Stimme(n) im Text
Narratologia Contributions to Narrative Theory/ Beiträge zur Erzähltheorie
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Stimme(n) im Text
Narratologia Contributions to Narrative Theory/ Beiträge zur Erzähltheorie
Edited by/Herausgegeben von Fotis Jannidis, John Pier, Wolf Schmid Editorial Board/Wissenschaftlicher Beirat Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ ngel Garcı´a Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Jose´ A Andreas Kablitz, Uri Margolin, Matı´as Martı´nez Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer Michael Scheffel, Sabine Schlickers, Jörg Schönert
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Stimme(n) im Text Narratologische Positionsbestimmungen
Herausgegeben von Andreas Blödorn Daniela Langer Michael Scheffel
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018571-3 ISBN-10: 3-11-018571-7 ISSN 1612-8427 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ⬍http://dnb.ddb.de⬎ abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Inhaltsverzeichnis
ANDREAS BLÖDORN / DANIELA LANGER / MICHAEL SCHEFFEL Einleitung: Stimmen – im Text?.................................................................. 1 ELS JONGENEEL Silencing the Voice in Narratology? A Synopsis ....................................... 9 MATTHIAS AUMÜLLER Die Stimme des Formalismus. Die Entwicklung des Stimmenbegriffs im russischen Formalismus....................................................................... 31 ANDREAS BLÖDORN / DANIELA LANGER Implikationen eines metaphorischen Stimmenbegriffs: Derrida – Bachtin – Genette ..................................................................... 53 MICHAEL SCHEFFEL Wer spricht? Überlegungen zur ‚Stimme‘ in fiktionalen und faktualen Erzählungen ....................................................................... 83 J. ALEXANDER BAREIS Mimesis der Stimme. Fiktionstheoretische Aspekte einer narratologischen Kategorie ............................................................ 101
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Inhaltsverzeichnis
ÁRPÁD BERNÁTH Rhetorische Gattungstheorie und konstruktivistische Hermeneutik ............................................................ 123 FOTIS JANNIDIS Wer sagt das? Erzählen mit Stimmverlust ..................................................................... 151 LIESBETH KORHALS ALTES Voice, irony and ethos: the paradoxical elusiveness of Michel Houellebecq’s polemic writing in Les particules élémentaires ................................................................ 165 OLAF GRABIENSKI / BERND KÜHNE / JÖRG SCHÖNERT Stimmen-Wirrwarr? Zur Relation von Erzählerin- und Figuren-Stimmen in Elfriede Jelineks Roman Gier............................................................. 195 JAN-OLIVER DECKER Stimmenvielfalt, Referenzialisiserung und Metanarrativität in Hermann Hesses Der Steppenwolf ..................................................... 233 MARTIN NIES ‚Stimme‘ und ‚Identität‘: Das Verschwinden der Geschichte in Knut Hamsuns Pan, Johannes V. Jensens Skovene, Joseph Conrads Heart of Darkness und Robert Müllers Tropen .................................................... 267 JULIA ABEL Konstruktionen ‚authentischer‘ Stimmen. Zum Verhältnis von ‚Stimme‘ und Identität in Feridun Zaimoglus Kanak Sprak ........................................................ 297
Inhaltsverzeichnis
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RÜDIGER ZYMNER ‚Stimme(n)‘ als Text und Stimme(n) als Ereignis .................................. 321 REINHART MEYER-KALKUS Vorlesbarkeit – zur Lautstilistik narrativer Texte................................... 349 Personenregister...................................................................................... 383
Einleitung: Stimmen – im Text? Wer Stimmen hört, wo niemand spricht, gilt gemeinhin als verdächtig. Narratologen schreckt das offensichtlich nicht – hat sich die ‚Stimme‘ doch infolge des von Gérard Genette in Discours du récit (1972) und in Nouveau Discours du récit (1983) entworfenen narratologischen Modells zu einer zentralen Kategorie der Erzähltextanalyse entwickelt. Genette unterscheidet zwischen Stimme und Modus bzw. Fokalisierung und fasst unter dem Terminus ‚Stimme‘ zunächst ein Bündel dreier Komponenten, mittels derer er der „narrativen Instanz“ nachgehen möchte, „und zwar im Hinblick auf die Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat“: den Zeitpunkt, an dem ein Erzähler spricht („Zeit der Narration“), den Standpunkt, von dem aus eine Geschichte erzählt wird („narrative Ebene“), und das Verhältnis der Erzählinstanz zur dargestellten Figurenwelt („Person“) (Genette [1972/1983] 1998: 152 f.). Alle drei Aspekte sollen dabei die Position der narrativen Instanz im Verhältnis zu der von ihr erzählten Geschichte präzisieren. Was Genette unter ‚Stimme‘ fasst, ist also am ehesten als Spezifizierung einer pragmatischen Textfunktion beschreibbar, bei der die grammatische und rhetorische Personifizierung der narrativen Instanz mehr oder weniger explizit erfolgen kann. Im Gegensatz zur Terminologie Franz K. Stanzels, dessen Typenkreis die verschiedenen Aspekte ‚Perspektive‘ (als Außen- oder Innenperspektive), ‚Person‘ (als Identität oder Nicht-Identität der Seinsbereiche von Erzähler und Figur) und ‚Modus‘ (als Erzähler- oder Reflektorfigur) nur in bestimmten Kombinationen untereinander zulässt (Stanzel 1979), entkoppelt Genette die Frage „wer spricht?“ (Stimme) von der Frage „wer sieht?“ (Fokalisierung). Sein Kategorienmodell für die Analyse narrativer Texte erlaubt damit einen differenzierteren Zugang zur Beschreibung von Sprechsituationen in Erzähltexten. Auch der Rückgriff auf den Begriff ‚Stimme‘ steht im Kontext eines möglichst neutralen und rein beschreibenden Zugriffs auf den narrativen Text, denn den für diese Kategorie auch möglichen Begriff ‚Person‘ lehnt Genette in seiner Einleitung mit dem Hinweis darauf ab, dass der Begriff der ‚Stimme‘ „nicht so stark
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(aber leider immer noch stark genug!) von psychologischen Konnotationen geprägt ist“ (Genette [1972/1983] 1998: 19). Obgleich die Vorstellung des Erzählers als ‚Person‘ hierdurch schon aufgebrochen wurde, bleibt die Kategorie der Stimme bei Genette jedoch streng genommen an die der ‚Person‘ gebunden. Während in Sicht auf die Fokalisierung die Frage „wer sieht?“ in Nouveau discours du récit in die neutralere, personenunabhängige Fragestellung „wo liegt das Zentrum, der Fokus der Wahrnehmung?“ geändert wird, findet eine solche Modifikation im Falle der Frage „wer spricht?“ als Präzision der Kategorie ‚Stimme‘ nicht statt. Im Gegenteil: „Die Stimme des Erzählers ist immer als die einer Person gegeben, mag sie auch anonym sein“ (Genette [1972/1983] 1998: 235). Genettes apodiktische Feststellung personaler Rückbindung der ‚Stimme‘ im Text ist jedoch nach wie vor problematisch und fordert zum Widerspruch heraus. So konstatiert auch Genette selbst: „Das Kapitel über die Stimme ist zweifellos dasjenige, das für mich die heikelsten Diskussionen ausgelöst hat, vor allem soweit es um die Kategorie der Person geht“ (Genette [1972/1983] 1998: 245). Denn fraglich bleibt nicht nur diese Rückbindung von ‚Stimme‘ an Person; fraglich bleibt auch, wie in schriftlichen Texten von ‚Stimme‘ gesprochen werden kann, wo doch scheinbar alle mit der Stimme verbundenen metaphorischen Implikationen auf mündliche Lautlichkeit referieren. Fraglich ist weiterhin, ob nicht die Fokussierung auf den Begriff ‚Stimme‘ genuine Merkmale und Funktionsweisen schriftlicher Texte verstellt und verdeckt – oder ob der Begriff gerade umgekehrt in seiner Metaphorizität den angemessenen Raum bieten kann, um die Funktionsweise schriftlicher fiktionaler Texte im Spannungsfeld zwischen Autor, Erzähler und Leser und damit innerhalb eines Modells literarischer Kommunikation abzustecken. Die hier versammelten Beiträge des vom 24.-26. September 2004 abgehaltenen Wuppertaler Symposions Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen versuchen, das methodologische Potential der Kategorie ‚Stimme‘ in der Narratologie vor dem skizzierten Hintergrund auszuloten. Ausgangs- und Referenzpunkt der einzelnen Untersuchungen stellt dabei im Wesentlichen das Beschreibungsinventar dar, wie es Genette in Discours du récit entwickelt und in Nouveau Discours du récit weitergeführt hat – jedoch nicht, ohne die Erweiterungen, Präzisierungen und Infragestellungen, die der Kategorie nachfolgend zu Teil geworden sind, mitzudenken und ihrerseits fortzuführen.
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Die stärksten Infragestellungen des Begriffs erfolgten von Seiten eines poststrukturalistischen Verständnisses von Text einerseits und eines linguistisch orientierten Zugriffs auf literarische Erzähltexte andererseits. Im Zuge einer poststruktualistischen Betrachtungsweise wurde der Kategorie ‚Stimme‘ vorgeworfen, zur Hypostasierung eines dominanten Aussagesubjekts im Text beizutragen und so ein zentralistisches Textverständnis zu befördern (Gibson 1996). Im Rahmen eines sprachanalytischen Ansatzes betrachtet Ann Banfield die Sprache fiktionaler Erzähltexte als eine Art autonome Entität ohne Kommunikationskontext: „In narration, language can be studied not as a system of signs or of communication but in itself'“ (Banfield 1982: 10). Ausgehend vom nichtkommunikativen Charakter fiktionaler Erzählrede folgert Banfield, dass hier (jedenfalls im Fall von heterodiegetischen Erzählungen) weder ein Subjekt des Sprechens noch ein Adressat anzusetzen seien, und spricht dementsprechend von ‘narratorless’ bzw. ‘unspeakable sentences’ (womit die Kategorie der ‚Stimme‘ entfällt). Sowohl der poststrukturalistische als auch der linguistisch-formalistische Zugriff Banfields vernachlässigen allerdings den pragmatischen Aspekt, dass Erzähltexte rezipiert werden und sich so durchaus in einem kommunikativen Feld zwischen Autor, Erzähler und Leser bewegen – und dies zeitigt Folgen auch für den Bereich der Stimme. So definiert etwa Monika Fludernik ‚Stimme‘ als [t]he linguistically generated illusion of a voice factor which can be defined empirically by a complex set of interrelated textual and contextual features and is corroborated by a mimetic reading of the text that stimulates this projection of a speaker or reflector function. (Fludernik 1993: 344)
Auch Richard Aczel plädiert dafür, Stimme dialogisch im Raum zwischen der rhetorischen Strukturiertheit des Textes und der Rezeption auf Seiten des Lesers zu verorten (1998: 494). Die rhetorische Strukturiertheit des Textes führt zu einem dritten Einwand gegen Genettes Stimmenbegriff. Dieser bezieht sich darauf, dass Genettes Kategorie den Hauptaspekt dessen, was im wörtlichen Sinne unter Stimme verstehbar wäre (z.B. Intonation, Tonhöhe, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit usw.) gänzlich außer Acht lässt. Von Genette abweichende narratologische Ansätze versuchen daher unter ‚Stimme‘ auch Aspekte zu integrieren wie die ‚Hörbarkeit‘ bzw. Wahrnehmbarkeit einer Erzähler-Persona im Text (Chatman 1978) oder die spezifische stilistische Ausprägung einer Erzählung, die sich in dem Tonfall, der
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Idiomatik, der Diktion, dem Sprechstil und dem Sprachregister zeigt (Aczel 1998). Denn die genettesche Konzentration auf die Position der Erzählinstanz im Text – gefasst unter den Fragen „wer spricht?“, weiterhin „von wo?“ (narrative Ebene) und „wann?“ (Zeit der Narration) – vernachlässige, so Aczel, die wichtige Frage, wie im Text gesprochen werde (1998: 468, auch Aczel 2005: 635). Angesprochen ist hiermit der qualitative Aspekt von ‚Stimme‘, der diese – gerade in der Differenz verschiedener Stimmen im Text – als Stimme überhaupt erst wahrnehmbar macht. Angesprochen ist damit aber auch der Aspekt, dass ‚Stimme(n) im Text‘ nicht allein auf die narrative Instanz zurückzuführen sind. Insbesondere in Anlehnung an Michail Bachtins Konzept des polyphonen Romans sind daher auch die vielfältigen Stimmen, die sich in einem Text kreuzen, überlagern oder in ihm koexistieren können, in die Revision eines umfassenderen Stimmenbegriffes einzubeziehen (vgl. Bachtin [1934/35/1975] 1979 sowie [1963] 1985). Dies betrifft v. a. das Verhältnis von Erzähler- und Figurenstimmen sowie die Abgrenzung von extradiegetischer Herausgeber- und Autorenrede. Ein solches plurales Verständnis von ‚Stimme‘ widerspricht Genettes Versuch, die Stimme als narratologische „Beziehung zum Subjekt (oder allgemeiner zur Instanz) des Aussagevorgangs“ zu etablieren (Genette [1972/1983] 1998: 19), erlaubt aber eine Erweiterung in Sicht auf das für literarische Erzähltexte nicht unerhebliche Phänomen der Überlagerung verschiedener Stimmen im Redeakt, etwa im Falle der erlebten Rede, die schon von Pascal im Jahre 1977 als Dual Voice bezeichnet wurde. In dieser Erweiterung von ‚Stimme‘ zu ‚Stimmen‘ im Text erweist sich nicht zuletzt die Funktionalität einer Analysekategorie, die stilistische Textphänomene (im Sinne einer Stimme des Textes) zu bündeln vermag und sie in ihrer narrativen Beziehung zu literarischen Subjektivitätsentwürfen auf der Ebene der Figurenrede hervortreten lassen kann. Der vorliegende Band möchte in seinem ersten Teil dazu beitragen, das theoretische Umfeld und die Prämissen literarischer ‚Stimmen‘ in historischer und systematischer Hinsicht zu präzisieren. Ein Blick auf die Verwendung und Etablierung als narratologische Kategorie (Jongeneel) und eine Betrachtung des Verhältnisses des Terminus ‚Stimme‘ zur russischen Tradition des skaz (Aumüller) klären den systematischen Stellenwert des Begriffs im Kontext seiner historischen Entwicklung. Die metaphorischen Implikationen des Stimmenbegriffs (Blödorn/Langer) und die Kontextualisierung des Aspektes ‚Stimme‘ im Rahmen schriftli-
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cher Erzähltexte als Fiktion (Scheffel, Bareis) kommen hier ebenso zur Sprache, wie der genettesche Ansatz vom Text als Narration grundsätzlich zur Debatte gestellt wird (Bérnath). Die Beiträge des ersten Teils machen darauf aufmerksam, dass die Annahme der Fiktionalität des Sprechens in Erzähltexten sowie die einer näher bestimmbaren Sprechinstanz auf Seiten des Lesers ihrerseits spezifischen historischen und kulturellen Bedingungen unterliegen. Schon in Verbindung mit Fallstudien stehen zwei Beiträge, die ‚Stimme‘ im Rahmen eines kommunikativen Ansatzes unter Herausstellung der Rolle des Lesers präzisieren und sich dem Phänomen einer Überlagerung verschiedener ‚Stimmen‘ in Sicht auf Montage und erlebte Rede (Jannidis) bzw. in Sicht auf Ironie (Korthals-Altes) annehmen. Im zweiten Teil des Bandes wird die weitere Systematisierung der mit ‚Stimme‘ verbundenen Aspekte dann anhand von Fallstudien unternommen, die einzelne, um die ‚Stimme‘ zentrierte Analysebegriffe zur Anwendung bringen. Funktion und Manifestation sowie Beschreibbarkeit von Erzählakt und Erzählerfigur in fiktionaler Erzählliteratur werden an Texten der Frühen Moderne untersucht, die Überschneidungen von Vermittlungsvorgang und Vermitteltem textintern reflektieren (Decker, Nies). Mit Polyphonieund Interferenzphänomenen von im Text übereinander gelagerten Stimmen beschäftigen sich zwei weitere Beiträge, die das Verhältnis der Erzähler- zu einzelnen Figurenstimmen in der neuesten deutschsprachigen Erzählprosa betrachten (Abel, Grabienski/Kühne/Schönert). Zur Debatte stehen in diesem Teil des Bandes insbesondere die genetteschen Begriffe zur Unterscheidung verschiedener Erzählebenen (Decker) und das Verhältnis von Stimme und Fokalisierung (Grabienski/Kühne/Schönert). Zugleich zeigt sich, dass mit der ‚Stimme‘ immer auch Fragen der Identitätskonstruktion verschiedener (miteinander konkurrierender) Erzählinstanzen im Text verknüpft sind (Nies, Abel) und auch die Relation zwischen Erzähler und Autor textintern thematisiert werden kann (Abel, Decker). Nicht zuletzt aber lässt sich die Annahme einer ‚Stimme‘ als Merkmal schriftlicher Texte als ein Konstruktionsakt auf Seiten des Lesers betrachten, bei dem die Stimme des Erzählers folglich als Stimme des Lesers identifizierbar wird, der sich den Schrifttext im Lektüreakt vergegenwärtigt (Zymner). Was die mündliche Verlautlichung schriftlicher, ‚stummer‘ Texte und die persona des Vorlesers zum Verständnis von Erzähltexten beitragen können, wird am Ende des Bandes diskutiert (Meyer-Kalkus).
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Die großen Themenkreise des Bandes, die sowohl die Komplexität, aber auch die Relevanz des Terminus ‚Stimme‘ in der Erzähltextanalyse verdeutlichen, lassen sich damit – notwendigerweise grob – folgendermaßen umreißen: (1) ‚Stimme‘ wird als grundlegende Vermittlungsinstanz fassbar, die den Erzählakt der Narration betrifft und somit als eine Funktion des (fiktionalen) Erzähltextes erscheint (Abel, Aumüller, Bareis, Decker, Grabienski/Kühne/Schönert, Nies, Scheffel). (2) ‚Stimme‘ steht dabei im Kontext einer Kommunikationssituation des literarischen Textes (Bareis, Decker, Jannidis, Korthals Altes, Scheffel) und im Schnittpunkt zwischen rhetorisch-stilistischer Ausprägung des Textes und kognitivkonstruktivistischer Prozesse auf Seiten des Lesers (Bareis, Jannidis, Jongeneel, Korthals Altes, Zymner). Hiermit ist zugleich (3) das Paradoxon von ‚Stimme(n)‘ in stummer, lautloser Schrift angesprochen (Blödorn/Langer, Jongeneel, Meyer-Kalkus, Zymner). Die damit zwangsläufige Metaphorik des Terminus steht in einem engen Bezug zu (4) dem anthropomorphen Gehalt des Begriffs, der sich in der engen Korrelation von ‚Stimme‘ und ‚Identität‘ einerseits, ‚Stimme‘ und ‚Person‘ andererseits zeigt (Abel, Decker, Nies). Diese Korrelation allerdings wird in Erzähltexten keineswegs einsinnig (ein Text – ein Sprecher – ein Subjekt) umgesetzt, sondern (5) die Kategorie der ‚Stimme‘ erhält ihren heuristischen Mehrwert gerade in Sicht auf die Möglichkeit literarischer Texte, verschiedene ‚Stimmen‘ zu kreuzen, zu überlagern und zu kontrastieren, um so ein genuin fiktionales Spiel zwischen den Ebenen der textinternen Pragmatik zu erzeugen, das die strikte Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Ebenen wie denen von Figuren, Erzähler und Herausgeber aufheben, ja möglicherweise sogar die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler in Frage stellen kann (Abel, Aumüller, Blödorn/Langer, Decker, Grabienski/Kühne/Schönert, Jannidis, Korthals Altes, Nies). In jedem Falle aber scheint eine Erweiterung der bei Genette monistisch auf die Erzählinstanz bezogenen Kategorie ‚Stimme‘ unabdingbar, die der Pluralität verschiedener Stimmen im Text Rechung trägt. Die Beiträge dieses Bandes verdeutlichen damit vor allem eines: Die Rede von ‚Stimme(n) im Text‘ ist zwar stets als metaphorische Rede erkennbar, doch besitzt diese Metaphorik einen konnotativen Mehrwert, der über die systematisch-analytische Beschreibungsebene einer technischen Textfunktion, über die Verortung der Erzählinstanz in Raum, Zeit und figural-personaler Einkleidung hinausgeht. Die (sei es: implizite) Referenz auf eine (im Text abwesende) Sprechinstanz macht den Text als Teil eines kommunikativen Vermittlungsaktes lesbar, dessen Stimme(n)
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personal konkretisiert sein können – aber nicht müssen. Fiktionale Literatur spielt in ihrer Eigenschaft als dekodierbarer – lesbarer – Text aber mit dem rhetorischen Angebot, dem Text im Moment seiner Aktualisierung Stimme(n) zu verleihen. Wir danken der Fritz Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung für die großzügige finanzielle Förderung des Symposions und Regina Fages sowie Kristina Wiethaup, Filippo Smerilli und Daniel Diekhans für die organisatorische Unterstützung während der Tagung. Nicht zuletzt gilt unser besonderer Dank Kristina Wiethaup für die umsichtige Hilfe bei der Redaktion und Satzerstellung des vorliegenden Bandes. Wuppertal und Göttingen, im Januar 2006 Andreas Blödorn, Daniela Langer und Michael Scheffel
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Literaturverzeichnis Aczel, Richard 1998 Hearing Voices in Narrative Texts, in: New Literary History, 29.3, 467-500. 2005 Voice, in: Herman, David/Jahn, Manfred/Ryan, Marie-Laure (eds.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London and New York, 634-636. Bachtin, Michail 1979 [1934/35/1975] Das Wort im Roman, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt/Main, 254-300. 1985 [1963] Probleme der Poetik Dostoevskijs, übersetzt von Adelheid Schramm, Frankfurt/Main. Banfield, Ann 1982 Unspeakable Sentences. Narration and Representation in the Language of Fiction, Boston and London Chatman, Seymour 1978 Story and discourse. Narrative structure in fiction and film, Ithaca. Fludernik, Monika 1993 The Fictions of Language and the Languages of Fiction. The linguistic representation of speech and consciousness, London and New York. Genette, Gérard 1998 [1972/1983] Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort herausgegeben von Jochen Vogt, 2. Aufl., München. Gibson, Andrew 1996 Towards a Postmodern Theory of Narrative, Edinburgh. Pascal, Roy 1977 The Dual Voice. Free indirect speech and its functioning in the nineteenthcentury European novel, Manchester University Press. Stanzel, Franz K. 1979 Theorie des Erzählens, Göttingen.
ELS JONGENEEL (Groningen)
Silencing the Voice in Narratology? A Synopsis Abstract The concept of ‘voice’ is one of the most discussed hobbyhorses of classical narratology. It refers to the rhetorical construct of the ‘speaking’ narrator which dominates a great number of modern prose texts in Western literature. In the past two decades narratologists have tried to settle scores with this embarrassing and misleading metaphor. The following essay offers an overview of this revisionary process that meanwhile touches upon some major developments in the postclassical theory of narrative. La voix narrative est le vecteur de l’intentionnalité du texte, laquelle n’est effectuée que dans la relation intersubjective qui se déploie entre l’adresse de la voix narrative et la réponse de la lecture. Paul Ricœur
The ontology of voice in classical narratology There are in fact no narrative voices and no voices in literary narrative, whether the voices of authors, narrators, or personae. Insofar as the term ‘voice’ is used to designate any feature of literary narrative, when its status is neither linguistic nor technical, that status is at once metaphorical.1
This unequivocal statement from a theorist of ‘postclassical’ narratology summarizes best, in my opinion, the long-term discussion among narra____________ 1
Gibson (2001: 640). David Herman introduced the label ‘postclassical narratology’ in Narratologies: Herman (1999, see his “Introduction”: 1-30).
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tologists on the concept of voice in narrative. Nowadays the deconstructing process of the classical notion of voice, “one of the most controversial areas in narrative theory”2, has almost ended and the present generation of narratologists has definitely adopted narrative voice as a rhetorical strategy. Nonetheless, they still are crossing swords about its conceptualization. This ambiguous attitude has to do with new insights in modern semiotics and in recent cognitively oriented theories of narrative. Bringing the ‘natural’ voice prominently to the fore again, these have injected new life into the illusion of the audible voice in narrative. The ongoing debate on the role of voice in narrative goes to the heart of the literary text. It interrogates the role of the narrator and the reader, and the function of narrative discourse. Moreover, it runs parallel to the renewed interest shown by post-structuralism in Bakhtin’s discourse theory and joins in with the postmodernist textualization of culture. Meanwhile it touches upon the position of narratology in the humanities. In short, it offers an overview of the major corrections made by postclassical narratologists, from the end of the seventies until now, to the work of the old masters in the field, Stanzel, Booth and Genette. It is this overview I intend to present here. Since it was Genette who introduced the aspect of voice into narratology, I will take his model as my starting point. Genette presented the narratological category of ‘voice’ in Figures III (1972)3, as part of a descriptive model of literary discourse based on earlier studies in narrative point of view: Booth’s Rhetoric of Fiction (1961), Percy Lubbock’s The Craft of Fiction (1921), and Käte Hamburger’s Die Logik der Dichtung (1957). Genette’s assimilation of Stanzel’s narrative typology (Die typischen Erzählsituationen im Roman, 1955, Typische Formen des Romans, 1964) occurred later, as Genette attests himself in Nouveau discours du récit (1983)4. In accordance with contemporary French structuralism, Genette’s narrative categories betray a linguistic nomenclature5. His narrative model ____________ 2 3 4 5
Aczel (1998: 467). English translation: Genette [1972](1980) (comprises only Discours du récit). English translation: Genette (1988: 114). For a comparative analysis of both Genette’s and Stanzel’s narrative model, see Cohn (1981). In the introduction to his essay, Genette explains that he borrowed his linguistic metaphors from Todorov (1966). Later on this issue of Communications, entitled ‘L’analyse structurale du récit’, was marked the opening chapter of French narratology (articles by Barthes, Eco, Genette, Greimas, Metz and Todorov).
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departs from Benveniste’s distinction between ‘discourse’ and ‘story’6. To these Genette added the level of ‘narration’, comprehending the circumstances in which the narrative act takes place. Genette emphasized ‘voice’ as one of the five aspects governing the relationship between discourse, story and narration. In linguistics, the voice designs the mode of action of the verb for its relation to the subject (‘passive’ and ‘active voice’). In Genette’s metaphorization of the concept, ‘voice’ refers to a subject-position, namely a narrating instance governing the text. The voice for Genette is the instance ‘who speaks’, in distinction from ‘who sees’ related to the aspect of the ‘mood’. Both voice and mood constitute the instance of narration. “We will be careful, however”, so Genette concludes his introductory presentation of the five aspects, “not to hypostatize these terms, not to convert into substance what is each time merely a matter of relationships”7. Notwithstanding the lucid admonition, the substantialization fatally occurred nonetheless. In particular, the aspect of the voice, so dominant in discussions about telling and point of view in narrative, proved to be sensible to this process. Hence, the metaphor of voice was conflated with that of a ‘speaking voice’, a human presence in the text. The first to stimulate this metamorphosis of a narrative construct into an ‘anima’ was the master himself. In the wake of French structuralism, Genette posited the text as an autonomous structure apart from the author, and meanwhile as a code to be mastered by the reader. He thereby projected unto narrative the Saussurian scheme of verbal communication, but left aside the sender of the message. Significantly, however, he carried over the governing function from the author outside the text to an audible narrational agency inside, “an attempt to sneak the discredited notion of the author back into narrative through the rear door”8. The narrator in Genette’s model thus becomes a mediating instance between the author and the characters. What was meant as a rhetorical construct and textual function, turns into a fixed point or center, a kind of higher organizing instance that comes more or less prominently to the ____________ 6 7 8
Benveniste (1966). Genette [1972](1980: 32). Aczel (1998: 486). Aczel refers here to Ann Banfield’s attack (1982: 183) on the conceptualization of voice by classical narratologists. However, here too we have to signal Genette’s explicit protestations regarding his metaphorical use of the narrational agency—see Genette [1972](1980: 214).
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fore by speaking and perceiving (‘focalizing’) the diegetic world. So inevitably, the abstract narrative function of voice becomes an audible human voice resounding in the text. A human presence is postulated as origin and final instance governing narrative. In other words, a mimetic illusion is theorized into a narrative principle: Genette’s case reverts to a theological conception of the text in which all separate narrative instances, including instances of voice, are governed by a single, authoritative, ‘higher’ voice […]. In the end, for Genette, voice is partly metalinguistic, even metanarrative, establishing articulations, connections, interrelationships in narrative, “in short, its internal organization” (Narrative Discourse, 255). Voice is the secure foundation that assures the coherence of narrative geometry itself.9
One encounters this animating presentation of narrator and voice for example in Genette’s description of the different types of characters’ speech, in the paragraph dedicated to ‘mood’ (indirect, direct and free indirect discourse10). Genette explains free indirect discourse as based, fictionally speaking, on real acts of speech or thought accomplished by the characters or by the narrator11. Further, he posits narrative representation of characters’ speech as a way of perspectivizing, by means of which the narrator respectively disappears behind his characters, quotes them by mingling their words and thoughts with his own or quotes them in his own words. The persistence of the voice and its misleading theorization in classical narratology is interrelated, as I already mentioned, with the assumption made by structuralism that the literary text is a code establishing a form of communication between a teller and a listener. To quote the narratologist Monika Fludernik: […] any conceptualization of telling involves a narrational act and immediately invokes the figure of a teller and, ultimately, of a listener or reader. Within a realistic scenario, therefore, one has a communicative model of narration (teller ĺ text ĺ reader) and the projection by the text of a story-world that is typically anthropomorphic.12
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Gibson (1996: 145). See Genette [1972](1980: 171-185). A problematic assumption. See for example the discussions, in recent narratological studies, on narrativized discourse in the novels of Henry James. In these studies James is a recurring chapter as it comes at refutating the idealism of voice in classical narratology. Fludernik (1996: 337).
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Furthermore, the anthropomorphizing of voice in narrative theory has also to do with the literary corpus which the early narratologists used as a testcase for their models: the modernist novel. In the modernist novel the representation of speech and thought dominates, by way of first-person narrators-protagonists wrestling with their inner life and their relationship with an enigmatic outside world. They regularly monologize about their feelings in the hope to get insight into their incomprehensible I. In these modernist “master narratives”, to quote another sceptic in regard to the illusion of voice, the human voice is particularly invasive: […] it can be argued that a narratology of voice is beholden to a theatricality of the self, itself a by-product of the evolution in late nineteenth and twentieth century fiction, of what could be called ‘figural narration’: a narration in which the dramatic presentation of consciousness had made necessary a shift from third to first person and thus causes an inward turn in the narrative. As the plot of realism fades and the narrative subject becomes, instead, more adept at discriminating the various languages that make up the social world, s/he becomes more of an individual by asserting his or her own individuality, and freed from automatic repetition, learns to practice contradictions which the narrative represents and displaces, without allowing them to merge; the different languages, the different voices appear in contention in a parodic subtext which in its mimicry emulates the gestures of a master narrative.13
Proust’s In Search of Time Lost, the ‘master narrative’ that Genette chose as a case-study in Narrative Discourse, offers a prominent example of such a speaking consciousness. Another reason one can allege for the honours paid to the voice by classical narratologists is the important role which they attribute to rhetoric14. In Western culture, rhetoric is based on the ancient tradition of the art of oratory, especially in French culture, where verbal eloquence has always played a primordial role. It therefore took a long time before in poetics and literary criticism the written text superseded the sonority of the voice. It was finally postmodernism that deconstructed the narrative lure of the recorded voice. Genette himself however never abandoned it. In Narrative Discourse Revisited, he once again underlined his firm belief in the speaking narrator (see below). ____________ 13 14
Blanchard (1992: 66). Blanchard has coined his ironic ‘master narratives’ with reference to Lyotard’s ‘major narratives’ (1984). Witness for example Booth (1961), and Genette’s introduction to Figures III (1972) (Critique et poétique) where he insists on the affiliation between poetics and rhetoric. Further, Figures III comprises two other essays that focus on text analysis, respectively on metaphor and on metonymy in Proust.
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Postmodern iconoclasm and the tomb of speech Narrative Discourse served as a basic text in the eighties for the neophytes in narrative theory, but it was nonetheless thoroughly criticized and revised. Among the subjects under fire, the voice has been attacked most, as Genette notes in Narrative Discourse Revisited15. This has to do with two major developments in contemporary literary theory: the attack on the central position of the author launched by postmodernism, and as a matter of consequence, the rise of the reader as a relatively independent ‘co-producer’ of the text. In the late sixties and the seventies postmodernists and poststructuralists condemned the author to death. This death sentence seemed inevitable. Already early structuralism had emphasized the autonomy of the textual system. Barthes, Foucault and Derrida successively emphasized the conventionality of the authorial instance, an ideological product of the text instead of being its originator16. Writing is the destruction of voice, of every point of origin, according to Barthes. Writing means loosing one’s subject-matter, and one’s identity. The centre of the text is a vacuity since Nietzsche, Derrida argued in a conference at Johns Hopkins University in 1966. The central meaning of the text professed by the author, or in Derridean terms the ‘original or transcendental signified’, has been superseded by a system of differences that decompose meaning ad infinitum. The dethronement of the author brought about by postmodernism in favour of the textual ‘play of the signifiers’, implicated logically the attack on the ‘metaphysics of presence’ of the authorial or narrational voice. It was especially Derrida who tried to dissolve the union between text and voice in modern western culture and to refute the thesis of the communicative function of the text cherished by classical narratology. To quote Gibson’s succinct resume of Derrida’s standpoint: The voice, in fact, is endowed with three kinds of seemingly unlimited power: the power to express an inward and intended sense; the power to grasp the external object; and a power over the signifier itself […]. Writing is the antithesis of speech: inexpressive, external, unsure, slippery, tending to “remove every possible security and ground” from discourse. It disturbs the assumption of self-presence and meaning as
____________ 15 16
Genette [1988](1983: 79). Barthes [1967](1977), Foucault [1969](1984), Derrida (1970). On the death of the author in postmodernism, see Burke (1992).
