeana-Report brauchen Sie das doch wahrhaftig nicht! Bringen Sie etwa die Störquelle damit in Verbindung?" fragte Ria. Wassili zögerte mit der Antwort. Sollte er sie einweihen? Dazu kannte er sie noch zuwenig. Er entschloß sich, die Frage zu überhören. „Sie haben mir immer noch nicht verraten, w a r u m es Sie eigentlich stört, daß Ras Bera mir etwas von der angespannten Atmosphäre in Ihrem Kollektiv berichtet hat. F r ü h e r oder später hätte ich das sowieso bemerkt." „Wir werden schon selbst damit fertig, glauben Sie mir. Es ist doch wirklich nicht so schwer zu begreifen, daß solch ein Leiter wie der Professor seinem Kollektiv nicht gerade einfache Aufgaben stellen kann. Der Mensch entwickelt sich nur dann, wenn er voll gefordert wird. Da trifft doch den Professor keine Schuld, wenn andere ihre Aufgaben nicht lösen können." Wassili sah sie verwundert an. „Sie haben anscheinend vergessen, daß sich die Kräfte n u r im Kollektiv vervielfachen und daß ein gegenseitig ergänzendes Wechselverhältnis von Gemein-
schaft und Persönlichkeit notwendig ist. Ein Kollektiv vermag viel m e h r zu vollbringen, wenn alle an einem Strang ziehen. Die Ziele müssen zwar hochgesteckt, aber erfüllbar sein. Sonst dürfen Sie sich natürlich nicht wundern, w e n n Uberbelastung zu einer ständigen Drucksituation führt." „Na, hören Sie, das bezieht sich doch wohl nicht auf uns." Sie war aufgebracht. „Welchen Bären hat man Ihnen da bloß aufgebunden? Sie können mir doch nicht einreden, daß sich ein genialer Mensch einschnüren muß, n u r damit Mittelmäßige mitkommen können." „Begreifen Sie denn den Professor?" Wassilis Frage kam ihr offensichtlich überraschend. Sie zögerte mit der Antwort. Dann sagte sie: „Ich meine, daß der Professor ein über den Durchschnitt hinausragender Wissenschaftler ist. F ü r mich — und auch von Grug weiß ich es — ist er unerreichbar. Wir schämen uns dessen aber nicht. Wir gehören nicht zu denen, die stets eine Menge vorgekaut haben wollen und sich selbst zu wenig Mühe geben, die Aufgaben zu bewältigen. Solchen hilft Professor Timmin nicht. Was streiten wir uns überhaupt, sprechen nicht unsere Erfolge für sich?" „Da haben Sie recht", gab Wassili zu. „Von Ihrem Kollektiv ist unter Leitung des Professors das Zeitalter der Planktonchemie auf unserem Erdball eingeleitet worden. Hier ist auch die Geburtsstunde des Super-Barten-U-Boots, das mit seinen Feinstfiltern und besonderen Abscrbereinrichtungen überhaupt erst das wirtschaftliche Ernten des Planktons ermöglicht. Dadurch wird die Eiweißversorgung der Menschen vom Fisch u n abhängig. Außerdem stellen seitdem die Alginatwerke ein zellwollartiges Gewebe aus Plankton her. Wirklich, eine großartige Leistung." Das Gesicht der Frau hellte sich auf. „Und nun", sagte sie, „leitet Ras Bera die Entwicklung des Meeresbergwerks .Gigant'. Es wird weit rationeller arbeiten, als es bisher durch die sich auf den Schelfen befindlichen unterseeischen Erzbergwerke, die verschiedenen Fördersysteme mittels Schleppnetz, Rechen und Pumpen, die hydraulischen Tiefseesaugbagger, Barten-U-Boote oder durch die Rückstände der Ionenaustauschersäulen der
nuklearen Entsalzungswerke möglich war. Viel Kopfzerbrechen hat uns die Ausstattung des ,Gigants' bereitet. Ras Bera hat bis zuletzt Einwände gehabt. Seiner Meinung nach ist das Bergwerk auf Professor Timmins Anregung hin zu umfangreich ausgestaltet. Warum, frage ich mich, hat er immer etwas gegen die Anordnungen des Professors?" Wassili wiegte bedenklich den Kopf. „Wie mir Ras Bera erzählt hat, ist das aber auch die Meinung des Kollektivs, das Ras Bera um Rat gefragt hat." „Das besagt doch noch gar nichts", wich sie aus. „Auf jeden Fall h a t Bera bei der ganzen Angelegenheit keine gute Figur gemacht." „Ist es bei Ihnen denn nicht gang und gäbe, daß man sich von anderen Experten Rat holt?" Wassili strich sich eine Haarlocke aus der Stirn. „Das Meeresbergwerk konnte überhaupt nur, durch kollektive Zusammenarbeit entstehen. Aber deshalb kann doch Bera nicht wegen irgendwelcher Nichtigkeiten bei x-beliebigen Leuten anfragen." „Ich kann nicht entscheiden, ob das Nichtigkeiten sind. Sie sicherlich auch nicht." „Keineswegs. Aber wir sind schließlich ein Kollektiv unter unzähligen anderen, wir haben n u n mal unsere Aufgaben zu erfüllen. Und wir lösen sie n u r in gemeinsamer Arbeit mit a n d e ren Kollektiven." Langsam w u r d e sie ungehalten. Aus Wassilis Wenn uryi Aber klangen Ras Beras Worte heraus. „Und der Professor, überlastet er das Kollektiv nicht?" „Da sind Sie aber gründlich im Irrtum. Seine Ideen über n e u artige Projekte bereichern und ergänzen lediglich unsere geplanten Vorhaben, weiter nichts", sagte sie. Ria schwieg plötzlich. Es w a r schwer, einem Nichteingeweihten das alles zu erklären. Umständlich entfernte sie ein Stäubchen von ihrem hautengen Kleid, das aus Alginatfasern hergestellt war. Es glänzte silbrig und paßte gut zu ihrem dunklen Haar. Er v e r stand zwar, daß sie das Thema wechseln wollte, dennoch wollte er gern noch eines wissen. „Wie ich hörte, hat in letzter Zeit immer nur einer hervorragende Ideen, und das ist Ihr Professor. Dazu gehören wohl
auch die künstlichen Kiemen, die er in seinem Eldorado bis zu einem gewissen Grad entwickelt hat, vermutlich nicht mehr weiterkam und es n u n dem Jugendkollektiv überläßt, etwas daraus zu machen." Sie schwieg betroffen. Unmut stieg in ihr hoch. Das hatte ihm bestimmt auch wieder Ras Bera erzählt. „Ja, damit Sie es genau wissen, die Kiemen gehören auch dazu. Und Sie werden staunen, der Professor vergräbt sich ab und zu in seinem Eldorado, wie Sie sein Hydrohaus nennen. Ob Sie es glauben oder nicht, immer w e n n er von dort kommt, bringt er zahlreiche neue Ideen mit. Es wäre n u r zu begrüßen, wenn manch anderer gleich ihm untertauchen w ü r d e und mit neuen Entdeckungen zum Vorschein käme", erwiderte sie, kaum Luft holend. Erschöpft lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und schloß die Augen. Auch Wassili schwieg jetzt und hing seinen Gedanken nach. Nach allem, was Wassili bisher feststellen konnte, war das gute Verhältnis des Inselkollektivs gestört. Nur der Professor ragte mit seinem Können heraus; die Mehrheit blieb im Hintergrund. Es kam keine echte Ergänzung zustande. Wassili wunderte sich, daß es so etwas noch gab. Jetzt w u r d e ihm auch klar, w a r u m solche außergewöhnlichen Erscheinungen wie die der Projektemacher ausgerechnet in diesem Gebiet auftraten. Er stellte sich Neptun mit seinem Dreizack vor, wie er auftauchte und Geschenke in Form genialer Erfindungen präsentierte. Ihm kam bei diesem Bild ein eigenartiger Gedanke, der unmittelbar mit den Projektemachern zusammenhing. Doch seine Begleiterin ließ ihn den Faden nicht weiterspinnen. Ria verspürte plötzlich Lust zum Tanzen. Er merkte es und forderte sie auf. Sie tanzten, tranken und plauderten. Wassili verbarg nicht, daß sie ihm gefiel. Auch sie verhehlte nicht, daß er ihr Typ war, sportlich, groß, dunkel, mit einem ausgeprägten männlichen Gesicht, das Klugheit und Entschlossenheit verriet. Als sie wieder am Tisch saßen, blickte sie verwirrt in ihr Glas, führte es zum Mund und nippte daran. Ihre Hand zitterte. Als könnte der eine die Gedanken des anderen lesen, erhoben sie sich plötzlich und strebten dem Saalausgang zu. Beide hatten
den gleichen Wunsch: Fort von dem Trubel des Festes, allein sein. Ihr Weg führte sie bis ans Chemiekombinat, das sich kilometerlang an der Küste hinzog. Ria deutete darauf und begann wie ein Wasserfall zu reden, als fürchte sie sich vor dem Schweigen. „Wir konnten das Geheimnis der Photosynthese entschleiern. Nun werden wir hier Nahrungsmittel aus der Retorte gewinnen. Sie werden unsere Ernährung reichhaltiger und gesünder gestalten. Die synthetischen Nahrungsmittel sind unsere größte Speisekammerreserve. Keine Mißernte kann uns mehr etwas anhaben." Ausführlich erklärte sie ihm die Fähigkeit grüner Pflanzen, die mit Hilfe der Chloroplasten unter Verwendung von Lichtenergie aus anorganischen Stoffen Stärke oder Eiweißstoffe aufbauen und Sauerstoff abspalten konnten. „Diesen Prozeß ahmen wir jetzt ohne Pflanzen nach." Er mußte lächeln. Wie einem Schulkind erläuterte sie ihm die Photosynthese. „Die Ubertragbarkeit des Stoff Wechselsystems der Pflanzen auf den Menschen liegt in erreichbarer Nähe. Dann könnte sich der Mensch wie eine Pflanze, also autotroph, aus anorganischen Stoffen ernähren." Wassili sah Ria von der Seite an. Mit dieser Frau wollte er sich im Moment nicht über das Fernziel von Generationen streiten. Zaghaft legte er den A r m um sie und spürte, wie sie sich gegen seine Schulter lehnte. So standen sie lange und blickten gedankenvoll aufs Meer. Als Wassili sein Zimmer im Hotelhochhaus in Tampa betrat, vermißte er Olaf Nielsen, seinen früheren Studienkollegen. Er war als Journalist hierhergekommen, um über die feierliche Inbetriebnahme des Fusionskraftwerks für seinen Kulturbereich zu berichten. Wassili war froh gewesen, ihn zu treffen; denn alle Zimmer in den Hotels waren belegt, und Olaf Nielsen bot ihm an, das seine mit ihm zu teilen. Müde, aber glücklich legte sich Wassili schlafen. Er konnte
noch nicht lange geschlafen haben, da schreckte er hoch. Irgendein Geräusch mußte ihn geweckt haben. Es glückte Wassili nicht, wieder einzuschlafen. Er fühlte sich wie zerschlagen und griff nach den aktivierenden Tabletten. Dann drückte er auf eine Taste über dem Nachtschrank. Der Farbüberzug an den Wänden begann zu leuchten. Wassili schaute auf die U h r und erschrak. Eine zweite Taste hob die elektromagnetischen Felder auf, die bisher dem Tageslicht jeden Zutritt durch die breite lichtdurchlässige Kunststofffront des Hotelzimmers verwehrten. Der F a r b überzug an den Wänden verglimmte. Morgensonne flutete in den wohnlich eingerichteten Raum. Tiefatmend t r a t Wassili auf den Balkon. Auf der Straße fuhren vereinzelt Fahrzeuge, winzig anmutend in der Tiefe. Er mußte an Ria denken. Beim Abschiednehmen hatte er sie geküßt und gespürt, daß sie seinen Kuß erwiderte. Als sie ihn anblickte, schienen ihre Augen' dunkler geworden zu sein. Er spürte eine verhaltene Glut in ihnen, die ihn verwirrte. J ä h wurde Wassili aus seinen Gedanken gerissen. „Hallo, Wassili!" Hinter ihm stand Olaf Nielsen. Er sah übernächtig aus. „Wo hast du so lange gesteckt?" Nielsen winkte ab. „Laß uns ins Zimmer gehen. Gleich bekommen wir Besuch", sagte er nur. Noch nie hatte Wassili den anderen so niedergeschlagen gesehen wie jetzt. Schweigend setzten sie sich. „Nun red schon!" Nielsen schüttelte den Kopf. „Ich kann einfach nicht. Es ist alles so ungeheuerlich, daß es ein anderer für mich tun soll. Jeden Augenblick kann der Sicherheitsbeauftragte hier sein. Die ganze Sache steht mir bis hier", sagte er und hob die Hand an den Hals. Wassili sah ihn fragend an. Er wollte ihn um eine Erklärung bitten, unterließ es dann aber. Nachdenklich erhob er sich und blieb abwartend vor einer rohrpostähnlichen, • großkalibrigen Leitung stehen. Das automatische Versorgungsnetz besorgte prompt seine Bestellung: zwei Plastflaschen Libatione. „Hier, trink wenigstens etwas, das wird dir guttun."
Schweigsam nippten beide an der nach Orangen schmeckenden braunen Flüssigkeit. Sie tranken aus hauchdünnen Bechern, die zuvor als Verschluß gedient hatten. Nielsen massierte seine Schläfen. Seine Nervosität übertrug sich auch auf Wassili. „Was ist denn n u r ? So sprich doch endlich!" Dabei kniff er das linke Auge zu, eine Angewohnheit, die seine Erregung verriet. Wieder winkte der andere ab. Wassili betrachtete Olaf aufmerksamer. Sollten sich seine früheren Befürchtungen doch bewahrheiten? Hatte sich der neugierige Nielsen etwa ins Sperrgebiet des Kraftwerks vorgewagt? Wassili erinnerte sich. Am ersten Abend ihres Zusammentreffens in Pampa erwies er Nielsen den Gefallen, für ihn Hypnopädiebänder ablaufen zu lassen. Die Bänder gaben Auskunft über archäologische Funde in der Tampa-Bay, die sich Nielsen im Schlaf einprägen wollte. Und da es noch einige Tage bis zur Einweihung in Sarasota waren, wollte er danach t a u chen. Einige Funde lagen allerdings im Sperrgebiet. Hoffentlich hatte er sich nicht zu Unüberlegtheiten hinreißen lassen. Vorgestern hatte er Nielsen zufällig an einer der Anlegestellen am Hafen getroffen. „Hast du etwas Neues entdeckt, dort, in der Bucht?" hatte er ihn gefragt. „Nichts", hatte Nielsen geantwortet. Aufmerksam hatte Wassili die moderne Ausrüstung im Boot betrachtet. Delphinhaut aus flexiblem Kunststoff. Durch ihr faltenloses Anliegen am Körper hinterließ sie kaum Wirbel im Wasser. Das ermöglichte eine hohe Geschwindigkeit. Neben dem Schnorchel und den Haftschalen fürs Gesicht hatte die Aqualunge gelegen. Sie sah aus wie der Rücken eines riesigen Maikäfers. Was sollten Schnorchel und Haftschalen, wenn Besseres vorhanden war? Plötzlich fielen Wassili die Horchbojen ein. Hatte der Freizeitarchäologe etwa die Geräuschpeilzentrale der „Ozeana" überlistet, deren Hydrophone jedes Atemgeräusch unter Wasser registrierten? Das Schwimmgeräusch konnte aber ebenso von einem Fisch stammen; deshalb hatte Wassili neulich seinen Verdacht als unbegründet fallenlassen. Jetzt aber tauchte
er wieder verstärkt auf. Bevor er Olaf noch etwas fragen konnte, öffnete sich, durch die Selenzellen lautlos, die Zimmertür. „Ich bin Tom Parker, Sicherheitsbeauftragter dieses Gebiets", stellte sich ein großer, etwa dreißigjähriger Mann mit etwas heiserer Stimme vor. „Die einheimischen Taucher verwiesen mich an Sie", wandte er sich an Nielsen. „Sie waren vor einigen Tagen auf dem Grund der Tampa-Bay", fuhr er fort. „Als einziger übrigens in letzter Zeit. So berichteten es mir jedenfalls die Taucher. Ich ließ Ihnen bereits sagen, daß wir eine anonyme Mikrofilmkapsel zugeschickt bekamen. Alles in allem hatte es den Anschein, als wolle man uns Hinweise über den Ursprung der bisherigen rätselhaften technischen Projekte geben. Angeblich w u r d e die Kapsel von dem unbekannten Einsender selbst auf dem Grund der Bucht gefunden. Obwohl Sie meinem Mitarbeiter gegenüber versicherten, nichts zu wissen, möchte ich Ihnen den Inhalt vorführen. Vielleicht w ä r e es Ihnen möglich, mir irgendwelche Hinweise zu geben." Nielsen hockte wie geistesabwesend in seinem Sessel, aus dem er sich n u r kurz zur Begrüßung erhoben hatte. Wassili starrte ihn betroffen an. W a r u m benahm er sich nur so eigenartig? Man spürte doch sofort, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte. Es wird schon so sein, daß er die Horchbojen überlistet und die Kapsel im Gebiet des Kraftwerks gefunden hatte. Anonym hatte er sie der Sicherheitsgruppe zugeschickt, um seine Ruhe zu haben. Sollte er doch sagen, wie sich alles zugetragen h a t t e ; so schlimm konnte es schließlich nicht werden. Wassili erhob sich und betrat den Balkon, nicht ohne Tom Parker vorher durch ein Zeichen verständigt zu haben, daß er ihm folgen möchte. Flüsternd wies er sich als Sicherheitsbeauftragter aus Moskau aus. Als sie ins Zimmer zurücktraten, starrte Olaf Nielsen immer noch vor sich hin. Parker stellte einen Mikroprojektionsapparat auf den Tisch. Die sonst übliche lichtgeschützte Projektionsfläche fehlte bei diesem Gerät, deshalb mußte das Zimmer verdunkelt werden. Ein Tastendruck genügte, und schon versperrten elektromagnetische Felder dem hereinfallenden Tageslicht jeden Zutritt.
Bald darauf wurde eine Unterwassersiedlung sichtbar. Wassili stockte der Atem. „Was ist denn das für eine Siedlung? Mir ist nicht bekannt, daß es solche ausgedehnten Unterwasserbauten gibt", rief er verwundert aus. „Warten Sie ab, es kommt noch besser", murmelte Parker. Was Olaf Nielsen und Wassili dann sahen, verschlug ihnen die Sprache: Tiere mit Brust- und Bauchflossen und einem Stachelrochenschwanz. Menschenähnliche Gestalten mit sehr großen Köpfen, ohne Atemgerät vor den Gesichtern, waren gerade damit beschäftigt, gewaltige Platten kreisförmig zu einer Mauer zusammenzufügen. Offensichtlich sollte eine Siedlung gebaut werden. Gebannt blickte Wassili auf die Bilder. Erregt rief er aus: „Das sind ja . . . " Seine Stimme bebte. „Wassermenschen! Einen von ihnen wollen vor Hunderten von J a h r e n jakutische Fischer in einem Ostsibirischen See erblickt haben. Seeteufel nannten sie ihn. Niemand hatte den Fischern damals geglaubt und hier..." Er schüttelte den Kopf. „So etwas kann es doch nicht geben! Sagen Sie, was ist Ihre Meinung?" fragte er Parker. „Meiner Ansicht nach gibt es n u r zwei Möglichkeiten. Entweder halten sich außerirdische Wesen in unseren Meeren auf, oder aber die Kapsel stammt direkt von einem anderen Planeten." Wassili kam da ein Gedanke. „Vielleicht gab es sogar einen Zusammenhang mit der aufsehenerregenden Mitteilung unseres Radiodroms? Dort w u r d e doch eine Strahlung aufgefangen, die aller Wahrscheinlichkeit nach vom elf Lichtjahre entfernten, neu entdeckten Planeten Mara Ceti im Sternbild Walfisch stammt. Ob es da eine Verbindung gibt?" „Das ist durchaus möglich", sagte Parker. „Noch ist man dabei, die gesandten technischen Signale zu entschlüsseln. Erst w e n n wir die Botschaft kennen, können wir weitere Rückschlüsse ziehen." Noch einmal sahen sie sich den Film an. Als der Raum wieder 22
erhellt war, blickten sie sich ratlos an. Olaf Nielsen saß im Sessel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er schwitzte,- obwohl das Zimmer durch die Klimaanlage gut temperiert war. „Nun zurück zu Ihnen", wandte sich der Sicherheitsbeauftragte an Nielsen. „Wo haben Sie die Filmkapsel gefunden?" Nielsen erwachte aus seiner Starre. Ruckartig erhob er sich und ging nervös auf und ab. „Ich habe die Filmkapsel vorher noch nicht gesehen. Weiß der Kuckuck, wer ausgerechnet meine Taueherei für seine dunklen Zwecke mißbraucht hat", schimpfte er los. „Schon gestern machten mich einige Taucher nervös. Nur ich wäre in letzter Zeit auf dem Meeresgrund gewesen, behaupteten sie. Ich sollte endlich sagen, woher ich die Kapsel hätte. Aber ich konnte n u r immer wieder betonen, daß ich nichts damit zu t u n habe." Vor Parker blieb er stehen. „Warum machen Sie nur soviel Aufhebens von dieser kleinen Kapsel? Ich glaube nicht daran, daß außerirdische Wesen auf der Erde sind. Mit Konvexlinsen und zusammengetragenem Sargassotang kann man ohne weiteres Riesenmenschen mit großen Köpfen, Wundertiere und eine fremdartig anmutende Flora herbeizaubern. Das alles geschickt gefilmt, und schon haben wir Bilder wie aus einer anderen Welt." „Setzen wir voraus, es verhielte sich so", bemerkte Wassili, „wer wäre dann daran interessiert, Unruhe zu stiften? Zuerst die technischen Informationen, die Geräusche im Meer, dann dieser Film! Vielleicht will uns jemand einreden, daß ein kosmischer Krieg vom Himmel fallen wird. Wir wissen aber, daß die Entfernung zwischen den Planeten zu groß ist und daß die Flugkörper die Barriere der annähernden Lichtgeschwindigkeit nicht überwinden können. Trotzdem hat mich der Film im Zusammenhang mit den kosmischen Signalen sehr nachdenklich gestimmt. Wenn sich das bestätigt, daß der Mara Ceti mit vernunftbegabten Wesen besiedelt ist, dann könnte es da einen Zusammenhang geben. Es ist doch anzunehmen, daß uns irgendeiner, der womöglich mit dem Mara Ceti in Verbindung steht, die Kapsel anonym ins Haus gesandt hat." „Wer weiß? Vielleicht wollte jemand ein bißchen Spaß haben. 23
Wenn ja, dann ist er aber zu weit gegangen. Die Meldungen in den Buchsen der elektronischen Nachrichtenübermittlung über die Signale lassen die Menschen schon genug Hypothesen über Wesen aus dem Weltall aufstellen. Nun auch noch das hier", erwiderte der Reporter. Obwohl Parker ihn zu beruhigen versuchte, konnte Olaf Nielsen seine Erregung nicht unterdrücken. Die beiden Sicherheitsbeauftragten sollten schon im nächsten Augenblick erfahren, warum. „Meine Kollegen werden Tampa-Bay-Reportagen schreiben, in denen ich eine geheimnisumwitterte Figur sein werde", sagte er und strich sich mit der Hand über sein blondes Haar. Wassili stutzte zuerst, dann lachte er. Das also war der eigentliche Grund seines Verhaltens. „Was mich betrifft, so irrst du dich, Olaf", sagte der vermeintliche Reporter immer noch lachend. „Du weißt, ich sitze an meinem Ozeana-Report und werde über Folgendes schreiben: über die physiologische Aktivität einiger Seeorganismen und über die Meeresbiotronkolonien, das sind Fischställe, die das Kollektiv der ,Ozeana' angelegt hat, um dort Kreuzungen von Meerestieren durchzuführen, über die Entwicklung neuer Tauchstationen als Aufenthalt für Meeresagronomen, die die Tanggemüsefelder und Fischfarmen betreuen, über die Entwicklung neuer unterseeischer Mähmaschinen und über das Meeresbergwerk .Gigant'.' Du kannst also beruhigt sein. Ich w ü r d e schwerlich Zeit finden, auch noch über dich zu schreiben." Parker erhob sich, und Wassili begleitete ihn hinaus. „Warum haben Sie sich nicht schon längst mal bei mir sehen lassen?" fragte ihn Parker. „Ich sollte Sie vorerst nicht stören, da Sie bis gestern mit dem Kraftwerk zu tun hatten. Heute wollte ich Sie aufsuchen. Doch dann kam diese Sache dazwischen. Was halten Sie von Olaf Nielsen?" „Über ihn bin ich mir immer noch nicht im klaren. Na, wir werden ja von n u n an gemeinsam die Sache zu klären versuchen. Sehen Sie sich auf der Insel um!" Dann verabschiedete er sich. Wassili stand noch eine Weile am Flurfenster und dachte über 94
das eben Gehörte nach. Er konnte nicht umhin, sich Parkers Meinung anzuschließen. Entweder bestand vom Mara Ceti zu irgendwelchen Menschen auf der Erde televisionistischer Kontakt, oder es befanden sich tatsächlich außerirdische Wesen in den Weltmeeren. Wenn er an das Geräusch im Golf dachte, war auch das nicht von der Hand zu weisen. Es war Grug anzumerken, daß ihm die erfolglose Kreuzfahrt in dem U-Boot auf die Nerven ging. „Kaum arbeitet das Fusionskraftwerk, da tritt erneut diese Störquelle auf", sagte er. „Einmal werden wir schon herausfinden, wer uns so in Atem hält", meinte Ras Bera. „Minutenlang dieses eigenartige Geräusch, und dann ist nichts mehr zu hören", erwiderte Arsa Grug. „Ich habe das Gefühl, wir suchen einen Tropfen im Meer." „Stellen Sie sich vor", sagte Parker, „es handelte sich bei unseren Unbekannten um autotrophe Wesen, die sich aus anorganischen Stoffen ernähren, dadurch von der Außenwelt u n abhängig sind, und die in unvorstellbar schnellen Schwimmkörpern unsere Meere durchqueren." Alle lachten. Nur Wassili blieb ernst. Als er das Wort autotroph hörte, dachte er an Ria Salvatore. Kalmarantrieb — autotroph, Kalmarantrieb — autotroph, ging es ihm unaufhörlich im Kopf herum. Sein Gefühl sagte ihm, daß des Rätsels Lösung auf der „Ozeana" zu finden sein müßte. Da von den Geräuschen nichts mehr zu hören war, entschieden sie sich, aufzutauchen. Das Spezial-Kleinst-U-Boot, das einem Motorflugzeug alten Typs ähnelte, hob sich langsam aus den Tiefen des Meeres empor. Am blaugrauen Rumpf waren Flügelstummel und am stromlinienförmig auslaufenden Körper, der die Antriebsaggregate umschloß, m e h r e r e Stabilisierungsflossen angebracht. In der Nähe des Ufers ankerte es. Parker schob das Verdeck der Sichtkapsel zurück und genoß mit den anderen die frische Luft. Der herbe Geruch des Meeres mischte sich mit dem verschwenderischen Duft tropischer Vegetation. 25
Parker blickte auf die Uhr. „Wir haben zwar noch etwas Zeit, bis sich das Radiodrom meldet, aber vielleicht sollten wir einmal nachfragen, ob ein Teil der Signale aus dem Weltall schon entschlüsselt ist." Er bediente das Videofon. Auf dem grünlichen Leuchtschirm erschien das schmale Gesicht des Leiters vom Radiodrom in Havanna. Parker trug seine Bitte vor. „In wenigen Minuten beginnt die zweite Sendung. Deshalb m u ß ich mich kurz fassen", antwortete der Leiter. „Wir haben den ersten Teil entschlüsseln können. Die Signale stammen von den Bewohnern des Mara Ceti u n d sind an vernunftbegabte Wesen unseres Sonnensystems gerichtet. Die Maraner bitten um Aufnahme für etwa drei Generationen, da gewaltige N a t u r ereignisse sie gezwungen haben, vom Festland in das Meer und in die Atmosphäre zu flüchten. Nach der Katastrophe sind von etwa zwei Milliarden n u r noch eine Milliarde Maraner am Leben geblieben. Sie mußten ihren Wohnsitz mit Unterwassersiedlungen oder mit riesigen Photonenhohlkörpern, die am Himmel schweben, vertauschen. Von ihrem Mond aus beabsichtigen die Maraner, mit Hilfe von gewaltigen Energien den Planeten wieder bewohnbar zu machen. F ü r sie ist es einfacher, auf einen fernen Planeten als auf ihren Mond umzusiedeln, der ihnen keine Lebensmöglichkeiten bietet. Deshalb sind sie den Beobachtungen ihrer Kosmoskundschafter nachgegangen, die in u n serem Sonnensystem vor einiger Zeit starke elektromagnetische Ausstrahlungen bemerkt haben und auf einen Planeten geschlossen haben, der mit denkenden Wesen bevölkert ist", beendete der Leiter des Radiodroms seine Darlegungen. „Auch den zweiten Teil werden wir sofort entschlüsseln. Wir hoffen, Ihnen einige nützliche Hinweise gegeben zu haben. Später mehr." Er brach überhastet ab. Der Schirm w u r d e dunkel. Die Männer schwiegen. „Unvorstellbar, diese infernalische Katastrophe, die den Planeten betroffen hat", sagte Wassili. „Aber w e n n die Maraner jetzt um Hilfe bitten, können sie kaum vorher gelandet sein." „Stimmt", bekräftigte Parker Wassilis Meinung, „außerdem waren die Funksignale auf die Sonne gerichtet. Ein Zeichen 2R
dafür, daß sie keine genauen Vorstellungen davon hatten, wo sich die Erde befand. Somit fällt auch eine televisionistische V e r b i n d u n g . . . " Er suchte nach einem passenden Wort. „Ins Wasser", half ihm Grug, „wie der Meteorit bei den Ten Thousand Inseln vor einem Jahr", ergänzte er lächelnd. Ten Thousand Inseln? fragte sich Wassili. Wer hatte diesen Meteorit in den letzten Tagen schon einmal erwähnt? „Ich möchte beinahe meinen, daß Menschen bei der ganzen Geschichte ihre Hand im Spiel haben", unterbrach Bera Wassilis Gedankengang. „Vielleicht gibt uns die zweite Meldung aus dem All mehr Aufschluß", sagte Parker. „Wir müssen abwarten, dabei aber Augen und Ohren offenhalten." Tage später fuhr Wassili die breite Zedernallee entlang, die zum Stadtkern von Tampa führte. Am Rande einer mehrstöckigen Schnellstraße hielt er. Hier, nahe der Einmündung eines unter den Häusern hindurchgehenden Rollwegs, war er verabredet. Ein anonymer Briefschreiber hatte ihn zu diesem Treff gebeten. Wassili wartete. Er atmete in vollen Zügen die ionisierte Luft eines in der Nähe befindlichen Brunnens ein. Die Düsen des Brunnens erzeugten eine genügende Anzahl negativer Luftionen, die den Sauerstoff der Umgebung biologisch aktiv machten und gegen vielerlei Erkrankungen, vor allem der Herzkranzgefäße, und gegen ein vorzeitiges Altern vorbeugten. Hier waren es Brunnen. In seiner Heimat dagegen hingen in allen Wohnungen sogenannte Kenotrone, die wie altertümliche Lampen aussahen. Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. „Wassili Franzusow?" fragte eine etwas hohl klingende, metallene Stimme. Er bejahte und sah, als er sich umdrehte, einen Epigonematen vor sich. ' „Ich soll Sie begleiten." Wassili folgte der Aufforderung des Hotelcomputers, der ihn zu seinem Wagen führte. Wassili setzte sich ans Steuer seines Wagens und folgte den Anweisungen des Computers. 97
„Hier entlang bitte", sagte der Epigonemat und deutete auf eine Querstraße, an der bis zu vier Meter hohe Tomatenbäume standen. Schon nach kurzer Zeit vernahm Wassili wieder die metallene Stimme. „Halten Sie bitte, hier ist es schon. Sie werden bereits erwartet." K a u m hatte Wassili die wenigen Stufen zur Estrade betreten, da blieb er verdutzt stehen. Vor ihm saß in aller Gemütsruhe — Olaf Nielsen. „Was sollen denn diese Spaße! Du bist also der anonyme Briefschreiber! Konntest du mit mir nicht in unserem Hotelzimmer reden?" Nachdem sie sich ein Getränk bestellt hatten, rückte Nielsen endlich mit der Sprache heraus. „Wundere dich nicht, Wassili, daß ich so geheimnisvoll tue. Aber ich brauche deine Hilfe." Wassili blickte ihn fragend an. „Also kurz gesagt, ich habe mich hier mit dir getroffen, damit ich Parkers mißtrauischen Augen entgehe. Ich habe so das u n b e stimmte Gefühl, daß Parker mich immer noch verdächtigt. Ich möchte dir was zeigen." Sie ließen den Wagen nach kurzer F a h r t stehen, benutzten den Rollweg unter den Häusern und waren in wenigen Minuten am Hafen. An der Mauer eines Bootsschuppens hielt Olaf Wassili an. „Hier sind wir sicher", flüsterte er und sah auf die Uhr. „Jetzt ist es soweit." Er holte ein kleines TaschenfernsehEmpfangs- und -Sendegerät hervor und sprach leise Zahlen hinein. Es dauerte nicht lange, da erschienen auf dem Leuchtschirm drei Kugeln, die auf stativartigen Füßen auf dem Meeresgrund standen und durch röhrenartige Gänge miteinander verbunden waren. „Das sind ja die Forschungsstationen der ,Ozeana'", sagte Wassili. Nielsen bestätigte es. Wieder wechselte das Bild. Wassili war bekannt, daß diese automatischen Stationen der „Ozeana" laufend Ergebnisse von Wasserprobenuntersuchungen, Messungen des Sauerstoff- und Salzgehalts und der Temperatur übermittelten. 28
„Was soll das alles?" fragte Wassili und stieß Olaf dabei an. „Aufpassen!" Zwischen den Forschungsstationen w u r d e eine Gestalt sichtbar, die einen eigenartigen Rucksack, wahrscheinlich als Fortbewegungsantrieb, auf dem Rücken trug. Sie verweilte kurz an den automatischen Stationen und verschwand dann wieder so schnell wie sie gekommen war in Richtung Golf. Der Leuchtschirm erlosch. „So, n u n hast du es selbst gesehen", sagte Nielsen, erleichtert aufatmend, und steuerte mit Wassili auf eine Bank am Kai zu. Als sie sich gesetzt hatten, sagte Wassili: „Ich verstehe immer noch nicht, was das alles zu bedeuten hat." „Du hast soeben einen der Projektemacher gesehen." „Wie? Was habe ich?" ' „Ja, du hast richtig gehört. Laß es dir erklären! Die Verdächtigungen mit der Kapsel ließen mir keine Ruhe. Vor acht Tagen erzählte ich allen, daß ich wieder eine Unterwassertour vorhabe. An dem Tag spielte sich das Gleiche wie heute ab. Der Unbekannte 'vurde aber durch einen Meeresbauern gestört. Ein Zeichen dafür, daß er von meinem Vorhaben gehört hatte und wieder den Verdacht auf mich lenken wollte. Ich wiederholte die ganze Geschichte und verkündete wiederum, daß ich tauchen würde. Doch vorher brachte ich ein kleines Unterwasserboot mit den notwendigen Utensilien und einen Computer dorthin. Er w a r es auch, der uns heute den Fremden gezeigt hat. Meine Rechnung ging prompt auf, wie du dich selbst überzeugen konntest." „Warum hast du dich nicht an Parker gewandt? Du hättest damit doch beweisen können, daß du deine Hand nicht im Spiel hast", sagte Wassili. / „Ganz so sicher war ich meines Erfolgs n u n doch nicht. Deshalb habe ich dich erst einmal gebeten, dir das mit mir anzusehen. Inzwischen wird sich auf der ,Ozeana' folgendes abspielen: Die automatischen Stationen liefern keine Angaben mehr, weil sie defekt sind. Sie werden repariert, und die, die den Schaden beheben, kommen aufgeregt zur Insel zurück. Was meinst du, was sie mitbringen, na? Eine Filmkapsel natürlich, mit neuen 29
Projekten! Und dann erinnert man sich, daß ich tauchen wollte, stellt fest, daß ich unter Wasser gewesen bin, und n u n bin ich endgültig verdächtig." „Aber woher wußtest du denn, daß der Unbekannte gerade diesen Zeitpunkt wählen w ü r d e ? " fragte Wassili den Freund. „Ich wußte, w a n n täglich die Hauptmeßergebnisse zur .Ozeana' durchgegeben wurden. Das war die günstigste Zeit, die Kapsel unterzubringen, und zwar so, daß der Automat versagen mußte. Ein Zeichen dafür, daß der Fremde wollte, daß die K a p seln gefunden werden. Aber w a r u m ausgerechnet ich verdächtigt werden soll, weiß ich nicht." Wassili kniff sein linkes Auge zu. „Ich hole meinen Wagen und fahre auf die Insel, um zu sehen, ob sich dein Verdacht bestätigt." Als Wassili auf die Insel kam, war es fast so, wie es Olaf vorausgesagt hatte. Im Kulturraum waren Wissenschaftler versammelt. Unter ihnen Arsa Grug und Ras Bera. Man führte den gefundenen Mikrofilm vor, der detaillierte Skizzen von schwimmenden Städten riesigen Ausmaßes enthielt. „Da habt ihr was, n u n macht was draus!" flüsterte ein Wissenschaftler einem anderen zu. „Aus welchen Baustoffen könnten diese schwimmenden Kolosse bestehen? Daß sie sich trotz ihres Umfangs noch fortbewegen können, ist einfach unvorstellbar", warf ein anderer ein. „Dagegen sind unsere schwimmenden Städte Miniaturen", meinte Ras Bera. „Wenn man n u r wüßte, was das alles zu bedeuten hat und was in den Köpfen dieser Geheimnistuer vor sich geht." „Ist denn Professor Timmin schon benachrichtigt?" fragte Arsa Grug. „Sicherlich erholt er sich mit Ria Salvatore beim Wassersport", erwiderte Ras Bera. Als hätte Professor Timmin seine Worte gehört, stand er plötzlich in der Tür. Wassili, der ihn zum erstenmal sah, fielen sein eigenartig faltiges Gesicht und seine ungewöhnliche Körperlänge auf. 30