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full presence. In Rousseau’s words, we manage and contain the disruptive force of writing only by casting it as the simple “supplement” to the spoken word.17
Derrida touches here upon an essential topic: the impact of the written paradigm in modern literature. Western literature of the last two centuries has freed itself from the hegemony of voice and has claimed its own rights of expression at the cost of representation. In other words: in modern literature, it is literary language that interferes as poetic system of expression between the thing being expressed and the reader. The French scholar Jacques Rancière states: Toute communication en effet emploie des signes relevant de modes de signifiance divers: des signes qui ne disent rien, des signes qui s’effacent devant leur message, des signes qui ont valeur de gestes ou d’icônes. La « communication » poétique en général est fondée sur l’exploitation systématique de ces différences de régimes. Le passage d’une poétique de la représentation à une poétique de l’expression fait basculer la hiérarchie de ces rapports. Au langage instrument de démonstration et d’exemplification, adressé à un auditeur qualifié, elle oppose le langage comme corps vivant de symboles, c’est-à-dire d’expressions qui à la fois montrent et cachent sur leur corps ce qu’elles disent, d’expressions qui manifestent ainsi moins telle ou telle chose déterminée que la nature même et l’histoire du langage comme puissance de monde et de communauté.18
Up to the nineteenth century, literature was subordinate to social life governed by the rhetorical efficiency of oral performance. The art of speaking implied a mode of living: people had to be entertained, instructed, supported and comforted by means of story-telling, admonitory speeches and sermons. During the epoch of Romanticism, the epoch of the emancipation of the arts, the paradigm of written language is definitively substituted to the paradigm of oral speech. Literary language emancipates from functional language and claims its own rights: ____________ 17
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Gibson (1996: 167f.) Gibson gives here a brief paraphrase of the major points about “voice” made by Derrida in [1967](1973), [1967](1976), [1972](1982) and [1978](1987). Rancière (1998: 44). This excellent essay attracted my attention thanks to Gibson (2001). Although Rancière concentrates on nineteenth century French literature, his main theses also regard other Western literatures of the same period, as Romanticism and its emancipative forces was a widespread European phenomenon. On the impact of speech on older French culture, see Spitzer (1928). Spitzer (1928: 328) quotes among other supporters of the spoken voice in literature the French literary critic Thibaudet: « Ecrire consiste à prendre un appui sur la langue parlée, à se charger de son électricité, à suivre son élan dans la direction qu’elle donne ».
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Els Jongeneel Le langage désormais dit d’abord sa propre provenance. Mais cette provenance peut aussi bien être rapportée aux lois de l’histoire et de la société qu’à celles du monde spirituel. L’essence de la poésie est identique à celle du langage pour autant que celleci l’est à la loi interne des sociétés. La littérature est « sociale », elle est l’expression d’une société en ne s’occupant que d’elle-même, c’est-à-dire de la manière dont les mots contiennent un monde. Et elle est « autonome » pour autant qu’elle n’a pas de règles propres, qu’elle est le lieu sans contours où s’exposent les manifestations de la poéticité. […] La traduction « poétique » des arts, c’était auparavant l’équivalence des modes différents du même acte de représenter. C’est désormais tout autre chose : la traduction des « langages ». Chaque art est un langage spécifique, une manière propre de combiner les valeurs d’expression du son, du signe et de la forme. Mais aussi une poétique particulière est une version spécifique du principe de la traduction entre langages. […] Et l’interminable description « réaliste » ou « naturaliste » ne relève aucunement du principe du reportage et d’un usage informatif du langage, pas non plus de la stratégie calculée de « l’effet de réel ». Elle relève de la poétique du dédoublement langagier de toute chose.19
Thus, by emphasizing the writtenness of modern culture, postmodernism placed the narrative voice under the hegemony of the signifier. The deconstruction of the metaphysics of voice had begun.
Wrestling with the metaphor of voice In line with postmodernist concerns about the text instead of the spoken word, a generation of post-Genettian scholars of narrative theory who happened to work in the United States at the time, started in the seventies and eighties to reconsider the mimetic illusion of the voice in narrative and its idealist and anthropomorphic implications. The presumed analogy between the oral and the written text, one of the fundamentals of classical narratology, lay under attack. Hence the communicative function of the literary text became suspect. Banfield, Chatman, Prince, Lanser, Hillis Miller, Cohn, Rimmon-Kenan and Culler are the most important names involved in this general rethinking of narrativity. They enlarged narratology up to narrativity in general, including all those elements of the text that in some way are connected with the story. There was meanwhile a general consensus about the need of a scientific approach to narrative theory, hence of the widening of its restricted field of applicability. As the American narratologists were much less impressed than their European colleagues by the death sentence that poststructuralism had pronounced ____________ 19
Rancière (1998: 45f.).
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against the author, they were not convinced either by the idea of textual autonomy. On the contrary, they included the makers (the author and somewhat later, the reader) into the object of research of narratology and they took interest in the ideological aspects of literature. They annexed other forms of expression to the narratological field, such as film and comics, as well as non-fictional texts such as historiography and egodocuments (memoirs, diaries, autobiographies). This also obviously influenced the conceptualization of narrational voice. The debate on voice after Stanzel and Genette concentrated first on the concept of the so-called ‘implied author’ introduced by Booth20, concerning the author’s presence in the text. Secondly, it examined narrative representation of speech and thoughts in free indirect discourse and quoted monologue21. Seymour Chatman for example in Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film (1978) transforms the notion of the ‘implied author’ into a kind of mediator between the author and the narrator. Chatman categorizes the expressivity of the narrational voice according to ‘degrees of audibility’. He classifies explicit selfmention as the highest degree of the narrator’s intrusiveness and set descriptions and temporal summaries as the lowest. On the other hand Susan Lanser, in The Narrative Act: Point of View in Prose Fiction (1981), rejects Chatman’s mediating and narrating implied author and redefines the concept of the implied author in terms of a textual convention. She equates what she calls the ‘extrafictional voice’ with the historical author whom she still considers, however, the ultimate organizing principle of the text. The most radical denunciation of the anthropomorphic prejudices of voice in narrative came from the linguist Ann Banfield22. In Unspeakable ____________ 20 21 22
Booth (1961: 71-76, 211-221). See Pascal (1977), Cohn (1978), McHale (1978), and, for a more recent contribution, Fludernik (1993). On Banfield’s role in the narratological debate on voice, see especially Gibson (1996: 146-151), and the account and critical notes made by Toolan (1988: 119-137). See for instance p. 137 where Toolan pleads for a contextual approach of the text: “Of Banfield’s broader conclusions, then, I am sceptical […] and her more sweeping assertion that narration is speakerless seems more a riddle than an explanation. For me all language, and not merely language-as-discourse, by definition entails a speaker who, in the absence of others, becomes the addressee also. And if narratives are dynamically constructed by processing readers bringing their knowledge to bear as they make sense
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Sentences: Narration and Representation in the Language of Fiction (1982), Banfield makes a distinction between language-as-discourse and language-as-narration. Language-as-discourse, spoken or written, is expressive and communicative; it involves an addressee and refers to a speaker. Narration-as-discourse is neither: it has no subjective coloration and no traces of an addressee. Although there are expressive elements in narrative discourse, these cannot be attributed to a covert narrator. The narrative mode expressing subjectivity, including free indirect discourse, quoted monologue and stream-of-consciousness, that had been generalized by the nineteenth century psycho-realist novel, is not related to the instance of a speaker either. The only representation of speech and thought in narrative, according to Banfield, is to be found in direct speech, indicated by the present tense, proximal deictics and quotation marks: The language of narrative, because it is always written, enjoys a special ‘classless’ status speech never has. It is separated from the person of its author and the subjective coloration even the most objective statement might have in the mouth of a flesh-andblood speaker. The study of the genesis of a work might trace back to the author features of vocabulary and style, including dialect words. But within the fictional text, these words lose their markedness; they become as transparent as any other words as far as the creation of the fiction is concerned. What they do not create is the voice and personality of an author/narrator; for them so to function, they must be enclosed within quotation marks. For […] the theory of narrative style presented here predicts that the only place for representations of the speaking voice within a narrative text is really in some sense outside it. Its boundaries are set by a graphic notation with no phonetic realization—inverted commas, as noted earlier, can only be read aloud by a gesture or a paraphrase like “I quote”.23
Moreover, whereas Genette had postulated a transformational relationship between direct, free indirect and indirect discourse, whereby the narrator respectively gives the floor to the characters, mixes the thoughts and speech of the characters with his own speech or retells them entirely in his own words24, Banfield defined these forms as being ‘unspeakable’. “It is writing”, Banfield concludes in a surprisingly postmodern way, “which allows the literary work to take on an objective life independent of its ____________ 23 24
of or with texts, then our theory of narrative cannot be grounded solely on context-free grammar”. Banfield (1982: 250). Genette [1972](1980: 162-189).
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author”25. Because of the objective (not subject-bound) nature of writing, the narrative text, according to Banfield, is not a means of communication. By claiming a speaking narrator in the text, she argued, narratology manifestly tried to protect itself against the abstract power of narrative language. This statement swept away the main pillar of classical narratology. Banfield’s polemic theses directed against the ontology of voice in narrative theory provoked a lot of reactions in narratologist circles. Some theorists felt attacked in the heart of their subject matter. Probably the most violent protests came from Genette himself. In Narrative Discourse Revisited he rejects without hesitation what he calls the myth of the narratorless text: Ann Banfield quotes with some contempt (pp. 68-69) those authors (Barthes and Todorov, for example) who have affirmed […] the impossibility of a narrative without a narrator. Nevertheless, I place myself unhesitatingly on the side of that pitiable band, since the main point of Narrative Discourse, beginning with its title, reflects the assumption that there is an enunciating instance—the narrating—with its narrator and its narratee, fictive or not, represented or not, silent or chatty, but always present in what is indeed for me, I fear, an act of communication. For me, therefore, the widespread affirmations […] according to which no one in the narrative is speaking arise not only from the force of convention but also from an astonishing deafness to texts. In the most unobtrusive narrative, someone is speaking to me, is telling me a story, is inviting me to listen to it as he tells it, and this invitation—confiding or urging— constitutes an undeniable stance of narrating, and therefore of a narrator. […] Narrative without a narrator, the utterance without an uttering, seem to me pure illusion and, as, such, ‘unfalsifiable’ […]. When I open a book, whether it is a narrative or not, I do so to have the author speak to me. And since I am not yet either deaf or dumb, sometimes I even happen to answer him.26
In the heat of his argument, Genette even dared to reintroduce the author into the narrative arena27. Obviously he could not retract the idea of the speaking voice, the touchstone of his narrative model, its organizing principle, for the reason that he was unwilling to give up the assumption of the communicative nature of the text. This has also to do with the fact that Genette had no eye for the position of the reader in literary semiosis, one of the blank spots in literary structuralism. ____________ 25 26 27
Banfield (1982: 253). Genette [1983](1988: 100ff.). I do not agree with Fludernik who, referring to this passage, concludes that Genette equates the narrator with the author (2001: 621). Genette only insists here on the communicative function of literature.
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Banfield’s remarks on reported speech28 partook in a contemporary debate among narratologists on the qualitative function of voice in narrative, a debate aroused mainly by Genette’s categorization in Narrative Discourse of what he calls ‘narrative of words’. Genette departs from the question ‘who speaks?’, ‘when’ and ‘from where’, but does not take into account how the voice speaks. Narratologists in the eighties rebelled against this “value-neutral conception of narrative”29 (“[…] structuralist narrative theory gaily combines Raymond Roussel and Ian Fleming, La Princesse de Clèves and France-Soir, Flaubert and Borororo myth”30), and tried to reintroduce the ‘how’ into narrative theory. Qualitative aspects of voice such as tone, idiomatic signals, diction—in short the expressive potential of style, had to be taken into account in order not to banish aesthetic and ethic value from narrative analysis. Most narratologists, contrary to Banfield, stressed the expressive function of reported speech. They supported a ‘contextualist’ approach to the literary text, and were concerned not with the static product but with the variable process of narrative. Therefore they turned to the reader who up to then had been a neglected companion in classical narratology.
Dialogizing the voice The shift from author to reader in narrative theory marked a decisive turn in the discussion on voice, because it definitively focused on the text as a mode of written language and not a derivative of speech. This orientation towards the reader was the result of a general interest taken by literary theory in pragmatics, after the decline of postmodernism in the late eighties and its one-sided accentuation of textual syntactics and semantics. Once literary pragmatics and the reader came into the picture, the metaphor of narrational voice was linked with rhetorical strategy and stylistic expressivity. The voice was no longer considered a quasi autonomous, extra- or intra-diegetic agent of meaning that structures the text, but was ____________ 28 29
30
Banfield (1982: 65-108). Brenkman (2000: 282). Brenkman juxtaposes in this excellent article narrative theory and novel theory. He pleads for a new formalism in novel theory in order to overcome the weaknesses of classical narratology. Ibid. Indeed this syncretism was not only a logical consequence of Genette’s model, it was also characteristic of still earlier structuralist approaches to narrative; see for example Barthes (1957), and the early studies by Umberto Eco.
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interpreted as a hermeneutic procedure at the reader’s disposal, “a pragmatic aspect of strategic reading”31. For the conceptualization of the role of the reader, in fabula et extra, narratologists recurred to reader-oriented disciplines, such as the hermeneutics of Hans-Georg Gadamer, the reception theory of the Constance School (Jauss, Iser) that relied heavily on Gadamer, and somewhat later to reader-response criticism (promoted among others by Stanley Fish and Norman Holland). Thereby the empirical approach finally entered the narratological field. Meanwhile the pragmatists judged the field of applicability of classical narratology—the modernist prose-canon—far too restrictive. The theory of narrative should not exclusively be synchronic but also diachronic, it should not only take into account modernist prose, but also novels and short stories from other periods in literary history, lyrics, and non-literary texts. Moreover, it had to be an interdisciplinary discipline, including film, theatre, visual art, and music. And last but not least, ethics, a burning item in contemporary postcolonial society, had to become a topic of narratological research. The prelude to what would be no less than a small revolution in the narratological camp, the rehabilitation of the reader, consisted of a renewed interest into the ambiguity and openness of the literary text in relation to the hermeneutics of reading. The names of two scholars need to be mentioned who inspired these studies: Hans-Georg Gadamer and Mikhail Bakhtin. In Gadamer’s hermeneutics32, the metaphor of the ‘audible voice’ is kept alive, although in a sense quite different from that supported by classical narratology. The voice of the text according to Gadamer is not a fixed source of meaning, but a dialogical concept. Gadamer sustains that every text arises out of a dialogue. It is the (open) answer to a problem, political, existential, aesthetic, connected to the historical context of the maker(s)33. Therefore Gadamer conceives of reading as a dialogue between the historical situatedness of the text and that of the reader, a dialogue that will result in the so-called ‘fusion of ____________ 31 32 33
Aczel (1998: 493). Gadamer (1960). The German reception theorists took over this thesis somewhat later. Hans-Robert Jauss (1975) argues that a reader will be interested in a text as long as the question to which the text offers an answer, will remain of some interest to him. Jauss relates the dialogic character of the text to the question-and-answer-model for the reconstruction of historical facts, introduced by the historian Collingwood in 1937.
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horizons’ (‚Horizontverschmelzung‘). Reading implies ‘letting the text speak’, conversing with the alterity of the text, in the sense that the reader out of the prejudice of his own historical frame or ‘horizon’ projects a meaning unto the text and constantly revises this meaning. Thereby Gadamer presents reading as a process of hearing the voice of the text, of intoning and modulating. Because of this dialogic concept of reading, Gadamer keeps alive the metaphor of the audible voice, although he meanwhile deconstructs it by emphasizing the concretization of the textual strategies by the reader. The oldest promoter however of the metaphor of the dialogical text was the Russian scholar Mikhail Bakhtin. Bakhtin introduced his ideas on multi-voiced or ‘polyphonic’ discourse in Problems of Dostoevsky’s Poetics34. For Bakhtin, Dostoevsky’s novels are arenas of conflicting voices because of their ambiguity and inconclusiveness. By ‘voice’ Bakhtin means not only an utterance, but also an ideology or existential attitude as expressed in the text. Plot, characters and space, are presented dialogically, by means of the juxtaposition of conflicting events, attitudes, and different spaces. Characters are depicted as multifaceted beings, dialogizing or soliloquizing, in conflict with themselves or with others, discussing, thinking, doubting, and weighing their own words and thoughts and those of others. Or they are simply juxtaposed to other characters and the different circumstances in which they find themselves are indirectly compared to each other. The literary text as a whole is also dialogic, according to Bakhtin, because it consists of a heteroglossia of existing discourses, languages and texts: For Bakhtin, the modes of dialogue in narrative as in life are all merely instances of a larger dialogue of social and discursive forces operating through and as languages. All such ‘languages’ as used by professions, generations, classes […] are “specific points of view on the world, forms for conceptualising the world in words, specific world views, each characterised by its own objects, meanings and values”.35
Departing from his ideas on textual dialogue in Dostoevsky, that he later on extended to the novel in general, Bakhtin handles over an extended glossary of auditory metaphors. He clearly distinguishes between voice as an utterance in verbal communication and voice as a metaphor in novelistic discourse. For him, narrative voice is a fundamentally composite ____________ 34 35
Bakhtin [1929](1973). Gibson (1996: 154). The Bakhtin-quotation stems from Bakhtin [1975](1981: 291292).
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entity. It consists of a specific, actively composed configuration of voices. Its identity resides in the traces of its artistic organization. However, Bakhtin’s vision on the multi-voiced text rather confirms than refutes the ‘onto-theology’ of voice cherished by classical narratology. Moreover, due to his interest in linguistics, Bakhtin hardly takes into account the role of the reader. He is merely interested in the pragmatics of the author as the maker of the text who communicates something to an (idealized) audience, and in the text itself as a dialogical form of interaction36. In Problems of Dostoevsky’s Poetics for example, he continually refers to the ‘author’s voice’ in the text37. As already said the communication-scheme of sender and receiver projected unto the literary text underlines rather than deconstructs the illusion of the audible voice in the text. Furthermore, Bakhtin believes in an encompassing structure of the aesthetic object within which the dialogical activity occurs. This matrix comes close to that of the organizing voice postulated by classical narratology38. As is well-known, poststructuralism took over Bakhtin’s ideas on the multi-voiced text by exclusively focusing on the writtenness of narrative discourse. It was precisely Julia Kristeva who forged the notion of intertextuality out of Bakhtin’s ideas on dialogic discourse, silencing at the same time, in imitation of Barthes, the authoritative voice of the maker39. So indirectly Bakhtin played a role in postclassical revisions of narrative voice-conceptions. Significantly however, even in later studies, Kristeva still sticks to a kind of subjectal and semi-vocal structure of narrative, to be conceived of as a murmur of disparate voices40. Apparently the metaphor of voice remains linked with French narrative theory.
____________ 36 37 38 39 40
On the distinction made by Bakhtin between linguistics and poetics, see Todorov (1981: 67-93). See Aczel (1998: 483). See the comment by Gibson (1996: 152-156). In Kristeva (1969). See Kristeva [1974](1984). Kristeva calls this articulative basis of the text the chora. The chora is be conceived as a process of changes and stases. See the pertinent remarks on Kristeva’s notion of chora in Gibson (1996: 159f.).
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Towards a reader-oriented narratology: voice as a mode of reading The ultimate chapter dedicated up to now to narrative voice stems from the latest generation of postclassical narratologists of the ‘90’s.41 They definitively settled scores with the axioms of textual autonomy and narrational voice as professed by classical narratology, by focusing exclusively on the reader as the ultimate producer of the text. They undertook a critical reassessment of narratological concepts, among which the notion of voice. The voice is no longer an ‘anima’ but a textual function or effect, a configuration of stylistic and rhetorical strategies to be narrativized by the reader. Monika Fludernik, for example, defines narrative voice as follows: The linguistically generated illusion of a voice factor which can be defined empirically by a complex set of interrelated textual and contextual features and is corroborated by a mimetic reading of the text that stimulates this projection of a speaker or reflector function.42
Given the impressive corpus of narratological studies on which Fludernik, in Towards a ‘Natural’ Narratology, bases her account of recent narrative theory, I consider her ideas on ‘voice’ in the literary text and more generally the alliance she proposes between reader-oriented narratology and cognitive science representative of the most recent revisions of the concept43. Therefore I shall conclude my essay by briefly passing them under review. Three sets of terms in the above definition of voice attract attention: the illusion of voice is linguistically generated, and its effects depend on mimetic reading which has to be defined empirically. To put it briefly, postclassical narratology leans towards linguistics in the first place, more heavily than the first generation of narrative theorists who mainly made a metaphoric use of Saussure’s communication-based scheme of the verbal message. It analyzes reading empirically with the help of cognitive linguistics. It defines reading as a way of narrativization and naturalization by comparing it with the way in which people deal with situations in ordinary life. ____________ 41 42 43
For an overview, see Herman (1999: 27f., note 2). Fludernik (1996: 344). Quoted by Aczel (2001: 10). Naturally this does not imply that recent theorists always agree with Fludernik. For a critical review of ‘natural narratology’, see for example Aczel (2001: 608-615).
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Cognitive linguistics tries to locate linguistic processes within more general processes of comprehension of real-life situations. In the same way narratology based on cognitive parameters (which Fludernik coins ‘natural narratology’) attempts to explain the narrative illusion of voice by patterns familiar to the reader. These natural signs in the text are in the first place oral patterns of conversation and story-telling, which remain in force in more sophisticated written narratives. Interaction between natural and consciously structured forms of telling becomes possible on the basis of comparable cognitive structures. Hence readers are inclined to mimetic reading: they construct meanings on the basis of frames, prototypes, packages and schemata connected with real-life situations. As in real life, reading implies familiarizing the unfamiliar44. Meanwhile Fludernik underlines that forms of natural storytelling, as well as their written counterparts, are determined by cultural and contextual frames. Narratives are translations of real-life experience or “experientiality”: Experientiality can be aligned with actantial frames, but it also correlates with the evocation of consciousness or with the representation of a speaker role. Experientiality, as everything else in narrative, reflects a cognitive schema of embodiedness that relates to human existence and human concerns. The anthropomorphic bias of narratives and its correlation with the fundamental story parameters of personhood, identity, actionality, etc., have long been noted by theoreticians of narrative and have been recognized as constituting the rock-bottom level of story matter.45
It is according to these natural parameters of cognition that Fludernik proposes to partially rewrite older narratology (especially Stanzel) and meanwhile to extend considerably its field of application. Besides the modernist canon of prose texts privileged by classic narratologists, other literary genres, other periods of literary history, other forms of expression, now come on the screen thanks to the natural optics. The narrative structure in whatever medium, according to Fludernik’s natural narratology, ____________ 44
45
By departing from real-life situations as the main base of reading, Fludernik gets in trouble when confronted with anti-mimetic texts (decadent and postmodern literature for example—see Fludernik (1996: 316): “Narrativization reaches its limits precisely where realist modes of understanding cease to be applicable”). We are back in the realist canon of classical narratology. As other critics also have noted (among them Nünning (1999), and Aczel (2001, 610f.)), not only real-life situations but also (the knowledge of) literary conventions and literary history are part of the reader’s packages with the help of which he constructs the meaning of texts. Fludernik (1996: 12f.).
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relies on the same cognitive parameters. Besides the synchronic perspective on prose, narratology should also be diachronically oriented46. As to the representation in narrative of speech and thought, which interests us particularly here because it is related to narrative voice, it is transposed from the position of the narrator to that of the reader. The distinction between discourse and story, on which Genette’s model is based, is successfully reformulated in terms of the illusionist narrational act and the story-world, both to be apprehended by the reader. The aspect of focalization is substituted by the presentation of consciousness, of a teller or character on stage. If there is none, Fludernik proposes ‘figuralization’ for a perceiving consciousness that the reader fills in by projecting himself on the scene or by attributing the consciousness to some consciousnesscarrier (the ‘common opinion’ for example), or ‘reflectorization’ for the “juxtaposition of narrational and figural perspectives resulting in a ‘dual voice’ conveying stereotypical opinions”47. In general reflectorized passages contain an ironic overtone and alert the reader to evaluate the story critically. As natural narratology points to conversational narrative as the central mode and medium of narration48, it fatally keeps the metaphor of voice firmly in the saddle. Although she is well aware of the voice being a rhetorical function, both a set of textual and contextual features and a projection by the reader, Fludernik nonetheless is mainly interested in narrative as a substitute of oral story-telling and in reading as a variant of hearing49. Therefore she reintroduces in a certain sense the oral paradigm of the speaking voice cherished by classical narratology. “In fact, then”, affirms Gibson, narratology insistently puts into question the mimetic premise on which the concept of narrative voice or voice in narrative depends. But it continues to cling to that concept
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See Fludernik (2003: 331-348). Fludernik (1996: 217). On figuralization and reflectorization in relation to the voiceeffect, see 178-221. The concept of reflectorization stems from Stanzel’s A Theory of Narrative (1984). In the case of reflectorization there is no character on stage whose thoughts and words are represented. The opening chapter of Thomas Mann’s Tod in Venedig offers a convincing example, as well as the many telling-passages in Flaubert’s Madame Bovary concerning Emma’s obsessions. Fludernik (1996: 332). See also Jahn (2001: 695): “As has been established in a number of cognitive studies, the input of written text goes through a level of phonological processing both before and after it is conceptually understood”.
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itself. […] The concept of voice authenticates the text as living presence. By and large, narratology has served only to confirm the results of this process. […] Paradoxically, in literary narrative, voice is properly material only in its written or textual dimension. Paradoxically again, insofar as narrative theory has been able to free the concept of voice from contamination by its other (writing), it has only been by a process of metaphorization or allegorization.
And he concludes: […] theory has sought to minimize the distance between narrative and world [this remark brings to mind some of Banfield’s observations, E. J.]. It has seldom problematized the relationship between the technological representation or reproduction of voice in narrative and what Fludernik calls ‘embodied’ voice, frequently assuming that the one can be practically identified with the other.50
The pragmatic turn effected by postclassical narratology has definitively dethroned narrative voice as an “autonomized spirit” (Gibson), the central carrier of meaning, and reinstalled it into the realm to which it belongs, the realm of the rhetorical and reader-bound constructs of the text. It thereby disclosed other non-literary systems for narratological enquiry. In its treatment of narrative voice, however, narratology is reluctant to completely renounce the audible, because it cannot conceive of storytelling as an autonomous mode of written language. Writing is audition without hearing. We will have to live and to work with the metaphor of voice. In the beginning was the Word, not the Text, pace Derrida. In our time the body and the bodily functions are prominent again in the arts. The subject and its stories are back in literature and so is history. This revenge by the actual epoch dominated by reality and documentary realism on the postmodernist formalism of the past three decades will open new perspectives on the ambiguous and difficult partnership between the written and the audible. Hence narrative theory survives as a humble servant that has to know and to interpret the Word. As long as Sheherazade survives, narrative theory will persist in capturing her voice.
____________ 50
Gibson (2001: 643, 645, 654).
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MATTHIAS AUMÜLLER (Hamburg)
Die Stimme des Formalismus. Die Entwicklung des Stimmenbegriffs im russischen Formalismus Abstract The concept of voice was introduced into narrative theory by the Russian Formalist Boris Eikhenbaum. Under the label of “skaz” he tried to single out a property of prose art, which should serve as a criterion for its distinction from other forms of literary art. Eikhenbaum’s concept was adopted by Mikhail Bakhtin, who integrated it in his theory of dialogism and blended it with a more metaphorical concept of voice. The article explores this development of the concept of voice in the Russian tradition and relates it to Genette’s completely different concept termed “voix”. It will be argued that the concept of voice in the skaz-context is part of a theory of interpretation and should be distinguished from narratology’s basically descriptive concept of the narrator.
Die Stimme ist in der klassischen Narratologie eine Kategorie, die „sowohl die Beziehungen zwischen Narration und Erzählung wie die zwischen Narration und Geschichte umfaßt“1. Gemeint ist die Erzähl- bzw. Vermittlungsinstanz, die mit den genannten Ebenen bestimmte Beziehungen eingeht. Warum Genette diese Kategorie so getauft hat, liegt an der (ihm als Begriffsreservoir dienenden) grammatischen Nomenklatur im Französischen, in der das Genus verbi „voix“ heißt, und daran, daß er in der Alternative, dem Ausdruck „Person“, noch ärgere, ihm unliebsame psychologische Konnotationen sieht2. Wenn in der deutschen Überset____________ 1 2
Genette [1972](1998a: 20). Genette [1972](1998a: 19).
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zung Genettes Kategorie mit dem Ausdruck „Stimme“ benannt wird, so geht der grammatisch-terminologische Aspekt verloren. Übrig bleiben einige Verwirrung stiftende Konnotationen, die sich in der Literaturwissenschaft vor allem der gleichlautenden Terminologie Michail Bachtins verdanken. Hängen die verschiedenen Begriffe Genettes und Bachtins aber vielleicht doch zusammen? Denn schon im russischen Formalismus – an den Genette in der Vermittlung Todorovs indirekt und Bachtin direkt, aber kritisch anknüpfen – hat sich ein Stimmenbegriff herausgebildet, der bis in die zeitgenössische skaz-Theorie wirksam geblieben ist. In der folgenden historisch ausgerichteten Untersuchung geht es um die Genese des skaz-Begriffs im Zusammenhang mit dem Begriff der Stimme. Anschließend sollen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Stimmenbegriffen deutlich gemacht werden.
1. Stimme und skaz Der Stimmenbegriff im russischen Formalismus wird nicht immer mit dem russischen Ausdruck für ,Stimme‘ (golos) verbunden. Doch ist ‚Stimmlichkeit‘ konstitutiv für eine Kategorie, die unter dem Namen skaz (von skazat’: ‚sagen‘, und rasskazat’: ‚erzählen‘) berühmt geworden ist und eine wichtige Stelle innerhalb der formalistischen Prosa-Theorie einnimmt. Bevor genauer auf die Beziehung von Stimme und skaz in formalistischen und postformalistischen Modellen eingegangen wird, seien zu einer ersten Orientierung eine aktuelle Bestimmung des skaz und ein Beispiel aus der deutschsprachigen Erzählliteratur gegeben. In Anlehnung an Wolf Schmids Definition der grundlegenden skazForm läßt sich skaz als mögliche Erscheinungsform der Erzählerrede festlegen3. Diese verrät zunächst anhand stilistischer Merkmale einen einfachen, ungebildeten Erzähler, dessen Rede unprofessionell und unbeholfen ist. Lexik, Syntax und Grammatik der Erzählerrede sind es, die diesen Befund indizieren. Entsprechend verallgemeinern die traditionellen Begriffe zur Bestimmung des skaz die stilistischen Marker der Erzählerrede. Klassische Merkmale des skaz sind Mündlichkeit, Umgangssprachlichkeit, Spontaneität und Leseransprache, wie sie das folgende Beispiel illustriert: ____________ 3
Wolf Schmid nennt sieben differenzierende Merkmale (2005: 170-172). Eine alternative skaz-Theorie wurde von Irwin Titunik entwickelt (1977).
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Jetzt ist schon wieder was passiert. Aber ein Tag, der so anfängt, kann ja nur noch schlechter werden. Das soll jetzt nicht irgendwie abergläubisch klingen. Ich gehöre bestimmt nicht zu den Leuten, die sich fürchten, wenn ihnen eine schwarze Katze über den Weg läuft. Oder ein Rettungsauto fährt vorbei, und du mußt dich sofort bekreuzigen, damit du nicht der nächste bist, den der Computertomograph in hunderttausend Scheiben schneidet. Und Freitag der Dreizehnte sage ich auch nicht. Weil es ist Montag der 23. gewesen, wie der Ettore Sulzenbacher mitten in der Pötzleinsdorfer Straße gelegen ist und zum Steinerweichen geheult hat.4
Der vorgestellte skaz-Begriff stützt sich demnach zunächst auf sprachliche Eigenschaften eines Textes. Es sind dies jedoch Eigenschaften, die nicht aus dem Text allein ersichtlich sind, sondern immer erst auf dem Hintergrund einer Bezugsgröße identifiziert werden können. Diese Bezugsgröße ist die (oder eine) sprachliche Norm, von der die skaz-Rede abweicht. Dies gilt für mehrere Ebenen. Nicht normgerecht kann die skazRede nicht nur in bezug auf die allgemeine zeittypische Umgangssprache sein, sondern auch in bezug auf die Schrift- oder Buchsprache. Beides wird häufig unter dem erwähnten Aspekt der Mündlichkeit der skaz-Rede zusammengefaßt. Doch ist eine Erzählerrede, die bloß vom buchsprachlichen Standard abweicht, noch kein Fall von skaz. (Es würden sonst zu viele Texte als skaz klassifiziert werden müssen, die – wie z. B. zahlreiche Texte Dostoevskijs mit ihren nicht buchsprachlichen Diminutiven – in der Regel nicht als skaz gelten.) Es kommen entsprechend einige weitere Charakteristika hinzu, die vor dem Hintergrund der Norm nicht nur als ungewöhnlich, sondern als Fehler wahrgenommen werden. Interessanter für die Interpretation ist jedoch ein Aspekt des skaz, der sich aus der Figurenvorstellung ergibt, die sich Leser von skaz-Texten machen. Dieser Aspekt erwächst nach Schmid aus der Spannung zwischen Erzählintention und Erzählfaktum, die daraus besteht, daß der Erzähler unfreiwillig Dinge sagt, von denen man begründetermaßen glauben kann, daß er sie lieber verschwiegen hätte5. Damit ist ein weiteres Charakteristikum des skaz angedeutet: das der ‚Zweistimmigkeit‘. Die Erzählerfigur des skaz hat, so scheint es, mehrere ‚Stimmen‘: die primäre Erzählstimme des Erzählfaktums und die sekundäre innere Stimme, die man als Rezipient in manchen Fällen zu erschließen geneigt ist. Doch ist es vielleicht voreilig, diese innere Stimme als Stimme zu klassifizieren, da es sich dabei eher um Intentionen und Überzeugungen handelt, die man dem ____________ 4 5
Wolf Haas, Komm, süßer Tod, Reinbek 1998, S. 5. Schmid (2005: 171).