Nachdem er sich den Film interessiert angesehen hatte, meinte er: „Es w u r d e ja Zeit, daß wir auch einmal bedacht wurden, sonst käme es ja fast einer Unterschätzung unserer Arbeit gleich." Er lachte und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Doch niemand erwiderte sein Lächeln. Der Professor schaute in ratlose und unzufriedene Gesichter. Dann schwieg auch er. Würde man jetzt wenigstens ein kritisches Wort zu Professor Timmin sagen, oder hüllte man sich wieder, wie schon so oft, in Schweigen? dachte Wassili. Eigentlich w ä r e die Gelegenheit günstig, da fast das ganze Kollektiv versammelt war. Zu Timmin gewandt, sagte Bera: „Daß Sie auch vor einem Rätsel stehen, wundert mich. Sonst waren Sie es immer, der uns Rätsel zu lösen aufgab. Übrigens, ich hatte bisher noch keine Zeit, mich um Ihre bionischen Hinweise zur Verbesserung der Oberflächenstruktur unserer Schiffe zu kümmern." „Sie wissen schließlich so gut wie ich, daß unsere Schiffe schneller werden müssen." Ras Bera fuhr auf. „Erst m u ß das ,Gigant'-Projekt abgeschlossen werden, dann kann man das nächste Problem in Angriff nehmen." Professor Timmin sah Ras Bera forschend an und meinte: „Man hätte das doch noch am .Gigant' erproben können." Da schaltete sich ein Wissenschaftler ein, der neben Timmin stand. „Sie wissen doch auch", sagte er,, „daß das Bergwerk fast fertig ist. Aber immer wieder gibt es neue Schwierigkeiten, weil laufend irgendwelche Neuerungen von Ihnen vorgeschlagen werden. Neuerungen, die unserer Meinung nach nur eine u n nötige Belastung für das Objekt sind." Der Professor blickte den Redner an. So etwas hatte ihm bisher noch niemand zu sagen» gewagt. „Wir wollen die Welt verändern. Das können wir nur, wenn die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse so schnell wie möglich erprobt und in die Praxis umgesetzt werden." „Das, was Sie fordern, übersteigt aber den Rahmen abgesteckter und vorher genau erwogener Ziele. Sie überfordern das Kollektiv." Zustimmendes Gemurmel war im Saal zu hören. Alle warteten 31
gespannt auf die Antwort des Professors. Doch sie blieb aus. Er murmelte etwas von „Zeitverschwendung" und „Herumsitzen" und verschwand, ehe sie sich's versahen. Wassili ging mit Bera in dessen Appartement. „Klein, aber gemütlich hier", stellte der Gast fest", nachdem er sich in dem zweckmäßig ausgestatteten Raum umgesehen hatte. „Wie kommt es, daß die Zimmer auf der Insel alle so hell und gut durchlüftet sind, obwohl sie keine Fenster haben?" „Die Wände sind aus lichtdurchlässigem Plast und lassen mehr Helligkeit herein, als wir es sonst gewohnt sind", erwiderte Ras Bera. Er bot Wassili ein Glas Libatione an. Einer Bonbonniere entnahmen sie schmackhafte Fruchtschokokerne. „Ich habe Sie gebeten, mit mir zu kommen, weil ich Sie von einem Gespräch mit dem Professor unterrichten will." Wassili sah den Gastgeber fragend an. „Diesmal war die Aussprache rein privater Natur", fuhr jener fort. „Der eigentliche Anlaß dazu war Ria Salvatore." Wassili blickte seinen Gesprächspartner erstaunt an. „Ria?" fragte er. „Ja, Ria. Timmin war der Meinung, daß ich durch mein Verhalten seine ganze Autorität untergrabe. Ich sollte meine nörgelnden Bemerkungen lassen und nicht noch andere dazu verleiten. Er möchte vermeiden, daß Ria eine schlechte Meinung von ihm bekommt. Er liebt sie nämlich." „Nein!" stieß Wassili hervor. „Doch, er hofft darauf, daß ihre Bewunderung für ihn eines Tages in Liebe umschlägt," „Sie scherzen doch!" „Keineswegs. Seine durchaus richtige Devise, daß sich ein Mensch immer wieder durch seine Schöpferkraft neu beweisen muß, bekam für ihn durch die erhoffte Verbindung mit Ria solche Impulse, so daß er dadurch seine schöpferischen Potenzen ins Unermeßliche wachsen fühlte, gestand er mir. Rias uneingeschränkte Bewunderung steigerte noch seinen Ehrgeiz." Ras Bera unterbrach sich, um einen Schluck zu trinken. „Jetzt weiß ich auch, w a r u m sich Timmins Verhältnis zu uns seit dieser Zeit 32
verschlechtert hat. Er will Ria imponieren, kapselt sich bewußt von uns ab und umgibt sich mit einem Nimbus der Genialität." „Hat Ria ihm denn Hoffnungen gemacht?" fragte Wassili. „Nach meinem Dafürhalten hat sie n u r das Genie in ihm b e wundert. Sie müßten aber eigentlich am besten wissen, wem ihre Zuneigung gilt", entgegnete Bera und lächelte verstohlen. Um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, sagte Wassili: „Verraten Sie mir doch einmal, w a r u m sich das Kollektiv nicht schon längst geschlossen gegen Timmiri gewandt hat." „Das ist nicht mit einem Wort abgetan", antwortete Bera. „Die Ideen des Professors schufen scheinbar unlösbare Probleme. Kaum ein Wissenschaftler kam damit zurecht. Es war uns u n verständlich, daß in der heutigen Zeit ein Mann im Alleingang überhaupt zu solchen Denkprozessen fähig war. Wenn die Wissenschaftler mit einigen dieser Probleme dennoch fertig wurden, standen sie mit ihren Erfolgen im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Der Professor verzichtete jedesmal auf seinen Anteil. Diese Erfolgserlebnisse besänftigten die Wissenschaftler wieder. Das führte dann dazu, daß jede Kritik im Ansatz erstarb." Bera schwieg eine Weile, um einzuschenken. „Waren seine Ideen anfangs noch einigermaßen umsetzbar", nahm Ras Bera das Gespräch wieder auf, „so wurde es von Mal zu Mal schwieriger. Niemand mehr konnte seinen Höhenflügen folgen, und das schuf eine Barriere zwischen ihm und dem Kollektiv." Wassili mußte an Rias Meinung von einer baldigen Umstellung des Menschen auf eine autotrophe Lebensweise denken. Das hörte sich wirklich ganz nach Timmins Höhenflügen an. „Also doch ein Genie, das ad absurdum führt, daß nur die Gemeinschaftsarbeit Großes vollbringen kann", sagte Wassili. „Ich möchte n u r wissen, woher dieser Mann sein Wissen hat. Vielleicht besitzt er sogar einen besonderen Computer, der ihm solche Kombinationen gestattet", erwiderte Bera und zuckte die Schultern. Wassili w u r d e nachdenklich. Sollte hier die Antwort liegen? „Sagen Sie, was tat Timmin eigentlich vor seiner eigenartigen Wandlung?" fragte er. 33
„Wo beginnen? Er ist seit langem ein anerkannter Spezialist. Seine erste große Leistung war, daß er gemeinsam mit dem Kollektiv die hydroponischen Gärten weiterentwickelte und sie durch technische Vervollkommnung so rentabel gestaltete, daß sie ohne jede Schwierigkeit überall angelegt werden konnten. Dann kam das Super-Barten-U-Boot, die unterseeischen Mähmaschinen, die Entwicklung der Meeresbiotronkolonien", zählte Bera weiter auf, „der Bau neuer Tauchstationen, ach, ich könnte noch vieles mehr erwähnen." „Wann begann Professor Timmin sich zu verändern?" Bera dachte nach. „Etwa vor einem Jahr." „Und wie äußerte sich das?" „Der Professor kapselte sich immer mehr ab. Projekte konnten nicht verwirklicht werden. So zum- Beispiel die Kernsonne, die zwischen Kap Hatteras und Neufundland versenkt werden und die die kalte Meeresströmung entlang der Ostküste Nordamerikas erwärmen sollte. Daraus w u r d e nichts. Und in jüngster Zeit traten Schwierigkeiten bei der Herstellung von künstlichen Kiemen für die Menschen auf. Und der Magmagraph konnte auch noch nicht fertiggestellt werden." „Und das Meeresbergwerk ,Gigant'?" „Das ist eine Aufgabe, die sich das Kollektiv selbst gestellt hat. Professor Timmin hat nur Hinweise für die Ausstattung gegeben. Nach wie vor bin ich der Meinung, daß er das Meeresbergwerk überbelastet." Wassili grübelte. Er hatte sich Stunden vorher die ihm vom Radiodrom zur Verfügung gestellte, der Öffentlichkeit noch unbekannte neueste Entschlüsselung der Mara-Ceti-Sendung angehört. Ihm fiel ein, daß auch dort etwas von künstlichen Kiemen und einem Magmaspürgerät e r w ä h n t worden war. Ebenfalls von autotroph lebenden Maranern war die Rede. Wassili sprang plötzlich auf; denn ihm war da eine Gedankenverbindung gekommen. „Ich sehe, daß sich auf Ihrem Schrank Konstruktionsunterlagen und Berechnungen befinden. Haben Sie auch etwas über Kiemen und den Magmagraphen zur Hand?" „Wir verfügen fast alle über das Material der in Arbeit b e findlichen Projekte", antwortete Bera verwundert.
Erwartungsvoll sah ihn Wassili an, als er mit mehreren Skizzen und Berechnungsbogen an den Tisch trat. Vorsichtig breitete er sie aus. Wassili starrte auf das Papier. Es bestand kein Zweifel, die Unterlagen stimmten mit den Angaben der Maraner überein. Als Wassili sein Hotelzimmer' in Tampa betrat, war es leer. Auch in dieser Nacht sollte er vergeblich auf Olaf Nielsen warten. Zu dieser Zeit wühlten schwere Tauchersohlen im Schlamm des Tangdschungels, der sich auf einem Unterwasserplateau ausgebreitet hatte. Zwei Männer bewegten sich in ihren Skaphandern langsam vorwärts. Ihr kleines U-Boot hatten sie in einem Felsspalt verankert. Der Kegel ihrer Stirnscheinwerfer durchdrang kaum das Tangdickicht. Sie mußten häufig den Sichtschirm am Ortungsgerät bedienen. Krabben, Seesterne und anderes Getier krochen erschreckt nach allen Seiten davon. Im Gewirr dicker Stengel und fleischiger Blätter bahnten sich die Taucher mit ihren Ultraschallpistolen den Weg. „Kommen Sie langsam nach, wir müssen noch tiefer hinunter!" erklang Nielsens Stimme in den Helmhörmuscheln Tom Parkers. Er bediente seinen Tiefenregler, drosselte die Geschwindigkeit und folgte. Langsam glitten sie an der steil abfallenden Basaltwand hinab. Nielsen hatte Parker gebeten, ihn auf einer Unterwassertour zu begleiten, um seine Unschuld zu beweisen. Parker traute Nielsen nicht, obwohl ihm Wassili von den Beobachtungen in der Tampa-Bucht berichtet hatte. Nielsen hatte den Sicherheitsbeauftragten auf eine Überraschung vorbereitet. „Dort ist der Felsen", hörte er den Reporter sagen. „Vorsicht!" Unerwartet schlängelten sich ihnen die Tentakel eines großen Kopf füßlers entgegen, denen sie im letzten Moment gerade noch ausweichen konnten. Nielsen leuchtete auf seine elektronische Armbanduhr, die ohne bewegliche Teile funktionierte. Sie besaß nur eine elektronische Schaltung und einen elektronischen Schwingungserzeuger an Stelle der Unruhe.
Plötzlich wurde es finster um Nielsen. Er vernahm ein u n heimliches Knirschen an seinem Helm. Dann fühlte er sich von einer Kraft in die Tiefe gerissen. Als er seine Pistole bedienen wollte, w u r d e er fortgeschleudert und prallte an den Felsen. Im Licht seines Scheinwerfers sah er gerade noch den silberweiß schimmernden Bauch eines riesigen Fisches. Ein etwa drei Meter langer Barrakuda hatte mit seinem breiten, hechtähnlichen Maul den Taucherhelm Nielsens zu knacken versucht. Vorsichtiger geworden, schob der Reporter sein Ortungsgerät vor sich her. Am Boden befand sich eine Sichtscheibe, auf der sich alle Gegenstände vor ihm abbildeten. Ohne weiteren Zwischenfall gelangten die Taucher vor den Eingang einer Grotte, die etwa fünfzehn Meter unter dem Meeresspiegel lag. „Hier, meinen Sie?" Parker sah sich um. „Ja, an dieser Stelle war es. Genau hier hatte ich Ria Salvatore beobachtet." Wieder blickte Nielsen auf die Uhr. „Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit." Ria schwamm zum Treff mit dem Delphin Radmar. Auf ihrem Rücken trug sie ein rucksackähnliches Gebilde über der Aqualunge. Heute war sie besonders froh. Sie dachte an Wassili, an ihre fast täglichen Begegnungen. Zum erstenmal liebte sie wirklich und spürte auch Gegenliebe. Dennoch bedrückte sie, daß etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stand. Schon mehrmals wollte sie sich ihm anvertrauen, doch dann verschob sie es immer wieder. Sie wollte noch so lange damit warten, bis P r o fessor Timmin den unbekannten Taucher, dem er auf der Spur war, entlarvt hatte. Heute verging der jungen Frau die Zeit schneller als sonst. Da war sie schon an der verschlammten Austernbank. Mühelos schlüpfte sie in einen kleinen Kuppeldachbau hinein, der früher als Unterkunft für Schwammfischer gedient hatte. Der Gasdruck der Kuppel entsprach dem Druck im Meer und hielt dadurch das Wasser fern. Spezialfolien ließen Sauerstoff hinein. Ria nahm den Schnorchel aus dem Mund und machte es sich 36
bequem. Die Ruhepause tat ihr gut. Dann glitt sie wieder lautlos ins Meer zurück. Sie war dicht vorm Ziel, da erschrak sie. Auf ihrem Sichtschirm zeichnete sich eine Gestalt ab. Der unbekannte Taucher! schoß es ihr durch den Kopf. Er kam direkt auf sie zu. Näher und immer näher. Zögernd griff sie an ihren Bleigurt und löste die Ultraschallpistole von der Halterung. Fast wäre ihr dabei die Pistole.entglitten. Nur nicht nervös werden, versuchte sie, sich zu beruhigen. Er soll es nicht wagen näher zu kommen, dachte sie. Der Fremde schwamm einige Male im Kreis um sie herum und verweilte dann auf einer Stelle. Ria beschloß, ihren lästigen Begleiter abzuschütteln. Schnell warf sie sich herum, folgte einigen schlanken Makrelen bis zu einer steil aufragenden Klippe und verschwand in einer Spalte. Von hier aus konnte sie den Fremden gut beobachten. Er unternahm jedoch nichts, sondern verharrte weiterhin auf seinem Platz. Als sich nach geraumer Zeit immer noch nichts geändert hatte, schaute Ria unruhig auf die Uhr. Jetzt war auch schon die verabredete Zeit herangerückt. Vorsichtig, die Pistole im Anschlag, kam sie wieder hervor. Schließlich gab sie die vereinbarten Impulse ab. Blitzschnell schoß ein fast drei Meter langer Delphin aus der Finsternis auf sie zu. Es war Radmar. Sie faßte ins Maul des Zahnwals und entnahm ihm einen Mikrofilm. So, wie er gekommen war, verschwand er wieder im Meeresdunkel. Ria Salvatore hatte sich kaum umgewandt, als der Unbekannte auch schon auf sie zuschwamm. Zu allem entschlossen, griff sie zur Pistole und gab mit niedriger Frequenz ein besonderes Signal ab. Dann machte sie sich eilig davon. Der Delphin, für den das Signal bestimmt war, schoß auf den Fremden zu. Er fuhr ihm zwischen die Beine und begann, ihn an die Oberfläche zu heben, ganz so, als wollte er einem erkrankten Artgenossen beim Luftschöpfen helfen. Doch plötzlich hielt das Tier inne. Ohne Zweifel mußte ihn eine ganz bestimmte Verhaltensweise des Menschen dazu bewogen haben. Ein Zeichen, daß sich beide sehr gut kannten. Dann schwammen sie gemeinsam davon. „Das kann kein anderer als Professor Timmin gewesen sein", sagte Parker. „Es ist bekannt, daß seine Assistentin und er ihrem Unterwasserhobby mit einem dressierten Delphin nachgehen. 37
Einiges bleibt dennoch unverständlich." Parker w u r d e nachdenklich. Dann schwammen er und Nielsen zu ihrem Boot in der Grotte und folgten Ria Salvatore unauffällig. In der Nähe des Kuppeldachbaus warteten sie, bis die Taucherin wieder erschien und weiterschwamm. Auf ihrem Rücken hatte sie einen Rucksack. Durch eine besondere Vorrichtung saugte er Wasser in sich hinein und stieß es anschließend wieder durch ein enges Trichterrohr mit großer Kraft aus. Ria erreichte mit diesem Antrieb eine sehr hohe Geschwindigkeit. Schnell vergrößerte sich der Abstand zwischen ihr und ihren Beobachtern. Ein Hydrophonist w ü r d e bei dem Geräusch an einen Kalmar denken, ging es dem Sicherheitsbeauftragten durch den Kopf. Wenn mehrere mit solchen Geräten ausgestattet waren und gemeinsam schwammen, dann . . . Parker fiel es wie Schuppen von den Augen. Hier also lag die Ursache für die unerklärlichen G e räusche im Golf. Vor der Hydrophonensperre der „Ozeana", die die Schwimmerin ohne weiteres passierte, wandten sich die beiden Männer wieder dem Hafen von Tampa zu. Hier angekommen, informierte Parker Wassili und auch den Chefhydrophonisten Arsa Grug über die Störquelle im Meer'. Im Hydroponik-Gemüsetreibhaus wurden Wurzeln mit genau dosierter Lösung bespült. Durch präparierte Folien trafen ultraviolette Strahlen auf die Pflanzen. Einige gelbfleckige Blätter neuentwickelter, hitzebeständiger Nutzpflanzen, frisch aus einem defekten Spezialtreibhaus zugesetzt, würden sich in kürzester Zeit erholen. Inmitten dieser Pflanzen stand Wassili. Er weilte schon den ganzen Tag auf der Insel und hatte die Erlaubnis, sich u m z u sehen. Seit einer Stunde gewitterte es. Am Himmel zuckten grelle Blitze. Schemenhaft beleuchteten sie für Bruchteile von Sekunden die Fassade des Wohngebäudekomplexes. Am Hafen wurden die Umrisse einiger am Kai festgemachter Unterseefrachter sichtbar. Der Himmel öffnete seine Schleusen, und es goß in Strömen. 38
Wassili hatte sich hier mit Ria verabredet. Sie wurde für ihn immer rätselhafter. Parker hatte ihm von ihrem geheimnisvollen Treff mit dem Delphin am Felsen berichtet und ihm seine Vermutung über den Taucher mitgeteilt. Eins konnten sich die Sicherheitsbeauftragten nicht erklären: Was veranlaßte Ria und den Professor, sich wie Fremde zueinander zu verhalten? Sie nahmen an, Timmin hätte gemerkt, daß Ria verfolgt w ü r d e und wollte sie warnen. Er wagte sich aber nicht näher heran, als er merkte, daß Ria ihn weder erkannt noch verstanden hatte. Nun wollte Wassili Ria auf den Zahn fühlen. „Ich überbringe dir eine Einladung vom Professor für die Probefahrt des ,Gigant', die morgen stattfinden soll", sagte sie, als sie ankam, und sah ihn dabei lächelnd an. Er fühlte sein Herz höher schlagen, Seine Zuneigung w u r d e n u r dadurch überschattet, daß sie nichts von dem Problem preisgab, das sie mit sich herumtrug. . Auch an diesem Abend hellte sich das Dunkel um sie noch nicht, auf. Am nächsten Morgen weilten Ria und Wassili unter den zahlreichen Gästen, die sich zur Probefahrt des „Gigant" am Hafen von Tampa eingefunden hatten. Wassili blickte sich suchend u m , „Vermissen Sie jemand?" fragte ihn Arsa Grug. „Erraten, den Professor. Nimmt er nicht an der Probefahrt teil?" „Professor Timmin ist schon die ganze Nacht an Bord." „Die ganze Nacht?" „Ja. Sicherlich hat er noch einmal seinen Magmagraphen überprüft." Sie wurden von Ras Bera unterbrochen, der die Anwesenden aufforderte, an Bord zu gehen. Sie betraten einen Gang, der die Arbeitsräume und die Mannschaftskabinen miteinander verband. Auf einmal stand der Professor vor ihnen. Er schien müde und bedrückt zu sein. Sein Blick r u h t e nachdenklich auf Ria und Wassili. Er begrüßte die Gäste und erklärte ihnen die Funktion des Meeresbergwerks. „Das zu Knollen niedergeschlagene Manganerz wird durch 39
ein entsprechendes Fördersystem, das sich zwischen den beiden Rümpfen unseres katamaranartigen Schiffes befindet, abgebaut." Bera ergänzte: „Bisher bildeten sich die Konkretionen schneller, als sie abgebaut werden konnten. Es bedarf natürlich einer Vielzahl von Bergwerken, um wirtschaftlich zu sein. Es müßten jährlich etwa eine Million dieser erzhaltigen Manganknollen gefördert werden, wenn der Abbau rentabel sein soll." „Und hier", nahm Professor Timmin erneut das Wort auf und deutete auf einige Geräte, „befinden sich die Neutronenstrahler, die die verschiedenen Metalle unter dem Meeresboden erforschen. Durch Strahlenbaken markieren wir das jeweilige Revier. Fördergeräte können dann später den Abbau vornehmen." Professor Timmin merkte, daß Wassili ein Gerät besonders aufmerksam betrachtete, den Magmagraphen. Zweifelsohne gleicht er in allem den Angaben der Maraner, dachte Wassili. „Eine Neuentwicklung", gab der Professor zu verstehen. „Er stellt vulkanische Herde fest und wird uns Erze gewinnen helfen." „Hast du gewußt, daß er dieses Gerät entwickelt?" fragte Wassili Ria leise. „Natürlich", erwiderte Ria, „das war uns allen bekannt." „Wozu liefert er seine Projekte eigentlich immer auf Mikrofilmen? Wie gelangen sie eigentlich von seinem Hydrohaus auf die ,Ozeana'? Er selbst ist doch selten auf der Insel." Sie sah ihn fragend an. „Ich meine, daß du, als seine Assistentin, doch die Projekte zuerst in die Hände bekommen müßtest." „Ich komme ihm sozusagen auf halbem Wege entgegen." Sein verständnisloses Gesicht ließ sie hell auflachen. E r schrocken nahm sie die Hand vor den Mund und sagte leise: „Der Professor befürchtet, daß ihm die Projektemacher seine Erfindungen entwenden könnten. Er hat mir geschildert, wie raffiniert sie bereits vorgegangen sind, ohne daß er auch n u r jemanden zu Gesicht bekommen hat. Bei seinem Genie w u n d e r t es mich nicht, daß sie ausgerechnet auf ihn verfallen sind. Darum ist ihm der Gedanke gekommen, Mikrofilme herzustellen
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und sie u n t e r Wasser auf die Insel bringen zu lassen. Der Delphin Radmar hilft mir gewissermaßen dabei, indem er mir vom Hydrohaus des Professors entgegenkommt. Wir treffen uns immer an verschiedenen Stellen, zuletzt mehrmals an der Felsenterrasse. F ü r mich hat das Ganze einen gewissen sportlichen Reiz. Doch eines Tages versuchte man, mir die Mikrofilme a b zunehmen. Irgendwie mußten diese Leute hinter unsere Methode gekommen sein." Nun, nachdem sie mit Wassili darüber gesprochen hatte, fühlte sich Ria wohler. „Ich versteh' dich nicht. Wie konntest du nur so lange schweigen! Das hättest du doch melden müssen", erwiderte Wassili. „Das konnte ich eben nicht. Professor Timmin vermutet n ä m lich, daß der Fremde zu unserem Kollektiv gehört. Deshalb auch sein eigentümliches Verhalten. Ich glaube, er schämt, sich für unser Kollektiv und möchte nichts nach außen dringen lassen." „Hat er denn schon einen Verdacht?" „Ja, aber darüber hat er mit mir nicht gesprochen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, selbst derjenige zu sein, der mit Beweisen vor die Öffentlichkeit tritt. Schließlich hat er das Kollektiv erzogen und will n u n auch persönlich — wenn es sein m u ß — dessen Schwächen aufdecken." „Was sind das bloß für Ansichten." Sie w u r d e unruhig. „Ich habe mir manchmal-ja schon selbst gesagt, daß es falsch ist, was er macht. Aber ich vertraue ihm." Sie erwähnte nicht, daß der Professor jedesmal genauestens darüber informiert war, wann der Fremde auftauchte. Von Ria befragt, hatte er immer geantwortet, er hätte sie vor dem Unbekannten schützen und ihm den Weg abschneiden wollen. Das alles war Ria nicht ganz geheuer. Sie wollte aber noch nicht von ihren Beobachtungen sprechen. Die beiden hatten gar nicht bemerkt, daß sie zurückgeblieben waren. Schnell schlössen sie sich wieder den Zuhörenden an. Professor Timmin war gerade dabei, den Gästen ein Gerät zu erklären, das mit Hilfe von Düsen Geruchstoffe ausstreute, um Wanderfische an Fangplätze zu führen. Bera warf Wassili einen Blick zu, der zu sagen schien: Wieder so eine Einrichtung, die auf dem „Gigant" nichts zu suchen hat.
Der Professor lud seine Gäste zum Mitteldeck ein, während sich die Besatzung an die Arbeit begab. „Neulich, auf der F a h r t nach Sarasota, machtest du Andeutungen über einen neuartigen Fortbewegungsantrieb", w a n d t e sich Wassili wieder an Ria. „Hat denn der Professor so etwas entwickelt?" Sie sah ihn bittend an. „Weißt du, Wassili, ich liebe dich. Ich will dir meine Liebe auch durch Vertrauen beweisen. Nur eines m u ß t du mir gestatten, daß ich das Vertrauen, das der Professor in mich gesetzt hat, auch rechtfertige. Deshalb versteh mich bitte, w e n n ich jetzt darüber schweige. Es wird der Zeitpunkt kommen, wo sich alles aufklären wird." „Hoffentlich begehst du keinen Fehler, w e n n du dem Professor blindlings vertraust und ihn vorbehaltlos respektierst", erwiderte Wassili. Sie kletterten die Stufen zum Mitteldeck empor und standen vor einer komplizierten technischen Anlage. „Was Sie hier sehen, ist für die Bergung der im Wasser gelösten Stoffe bestimmt", erläuterte Professor Timmin. „Durch die Bromanlage fließen pro Sekunde acht Kubikmeter Meereswasser, und dabei wird das entsprechende Spurenelement ausgefällt. Bei dieser Leistung erhalten wir täglich etwa dreißig Tonnen dieses gelösten Stoffes. Mit unseren Anlagen können wir natürlich nicht die fünfzig im Meer befindlichen Elemente auf einmal gewinnen. Wir sind aber schon dadurch einen Schritt weitergekommen, daß wir die Mikrobiologie, Chelatbildungsstoffe und entsprechende Technologien kombiniert einsetzen. So können wir Jod, Molybdän, Nickel, Silber, Gold, Kobalt, Eisen, Konzentrationen von Phosphoriten, Brom, Kalium und andere im Meer gelöste Stoffe bergen." Ras Bera bemerkte an dem Gesichtsausdruck der Journalisten, daß offensichtlich manches unverständlich blieb. „Chelatbildungsstoffe", nahm er deshalb das Wort, „sind organische Produkte, die sich mit Ionen von Metallen verbinden, um komplexe Moleküle zu bilden. Uns kam es darauf an, daß diese zumeist schwarze und gekörnte Substanz noch schneller ,arbeitet', damit wir Uran, Kupfer und anderes mehr in größeren Mengen aus dem Wasser saugen können." An
„Außerdem setzen wir", fuhr der Professor fort, „bestimmte Bakterienarten an, um Titan, Zink, Uran und Molybdän zu gewinnen. Die von uns gezüchteten Bakterienstämme lassen durch ihre Verhaltensweise auf das Vorhandensein der unterschiedlichsten Lagerstätten schließen. Unsere Spürbakterien weisen uns den Weg. — Wir wollen es dabei bewenden lassen. Ich wünsche uns allen eine erfolgreiche Probefahrt", beendete der Professor seine Ausführungen. Stunden waren vergangen. Längst war der „Gigant" getaucht und hatte seine Arbeit aufgenommen. Mit einer Geschwindigkeit von vier Knoten schwebte er dicht über dem Meeresboden. Bisher lief alles wie am Schnürchen. Die Ultrarotlichtwandler erhellten die Meeresnacht, die den „Gigant" rings umgab. Wassili und Ras Bera wurden auf eine starke Strömung in der Nähe der Felsenterrasse, die sie soeben erreichten, aufmerksam. „Was ist das, ein Sog?" fragte Wassili plötzlich. „Es sieht fast so aus, als würde starker Wind das Wasser bewegen." „Wind? Dann aber kein natürlicher. Der Wind kann höchstens noch in einer Tiefe von neunzig Metern wirksam werden. Allerdings können senkrechte Wasserzirkulationen auftreten, die sogar noch in einer Tiefe von zehn Kilometern Sauerstoff t r a n s portieren können", bemerkte Bera. „Sind hier so starke Zirkulationen bekannt?" Bera schüttelte den Kopf. „Das Zusammentreffen von w a r m e r und kalter Oberflächenströmung ist doch wohl auch so gut wie ausgeschlossen", sagte Wassili. „Vielleicht wirkt dieser Felsen wie ein kleiner Staudamm, der den Verlauf einer untermeerischen Strömung hemmt, die sich derart bemerkbar macht." Professor Timmin trat zu ihnen. Auf die starke Strömung aufmerksam gemacht, antwortete er n u r : „Wenn wir um den Felsen herumgefahren sind, werden Sie es sehen." Er bat sie in die Indikator-Hydrophonkabine. „Hören Sie?" fragte plötzlich Ras Bera Wassili. „Vernehmen Sie auch den leisen Pfeif ton?" Wassili bestätigte es.
Als Professor Timmin ihre fragenden Gesichter sah, erläuterte er: „Das sind Ultraschallimpulse. Sie sind lediglich ein Ortungssignal für meinen Delphin. Nun werden Sie gleich merken, was den Sog verursacht." Das Meeresbergwerk war noch nicht ganz um den Felsen geschwommen, als sie ein lautes Dröhnen vernahmen. Da schoß plötzlich vor ihnen ein dicker Wasserstrahl in die Tiefe. Sie sahen ein seesternförmiges Hydrohaus. Aus seiner Mitte schoß der Strahl direkt nach unten. Das Haus schwamm weiter und stieg immer höher, dabei zog es ein kugelähnliches Gebilde hinter sich her. Schmunzelnd betrachtete der Professor die staunenden Gesichter. „Ich habe mir mein Hydrohaus so eingerichtet, daß ich meinen Standort wechseln kann. Sicherlich auf etwas originelle Weise, aber so kann ich wenigstens in Ruhe arbeiten; werde nicht von Meeresbauern und Mähmaschinen gestört." Wassili spürte, daß den Professor ein Geheimnis umgab. Dieser Mann wußte mehr, als er Ria anvertraut hatte. Er mußte unbedingt das Geheimnis lüften, damit er seinen Auftrag ganz erfüllen konnte. Die Ursache der Geräusche war ja n u n den Sicherheitsbeauftragten bekannt. Doch von den Projektemachern fehlte noch jede Spur. Wassili hatte das unbestimmte Gefühl, daß Professor Timmin irgendwie darin verwickelt war. Nach allem, was er von Parker und Nielsen gehört hatte, wurde er in seinem Gefühl nur bestätigt. Timmins Hydrohaus war schon nicht mehr zu sehen. Der Professor hatte es vom „Gigant" aus ferngelenkt und in Richtung „Ozeana" gesteuert. Inzwischen hatten sie den offenen Golf erreicht. Da rief jemand aufgeregt: „Herr Professor, der Magmagraph!" Timmin stürzte davon. Das Gerät zeigte an, daß der „Gigant" über einer Stelle lag, unter der das Magma aktiv war. „Stoppen Sie!" befahl der Professor dem Kapitän. „Geben Sie dem Sicherheitsbeauftragten Parker durch, daß wir eine künstliche Eruption durchzuführen beabsichtigen und um Genehmigung bitten", wandte er sich an Ras Bera. „Sagen Sie ihm, daß nach Angaben des Magmagraphen in spätestens fünf J a h r e n mit einer natürlichen Eruption zu rechnen ist. Halt, noch etwas! Sie 44
können Tom Parker beruhigen. Der Magmagraph zeigt an, daß der Silikatschmelzfluß im Erdinnern nicht sehr erheblich ist und wir keine besonderen Sicherungsmaßnahmen treffen müssen." Ras Bera, der schon unterwegs war, rief er noch hinterher: „Falls die Genehmigung erteilt wird, geben Sie mir bitte sofort Bescheid." Es dauerte nicht lange, und Bera kam mit der Genehmigung zurück. „Und Sie sagen mir, ich hätte den ,Gigant' zu universell ausgerüstet", wandte sich Professor Timmin lachend an ihn; er freute sich auf das bevorstehende Ereignis. „Wo ist Ria Salvatore?" rief der Professor. „Sie soll bei mir sein, w e n n wir die erste von Menschenhand ausgelöste Eruption erleben." Er war völlig verändert. Die Müdigkeit war aus seinen Zügen gewichen. Seine Augen blitzten. Es war eine halbe Stunde vergangen, da drückte Professor Timmin auf den Auslöseknopf. Im gleichen Moment wühlten sich die Bohrraketen kilometertief in den Meeresboden und zogen Sprengladungen mit sich hinunter. „Los, alle Kraft voraus!" Mit großer Geschwindigkeit entfernte sich der „Gigant" von dem Eruptionszentrum. Erst als alles abgesichert war, wurden die Sprengladungen gezündet. Der Meeresboden öffnete sich, und der Vulkan schleuderte seine glühenden Lavamassen empor. Das Grollen war zu hören. Gesteinsbrocken würden ins schäumende Meer geschleudert. Das Wasser trübte sich. Bimsstein und Asche stiegen an die Meeresoberfläche. Das Grollen verstärkte sich. Fast gleichzeitig mit der enormen Explosion lohten in fernen Tiefen des Meeres purpurrote und gelbe Flammen, eingehüllt in violette Dampfwolken. Gebannt starrten die Männer und Ria auf dieses Schauspiel. „Das hört ja gar nicht wieder auf", sagte Ras Bera nach einer Weile. Er blickte zum Professor. Der war vornübergesunken und drohte zusammenzubrechen. Ria sprang als erste hinzu. Behutsam setzten sie ihn in einen Sessel. 45
„Schnell, ein Getränk!" Ria setzte Timmin das Glas an die Lippen. Seine Hände zitterten. Mit Entsetzen starrte er auf die nicht enden wollende Eruption. „Sie haben doch heute nacht das Gerät noch einmal ü b e r prüft", sagte Bera und sah ihn forschend an. „Ja, natürlich", stammelte Timmin. Es gab keinen Zweifel, der Magmagraph hatte falsche Werte angezeigt. „Die Abteilung Rechnerische Geophysik des Instituts für Erdphysik hat es ebenfalls begutachtet", setzte er hinzu. „Und es gab keine Beanstandungen?" „Ich . . . habe sie behoben." „Und die Vulkanologen, was sagten die dazu?" „Hören Sie mal, ich bin Ihnen in keiner W e i s e ' . . . " Ein ohrenbetäubendes Grollen unterbrach den Professor. Aus dem E r u p tionszentrum wurden riesige Lavamassen ausgestoßen. Angesichts dieser Naturgewalt, die der Professor erweckt hatte, gestand er: „Die Vulkanologen bezweifelten, daß der Magmagraph stichhaltige Angaben über Oberflächen- oder Tiefeneruptionen und deren Stärke machen könnte." „Und da wagen Sie es, solche Experimente zu starten? Sie hätten ja Menschenleben in Gefahr bringen können!" Wassili w a r empört. Ria wurde aschfahl im Gesicht. Sie war erschüttert, denn in ihr brach eine Welt zusammen. Nie hätte sie geglaubt, daß ein Mann wie der Professor so verantwortungslos handeln könnte. Wassili beobachtete, wie der Professor Ria flehentliche Blicke zuwarf. „Ich habe es doch n u r . . . " , stotterte er. Seine Stimme erstarb. „Sagen Sie es doch, für wen Sie es taten", rief Ras Bera dazwischen. „Sie wollten sich bei Ria ins rechte Licht setzen. Warum gestanden Sie Ria I h r e Liebe nie? Ich will es Ihnen sagen. Weil Ihre Eitelkeit es nicht zuließ, weil Sie das Genie sein wollten, das in Ria blinde Bewunderung hervorrief, weil es Sie tief gekränkt hätte, wenn Sie nicht auf Gegenliebe gestoßen wären. Darum. Alles n u r aus persönlichem Ehrgeiz." 46