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Erzähler zuschreibt und die – aus welchen Gründen auch immer – im Gegensatz zu dem stehen, was er in der Erzählerrede explizit äußert. So reserviert Schmid ‚Zweistimmigkeit‘ für die Beziehung der Erzählerrede zum abstrakten Autor, der sich in ihr ebenfalls mitteilt6. In der Tat erscheint der skaz immer auf eine andere (ebenfalls implizierte, aber nicht auf die Erzählerfigur zu beziehende) Rede bezogen, auf die des (abstrakten/impliziten) Autors oder auf eine andere als Bezugsgröße angenommene Instanz, je nachdem, was für ein Kommunikationsmodell man unterlegt. Ohne diese Zweistimmigkeit würde der skaz als solcher nicht wahrnehmbar sein. Aber auch hier stellt sich letztlich die Frage, ob man bei dem, was die Erzählerrede impliziert, von einer zweiten Stimme sprechen kann. Was sie impliziert, ist eine Norm, vor deren Hintergrund die aktuelle skaz-Rede als skaz wahrgenommen werden kann. Diese Norm ist eine meist nicht explizierte, sondern intuitiv erfaßte Größe. Skaz läßt sich im wesentlichen also auf zwei Aspekte festlegen: erstens auf den Eindruck von Mündlichkeit, der mit Hilfe von diversen sprachlichen Verfahren erreicht wird; zweitens auf das Phänomen der sog. Zweistimmigkeit. Wie ist es zu diesen Aspekten gekommen?
2. Mündlichkeit Der literaturwissenschaftliche Begriff des skaz geht zurück auf Boris öjchenbaum, der ihn in den Jahren 1918/19 in zwei Aufsätzen bekannt machte – und zwar unter dem ersten der eben genannten Aspekte (Mündlichkeit). Er verfolgte damit zwei Ziele. Erstens ging es ihm darum, einem bis dahin weitgehend unberücksichtigt gelassenen Phänomen von Erzähltexten zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen und, zweitens, einige Grundsätze der formalen Methode auf Prosawerke anzuwenden (und damit ihre Tragfähigkeit und allgemeine Geltung zu demonstrieren). öjchenbaums Begriff wurde rasch aufgegriffen und avancierte zu einer Kategorie, die viele Literaturwissenschaftler in den 20er Jahren inspirierte, so daß öjchenbaum selbst mit einem weiteren 1925 entstandenen Aufsatz noch einmal zu diesem Thema Stellung nahm (öjchenbaum [1927] 1969c). Eine besondere Schwierigkeit bestand darin, die weitläufige Bestimmung des skaz als mündliches Erzählen einzugrenzen. Schon ganz zu ____________ 6
Ebd.
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Anfang hatte öjchenbaum eine Reihe von Verfahren genannt, die den Eindruck von Mündlichkeit, die „Illusion des skaz“, hervorrufen ([1918] 1969a). Sie reichen von eher äußerlichen, wie der Mündlichkeit suggerierenden Wendung an Zuhörer bzw. Ankündigung einer mündlichen Binnenerzählung in einem Rahmen, zu solchen Verfahren, die die Erzählerrede durch spezielle Lexik, Syntax und Grammatik als mündliche ausweisen. Doch waren diese Verfahren zu breit gestreut, als daß der Begriff des skaz auf eine bestimmte Menge von Erzähltexten verbindlich hätte angewendet werden können. So mag die in einem Rahmen vorgenommene Ankündigung einer Binnenerzählung als mündliche Rede zwar kurzfristig die Illusion von Mündlichkeit hervorrufen, doch wenn die Binnenerzählung im selben schriftsprachlichen Stil verfaßt ist wie der Rahmen, fällt die Illusion schnell in sich zusammen. Entsprechend schränkt öjchenbaum den skaz-Begriff später ein und klammert solche Fälle wie Wendungen an den Rezipienten aus7. Auch was er eher provisorisch als „ornamentalen skaz“ bezeichnet8, hat mit dem mündlichen Erzählen (auch für öjchenbaum selbst) nicht mehr viel gemein9. Umgekehrt rechnet er Dialoge, in denen nicht die „Sujetfunktion“ dominiert, sondern die Funktion sprachlicher Charakterisierung der Figur z. B. durch milieuspezifische Ausdrücke, „in gewissem Maße“ zum skaz10. Für den Zusammenhang von skaz und Stimme aufschlußreich ist, wogegen öjchenbaum den Begriff des skaz richtet. Er sieht in ihm ein narratives Phänomen, das er anderen gegenüberstellt, Phänomenen, die für ihn buchsprachlicher Herkunft sind und insbesondere die Romankunst charakterisieren: Dialoge, weitläufige Beschreibungen und komplexe Handlungen11. Diese Gegenüberstellung findet sich in zugespitzter Weise auch im folgenden, weithin bekannten Aufsatz öjchenbaums über Gogol’s Erzählung Der Mantel. Dialog und Beschreibung fallen dabei weg. ____________ 7
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10 11
öjchenbaum [1927](1969c: 218). – Wie kompliziert die Bestimmung eines Textes als skaz anhand dieses Kriteriums wird, zeigt Viktor Vinogradov, der auf die jeweiligen sprachlichen und stilistischen Gepflogenheiten einer Epoche aufmerksam macht. Der Stil von Turgenevs Erzählern sei zu dessen Zeiten als skaz empfunden worden und später selbst zur Norm der Literatursprache avanciert [1926](1969: 196). öjchenbaum [1927](1969c: 237). Den lyrischen Monolog und verwandte Arten der Rede, die nach öjchenbaum oratorischen oder deklamatorischen Charakter haben, klammert er gleichfalls aus dem skazBereich aus und klassifiziert sie als buchsprachliche Phänomene [1927](1969c: 212). öjchenbaum [1927](1969c: 215, 219). öjchenbaum [1918](1969a: 162).
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öjchenbaum stellt skaz dem Wechsel von Ereignissen und Situationen gegenüber12. Steht wie im Abenteuerroman letzterer im Vordergrund, haben skaz-Elemente lediglich eine Hilfsfunktion und dienen der Verknüpfung von Ereignissen. Ist umgekehrt der skaz „Organisationsprinzip“ der Erzählung, tritt das Erzählen selbst in den Vordergrund und die Ebene der Ereignisse zurück13. Daran hält öjchenbaum auch später noch fest: „Nicht der skaz als solcher ist wichtig, sondern die Intention auf das Wort, auf die Intonation, auf die Stimme, sei es auch in schriftlicher Transformation“14. Im skaz erblickt er nur das Symptom eines grundlegenden Prinzips, das konstitutiv für die formalistische Konzeption der poetischen Sprache ist. Verfahren, die den Eindruck von Mündlichkeit hervorrufen, verweisen nach öjchenbaum auf die sprachliche Verfaßtheit des Kunstwerks selbst. Der skaz illustriert damit das formalistische Prinzip der Selbstwertigkeit (samocennost’) bzw. des Autotelismus der Kunst. Nicht die „logische oder sachliche“ Ebene ist im skaz bedeutsam, sondern die „lautliche Hülle eines Wortes, sein akustischer Charakter“15. Über öjchenbaums Klang-Fixierung hinwegsehend, könnte man auch verallgemeinernd sagen: Nicht die Handlung, sondern die Vermittlung möchte öjchenbaum in den Mittelpunkt der Prosa-Theorie stellen. Damit hat öjchenbaum nicht nur eine Seite der Erzählliteratur charakterisiert, die vor ihm kaum beachtet worden war, sondern auch formalistische Grundsätze auf die Erzählprosa angewendet. Weitergehend verfolgte er das Ziel, die Prosa-Theorie mit diesem an der sprachlichen Oberfläche orientierten Ansatz auf eine ebenso feste Grundlage zu stellen, wie es den Formalisten für die Verstheorie mit dem Rhythmus als Basiskategorie bereits gelungen war16. Explizit stellt er diesem Ansatz die Alternative gegenüber, nach der das Sujet als Ausgangspunkt dienen soll; dies hält er für eine Fehlentwicklung17. Er vertritt die These, daß der skaz das grundlegende Element ist, dessen Einfluß sich nicht nur auf der Satzebene, sondern auch in der ____________ 12 13
14 15 16 17
öjchenbaum [1919](1969b: 122). öjchenbaum [1919](1969b: 122). – Titunik kritisiert, daß mit Erzählstil und erzählter Handlung zwei Größen gegeneinander ausgespielt werden, die einander durchaus nicht ausschließen (1977: 119). öjchenbaum [1927](1969c: 241). öjchenbaum [1919](1969b: 129). öjchenbaum [1927](1969c: 241). Ebd.
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Komposition offenbare18. Im Kern ist öjchenbaum also der Meinung, daß die Theorie der Erzählprosa sich in erster Linie auf das Erzählen selbst zu stützen habe, auf die Erzählstimme, wie man auch sagen könnte. Es kommt ihm auf die Vermittlungsinstanz an, denn solche Texte, in denen die erzählerische Vermittlung im Hintergrund steht, hält er offenbar nicht für genuin erzählerisch, sondern für jeweils dramatisch, deskriptiv oder feuilletonistisch19. Wie Jurij Striedter resümiert, ist es zu einer solchermaßen fundierten formalistischen Prosa-Theorie nicht mehr gekommen20. Und wie sie aussehen sollte, läßt sich aus den mehr als vagen Andeutungen kaum rekonstruieren. Sicher indes ist, daß die ‚Stimme‘ als Kategorie in öjchenbaums künftiger Erzähltheorie eine zentrale Rolle spielen sollte. Wissenschaftshistorisch gesehen, ist dieser Umstand nicht völlig überraschend. öjchenbaum selbst weist, zunächst durchaus anerkennend, auf die damals berühmte Ohrenphilologie Eduard Sievers’ hin, deren Errungenschaften er auf die Theorie der Prosa übertragen will21. Auch wenn das theoretische Umfeld der Ohrenphilologie mit ihrer Nähe zur Psychologie einerseits und Textkritik andererseits nichts mit dem russischen Formalismus zu tun hat, bildet sie ein nicht zu übersehendes Areal der damaligen europäischen Forschungslandschaft22. öjchenbaum nennt mit Otto Ludwig noch eine zweite Quelle als Ausgangspunkt für seine Gegenüberstellung von Erzählfunktion und Sujetfunktion23. Ludwig unterschied zwischen zwei Typen, der eigentlichen Erzählung und der szenischen Darstellung, wobei er der letzteren den Vorzug gab und dies vor allem mit (vermeintlich) größerer Leserfreundlichkeit begründete24. Die Bewertung dieser Unterscheidung erinnert letztlich mehr an die zwischen showing und telling, die in der englischsprachigen Erzähltheorie im Anschluß an Henry James entwickelt wurde25, als an öjchenbaums Konzeption. Ludwig benutzt bereits Lubbocks ____________ 18 19 20 21 22 23 24 25
öjchenbaum [1918](1969a: 160). öjchenbaum [1927](1969c: 210). Striedter (1969:LII). öjchenbaum [1918](1969a: 160). Vgl. Meyer-Kalkus (2001: 73-142). Vgl. auch öjchenbaums ausführliche Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von der Ohrenphilologie (1922: 11-19). öjchenbaum [1927](1969c: 208). Ludwig (1891: 203f.). Lubbock (1921: 62).
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suggestive Formulierung von der szenischen Erzählung (showing), in der „die Geschichte sozusagen sich selbst erzählt“26. Neben diesen beiden Größen ist noch eine dritte Größe zu nennen, auf die öjchenbaum selbst nicht verweist. Es handelt sich um frühe germanistische Untersuchungen zur Erzähltheorie, die kurz nach der Jahrhundertwende entstanden und auch in Rußland rezipiert wurden27. Gegenstand dieser Untersuchungen waren vornehmlich Rahmenerzählungen wie z. B. Hoffmanns Serapions-Brüder28. Hans Bracher unterscheidet zwei erzählerische Grundrichtungen, die weniger an Ludwig als an öjchenbaum erinnern. Unter der ersten, die Bracher nur kurz erwähnt, versteht er offenbar eine Darstellungsweise, wie sie auch von den zeitgenössischen Poetiken als exemplarisch aufgefaßt wird und die sich durch einen ungestörten Gang der Handlung auszeichnet29. Diesem Typus stellt er den „Typus der Improvisation“ gegenüber, unter dem er Darstellungsweisen subsumiert, die vom gewohnten epischen Erzählen abweichen, indem sie z. B. Erinnerungen und Gedanken darstellen, die den Erzähler charakterisieren und nicht dem (für Bracher) gewohnten Schema folgen. Dabei gelangt Bracher zu Charakteristika, die an öjchenbaums skaz-Begriff erinnern, darunter Spontaneität, Lokalität und Subjektivität des Erzählens30.
3. Zwei Ebenen Wie kam es nun zu dem zweiten Aspekt: der Zweistimmigkeit? Der erste Schritt bestand kurioserweise in der Loslösung von der Mündlichkeit. Viktor Vinogradov übernimmt zunächst öjchenbaums Charakterisierung des skaz und sieht ihn bereits in der Lebensbeschreibung des Protopopen Avvakum aus dem 17. Jahrhundert realisiert, dort freilich mit einer zweiten stilistischen Schicht, dem Duktus feierlicher Predigten, verwoben. Nach Vinogradov ist diese Erzählung geprägt durch einen persönlichen, simpel-vertrauensseligen Ton, der sich in einer assoziationsreichen, unkontrollierten Sprache manifestiert31. Der Erzähler sei nicht in der ____________ 26 27 28 29 30 31
Ludwig (1891: 205). Vinogradov [1926](1969: 170); Šor (1927). Vgl. Goldstein (1906); Bracher (1909); Waldhausen (1911). Bracher (1909: 108). Ebd. Vinogradov [1923](1980a: 8).
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Lage, sich dem Strom seiner sprachlichen Assoziationen zu widersetzen und die Erzählung in geordneter Weise zu strukturieren32. Vinogradov befindet sich mit dieser allgemeinen Charakterisierung noch in öjchenbaums Fahrwasser und führt zahlreiche Textstellen an, um diesen Eindruck des Improvisierten und der emotionalen Prägung zu belegen33. Sein Verständnis des Begriffs ist in den frühen 20er Jahren noch sehr weit, wie insbesondere aus seiner Untersuchung von Dostoevskijs Doppelgänger hervorgeht: „skaz“ ist hier Synonym für „Erzählstil“, und es ist sogar von zwei „skaza“ im Doppelgänger die Rede34. Doch schon wenig später wendet sich Vinogradov gegen den formalistischen Begriff des skaz. Die Emanzipation von der Mündlichkeit beginnt. Mündlichkeit scheint ihm nun ein ungeeignetes Kriterium für den skaz zu sein, weil diese sich gerade auch in Dialogen manifestiert, womit die Gegenüberstellung von skaz und Dialog begründungsbedürftig wird35. Gäbe man sie auf, ginge jegliche Unterscheidungskraft des Begriffs verloren. Das Kriterium der Mündlichkeit führt entweder zu einem zu allgemeinen skaz-Begriff, oder es entstehen Widersprüche. Vinogradov macht öjchenbaum zum bloßen Adepten der Ohrenphilologie und klagt ihn der Reduktion auf den klanglichen Aspekt an36. Das eigentliche Merkmal des skaz sei ein anderes – kein phonetisches, sondern ein semantisches. Vinogradov sieht dieses Merkmal im Widerstreit zweier Ebenen der Rede, die im skaz aufeinanderstoßen. Zwar heißt es zunächst: Der skaz ist die eigenwillige literarisch-künstlerische Orientierung am mündlichen Monolog des narrativen Typs, er ist die künstlerische Imitation der monologischen Rede, welche, die Erzählfabel gestaltend, sich scheinbar als unmittelbarer Sprechvorgang aufbaut.37
Doch nimmt Vinogradov die Orientierung an der Mündlichkeit im anschließenden Satz sofort zurück: „Es ist völlig klar, daß der ‚skaz‘ nicht notwendig ausnahmslos aus spezifischen Elementen der mündlichen lebendigen Rede bestehen muß, sondern auf sie sogar fast völlig verzich____________ 32 33 34 35
36 37
Ebd. Vinogradov [1923](1980a: 31-35). Vinogradov [1922](1976: 126). Vinogradov [1926](1969: 172). – Es wurde darauf hingewiesen, daß öjchenbaum in seinem Text über Leskov diese Gegenüberstellung relativiert [1927](1969c: 215, 219). Wenn er aber auch Dialoge als skaz zuläßt, unterminiert er die Erzählfunktion des skaz. Vinogradov [1926](1969: 174); Vinogradov [1930](1980c: 72). Vinogradov [1926](1969: 191).
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ten kann“38. Statt dessen ist für den skaz eine Differenz maßgeblich. Diese besteht in der Inkongruenz zweier Ebenen, genauer, in der Unangemessenheit von Redestil und Redekontext. So führt er ein Beispiel aus Dostoevskijs Tagebuch eines Schriftstellers an, wo im Rahmen einer Anekdote für die Aufforderung „Bring Wasser her!“ eine umständliche Paraphrasierung gewählt wird, die Vinogradov zufolge nicht auf Mündlichkeit, sondern auf Schriftlichkeit ausgerichtet ist und zugleich einen Fall von skaz darstellt39. Vinogradov nennt einige Faktoren, die für eine Bestimmung des skaz unter Zuhilfenahme des Äußerungskontextes in Frage kommen. Mit dem Kontext ist zunächst die Redesituation gemeint, durch die sich der skaz bestimmt. Die Rede wird nicht nur von Gesten und Empfindungen des Erzählers, sondern ggf. auch von Reaktionen der Zuhörer begleitet40. Im Zusammenspiel der Rede des Erzählers mit den Reaktionen, die seine Worte bei ihm selbst und etwaigen Zuhörern auslösen, offenbare sich der skaz. Zum anderen spricht Vinogradov von „‚Signalen‘, an denen der skaz erkannt wird“41. Die skaz-Rede weise „Anomalien“ auf. Hier wird der Kontext nicht aus der fiktiven Redesituation gebildet, sondern stellt eine nicht näher spezifizierte Norm dar (die allgemeine Literatursprache), auf die die Abweichungen des skaz bezogen sind. Konsequenz dieser Bestimmung des skaz ist, daß, wo immer eine Erzählerrede im stilistischen Widerspruch zu einer Norm steht, die Erzählerrede als skaz gelten müßte. So ungenau öjchenbaums Bestimmung des skaz als mündliches Erzählen ist: Vinogradovs Alternative führt, für sich allein genommen, auch nicht weiter, weil sie zu allgemein ist bzw. die Bezugsgröße, zu der die Erzählerrede sich als Anomalie verhält, im dunkeln läßt42. Der springende Punkt von Vinogradovs Konzeption ist der Dualismus zweier Ebenen. Kurze Zeit später bekräftigt er dies noch einmal, wenn er das gemeinsame Moment der verschiedenen skaz-Formen darin erblickt, ____________ 38 39 40 41 42
Ebd. Ebd. Vinogradov [1926](1969: 194). Vinogradov [1926](1969: 199). Sie bedürften einer gesonderten Untersuchung, heißt es bei ihm. Tatsächlich hat er eine Monographie über den skaz geschrieben, die jedoch verloren gegangen ist. Eine auf Archivmaterial gestützte Inhaltsangabe gibt Aleksandr êudakov: vgl. seinen Kommentar in Vinogradov (1980b: 326-333).
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daß sie immer eine zweite sprachliche Ebene einschließen, vor deren Hintergrund der skaz allererst wahrnehmbar wird43. Damit verlagert sich der Fokus. Skaz ist nicht mehr primär mit Mündlichkeit assoziiert, sondern mit dem Spiel von Stil-Ebenen. Der Begriff des skaz löst sich bei Vinogradov im Stilbegriff auf. Er wird ihm zu einem Sonderfall eines grundlegenden Problems, für dessen Lösung Vinogradov von der These ausgeht, daß sich die Bedeutung eines literarischen Werks vollständig erst aus den Kontexten erschließe, auf die es bezogen sei44. Als Kontexte sieht er zum einen die literarischen Redeformen an (Stilistik) und zum anderen die gesprochene Sprache (Soziolinguistik). Er ersetzt damit die Unterscheidung ‚schriftlich/mündlich‘ als Projektionsfläche für den skazBegriff45. An ihre Stelle tritt der Widerstreit zwischen verschiedenen stilistischen Ebenen, durch den sich nach Vinogradov ein konkreter skaz individuell konstituiert.
4. Zweistimmigkeit Daß die Stimme wieder in die skaz-Theorie zurückkehren konnte, dafür sorgte Michail Bachtin. Allerdings ist sein Stimmenbegriff nicht der öjchenbaums, weil Mündlichkeit für ihn nicht konstitutiv ist. Das Problem des skaz ist für Bachtin statt dessen nur ein Teil seiner allgemeineren Fragestellung der Dialogizität, die mehr mit dem Aspekt der zwei Ebenen zu tun hat als mit dem der Mündlichkeit. Deswegen sind für eine wissenschaftsgeschichtliche Einordnung von Bachtin Vinogradovs Arbeiten der 20er Jahre sicherlich eine entscheidende Größe46. Dabei muß man sich jedoch klar machen, daß Vinogradovs Beobachtung von zwei sich überlagernden Ebenen in sprachlichen und also auch literarischen Äußerungen in den 20er Jahren kein Einzelfall war. Zu nennen ist hier Jurij ____________ 43
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Vinogradov [1930](1980c: 75). – Vinogradov behält Mündlichkeit übrigens als Kriterium eines Redetyps bei und nennt diesen „oratorische Rede“ [1930](1980c: 74); [1926](1969: 183). Dazu zählt er allerdings gerade nicht den skaz, der dem „mitteilenden“ Typ zugeordnet wird [1926](1969: 184), sondern z. B. die Reden in der Gerichtsverhandlung am Ende der Brüder Karamazov. Vinogradov [1930](1980c: 95). Vinogradov [1930](1980c: 68). êudakov weist darauf hin, daß Vinogradovs Ausdrucksweise in seiner Untersuchung Das Problem des skaz in der Stilistik [1926](1969) Bachtins vorwegnimmt: êudakov (1980: 302).
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Tynjanovs Dostoevskij und Gogol’ (Zur Theorie der Parodie)47. Seine Bestimmung der Parodie bzw. Stilisierung als Überlagerung zweier Ebenen wurde bald Allgemeingut48. Und es gibt auch eine rein linguistische Variante dieser Überlegung, auf die sich sowohl Vinogradov49 als auch der Bachtin-Vertraute Valentin Vološinov50 berufen: Der Gedanke, daß die volle Bedeutung einer sprachlichen Äußerung nicht allein aus dieser selbst ableitbar ist, sondern auch vom Kontext der Äußerung abhängt, ist von dem (anfänglich den Formalisten verbundenen) Linguisten Lev Jakubinskij deutlich gemacht worden (1923)51. Zumindest auffällig ist die Reihung von Schlüsselbegriffen aus der frühen Arbeit Tynjanovs, die in Bachtins Darlegung noch von öjchenbaums Begriff des skaz und Lev Jakubinskijs „Dialog“ ergänzt wird52. Im folgenden soll es nicht um eine Ahnengalerie von Bachtins Stimmenbegriff gehen, sondern nur um die Beziehung seines Stimmenbegriffs zum Begriff des skaz. Wie gesagt, erkennt Bachtin im skaz-Phänomen einen Spezialfall seiner Dialogizitätsthese, die ungefähr besagt, daß sich im „polyphonen“ Roman Dostoevskijs viele Äußerungen auf (lediglich in ihnen implizierte) Aussagen bezögen. Jede explizite Aussage steht danach in einer Art Verweisungszusammenhang mit anderen implizierten Aussagen, als deren Antizipation oder Replik jene erscheinen. Was hier „Aussagen“ genannt wurde, bezeichnet Bachtin häufig als „Stimmen“, wobei eine Äußerung mehrere Aussagen oder Stimmen „enthalten“ kann. Ausgangspunkt von Bachtins Argumentation ist demnach die Unterscheidung, daß es monologische Kontexte gebe, in denen sich die Bedeutung literarischer Äußerungen in ihrer Bezeichnungsfunktion erschöpfe53, und ____________ 47
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„Die Stilisierung steht der Parodie nahe. Die eine wie die andere lebt ein Doppelleben: hinter der Ebene des Werkes steht eine zweite, die stilisiert oder parodiert werden soll. Für die Parodie aber ist die Unstimmigkeit zwischen beiden Ebenen, ihre Verschiebung unerläßlich […]. Bei der Stilisierung fehlt diese Unstimmigkeit, es gibt im Gegenteil eine Entsprechung der beiden Ebenen: der stilisierenden und der durchschimmernden stilisierten“, Tynjanov [1921](1969: 307). – Vgl. auch Vinogradov [1922] (1976: 104): Hier erkennt Vinogradov in Dostoevskijs Doppelgänger mehrere Ebenen und differenziert sie von Parodie und Stilisierung. êudakov/êudakova/Toddes (1977: 539). Vinogradov [1926](1969: 180). Vološinov [1929](1975: 180). Boìarov kommentiert, daß Jakubinskijs Arbeit allenfalls „stimulierende“, aber keine „konzeptuelle“ Bedeutung für Bachtin gehabt habe (2000: 466). Bachtin [1929](2000: 81); Bachtin [1963](1985: 206ff.). Bachtin [1929](2000: 81); Bachtin [1963](1985: 207).
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dialogische Kontexte, in denen ein Wort sich nicht darauf reduziere, was es bezeichnet, sondern eine andere, „fremde“ Rede aufrufe, deren Bedeutung in ihm mitklinge: „In einem Wort befinden sich zwei Bedeutungstendenzen, zwei Stimmen“54. Er selbst war sich über die metaphorische Gebrauchsweise im klaren55. Bachtin scheint zunächst öjchenbaums skaz-Begriff zu übernehmen, wenn er skaz mit Mündlichkeit gleichsetzt56. In der Beurteilung der Erzählerreden in Erzählungen Turgenevs schließt sich Bachtin dem frühen öjchenbaum an und klassifiziert sie als skaz-Formen, weil sie als mündliche Reden im Werk äußerlich motiviert werden57. Implizit stellt Bachtin sich damit gegen Vinogradovs Einschätzung dieser Erzählerreden, da er sie für einstimmig hält58. Im Widerspruch zu seiner eigenen Feststellung macht Bachtin dann allerdings gerade die Zweistimmigkeit zum eigentlichen Merkmal des skaz. Damit distanziert er sich nun von öjchenbaums skaz-Bestimmung und behauptet, daß das Eigentliche des skaz nicht die Ausrichtung auf die mündliche Rede sei, sondern die „Ausrichtung auf die fremde Rede“59. Dies teilt der skaz nach Bachtin mit allerlei anderen Phänomenen, die, wie z. B. die Parodie oder die „versteckte Polemik“, unter den Oberbegriff der Anspielung gebracht werden könnten. Gegen Bachtins skaz-Bestimmung nimmt Vinogradov in einem für das nicht erschienene skaz-Buch vorgesehenen Manuskript Stellung60. Er hält Bachtins Behauptung sowohl in theoretischer wie in historischer Hinsicht für falsch61. Bachtin sieht den skaz aufgrund seiner Ausrichtung auf die fremde Rede immer dort realisiert, wo ein Erzähler-Double seine Ansich____________ 54 55 56 57 58
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Bachtin [1963](1985: 211). Bachtin [1929](2000: 29f.); Bachtin [1963](1985: 27f.). – Vgl. zu diesem Aspekt Schmid (1984). Eine problemorientierte Einführung bietet Martinez (1996: 430-438). Bachtin [1929](2000: 86); Bachtin [1963](1985: 212). Bachtin [1929](2000: 87); Bachtin [1963](1985: 213). – S. o. Anm. 8. Ebd. – Zu dem Verhältnis der Antipoden Bachtin und Vinogradov vgl. êudakov (1980: 300-303), und Perlina (1988). Bachtin hat schon früh Vinogradovs linguistischen Zugang zur Poetik und deren damit verbundene Reduktion auf eine linguistische Subdisziplin kritisiert: [1924/75](1994: 263). In dem Dostoevskij-Buch finden sich neben ein paar lobenden Worten scharfe Verdikte, die in der späteren Version manchmal abgemildert erscheinen, weil Vinogradovs Name getilgt wurde: [1929](2000: 124); [1963](1985: 253). Bachtin [1929](2000: 88); Bachtin [1963](1985: 213). Vgl. oben Anm. 42. Vinogradov (1980b: 331).
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ten gegen die Ansichten des Autors setzt, wie im Falle von Puškins fiktivem Erzähler Belkin in den Erzählungen Belkins, dessen Rede Bachtin als Beispiel für einen zweistimmigen skaz anführt62. Fallen Autor- und Erzählerstimme in ihrer Ideologie zusammen (wie laut Bachtin bei Turgenev), liege Einstimmigkeit vor, fallen sie auseinander – Zweistimmigkeit. Das Wechselspiel von Autor- und Erzählerideologie spiele, so Vinogradov in seiner Entgegnung, zwar eine wichtige Rolle, schöpfe aber keineswegs die „grundlegenden Formen und Funktionen“ des skaz aus: Die Ausrichtung auf „Schauspielerei“, auf das fremde Wort sei keine notwendige Bedingung des skaz63. Nach Vinogradov kann es skaz auch ohne zwischengeschaltete Erzählerfigur geben. Er entsteht durch die „Transposition“ von Sprachmaterial in die Literatur. Überhaupt sei die Annahme, es gebe „einstimmige“ Schriftsteller, naiv64. Denn, so läßt sich ergänzen, wann immer ein Schriftsteller seine Überzeugungen in Literatur überführt, ist mit mehreren Standpunkten zu rechnen. Vinogradov distanziert sich auch andernorts von Bachtins Dialogbegriff65. Vinogradov sieht dagegen den Monolog als grundlegende Eigenschaft der künstlerischen Prosa an66. Er bezieht alle Äußerungen eines literarischen Werks auf eine letzte Instanz und steht deshalb Bachtins Dialogizitätsthese von vornherein ablehnend gegenüber67. Dennoch scheinen beide Konzeptionen mehr miteinander gemein zu haben, als Vinogradovs stilorientierte Vorgehensweise und Bachtins bedeutungsorientierte Betrachtungsweise auf den ersten Blick erkennen lassen. Für beide ist die Anwesenheit von zwei (und noch mehr) Ebenen das ausschlaggebende Moment. Aber wo sie die Ebenen ansiedeln, ist sehr unterschiedlich. Was sich für den einen im Zusammenspiel von Sprachstilen manifestiert, ist für den anderen der jeweilige Äußerungskontext bzw. die Geltung verschiedener Bedeutungspositionen68. ____________ 62 63 64 65 66 67 68
Bachtin [1929](2000: 87f.); Bachtin [1963](1985: 213). Vinogradov (1980b: 332). Ebd. Vinogradov [1930](1980c: 70). Vinogradov [1930](1980c: 73). Vgl. êudakov (1980: 303). Nina Perlina faßt die unterschiedliche Herangehensweise folgendermaßen zusammen: “What Baxtin explains as the writer’s dialogic orientation toward a specific type of dialogic awareness, Vinogradov introduces as a shifting of psychological interests and a change in the types of linguistic selection that eventually bring to life new speech
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5. Zum theoretischen Status Der formalistische Stimmenbegriff in Boris öjchenbaums skaz-Theorie läßt sich als das Kriterium der Mündlichkeit identifizieren. Hier wird ‚Stimme‘ also noch in einem fast unmetaphorischen Sinn gebraucht. öjchenbaums erste Bestimmung war ein unmittelbarer Ausgangspunkt für zahlreiche Arbeiten Viktor Vinogradovs der 20er Jahre. Nach einer anfänglich undifferenzierten Verwendungsweise strebt Vinogradov eine Eingrenzung des skaz-Begriffs an, die einem Abrücken vom Kriterium der Mündlichkeit gleichkommt. Mündlichkeit ist für Vinogradov bald nur ein stilistisches Merkmal von vielen, in deren Zusammenspiel sich der skaz als Redestil offenbart. Es läßt sich nur andeuten, daß in Vinogradovs Konzeption der Begriff des skaz einen personalisierten Konkurrenten bekommt – den des „Autorbildes“ (obraz avtora). Das Autorbild ist für ihn der Fokus, in dem sämtliche stilistischen Ebenen eines Werks zusammenlaufen69. Dieser Begriff ist anfangs verwandt mit dem, was Bachtin unter ‚Stimme‘ versteht. Vinogradov sind die akustischen Konnotationen jedoch unlieb. Sein Begriff der Stimme ist – wie seltsam es sich auch anhören mag – optisch geprägt und leitet sich unter anderem vom Maskenbegriff Il’ja Gruzdevs (eines Schülers der Formalisten aus dem Kreise der Serapionsbrüder) her. Die Verwandtschaft von skaz, Stimme und Autorbild zeigt sich in dem bereits erwähnten Manuskript: Der literarische skaz kann durch die Übertragung einer gesellschaftlich-alltäglichen Position des Schriftstellers in die Literatur, auf die Ebene des Autorbildes zustande kommen. Es ist naiv, sich das Schriftstellerbild ‚einstimmig‘ oder besser: eingesichtig vorzustellen.70
Anderswo verengt Vinogradov den Begriff des Autorbildes gar auf ein Konzept, das starke Ähnlichkeit zum Begriff des impliziten Autors aufweist71. Michail Bachtin greift den skaz-Begriff auf und reiht ihn als eines von mehreren dialogischen Phänomenen in seine Theorie der Dialogizität ein. ____________ 69 70 71
genres, idiolects of fictional characters/narrators, and individual dialects of writers themselves.” (1988: 535f.). Vgl. êudakov (1980: 314). Vinogradov (1980b: 332). Vgl. die Angaben in Schmid (2005: 50f.). Eine Rekonstruktion von Vinogradovs Begriff des Autorbilds und seiner Geschichte in der slavistischen Literaturwissenschaft bietet Gölz (2006).