Das Getöse draußen ließ etwas nach. Timmin schlurfte wie ein gebrochener Mann aus dem Raum. Betroffen starrte Ria ihm nach. Wie konnte sie ihm n u r so blindlings vertrauen? Ist er vielleicht ein Maraner? dachte sie. Sollten die recht behalten, die behaupteten, daß die Maraner vor ihrer Landung auf der Erde bereits einige vorausgeschickt hätten, um sich mit den Verhältnissen vertraut zu machen? Ria schleppte sich in ihre Kabine und warf sich auf die Couch. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Ihr Körper bebte vor Schluchzen. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatte und einschlief. Plötzlich stand ein Wesen vor ihr. „Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?" fragte Ria den riesenhaften Mann mit dem großen Kopf. Der Hüne beugte sich über sie. „Verhalten Sie sich ruhig, ganz ruhig!" Angst drückte Ria die Kehle zu. „Beruhigen Sie sich doch. Ich komme nicht näher!" Der Mann öffnete nicht den Mund und sprach doch mit ihr. Entsetzt starrte sie ihn an. Ein unbeschreiblicher Druck drohte ihr die Schläfen zu sprengen. Von außen zwangen sich Gedanken in ihr Hirn. Halluzinationen ? „Mein Telepathiegraph überträgt Ihnen meine Gedanken!" Vergeblich versuchte sie den unheimlichen Einfluß zu verdrängen. „Konzentrieren Sie sich! Sie brauchen keine Befürchtungen zu haben, ich bin nur telebioenergetisch bei Ihnen. Sie haben eine ungewöhnliche Kontaktempfänglichkeit. Lassen Sie sich durch nichts ablenken, sonst nimmt das Angstgefühl wieder zu. Konzentrieren Sie sich!" wiederholte der Unbekannte und blies dabei in ein kleines Instrument, mit dem er hohe, vibrierende Töne erzeugte. Ria fühlte sich plötzlich in eine andere Welt versetzt. Wieder war die Stimme in ihr. „Sie befinden sich auf dem Mara Ceti, meinem Planeten. Wir leben schon lange in höherer Phase der gesellschaftlichen Entwicklung als Sie auf der Erde. Vor kurzem ist jedoch großes Leid
über uns gekommen. Eine Naturkatastrophe riesigen Ausmaßes hat unseren Planeten heimgesucht." Ria schwebte in einem raketenähnlichen Hohlkörper über eine ihr fremde Welt. Verflogen war auf einmal jedes Angstgefühl. Überall am Himmel zogen riesige violette Photonenprojektile ihre Kreise, in denen die Maraner wie in Städten wohnten. Hohlkörper, die für einen Umzug von einem Planeten zu einem anderen wie geschaffen waren. „In ihnen sind jeweils etwa dreißigtausend Maraner untergebracht. Eine ganze Stadt, die mit einer Geschwindigkeit von zweihunderttausend Kilometern pro Sekunde fliegen kann", hörte sie wieder den Mann, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Unsere irdischen Ionenraketen fliegen nur einhundert Kilometer pro Sekunde", stellte sie fest. Ehe sie sich's versah, befand sie sich auf dem einzigen Festlandkontinent des Planeten. Eingebettet in orangefarbenen Pflanzenwäldern lag eine Stadt. Rundbauten mit Hängedächern. Von einem Motor getrieben, drehten sich die lichtdurchlässigen Häuser in wenigen Stunden um ihre eigene Achse. So konnte das Sonnenlicht noch besser überall verteilt werden. „Die Räume sind stützenfrei, und die Belüftung und Klimatisierung sind noch weiter entwickelt als bei Ihnen", hörte sie die Stimme des Fremden. Im nächsten Augenblick fuhr Ria, ohne daß sie sich darüber wunderte, in einem Mehrzweckboot übers Meer. „Die zylindrischen Unterwassersiedlungen stehen auf flachen Meeresfelsböden. Jede dieser Siedlungen hat einen Durchmesser von etwa zwanzig Kilometern und nimmt rund viertausend Maraner auf. Sehen Sie dort, was da aus dem Wasser aufragt? Das ist der Hafen einer dieser Siedlungen." „Welchen Sinn haben die ovalen Scheiben, die die Hafeneinfahrt markieren?" fragte sie. „Das sind Wellenturbinen, die durch die Meereswellen in Drehbewegungen versetzt werden. Sie wandeln die mechanische Kraft der Brandung in Energie um. In der Regel gewinnen wir aber den elektrischen Strom für diese Siedlungen, für unsere schwimmenden Städte, für das Festland und für Photonenrake48
• ten durch chemische Batterien, auf kaltem Wege, ohne die Erzeugung von unnötiger Wärme. Wir beherrschen das sogenannte oxydierende Luziferin, das wir den illuminierenden Meeresorganismen abgeguckt haben." Mehr als zwanzig Meter lange aalähnliche Fische, schwarz mit braunen Streifen auf der Haut, hoben ihren breiten Schlangenkopf und starrten Ria aus mattgrünen Augen mit den vertikalen Pupillen furchterregend an. Die geöffneten Rachen zeigten zwei Reihen sehr kleiner Zähne. „Seeschlangen!" flüsterte Ria entsetzt. „Fürchten Sie sich nicht, Sie sind völlig harmlos. Übrigens gibt es auch bei Ihnen auf der Erde heute noch derartige Tiere. Die zur Ordnung der Apoda gehörenden Synbranchiden entdeckte seinerzeit der Franzose Le Serrec am Großen Barrierer Riff vor der australischen Küste. Anscheinend leben sie bei Ihnen aber nur noch in wenigen Exemplaren." Ria beruhigte sich erst wieder, als sich die Fische zurückgezogen hatten. An einer flacheren Stelle gewahrte sie am Meeresboden einige schleusendeckelähnliche Gebilde. „Unser Mara Ceti hatte seit jeher mehr Wasser als Festland. Zuviel Wasser sogar. Deshalb drückten Aggregate ganze Meere u n t e r die Oberfläche des Planeten, wo sie in einem untermaranischen Bewässerungssystem aufgespeichert wurden. Ein Teil floß seinerzeit durch ein verästeltes Röhrensystem, von wo es entsalzt die Wurzeln von Pflanzen bespülte. Jetzt ist alles eine Wasserwüste, wie Sie sehen. Seit dem furchtbaren Naturereignis sind die gewaltigen untermaranischen Wasseradern, auf denen sich in der Hauptsache unser Güterverkehr abspielte, und unser gesamtes verzweigtes Röhrensystem bis obenhin vollgepumpt. Wir können der Wassermassen, die unseren Planeten bedecken, nicht mehr Herr werden." • Für einen Moment schwieg die Stimme in^Ria, dann sagte sie: „Wir kommen zu Ihnen und freuen uns darauf. Wir wissen, daß sich die Irdischen schon Gedanken gemacht haben, wo wir uns ansiedeln können. Die noch vorhandenen sieben Millionen Quadratkilometer unkultivierten Landes, das sich vom Atlantischen Ozean bis zum Roten Meer erstreckt, reichen für uns völlig aus. 49
Den wüstenbildenden Kräften, dem Wind und den stark schwankenden Temperaturen werden wir den Kampf ansagen. Zum Ozean unter der Sahara werden wir tiefe Schächte treiben. Außerdem werden wir die Gedanken der Menschen aufgreifen und den Kongo aufstauen, um den verdunsteten Tschadsee wieder aufzufüllen. Das Wasser wird nicht wieder in den Atlantik, sondern ins Mittelmeer abfließen. Die Kattarasenke in der Libyschen Wüste wird aufgefüllt werden, und das Meer wird das Klima zu unseren Gunsten verändern. Eines Tages werden wir Ihren Planeten wieder verlassen, und dann bleibt Ihnen die Besiedlung dieses Gebiets vorbehalten. Sie sehen, wir haben alles bedacht. Die drei Kilogramm, die wir auf der Erde schwerer sein werden als auf unserem Planeten, bilden keinen Hinderungsg'rund." Der Maraner lächelte. Plötzlich fiel sein Gesicht in sich zusammen. Tiefe Falten bildeten sich auf der Haut. „Professor Timmin!" schrie Ria entsetzt auf. Mühsam öffnete sie die Augen. Verwundert blickte sie um sich. Helles Tageslicht flutete in ihre Kabine. Sie lag angekleidet auf der Couch. Nur langsam kam sie wieder zu sich. „Was hattest du nur, Ria?" Wassili strich ihr sanft über die Stirn. „Oh, Wassili, ich hatte einen schrecklichen Traum." Sie erzählte ihm das eben Geträumte. Wassili hörte aufmerksam zu. Dann lächelte er. „Du hast im Traum Verschiedenes durcheinandergebracht, die Übersetzungen der Mara-Ceti-Sendungen, die Gerüchte über die Ursache der Geräusche und das Erlebnis mit Professor Timmin." „Wo ist Professor Timmin? Und der V u l k a n . . . ? " fragte sie auf einmal hellwach. „Der Vulkan hat sich beruhigt, wir sind auf der Rückreise nach Tampa, und Professor Timmin hat sich noch nicht blicken lassen. Wahrscheinlich hat er einen Schock bekommen." „Einen Schock? Doch nicht etwa meinetwegen?" „Auch deinetwegen", sagte er. „Aber das kann nicht die Hauptursache sein. Etwas anderes ist es, das ihn zermürbt", meinte er nachdenklich. 50
„Und was ist es? So sag es doch!" bat sie. Er schüttelte den Kopf. „Ich bin mir noch nicht sicher, du könntest mir aber behilflich sein. Würdest du mir einige Fragen beantworten?" „Bitte, frag nur", sagte sie und erhob sich. „Wie ich erfahren habe, besitzt du einen neuen Fortbewegungsantrieb." Sie sah ihn verdutzt an. „Von wem weißt du das?" „Man hat dich damit gesehen." Sie erschrak. „Ich habe ihn von Professor Timmin. Er besitzt auch noch einen." „Du warst doch häufig mit deinem Vorgesetzten im Meer, hattet ihr da die Geräte ausprobiert?" Sie schüttelte den Kopf. „Nicht an den Tauchnachmittagen. Nur wenn ich unbemerkt und schnell seine Mikrofilme in E m p fang nehmen und auf die ,Ozeana' bringen sollte." „Eure Kalmarantriebe bewirkten die eigenartigen Geräusche." „Was?" „Es gibt Beweise dafür. Ich muß dich aber bitten, darüber noch zu schweigen." „Ich kann es nicht glauben. Als ich den Professor einmal danach fragte, verneinte er es." „Nun müssen wir nur noch den Projektemachern auf die Spur kommen. — Wurden auf der Insel nur einige Projekte des P r o fessors oder alle ausgewertet?" „Soweit ich weiß, alle." „Und es wunderte sich niemand über die Mikrofilme?" „Man betrachtete das Ganze als eine Marotte des Professors. Unruhig w u r d e ich nur, als mir ein Unbekannter die Filme entwenden wollte." „Dir wird doch nicht entgangen sein, daß das ganze Manöver des Unbekannten völlig sinnlos war. Alle Mikrofilme wurden ausgewertet u n d waren jedem auf der Insel zugänglich." „Das sagte ich mir auch. Deshalb gab es für mich nur zwei Möglichkeiten. Entweder war der Unbekannte einer von den Projektemachern, der die Ideen des Professors stehlen wollte, oder aber jemand, der Unruhe verbreiten wollte. Vielleicht Ras 51
Bera, was weiß ich. — Du fragst mich, als hätte das Verhalten des Professors mit alledem etwas zu tun", sagte sie. „Warum auch nicht?" antwortete er ernst. Wassilis Verdacht verstärkte sich, daß Professor Timmin dieses Spiel vielleicht selbst inszeniert hatte, um Ras Bera zu belasten. „Ich kann dich nicht verstehen", murmelte Ria. Dann besann sie sich auf ihren Traum und fragte: „Wäre es möglich, daß Professor Timmin ein Maraner ist und etwas mit den Vorgängen im Golf zu tun h a t ? " „Ein Maraner kann nicht unbemerkt auf der Erde gelandet sein. Aber ich teile Ras Beras Meinung, daß Professor Timmin n u r ein Ziel gehabt hat, nämlich das, dich auf seine Art zu gewinnen. Ob er nun direkt mit den Projektemachern im Meer in Verbindung zu bringen ist, wird sich noch herausstellen." Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte sie: „Du fragst u n d fragst, als ob du Parker wärst." Er sah sie an, nahm ihre Hand und sagte zögernd: „Vertrauen gegen Vertrauen. Ich bin Mitarbeiter des Weltsicherheitskomitees." „Dann hast du mich n u r deshalb . . . " Ihre Stimme erstarb. Wassili trat dicht an sie heran. „Ich liebe dich, Ria, verstehst du, ich liebe dich wirklich." Er beugte sich zu ihr hinab, n a h m sie auf den Arm und trug sie zur Couch. Sie lag regungslos und fühlte sich unendlich müde. Sie sah ihn forschend an. Ihr blasses Gesicht rötete sich. Er hielt ihrem Blick stand und lächelte. „Du hast es mir nicht einfach gemacht mit deinem Verhalten", flüsterte er und streichelte sie. Ria schlang die Arme um ihn und zog ihn zu sich herab. Im Schiffbaukollektiv war Ras Bera gerade dabei, die Probefahrt des „Gigant" auszuwerten. Sie hatten auch Professor Timmin dazu eingeladen, der aber noch nicht erschienen war. So hatten sie schon mit der Versammlung begonnen. Die Beobachtungswerte wurden verlesen. Ras Bera stellte fest, daß außer einigen kleinen Mängeln alles wie vorgesehen verlaufen war. Obwohl die Wissenschaftler Grund genug gehabt hätten, sich darüber zu freuen, lag ein Schatten auf den Gesichtern der 52
Anwesenden. Ein Mitglied des Kollektivs, das sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet hatte, stand auf und sagte: „Ich will keineswegs die Erfolge schmälern, aber wir alle tragen Schuld daran, daß der Professor ungehindert das Meeresbergwerk überbelasten konnte. Wir sollten endlich den Mut aufbringen, ihm die Meinung zu sagen, und Abhilfe schaffen." Der Ingenieur setzte sich wieder. Im Kulturraum war zustimmendes Gemurmel zu vernehmen. „Wir, haben für vieles Verständnis", sagte ein anderer. „Das darf aber nicht so weit gehen, daß ein ganzes Kollektiv zu den Allüren eines einzelnen schweigt." „So können wir nicht weiterarbeiten", warf ein dritter ein. Alle hatten das Gefühl, daß man hier schon längst hätte Klarheit schaffen sollen. „Wo bleibt denn der Professor?" fragte jemand ungehalten. Ras Bera kam nicht mehr zum Videofon, um den Professor herzubitten. Er stand bereits in der Tür, völlig verändert, mitleiderregend. „Entschuldigen Sie bitte", sagte er mit kaum vernehmbarer Stimme, „daß ich mich verspätet habe, aber ich fühlte mich nicht wohl. Ich möchte mich bei Ihnen für Ihre hervorragende Arbeit am ,Gigant' bedanken. Sie haben eine Leistung vollbracht, die man nicht hoch genug einschätzen kann." Kein Laut war zu hören. „Außerdem möchte ich mich mit Ihnen aussprechen", kam es ' leise von seinen Lippen. Ras Bera wies stumm auf einen Sessel. Der Professor setzte sich. „Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, was mein wissenschaftliches Fiasko für mich bedeutet und welche Konsequenzen ich daraus ziehen werde." Alle sahen ihn erstaunt an. Solche Worte aus seinem Mund kannte bisher niemand. „Sie haben mir heute bereits einiges gesagt", wandte er sich erregt an Ras Bera. „Aber es gibt leider noch mehr, dem ich ins Auge sehen muß", setzte er bedrückt hinzu. „Ich habe Sie im Namen des Kollektivs mehrmals davor ge53
warnt, das Meeresbergwerk zu überladen. Aber Sie haben nicht auf uns gehört. Nun haben Sie das Resultat", stellte der Vorsitzende des Schiffbaukollektivs noch einmal fest. „Gewiß, Sie haben völlig recht." Professor Timmin zwang sich zur Ruhe. Alle blickten ihn fragend an. Sein Selbstbewußtsein war auf das tiefste erschüttert. „Ich habe versagt, verstehen Sie? Elendiglich versagt!" Sie horchten auf. Das klang ehrlich. „Ja, es stimmt", fuhr er fort, „ich bin ein vom persönlichen Ehrgeiz besessener Wissenschaftler. Nichts ist mir zuviel; w e n n ich mich n u r bestätigt sehe." Das letzte murmelte er vor sich hin. Erregt fuhr er sich mit der linken Hand über die Stirn. „Und nun muß ich erkennen, daß ich dem Kollektiv und mir etwas vorgemacht habe. In Wirklichkeit bin ich nicht mehr als jeder andere." Er schwieg. Seine Augenlider flatterten. „Ich m u ß eingestehen", fuhr er nach kurzer Überlegung fort, „daß ich in letzter Zeit oft zu Unrecht an Ihrer Arbeit 'rumgenörgelt habe. Woran das lag, werde ich Ihnen bald gestehen können." Seine Worte kamen immer erregter. „Schon morgen mache ich mit alledem reinen Tisch, das verspreche ich Ihnen. Es hat lange gedauert, aber jetzt erst bin ich mir der ganzen Tragweite meines Verhaltens bewußt geworden." Er schwieg erschöpft. „So?" meinte Bera. „Ich denke, wir hätten es doch wohl verdient, daß man uns jetzt reinen Wein einschenkt und nicht noch einen Tag damit wartet." Ras Bera sah ihn herausfordernd an. Ein Ingenieur, der in der ersten Reihe saß, beugte sich vor und sagte: „Woher hatten Sie die Projekte, die Sie uns niemals erläuterten, wenn wir'sie von Ihnen zur Bearbeitung bekamen und nichts damit anzufangen w u ß t e n ? " „Ich kann Ihnen vorerst n u r so viel sagen, daß ich selbst nicht wußte, wie man weiterkommen sollte." „Was", rief einer empört dazwischen, „und dann maßten Sie sich an, uns Unvermögen vorzuwerfen? Das Kollektiv war also gut genug, den Karren aus dem Dreck zu ziehen!" Professor Timmin nickte zerstreut. „Ja, ich muß es zugeben, so war es. Wenn ich nicht weiterwußte, dachte ich, das Kollektiv 54
wird es schon schaffen. Und einiges gelang ihm ja auch, was ich allein niemals vollbracht hätte." „Sie sagten, Sie wären ehrgeizig und besessen. Die Gründe dafür nannte ich Ihnen heute bereits", antwortete Ras Bera aufgebracht. „Aber immer noch verschweigen Sie uns, woher Sie die Grundlagen für Ihre Projekte nahmen." Aus dem a n fänglichen Gemurmel schwoll n u n empörtes Stimmengewirr an. „Sicherlich hat er uns verschwiegen, daß er Projekte der U n bekannten für sich genutzt hat, um sich einen Namen damit zu machen", rief jemand dazwischen. „Unser ganzes Kollektiv hat er zum Narren gehalten", sagte ein anderer. Ras Bera hatte Mühe, seine Mitarbeiter zu beruhigen. Aufgestautes brach sich Bahn. Der Professor hatte sich mit bleichem Gesicht erhoben. Gepreßt brachte er hervor: „Schon morgen werden Sie alles erfahren, so glauben Sie mir doch." „Ihre Antwort genügt uns aber nicht." Timmin schluckte. „Ich wollte Ihnen meinen Dank sagen und gleichzeitig die Versicherung abgeben", beteuerte er, „daß ich mein bisheriges Verhalten dem Kollektiv gegenüber korrigieren werde. Außerdem wollte ich mich dafür entschuldigen, daß ich Sie alle durch das mißlungene Experiment gefährdet habe." „Und weiter nichts?" fragte Bera scharf. Der Professor sah sich im Kreis der Versammelten um, als suche er nach einem Halt. „Ich kann Ihnen nur versichern", erwiderte er, „daß ich Ihnen alles erzählen werde, sobald ich den Sicherheitsbeauftragten informiert habe; denn das Problem sprengt den Rahmen unserer kleinen Gemeinschaft. Aus diesem Grunde bitte ich um Verständnis dafür, daß ich nun noch darüber schweige. Ich sehe ein, daß ich keine Zeit mehr verlieren darf." „Haben Sie denn n u n Projekte der Unbekannten für sich genutzt oder nicht?" fragte ein Mitarbeiter. „Der Unbekannten? Ja und nein", sagte Professor Timmin nur. Hell schien die Sonne am darauffolgenden Tag. Das grelle Glitzern des Golfs stach in die Augen. Träge leckten die Wellen am 55
Küstensaum der Bucht von Tampa. Sie hinterließen schaumige Kronen, wenn sie wieder vom Ufer zurückflössen. Der aufkommende Wind zerzauste das Haar der beiden Menschen, die blinzelnd auf die weite Wasserfläche blickten. In der Ferne erhob sich plötzlich eine riesige Fontäne, die immer näher kam. Wassili riß Ria unsanft zu Boden. „Sie schießen mit der Wasserkanone auf ein kugeliges Etwas", sagte Ria. „Der Strahl peitscht gegen ein Boot, das sich uns mit großer Geschwindigkeit nähert", erwiderte Wassili. „Ein Boot? Das kugelige Ding dort?" Ria spähte ungläubig aufs Meer. „Wahrscheinlich befindet sich das Boot unangemeldet in der Sperrzone", antwortete Wassili. „Sie drängen es ab und ausgerechnet zu uns herüber. Grugs Mitarbeiter werden doch nicht auch uns für fremde Eindringlinge halten?" Sie lachte. „Das ist gar nicht so abwegig, zumal Grug sich n u r noch von Maranern umgeben sieht, mit, dem Professor an der Spitze. Hat Timmin sich schon bei Parker gemeldet? Er hat es doch dem Kollektiv versprochen." „Heute nachmittag geht er zu ihm. Ich wollte dich dahin mitnehmen .. ." Plötzlich verstummte er. Das Boot war, nicht weit von ihnen entfernt, auf den Strand aufgelaufen und dort mit laufenden Motoren liegengeblieben. Sie warteten, daß jemand herauskäme. Nichts geschah. Vorsichtig pirschten sie sich heran. „Das ist doch das Kugelboot, das ich bei Timmins Hydrohaus gesehen habe", rief Wassili erstaunt aus. Sie betrachteten den Schwimmkörper von allen Seiten. Schließlich kletterten sie die eingelassenen Stufen hinauf. Sie blickten durch die gewölbte Sichtscheibe. Kein Mensch war zu sehen, keinerlei Mobiliar konnte man erkennen. Lediglich an der Wand befanden sich Fugen und Schubfacheinbauten hinter starken durchsichtigen Plastschiebetüren. Hier verbarg sich anscheinend auch das G e heimnis des Schiffes, dessen Fernlenkung versagt haben mußte. „Ob sich das Boot öffnen läßt?" fragte Ria. Wassili versuchte, das Schiebedach zu öffnen. Endlich gelang es ihm. Sie stiegen hinab. 56
„Die Plastschiebetüren lassen sich nicht bewegen", stellte er nach einigen vergeblichen Versuchen fest. Ein pfeifendes G e räusch zog sie ans Schaltpult. Wassili probierte einige Knöpfe aus. Nichts r ü h r t e sich. Dann drückte er auf einen regenbogenfarbenen Knopf, der sich auffällig von den anderen abhob. Plötzlich blinkten Lichter auf. Das Geräusch, das sie angelockt hatte, war nicht mehr zu hören. „Da! Die Türen haben sich zurückgeschoben", sagte er und zerrte an den Schubfächern. Eins ließ sich öffnen. j,Sieh mal einer an!" rief er aus, „Projektionsapparat, Tonträger, Filme und Bänder." Während Wassili einen Film in den Apparat legte, bediente Ria den Tonträger. Eine nie gehörte Sprache drang an ihre Ohren. Nasale Laute. „Das sind ja ähnliche Bilder, wie sie Parker damals vorgeführt hat", stellte Wassili staunend fest. Betroffen sahen sich die beiden an. „Das Schiff scheint ein ganzes Archiv von Bildern des Mara Ceti aufzubewahren", vermutete er. Plötzlich errötete Ria. Ihr kam da ein Gedanke. „Du", stieß sie hervor, „das wird das radarresistente Boot sein, das die Werft in Tampa erst vor kurzem nach den Plänen der Projektemacher gebaut hat." Wassili sah sie fragend an. Sie fügte hinzu: „Ich erinnere mich jetzt, es sollte Hydroforschern als Wissensquelle unmittelbar an der Forschungsstätte dienen. Doch ehe es überhaupt noch in Betrieb genommen w e r den konnte, hatte es sich infolge eines Tornados losgerissen und blieb verschollen", fügte sie hinzu. „So", sagte er bloß und schwieg. „Wozu benötigt Professor Timmin bloß ein solches Boot?" fragte sie. „Das müßte doch herauszubekommen sein." Wieder rüttelte Wassili vergeblich an den anderen Fächern und versuchte, sie aufzuziehen. Er bediente eine Taste, die er bisher übersehen hatte, und hoffte auf einen Erfolg. Das Gegenteil war der Fall. Die Plastschiebetüren rasteten wieder ge57
räuschlos ein. Im gleichen Augenblick glitt das Boot wie auf einem Luftpolster über den Strand und ins Meer hinein. Ein Gurgeln ertönte. Das Tageslicht verschwand und w u r d e automatisch durch künstliches ersetzt. Das Boot fuhr unter der Meeresoberfläche dahin. „Jetzt heißt es nur, auf den richtigen Knopf drücken", sagte Wassili beruhigend zu Ria. Fieberhaft probierte er alle Varianten auf dem Schaltpult durch. Anscheinend klappte die Fernlenkung jetzt wieder und hatte alles andere außer Betrieb gesetzt. Nach einiger Zeit verspürten die beiden Atemnot. Sie schwiegen, um den vorhandenen Sauerstoff nicht unnötig zu verbrauchen. Die Zeit verging. Plötzlich verspürten Ria und Wassili einen kräftigen Ruck. Auf dem Bildschirm erblickten sie das Hydrohaus des Professors. Das Bild erlosch wieder. Da öffnete sich das Schiebedach des Bootes. Luft! Sie atmeten tief und erhoben sich. Schritte waren zu hören. Sie kamen immer näher. Die beiden versteckten sich an der schattigen Seite des Bootes und sahen den Professor kommen, der, ohne nach rechts oder nach links zu sehen, ans Schaltpult trat und den regenbogenfarbenen Knopf und einen anderen betätigte. Es öffneten sich die Schiebetüren, und sämtliche Fächer sprangen auf. Als die beiden sahen, daß der Professor so in seine Arbeit vertieft war, schlichen sie sich aus dem Boot. Die Ausstiegsluke führte in das Hydrohaus des Professors. Von hier aus konnten sie ihn gut beobachten. Plötzlich war der Raum im Kugelboot in grelles Licht getaucht. Professor Timmin e n t n a h m einem Fach einen Film, den er entrollte und gegen das Licht hielt. Seine Hände zitterten. Der Film schimmerte wie eine silbrige Folie. Er w a r aus einem Material, das Ria und Wassili noch nie gesehen hatten. Der P r o fessor spannte den Film in ein herausklappbares Gerüst. Eine Kamera surrte. Es dauerte nur Minuten. Als Timmin alles wieder verschlossen und das Licht gelöscht hatte, kam er nach oben. Ria und Wassili konnten sich gerade noch verstecken. „Was hat er eigentlich mit dem Film gemacht?" fragte Ria. 58
„Kopiert", antwortete Wassili. „Jetzt haben wir den Beweis, daß er maranisches Gedankengut verwendet hat", ergänzte er leise. „Es ist mir ein Rätsel, wie er an solches Material herangekommen sein soll! Warum hat er es im Boot? Sein Haus ist doch viel sicherer." „Sag das nicht. Er schirmt sich vor unverhofften Besuchern nicht n u r durch seine Ortungsanlage ab, sondern auch durch einen Knopfdruck, der das Boot mit dem verdächtigen Material vorerst verschwinden läßt." „Willst du ihn gleich zur Rede stellen?" Wassili überlegte. „Wenn wir keinen anderen Ausweg finden, bleibt mir keine andere Wahl, obwohl ich noch die gemeinsame Aussprache bei Parker abwarten wollte und eine wichtige Nachricht von Olaf Nielsen erwarte." Bevor sie noch Näheres fragen konnte, hörten sie den Professor kommen. Er ergriff seinen Skaphander, zog ihn sorgfältig über und vergaß auch nicht seinen Kalmarantrieb umzuschnallen. Bevor er in die Schleuse ging, n a h m er bereits das Schnorchelstück zwischen die Zähne und ließ sich ins Wasser gleiten. „Was n u n ? " fragte Ria ratlos. „Wir fahren mit dem Hydrohaus am besten in den Hafen der ,Ozeana'. Da haben wir das Beweismaterial an Ort und Stelle." Ria, die sich im Hydrohaus auskannte, ging ans Steuerpult. Nach dem Essen schlenderte Parker am Hafen entlang. Der Unterseefrachter „Poseidon" löschte gerade seine Ladung. Irgend etwas schien jedoch nicht zu stimmen. Menschen rannten durcheinander, gestikulierten und riefen sich etwas zu. Er erfuhr, daß ein Schreitcomputer an der Förderanlage aus unerklärlichen Gründen das ihm eingegebene Programm verändert hatte. Er zertrat die mit köstlichen Zutaten und Tunken konservierten Fisch- und Tanggemüsegerichte, anstatt ihren Transport auf dem Band zu überwachen. Der Inhalt wurde aus den P a c kungen gepreßt und klebte unter den Schuhsohlen derjenigen, die bemüht waren, den Computer abzustellen. Beherzte Männer griffen zu, als er ins Wasser zu fallen drohte. Aber sie konnten
> es nicht mehr verhindern. Der Computer riß sie mit sich in die Tiefe. Zwei von ihnen konnten sofort geborgen werden, der dritte erst etwas später. Der Computer hatte ihn schwer verletzt. In fliegender Eile war man dabei, dem bewußtlosen Mann die Kleidung abzustreifen und ein Gerät zur Wiederbelebung an Mund und Brustkorb anzubringen und in Tätigkeit zu setzen. Parker trat näher und erschrak. „Olaf Nielsen!" rief er entsetzt und sah sich nach dem Schiffsarzt Dr. Strate um, der soeben herbeieilte. Allmählich setzte eine regelmäßige Atmung ein, nachdem ein Magnetband besonders starke Empfindungen eines gesunden Spenders auf eine Apparatur übertrug, die seine Bioströme auf die Trägerfrequenz des Verunglückten modulierte. Doch die Atmung hielt nicht an. „Die Herztöne werden immer leiser. Nun setzen sie aus! — Schnell, die Trage!" rief der Arzt besorgt. Behutsam w u r d e der inzwischen klinisch Tote auf die Trage gelegt und mit Folien bedeckt. Energiequellen begannen zu arbeiten. Langsam u n t e r kühlte sich der Körper bis auf zwölf Grad Celsius. „Durch die Anwendung der tiefen Hypothermie können wir den klinischen Tod bis auf zwei Stunden ausdehnen und dem biologischen Tod entgegenwirken", sagte Doktor Strate leise zu Parker, den er von früher kannte. „Sofort zur Behandlung!" befahl er dann. „Ich begleite Sie", sagte Parker entschlossen. In schnellem Tempo jagten sie im Auto davon. Nielsen kam ins Wiederbelebungshaus. Auf der Rückfahrt zum Hafen fragte Parker den Arzt: „Also Nielsen wollte mitgenommen werden?" „Wie ich Ihnen bereits sagte", erwiderte der Doktor. „Er hatte irgendeinen Defekt an seiner Taucherausrüstung, und da wir dicht an den Ten Thousand Inseln vorbeifuhren, bemerkten wir sein Winken, setzten ein Boot aus und holten ihn an Bord." „Hatte er irgend etwas gesagt, was er dort auf den Ten Thousand Inseln gemacht h a t t e ? " P a r k e r sah den Arzt gespannt an. „Er hatte nach dem Meteoriten gesucht, der vor einem J a h r dort niedergegangen war." an.
„Und hat er ihn gefunden?" Der Doktor zuckte die Schultern. „Er übergab uns ein Päckchen. Wie es schien, war er sehr darum besorgt. Wir sollten es aufheben, bis er seine übrigen Sachen geholt hätte. Er war einer von denen, die sofort hinzusprangen, als der Computer versagte", lobte ihn der Arzt. „Ist er nach der Ankunft nicht gleich von Bord gegangen?" Dr. Strate schüttelte den Kopf. „Nein, er bemühte sich, eine Verbindung mit einem gewissen Franzusow zu bekommen. Dann gab er es auf und wollte an Land gehen; da passierte das am Kai." „Ich kenne Franzusow und weiß, daß dieses Päckchen für ihn bestimmt gewesen ist. Ich werde es dem Empfänger überbringen." Dr. Strate ließ es von Bord holen und händigte es dem Sicherheitsbeauftragten aus. • Im Auditorium auf der „Ozeana" war eine aufgeregte Menge versammelt. Die Aufregung galt diesmal einem erfreulichen Anlaß. Einem Kollektiv, bestehend aus vier Biologen, war es gelungen, künstliche Kiemen zu entwickeln. „Hier sind sie! Erprobt und für brauchbar befunden." Eine junge, grazile Biologin schwenkte stolz eine Anzahl fingergroßer Folien durch die Luft. „Künstliche Kiemen!" Sie lachte. „Wasserdicht und doch Sauerstoff durchlässig. Der Homo-Aquitanus ist geboren!" rief sie jauchzend aus. Die Wissenschaftler gratulierten den Biologen zu dieser Leistung und stellten anschließend Fragen. „Wir haben eine Spezialfolie entwickelt", erläuterte die Biologin eifrig, „mit der sich das Prinzip der Fischkiemen nachahmen läßt. Die Folie ist hauchdünn und enthält, gespeist durch die Halsschlagader, Blut. Das Wasser strömt daran vorbei. Es wird ständig mit dem Mund aufgenommen und hinter den Kiemendeckeln wieder hervorgepreßt. Durch die Berührung der Kiemenblättchen mit dem Wasser, w i r d , ein genügender Bestandteil der in ihm gelösten Luft vom Blut aufgenommen. Von
den Kiemen aus fließt das Blut in alle Teile des Körpers. Während dort Sauerstoff verbraucht wird, entsteht Kohlendioxyd, das die Kiemen ans Wasser abgeben." Sie w a r so begeistert, daß sie gar nicht auf die wichtigsten Fragen, auf die komplizierten dieses Problems, einging. Plötzlich drang Stimmengewirr vom Hydroponikpark herüber, das erst den einen, dann den anderen unruhig werden ließ, bis ein Raunen aufstieg. Alle drehten die Köpfe und lauschten. Als die Wissenschaftler keine Fragen mehr hatten, hielten sie es auf ihren Plätzen nicht länger aus. Alles strömte in den Park. James Timmin hetzte durch die Straßen von Tampa. Er wußte, daß die Stunde der Wahrheit kurz bevorstand. Wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, in Kürze sein Schuldbekenntnis a b legen zu müssen. Nichts, aber auch' gar nichts war mehr rückgängig zu machen. Zerfahren nestelte er an seinem Jackett und hätte beinahe einen Fußgänger mit dem Ellbogen gestoßen. Wie stolz war ich einmal auf meine geistigen Fähigkeiten, dachte Professor Timmin. Ich fühlte mich wohl in meinem Kollektiv, weil wir uns gegenseitig zu immer höheren Zielen anspornten. Doch dann w u r d e alles anders, denn meine Kräfte ließen langsam nach. Da k a m mir der Zufall zur Hilfe, u n d ich war rehabilitiert. Ja, wenn die außerirdische Rakete nicht bei den Ten Thousand Inseln niedergegangen wäre, müßte ich heute nicht zu Tom Parker gehen. Was h a t t e ich mir bloß dabei gedacht, als ich alle Spuren beseitigte? Die Untersuchungskommission stellte einen Einschlag fest, der von einem Meteoriten stammen könnte. Als m a n weiter nichts entdeckte als einen beschädigten Felsen, gab man sich mit der Erklärung zufrieden. — War es Egoismus, als ich den wertvollen Inhalt der Rakete barg und ihn nicht veröffentlichte? Professor Timmin gab sich keine Antwort. Ein Strom von Passanten k a m ihm entgegen. Inzwischen gelangte er an eine Kreuzung; n u n war es nicht mehr weit bis zum Gebäude des Sicherheitsrates. Um sich auf das Gespräch innerlich vorzubereiten, hatte er den Fußweg gewählt. Da drängten sich ihm auch schon wieder die Gedanken auf. 62
Oder war es Feigheit? Ja, ich war feige und suchte nach einem Ausweg. Ich wollte dadurch mein Ansehen retten. Ich durfte aber nicht zu viele „eigene Erfindungen" dem fremden Material entnehmen. Deshalb kam mir die Idee mit den Projektemachern. Vieles überstieg mein Können. Nur im Kollektiv war es möglich, die Projekte zu verwirklichen. Also schickte ich sie an andere Institute. Oder w a r es Angst, die mich zwang, die maranischen Erkenntnisse den anderen Wissenschaftlern zu übergeben? Ja, ich glaube etwas Angst war auch dabei. Die Nachricht, daß ein Notruf in der Rakete gewesen sein soll, jagte mir einen großen Schreck ein. Gewissensbisse wurden wach. Mittlerweile war er an der Kakaoplantage mit den rötlichen, geruchlosen Blüten angelangt und starrte beklommen zur Hausfront hinauf, hinter der sich das Büro des Sicherheitsbeauftragten befand. „Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir gleich Besuch bekommen", wandte sich der Sicherheitsbeauftragte Tom Parker, der am Fenster seines Büros stand und den Professor beobachtete, an Ria und Wassili, die ihm von ihrem letzten Erlebnis auf dem Kugelboot berichtet hatten. Er deutete nach draußen. Ria und Wassili sahen, wie der P r o fessor mit unsicheren Schritten aufs Haus zuging. „Er hält also doch sein Versprechen", sagte Wassili. „Höchste Zeit", murmelte Parker und ordnete umständlich einige Akten auf seinem Schreibtisch. Professor Timmin wurde gemeldet und trat gleich darauf ein, gebeugt und bleich. Als er Ria und Wassili sah, verharrte er erschrocken. In seinem Gesicht zuckte es. Seine Augen sahen gehetzt von einem zum anderen. Verwirrt trat er einen Schritt zurück, als wollte er wieder k e h r t machen. „Kommen Sie", forderte Parker ihn auf. „Sie werden sich doch nicht umsonst bei mir angemeldet haben. Bitte, nehmen Sie Platz, und lassen Sie sich nicht von meinen Gästen verwirren. Sie kennen sich ja." Der Professor setzte sich n u r zögernd. „Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie uns etwas Erfreuliches mitzuteilen", baute ihm Parker eine Brücke.