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Für seinen Stimmenbegriff ist das Merkmal der Mündlichkeit irrelevant. Er versteht darunter statt dessen eine Bedeutungsposition im Text. Aus einer ehemals deskriptiven (oder deskriptiv gemeinten) Kategorie wird ein Begriff der Interpretation72. Die Geschichte des skaz-Begriffs zeigt, daß er sich zu einem Begriff der Interpretation entwickelt hat. Während Vinogradovs Konzeption auf einen textlinguistischen Begriff hinausläuft, der statistische Untersuchungen notwendig machen würde, kommt mit Bachtin das Verständnis auf, auch den skaz als Zusammenspiel verschiedener Bedeutungspositionen zu begreifen. Sowohl Tituniks auf Bachtin aufbauende als auch Schmids auf Distanz zu Bachtin gehende Konzeption weisen das Merkmal der Zweistimmigkeit auf, wobei der Stimmenbegriff in beiden Fällen teils stilistisch, teils semantisch charakterisiert ist. Der dem skaz-Merkmal ‚Zweistimmigkeit‘ inhärente Stimmenbegriff bezieht sich jeweils auf die Bedeutung generierenden Instanzen in der Kommunikationsstruktur eines Werks, denen man bestimmte Ansichten und Einstellungen zuschreibt. Die Stimmen in der Zweistimmigkeit sind nichts anderes als konstant zu unterscheidende, aber aufeinander stets bezogene Bedeutungsschichten. Wenn die Narratologie in der Genette-Nachfolge die Stimme als Kategorie modelliert, die Zeit, Ort und Stellung des Erzählers zum Geschehen bzw. zum Adressaten bestimmt, so hat sie einen grundsätzlich anderen Zugriff auf das Phänomen der Stimme als die moderne skaz-Theorie. Die drei eben resümierten Stationen in der Entwicklung des skazBegriffs markieren zugleich theoretische Haltungen, deren jeweilige Bestimmung auch eine Verortung der Kategorie Stimme in ihrem Verhältnis zur Narratologie erlaubt. Ein Ziel Boris öjchenbaums war es, der Theorie der Prosa zu einem Fundament zu verhelfen, wie die Formalisten es für die Verstheorie mit dem Rhythmus bereits gefunden zu haben glaubten. Seine theoretisch weitreichende, aber weithin übergangene Überlegung war die, ein Spezifikum für die Prosa zu finden. So hat er gesehen, daß dieses Spezifikum im (fiktionalen) Sprechen des Erzählers, also im Erzählen selbst besteht – und nicht in der Beschreibung oder der Reflexion oder im Dialog, und auch nicht in der Alternation aller dieser Komponenten wie im Roman. ____________ 72
Dieser Entwicklungsschritt ist nicht unähnlich dem, den Susan Lanser Anfang der 80er Jahre vollzogen hat, als sie unter Rückgriff auf die Sprechakttheorie den strukturalistischen Stimmen- und Perspektivenbegriff zu einem Interpretationsmodell ausweitete; vgl. Lanser (1981).
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Daß er mit Mündlichkeit kein passendes Kriterium hat, ist in diesem Zusammenhang zweitrangig73. Was zählt, ist das methodologische Credo dahinter: die Notwendigkeit eines Spezifikums künstlerischer Prosa, das sie von anderen Arten künstlerischer Sprachverwendung unterscheidbar macht und als Grundlage weiterer Untersuchungen dienen kann. Viktor Vinogradov hat nun nicht an die methodologische Frage nach der Grundlegung der Prosa-Theorie angeschlossen, sondern ist von der faktischen Multiplität von Stilschichten in Erzähltexten ausgegangen, für die er das hielt, was mit skaz bezeichnet wurde. Er beantwortet die Frage nach dem skaz damit empirisch. Sie ergibt sich jeweils neu und textspezifisch aus den Textdaten. Skaz ist in Vinogradovs Theorie eine deskriptive Kategorie zur Erfassung von stilistischen Daten. Einen wiederum anderen Status hat skaz in Michail Bachtins Theorie der Dialogizität. Hier bezeichnet er eines von mehreren Phänomenen, in denen sich die nach Bachtin für künstlerische Prosa charakteristische Mehrstimmigkeit manifestiert. Die Mehrstimmigkeit ergibt sich nach Bachtin wiederum aus den Ideologien, für die einzelne Stimmen jeweils stehen und die in einem Text, in einer Rede, ja in einem einzelnen Wort ‚erklingen‘ können. Den Zusammenhang von Ideologie und Text stellt man in der Textinterpretation fest. Skaz bei Bachtin ist mithin eine Kategorie innerhalb einer Interpretationstheorie. Welche Lehre läßt sich aus diesem Befund für den Begriff der Stimme in der Narratologie ziehen? Der fruchtbarste Stimmenbegriff im Umfeld des skaz ist, vielleicht gerade wegen seiner Unschärfe, Bachtins Begriff. Unscharf deshalb, weil die Kriterien unklar sind, wann, welche und wie viele Stimmen in einem Text(segment) vorkommen. Fruchtbar indes erscheint er, weil er eine Alternative zu herkömmlichen narratologischen Fragestellungen bietet. Ob diese Alternative selbst aber noch als narratologische gelten kann, steht dahin. Nicht nur, aber in hohem Maße hängt eine Entscheidung darüber nämlich von dem Status und den Aufgaben ab, die man der Narratologie zuweist. Klar zumindest sollte sein, daß die Eingemeindung einer bestimmten Interpretationstheorie wie derjenigen Bachtins begründungsbedürftig ist. Derselbe Vorbehalt gilt dem die stilistische Ebene überschreitenden gegenwärtigen skaz-Begriff (s. o. Ab____________ 73
Es ist leicht einzusehen, daß Mündlichkeit die Abgrenzung nicht zu leisten vermag, da es keinen Grund gibt, nicht auch Reflexion und Beschreibung mit den für Mündlichkeit einschlägigen Merkmalen zu versehen.
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schnitt 1), dessen Zuschreibung ähnliche interpretative Rekonstruktionen vorausgehen müssen wie der Zuschreibung eines unzuverlässigen Erzählers74. Vinogradovs Position liefe auf einen deskriptiven Begriff der Stimme hinaus, der sich aus stilistischen Merkmalen an der Textoberfläche speist. Im Hinblick auf die Narratologie ist er nicht sehr ergiebig. Denn durch die Beschränkung auf die Textoberfläche hat er etwa denselben Gebrauchwert wie die veraltete grobe Unterscheidung zwischen Ich- und ErErzählung auf der Grundlage einer Entscheidung darüber, ob der Erzähler sich auf sich selbst mit „ich“ bezieht oder nicht. Im übrigen gelten dieselben Bedenken wie schon gegenüber Bachtin: Warum sollte man die Stilistik in die Narratologie integrieren, anstatt beides auseinander zu halten? Genau hierin ist öjchenbaums Verdienst zu sehen, der nach dem Spezifikum des Erzählens gefragt hat. Auch wenn seine eigene Antwort unbefriedigend ist und wenn sie auch historisch in andere Bahnen geführt hat (nämlich zu einem Gattungsbegriff, unter dem man Erzähltexte subsumiert, die sich durch skaz-Verfahren auszeichnen), so ist sie für die Narratologie vielleicht aktueller denn je. So gern man sich als Narratologe in der Nachfolge einiger französischer Strukturalisten auf Ereignisse und deren Sequenzierung als Grundkategorie und Spezifikum des Erzählens beruft, so gewiß ist, daß für die Narratologie die Kategorie der Vermittlung von ebenso großer Bedeutung ist.75 So verstanden, ist öjchenbaums skaz von seiner theoretischen Absicht her das Pendant zu Genettes Konzeption des Verhältnisses von narration und récit. Denn den récit des fiktionalen Textes begründet die Erzählinstanz – die Stimme. Sie ist das Spezifikum der literaturwissenschaftlichen Narratologie. Die Funktionen der Stimme, verstanden als Erzählinstanz, und ihr Verhältnis zu anderen narrativen Phänomenen begründen das besondere und ureigene Untersuchungsgebiet der literaturwissenschaftlichen Narratologie, das sie nicht mit der Filmnarratologie und schon gar nicht mit irgendeiner anderen Art ____________ 74
75
Zum Status der Narratologie und zu ihrem Verhältnis zu Interpretationstheorien vgl. Kindt/Müller (2003a), (2003b). Zu den Voraussetzungen der Zuschreibung von unzuverlässigem Erzählen vgl. dies. (2003b: 297). Und gerade in der Vermittlungsweise unterscheiden sich naturgemäß die verschiedenen Ereignisrepräsentationen, die für narratologische Fragestellungen einschlägig sind. Wie wichtig die Vermittlung ist, zeigen nicht zuletzt die literaturwissenschaftlichnarratologischen Gesamtdarstellungen, in denen die Vermittlungsebene jeweils großen Raum einnimmt.
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von Narratologie teilt. Es ist gerade die fiktionale Erzählliteratur in ihren besonderen ‚unlogischen‘ oder ‚unrealistischen‘ Ausformungen, die der Narratologie Phänomene beschert, die in keinem anderen Medium dargestellt und von keiner allgemeinen Narratologie theoretisch erfaßt werden können76. Alle Versuche, eine allgemeine Narratologie zu entwerfen, die nicht-fiktionale Ereignisdarstellungen integriert und die Gemeinsamkeiten aller Ereignisdarstellungen zur Grundlage erhebt, können dies nur um den Preis der Nivellierung oder Ausklammerung der besonderen, nur für fiktionale sprachliche Ereignisdarstellungen geltenden Verfahren erreichen. Aber selbst als Subdisziplin einer allgemeinen Narratologie hat die spezielle literaturwissenschaftliche Narratologie ein selbständiges Untersuchungsfeld, das weiter ist als das der allgemeinen Narratologie; denn es enthält – logisch gesehen – sehr viel mehr mögliche Phänomene als jene Untersuchungsfelder, die nur aus faktualen oder ikonischen Ereignisdarstellungen bestehen. Die „Stimme des Formalismus“, nun im übertragenen Sinn, ist der Ruf nach Abgrenzung des Untersuchungsgebiets aufgrund von Eigenschaften, die für die Gegenstände des Untersuchungsgebietes spezifisch sind. Gérard Genette hat dies im Gegensatz zu vielen seiner Nachfolger noch so gesehen und daher für eine enge Auffassung von Narratologie plädiert77.
____________ 76
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Dies zieht nicht notwendigerweise die Auffassung nach sich, wonach eine Theorie des Erzählens eine Theorie der Fiktion voraussetzt, vgl. Martinez/Scheffel (1999: 19). Ich behaupte lediglich, daß, erstens, das Korpus fiktionaler sprachlicher Ereignisdarstellungen Verfahren ermöglicht, die andere Ereignisdarstellungen nicht zulassen und daß, zweitens, diese Verfahren einige (evtl. sogar alle) auch eine allgemeine Narratologie betreffende Kategorien (also Kategorien, die sowohl auf fiktionale sprachliche Ereignisdarstellungen als auch auf die meisten oder alle anderen Arten von Ereignisdarstellungen zutreffen) im Kontext literaturwissenschaftlicher Untersuchungen infizieren und daß, drittens schließlich, daher alle Versuche, eine integrierte Narratologie faktualer und fiktionaler (sowie sprachlicher und nicht-sprachlicher) Ereignisdarstellungen zu entwerfen, auf Kosten der speziellen Sachlage fiktionaler sprachlicher Ereignisdarstellungen gehen. Genette [1983](1998b: 201).
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ANDREAS BLÖDORN / DANIELA LANGER (Wuppertal / Göttingen)
Implikationen eines metaphorischen Stimmenbegriffs: Derrida – Bachtin – Genette Abstract Using the term “voice” as a category for narrative analysis means implicitly reverting back to the situation of oral speech, distinguished from the written language by the emancipation of situational context and the dissolution of the writing from the writing subject. As a narratological term, the voice can carry only metaphorical importance. Therefore, the essay initially clarifies the usage of the category “voice” in Genette, followed by the metaphorical implication of the term in its usage in Derrida and Bakhtin, examining the two oppositional, nevertheless metaphorical concepts of the voice, each with regard to their personbound substrate. Based on these indeed different, yet for literature equally momentous concepts of “voice”, the central element of the metaphorical shape of “voice” will then be framed, and its carrying capacity will be discussed at the end, precisely for the analysis of written narrative.
1. Stimmen – im Text? Im Anschluss an Genettes Discours du récit etablierte sich der Begriff der ‚Stimme‘ als Kategorie der Erzähltextanalyse. Bis heute ist diese Benennung jedoch umstritten1. Denn ‚Stimme‘ bezeichnet dem allgemeinen Verständnis nach primär den phonetischen Aspekt der Verlautlichung von Worten, er kann also in seiner Applikation auf schriftliche Texte nur ____________ 1
Vgl. dazu den grundlegenden historischen Überblick von Els Jongeneel in diesem Band.
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Andreas Blödorn / Daniela Langer
metaphorisch anwendbar sein2: Dem Schrifttext fehlt ein Pendant für Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Melodie und Akzent, die Interpunktion stellt hier nur einen sehr unvollkommenen Ersatz dar3. „In Schrift ist [...] nicht nur die flüchtige Rede, sondern auch Sprachbewußtsein aufgehoben“, das aus der „Praxis [des] Gebrauchs“ der Schriftsysteme resultiert4. Schrift ist Abstraktion und zugleich reflexive Sprachanalyse5; sprachliche Bedeutung wird in ihr „tendenziell von der Situationsabhängigkeit der gesprochenen Äußerung befreit“6. Vor allem durch das „Verfügbarmachen [sprachlicher Information] für exakte Wiederholung“7 trennt Schrift allerdings die sprachliche Äußerung nicht nur von ihrem situativen Kontext, sondern vor allem auch von ihrem Urheber, dem schreibenden Subjekt, während die Verbindung von Subjekt und Aussage im Falle des Sprechens unmittelbar gegeben ist. Ist es also legitim, im Falle eines schriftlichen Textes die Kategorie der ‚Stimme‘ zur Analyse zu nutzen, oder führt diese Begrifflichkeit letztlich in die Irre, da sie Implikationen enthält, die der Beschreibung einer spezifischen Textqualität nicht gerecht werden? Genette selbst führt den Begriff der ‚Stimme‘ in Discours du récit zunächst im Rückgriff auf Vendryès als „Aspekt der verbalen Handlung“ ____________ 2
3 4 5 6 7
Die Metaphorik des Terminus ‚Stimme‘ in der Erzähltextanalyse ist ein Allgemeinplatz, vgl. paradigmatisch Aczel (1998). Hier gilt es allerdings zu differenzieren: Der Begriff ‚Stimme‘ ist, ebenso wie schon der Begriff ‚Erzählung‘, eine Metapher, insofern er den Bereich des mündlichen Sprechens auf schriftliche Texte überträgt. Die nachfolgend in diesem Beitrag herausgearbeiteten Implikationen des Begriffs – der Rückgriff auf ‚Subjektivität‘ und ‚Intentionalität‘ – stellen allerdings, ebenso wie die schon bei Genette vorhandene Engführung von ‚Stimme‘ und ‚Person‘, streng genommen Metonymien dar und werden von uns auch punktuell so benannt. In einem weiten, allgemeinen Sinn meint ‚Metaphorik‘ allerdings die Bildlichkeit eines Ausdrucks, unabhängig davon, ob es sich nun um eine Metapher oder eine Metonymie handelt. Das Adjektiv ‚metaphorisch‘ wird in diesem weiten Sinne zu einem Synonym für ‚bildlich‘. Obgleich es sich also bei den nachfolgend im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehenden Implikationen des Begriffs ‚Stimme‘ um metonymische Figuren der Bezugnahme handelt, folgen wir dem tradierten Sprachgebrauch und benutzen ‚metaphorisch‘ im weiten Sinn, um sowohl den metaphorischen Gebrauch des Terminus ‚Stimme‘ als auch seine metonymischen Implikationen zu bezeichnen. Vgl. dazu Coulmas (1981: 40). Coulmas (1981: 30). Vgl. Coulmas (1981: 25 ff.). Coulmas (1981: 31). Coulmas (1981: 30f.).
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ein, „sofern diese in ihren Beziehungen zum Subjekt betrachtet wird“8. Gemeint ist hiermit das genus verbi, in der deutschen Grammatik die Handlungsrichtung (aktiv/passiv), die im Französischen durch den Begriff voix gefasst wird. Direkt im Anschluss definiert Genette in Anlehnung an den Linguisten Benveniste und dessen Analyse des Aussagevorgangs [énonciation], der die Beziehungen zwischen den Aussagen und ihrer Produktionsinstanz in den Blick nimmt, die narration ebenfalls als einen Aussagevorgang – nun also schriftlicher, erzählender Texte –, der die Beziehungen zwischen den Aussagen und der „Produktionsinstanz des narrativen Diskurses“ umfasse9. Der Bezug des Begriffs ‚Stimme‘ auf ein Subjekt ist also in beiden „terminologische[n] Anleihen“ gegeben, wenn auch Genette selbst schon in seiner Einleitung darauf aufmerksam macht, dass diese Anleihen „nicht für sich beanspruchen, auf exakten Homologien zu basieren“10. Genette subsumiert nun unter dem Aspekt der Stimme a) das Verhältnis von Erzählzeitpunkt und erzählter Geschichte („Zeit der Narration“), b) den Ort des Erzählens („narrative Ebene“) sowie c) die „Beziehungen des Erzählers“ und fakultativ auch seines narrativen Adressaten zum Geschehen („Person“)11. Unter der Kategorie der ‚Stimme‘ geraten bei Genette also auch die „raum-zeitlichen Bestimmungen“12 der Narration in den Blick, anders gesagt: ‚Stimme‘ meint zunächst und ganz allgemein alles, was in Sicht auf den Vorgang der Narration selbst von Belang ist und woraus sich, quasi rückwirkend, das Gesamtbild der ‚Produktionsinstanz des narrativen Diskurses‘ erschließen lässt: „Diese narrative Instanz haben wir nun also noch zu betrachten“, heißt es am Ende der Einleitung zum Kapitel „Stimme“ bei Genette, „und zwar im Hinblick auf die Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat“13. Zu beobachten ist also zweierlei: ‚Stimme‘ meint bei Genette keineswegs und von vornherein die narrative Instanz selbst, diese lässt sich vielmehr aus den unter der Kategorie ‚Stimme‘ versammelten Aspekten ‚Zeit‘, ‚Ort‘ und ‚Stellung‘ des Erzählers zum erzählten Geschehen erschließen. Dass aber umgekehrt die Annahme eines Subjekts hinter der in ____________ 8 9 10 11 12 13
Genette [1972/1983](1998: 151), Zitat von Vendryès. Genette [1972/1983](1998: 152). Genette [1972/1983](1998: 19). Genette [1972/1983](1998: 153). Ebd. Genette [1972/1983](1998: 152); unsere Hervorhebung.
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verschiedenen Koordinaten im Text realisierten Stimme vorausgesetzt wird, zeigen zum einen Genettes terminologische Anleihen bei Vendryès und Benveniste, zum anderen sein Festhalten am Begriff des ‚Erzählers‘ selbst14. So bezeichnet der Begriff der ‚Stimme‘ zwar bei Genette – schon seiner Herkunft als genus verbi nach – eine grammatische Funktion des Textes, dies jedoch mit einem Begriff zu belegen, der primär immerhin mündliches Sprechen indiziert, impliziert eine Metaphorik, die die Annahme eines ‚sprechenden‘ Subjekts im Text geradezu evoziert. Gerade diese implizite Anbindung der Stimme an ein Subjekt war es, die in den Mittelpunkt der Diskussion um die Genettesche Kategorie rückte – wie der Autor selbst in Nouveau Discours du récit auch feststellen musste: „Das Kapitel über die Stimme ist zweifellos dasjenige, das für mich die heikelsten Diskussionen ausgelöst hat, vor allem soweit es um die Kategorie der Person geht“15. Zwar erinnert Genette im Rekurs auf die Kritik daran, „daß es meinerseits nur ein Zugeständnis an den allgemeinen Sprachgebrauch ist, wenn ich hier noch am Terminus ‚Person‘ festhalte“.16 Doch es stellt sich die Frage, ob die Implikationen des „allgemeinen Sprachgebrauchs“ in Sicht nicht nur auf den Begriff ‚Person‘, sondern auch auf die der ‚Person‘ übergeordnete Kategorie ‚Stimme‘ für eine Erzähltextanalyse nicht durchaus fruchtbar sein können, ja ob die Metaphorik der Begrifflichkeit, die bei einer Übertragung auf schriftlich vorliegende Erzähltexte zwangsläufig der Fall ist, nicht gegenüber anderen Begriffen, die den der ‚Stimme‘ wahlweise ersetzen könnten, spezifische Vorzüge hat. Welche Implikationen dem Begriff der ‚Stimme‘ inhärent sind, möchten wir im Folgenden nicht anhand des „allgemeinen Sprachgebrauchs“ herausarbeiten, sondern am Beispiel zweier – zunächst offenbar unvereinbar unterschiedlicher – Konzepte von ‚Stimme‘, die für die Literatur____________ 14
15 16
Den Genette neben den Begriffen ‚Produktionsinstanz‘ oder ‚narrativer Instanz‘ weiterhin verwendet, vgl. Genette [1972/1983](1998: 151ff.). Im Nouveau Discours du récit gelangt Genette gar zu der kategorischen Feststellung: „Die Erzählung ohne Erzähler, die Aussage ohne Aussageakt scheinen mir weiter nichts als Hirngespinste zu sein, die als solche nie zu falsifizieren sind. […] Ob Erzählung oder nicht, ein Buch schlage ich nur auf, damit der Autor zu mir spricht“ (260). Genette [1972/1983](1998: 245). Genette [1972/1983](1998: 257). Dies v. a. in Sicht auf die traditionelle, aber unpräzise Unterscheidung zwischen Erzählungen ‚in der ersten‘ und ‚in der dritten Person‘. Etwas später erfolgt dann allerdings das in Fußnote 13 zitierte emphatische Festhalten am Erzähler, ja sogar am Autor als im Text sprechender Instanz.
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wissenschaft im Allgemeinen bzw. für die Narratologie im Speziellen durchaus folgenreich waren: Zum einen anhand von Jacques Derridas Kritik an der mit Präsenz belasteten Stimme, zum anderen an Michail Bachtins Konzepten der Dialogizität und der Polyphonie. Die Wahl dieser beiden Bezugspunkte verdankt sich nicht nur dem – zugegeben pragmatischen – Gesichtspunkt, dass mit Derrida und Bachtin zwei Autoren behandelt werden, deren Überlegungen zur Stimme nicht ohne Einfluss waren: Derridas Dekonstruktion einer metaphysisch gedachten Stimme trug ihren Teil dazu bei, dass die Kategorie der Stimme „[i]n den letzten Dekaden […] in der Literaturwissenschaft deutlich in Misskredit geraten“17 war. Letztlich lässt sich auch die Problematisierung der anthropologischen Implikationen der Genetteschen Stimme im Kontext einer durch den Poststrukturalismus maßgeblich initiierten neuen Aufmerksamkeit auf den Text als Schrift sehen, aus der das Subjekt (immer schon) vertrieben wäre und von den Eigengesetzlichkeiten der Schrift über-schrieben würde. Bachtins Konzepte der Dialogizität und der Polyphonie gelangten wiederum im Kontext des Poststrukturalismus zu Ehren, insofern Bachtin zum Ausgangspunkt von Julia Kristevas Theorie der Intertextualität wurde – eine Theorie, die ihrerseits mit dem ‚Tod des Subjekts‘ in der Schrift Hand in Hand geht (womit allerdings einige Implikationen des Bachtinschen Stimmen-Begriffes unterschlagen werden). Stärker noch als dieser pragmatischen, der Relevanz von Derrida und Bachtin für Debatten der letzten Jahrzehnte Rechnung tragenden Begründung verdankt sich die Wahl dieser beiden Bezugspunkte der Tatsache, dass gerade eine Betrachtung so unterschiedlicher Zugriffe auf Stimme – unter sprachphilosophischen Voraussetzungen bei Derrida, in Sicht speziell auf den literarischen Text bei Bachtin – den Blick auf einen gemeinsamen Kern des mit ‚Stimme‘ Bezeichneten ermöglicht, dessen Implikationen in Sicht auf die auch bei Genette vorhandene metaphorische Qualität des Begriffs in der Erzähltextanalyse abschließend zu verhandeln sind.
____________ 17
Weigel (1999: 120).
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2. ‚Stimme‘ als ‚Innerlichkeit des Sinns‘: Derrida Bekanntlich bindet Derrida die Stimme an die Illusion der Präsenz und an die Illusion eines unmittelbaren Zugangs zum Signifikat. Einer der ersten Kronzeugen hierfür ist Aristoteles, für den „‚das in der Stimme Verlautende [...] Zeichen für die in der Seele hervorgerufenen Zustände [...] und das Geschriebene Zeichen für das in der Stimme Verlautende‘ ist“18. Die Stimme bezeichne einen „‚Seelenzustand‘, der seinerseits die Dinge in natürlicher Ähnlichkeit widerspiegelt oder reflektiert“19. Diesem Modell zur Folge liegt in der Stimme ein leidlich direkter Zugang nicht nur zu den Affektionen der Seele, sondern gleichermaßen zu den Dingen selbst; etwas lapidar kommt Derrida zu dem Schluss: „Jedenfalls ist die Stimme dem Signifikat am nächsten, ob man es nun sehr genau als (gedachten oder gelebten) Sinn oder etwas weniger genau als Ding bestimmt“20. Der Schrift käme hierbei als Zeichen für das in der Stimme Verlautende und somit als Signifikant eines Signifikanten lediglich ein sekundärer Status zu. Die von Derrida rekonstruierte Privilegierung der Stimme an den Wurzeln der abendländischen Philosophie21 wird in der Grammatologie für die Herrschaft des Logozentrismus verantwortlich gemacht, der „zugleich ein Phonozentrismus ist: absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns“22. Der Phonozentrismus „verschmilzt“ gar mit der „historischen Sinn-Bestimmung des Seins überhaupt als Präsenz“23. Dass dieser Sinn nur ein idealer ist, wird von Derrida als metaphysische Implikation des Logo- als Phonozentrismus kritisiert. Doch wodurch genau ist die Stimme gegenüber der Schrift – scheinbar – ausgezeichnet, so dass diese historisch gewachsene Exklusivität im Verhältnis von Stimme und Präsenz überhaupt entstehen ____________ 18 19 20 21
22 23
Derrida [1967](o. J. [2003]: 24). Ebd. Derrida [1967](o. J. [2003]: 25). Gegen diese Rekonstruktion wurden zahlreiche Einwände geführt: So wurde z. B. betont, dass diese Hypostasierung der Stimme die Bedeutung der Schrift für die Genese des Logos unterschlage (vgl. Koschorke 1997). Dagegen argumentiert Eggers (2003: 52ff.), der zum einen die Metaphorik der Begrifflichkeiten bei Derrida herausstellt, zum anderen im Phonozentrismus doch wieder die grundlegende Figur der Philosophiegeschichte entdeckt. Derrida [1967](o. J. [2003]: 25). Derrida [1967](o. J. [2003]: 26).
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konnte? Was in der Grammatologie nur in wenigen Zügen umrissen wird, führt Derrida in der Schrift Die Stimme und das Phänomen am Beispiel der Phänomenologie Husserls weiter aus. Der entscheidende Fragenkomplex lautet hier: „Warum ist das Phonem das ‚idealste‘ aller Zeichen? Wodurch rührt diese Komplizität zwischen dem Laut und der Idealität oder eher noch zwischen der Stimme und der Idealität?“24 Zwei Aspekte der Stimme lassen sich hier anführen: Zum einen höre ich mich selbst, wenn ich spreche: Stimme als ‚s’entendre-parler‘, als Sich-sprechenHören ist eine Operation reinster Selbstaffektion, die als Effekt den Anschein der ‚Lebendigkeit‘ der eigenen Worte zeitigt: Meine Worte sind ‚lebendig‘, weil sie mich scheinbar gar nicht verlassen: weil sie nicht in einer sichtbaren Entfernung aus mir, aus meinem Atem herausfallen; weil sie nicht aufhören, zu mir zu gehören, mir ‚ohne Beiwerk‘ zur Verfügung zu stehen. So jedenfalls gibt sich das Phänomen der Stimme, die phänomenologische Stimme.25
Die Akzentsetzung gilt es hierbei zu beachten: So wird die phänomenologische Stimme, die die Idealität des Sinns in der Bewegung einer SelbstAffektion zugleich hervorbringt und bewahrt, als ein ‚Sich-Geben‘ charakterisiert: Sie ist also selbst nur Schein. Das Phänomen der Stimme ist ein Effekt realer stimmlicher Verlautbarung im Sprechen und daher nicht mit dieser zu verwechseln26. Unterstützt wird dieser Effekt zweitens dadurch, dass „der phänomenologische ‚Körper‘ des Signifikanten sich in genau dem Moment auszulöschen scheint, in dem er hervorgebracht wird“27. Da die Laute sofort wieder verschwinden, evoziert die phänomenologische Stimme den Anschein der „unmittelbaren Gegenwärtigkeit des Signifikats“28. Offensichtlich wird hiermit allerdings auch, dass Derrida sich in seiner These eines für die abendländische Philosophie grundlegenden Phonozentrismus, der als Voraussetzung des Logozentrismus verstanden wird, ____________ 24 25 26
27 28
Derrida [1967](2003: 105). Derrida [1967](2003: 103). Vgl. Derrida [1967](2003: 104): „Zwischen dem phonischen Element (im phänomenologischen Sinne und nicht im Sinne innerweltlicher Lautlichkeit) und der Ausdrücklichkeit, das heißt der Logizität eines mit Blick auf die ideale Gegenwärtigkeit einer (selbst auf einen Gegenstand bezogenen) Bedeutung beseelten Signifikanten, soll es eine notwendige Verbindung geben […].“ Erste Hervorhebung von uns. Derrida [1967](2003: 105). Ebd.
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auf eine um den Aspekt der Klanglichkeit reduzierten Stimme bezieht29: Die Klanglichkeit der Stimme wäre ihre Medialität als „Instanz der Äußerlichkeit, der Welt oder des Nicht-Eigenen“30, gerade dieser Aspekt tritt in der „Operation des Sich-sprechen-hörens“ allerdings zurück: Denn insofern die Stimme „sich in der Welt als reine Selbstaffektion hervorbringt, ist sie eine absolut verfügbare signifikante Substanz“31; eine Substanz, die eben nicht aus dem Subjekt heraus- und in die Welt hineintreten muss (wie es bei der Schrift der Fall ist). Dies führt letztlich zur Identität von Laut und Stimme32, was allerdings nichts anderes als die Aufhebung des (materiellen) Lautes in der phänomenologischen Stimme impliziert33. Beide angeführten Aspekte, die der Komplizität von Idealität und Stimme Vorschub leisten, stehen in einem dezidierten Gegensatz zur Schrift: Erstens ermöglicht die Schrift sowohl räumlich als auch zeitlich die Abtrennung ihrer selbst von dem, der sie hervorgebracht hat; zweitens bleibt der Körper der Schrift in der Zeit – und im Raum – bestehen, er ist dauerhaft. Der Signifikant der Schrift ist also im Gegensatz zu dem der Stimme nicht ‚durchsichtig‘ in Sicht auf das in ihm ausgedrückte Signifikat; er eignet sich von daher kaum für die Illusion und den Schein einer unmittelbaren Präsenz – und wird, schon bei Aristoteles, als sekundäres Zeichen diskreditiert, während „die Stimme als Erzeuger der ersten Zeichen wesentlich und unmittelbar mit der Seele verwandt ist“34. ____________ 29 30 31 32 33
34
Vgl. zu dieser Tradition einer klanglosen Stimme auch Eggers (2003: 47ff.) sowie Koschorke (1997). Derrida [1967](2003: 107). Derrida [1967](2003: 108). Vgl. ebd. Auch dieser Aspekt des Derridaschen Stimmen-Entwurfs führte zur Kritik: Derrida marginalisiert in seinem Entwurf des ‚s’entendre-parler‘ die Präsenz nicht in, sondern der Stimme selbst als Ereignis des Lauts, wie Mersch (2002: 100-125) ausführlich darlegt. In eine ähnliche Richtung geht Kolesch (2000: 175), wenn sie schreibt: „Die Geschichte des ‚Logozentrismus‘ verläuft nicht ganz Hand in Hand mit dem ‚Phonozentrismus‘, denn es gibt eine Dimension der Stimme, die der Selbsttransparenz, dem Sinn und der Präsenz zuwiderläuft: die Stimme gegen den Logos, die Stimme als das Andere des Logos, als radikale Alterität.“ Letztlich sprechen Mersch und Kolesch damit eine Leerstelle in der Derridaschen Stimmenkonzeption an: die der lauten Stimme in ihrer Materialität – die allerdings in Derridas Überlegungen genuin ausgeschlossen wird. Derrida [1967](o. J. [2003]: 24).