„Ich bin der Projektemacher!" stieß der Professor hervor. Er wunderte sich, daß die anderen gar keine erstaunten Gesichter machten. Und dann sprach er. Stockend zuerst, allmählich fließender. Es dauerte lange, bis er mit den Worten endete: „Ich konnte keine Ruhe finden, seitdem ich von den Mara-Ceti-Sendurigen erfahren hatte. Je mehr ich gewahr wurde, daß sie Aufschluß über die Projektemacher gaben, um so schneller trieb es mich, die technischen Informationen an den Mann zu bringen. Ich t r a u t e mich nicht, Farbe zu bekennen; deshalb kam mir die Idee, auf Olaf Nielsen den Verdacht zu lenken. Erst mein m i ß lungenes Unternehmen auf dem ,Gigant' und die kritischen Bemerkungen des Kollektivs brachten mich wieder zur Besinnung. Heute bin ich mir voll und ganz meiner Schuld b e w u ß t . . . " Die Anwesenden schwiegen. Schließlich meinte P a r k e r : „Sie haben uns nicht gesagt, ob eine Botschaft in der Rakete war, woraus zu schließen war, daß außerirdische Wesen in Gefahr waren." „Nein, es war nichts von alledem vorhanden. Ich sagte schon, daß n u r ein Bruchteil der Rakete erhalten war, als ich sie statt des Meteoriten fand. Ich m u ß Ihnen offen sagen, ob Sie es mir jetzt noch glauben oder nicht, andernfalls hätte ich nie so v e r antwortungslos gehandelt." Er faßte plötzlich in seine Jackentasche und legte eine Kapsel auf den Tisch. Wassili sah zu Ria. Sie wußte sofort, was er meinte. Professor Timmin sagte: „Es ist eine Inhaltsangabe. Wie gesagt, es steht weit mehr drin, als ich vorgefunden habe. Von einem Notruf oder einer Botschaft ist nichts verzeichnet. Sie können sich davon überzeugen. Aus der Reihenfolge der von mir mühevoll entschlüsselten Angaben ist zu entnehmen, daß alles fehlt, was sich im hinteren Teil der Rakete befunden hat. Wie ich vermute, müssen Splitter der erhitzten Projektilwand ins Innere gedrungen sein und dabei das Material unbrauchbar gemacht haben." Parker fragte: „Ist Ihnen beiden denn gar nicht aufgefallen, daß gerade immer dann, wenn der Treff mit ,Radmar' stattfand, dieses Geräusch im Meer auftrat?" „Mir schon", entgegnete Ria, „ich sprach deshalb auch mit / 64
dem Professor. Doch er versicherte mir, daß unsere Antriebe auf gar keinen Fall diese Störungen hervorrufen könnten." „Das stimmt", erklärte Professor Timmin, „aber wenn ich es jetzt so recht bedenke, dann ist es mir anscheinend doch nicht gelungen, den Defekt an meinem Gerät ganz zu beheben. Das Geräusch muß immer dann sehr stark aufgetreten sein, wenn ich auf der Stelle gestanden und das Trichterrohr nach unten gerichtet habe, um die gleiche Höhe zu halten. Trotzdem ist es mir unverständlich, daß "sich das so ausgewirkt haben soll." „Wir freuen uns, daß Sie von allein zu uns gekommen sind, aber es ist Ihnen doch klar, daß Sie sich für alles zu verantworten haben", sagte Wassili zu ihm. „Für das unbefugte Behalten des Kugelboots, der maranischen Unterlagen und für die I r r e führung der Mitmenschen." Der Professor sah ihn schweigend an. „Wassili Franzusow ist eigens zur Aufklärung dieser Vorfälle vom Weltsicherheitskomitee zu uns gekommen", erklärte Parker. Der Professor saß bedrückt in seinem Sessel und starrte zu Boden. Parker wandte sich nachdenklich an Ria: „Ich begreife einfach nicht, daß Sie niemals Verdacht geschöpft haben." Ria zuckte resignierend die Schultern. Ihr w u r d e immer mehr bewußt, wie vertrauensselig sie gewesen war. Fasziniert von einem vermeintlichen Phänomen, hatte sie alle Aufträge des Professors erfüllt, ohne sich viele Gedanken dabei gemacht zu haben. Jetzt, wo sie die Zusammenhänge kannte, hätte sie vor Scham versinken mögen. „Wer hat Ihnen eigentlich diese Kalmarantriebe gebaut?" ' fragte Parker den Professor und unterbrach Rias Gedanken. „Ich baute sie selbst. Es war das einzige Projekt aus der Rakete, das unschwer mit eigenen Mitteln herzustellen war und nach einem ganz einfachen Prinzip arbeitete", entgegnete P r o fessor Timmin. Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Wassili, an Timmin gewandt: „Sehen Sie mal her, was ich hier habe." Er zeigte ihm ein Foto von einem Felsen mit einer riesigen 65
Abschürfung und legte ihm ein kleines Stück Metall vor. Er wies darauf und meinte: „Es besteht übrigens aus keiner irdischen Legierung." „Dann wußten Sie bereits von der Rakete, bevor ich Ihnen heute alles sagte?" stammelte Professor Timmin tonlos. „Arsa Grug sprach einmal von einem Meteoriten bei den Ten Thousand Inseln. Und weil es sich auch um eine Sternenspur handelte, ging ich ihr, oder besser gesagt, auf meine Bitte Olaf Nielsen, einmal nach", sagte er. „Sie haben damals zwar gründlich aufgeräumt, Herr Professor", setzte er hinzu, „aber das Wasser hat dieses Stückchen Metall aus dem Felsen gespült. Sie sehen, wie brandeilig es war, daß Sie von selbst zu uns gekommen sind. Etwas später und wir wären bei Ihnen gewesen. — Jetzt ist es auch erklärlich, w a r u m so viele Projekte scheitern mußten", fuhr Wassili unbeeindruckt fort. „Die maranischen Unterlagen sollten den Bewohnern des Planeten, den die Rakete erreichte, darüber Aufschluß geben, wie hoch ihr Entwicklungsstand in Wissenschaft und Technik ist. Eine Kopie dessen konnte nicht immer glattlaufen, da man nicht ohne weiteres außerirdische Erkenntnisse auf irdische Verhältnisse übertragen kann." Der Professor mußte Wassili beipflichten. „Daher wußten Sie sich auch keinen anderen Rat, als sich auf Ihr Kollektiv zu besinnen. Und als es versagte, ja, versagen mußte, brüskierten Sie es obendrein und bescheinigten ihm Unfähigkeit. Dadurch hemmten Sie die Arbeit und schufen eine ungesunde Atmosphäre. Und Sie selbst konnten auch nur dort weiterkommen, wo eine Analyse möglich war, und gaben dann die Projekte als Ihre Erfindungen aus. Die Spanne der technischen Angaben reichte von solchen, die an den irdischen Wissensstand anknüpften, bis zu solchen, die darüber hinausgingen und die sich zum Teil noch im Archivboot befinden, das ich mir inzwischen einmal kurz angesehen habe." Timmin fuhr hoch. „Sie kennen das Boot?" Wassili nickte. „Ria und ich waren Zeugen, wie Sie die Kapsel aus dem Kugelboot holten. Wir sind durch Zufall dort hineingeraten." Der Professor sah ihn entgeistert an.
Ria befiel ein großes Mißbehagen. „Ich kann mich einfach nicht von Schuld freisprechen", bekannte sie und zupfte sich nervös am Ohrläppchen. Parker sah sie an: „Wußten Sie schon vorher etwas von der Rakete?" „Nein, das nicht, aber ich hätte doch merken müssen, daß etwas nicht stimmte." Parker knackte vernehmbar mit den Fingergelenken. Dann nickte er sinnend. „An erster Stelle trifft ihn die Schuld." Er deutete mit dem Kopf auf den Professor. „Aber ihn nicht ganz allein. Sie, Ria, das Kollektiv, viele haben zweifelsohne dazu beigetragen, daß es so gekommen ist." „Wir sollten jetzt keine Zeit mehr verlieren und die Angelegenheit im Kollektiv zur Sprache bringen", bemerkte Wassili. „Einverstanden", erklärte Parker. Er wandte sich an den P r o fessor: „Ich möchte noch einmal das bekräftigen, was mein Kollege vorhin schon gesagt hat: Mit Ihrem Geständnis ist diese Sache noch nicht aus der Welt geschafft, auch wenn Sie Ihre falsche Handlungsweise selbst eingesehen und Farbe bekannt haben. Deshalb findet heute abend im Beisein des Chefs des Sicherheitskomitees, der Ihren Fall persönlich übernehmen wird, auf der ,Ozeana' eine Auswertung statt." Der Professor nickte nur stumm. Gemeinsam fuhren sie zur Forschungsinseh Die Biologin kam als letzte in den Hydroponikpark. Noch hatte sie nicht erfahren können, was die Erregung der vielen Menschen bewirkt hatte. Ras Bera und Arsa Grug brachten gerade eine große Kiste herbei. Wassili hatte sie gebeten, den Inhalt des Kugelboots sicherzustellen. Nun wollten sie — bis die Sicherheitsbeauftragten mit Professor Timmin eingetroffen waren — ihren Mitarbeitern gegenüber schon andeuten, woher der Professor sein Wissen genommen hatte. Ras Bera schrie ins immer lauter werdende Stimmengewirr: „Hier sind sie, die schöpferischen Potenzen unseres Professors! Außerirdische, hoch entwickelte Technik hat er als die seine ausgegeben."
Alle drängten nach vorn, um auch alles genau zu sehen. Die Biologin schlüpfte behende durch noch vorhandene Lücken bis nach vorn, direkt zu der Kiste. Nun stand sie davor und konnte ihre Neugierde kaum bezähmen. Vielleicht war doch noch mehr über die künstlichen Kiemen gesagt. Womöglich gab es eine viel bessere Lösung als die ihres Kollektivs. Sie träumte, ließ ihre Gedanken schweifen, bis sie erschrak, als sie plötzlich vor sich hin redete: „Wieso eigentlich nicht?" Verständnislose Blicke richteten sich auf sie. Röte stieg ihr in die Wangen. „Ich meine, wieso sollten wir uns nicht dieses wissenschaftlichen Materials bedienen?" „Selbstverständlich werden wir das, doch nicht so, wie es der Professor getan hat", antwortete Ras Bera. „Über die künstlichen Kiemen werden Sie darin sicherlich nicht mehr finden, als Professor Timmin Ihnen schon zur Verfügung gestellt hat", sagte Grug lächelnd. „Wie hätten Sie sich verhalten, wenn Sie selbst diesen Fund gemacht hätten? Sagen wir, Sie hätten schon jahrelang an dem Vorhaben künstliche Kiemen gearbeitet, ohne nennenswertes Ergebnis. Nun finden Sie in einer Kapsel die Lösung des P r o blems. Was würden Sie t u n ? Ihn stillschweigend für sich und für Ihr Kollektiv auswerten oder ihn weitermelden?" fragte sie Ras Bera. „Natürlich melden, und zwar mit der Bitte, unserem Kollektiv dieses Projekt zu überlassen." „Sehen Sie, so hätte sich Professor Timmin verhalten sollen", antwortete Bera. Die anderen hörten schweigend zu. Bera, der bestimmt angenommen hatte, daß der eine oder der andere sich dazu irgendwie äußern würde, war enttäuscht. Da sagte jemand: „Hier geht es doch nicht schlechthin darum, etwas zu unterlassen oder zu tun. Es geht vielmehr um die Haltung eines Menschen zu seiner Umwelt und die Haltung der Umwelt zu ihm. Das ist eine Frage der menschlichen Reife. Wir kennen zwar noch nicht die Gründe, w a r u m der Professor so handelte, ich meine aber", fuhr der Mann fort, „daß die eigenen Interessen nicht über denen' der Gemeinschaft stehen sollten, gleichviel welche Ursachen auch immer vorliegen. Selbsterzie68
hung und Selbstkontrolle müssen mit der Beeinflussung durch die Gesellschaft eine dialektische Einheit bilden." „Bei uns wurden Prinzipien verletzt, nach denen schon vor Generationen gelebt und gearbeitet worden ist. Es war nicht einfach, solche Prinzipien zum Allgemeingut werden zu lassen, aber unsere Vorfahren haben es geschafft. Beachtliche Forschungsergebnisse konnten n u r in kollektiver Arbeit erreicht werden. Da ist es um so unverständlicher, daß das mit dem P r o fessor passieren konnte", warf ein weiterer Wissenschaftler ein. „Es gibt eben Rückfälle", hörten sie jemanden dazwischenrufen. Ein Mitarbeiter, der neben der Biologin stand, erwiderte: „Soweit konnte es nur kommen, weil das Kollektiv im entscheidenden Moment versagt hat. Uns alle trifft Schuld. Wir haben zu seinen Marotten g e s c h w i e g e n — damals dachten wir, es wären welche — und haben in ihm den Unerreichbaren bewundert. So ist es doch den meisten gegangen, nicht w a h r ? " Er sah sich fragend um. Als er nicht fortfuhr, sagte die junge Wissenschaftlerin neben ihm: „Wir jungen Leute suchen uns unsere Vorbilder. Ich muß es Ihnen offen sagen, auch wenn ich noch nicht lange in Ihrem Kollektiv bin: Mein Vorbild war der Professor. Mich beeindruckte einfach sein ungewöhnliches Wissen, und für mich gab es keinen Zweifel, daß er es besaß. Woher sollte ich auch die Zweifel nehmen? Erst jetzt erfahren wir die wahren Zusammenhänge. Heute", fuhr sie fort, Tränen standen ihr dabei in den Augen, „konnten wir Biologen berichten, daß die künstlichen Kiemen fertiggestellt sind. Wir haben es geschafft. Und nun erfahre ich, daß es nicht Wissen des Professors war, sondern außerirdisches Gedankengut." Sie konnte vor Erregung nicht mehr weitersprechen. Einige reichten ihr Taschentücher. Sie bemerkte nicht, daß sich inzwischen ein enger Kreis um sie gebildet hatte, zu dem sich auch die gerade eingetroffenen Ria, Wassili, Parker und Professor Timmin gesellten. „Ich kann es gar nicht in Worten ausdrücken", fuhr sie leise fort, „wie sehr ich enttäuscht bin." Sie schwieg. Niemand sagte ein Wort. Professor Timmin na
wandte sich ab. Dann ging ein Raunen durch die Menge. Der Kreis öffnete sich für einen Moment, und die vier Hinzugekommenen traten in die Mitte. Wassili ging stumm auf die Biologin zu und umarmte sie impulsiv. Professor Timmin stand n u n direkt vor der Biologin, inmitten seines Kollektivs. Seine Stimme klang belegt, als er die junge Wissenschaftlerin a n blickte und sagte: „Jetzt ist mir erst bewußt geworden, wie groß meine Verfehlungen sind." Seine Stimme erstarb. Um seine Mundwinkel zuckte es. „Wie konnten Sie uns n u r so hintergehen?" Die Frage der Biologin traf ihn wie ein Peitschenhieb. Obwohl er damit gerechnet hatte, daß es Anfragen n u r so hageln würde, bereitete ihm diese Bemerkung aus dem Munde des Mädchens seelischen Schmerz. „Warum?" Er zwang sich zur Ruhe und verdrängte das Gefühl, sich irgendwie trotz allem noch verteidigen zu müssen und sagte: „Ich war krankhaft ehrgeizig. Weil ich spürte, daß meine schöpferischen Potenzen nachließen, weil ich Angst hatte, in den Augen der Menschen dadurch zu verlieren, weil ich eine Frau liebte, der ich gefallen wollte, w e i l . . . " Als der Professor nicht fortfuhr, sagte Grug: „Auch ich habe Ihnen unbegrenztes Vertrauen geschenkt, habe Sie verteidigt, wenn andere gegen Sie auftraten, mit Recht auftraten, wie ich seit einiger Zeit weiß, und ich w a r immer der Meinung, daß Sie ein Genie sind, das uns einen großen Schritt vorwärtsbringen würde." „Nicht nur Kritik, auch Selbstkritik sollten Sie üben", warf Wassili ein. „Wieso?" meinte Grug verwirrt. „Sie sollten vor allem nicht vergessen zu sagen, daß Sie denjenige waren, der allen voran als erster vor dem Professor r e signierte, der völlig unbedenklich Partei für ihn ergriff,. Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, wem Sie eigentlich mit dieser Haltung gedient haben?" „Aber . . . " Grug verschlug es den Atem. „Das können Sie als Journalist doch gar nicht beurteilen", murmelte er. Das war Parkers Stichwort, der Wassilis Inkognito lüftete. 70
Wassili verbiß sich ein Schmunzeln, als er Arsa Grugs erstauntes Gesicht vor sich sah. „Auf die Rolle des Kollektivs kommen wir noch einmal zu sprechen, wenn Pedro Almeida, ' der Vorsitzende des Weltsicherheitskomitees, heute abend aus Moskau eintrifft", sagte er, an Arsa Grug gewandt. Plötzlich bemerkte er, wie Ria neben ihm unruhig wurde. „Uns alle trifft eine gewisse Schuld. Ich zum Beispiel habe zugelassen, daß der Professor sich vom Kollektiv löste", bekannte sie. „Es wird mir, und ich denke uns allen, eine Lehre sein. Das gesellschaftliche Gericht wird diesen Umstand bei der Verurteilung des Professors berücksichtigen müssen." Die Erregung schnürte ihr die Kehle zu. „Dies und die Tatsache", fiel Parker helfend ein, „daß der Professor, wenn auch in letzter Minute, zu einem freiwilligen Geständnis bereit war, werden natürlich berücksichtigt. Aber unverzeihlich, trotz aller Mängel im Kollektiv, war seine persönliche Haltung. Sie ist eines Menschen unserer Zeit unwürdig. Als die Menschheit sich noch nicht von den Fesseln der Ausbeutung befreit hatte, waren egoistische Handlungsmotive in einigen Kreisen gang und gäbe. Heute müssen wir gemeinsam solche Reste alten Denkens bekämpfen." Die Sicherheitsbeauftragten nahmen sich der Kiste an, doch nicht ohne, einen Blick hineingeworfen und den Umstehenden den Inhalt — Mikrofilme, Tonbänder und Apparaturen — b e kanntgegeben zu haben. Mit dem Hinweis, daß das Material dem Untersuchungsausschuß zur Verfügung gestellt werden müßte, gaben sie den Auftakt für den Aufbruch. Professor Timmin schleppte sich wie mit bleiernen Beinen hinter den anderen her, die jetzt ihren Appartements zustrebten. Heute abend w ü r d e er kritischer zu seinem Verhalten Stellung nehmen, schwor er sich. Sonne über Tampa. Sie schien durchs offene Fenster und streichelte das Gesicht des Genesenden. Ria und Wassili saßen am Bett. „Wann fliegst du nach Moskau zurück? fragte Olaf Nielsen. „Morgen", antwortete Wassili. %
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„Und Ria?" „Ich bleibe hier. Einmal habe ich noch etwas Wichtiges zu erledigen, und zum anderen . . . " „Verstehe. Die Enttäuschung über Professor Timmin führt zu ersten Schlußfolgerungen. Erst muß man sich richtig kennenlernen, dann kann man sich entscheiden." „So ist es", sagte Ria lachend, „man macht einen Fehler nicht zweimal." Schelmisch blickte sie Wassili an. „Hoffentlich zieht n u n auch Professor Timmin die richtigen Lehren aus seinem Verhalten", wandte sich Olaf an Wassili. „Ich glaube schon. Die Gerichtsverhandlung machte deutlich, wie sehr er bemüht ist, seine Fehler wieder gutzumachen. Auch das Kollektiv ist im Verlauf dieser Ereignisse weiter gewachsen. Es hat begriffen, daß besonders in unserem Zeitalter, in der Ära der Automatisierung, der Computer und Elektronengehirne das Kollektiv und die menschlichen Beziehungen die wichtigste Rolle spielen. Timmins neue Aufgabe als Assistent in der Zentrale zur Vorbereitung der Landung der Maraner wird ihn in ein festes Kollektiv führen und ihn bestimmt voll ausfüllen", meinte Wassili. „Den Maranern", sagte Nielsen, „werden wir gute Gastgeber sein, wenn sie nach einem Vierteljahrhundert ihren F u ß auf unseren Boden setzen. Wie reich sind wir doch, daß wir alle Voraussetzungen haben, denkende Wesen eines anderen Planeten bei uns aufnehmen zu können." Ria und Wassili nickten glücklich.