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Welche Implikationen liegen also Derridas Stimmen-Entwurf zugrunde? Zunächst gilt es festzuhalten, dass der Begriff der ‚Stimme‘ bei Derrida keineswegs wörtlich gemeint ist, sondern seinerseits metaphorische – oder präziser, metonymische – Qualitäten hat35: Die Kritik am Phono- als Logozentrismus geht von einem Begriff der phoné als ‚Stimme‘ aus, der diese als unmittelbaren Ausdruck der Seele verstand – gerade unter Vernachlässigung ihrer der Idealität abträglichen, in jeder konkreten lautlichen Äußerung zu Tage tretenden klanglichen Qualitäten. ‚Stimme‘ wird bei Derrida zu einem Synonym für die „Innerlichkeit des Sinns“36 und die „intelligible Seite des Zeichens“37, während umgekehrt die ‚Schrift‘ zu einem Begriff für „die Exteriorität des Signifikanten“38 avanciert. So sind die direkten Begriffe ‚Stimme‘ und ‚Schrift‘ relativ zu nehmen, wie Derridas Exkurs zur „natürlichen, ewigen und universalen Schrift“39 deutlich macht: Denn schon bei Platon gibt es die Idee der Schrift der Wahrheit in der Seele als – allerdings intelligible – In-Schrift, die (ebenfalls) mit dem Logos eng geführt werden kann40. Dieser SchriftBegriff, der sich also auch an den Wurzeln der abendländischen Philosophie finden lässt, ist allerdings seinerseits metaphorisch, da er die Materialität des Signifikanten außer Acht lässt und sich wiederum als unmittelbare Gegenwärtigkeit des Signifikats verstehen lässt. Und so schlägt Derrida diese Art der Schrift dann auch der Stimme zu41 – seinem Begriff ____________ 35
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41
Streng genommen handelt es sich bei dem von Derrida unter der ‚Stimme’ gefassten Phänomen eines direkten Ausdrucks des Subjekts zunächst um eine Metonymie, in der Forschung ist hier gleichwohl oft von einer Metapher die Rede, vgl. etwa Eggers (2003: 47ff.). Derrida [1967](o. J. [2003]: 27). Derrida [1967](o. J. [2003]: 28). Derrida [1967](o. J. [2003]: 29). Derrida [1967](o. J. [2003]: 31). Diese Tradition greift Koschorke (1997) auf, der Derridas Vernachlässigung der Schrift in der Rekonstruktion des abendländischen Phono-/Logozentrismus kritisiert: Koschorke bindet die Idee einer klanglosen Stimme vielmehr an die Genese eines stummen Lesens, für das die Erfindung der alphabetischen Schrift also die Voraussetzung wäre. Die reine intellektuelle Präsenz als klangloser Logos, als Stimme ohne Körper wäre so ein Effekt der Schrift und gerade nicht der Stimme. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Rückführung auf historische medientechnische Entwicklungen der Metaphorik von Derridas Entgegensetzung von ‚Stimme‘ und ‚Schrift‘ gerecht wird – wie umgekehrt an Derrida die Frage zu stellen wäre, ob seine metaphorische Vorgehensweise den historischen Entwicklungen gerecht wird. „Die natürliche Schrift ist unmittelbar an die Stimme und den Atem gebunden. Ihr Wesen ist nicht grammatologisch, es ist pneumatologisch. Sie ist hieratisch, ganz nahe
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der ‚Stimme‘ als „Innerlichkeit“, der also bildhaft zu verstehen ist (wenn auch die spezifische Funktionsweise der Medialität von einer wörtlich verstandenen Stimme für die Herausarbeitung der Komplizität von phänomenologischer ‚Stimme‘ und Idealität fruchtbar gemacht wird). Dieser Aspekt der ‚Innerlichkeit des Sinns‘ lässt sich darüber hinaus weiterhin in einen Bezug zur Intentionalität sprachlicher Äußerungen stellen: Zu jemandem sprechen heißt zweifellos sich sprechen hören, von sich gehört werden, aber auch und im selben Zug, wenn man vom Anderen gehört wird, bewirken, daß dieser unmittelbar in sich das Sich-sprechen-hören in eben der Form wiederholt, in der ich es hervorgebracht habe. Es unmittelbar wiederholt, das heißt die reine Selbstaffektion ohne die Hilfe durch irgendeine Äußerlichkeit reproduziert. Diese Möglichkeit einer Reproduktion, deren Struktur absolut einmalig ist, gibt sich als das Phänomen einer grenzenlosen Herrschaft oder Macht über den Signifikanten, da dieser die Form der Nicht-Äußerlichkeit selbst hat. Idealerweise, im teleologischen Wesen des Sprechens, sollte es somit möglich sein, daß der Signifikant dem durch die Intuition gemeinten und das Bedeuten (vouloir-dire) leitenden Signifkat absolut nahe ist. Der Signifikant würde eben aufgrund der absoluten Nähe zum Signifikat vollkommen durchsichtig. Diese Nähe wird durchbrochen, sobald ich mich, anstatt mich sprechen zu hören, schreiben oder durch Gesten bedeuten (signifier) sehe.42
Die Stimme erzeugt also auch a) die Idee einer unmittelbaren Gegebenheit des Signifikats als des vom sprechenden Subjekt ‚Gemeinten‘ sowie b) die Idee der Möglichkeit einer intersubjektiven Verständigung über dieses ‚Gemeinte‘. Letztlich verankert Derrida in der Stimme schon die Möglichkeit von Subjektivität überhaupt, die sich als Effekt der Selbstaffektion ergibt, wenn er feststellt, „daß strukturell und de jure ohne die Stimme kein Bewußtsein (conscience) möglich ist. […] Die Stimme ist das Bewusstsein“43. ‚Stimme‘ evozierte so in der abendländischen Geistesgeschichte nicht nur die Idee der Präsenz des Seins, sondern ebenso die der „Selbstpräsenz des cogito, Bewußtsein, Subjektivität“44. Gegen diese Verfahrensweisen einer Selbst-Affektion des Subjekts sowie der (scheinbaren) Idealität des Sinns in der ‚Innerlichkeit‘ der Stimme wird von Derrida die Schrift als unhintergehbare différance, als ____________
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der heiligen, inneren Stimme der Profession de foi, der Stimme, die man, in sich kehrend, vernimmt: die erfüllte und wahrhafte Präsenz des Wortes in der Innerlichkeit unseres Gefühls.“ Derrida [1967](o. J. [2003]: 33f.). Derrida [1967](2003: 109). Derrida [1967](2003: 108). Derrida [1967](o. J. [2003]: 26).
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Prozess einer unablässigen Verschiebung des Sinns und als ursprungslose Spur ins Feld geführt. Nach Derrida beruht auch die Selbst-Affektion auf der différance, da sie die Nicht-Identität des Subjekts mit sich selbst zur Voraussetzung hat. Metaphysik-, Sprach- und Subjektkritik gehen hier also Hand in Hand, wobei die ‚Stimme‘ zum zentralen (und gleichwohl metaphorischen) Ansatzpunkt der Kritik wird. Der Abwehr von ‚Sinn‘ und ‚Subjekt‘ steht auf der anderen Seite die Befreiung der Schrift als Befreiung der Signifikanten von der Last metaphysischer Aufladung entgegen, die in fröhlichem Spiel der Verstreuung des Sinns nachgehen. Dass hiermit, auch in literaturwissenschaftlicher Hinsicht, eine Aufwertung der Schrift einhergeht, die sich der unmittelbaren Gegenwärtigkeit von ‚Sinn‘ ebenso widersetzt wie der Rückführung auf ein diesen ‚Sinn‘ in seiner ‚Innerlichkeit‘ hervorbringendes Subjekt, lässt sich im Umkreis von Derrida am Beispiel von Roland Barthes zeigen. Der von Barthes zeitgleich mit Derridas Reflexionen über ‚Stimme‘ und ‚Schrift‘ im Jahre 196745 veröffentlichte Text Der Tod des Autors konkretisiert diesen Tod als einen Effekt der Schrift. Die Abwehr von ‚Sinn‘ und ‚Subjekt‘ und die Abwehr eines (traditionellen) Autor-Begriffes sind in ihrem Kern identisch: „Wer spricht hier? [...] Wir werden es nie erfahren können, einfach deswegen, weil die Schrift jede Stimme, jeden Ursprung zerstört“46. Und weiter: „Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen“47. Die ‚Stimme‘ wird also auch bei Barthes als Ursprung des ‚Sinns‘ (als Absicht des Autor-Subjekts) verstanden, dem die Schrift – der literarische Text – entgegenwirken würde.
3. Der Text als Gefüge von ‚Stimmen‘. Bachtin Bei Michail Bachtin hingegen wird der Begriff der ‚Stimme‘ zu einer zentralen Größe literarischer Texte, mit deren Hilfe sich in Romantexten eben das realisiert, was die Stimme in Derridas Logozentrismuskritik verhindert: die Dezentralisierung des Sinns und des Subjekts. In seiner Schrift Das Wort im Roman fasst Bachtin den Begriff der ‚Stimme‘ von vornherein als im weitesten Sinne metaphorisches Konzept, wobei Stimme als Sinngebung metonymisch die Intentionalität einer „sprechenden ____________ 45 46 47
Der Text erschien erstmals 1967 in englischer Übersetzung, die französische Fassung wurde 1968 veröffentlicht. Barthes [1967](2000: 185). Barthes [1967](2000: 191).
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Person“48, nicht aber notwendig deren Subjekthaftigkeit (im Gegenteil: Sprecher sind bei Bachtin in der Regel kollektive Subjekte, Repräsentanten soziologisch und anders spezifizierbarer Gruppen). Nun bleibt der Aspekt der Stimme bei Bachtin jedoch eingebunden in ein komplexes System sprachlicher Kommunikation, als dessen Idealfall ihm die literarische Rede des Romans gilt. Denn in ihr manifestiert sich, was Bachtin in der Folge zur Norm erhebt49: das Prinzip der Zweistimmigkeit, der Dialogizität (die zum Kern seiner Theorie des vielstimmigen, polyphonen Romans avancieren wird). Die Redevielfalt, die in den Roman eingeführt wird […] ist fremde Rede in fremder Sprache, die dem gebrochenen Ausdruck der Autorintentionen dient. Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. Es dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors. In einem solchen Wort sind zwei Stimmen, zwei Sinngebungen und zwei Expressionen enthalten. Zudem sind diese beiden Stimmen dialogisch aufeinander bezogen, sie wissen gleichsam voneinander (wie zwei Repliken eines Dialogs voneinander wissen und sich in diesem gegenseiti50 gen Wissen entfalten), sie führen gleichsam ein Gespräch miteinander.
Bachtin entwickelt hier seine Theorie der Dialogizität und der Polyphonie auf der Grundlage des zweistimmigen Romanwortes, das im Kleinen abbildet, was im Großen für den dialogischen Roman als Ganzes gilt: „Das zweistimmige Wort ist stets im Innern dialogisiert“51. Als kleinste dialogische Einheit enthält das Wort daher den Grundbaustein dessen, was sich unter ‚Stimme‘ fassen lässt: die Imprägniertheit durch die Intentionalität eines Sprechers. So wie ein Wort als ‚fremdes Wort‘ einem (intentional determinierten) Kontext entstammt und als solches in einem neuen Kontext und innerhalb einer neuen Intentionalität zur Sprache kommt, so lässt sich mit Bachtin auf der Ebene des Romanganzen der Text in verschiedene intentional eingebundene Sprachebenen aufteilen: „Der Roman ist künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprach____________ 48 49
50 51
Bachtin [1934/35/75](1979a: 213). So stellt in ideologischer Hinsicht Dialogizität für Bachtin einen Wert dar, der in Romanen vorhanden sein sollte. – In höchstem Grade problematisch bleibt neben der Normativität seines Konzeptes außerdem die mangelnde Trennschärfe bezüglich der Instanzen ‚Autor‘ und ‚Erzähler‘ – zwei Größen, die bei Bachtin immer wieder ineinander übergehen bzw. narratologisch gar nicht unterschieden zu werden scheinen. Bachtin [1934/35/75](1979a: 213; Hervorhebung im Original). Ebd.
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vielfalt und individuelle Stimmenvielfalt“52, d. h. er umschließt „als Ganzes [...] viele Stile, verschiedenartige Reden und verschiedene Stimmen“53. Wenngleich Bachtin nirgends in Das Wort im Roman eine explizite definitorische Unterscheidung dieser Begriffe vornimmt (und die Begriffe überdies nicht immer trennscharf verwendet), so soll im Folgenden doch der Versuch einer Begriffseingrenzung unternommen werden. Das ‚Wort‘, so Bachtin, „lebt außerhalb von sich selbst, in seiner lebendigen Intention auf den Gegenstand“54, es ist intentional auf diesen Gegenstand ausgerichtet55 und somit referentialisiert. Dabei ist es stets „ein halbfremdes Wort“, das in dem Moment „zum ‚eigenen‘ [wird], wenn der Sprecher es mit seiner Intention, mit seinem Akzent besetzt, wenn er sich das Wort aneignet, es mit seiner semantischen und expressiven Zielsetzung vermittelt“56. Als Grundbaustein sprachlicher Kommunikation, als Sprachmaterial, ist daher das Wort für Bachtin nicht unabhängig vom Kontext, vom Sprecher und dessen sozialer Eingebundenheit und Intentionalität zu denken. Als wichtigster Sprachkontext erweist sich der soziale Kontext, der stets impliziert ist, wenn Bachtin von ‚Rede‘ spricht57. Rede ist in soziale Kontexte eingebundene Sprache; in ihr treffen Meinungen, Standpunkte und Wertungen in ihrer sozialen Dimension aufeinander. Was sich in der Rede differenziert, sind folglich verschiedene sozial bedingte „Ansicht[en] von der Welt“58: „Im Grunde bewegt sich die Sprache als lebendige sozioideologische Konkretheit, als in der Rede differenzierte Meinung für das individuelle Bewußtsein auf der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden“59. Der Roman enthält daher stets eine „soziale Vielfalt der Rede“60. Der Begriff der ‚Sprache‘ stellt für Bachtin den übergeordneten und zugleich allgemeinsten Begriff dar, mit dem zuallererst eine abstrakte Betrachtungsebene (z. B. des linguistischen Systems) aufgerufen wird. Im Roman zeigt sich Sprache innerlich aufgespalten: „die Sprache des Ro____________ 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Bachtin [1934/35/75](1979a: 157). Bachtin [1934/35/75](1979a: 156). Bachtin [1934/35/75](1979a: 184). Bachtin [1934/35/75](1979a: 170). Bachtin [1934/35/75](1979a: 185). Bachtin [1934/35/75](1979a: 189). Bachtin [1934/35/75](1979a: 185). Ebd. Bachtin [1934/35/75](1979a: 159).
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mans ist ein System von ‚Sprachen‘“61, womit Bachtin Sprachvarietäten (und nicht Nationalsprachen) bezeichnet: Die innere Aufspaltung der einheitlichen Nationalsprache in soziale Dialekte, Redeweisen von Gruppen, Berufsjargon, Gattungssprachen, Sprachen von Generationen und Altersstufen, Sprachen von Interessengruppen, Sprachen von Autoritäten, Sprachen von Zirkeln und von Moden, bis hin zu den Sprachen sozial-politischer Aktualität […].62
‚Sprachen‘ können demnach für Bachtin alle in sich kohärenten (d. h. intentionalen) Systeme der Sprachverwendung in ihren je spezifischen historischen, soziologischen, politischen und anderen Kontexten sein. Für die Romangattung bildet „diese innere Aufspaltung jeder Sprache im je einzelnen Moment ihres geschichtlichen Daseins“63 die notwendige Voraussetzung: der Roman orchestriert seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrükkende Welt der Gegenstände und Bedeutungen mit der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden individuellen Stimmenvielfalt. Die Rede des Autors und die Rede des Erzählers, die eingebetteten Gattungen, die Rede der Helden sind nur jene grundlegenden kompositorischen Einheiten, mit deren Hilfe die Redevielfalt in den Roman eingeführt wird. Jede von ihnen begründet eine Vielzahl von sozialen Stimmen und eine Vielzahl von […] Verbindungen und Korrelationen zwischen den Aussagen und den Sprachen.64
Damit wären wir beim letzten und für uns zentralen Begriff in Bachtins Texttheorie: der ‚Stimme‘. Bachtin schreibt ihr zunächst die Qualität ‚individuell‘ zu, um später die Begriffe „Stimme[ ]“, „Intention“ und „Sinngebung[ ]“ eng zu führen65: Stimmen verleihen „der Sprache einen bestimmten Sinn“66. Unter ‚Stimmen‘ betrachtet Bachtin folglich auf der pragmatischen Ebene der Sprache die auf einen Sprecher bezogenen, individuellen Äußerungen, die mit Sinn-Intentionen besetzt sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun Bachtins Theorie des vielstimmigen, polyphonen Romantexts besser verstehen: Die Redevielfalt wird, wenn sie in den Roman eingeht, darin künstlerisch bearbeitet. Die sich in der Sprache – in allen ihren Wörtern und Formen – ansiedelnden sozialen und historischen Stimmen, die der Sprache einen bestimmten Sinn verleihen, organi-
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Bachtin [1934/35/75](1979a: 157). Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Bachtin [1934/35/75](1979a: 213). Bachtin [1934/35/75](1979a: 191).
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sieren sich im Roman zu einem wohlgestalteten stilistischen System, das die differenzierte sozioideologische Position des Autors in der Redevielfalt der Epoche zum Ausdruck bringt.67
Alle „Sprachen der Redevielfalt“ „können vom Romanschriftsteller zur Orchestrierung seiner Themen und zum gebrochenen (indirekten) Ausdruck seiner Intentionen und Wertungen benutzt werden“68. Die besondere Leistung des Erzähltextes, der Prosa ist es für Bachtin (im Gegensatz zur ‚monologisierenden‘ Lyrik), den einzelnen, besonderen historischsozialen Ausprägungen von Sprachtypen „personifizierte Repräsentanzen“ zu verleihen, die im Roman gegeneinander gestellt werden69. Daher ist [f]ür den Prosaschriftsteller [...] der Gegenstand eine Konzentration von in der Rede differenzierten Stimmen, unter denen auch seine Stimme erklingen muß; diese Stimmen bilden den notwendigen Hintergrund für seine Stimme, einen Hintergrund, ohne den die Nuancen seiner künstlerischen Prosa nicht wahrnehmbar sind, ‚nicht klingen‘.70
Zusammenfassend lässt sich der metaphorische Gebrauch der Stimme bei Bachtin nur vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedingungen von Sprache als einem allgemeinen System verstehen, das in sich schon aus vielen Sprachen, aus „Sprachvielfalt“, aus einem „Dialog von Sprachen“ besteht71. Diese Sprachen entstehen selbst wieder aus der Durchkreuzung verschiedener Formen von ‚Rede‘ als den personifizierten, historischsozialen Ausdifferenzierungen von Sprache: „Die Sprache ist also in jedem Augenblick ihrer historischen Existenz durchgängig in der Rede differenziert“72. Sprechen als „verbale[s] Handeln“ bedeute nun, sich
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72
Bachtin [1934/35/75](1979a: 191). Bachtin [1934/35/75](1979a: 183). Bachtin [1934/35/75](1979a: 182). Bachtin [1934/35/75](1979a: 171). Bachtin [1934/35/75](1979a: 186). – Zwar gibt es auch innerhalb der Alltagssprache Tendenzen der Monologisierung und Tendenzen zur Vereinheitlichung (nach Bachtin ‚zentripetale‘ Kräfte), doch sind all diese Versuche zum Scheitern verurteilt angesichts „der lebendigen Vielfalt der Rede und des Dialogs, die ständig bereits Gesagtes und Geschriebenes in jeder Aussage mitschwingen lassen“ (Schmitz (2002: 80)). Das Nebeneinander der in der Redevielfalt zum Ausdruck kommenden Einzelsprachen unterläuft daher immer wieder jede sprachliche Zentralisierungstendenz. Bachtin [1934/35/75](1979a: 182).
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Sprachmaterial anzueignen und Sprache (als Rede) „auf lange Zeit und für einen breiten Kreis mit seinen Intentionen zu infizieren“73. Die ‚Stimmen‘ im Text stellen für Bachtin folglich genuin fiktionale Mittel des Romans dar, mit deren Hilfe der Autor seine Intention zum Ausdruck bringt; diese wäre jedoch allenfalls aus der Gesamtheit und dem Zusammenklang aller Stimmen des Textes zu rekonstruieren. In diesem Sinn gibt es für Bachtin eine Autorintention im Text nur in gebrochener, aufgespaltener und damit dialogisierter Form; nur das Textganze als eine Stimmen-Polyphonie verkörpert die Intention des Autors. Der (im normativen Sinne ‚gute‘) Autor also solle sich, so Bachtin, seiner Aufgabe bewusst sein, das Thema zu dialogisieren, die vielfältigen Formen sozialer Rede so zu präsentieren, dass sie sich innerhalb eines Dialogs, einer grundlegenden Romanpolyphonie entfalten. Dies mache die entscheidende Fähigkeit des Erzählens aus: „[d]iese Bewegung des Themas durch Sprachen und Reden, deren Aufspaltung in Elemente der sozialen Redevielfalt, ihre Dialogisierung“74. Mit Blick auf die zentralisierenden und vereinheitlichenden Tendenzen der Sprache lässt sich die literarische Sprache des Romans dann begreifen als Modus der Dezentralisierung und der Dialogisierung (so, sagt Bachtin, sollte es zumindest sein; Ideal des Romans ist daher das „zweistimmige[ ] Wort“75). Im Hinblick auf die Anordnung von Rede(n), Sprache(n) und Stimme(n) im Roman steht für Bachtin also die Betrachtung der „intentionalen Sinngebung“ des Ausdrucks im Mittelpunkt76, die im Roman jedoch nicht zentralisierend, sondern dezentralisierend eingesetzt werde: Bachtins auf Pluralisierung und Zersetzung von vereinheitlichendem Sinn zielendes Konzept der Dialogizität impliziert dabei „den Begriff der Stimme als der Instanz, die jene Berührung von eigen und fremd in das Wort einspielt“77. Was der ‚Stimme‘ nach Bachtin inhärent ist, ist also zunächst ganz allgemein eine subjektive (nach Bachtin besser: ‚personifizierte‘) Redeweise, die jedoch nicht unabhängig von der sozialsprachlichen Rede- und Sprachvielfalt und damit von einer sozialen ‚Subjektivität‘ von Kollektiven gedacht werden kann: ____________ 73 74 75 76 77
Bachtin [1934/35/75](1979a: 182). Bachtin [1934/35/75](1979a: 157). Bachtin [1934/35/75](1979a: 213). Bachtin [1934/35/75](1979a: 184). Vgl. Lachmann (1990: 192).
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Zwar ist auch im Roman die Redevielfalt in ihren Hauptzügen stets personifiziert, in Personen mit individualisierten Stimmen und Widersprüchen verkörpert. Hier aber sind die Redevielfalten individueller Willen und des Verstandes in die gesellschaftliche Redevielfalt eingelassen und von ihr mit einem besonderen Sinn versehen. Die Widersprüche von Individuen sind hier lediglich die herausragenden Spitzen der gesellschaftlichen Redevielfalt, eines Elementes, das sie spielt und unter seiner Gewalt widersprüchlich macht, ihr Bewußtsein und ihre Wörter mit seiner substantiellen Redevielfalt sättigt.78
Hieraus wird ersichtlich, dass Bachtins Stimmenbegriff und die in ihm angelegte subjektive Bedeutungskomponente nicht an ein ‚Subjekt‘ im herkömmlichen Sinne gekoppelt sind. Was aber kann Bachtins „schwer eingrenzbare[r] Subjektbegriff“79 dann noch bedeuten, wenn seine Personalisierung nicht mehr an ein ‚Subjekt‘ gebunden ist? Bachtin führt dazu – an anderer Stelle, im Zusammenhang mit der Methodologie der Literaturwissenschaft – erklärend aus: Der Dialog setzt die verschiedenen Chronotopen des Fragenden und des Antwortenden voraus (ebenso die verschiedenen Sinn-Welten – ‚ich‘ und ‚der andere‘). Frage und Antwort werden vom Standpunkt eines ‚dritten‘ Bewußtseins und seiner ‚neutralen‘ Welt aus unweigerlich depersonifiziert.80
Wenn individueller ‚Sinn‘ nun für Bachtin ‚personalistisch‘ ist, so bedeutet „Personifikation [...] jedoch keinesfalls Subjektivierung. Das Extrem ist hier nicht ‚ich‘, sondern ‚ich‘ in Wechselbeziehung mit anderen Personen“81. Ein solches Konzept der Dezentrierung von Subjekt und Sinn konzipiert die sprach- als zeichenhandelnde ‚Person‘ als Stimme, die nur im Wort des anderen denkbar ist. An dieser Stelle berührt sich Bachtins scheinbar widersprüchlicher Stimmen-Entwurf mit der Schriftkonzeption Derridas, wie auch Renate Lachmann ausführt: „Die Schrift ist für Bachtin jene disziplinierende Kraft, die den Sinnpluralismus und die Vielstimmigkeit einebnet, zugleich aber die Schrift zum Speicher der Stimmen werden läßt“82. Auch Bachtins Konzeption der ‚Person‘ als Kreuzungspunkt von Stimmen ist letzten Endes nicht mehr als ein Effekt der Sprache, ein Effekt des Wortes und des Romantextes. Zum Kern dieser dialogischen Polyphonie avancieren damit die unterschiedlichen Sinnintentionen, die sich in den Stimmen kreuzen. Die in diesem literarischen ____________ 78 79 80 81 82
Ebd. Lachmann (1990: 196). Bachtin [1940/1974](1979b: 352). Bachtin [1940/1974](1979b: 354). Lachmann (1990: 194f.).
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Stimmenbegriff mitschwingende metonymische Bildlichkeit wäre folglich ein Rest an ‚Subjektivität‘, der sich auf den Begriff der Intentionalität bringen ließe. Bachtin fasst ‚Stimme‘ somit als genuin literarische und metaphorische Textinstanz, die die individuelle Hervorbringung von Sinn als spezifische Aktualisierung von Wortmaterial im Kontext der Rede ermöglicht.
4. Implikationen von ‚Stimme‘ bei Derrida und Bachtin Ein vergleichender Blick auf die Stimmen-Konzeptionen von Derrida und Bachtin ergibt zunächst, dass diese unterschiedlicher nicht sein könnten: Während Derrida in der Stimme die (scheinbare) Idealität der Bedeutung verwirklicht sieht und ihr die Schrift als Träger der Spur, als Ort einer unablässigen Verschiebung des Sinns (der différance) entgegensetzt, wird gerade die Stimme, genauer: werden die Stimmen bei Bachtin zum Ort der Pluralisierung des Sinns. Während für Derrida also die Sinn dezentrierende différance eine genuin schriftliche Bewegung und es daher die (ihrerseits allerdings wieder metaphorisch verstandene) Schriftlichkeit von Sprache ist, die der Eindeutigkeit einer Bedeutung entgegenläuft, sind es bei Bachtin die im Wort eingelagerte(n) Stimme(n), die jede Indexikalität des Wortes, jede Form sinnhafter Präsenz zerstören, indem in ihnen immer zugleich andere, fremde Kontexte mitschwingen und sich im Wortgebrauch aktualisieren. Die Voraussetzung der Stimme im Wort bedingt dabei geradezu ihr dezentralisierendes Subversionspotential83, das Derrida der Schrift zuschreibt. Es ist für Bachtin das Romanwort, das als Ort aufeinander treffender Stimmen die ‚Spuren‘84 aller vorigen intentionalen AkzentSetzungen transportiert und Sinn somit pluralisiert. Sprache erscheint bei Bachtin grundsätzlich als „spaltbares Material“85, was wiederum zumin____________ 83
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Vgl. Lachmann (1990: 187f.): „Das vielstimmige Wort wird zum Ort einer verbalen Interaktion, die keinem Zeichenzentralismus unterworfen ist, die sich der Vereinheitlichung widersetzt und die Dominanz des einen Wertakzents, des einen Ideologems unterläuft“. Tatsächlich benutzt auch Bachtin – allerdings eher selten – den Begriff der ‚Spur‘ für die Differenzierung der vielen verschiedenen Sprachen und Redeweisen: So etwa, wenn er für die Poesie konstatiert, sie vernichte „alle[ ] Spuren von sozialer Redevielfalt und Sprachvielfalt“ und bewirke „im poetischen Werk eine gespannte Einheit der Sprache.“ Bachtin [1934/35/75](1979a: 189). Lachmann (1984: 493).
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dest in der Nähe von Derridas Begriff der différance anzusiedeln ist. So gelangt auch Renate Lachmann zu dem Schluss, dass Bachtins Kritik am sinnfixierenden Zeichenbinarismus (eines als einstimmig missverstandenen Roman-Wortes) die „Opposition, die Derrida in der Grammatologie entwickelt, um[kehrt]: nicht phonô (logos) vs. gramma, sondern gramma (logos) vs. phonô“86. Diese Umkehrung ändert aber nichts an den Gemeinsamkeiten beider Theoretiker: Beide setzen sich mit den metaphorischen resp. metonymischen Implikationen der ‚Stimme‘ auseinander, und zwar hinsichtlich der Frage der durch ‚Stimme(n)‘ indizierten Präsenz von Subjektivität (Derrida) bzw. deren Intentionalität (Bachtin)87. Und beide Theoretiker arbeiten an einer Dezentrierung des Sinns – Derrida allerdings unter dem Schutzdach der Schrift, Bachtin unter dem der Stimme. Wäre die ‚Stimme‘ also ein so weit gefasster Begriff, dass er sich für unterschiedlichste, ja einander widersprechende Auffassungen ohne Probleme funktionalisieren ließe? Hier gilt es allerdings zu beachten, dass der Stimmen-Begriff bei Derrida ein anderer ist als bei Bachtin. Derrida analysiert die Stimme unter sprach- bzw. schriftphilosophischen Voraussetzungen und geht dabei von einer Analyse der spezifischen Medialität der konkreten, lautlichkörperlichen Stimme über zu einem phänomenologischen ‚Stimmen‘Begriff, der ihre Klanglichkeit ausblendet und als Synonym für die ‚Innerlichkeit des Sinns‘ letztlich so bildhaft wird, dass auch die geistesgeschichtliche Tradition der Seelen-Inschrift oder des Buches der Natur unter diesem Begriff der Stimme gefasst werden können. Bachtin fasst unter ‚Stimme‘ die sinnhaft intentionale Besetzung des literarischen Romanwortes innerhalb des sozialen Redekontextes. Lautlichkeit und Klangaspekt werden bei Bachtin ebenfalls ausgeblendet, um ‚Stimme‘ als eine genuine (und damit ebenfalls metaphorische) Textinstanz von Erzählliteratur zu fassen, die bereits deutlich in die Nähe der metaphorischen Begriffsverwendung bei Genette gerät. ____________ 86 87
Lachmann (1984: 494). Renate Lachmann hat in den Stimmen-Konzeptionen beider Theoretiker überdies den Gegensatz von Präsenz (Derrida) vs. Nicht-Präsenz (Bachtin) festgemacht; denn die Funktion, die dem Romanwort bei Bachtin zukomme, so Lachmann, sei die der ‚NichtPräsenz‘: „Der Chronotop der Stimme ist die antizipierte Vergangenheit, die NichtPräsenz“ (Lachmann (1990: 187)).