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Demnächst erscheint in der Taschenbuchreihe
Leuchtkugeln über dem Niemandsland von Sergej Sarubin
Nachstehend bringen wir eine Leseprobe: Das war Sergej Matyshonoks erster Auftrag. Er erhielt ihn eine Woche nach seiner Ankunft bei den Aufklärern. In dieser Woche h a t t e er viel gesehen und gehört. Im Frühjahr zerschlug das 863. Stoßregiment einige faschistische Einheiten, nachdem es zuvor dem starken Druck des Gegners standgehalten hatte, und kam ein gutes Stück voran. Sergej sah zum erstenmal fremde Friedhöfe auf russischem Boden. Er berührte die Helme auf den Birkenkreuzen, um festzustellen, ob sie von einer Kugel oder einem Splitter durchschlagen, wovon sie geborsten, wovon sie zerbeult oder zusammengequetscht waren. In der Tat, die faschistische Kriegsmaschinerie verlor Bolzen, Schrauben und Räder. Und Sergej gewann Mut, sein Glaube an den Sieg festigte sich. Das Aufklärungskommando des Regiments führte in jenen Frühlingstagen manchen Auftrag durch: Erkundung des gegnerischen Verteidigungssystems, pausenlose Beobachtung des Feindes, bewaffnete Aufklärung. Der erste Zug hatte vor Jefremows Rückkehr eine Schlappe erlitten. Der Führer des Kommandos, Oberleutnant Kondratjew, hatte den Zug an den stillen Abschnitt verlegt und ihm einen wichtigen Auftrag erteilt. Die Gruppe des Sergeanten Nikitin bereitete sich einige Tage lang vor, w u r d e jedoch vom Gegner entdeckt, noch ehe sie ihr Ziel erreicht hatte. Jefremows Stellvertreter, Obersergeant Sawtschenko, setzte den Aufklärer Korenkow auf die Spur der Gruppe, doch auch von ihm w u r d e nichts m e h r gesehen.
An dem Tag, als Jefremow aus dem Lazarett kam, war der Obersergeant gerade auf dem Beobachtungsposten. Er kehrte am späten Abend müde und zerschlagen zurück. Nachdem er seinen Zugführer begrüßt hatte, berichtete er ihm von den u n angenehmen Dingen, die während seiner Abwesenheit geschehen waren. Es war ein langes Gespräch. Am Tag darauf wurde Jefremow zum Stab gerufen. Nach seiner Rückkehr machte er den Zug mit einem neuen und dringenden Auftrag bekannt: einen Gefangenen aus den faschistischen Stellungen zum Stab zu bringen. Obersergeant Sawtschenko sollte die Gruppe führen. Sergej bat, in der Stoßgruppe mitmachen zu dürfen. „Was wirst du in der Stoßgruppe t u n ? " fragte Jefremow. „Was Sie b e f e h l e n . . . Wie Sie m i r erzählt h a b e n . . . In der Gruppe kann ich . . . Decken kann ich . . . " „Nein, noch kannst du das nicht", erwiderte der Starschina. „Ein Aufklärer m u ß m e h r können, als nur auf Befehl zu h a n deln. Vorerst wirst du dich im Beobachten üben. Du studierst das Gelände, gewöhnst dich ein, und sobald du alles begriffen hast, nehmen wir dich mit." Sergej ärgerte sich. Das wievielte Mal schon saß er zusammen mit dem Obersergeanten Sawtschenko im ersten Graben und starrte durch das Fernglas auf die gegnerischen Stellungen. Die eigene Hauptkampflinie lief über eine unbewaldete Höhe. Davor erstreckte sich ein weites Tal mit einzelnen Buschgruppen. Sergej kannte auch schon den Hügel genau, den Sawtschenko soeben erwähnt hatte, und den Sumpf und das Drahthindernis, an dem entlang dichtes Gras wucherte. Von diesem zwischen den Linien gelegenen und stellenweise eingefallenen Drahthindernis bis zur Hauptkampflinie des Gegners waren es mindestens drei Kilometer. Der Orientierungspunkt Nummer sechs — eine Höhe mit einer Grabenstellung — war am Tage gerade noch zu erkennen. Dort stand das schwere Maschinengewehr des Gegners. Links befanden sich einige Hügel. Von dort sollten die Aufklärer einen Gefangenen holen. Das Ziel des Unternehmens lag fest, die besten Beobachter des Zuges hielten es im Auge, und ihn schickte man wieder „das 74
Gelände studieren, sich eingewöhnen". Ringsum herrschte tiefe Stille, nur irgendwo in der Ferne waren einzelne Detonationen zu hören. Ab und zu zischte eine Leuchtkugel in die Höhe. Sergej blickte auf die Uhr, es war zwei Uhr dreißig. Er kroch vorwärts^ lautlos, eng an den Boden geschmiegt. Nun hatte er immerhin einen richtigen Kampfauftrag, wenn auch n u r einen kleinen. Zuvor hatte Sawtschenko ihm noch einmal die Seiten und die Taschen abgeklopft, ob an ihm auch nicht irgend etwas klirrte oder klapperte. Er war besorgt um das Leben seines Schützlings, wünschte ihm Erfolg. Sergej hatte die MPi bei sich, zwei Handgranaten und in den Taschen lediglich ein bißchen Brot und ein kleines Stück Speck. Alle Papiere — auch sein Komsomolmitgliedsbuch — hatte er vorher dem Zugführer übergeben. Mit viel Geduld und Verständnis hatten die Kameraden ihn in den letzten Tagen in die Lehre genommen, und noch klang ihm in den Ohren, was ihm der finstere, in Wirklichkeit aber so gutmütige Iwan Kostromin mehr als einmal gesagt h a t t e : „Du bist ein fixer Bursche, Sibirier, du begreifst schnell, ein anderer hätte sich damit lange abgequält.'" Vor ihm tauchten der Hügel und das Kusselgelände auf. Er sah sich vor, daß er mit dem Tarnumhang nicht an den Zweigen des Weidengebüsches hängenblieb, immer wieder hielt er inne und lauschte. Nun ging es den anderen Hang des Hügels hinunter, das Weidengebüsch blieb links hinter ihm zurück. Der Boden w u r d e glitschig, dann sumpfig, dennoch lief er lautlos weiter. Ein flacher Graben tat sich vor ihm auf. Mit den Händen tastend, stellte er fest, daß es offenbar ein schon in Friedenszeiten gezogener Graben war, der dazu dienen sollte, das sumpfige Gelände trockenzulegen. Sergej wollte gerade aufstehen, um den Graben zu durchqueren, da hörte er deutlich Schritte, dann links von sich ein leises Klirren. Ein Draht vibrierte. Da pirscht sich jemand an unsere Stellungen heran, durchfuhr es Sergej. In einiger Entfernung stieg eine Leuchtkugel hoch, in ihrem Licht erblickte Sergej einen gebückt laufenden Mann. Ob das Korenkow ist, der zurückkehrt? Er wollte schon husten, ihn anrufen. Der Mann richtete sich auf, schwere Schuhe schmatzten 75
durch das Wasser, er ging an Sergej vorbei, ohne ihn zu b e merken, stieg den Hügel hinauf und w a n d t e sich, ohne zu zögern, nach rechts einem glockenförmigen Gebüsch zu. Dort hielt er an und sprach irgend etwas auf deutsch, offenbar zu einem Kameraden. Eine eigenartige Mattigkeit überfiel Sergej, die Beine wurden ihm schwer wie Blei. Nur mit Mühe unterdrückte er das Verlangen, eine Handgranate zu werfen und mit der MPi zu schießen. Die beiden redeten miteinander, dann war ein tiefer Seufzer zu hören, wie von einem Menschen, der sehr m ü d e ist, ein Rascheln, Schritte, das k a u m w a h r n e h m b a r e Klirren eines Drahtes. Nun war Sergej .alles klar: Ein Mann ging, der andere blieb, Ablösung also. Es mochte etwa drei Uhr sein. Wahrscheinlich haben die Faschisten hier ein MG stehen. Oder ein Scharfschütze hat sich eingegraben. Sollte Sergej zurückkriechen, solange es noch dunkel war, den Graben hinab und dann nach rechts zu den eigenen Stellungen, um dem Zugführer davon zu berichten? Wenn der andere ihn aber hörte? Er w ü r d e schießen oder zumindest Verdacht schöpfen, seinen Posten verlassen und das Weite suchen. Besser wäre es, zu warten und zu lauschen. Sicherlich würde der Gegner zurückgehen,- sobald es zu dämmern begänne, dann würde Sergej ihn mit einem kurzen Feuerstoß erledigen, ihm die Papiere und die Waffe wegnehmen. Und wenn er n u n den ganzen Tag dort bleibt? fragte sich Sergej. Macht nichts, m a n kann ihn ja zu jeder Zeit mit einer H a n d granate vernichten, außerdem ist es möglich, das hohe Gras behutsam beiseite zu schieben und ihn durch einen gutgezielten Schuß zu töten. Es wurde hell. Der Faschist ging nicht zurück. Sergej schob sich vorsichtig ein Stück nach links, rupfte einige Schilfhalme ab und legte sie sich auf den Rücken. Doch nein, das ist nicht gut, im Lauf des Tages werden sie welken . . . Sergej glitt zu dem verschilften Graben zurück, schmiegte sich an die Grabensohle, stützte die MPi auf einen trocknen Grashöcker und erstarrte. Liegen und lauschen — ihm war klar, daß es keinen besseren Ausweg aus dieser Lage gab. 7fi
Es raschelte. Sergejs Hand griff nach der MPi. Stille. Was war das? Ein leichter Windstoß hatte mit d e n Weidenblättern gespielt. Sergej beruhigte sich wieder. In dem kalten Wasser begannen ihm die Beine abzusterben. Obendrein quälten ihn die Mücken. Er vertrieb sie, tauchte das Gesicht in das braune Sumpfwasser. Die Sonne ging auf. In der Ferne über dem eigenen Hinterland dröhnten Flugzeugmotoren. Kampfflugzeuge näherten sich. Sergej hob ein wenig den Kopf, senkte ihn aber sofort wieder. Er hatte deutlich einen Summer gehört, n u n vernahm er abgehacktes, gedämpftes Sprechen: Der Deutsche gab telefonisch eine Meldung durch. Als ein sowjetischer Aufklärer das Niemandsland überflog, gab sein Nachbar abermals eine Meldung durch, ebenso gegen Mittag. Sergej wußte, wie ein Feldfernsprecher gebaut ist, und freute sich im stillen über die Sorglosigkeit des gegnerischen Beobachters, der die Kurbel drehte, ohne den Summer ausgeschaltet zu haben. Die Zeit schlich langsam dahin. Dem jungen Aufklärer wurde der Rücken steif, das kaum verheilte Bein schwoll an. Er wechselte die Lage, griff vorsichtig in die Tasche, holte den feucht gewordenen Brotkanten heraus und kaute ein Stück von der Rinde. Dann quälte ihn Hustenreiz. Er preßte die Hand gegen den Mund. Tränen traten ihm in die Augen, der Hustenreiz w u r d e immer stärker. Von irgendwoher strich eine Schnepfe heran, ließ sich in Sergejs Nähe nieder, lief am Rand des Grabens entlang und verhielt. Verschwinde, verrat mich nicht, flehte Sergej in Gedanken. Die Schnepfe äugte umher, schrie auf und flog davon. Sergej packte die MPi und hustete; es hatte keinen Sinn, länger Versteck zu spielen. • Einige Minuten vergingen* qhne daß sich etwas rührte. Sergej hatte das Gefühl, daß eine Waffe auf ihn gerichtet, daß er aufs Korn genommen war. Er wollte nicht kampflos sterben. Mehrere Male war er nahe daran, den Kampf als erster aufzunehmen. Mindestens eine Stunde verging in drückender, quälender Erwartung. Irgendwo ratterte ein Maschinengewehr, und wieder
erbebte Sergej: Der faschistische Soldat sprach in aller Ruhe ins Telefon. Da faßte sich Sergej ein Herz. Er entschloß sich, festzustellen, wo sich der Gegner genau befand und weshalb er so achtlos und unaufmerksam war. Er glitt den Hügel hinauf, langsam, Zentimeter um Zentimeter bewegte er sich vorwärts. Dort unter dem Gebüsch, wo das Gras und die Blumen so üppig wucherten, m u ß t e er sitzen. Aber nichts war zu sehen. Sergej wollte sich ' noch ein Stück näher heranschieben, doch da erstarrte er. Etwa fünfzehn Meter vor ihm,' zu Füßen des Busches, hob sich auf einmal das Gras — ein flaches, grünes Quadrat mit gelben Blumen. Sergej erkannte sofort, daß das ein mit Grasplatten getarnter Deckel war. Der feindliche Soldat hatte ihn offenbar angehoben und gegen einen Erdhöcker gelehnt, um aus dem Gebüsch heraus die sowjetischen Stellungen zu beobachten. Plötzlich reckte sich der gegnerische Beobachter aus seiner Höhle heraus — ein kräftiger Bursche. Er streckte den Arm aus, pflückte ein blaues Blümchen und schnupperte daran. Dann warf er einen kurzen Blick nach rechts und links und verschwand wieder. Der Deckel schloß sich. Sergej kroch zurück, bezog wieder sein Versteck in dem feuchten Graben und schmiegte das Gesicht in das stachlige Gras. Als es zu dämmern begann, stützte sich Sergej auf die Ellenbogen, lauschte eine Weile und schob sich an den Grabenrand hinauf. Er wollte feststellen, ob der andere etwas im Schilde führe, ob er mit Einbruch der Nacht seinen Posten verlassen und ob er auf den Feuerstoß aus dem leichten MG, den der Obersergeant Sawtschenko verabredungsgemäß abgeben wollte, irgendwie reagieren würde. Genau um Mitternacht, als Sawtschenkos Leuchtspurgeschosse den Himmel durchschnitten, hörte Sergej, wie der Soldat über Telefon eine Meldung abgab. Sergej mußte noch eine halbe Stunde warten, bevor er sich vom Fleck r ü h r e n konnte. Rings um ihn herrschte tiefe Stille. Doch als dann hinter seinem Rücken die ersten Geschützsalven krachten und abermals die gedämpfte Stimme des Horchpostens zu hören war, kroch er auf der Sohle des Grabens entlang, umging den gegnerischen Posten und bewegte sich auf die eigenen 78
Linien zu. Er sputete sich, weil er fürchtete, die Feuerstöße, die von den Genossen'in kurzen Abständen abgegeben wurden, könnten den anderen Posten warnen und ihn mißtrauisch machen. Auf einen Anruf aus dem Graben antwortete Sergej mit der Parole und glitt in die Arme seines Zugführers. „Was ist geschehen? Sprich, na, sprich schon", forderte Jefremow. „Ein Horchposten . . . Er sitzt dort in einem Loch . . . Gebt mir was zu trinken."
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1. Auflage, 1. bis 85. Tausend Deutscher Müitarverlag, Berlin 1972 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 ES-Nr. 8 C Lektor: Erika Walter Umschlaggestaltung: Erhard Schreier Hersteller: Werner Briege Vorauskorrektor: Gertraud Purfürst Korrektor: Eva Plake Printed in the German Demokratie Republie Gesamtherstellung: Druckerei des Ministeriums für Nationale Verteidigung — 71/435
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