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Der Blick auf die Unterschiede zwischen Derridas und Bachtins ‚Stimmen‘-Begriffen – von der Verschiedenheit ihrer Ansätze bis hin zur gegensätzlichen Bewertung der Stimme – sollte den Blick auf die Gemeinsamkeiten beider Entwürfe jedoch nicht verstellen. Wenn ‚Stimme‘ bei Derrida zu einem Synonym für die ‚Innerlichkeit des Sinns‘ wird, so trifft sich dies mit Bachtin, der unter ‚Stimme‘ die sinnhaft-intentionale Besetzung des Wortes im Roman versteht. Was der ‚Stimme‘ bei Derrida (und ganz ähnlich bei Barthes88) zum Vorwurf gemacht wird – sie diene dem augenscheinlich ‚direkten‘ Ausdruck eines Subjekts –, ist auch dem Begriff der ‚Stimme‘ bei Bachtin in Form individuell-intentionaler Sinnausrichtung inhärent. Intentionalität ist es weiterhin aber auch bei Derrida, was (scheinbar) im mündlichen Gespräch vermittelt werden kann, insofern die Selbst-Affektion durch die Stimme die Illusion der unmittelbaren Präsenz des vom Sprecher ‚Gemeinten‘ evoziert. Der Begriff der ‚Stimme‘ umfasst also erstens den Rückbezug auf ein Subjekt89 und zweitens die Implikation einer Intentionalität der Aussage: Die Voraus-Setzung eines (sprechenden) Subjekts oder aber einer Intention vor die Stimme scheint für das Verständnis dieses Begriffs unabdingbar. Stellen diese im Begriff der ‚Stimme‘ mitschwingenden, metonymischen Konnotationen in Sicht auf die Verwendung dieses Begriffs in der ____________ 88
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Hier gilt es zu differenzieren: Wir beziehen uns hierbei ausschließlich auf Barthes’ wirkungsmächtigen Text Der Tod des Autors, in dem ‚Stimme‘ auch von Barthes metaphorisch verwendet wird. Ganz im Gegenteil zu Derrida hat Barthes an anderer Stelle ([1982](1990)) der Materialität und Klanglichkeit von ‚Stimme‘ durchaus Aufmerksamkeit gewidmet – inwieweit allerdings auch diese ‚Stimme‘ wieder metaphorische Qualitäten erhält, wäre zu untersuchen. So oder so müssen aber verschiedene ‚Stimmen‘-Begriffe bei Barthes unterschieden werden. Dezidiert trifft dies auf Derrida zu, wie oben gezeigt wurde. Bachtin wiederum versucht, diesen Bezug auf ein ‚Subjekt‘ durch die Akzentuierung sozialer SprachKollektive einerseits und die Ersetzung des Begriffs ‚Subjektivität‘ durch ‚Personifikation‘ zu vermeiden. Dass mit der Formulierung ‚Personifikation‘, mit der wiederholten Rede auch von ‚individualisierten‘ Sprachformen im Roman (vgl. etwa Bachtin [1934/35/75](1979a: 157, 245)) und mit dem Aspekt der Intentionalität allerdings auch bei Bachtin durchaus ein allgemeiner Begriff von ‚Subjektivität‘ aufgerufen wird, dürfte deutlich sein. Mitzudenken gilt es bei Bachtin allerdings immer, dass ‚Stimme‘ ja kaum einmal singulär auftritt, sondern immer die Kreuzung verschiedener Intentionen beinhaltet. Eine ‚individuelle Stimme‘ ist ja nur die ‚Spitze‘ eines Sprachgebrauchs, der sich innerhalb des sozialen Kontexts von Rede vollzieht – eine ‚Person‘ (als Ersetzung des Begriffs ‚Subjekt‘) ist bei Bachtin gewissermaßen der Kreuzungspunkt verschiedener ‚Stimmen‘, und insofern wird ‚Subjektivität‘ bei Bachtin dann dezentralisiert.
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Erzähltextanalyse damit eine Last dar, die den Spezifika schriftlicher Erzähltexte nicht gerecht wird – oder lassen sich diese Implikationen im Gegenteil als ein auch für die Narratologie fruchtbarer Vorstellungskonnex verstehen?
5. ‚Stimme‘ im literarischen Text – ‚Stimme‘ als Kategorie der Erzähltextanalyse In Discours du récit formulierte Genette, dass die narrative Instanz des Textes, die in seinem strukturalistischen, der Linguistik verpflichteten Begriffsinventar unter der Kategorie der ‚Stimme‘ gefasst wird, in Sicht auf die Spuren zu betrachten sei, die sie im narrativen Diskurs hinterlassen habe90. Mit diesem zentralen Satz wird zwar weder behauptet, die narrative Instanz sei von sich aus im Text gegeben, noch, diese Instanz sei figural konkretisiert und als ‚Person‘ zu denken. Dennoch bleibt der Begriff der ‚Stimme‘ auch bei Genette an die Annahme eines Subjekts rückgebunden, wie eingangs gezeigt wurde: Sowohl die terminologischen Anleihen bei Vendryès und Benveniste als auch Genettes Festhalten am Begriff des ‚Erzählers‘ sowie die emphatische Verteidigung seines Entwurfs in Nouveau Discours du récit bis hin zum Beharren auf der ‚Stimme‘ des Autors91 machen dies deutlich. Es ist dabei gerade diese Rückbindung der Stimme an ein Subjekt, die – beeinflusst auch durch das Schrift-Verständnis des Poststrukturalismus – immer wieder in den Mittelpunkt der Kritik rückte und den Auseinandersetzungen mit dem narratologischen Begriff ‚Stimme‘ nach und seit Genette als ‚Spur‘ eingeschrieben ist. Dabei scheinen die bei Genette gegebenen und nachfolgend umstrittenen Implikationen des Terminus dem Begriff durchaus angemessen zu sein: Subjektivität und Intentionalität haben sich als metaphorischer Kern des mit ‚Stimme‘ Gemeinten erwiesen, dies auch und gerade bei Derrida als Vertreter der ‚Schrift‘. Dass sich Genette diesen metonymischen Implikationen des per se schon metaphorischen Stimmenbegriffs nicht entziehen konnte oder auch nur wollte, lässt sich nun einerseits – unter Verweis auf die Spezifika von Schrift, die also auch schriftlich vorliegende Erzähltexte betreffen – bemängeln. Es stellt sich andererseits jedoch ____________ 90 91
Genette [1972/1983](1998: 152). Vgl. Genette [1972/1983](1998: 260) sowie oben Fußnote 14.
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die Frage, ob der Begriff der ‚Stimme‘ damit wirklich eine unzulässige Begrifflichkeit für die Beschreibung der Funktionsweise narrativer Texte darstellt, anders gesagt: Auch wenn in der Schrift die Abwesenheit des sprechenden Subjekts notwendigerweise gegeben ist, Schrift sich von ihrem Urheber abtrennt und damit autonom wird, auch wenn dem Schrifttext ein Pendant für Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Melodie und Akzent und damit für all das fehlt, was die gesprochene Sprache auszeichnet und dem Ausdruck einer (angenommenen) Intentionalität der mündlichen Äußerung dienlich sein kann92 – bedeutet dies automatisch, dass schriftlich vorliegende Erzähltexte ganz anders als gesprochene Sprache funktionieren? Sprachpragmatisch gesehen scheint die Evokation einer die Sprache verantwortenden Instanz eine automatische Handlung zu sein und scheint sich auch Schrift-Sprache dem Prozess einer Voraus-Setzung eines Subjekts vor die Rede nicht entziehen zu können. Im Falle literarischer Texte lässt sich dies in Anlehnung an Paul de Man und Bettine Menke mit der rhetorischen Figur der Prosopopoiia fassen, einer Figur, die sich über das antike Verständnis hinaus93 als poetologische Konstante des Funktionierens poetischer Texte verstehen lässt. Prósopon-poieín als „Verleihen einer persona an einen Text“94, die in Form der ‚Stimme‘ erscheint, „ist eine rhetorische Figur, die ein Subjekt der Rede (erst) voraus-setzt und einsetzt, das nachträglich, als sprechendes, immer schon gegeben zu sein scheint“95. Insofern aber „verstellt diese Figur durch ihren Effekt [...] auch schon ihr Funktionieren als rhetorische Figur und ihre Voraussetzung eines Mangels (von Stimme und Gesicht)“96. Einen Mangel haben schriftliche Texte insofern, als Schriftlichkeit die raum-zeitliche Trennung der Schrift von der Person, die sie hervorgebracht hat, gestattet, ja diese als Schrift im Grunde immer schon voraussetzt: Und dies gibt der Schrift zumindest theoretisch die Möglichkeit, zu ‚sprechen‘ ohne einen Sprecher (was im Grunde der Kernpunkt des Postulats vom ‚Tod des Autors‘ ist). ____________ 92
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Vgl. hierzu grundlegend den Beitrag von Reinhart Meyer-Kalkus in diesem Band, der die Relevanz der gesprochenen, lauten Stimme als Interpretation eines Textes im Falle des Vorlesens von Erzähltexten nachdrücklich herausstellt. Im antiken Verständnis ist die Prosopopoiia „die Figur, durch die Toten und Abwesenden im Text in deren fiktiver Rede eine Stimme und ein sprechendes Gesicht verliehen wird.“ Menke (2000: 7). Menke (2000: 8). Menke (2000: 7). Menke (1997: 230).
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So lässt sich die Position einer Erzählinstanz in einem schriftlichen Text auf den „Status eines bloßen grammatischen Pronomens reduzieren, ohne dass es eine Erzählung nicht geben könnte“97, der Referent dieses grammatischen Pronomens (das Subjekt) ist jedoch in der Schrift abwesend. Im Falle literarischer Texte wird dieses grammatische und damit gewissermaßen ‚leere‘ Subjekt allerdings noch mit einer Funktion ausgestattet, die nicht grammatisch, sondern rhetorisch ist: denn es verleiht einem grammatischen Syntagma eine Stimme. Der Begriff Stimme ist, auch wenn er in einem grammatikalischen Sinn gebraucht wird […], selbstverständlich eine Metapher, die aus der Struktur des Prädikats einen Analogieschluss auf die Absicht des Subjekts zieht.98
Dieser Analogieschluss scheint uns dem Begriff der ‚Stimme‘ eingeschrieben zu sein, da sich Subjektivität und Intentionalität als kleinster gemeinsamer Nenner der vollkommen verschiedenen (und ihrerseits metaphorischen) Stimmen-Konzepte von Derrida und Bachtin ergeben haben. Im Falle literarischer Texte scheint dieser Analogieschluss weiterhin in Form einer rhetorischen Qualität der Texte – umschrieben mit der Figur der Prosopopoiia – für die Lektüre konstitutiv zu sein99: Was bei Derrida als Illusion der ‚Stimme‘ abgelehnt wird, kann so positiv als Verstehensfigur von Texten fruchtbar gemacht werden. Hiermit ist allerdings nicht gesagt, dass sich die ‚Stimme‘ in einem Text notwendigerweise an ein historisches Subjekt als Person (den Autor) anschließt, auch nicht, dass die ‚Stimme‘ die Annahme einer sprechenden Person im Text (als Erzähler) legitimiert, im Gegenteil: Eine ‚Stimme geben‘ ist Modell der Lektüre, die ein ‚Gesicht‘ verleiht; ‚prosoponpoein‘ [sic] ‚sagt‘ aber als rhetorische Operation des Verleihens einer persona
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De Man [1979](1988: 49) – Im Falle von rein heterodiegetischen Erzählungen taucht der ‚Erzähler‘ zwar noch nicht einmal in Form eines bloßen grammatischen Pronomens im Text auf, hier jedoch gilt Genettes Einwand, dass „jede Narration per definitionem virtuell in der ersten Person (sei es auch in Form des akademischen Plurals [...])“ steht, insofern „sich der Erzähler jederzeit als solcher in die Erzählung einmischen kann“. Genette [1972/1983](1998: 175), vgl. auch Martinez/Scheffel (1999: 81). De Man [1979](1988: 49). Ähnlich auch Menke (1997: 234): „In der Prosopopoiia wird eine grammatische Funktion rhetorisch und eine Figur anthropomorph.“ Nicht als rhetorische Funktion des Textes, sondern als eine auf Seiten des Lesers zu verortende kognitive Operation des ‚stummen Lesens‘ fasst Rüdiger Zymner dieses Phänomen, vgl. seinen Beitrag im vorliegenden Band. Aus unserer Sicht ließe sich beides durchaus miteinander verbinden.
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Andreas Blödorn / Daniela Langer zugleich auch, daß ein solches ‚Gesicht‘ des Sprechens ursprünglich fehlte oder nie da war [...].“100
Die Voraus-Setzung eines Subjekts, die von der rhetorischen Funktion eines literarischen Textes evoziert wird, stellt lediglich eine Operation dar, der kein notwendig gegebenes Äquivalent in der Schrift selbst zukommt. Nun arbeitet Genette gerade mit dieser Ambivalenz, dass einerseits implizit an einem Subjekt-Begriff als Ursprung der (schriftlichen) erzählenden Rede festgehalten wird, dass jedoch andererseits diese Instanz nur über die ‚Spuren‘ zu erschließen ist, die sie selbst im narrativen Diskurs hinterlassen hat. Spuren erlauben allerdings nur, ihren Verursacher rückwirkend – und in seiner gegenwärtigen Absenz – zu re-konstruieren. Und so muss weiterhin ein Erzähltext nicht notwendigerweise einen im Text ‚fassbaren‘, figurativen Erzähler als Produktionsinstanz des narrativen Diskurses etablieren. Der Spuren können auch sehr wenige sein – im Extremfall ließe sich die ‚Stimme im Text‘ dann als eine reine rhetorische Funktion verstehen101. In Sicht auf solche Fälle zurückgenommener Erzählinstanzen scheinen die anthropomorphen Implikationen des Überbegriffs ‚Stimme‘ für alles, was in Sicht auf den Vorgang der Narration selbst von Belang ist, schwierig zu sein – sie sind es dezidiert, wenn ‚Stimme‘ – wie Genette es in Nouveau Discours du récit getan hat – mit der Frage „Wer spricht?“102 gleichgesetzt wird. Mit dieser Gleichsetzung fällt Genette allerdings hinter eine Differenzierung zurück, die er in der Anlage seines Systems verschiedener zu analysierender Aspekte in Discours du récit durchgeführt hatte: ‚Stimme‘ ist hier zunächst die übergreifende Kategorie, unter der dann die Aspekte „Zeit der Narration“, „narrative Ebene“ und „Person“103 versammelt werden. Anders gesagt: Die Kategorie der „Person“ – der die Frage „Wer spricht?“ eher zuzuordnen wäre – ist keineswegs mit ‚Stimme‘ identisch, wenn auch unter der ‚Stimme‘ sodann eine Art Gesamtbild der Produktionsinstanz des narrativen Diskurses rekonstruiert wird. Die metonymischen Implikationen des Begriffs erlauben, ihn zwar ____________ 100
Menke (2000: 11). Was im Falle heterodiegetischer Erzählsituationen oft genug gegeben ist, man denke etwa an die Erzähltexte Kafkas. Franz K. Stanzel hatte diese rhetorische Erzählfunktion mit dem Begriff ‚Reflektor‘ versehen. 102 Genette [1972/1983](1998: 235). 103 Genette [1972/1983](1998: 153). 101
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einerseits mit Subjektivität und Intentionalität in Verbindung zu bringen, öffnen ihn aber andererseits auch auf die Möglichkeit hin, dass diese Implikationen im Text selbst nicht aufgerufen oder aber sogar dezidiert unterwandert werden, so dass die zu füllende Subjektposition in der Frage „Wer spricht?“ auch eine Leerstelle bleiben kann. In diesem Falle läge dann eine reine Rhetorizität von Stimme vor, die evoziert, was nicht vorhanden ist und was im Extrem als reine Funktion der Stimme beschrieben werden kann. Eine solche – mögliche – Negation der Implikationen der Kategorie ‚Stimme‘ in einzelnen Erzähltexten muss dieser Kategorie als ganzer allerdings keineswegs die Berechtigung absprechen, und dies umso mehr, als ihr bei Genette die Spurensuche nach Ansatzpunkten im Text, die die rückwirkende Re-Konstruktion einer (oder mehrerer) subjektiver Aussageinstanz(en) überhaupt erst erlauben, ja eingeschrieben ist. Erzähltexte können die faktisch gegebene Abwesenheit des Sprechers in der Schrift umgekehrt aber nicht nur dadurch fruchtbar machen, dass die Position eines ‚Sprechers‘ im Text durch eine rhetorische Funktion von ‚Stimme‘ ersetzt wird, sondern auch dadurch, dass sie mehrfach besetzt wird und so auch paradoxe ‚Sprech‘-Situationen möglich werden: ‚Sprech‘-Situationen, denen mehrere Sprecher gleichzeitig zugeordnet werden können, in denen also mehrere Stimmen gleichzeitig zu sprechen scheinen. Deutlich wird dies am Beispiel der von Bachtin konstatierten hybriden Konstruktion als Überlagerung mehrerer Stimmen im Erzählakt. Eine solche Hybridisierung kann sowohl auf der Ebene eines einzigen Wortes als auch auf der Ebene mehrerer Wörter oder ganzer Sätze vorliegen: Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ‚Sprachen‘, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es [...] keine formale – kompositorische und syntaktische – Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes, oft gehört sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen, und sie hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente [...].104
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Bachtin [1934/35/75](1979a: 195).
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Bachtins ‚hybride Konstruktion’ steht in einer Nähe zum Phänomen der erlebten Rede, wenn sie auch letztlich nicht mit ihr identisch ist. Erlebte Rede lässt sich auf der Ebene einzelner Sätze als Überlagerung der Stimmen von Erzähler und Figur, also als Überlagerung zweier Stimmen im Text verstehen – was auch in der Forschung herausgestellt wurde105: Ohne Fragen des Modus unterbewerten zu wollen, die in dem komplexen Phänomen der erlebten Rede immer auch zum Tragen kommen106, müsste erlebte Rede somit als eine ‚Stimmen‘-Form expliziert werden, in der auf der Ebene der ‚Person‘ selbst eine Überlagerung stattfindet von der Rede der (heterodiegetischen) Erzählinstanz des gesamten narrativen Diskurses (und dies unabhängig davon, wie explizit diese im Text ‚fassbar‘ wird!) mit der Rede der (zwangsläufig intradiegetischen) Figur107. Genau hier läge die genuine Ausdrucksmöglichkeit erzählender Texte, fremde Rede sowohl als (durch die Stimme der Erzählinstanz) berichtete Rede wie ____________ 105
Grundlegend Pascal (1977), vgl. seine Kritik am deutschen Terminus ‚erlebte Rede‘: “It is only a pity that the term [erlebte Rede] does not suggest the mingling, even fusion, of two voices in a dual voice, neither simple narrator nor simple character” (1977: 32). Der französische Begriff ‘style indirect libre’ ebenso wie die englischen Varianten ‘free indirect speech’ oder ‘free indirect discourse’ sind insofern präziser und stellen die ‚erlebte Rede‘ in eine Nähe zur indirekten Wiedergabe von Figurenrede. 106 Dies betrifft – im Kategoriensystem Genettes – zum einen die ‚Distanz‘, insofern erlebte Rede den Anschein von Unmittelbarkeit evoziert, zum anderen die ‚Fokalisierung‘, insofern erlebte Rede immer auch den Standpunkt und die Perspektive der Figur transportiert. 107 Was bei Genette selbst schon angelegt ist, jedoch so dezidiert nicht ausgeführt wird. Denn Genette erläutert das Phänomen der erlebten Rede unter der übergreifenden Kategorie ‚Modus‘ und gerade nicht unter der Kategorie ‚Stimme‘, wobei ‚Modus‘ ja allerdings die Art und Weise betrifft, in der erzählt wird – und dies dann letztlich eben doch von der Stimme. In Genettes Überlegungen zur erlebten Rede heißt es: „man weiß, welchen großen Nutzen Flaubert aus dieser Zweideutigkeit gezogen hat, die es ihm erlaubt, in seiner eigenen Rede – ohne es völlig bloßzustellen, aber auch ohne es völlig für unschuldig zu erklären – jenes zugleich widerliche und faszinierende Idiom zu gebrauchen, das die Sprache des Anderen darstellt.“ (Genette [1972/1983](1998: 123), Hervorhebung von uns). Die Formulierung ‚die Sprache des Anderen‘ könnte durchaus von Bachtin stammen. Ansonsten ist an dieser Stelle natürlich zu konstatieren, dass Genette den Sprung von der Erzählinstanz des narrativen Diskurses zum Autor Flaubert vollzieht – auch dies entspräche im Kontext allerdings der Vorgehensweise Bachtins: Denn Genettes Verweis auf die damit erzielte Wirkung (als Changieren zwischen neutraler Wiedergabe und Bloßstellung der Rede des Anderen) zielt letztlich auf die Verfahrensweise des Romans als Roman – die in der erlebten Rede umgesetzte ‚Zweistimmigkeit‘ wäre so ein Mittel des Autors Flaubert, seine Intention umzusetzen.
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auch als diese (fremde) Stimme im Erzählakt zu präsentieren – und dies gleichzeitig in changierender Offenheit belassen zu können108. Die anthropomorphen Implikationen des Begriffs der ‚Stimme‘ sind hier ebenso funktional, wie sie andererseits in der Doppelung zweier Stimmen und damit zweier (rückwirkend vorausgesetzer) Subjekte in einem unterlaufen werden: Wir hören in der Stimme des Erzählers, die ‚spricht‘, zugleich die Stimme der Figur, die an dieser Stelle logischerweise nicht sprechen kann, für das Verstehen der erlebten Rede jedoch unabdingbar ist. Die zu uns gesprochene und an uns gerichtete Stimme im Text, die auch als Neben- oder Ineinander verschiedener Stimmen realisiert sein kann, wäre(n) somit Ausdruck der rhetorischen bzw. metaphorischen Grundhaltung, die jedem Verstehenshorizont narrativer Texte implizit zugrunde liegt. Gerade die Metaphorik des Begriffs ‚Stimme‘ scheint diesen damit auch als narratologische Kategorie im Sinne einer Bündelung aller im Text auftretenden Spuren, die die Re-Konstruktion einer Erzählinstanz im Text erlauben (oder auch verhindern), durchaus fruchtbar zu machen. Dass man dabei zwischen rein metaphorischen Verwendungen (etwa ‚die Stimme des Textes‘) und dem narratologischen Terminus nach Genette zu unterscheiden hat, ist selbstverständlich; dass dabei allerdings auch Interdependenzen zwischen der Metaphorik von ‚Stimme‘ und der erzähltechnischen Kategorie auftreten, lässt sich im Rahmen eines wissenschaftlichen Strebens nach Präzision zwar durchaus bemängeln, im Rahmen eines Verständnisses von Literatur, das sich „von der diskursiven Rede unterscheidet“109, jedoch auch als konstitutives Moment von Literatur akzeptieren: Stimme ist also jene Kategorie, in der die Polyvalenz und Vieldeutigkeit der Literatur Gestalt gewinnt. Erst dort, wo die Stimme des Autors mit der Stimme des Textes nicht gleichzeitig ist, geht es um die Stimme der Literatur. Sie waltet am Schnittpunkt von Sprache und Schrift, von Aussage und Spur, von Vernehmbarem und Lektüre, von Repräsentation und Abwesenheit, von Zeichen und Unaussprechlichem, […] und verleiht ihm seine spezifische Gestalt.110
____________ 108
Vgl. zur erlebten Rede auch den Beitrag von Fotis Jannidis im vorliegenden Band. Weigel (1999: 124). 110 Ebd. – Der Redlichkeit halber sei angemerkt, dass die Auslassung den Gegensatz von „Gesetz und Mysterium“ umfasst: Was uns für eine Übertragung auf die ‚Stimmen im Text‘ denn doch zu unfassbar blieb, während die anderen Oppositionen die Sachlage durchaus treffen. 109
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Dies gilt nicht nur für die ‚Stimme der Literatur‘, sondern auch für ‚Stimme(n) im Text‘. Die Metaphorik der Begrifflichkeit impliziert, dass die nach Genette in der Analyse unter der Kategorie ‚Stimme‘ systematisierten Aspekte der raum-zeitlichen Verortung des Sprechaktes nicht notwendiger-, aber möglicherweise an die Vorstellung einer personal identifizierbaren Sprechinstanz im Text gekoppelt sein können. Die Sprechinstanz des Textes wird dann als figuratives Subjekt lesbar. Aber selbst dort, wo dies nicht der Fall ist, kann der Text als Spur einer ‚Stimme‘ verstanden werden, der die Implikationen von Subjektivität und Intentionalität eingeschrieben sind – und sei es als reine rhetorische Funktion.
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MICHAEL SCHEFFEL (Wuppertal)
Wer spricht? Überlegungen zur ‚Stimme‘ in fiktionalen und faktualen Erzählungen Abstract Who or what “speaks” in a fictional tale? Is it heuristically meaningful to trace the sentences of such a story back to the historical author, to one of the active characters or a fictive moment in the plot—or would it be better, in this special case, to deny the testimonial subject and instead speak of a “narratorlessnarrative”? The article discusses the differentiation, introduced by Gérard Genette, between “voice” and “focalization” and attempts to ground in a systematically consistent manner the distinction between “story-telling” and “perception” in the case of fictional texts. For this purpose, elements of the new approaches in philosophy of language by Käte Hamburger und John R. Searle will be connected to the figure of a “disjunctive model” of fictional speech.
In seinen Abhandlungen Discours du récit (1972) und Nouveau Discours du récit (1983) differenziert Gérard Genette zwischen zwei Aspekten der Erzählung, die er mit den Begriffen ‚Stimme‘ (voix) und ‚Fokalisierung‘ (focalisation) bezeichnet und mit Hilfe der Fragen ‚qui parle?‘ und ‚qui voit?‘ (bzw. ‚qui perçoit?‘) bestimmt. Im Rahmen eines neuen, systematisch angelegten Beschreibungsmodells der Erzählung hat Genette damit eine grundlegende Unterscheidung eingeführt, die von der Erzählforschung bis dahin in aller Regel nicht oder nur unzureichend beachtet worden war1. Während etwa noch Erwin Leibfried ‚Erzählen‘ und ‚Wahr____________ 1
Für entsprechende Belege vgl. neben den Hinweisen bei Genette (1983: 43f.), (1998: 235f.) selbst z. B. Kablitz (1988: 237f.); zu älteren Ansätzen einer ver-
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nehmen‘ im Sinne der älteren narratologischen Forschung vermischt und demzufolge die seit der Romantik populäre Form des personalen Erzählens als perspektivierte Figurenerzählung in der dritten Person beschreibt („Der reale Autor lässt eine Person, die handelt, in der Er-Form erzählen“2), trennt Genette in seinem Modell den Akt des Erzählens grundsätzlich von den Akten des Wahrnehmens und nicht-sprachlichen Handelns. Aus seiner Sicht folgt aus der offensichtlichen Perspektivierung des erzählten Geschehens im Rahmen einer ‚personalen Erzählsituation‘ also keineswegs (jedenfalls nicht zwingend) die Identität von wahrnehmender Figur und erzählender ‚Stimme‘. Wer oder was aber ‚spricht‘ dann im Fall einer Erzählung, die einerseits an die Perspektive einer (oder mehrerer) Figur(en) gebunden ist und die „Illusion der Unmittelbarkeit“ (Stanzel)3 erweckt, die andererseits aber in der dritten Person erfolgt? Schließt man die handelnde(n) Figur(en) als ‚Sprecher‘ ebenso aus wie die Vorstellung, daß „das Geschehen […] sich selber im Augenblick“4 erzähle, so bleibt in einem Modell wie dem von Leibfried nur noch der Autor der Erzählung als Kandidat. Versteht man die literarische Erzählung als eine Form der „sprachlich-ästhetischen Fiktion“5, ist ein solcher Rückgriff auf den historischen Autor jedoch keine befriedigende Lösung. Die Gründe dafür seien im Folgenden dargelegt. Sie scheinen mir schon deshalb von ____________ 2
3
4
5
gleichbaren Unterscheidung u. a. bei Kristin Morrison und Franz K. Stanzel vgl. Martinez/Scheffel (2005: 63f.). Vgl. Leibfried (1970: 247). Differenzierter, aber im Ansatz ebenfalls unscharf Franz K. Stanzel: „In einer personalen ES schließlich tritt an die Stelle des vermittelnden Erzählers ein Reflektor“. Vgl. Stanzel (2001: 16). Vgl. Stanzels Erläuterung der ‚personalen ES‘ ebd.: „Weil nicht ‚erzählt‘ wird, entsteht in diesem Fall der Eindruck der Unmittelbarkeit der Darstellung. Die Überlagerung der Mittelbarkeit durch die Illusion der Unmittelbarkeit ist demnach das auszeichnende Merkmal der personalen ES.“ So z. B. Friedrich Beißner im Blick auf die personale Erzählweise in der Prosa von Franz Kafka. Vgl. Beißner (1983: 40). Zur neueren Diskussion um ein “narratorless narrative” (u. a. im Anschluß an Banfield (1985) u. Fludernik (1993)) vgl. Aczel (1998). Zur Begründung dieses Begriffes, der die Besonderheit der mit der literarischen Erzählung verbundenen Fiktion gegenüber der sprachlichen Fiktion in nichtästhetischen Bereichen (wie Philosophie, Natur- und Rechtswissenschaften) sowie der ästhetischen Fiktion in nicht-sprachlichen Kunstwerken (wie Bildern u. ä.) zum Ausdruck bringen soll, vgl. Zipfel (2001: 20-29). Zum besonderen Profil der literarischen Fiktion vgl. zuletzt auch Zipfel (2004: 65-70).
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Interesse, weil sie neben dem Problem des Ursprungs und der Aussagestruktur der ‚Erzählrede‘ auch das der Differenzierung von ‚Erzählen‘ und ‚Wahrnehmen‘ im Fall der literarischen Erzählung betreffen. * Will man die Bedeutung von Genettes Konzeption der ‚Stimme‘ erfassen, darf man sich m. E. nicht auf das im wesentlichen auf dem induktiven Weg der Textanalyse gewonnene und aus theoretischer Sicht nicht allzu fest gefügte Fundament beschränken, das in den beiden Studien zum Discours du récit entwickelt wird. Berücksichtigen sollte man auch die in diesem Rahmen stets mitgedachten, aber nicht systematisch begründeten Besonderheiten des Erzählens in der Literatur6. Genette selbst hat die Unterscheidung zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen später in Fiction et diction (1991) ausführlicher reflektiert7 und zu diesem Zweck an die einschlägigen Modelle von Käte Hamburger und John R. Searle angeknüpft. Was gewinnt er mit den sprachphilosophischen Ansätzen von Hamburger und Searle? Um sowohl den theoriegeschichtlichen Ort als auch das heuristische Potential von Genettes Position zu verstehen, seien diese beiden ebenso vieldiskutierten wie gegensätzlichen Ansätze knapp skizziert. Käte Hamburger entwickelt ihren Entwurf einer Logik der Dichtung (1957ff.) in Abgrenzung von Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911). Im Unterschied zu Vaihinger und seinen Nachfolgern8 hält Hamburger es für falsch, das Phänomen der literarischen Fiktion mit der Form des „Als Ob“ zu erklären, weil diese Form die Idee der Täuschung impliziert. Auf der Grundlage eines Konzepts von Dichtung als ‚Mimesis‘ im Sinne der „Darstellung“ (und nicht „Nachahmung“) von Wirklichkeit9 ____________ 6 7
8 9
In Ansätzen reflektiert Genette die Konsequenzen dieser Besonderheiten für sein Konzept der Stimme in Genette [1972/1983](1998: 152). Und zwar in erster Linie in den beiden, auch gesondert veröffentlichten Aufsätzen Le statut pragmatique de la fiction narrative und Fictional Narrative, Factual Narrative. In der deutschen Übersetzung sind das die Kapitel „Die Fiktionsakte“ und „Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung“ (vgl. Genette [1991](1992: 41-94)). Dazu zählt Hamburger an erster Stelle Roman Ingarden und seinen Begriff des „QuasiUrteils“, ausgearbeitet in Ingarden (1960). Vgl. Hamburger [1957](1980: 17). Zu Hamburger und einem nicht auf die Idee der ‚imitatio‘ beschränkten Mimesis-Begriff vgl. zuletzt Schmid (2005: 33) (mit weiterführenden Literaturhinweisen).
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erklärt Hamburger die literarische Fiktion statt dessen im Sinne einer – um eine von Hamburger selbst nicht benutzte Wendung zu gebrauchen – imaginären Objektivität. Als solche hat die literarische Fiktion einen anderen Status als die Täuschung, weil sie autonom, d. h. von der historischen Wirklichkeit unabhängig ist. Dementsprechend unterscheidet Hamburger grundsätzlich zwischen ‚fingiert‘ („Als ob-Struktur“, „Täuschung“) und ‚fiktiv‘ („Als-Struktur“ in Hamburgers Terminologie; zu verstehen als eine imaginäre Objektivität, die nichts anderes scheinen möchte als sie ist, nämlich „Schein von Wirklichkeit“)10. Die skizzierten theoretischen Voraussetzungen bilden den Hintergrund, vor dem Hamburger in ihrem „‚Grundbuch‘ der Erzählforschung“11 die epische Fiktion zu bestimmen, d. h. die sprachlichen Eigenheiten dessen zu ermitteln versucht, was sie das „fiktionale Erzählen“ nennt. Hamburger versteht darunter allerdings nur eine besondere grammatische Form des Erzählens, nämlich das Erzählen in der dritten Person12. Für diesen Fall beobachtet sie im Vergleich zum „allgemeinen Sprachsystem“ eine Reihe von sprachlichen Besonderheiten. Dazu zählt sie: – eine Modifikation des Tempussystems der Sprache (d. h. das Präteritum signalisiert in der Form des ‚epischen Präteritums‘ eine ‚fiktive Gegenwart‘ und verliert damit seine grammatische Funktion, das Vergangene des Erzählten zu bezeichnen13); ____________ 10 11 12
13
Vgl. Hamburger [1957](1980: 57f.). Vgl. Vogt (1998: 32); vgl. auch Scheffel (2003: 140-155). Diese auf den ersten Blick merkwürdige und vielfach kritisierte Einschränkung wird zumindest theoretisch nachvollziehbar, wenn man neben der vorgestellten Konzeption der literarischen Fiktion als imaginärer Objektivität berücksichtigt, daß Hamburger ihre Logik der Dichtung als eine „Sprach-“ bzw. „Aussagetheorie“ anlegt und sich für das „Verhältnis der Dichtung zum allgemeinen Sprachsystem“ (Hamburger [1957] (1980: 10)) interessiert. Im Fall der Ich-Erzählung versteht sie dieses Verhältnis als unspezifisch. Mit anderen Worten: Die literarische Ich-Erzählung gehört für Hamburger eben deshalb nicht in den Bereich des fiktionalen Erzählens, weil sie in der Aussagestruktur ihrer Sätze keinen logischen Unterschied zu denen der historischen Wirklichkeitsaussage erkennt. Hier wie dort sind die Sätze an das „Erfahrungs- oder Erlebnisfeld“ (Hamburger [1957](1980: 53)) eines bestimmten Aussagesubjekts gebunden, und die „Nicht-Wirklichkeit“ (vgl. Hamburger [1957](1980: 272)) einer literarischen Ich-Erzählung sieht Hamburger allein dadurch gegeben, daß ein Aussagesubjekt eine Wirklichkeitsaussage ‚fingiert‘ (vgl. Hamburger [1957](1980: 273)). Vgl. Hamburger [1957](1980: 65). Einer von Hamburgers Belegen ist die einem Roman von Alice Berend entnommene, bald legendär gewordene Wendung „Morgen
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einen Verlust der „deiktische[n], existentielle[n] Funktion“14 von deiktischen Zeit- und Raumadverbien wie ‚heute‘, ‚gestern‘, ‚hier‘ und ‚dort‘ (d. h. diese Adverbien beziehen sich ausschließlich auf das fiktive Hier und Jetzt der Figuren und damit auf eine Niemalszeit und einen Nirgendort); – die Anwendung von Verben innerer Vorgänge (verstanden als Verben des Wahrnehmens, Denkens, Empfindens) auf dritte Personen15. Aus den angeführten Merkmalen leitet Hamburger eine kategoriale Differenz zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen ab, wobei sie das fiktionale Erzählen als ein durch diese rein darstellungsbezogenen Merkmale notwendig und hinreichend markiertes Phänomen versteht. Mit dem aus ihrer besonderen, „aussagentheoretischen“ Sicht begründeten singulären Ort des fiktionalen Erzählens im allgemeinen „Sprachsystem“ verbindet sie schließlich zwei spezifische Qualitäten: 1. Im Unterschied zu den Sätzen der nicht-fiktionalen Erzählung zeichnen sich die Sätze der fiktionalen Erzählung durch das Fehlen eines Aussagesubjekts aus. Die Modifikation des Tempussystems der Sprache, der Verlust der deiktischen Funktion der Zeitund Raumadverbien sowie die Anwendung von Verben innerer Vorgänge auf dritte Personen verbieten es, in diesem Fall von einem realen oder fiktiven Subjekt zu sprechen, das diese Sätze zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort äußert und ein an eine konkrete Person gebundenes „Erfahrungs- oder Erlebnisfeld“ artikuliert. Konsequenterweise gibt es im Fall der fiktionalen Erzählung keinen „Erzähler“ (im Sinne einer an Zeit und Raum gebundenen fiktiven Person)16, sondern nur „den erzählenden Dichter und sein Erzählen“17. Dabei ist „Erzählen“ in einem spezifischen Sinn zu verstehen. Denn der historische Autor macht keine Aussagen, d. h. er erzählt nicht von den Figuren, sondern bringt sie erzählend hervor. Mit anderen Worten (so Hamburgers –
____________ 14 15 16 17
war Weihnachten“, d. h. die Kombination von Präteritum und Zukunftsadverb in einem Satz. Vgl. Hamburger [1957](1980: 120). Vgl. dazu Hamburger [1957](1980: 78ff.) sowie Hamburgers Ausführungen zum Phänomen der erlebten Rede, Hamburger [1957](1980: 80ff.). Vgl. dazu im Einzelnen Hamburger [1957](1980: 126ff.). Hamburger [1957](1980: 126).
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oft zitierte Formulierung): „zwischen dem Erzählten und dem Erzählen besteht kein Relations- und das heißt Aussageverhältnis, sondern ein Funktionszusammenhang“18. 2. Der Abwesenheit eines bestimmten Aussagesubjekts entspricht in der fiktionalen Erzählung die Anwesenheit fiktiver „Ich-Origines“, verstanden als „Bezugssysteme, die mit einem die Fiktion in irgendeiner Weise erlebenden realen Ich, dem Verfasser oder dem Leser, erkenntnistheoretisch und damit temporal nichts zu tun haben“19. Die Möglichkeit solcher fiktiver „Ich-Origines“ begründet zugleich die eigentliche Leistung des fiktionalen Erzählens: „Die epische Fiktion“, so Hamburger, ist der einzige sowohl sprach- wie erkenntnistheoretische Ort, wo von dritten Personen nicht oder nicht nur als Objekten, sondern auch als Subjekten gesprochen, d. h. die Subjektivität einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann.20
Die wohl prominenteste sprachphilosophische Gegenposition zu Hamburgers dichotomischem Modell von fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen findet man in John Searles Aufsatz The Logical Status of Fictional Discourse (1975) formuliert (ohne daß dieser sich allerdings auf Hamburger bezieht). Im Rahmen seines pragmatischen Ansatzes betrachtet Searle die Sätze der fiktionalen Rede hier im Anschluß an Austins Theorie der Sprechakte21 als Behauptungen, die die in der Alltagskommunikation geltenden Regeln für den Sprechakt des Behauptens verletzen (nämlich die ‘essential rule’ und die ‘sincerity rule’, denen zufolge ein Sprecher sich zur Wahrheit oder zumindest zum Glauben an die Wahrheit der eigenen Behauptungen verpflichtet). Handelt es sich im Fall der fiktionalen Rede also um einen einfachen Regelverstoß wie im Fall der Lüge? Um diese Konsequenz zu umgehen und das Spezifikum der fiktionalen Rede zu erfassen, versteht Searle die Sätze der fiktionalen Rede als ____________ 18 19 20
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Hamburger [1957](1980: 123). Hamburger [1957](1980: 72). Hamburger [1957](1980: 126). Dementsprechend bedarf der „Epiker“, so Hamburger an anderer Stelle, „der Verben der inneren Vorgänge wie denken, sinnen, glauben, meinen, fühlen, hoffen u. a. m.“ Vgl. Hamburger [1957](1980: 79). Vgl. Austin [1979](1962). Austin selbst betrachtet die fiktionale Rede als „unernste“ Verwendung der Sprache bzw. „parasitäre“ Ausnutzung „ihres gewöhnlichen Gebrauchs“ und schließt sie als Teil der „Lehre von der ‚Etiolation‘ (Auszehrung) der Sprache“ ausdrücklich aus seinen Untersuchungen aus. Vgl. Austin [1979](1962: 41f.).
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fingierte Assertionen, als erkennbar unernstes „make-believe“. Im Unterschied zu Hamburger erklärt Searle das Phänomen der Fiktion damit letztlich wie schon Vaihinger mit der Struktur des ‚Als Ob‘. Nach Searle gibt der Autor eines fiktionalen Textes vor, „illokutionäre Akte zu vollziehen, die er nicht vollzieht“22, was wiederum bedeutet, daß allein sein „Äußerungsakt“ (in Austins Terminologie also der Akt der Lokution) wirklich ist. So gesehen bekommt der alte aristotelische Gedanke, daß Dichtung ‚Mimesis‘ sei, einen besonderen Sinn (wobei Searle selbst weder den Anschluß an Aristoteles vollzieht noch diese theoretische Konsequenz ausführt). Tatsächlich verbindet sich mit der fiktionalen Erzählung dann in erster Linie nicht Mimesis von Welt, sondern von Rede (d. h. Aristoteles’ Bestimmung der Dichtung als Mimesis von „handelnden Menschen“23 ist im besonderen Fall der fiktionalen Erzählung zu allererst als Mimesis einer Sprechhandlung zu verstehen). “The essential fictiveness of novels”, formuliert die amerikanische Literaturtheoretikerin Barbara Herrnstein Smith dementsprechend im Anschluß an Searle, is not to be discovered in the unreality of characters, objects, and events alluded to, but in the unreality of the alludings themselves. In other words, in a novel or tale, it is the act of reporting events, the act of describing persons and referring to places, that is fictive. The novel represents the verbal action of a man reporting, describing, and referring.24
Wie steht es im Rahmen eines solchen pragmatischen Modells um die von Hamburger herausgearbeitete besondere Aussagestruktur des fiktionalen Erzählens, d. h. gibt es nach Searle sprachliche (bzw. textuelle) Indizien dafür, daß es sich in einem konkreten Fall von Rede nicht um einen authentischen illokutionären Akt, sondern um die Fiktion eines solchen Aktes handelt? Zu den Konsequenzen der den Einsichten der Sprechakttheorie verpflichteten Ansätze gehört, daß sie als entsprechende Signale in aller Regel keine textuellen, sondern nur kontextuelle Merkmale gelten lassen. So geht Searle selbst davon aus, „daß es keine Eigenschaft des ____________ 22 23 24
Vgl. Searle (1982: 87). Vgl. Aristoteles, Poetik, 1448a1ff. Vgl. Smith (1978: 29). Im deutschen Sprachraum ähnlich z. B. Ulrich Keller, der den „dichterische[n] Text […] seinem logischen Status nach“ als „die Fiktion einer sprachlichen Äußerung“ bestimmt. Vgl. Keller (1980: 21). Für weitere Literaturhinweise und eine mit dieser Auffassung im Ansatz kompatible Konzeptualisierung der ‚Mimesis‘ als „Mimesis des Erzählens“ vgl. zuletzt auch Nünning (2001: 21ff.).
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Texts“ gibt, „die einen Diskurs als fiktionales Werk ausweist“ (“there is no textual property [...] that will identify a text as a work of fiction”)25. Vergleicht man die Ansätze von Hamburger und Searle, so findet man die fiktionale Erzählung auf der einen Seite als eine durch bestimmte sprachliche Eigenheiten gekennzeichnete spezifische Art von Erzählung modelliert, bei der fiktive „Ich-Origines“ an die Stelle eines realen oder fiktiven Aussagesubjekts treten. Nach Hamburger gibt es in diesem Fall keinen Erzähler, sondern nur eine „Erzählfunktion“, die „der Dichter handhabt wie etwa der Maler Farbe und Pinsel“26. Demgegenüber steht die Auffassung Searles, der die Sprache der fiktionalen Erzählung als prinzipiell unspezifisch betrachtet und der die Sätze der literarischen Fiktion in der Tradition von Vaihingers Philosophie des Als Ob und Ingardens Theorie des ‚Quasi-Urteils‘ als fingierte Assertionen und damit als eine Form des durch bestimmte kontextuelle Signale markierten, unernsten ‘make-believe’ versteht. Hier also eine Erzählrede, die ihren Ursprung in der Mimesis von Sprechhandlungen ohne Autor hat (denn ein Autor, der Sprechhandlungen fingiert, ‚spricht‘ in einem nur äußerlichen Sinn); dort eine ebenfalls – wenn auch aus anderen Gründen – ‚stimmlose‘ Erzählung ohne Erzähler. Sind diese Ansätze also grundsätzlich unvereinbar mit dem Modell von Genette? Oder besser gefragt: Wie läßt sich Genettes Konzeption der ‚Stimme‘ mit ihnen verknüpfen, und was läßt sich aus den skizzierten Positionen für die theoretische Unterscheidung von ‚Erzählen‘ und ‚Wahrnehmen‘ im Fall des fiktionalen Erzählens gewinnen? Genette selbst, so meine ich, kritisiert und verbindet die Ansätze von Hamburger und Searle in Fiction et diction in einem nur oberflächlichen ____________ 25
26
Vgl. Searle (1982: 90), [1975](1979: 65). Im Anschluß an Searle bestimmt z. B. Gottfried Gabriel „fiktionale Rede“ als „diejenige nicht-behauptende Rede, die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt“, und erläutert: „Ob Rede fiktional, also nicht-behauptend und ohne Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder Erfülltheit ist, läßt sich der Rede selbst nicht ohne weiteres entnehmen. […] ob man es […] überhaupt mit behauptender, Referenzialisierbarkeit oder Erfülltheit beanspruchender Rede zu tun hat, ist nicht ohne Berücksichtigung der Intention des Sprechers (Autors), der Rezeption des Hörers (Lesers) und der Konventionen einer Hörer- oder Lesergemeinschaft entscheidbar. An dieser Stelle geht Semantik in Kommunikationstheorie über, die festlegt oder feststellt, auf Grund welcher Sanktionen oder Konventionen bestimmte Intentionen und Rezeptionen ausgezeichnet werden.“ Gabriel (1975: 28). Hamburger [1957](1980: 123).
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Sinn, d. h. ohne daraus ein weiterführendes, systematisch konsistentes Modell zu entwickeln. Seine Lösung läuft im Prinzip darauf hinaus, im Blick auf die fiktionale Erzählung einerseits mit Hamburger von der Existenz bestimmter (allerdings nur fakultativer) sprachlicher Fiktionalitätssignale zu sprechen, ihren Ursprung andererseits mit Searle in der Struktur des ‚Als Ob‘, d. h. in der „nicht-ernsthafte[n] Simulation nichtfiktionaler Assertionen“27 zu sehen, und im übrigen die Sätze der Erzählung einer fiktiven Aussageinstanz zuzuschreiben, d. h. in diesem besonderen Fall von einer Trennung von Autor und Erzähler auszugehen – wobei eine Begründung für diese Unterscheidung angedeutet, aber nicht konsequent entfaltet wird28. Wie also kann die These von einer ‚Stimme‘ und damit letztlich auch einer Aussagestruktur im Fall des fiktionalen Erzählens gerechtfertigt werden? Oder anders gewendet: Mit welchen Argumenten läßt sich Hamburgers These von der Abwesenheit eines Aussagesubjekts im Fall der fiktionalen Erzählung revidieren, ohne zugleich – wie das bei Searle und all seinen Adepten der Fall ist – die (wenn nicht notwendigen, dann jedenfalls möglichen) strukturellen Unterschiede zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen zu negieren? Blicken wir noch einmal auf Hamburgers eingangs rekonstruierte Thesen zurück. Vergleicht man die von Hamburger für den Fall der fiktionalen Erzählung ermittelten sprachlichen Besonderheiten mit der theoretischen Prämisse ihres Entwurfs einer Logik der Dichtung, so zeigt sich, daß Hamburger die Möglichkeiten ihres aussagentheoretischen Ansatzes nicht ausschöpft. Tatsächlich unterschlägt sie die erzähllogische Konsequenz ihrer Bestimmung der literarischen Fiktion als „Schein von Wirklichkeit“ im Sinne einer imaginären Objektivität. Sowohl ihre Bestimmung des Verhältnisses von Erzählen und Erzähltem im Sinne eines Funktionszusammenhangs als auch die Beobachtung der Modifikation des Tempussystems der Sprache treffen nur dann zu, wenn man die Sätze der fiktionalen Rede gewissermaßen von Außen, d. h. von ihrem realen Kontext her betrachtet und an ihrem Bezug auf eine historische Wirklichkeit mißt (also berücksichtigt, was die im Anschluß an Hamburger argumentieren____________ 27 28
Vgl. Genette [1991](1992: 93). Vgl. Genette [1991](1992: 83f.) sowie Genettes – wie er selbst sagt – ‚Ergänzung‘ von Searle, Genette [1991](1992: 56f.); eine Verbindung zwischen den beiden Argumenten wird allerdings nicht hergestellt.
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den Dorrit Cohn und Paul Ricœur die ‚Referenzstufe‘29 bzw. die Frage nach dem ‚Wann‘ eines Ereignisses30 nennen)31. So gesehen, erzählt der Autor einer fiktionalen Erzählung tatsächlich nicht von den Figuren, sondern bringt sie erzählend hervor, und so gesehen verweist auch das Präteritum im Fall der fiktionalen Rede nicht auf die Vergangenheit des Erzählten. Nimmt man die Idee einer imaginären Objektivität im Fall der fiktionalen Rede jedoch ernst, dann läßt sich Hamburgers Ansatz durchaus fruchtbar mit der von Searles Überlegungen abzuleitenden These der Mimesis von Rede verbinden. Denn wenn Sprache – wie das schon in Platons Kratylos und Aristoteles’ Rhetorik entwickelt wird – tatsächlich ein Werkzeug ist, mit dessen Hilfe jemand jemandem etwas über etwas mitteilt32, dann gehört zu einer mit Hilfe von Sprache entworfenen imaginären Objektivität immer auch ein (fiktiver) Kommunikationskontext. Ein mit Sprache geschaffener „Schein von Wirklichkeit“ – so wäre Hamburger entgegenzuhalten – schließt also im Fall der Erzählung neben einer fiktiven erzählten Welt notwendig eine fiktive Welt des Erzählens ein, in deren Rahmen – so wäre Searle zu ergänzen – das Erzählen prinzipiell nicht als Simulation, sondern als ein ernsthafter illokutionärer Akt (und damit ein ‚Sprechen‘ im engeren Sinn) zu verstehen ist. Folgt man den skizzierten Argumenten, so läßt sich das Phänomen der fiktionalen Rede wohl am überzeugendsten mit Hilfe eines „disjunktiven ____________ 29
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Vgl. dazu die aktualisierte deutschsprachige Version von Dorrit Cohns grundlegendem Aufsatz Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective (Cohn (1990)) unter dem Titel Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität: Cohn [1990](1995); vgl. außerdem ihre z. T. neueren Aufsätze in Cohn (1999). In der Tradition von Hamburger versucht Cohn, „Fiktionalität mit poeotologisch-diskursiven Kriterien zu fixieren“ (Cohn [1990](1995: 106)), und wie diese ist sie der Meinung, daß die Frage, „ob eine Erzählung für fiktional oder nicht-fiktional gehalten werden soll, sehr wohl auf Grund objektiver Kriterien beantwortet werden“ (Cohn [1990](1995: 107)) kann. Im Einzelnen zu Cohns Ansatz auch Scheffel (2003: 151-153). Vgl. Ricœur [1983](1988-1991: 110f.). Zu Ricœur und Hamburger vgl. zuletzt Epple (2003). Im Ansatz hat auch schon Franz K. Stanzel versucht, seinen berühmten Streit mit Hamburger um die Existenz eines fiktiven Erzählers in diesem Sinne zu schlichten. Vgl. Stanzel (2001: 32). Im Anschluß an Platon hat Karl Bühler diesen Gedanken bekanntlich in den frühen dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts zu seinem einflußreichen „Organonmodell“ der Sprache ausgearbeitet. Vgl. Bühler (1965: 24ff.). Hamburger selbst bezieht sich im Übrigen wiederholt auf Bühlers Sprachtheorie (allerdings ohne die entsprechenden Möglichkeiten auszuschöpfen). Vgl. Hamburger [1957](1980: 115ff.).
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Modells“33 erfassen. ‚Disjunktiv‘, weil es sich diesem Modell zufolge hier um eine besondere Art von „kommunizierter Kommunikation“34 handelt, bei der wir, wie Félix Martínez-Bonati35 herausgearbeitet hat, zwischen einem realen und einem imaginären Kommunikationskontext zu unterscheiden haben. Im Sinne eines solchen Fiktionsmodells produziert der Autor einer fiktionalen Erzählung Sätze, die zwar ‚real‘, aber ‚inauthentisch‘ sind – denn sie sind nicht als Behauptungen des Autors zu verstehen. Dem fiktiven Erzähler hingegen sind dieselben Sätze als ‚authentische‘ Sätze zuzuschreiben, die aber ‚imaginär‘ sind – denn sie werden vom Erzähler behauptet, jedoch nur im Rahmen einer imaginären Kommunikationssituation. Durch das reale Sprechen/Schreiben eines realen Autors entsteht so eine Form von Rede, deren imaginär authentische Sätze eine imaginäre Objektivität schaffen, die neben einer fiktiven erzählten Geschichte auch eine fiktive Erzählsituation umfaßt. Die fiktionale Erzählung ist zugleich Teil einer realen wie einer imaginären Kommunikation und besteht deshalb je nach Sichtweise aus ‚real-inauthentischen‘ oder aus ‚imaginär-authentischen‘ Sätzen (bzw. imaginären ‚Wirklichkeitsaussagen‘ im Sinne Hamburgers). Im Blick auf den Ursprung und den Aussagecharakter der ‚Erzählrede‘ im Fall des fiktionalen Erzählens gilt also in Jean Paul Sartres prägnanter Formulierung: „Der Autor erfindet, der Erzähler erzählt, was geschehen ist […]. Der Autor erfindet den Erzähler und den Stil der Erzählung, welcher der des Erzählers ist“36. ____________ 33 34
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Vgl. Cohn [1990](1995: 112). Vgl. Janik (1973: 12). Zur Problematik dieser Formulierung vgl. zuletzt Schmid (2005: 45). – Ein mit dem oben skizzierten Ansatz kompatibles Schema für die „Doppelstruktur der Kommunikation im literarischen Erzählwerk“ entwirft Schmid (2005: 46) (das anschauliche Schema vereinfacht den Sachverhalt allerdings insofern, als es die Trennung von ‚real‘ und ‚imaginär‘ sowie die entsprechenden zeichentheoretischen Konsequenzen vernachlässigt). Vgl. Martínez-Bonati [1972](1981). Vgl. zuletzt auch Martínez-Bonati (1996). Eine detaillierte Rekonstruktion des entsprechenden Fiktionsmodells findet sich in Scheffel (1997: 34-39). Vgl. Sartre (1988: 774). Genette zitiert diese Passage (vgl. Genette [1991] (1992: 83f.)), ohne hier – wie oben skizziert – die entsprechende argumentative Verbindung zu der von ihm an anderer Stelle (vgl. Genette [1991](1992: 56f.)) ebenfalls vorgeschlagenen Ergänzung Searles zu vollziehen. Im Ansatz ähnlich auch Cohn [1990](1995: 111f.): Tatsächlich bleibt der Autor einer fiktionalen Erzählung stimmlos, d. h. der Autor z. B. eines Romans bestimmt „stimmlos […] die Stimme des Erzählers, durch die der Leser die Romanwelt […] erlebt.“ Schmid unterscheidet in einem vergleichbaren Sinn zwischen einer von einem fiktiven Erzähler entworfenen
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Wie steht es nun um das Verhältnis von ‚Erzählen‘ und ‚Wahrnehmen‘ im Fall der fiktionalen Erzählung? Folgende Thesen seien zum Abschluß formuliert: 1. Prinzipiell gelten auch für jede fiktionale Erzählung die ‚Grundsätze‘, die Dietrich Weber für die Erzählung im Allgemeinen aufgestellt hat (andernfalls wäre es wenig sinnvoll, von einer ‚Erzählung‘ zu sprechen)37. Für das Verhältnis von ‚Erzählen‘ und ‚Wahrnehmen‘ bedeutet das: Auch im Rahmen des fiktionalen Erzählens ist es sinnvoll, von zwei „Orientierungszentren“ und damit von dem auszugehen, was Weber „die spezifische Zweipoligkeit oder Zweidimensionalität oder doppelte Orientiertheit des Erzählens“ nennt: hier das „Orientierungszentrum des Erzählenden in seinem Ich-Hier-Jetzt-System“, dort das „Orientierungszentrum der Personen, von denen erzählt wird, in ihrem Ich-HierJetzt-System“38. An diese beiden Orientierungszentren knüpfen sich zwei grundsätzlich verschiedene epistemische Perspektiven: die lebensweltlich-praktische Perspektive der in das Geschehen verstrickten Figuren und die analytisch-retrospektive Sicht des das Geschehen – mehr oder minder – überblickenden Erzählers. 2. Im besonderen Fall der fiktionalen Erzählung ist allerdings zu beachten, daß hier keine reale, an eine historische Zeit und einen historischen Raum gebundene Person ‚spricht‘ bzw. Wirklichkeitsaussagen macht (d. h. im Blick auf eine historische Wirklichkeit ist nicht nur die Frage nach dem ‚wann‘ und ‚wo‘ des Erzählten, sondern auch die nach dem ‚wann‘ und ‚wo‘ des Erzählens ohne Relevanz). Ähnlich wie der ebenfalls nur auf ein « être de papier » verweisende Begriff der ‚Figur‘39 ist der Ausdruck ‚Erzähler‘ dementsprechend ein simplifizierender Hilfsbegriff, der eine Rolle bzw. Position im Rahmen der jeweils entworfenen Fiktion, ____________
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„erzählten Welt“ und einer vom historischen Autor „dargestellten Welt“, zu der neben der ‚erzählten Welt‘ als „fiktive Einheiten“ auch der „Erzähler, sein Adressat und das Erzählen selbst“ gehören. Vgl. Schmid (2005: 45). Vgl. Weber (1998). Vgl. Weber (1998: 41). Weber leitet diesen Grundsatz aus einem anderen Grundsatz ab, nämlich daß Erzählen „Nichtaktuellem“ gilt, d. h. daß „Erzählen in Relation zu seinem Gegenstand jeweils als aktuelle Rede vorzustellen ist“. Vgl. ebd. Zu Erzähler und Figuren als « êtres de papier » vgl. schon Barthes (1966: 19). Für eine Erzähltheorie der Figur vgl. jetzt grundlegend Jannidis (2004); vgl. zuletzt auch Jannidis (2005).
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nicht aber notwendig eine bestimmte männliche oder weibliche Person bezeichnet (insofern ist ein schwerfälliger Begriff wie ‚narrative Instanz‘ oder ‚Aussageinstanz‘ in der Sache treffender)40. Neben der erzählten Geschichte läßt sich auch die Erzählsituation vom Autor der fiktionalen Erzählung weitgehend frei und ohne Rücksicht auf die ‚natürlichen‘ Grenzen einer historischen Zeit und eines historischen Raums gestalten (so können hier auch z. B. Gegenstände, Tiere, Kollektive oder eben scheinbar körperlose, nicht an Zeit und Raum gebundene ‚Stimmen‘ erzählen und erzählt bekommen)41. 3. Der skizzierte Freiraum in der Ausformung der Erzählsituation betrifft im Fall der fiktionalen Rede schließlich auch die Gestaltung der beiden „Orientierungszentren“ des Erzählens und damit das Verhältnis von ‚Erzählen‘ und ‚Wahrnehmen‘. Das schließt die Möglichkeit ein, die Form der Vermittlung des Erzählten durch eine „Stimme der absoluten Wahrheit“42 so mit seiner Perspektivierung zu verbinden, daß wir scheinbar objektiv und unmittelbar Zutritt zur – mit Hamburger gesprochen – Subjektivität dritter Personen „als dritter“ erhalten – wobei diese Durchbrechung der empirischen „Schranken des Ich“43 immer dann an be____________ 40
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Zur umfangreichen kritischen Diskussion um das Konzept des Erzählers vgl. zuletzt Nünning (2001: 17-20) sowie Zipfel (2001: 149ff.). Vgl. auch Zipfels pragmatisches Resümee (2001: 154): „Man kann die Kontroverse um das Konzept des Erzählers also entschärfen, indem man formuliert: Man nimmt für den fiktionalen Erzähl-Text eine textinterne Produktionsinstanz an, die man gewohnheitsmäßig Erzähler nennt.“ In einem ähnlichen Sinn zuletzt auch Schmid (2005: 73f.), der selbst den Terminus ‚fiktiver Erzähler‘ verwendet. Im Blick auf die ‚Aussageinstanz‘ der fiktionalen Erzählung vgl. auch Martinez-Bonati [1972](1981: 104): “The advantages of conceiving of the narrator of fiction always a fictive entity are considerable. The range of types of third-person fictional narrators is also proof of their fictitiousness. They can be inspired seers, familiar authorial voices, ‘omniscient’ chroniclers, impassible observers, observers only of physical events, ungraspable, impersonal, inhuman sources of words, fantastic organs of perception and description that lack a normal sense of life, etc.” (zit. auch bei Zipfel (2001: 154)). Für einen differenzierten Katalog von Erzählertypen vgl. zuletzt Schmid (2005: 72-100). Grundsätzlich zum „logisch privilegierten Status“ der Erzählerrede Martinez/Scheffel (2005: 95-97; hier zit. 97). Vgl. zuletzt auch Martinez (2004). In Thomas Manns Joseph und seine Brüder heißt es dementsprechend im Blick auf diese besondere Leistung der narrativen Fiktion: „Seit Adams und Heva’s Tagen, seit aus Einem Zweie wurden, hat niemand leben können, der sich nicht in seinen Nächsten versetzen wollte und seine wahre Lage erkunden, indem er sie auch mit fremden Au-
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sonderem Reiz gewinnt, wenn das ‚Ich‘ – wie etwa im Fall vieler Erzählungen von Franz Kafka44 – dem eigenen Erleben sprachbzw. stimmlos gegenübersteht. Für den Bereich des menschlichen Bewußtseins hat Dorrit Cohn die entsprechenden Möglichkeiten des fiktionalen Erzählens in ihrer epochalen Studie Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction 45 detailliert erkundet. Dabei belegen ihre Untersuchungen vieler Erzähltexte der Moderne nicht zuletzt eins: Erst die theoretische (wenn auch im Einzelfall nur graduell oder gar nicht bestimmbare) Trennung von ‚Erzählen‘ und ‚Wahrnehmen‘ ermöglicht einen genauen Blick auf das spezifische Erzählprofil der einzelnen Texte46. Nicht trotz, sondern wegen der besonderen Möglichkeiten und damit der Differenz des fiktionalen zum wirklichkeitsgebundenen Erzählen liegt in dieser Trennung ein großes heuristisches Potential für die Analyse und das Verständnis des mit literarischen Erzählungen entworfenen und von Fall zu Fall durchaus verschieden modellierten „Scheins von Wirklichkeit“.
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gen zu sehen versuchte. Einbildungskraft und Kunst des Erratens in bezug auf das Gefühlsleben der anderen, Mitgefühl also, ist nicht nur löblich, sofern es die Schranken des Ich durchbricht, es ist auch unentbehrliches Mittel der Selbsterhaltung.“ Vgl. Mann, Thomas, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt/Main 1974, Bd. IV, 485. Vgl. dazu etwa meine exemplarische narratologische Analyse von Das Urteil in Scheffel (2002). Vgl. Cohn (1978). Vgl. zuletzt in diesem Sinn auch Schmids systematische Ausführungen zum Verhältnis von „Erzählertext“ und „Personentext“ (einschließlich ihrer „Interferenz“) in Schmid (2005: 151-221).
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J. ALEXANDER BAREIS (Göteborg)
Mimesis der Stimme. Fiktionstheoretische Aspekte einer narratologischen Kategorie Abstract This article examines the relation between theories of fictionality and the narratological category voice, especially the voice of the narrator. In section 2, a survey of D. Cohn’s approach to fictionality is presented, and the make-believe theory of fictionality of Kendall Walton is examined as an alternative to Cohn’s approach. In section 3, different models of narrative theory are discussed, and suggestions for a fusion of Walton’s theory of fiction and narrative theory are made. The fusion is called ‘Mimesis of voice’, and is a model that partly relies on A. Nünning’s notion of ‘Mimesis of narrating’ and Walton’s ‘Mimesis as Make-Believe’. The paper suggests that the opposite to ‘fictional’ is ‘nonfictional’, since the classical counterpart ‘factual’ is ill-fitted to capture the essence of fictionality. It also argues for the fictional narrator as a defining element of fictional narrative. Und nicht Realität wird nachgeahmt, sondern die Situation des Erzählens.1
1. Problemfeld Wer von ‚Stimme‘ in fiktionalen Erzähltexten spricht, muss auch die Frage beantworten, wer spricht? Für fiktionale Erzähltexte scheint die ____________ 1
Peter Bichsel, Der Leser. Das Erzählen, Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Darmstadt 1984, S. 8.
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Antwort auf der Hand zu liegen: natürlich der Erzähler. Die Frage nach dem Erzähler in der fiktionalen Erzählliteratur ist allerdings eine anhaltende Debatte, die spätestens seit Käte Hamburger einen festen Platz insbesondere in der deutschsprachigen Erzählforschung einnimmt, und die man kaum als endgültig beantwortet betrachten kann. Einerseits besteht – wie es scheint – eine Mehrheit der internationalen Erzählforscher momentan auf der Voraussetzung eines Erzählers oder zumindest einer Erzählinstanz in der fiktionalen Erzählung. Stellvertretend hierfür seien die Ausführungen Gérard Genettes zitiert. Eine Erzählung ohne Erzähler, und somit ohne Stimme, ist für Genette schlichtweg undenkbar: Die Erzählung ohne Erzähler, die Aussage ohne Aussageakt scheinen mir weiter nichts als Hirngespinste zu sein, die als solche nie zu falsifizieren sind. Wer hat je die Existenz eines Hirngespinstes widerlegt? Ihren getreuen Anhängern kann ich also nur das betrübte Bekenntnis entgegenhalten: „Eure Erzählung ohne Erzähler existiert vielleicht, aber in den siebenundvierzig Jahren, seit denen ich Erzählungen lese, bin ich ihr nirgends begegnet“. Betrübt ist natürlich bloß eine Höflichkeitsfloskel, denn sollte ich einer solchen Erzählung je begegnen, würde ich mich sofort aus dem Staub machen: Ob Erzählung oder nicht, ein Buch schlage ich nur auf, damit der Autor zu mir spricht.2
Was in Genettes Ausführungen deutlich wird, ist ein Problemfeld, an das der vorliegende Beitrag anknüpft: Wer erzählt den fiktionalen Roman? Das Konzept der Stimme kann auch nach verschiedenen anderen Aspekten untersucht werden, wie der vorliegende Band nachdrücklich zeigt; hier soll allein die Frage nach der Stimme des Erzählers und deren Ursprung gestellt werden. Während die diskursorientierte Narratologie à la Genette den fiktionalen Erzähler voraussetzt und zudem als Unterscheidungskriterium zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Erzählung instrumentalisiert3, hat sich gegen diese Sichtweise verschiedentlich Widerstand formiert4. Bezeichnenderweise findet man trotz der Heterogenität der theoretischen Ansätze gerade auch bei den Vertretern der Gegenposition eine fiktionstheoretische Komponente in die Ablehnung des ____________ 2
3 4
Genette [1972/1983](1998: 260). Bemerkenswert an der Argumentation Genettes ist hier insbesondere der auffällige Wechsel vom Erzähler zum Autor im letzten Satz, der einhergeht mit der Betonung des persönlichen, ja privaten Lesers Genette. Vgl. Cohn (1990: 775-804), sowie Genette (1990: 755-774). In Auswahl seien genannt Hamburger (1968), Banfield (1982), Walsh (1997), (2000) sowie (2003). In Skandinavien wird diese Position erneut mit Nachdruck von einer Reihe Narratologen vertreten, vgl. Skalin (2003) und Nielsen (2004) sowie zuletzt in der analytischen Philosophie, vgl. Kania (2005).
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Erzählers in fiktionaler Erzählliteratur involviert. Die Frage nach der Stimme im Text und damit nach dem Erzähler ist also auch eine Frage nach einer Theorie der Fiktion. Sie ist damit nicht ausschließlich eine narratologische Fragestellung, sondern verortet in dem Grenzbereich zwischen Fiktions- und Erzähltheorie. Die narratologische Fragestellung nach der Stimme soll hier deshalb aus fiktionstheoretischer Sicht untersucht werden, jedoch nicht allein durch Inanspruchnahme literaturwissenschaftlicher Fiktionstheorien, sondern unter Zuhilfenahme einer Fiktionstheorie aus dem Bereich der analytischen Philosophie. Der amerikanische Philosoph Kendall Walton präsentierte 1990 in Mimesis as Make-Believe eine Theorie der Fiktion, die weit über die Grenzen der Literatur hinaus Fiktion als Familienähnlichkeit aller darstellender Künste definiert, die in deren Gemeinsamkeit liegt, im Rahmen einer regelgeleiteten Rezeptionsweise fiktionale Wahrheiten zu generieren. In der Literaturwissenschaft hat Waltons Theorie bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden, und wenn, dann ohne die narratologischen Aspekte bei der Diskussion hinreichend zu berücksichtigen5. Dabei liefert Walton eine Reihe von hilfreichen Vorschlägen hinsichtlich fiktionaler erzählender Literatur, die gerade im Hinblick auf die Frage nach der Stimme des fiktionalen Erzählers neues Licht aus analytisch-philosophischer Perspektive auf narratologische Fragestellungen werfen. Darüber hinaus bietet Waltons Theorie die Möglichkeit, sie auch auf klassische literaturwissenschaftliche Fragestellungen anzuwenden, die teilweise mit der Frage nach der Erzählerstimme korrelieren, wie die Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion, aber auch die Frage nach der Realität oder Wirklichkeit in fiktionalen Werken sowie die Frage nach der Wahrheit fiktionaler Werke. Im Folgenden soll deshalb Waltons Theorie der Fiktion zunächst daraufhin überprüft werden, welche Vorteile sie gegenüber ____________ 5
Deutschsprachige Erwähnungen finden sich bei: Bühler (1999: 61-75), Zipfel (2001) sowie (2004). Im Zusammenhang mit Theorien Möglicher Welten kurz zu Walton auch Jannidis (2004). Ein älterer Artikel von Walton wird erwähnt von Jacoby (2005). In der englischsprachigen Literaturwissenschaft Bezugnahme auf Walton in Auswahl: Sutrop (1996), (1998), (2000) sowie (2002). Marie-Laure Ryan diskutiert in ihrer Monographie zur Literatur in elektronischen Medien Waltons Ansatz im Zusammenhang mit der emotionalen Teilnahme an fiktionalen Welten, setzt sich aber fiktionsund erzähltheoretisch nur wenig mit Walton auseinander, vgl. Ryan (2001). Außerdem von Ryan ein Artikel zum Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff im Zusammenhang mit Fiktion, in dem sie Walton diskutiert, vgl. Ryan (1998). Vgl. ausführlich zu Walton aus poetologischer Sicht Rossholm (2004).
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klassischen Erklärungsansätzen der Literaturwissenschaft bieten kann und welche Nachteile gegebenenfalls zu konstatieren wären. Hierbei soll zunächst auf die Arbeiten Dorrit Cohns eingegangen werden. Im Anschluss daran soll der Versuch unternommen werden, Waltons Fiktionstheorie im Hinblick auf erzähltheoretische Fragestellungen und Entwicklungen zu prüfen, wobei die Frage nach dem Ursprung der Stimme des Erzählers in den Vordergrund gerückt wird. Hierbei werden besonders Arbeiten von Monika Fludernik und Ansgar Nünning berücksichtigt werden, um abschließend in aller gebotener Kürze eine mögliche Synthese der skizzierten erzähl- und fiktionstheoretischen Ansätze zu umreißen, die mit Mimesis der Stimme überschrieben werden könnte. Diese Synthese soll auf einen Erklärungsvorteil überprüft werden, ob, und wenn ja, wie bei fiktionalen literarischen Erzählwerken überhaupt von der Stimme eines Erzählers gesprochen werden kann. Die erzähltheoretische Frage nach der Stimme und deren Ursprung – wer spricht? – soll also in Hinblick auf die fiktionstheoretische Frage nach der Möglichkeit von Stimme – wie kann überhaupt gesprochen werden? – untersucht werden.
2. Fiktion, Nicht-Fiktion und Historiographie 2.1. Dorrit Cohns Distinktion der Fiktion Dorrit Cohn hat in einer Reihe einflussreicher Aufsätze und Arbeiten wiederholt Fragestellungen im Grenzbereich von Fiktions- und Erzähltheorie bearbeitet, die hier exemplarisch für klassische Sichtweisen der Fiktionsproblematik durch die Literaturwissenschaft untersucht werden sollen. Für Cohn gibt es textimmanente Zeichen, „characteristica specifica, die ein Autor obligatorisch einsetzen muss, wenn sein Roman als Fiktion und nicht als historischer oder journalistischer Erzähltext rezipiert werden soll“6. Insgesamt nennt Cohn drei Punkte, an denen sie erzähltheoretisch fiktionales von nicht-fiktionalem Erzählen unterscheidet: [1] The synchronic bi-level (story/discourse) model, which cannot claim equally encompassing validity for texts that refer to events that have occurred prior to their narrative embodiment; [2] the dependence of certain prominent narrative modes (no-
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Cohn (1995).
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tably for the presentation of consciousness) on the constitutional freedom of fiction from referential constraints; and [3] the doubling of the narrative instance into author and narrator […].7
Die von Cohn als Punkt 1 aufgeführte Unterscheidung ist das Einführen einer „Referenzstufe“ für die historiographische Erzählung, während für fiktionales Erzählen das Anlegen einer solchen dritten Stufe „sinn- und wertlos“ sei, was Cohn letztlich als „absolute Differenz“, gar als „eine scharfe Grenzlinie zwischen den beiden Erzählgebieten“ bezeichnet8. Im Grunde ist damit allerdings bestenfalls ex negativo eine Anforderung an die Geschichtswissenschaft auf die Literatur übertragen, ohne dabei dem Phänomen der fiktionalen Literatur wirklich gerecht zu werden. Sicherlich ist es richtig, dass historiographische Texte “are challengeable in a way that fictional accounts are not”, wie Lamarque/Olsen es kurz und bündig fassen9; damit ist aber nicht einsichtig widerlegt, dass nicht auch fiktionale Texte auf Außertextuelles referieren können. Vielmehr erscheint es plausibel, dass auch fiktionale Romane auf historisch wahre und wirkliche Fakten referieren können. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl fiktionaler Werke allein durch ihre Bezugnahme auf Wirklichkeit überhaupt erst verständlich werden10. Im konkreten Fall erweist sich dieses wasserdichte Differenzkriterium zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion als durchaus brüchige Rückführung einer geschichtswissenschaftlichen Maxime auf literarische Werke. Auch Cohns zweiter Punkt der Kennzeichen erzählerischer Fiktion beruht in gewissem Maße auf einem Verständnis von Referenz, das Cohn allein der nicht-fiktionalen Erzählung zuweisen möchte, nämlich der Möglichkeit der Bezugnahme gewisser erzähltechnischer Besonderheiten, die allein im Bereich der Fiktion gegeben seien, und argumentiert in der Linie Hamburgers, die bekanntlich feststellte, dass die epische Fiktion der ____________ 7 8 9 10
Cohn (1999: 130). Cohn (1995: 108). Lamarque/Olsen (1994: 309). Vgl. hierzu Blume (2004: 222): „Uwe Johnsons ‚Jahrestage‘ jedenfalls können und müssen wohl sogar auch auf einer faktenbezogenen Ebene gelesen werden, wenn man dem Roman gerecht werden will – nur dann lässt sich viel aus diesem fiktionalen Text über die deutsche Geschichte lernen.“ Wenngleich der pädagogische Mehrwert, den Blume im Nachsatz andeutet, einen durchaus fragwürdigen Literaturbegriff erahnen lässt, ist der These, dass Johnsons ‚Jahrestage‘ nur durch Bezugnahme auf historische Fakten wirklich verstanden werden kann, durchaus zuzustimmen, und sie ist sicherlich nicht nur für diesen Fall gültig.
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einzige erkenntnistheoretische Ort sei, „wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann“11. Wie von verschiedener Seite bereits eingewendet wurde, machen aber auch eine Reihe nicht-fiktionaler Erzähltexte Gebrauch von den von Hamburger angeführten sprachlichen Kennzeichen der Fiktionalität12. Die ‘transparent minds’, wie Cohn diesen Ansatz weiter entwickelt hat, sind allerdings weder eine hinreichende noch notwendige Bedingung der fiktionalen Literatur. Die potentielle „Allwissenheit des Romanerzählers“, der Cohn die „Unwissenheit des Historikers“13 gegenüberstellt, wurde von Eyal Segal unlängst auf ähnliche Weise zurückgewiesen wie die oben geführten Überlegungen zur Referenzebene, nämlich that the mere display of a narrator’s omniscience does not, in itself, suffice to turn even modern texts into fiction. Rather, within the framework of historical writing, it may turn a text into bad—or questionable, or problematic—historiography.14
Wiederum wird die Fiktionalität der Literatur nur ex negativo aus den Anforderungen an die Historiographie bestimmt, aus der keinesfalls eine qualitative oder funktionale Beschreibung der literarischen Fiktion gewonnen werden kann. Cohns Kennzeichen der Fiktionalität erweisen sich als ihr Gegenteil: als Kennzeichen der Nicht-Fiktionalität. Damit soll nun nicht gesagt werden, dass es nicht fiktionsspezifische Erzählstrategien gibt, die allein einem fiktionalen Erzählen vorbehalten sind15. Sicherlich gibt es eine Reihe von Fiktionssymptomen, die darauf schließen lassen, dass das Werk fiktional rezipiert werden soll16. Einige dieser Symptome sind möglicherweise auch textuell markiert, wie Cohn argumentiert, doch scheinen diese Kennzeichen zum einen nicht in jedem fiktionalem Werk vorhanden zu sein, und zum anderen stellen die von Cohn herausgearbeiteten Punkte 1 und 2 bestenfalls ein Instrumentarium dafür zur Verfügung, um zu zeigen, was gerade nicht Fiktion sei. Es stellt sich vielmehr ____________ 11 12 13 14 15
16
Hamburger (1968: 73). Zu Hamburger aus fiktions- und erzähltheoretischer Sicht vgl. Scheffel (2003) sowie Bareis (2005). Vgl. die Zusammenfassung bei Scheffel (2003: 146f.). Cohn (1995: 109). Segal (2002: 704). So hat zuletzt Monika Fludernik überzeugend das unzuverlässige Erzählen als rein fiktionsspezifische Erzählstrategie charakterisiert, vgl. Fludernik (2001). Neben Fludernik haben u. a. Nünning (1995), Genette (1990), Nickel-Bacon/Groeben/Schreier (2000) und Riffaterre (1990) solche Kennzeichen diskutiert. Ob ein Autor aber auch tatsächlich solche Strategien verwenden muss, wie Cohn schreibt, scheint eher fraglich.
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die Frage, ob Cohns Symptome nicht das Resultat einer Leserentscheidung sind, die lange vorher – im Normalfall wahrscheinlich aufgrund paratextueller Hinweise – getroffen wurde17. Was sich aus Cohns Kriterien auf keinen Fall extrapolieren lässt, ist eine Theorie der Fiktion, die hinreichende und notwendige Bedingungen formuliert, auch nicht allein für den eingeschränkten Bereich der literarischen oder erzählenden Fiktion, wie dies von Cohn in The Distinction of Fiction zumindest impliziert wird18. Doch wie verhält es sich mit Cohns Punkt 3, der Verdoppelung der Erzählinstanz in Autor und Erzähler? Hierzu ist zunächst grundsätzlich einzuwenden, dass dies durchaus auch für den Bereich des nichtfiktionalen Erzählens denkbar ist19. Im Bereich der Reiseliteratur stellt sich beispielsweise die berechtigte Frage, ob das vermeintlich nichtfiktionale ‚reisende Ich‘ möglicherweise ebenfalls vom Autor in theoretischer Hinsicht getrennt und als fiktionales bezeichnet werden müsste. Anders herum ist es aber auch durchaus möglich, dass der Erzähler eines fiktionalen Romans zumindest nominell der Autor ist – nichts hindert einen Schriftsteller daran, dem Erzähler seines fiktionalen Werkes seinen eigenen Namen zu geben20. Ganz gleich wie man Fiktionalität definieren mag, in der Instanz des Erzählers kulminiert die Problematik für diejenigen theoretischen Ansätze, die Fiktionstheorie und Erzähltheorie miteinander zu verbinden suchen. Dies wird sich auch im vorliegenden Beitrag erweisen, in dem nun zunächst die Theorie Waltons untersucht werden soll, um anschließend eine mögliche Synthese der beiden theoretischen Bereiche zu skizzieren, bei der das narratologische Erzählerkind als Ursprung von Stimme nicht mit dem fiktionstheoretischen Bade ausgeschüttet wird. ____________ 17 18
19 20
So argumentiert auch Segal (2002: 703). Cohn hat folgende moderate Einschätzung in ihrem ursprünglichen Beitrag (Cohn 1990: 800) im Manuskript von 1999 gestrichen: “For to say that narratology can provide consistent criteria for distinguishing fiction from nonfiction is not to say that it can furnish a consistent, fully integrated theory of fictionality (even less, a simple definition of fiction.)” Hierauf macht auch Fludernik aufmerksam, vgl. Fludernik (2001: 101, Fn. 13). Vgl. hierzu Culler (1984) sowie Fludernik (2001: 86ff.). Wie bereits geschehen: Vgl. z. B. den Roman Pornographie (1960) von Witold Gombrowicz, der zu dessen 100. Geburtstag neu auf deutsch verlegt wurde (München 2004).
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2.2. Kendall Waltons Funktion der Fiktion Waltons Theorie der Fiktion geht nicht von einer textuellen Eigenschaft literarischer Fiktion aus, sondern ist funktionaler Art, wie Uri Margolin hervorhebt: Walton’s approach is functional, rather than substantive or formal, institutional and appreciator- (reader) oriented. To him, fiction consists not in any special non-existent worlds and entities, but in a special way in which ordinary readers and spectators cognitively and emotionally process, respond to or use such actual worlds as texts, films, stage performances and paintings.21
Wenn nun Fiktion nicht mit Hilfe fiktionaler Welten erklärt wird, was bedeutet Fiktion dann für Walton? Und wann ‚ist‘ Fiktion? Entgegen traditionellen Unterteilungen der Literaturwissenschaft liefert Waltons funktionaler Ansatz eine Aufteilung in Fiktion und Nicht-Fiktion, die die Literaturwissenschaft nur schwer in ihre Gegenstandsauffassung integrieren kann. Fiktion entsteht für Walton dann, wenn Vorstellungen vorgeschrieben werden, dass heißt, dass eine Requisite in einem Make-BelieveSpiel Vorstellungen evoziert. Dabei spielen Fragen nach der Fiktivität, d. h. dem Erfundensein bzw. der Nicht-Wirklichkeit des Objekts keine Rolle – Fiktion ist dann gegeben, wenn im Rahmen des Spiels die Mechanik des Generierens fiktionaler Wahrheiten in Gang gesetzt wird. Was zur Folge hat, dass es kleine ‚Fiktionsfetzen‘ in nicht-fiktionalen Zusammenhängen geben kann, die kaum in das gefestigte Bild dessen passen, was gemeinhin Fiktion sei und was nicht. Zwei Fragen sind hier voneinander zu trennen: zum einen die Frage nach der theoretischen Beschreibung von Fiktion, also der qualitativen Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion, zum anderen die Frage nach der Entscheidung seitens des Lesers, ob er ein Objekt im Rahmen des Spiels, also fiktional rezipiert, oder ob nicht. Die erste Frage beantwortet Walton über die Funktion des Objekts – schreibt es Vorstellungen im Sinne Waltons vor, hat es die Funktion, fiktionale Wahrheiten zu generieren und somit Fiktion zu evozieren –, was zunächst bedeutet, dass es, wie Margolin formuliert, in einer speziellen Weise kognitiv-emotional verarbeitet wird. Die Frage, woher ein Rezipient wissen soll, ob das Werk im Rahmen eines MakeBelieve-Spiels zu rezipieren sei, ist die Frage nach der Entscheidung, die wahrscheinlich primär über die paratextuelle Kennzeichnung erfolgt, bei der aber durchaus auch fiktionsspezifische Erzählstrategien eine Rolle ____________ 21
Margolin (1992: 103).
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spielen können. Hier ist die Theorie Waltons aus Sicht der Literaturwissenschaft sicherlich unzureichend, da Walton nur wenig Hinweise gibt, wie es Lesern oder auch Buchhändlern möglich sein soll, fiktionale von nicht-fiktionaler Literatur zu unterscheiden. Für Walton ist Fiktion vor allem eine soziokulturelle, historisch wandelbare Praxis, und es liegt nahe, dass sich dies beispielsweise in paratextuellen Markierungen zeigt. Die Genrebezeichnung Roman zeigt in der momentanen soziokulturellen Situation Fiktionalität an, was sowohl diachron veränderbar ist als auch synchron auf einer kulturellen Achse22. Aufgabe der Literaturwissenschaft scheint mir deshalb, diese Veränderungen in der literaturgeschichtlichen Praxis auch gerade historisch und kulturell aufzuarbeiten. Waltons illustratives Beispiel für die Mechanik des Generierens fiktionaler Wahrheiten ist die Analogie zum Make-Believe-Spiel23: Nehmen wir an, zwei Kinder, Paul und Levin, spielen mit Steckenpferden Cowboy und Indianer24. Levin springt im Rahmen des Spiels über die Türschwelle des Wohnzimmers und sagt zu Paul, dass er gerade einen gefährlichen Fluss durchquert habe. Paul ‚reitet‘ hinterher und kommt zur Türschwelle der Küche, und gemäß der impliziten Regeln des Spiels trifft auch er auf die fiktionale Wahrheit, dass jede Türschwelle ein gefährlicher Fluss ist, der überquert werden muss. Auf ähnliche Weise funktioniert die Rezeption fiktionaler Literatur im Rahmen des Make-Believe-Spiels: Wenn der erste Bewohner Liliputs nur drei Zoll misst, dann ist es implizit fiktional wahr, dass auch der nächste Liliputaner nur drei Zoll groß ist. Der Text fiktionaler Literatur dient als Requisite für ein Spiel, bei dem fiktionale Wahrheiten gemäß gewisser Regeln generiert werden, die ähnlich dem Kinderspiel eine stille Übereinkunft darstellen, an die man sich halten muss, wenn man sinnvoll mitspielen will. Dabei spielt es übrigens keine Rolle, ob die Requisiten des Spiels Steckenpferde oder wirkliche Objekte, also fiktiv oder wirklich sind: Angenommen, Paul und Levin machen Urlaub auf einem Reiterhof, und spielen auf wirklichen Pferden Cowboy und Indianer – das Spiel, und alles, was in diesem Spiel passiert, ist ____________ 22
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Hier böte sich ein Anknüpfen beispielsweise an Positionen der Gattungstheorie an, die literarische Gattungen als typologische Kontinuitiva verstehen. Vgl. hierzu Zymner (2004). Es sei betont, dass die Analogie zum Spiel zuförderst der Mechanik des Generierens fiktionaler Wahrheiten gilt – Fiktion ähnelt im Generieren impliziter Regeln dem Make-Believe-Spiel, Fiktion ist damit aber nicht gleichgesetzt mit Spiel. Das Steckenpferd erinnert natürlich an Gombrich (1963), in dem gerade die Funktion der Requisite in Verbindung mit der Kunstrezeption gebracht wird.
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immer noch Produkt des regelgeleiteten Imaginierens. Die Nicht-Wirklichkeit, oder auch die Wirklichkeit der (Stecken-)Pferde ändert nichts am fiktionalen Status des Spiels. Der in Hinblick auf klassische Theorien der literarischen Fiktion große Unterschied im Rahmen der Theorie Waltons ist somit die völlige Loslösung der theoretischen Erklärung der Fiktion von Fiktivität, also der Nicht-Wahrheit oder Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten25. Im Vergleich zu klassischen Theorien der Fiktion in der Literaturwissenschaft bietet Walton also ein Verständnis von Fiktion, das in keiner Weise von der Fiktivität des Dargestellten ausgeht. Dies ist gerade wichtig in Hinblick auf geschichtswissenschaftliche Fragen, die mit der Unterscheidung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion zusammenhängen, wie bereits in der Diskussion um Cohns theoretischen Ansatz deutlich geworden ist. Waltons Theorie bietet durch das Loslösen der Fiktivität von der Fiktionalität die Möglichkeit, ein anderes Verständnis dafür zu entwikkeln, warum bisweilen nicht-fiktionalen Diskursen wie der Historiographie literarische und fiktionale Tendenzen und Strategien unterstellt werden26. Wenn in nicht-fiktionalen Textsorten Vorstellungen im Sinne Waltons evoziert werden, hat dies nicht darin seinen Grund, dass Fiktion auf Nicht-Wirklichem oder Nicht-Wahrem beruht. Ein historiographischer Text kann im Rahmen eines solchen Verständnisses sich durchaus literarischer oder im Sinne Waltons fiktionaler Techniken bedienen, also Vorstellungen mit Hilfe von Requisiten generieren, da Fiktionalität im Sinne Waltons von der möglichen Fiktivität der Requisiten völlig unabhängig ist27. Für fiktionale Textsorten wie derzeit den Roman bedeutet dies wiederum, dass die Fiktivität auch des Erzählers als Ursprung der Stimme, der eine Requisite im Rahmen des Spiels darstellt, nicht mehr Voraussetzung bleiben kann. ____________ 25
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Zipfel, der in seiner umfassenden Monographie zur Fiktionalität der Literatur (2001) auch die Theorie Waltons diskutiert und in sein sprachhandlungstheoretisches Modell zu involvieren versucht, hat diese Konsequenz der Theorie Waltons jedoch nicht berücksichtigt. In Zipfels Modell bleibt Fiktivität die Voraussetzung für Fiktion. Vgl. Pavel (1992: 19): “If historians make use of free indirect style—Cohn’s example is Emil Ludwig’s biography of Napoleon—they can be said to have overborrowed from literary techniques.” Aus diesem Grund wird hier auch durchgängig ‚nicht-fiktional‘ als Gegensatz zu ‚fiktional‘ gesetzt, und nicht etwa ‚faktual‘, wie beispielsweise von Genette (1990) oder Martinez/Scheffel (2003), weil damit wieder ein Gegensatz von Wirklichkeit und Fiktion und somit Fiktivität als Voraussetzung von Fiktion impliziert würde.
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3. Fiktion und Erzählung 3.1. Definitionen des Erzählens Wenn man die Fiktionstheorie Waltons für fiktionale Literatur brauchbar machen möchte, stellt sich neben der Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion auch die Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Erzählung, und dadurch auch nach deren Definition: Die wahrscheinlich am häufigsten zitierte Definition von Erzählung stammt von Gerald Prince und baut auf der Ereignisstruktur von Erzählungen auf: “the representation of at least two real or fictive events in a time sequence, neither of which presupposes or entails the other”28. Wie neben anderen Michael Kearns festgestellt hat, tendiert die strukturalistische Narratologie zu einer Überbewertung der Handlungs- und diegetischen Struktur von Erzählungen29. Gleichzeitig besteht in der Erzähltheorie, insbesondere im deutschsprachigen Bereich, eine andauernde Tradition, die Vermittlung der fiktionalen Erzählung durch den Erzähler als definierende Voraussetzung der Erzählung hervorzuheben30. Die von verschiedener Seite immer wieder vorgebrachte Kritik an einer solchen Definition der Erzählung ist der Vorwurf, dass es eine Reihe von fiktionalen Erzählungen gibt, die scheinbar keinen Erzähler haben. In heterodiegetischen, extradiegetischen, extern fokalisierten Erzählungen ist es unmöglich, so die Kritik, von einem Erzähler zu sprechen – nichts deute auf die fiktionale Existenz31 eines Erzählers hin32. Auch wenn in einer Reihe jüngerer Beiträge ____________ 28 29
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Prince (1982: 4). Man beachte, dass auch hier die Fiktivität Voraussetzung von fiktionaler Erzählung bleibt. Kearns (1999: 3f.). Vgl. auch Aczel (1998: 469f.), der von “diegetic category fetishism” der strukturalistischen Narratologie spricht, sowie Nünning (2001: 14, Fn. 6), der „die traditionelle strukturalistische Privilegierung der Ebene der Handlung zuungunsten der erzählerischen Vermittlung“ kritisiert. Vgl. zuletzt Martinez/Scheffel (2003: 81): „Da jede Erzählung per definitionem von jemanden erzählt wird [...].“ Für einen fundierten Überblick über die wissenschaftshistorische Entwicklung (nicht nur) der deutschsprachigen Erzähltheorie, vgl. Cornils/ Schernus (2003). Ohne an dieser Stelle auf die (sprach-)philosophischen Verwicklungen einer Rede von der Existenz fiktionaler Entitäten eingehen zu können, sei lediglich darauf hingewiesen, dass Formulierungen wie diese in der Theorie Waltons paraphrasiert werden können, womit die ontologische Existenz fiktionaler Objekte nicht akzeptiert werden muss. Vgl. Walton (1990: Kap. 10). Vgl. zuletzt Kania (2005).
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berechtigte Einwände vorgebracht wurden und eine Reihe indirekter Signale für die Existenz eines Erzählers oder die Existenz einer Stimme gerade für Fälle solcher Erzählungen formuliert wurden33, ist es dennoch kontra-intuitiv, weshalb auch im Fall so genannter ‘non-narrated stories’ von einem Erzähler ausgegangen werden soll. Sowohl der Versuch, Erzählung über die Ereignisstruktur, als auch der Versuch, Erzählung über die Annahme eines Erzählers zu definieren scheinen unbefriedigend. Neue Forschung scheint diesbezüglich gänzlich andere Wege zu gehen: Monika Fluderniks umfassende Studie Towards a ‘Natural’ Narratology betont stattdessen Faktoren wie “experiantiality” und “naturalization” in ihrer “redefinition of narrativity”34. Resultat ist ein “downgrading of story as a defining characteristic of narrative”, aber auch ein Verzicht auf die Voraussetzung eines fiktionalen Erzählers als Vermittlungsinstanz35. Das hat allerdings meines Erachtens die bedauerliche Folge, dass das Konzept der Fiktionalität dabei mit untergeht: “My proposals therefore tend towards entirely discarding the concept of fictionality or of the fictional [...]”36. Ansgar Nünning hat in einem neueren Beitrag einen anderen Weg zur Lösung des Problems vorgeschlagen, den er als ‚Mimesis des Erzählens‘ bezeichnet: Nünning verwendet ein Verständnis von Mimesis in Bezug auf das Erzählen, das der traditionellen Sichtweise widerspricht, und das anschließend in Verbindung gebracht werden soll mit dem Verständnis von Mimesis bei Walton: Das Konzept der Erzählillusion und die Einsicht, daß die Mimesis der Fiktion nicht allein in einer Abbildung der Welt ‚da draußen‘ besteht, sondern zunächst einmal in einer Mimesis des Erzählens, in einer Nachahmung von narrativer Kommunikation über Wirklichkeit, führen zu einem grundlegend veränderten Mimesisbegriff.37
Ohne nun auf die ausufernde Problematik des Mimesisbegriffs auch nur annähernd eingehen zu können, sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass es durchaus gute Gründe gibt, den Mimesisbegriff im Sinne Nünnings zu verwenden, auch wenn, oder vielleicht gerade weil, vor allem in der Terminologie Genettes, normalerweise das Produkt der Er____________ 33 34 35 36 37
Vgl. die von Aczel (1998) ausgehende Diskussion zur Kategorie Stimme in New Literary History 32:3 (2001). Fludernik (1996: 20). Fludernik (1996: 335). Fludernik (1996: 39). Nünning (2001: 21).
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zählerrede, die dargestellte Welt, nicht aber der Akt des Erzählens selbst als Mimesis bezeichnet werden38. Während Nünning mit diesem Konzept vor allem die theoretische Beschreibung der Metanarration zu verfeinern versucht, worauf im folgenden nicht eingegangen werden kann39, soll hier stattdessen vor allem die fiktionstheoretische Komponente eines solchen Verständnisses von Mimesis unter besonderer Berücksichtigung der Stimme und der Instanz des Erzählers als Ursprung der Stimme untersucht werden. 3.2. Versuch einer Synthese: ‘Mimesis as Make-Believe’ und ‚Mimesis des Erzählens‘ Als heuristischer Ausgangspunkt soll zunächst folgender Versuch einer Definition der fiktionalen Erzählung dienen: Eine fiktionale Erzählung ist dadurch definiert, dass es fiktional wahr ist, dass sie erzählt wird40. Damit ist zum einen an die Tradition der Voraussetzung einer Vermittlungsinstanz fiktionaler Erzählungen angeknüpft, ohne jedoch notwendigerweise den Rückschluss vom Erzählen zum Erzähler als anthropomorphe Entität zu vollziehen41. Vielmehr wird das Erzähltsein als Produkt der Mechanik des Generierens fiktionaler Wahrheiten im Rahmen eines Make-Believe-Spiels verstanden, und nicht notwendigerweise als Produkt eines anthropomorphen Agenten in der Fiktion. Wie das funktionieren soll, werde ich weiter unten besprechen. Die Tatsache, dass es fiktional ____________ 38
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Zur Terminologie bei Genette vgl. Zipfel (1998), sowie Cohn (1999: 10, Fn. 36). Zur Problematik des Mimesisbegriffs bei Plato und Aristoteles in Hinblick auf die Erzähltheorie vgl. vor allem den fundierten Beitrag von Kirby (1991). Aufschlussreich auch der Artikel von Pavel (2000), in dem eingehend auf die literaturwissenschaftliche Diskussionen zum Mimesis-Begriff eingegangen wird. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Nünnings Artikel (2001) vgl. Fludernik (2003). Mit ‚fiktional wahr‘ ist keine kritische Verwendung des Wahrheitsbegriffs impliziert, sondern lediglich das bezeichnet, was im Rahmen der Fiktion der Fall ist, z. B. dass Oskar Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt ist. Vgl. Nünning (1997: 330): „Während explizite Erzähler als personalisierbare Sprecher in Erscheinung treten und den Rezipienten dazu anregen, ihnen Charaktereigenschaften und Wertvorstellungen zuzuschreiben, ist ein neutrales Erzählmedium dadurch gekennzeichnet, daß sich im Bewußtsein des Rezipienten keine entsprechenden Vorstellungen von einer individualisierten Person entwickeln.“ Die Frage ist dann allerdings, was und wie sich Rezipienten in solchen Fällen – etwa eine Stimme – vorstellen.
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wahr ist im Spiel eines Rezipienten, dass er die Geschichte als auf irgendeine nicht näher bestimmte Weise erzählt auffasst, setzt jedenfalls nicht notwendigerweise linguistische Markierungen einer Ich-Origo im Text voraus. Zwar liefert Aczel mit seiner qualitativen Untersuchung der Kategorie Stimme wichtige Hinweise darauf, wie aus Sätzen ohne explizite Ich-Origo so etwas wie die Vorstellung eines Erzählers generiert werden könnte, beispielsweise durch einen bestimmten Duktus und stilistische Eigenheiten, doch liefern solche qualitativen Kennzeichen einer Stimme keine theoretische Erklärung dafür, wie man überhaupt von etwas wie einer Stimme oder einem Erzähler, generiert aus einem geschriebenen Text, reden kann42. Diesen theoretischen Beitrag liefert die MakeBelieve-Theorie von Walton. In Hinblick auf die Voraussetzung eines Erzählers bleibt Walton selbst allerdings liberal: Narrators are certainly not inevitable in representations composed of words. It is entirely possible to understand a verbal text as simply making the propositions its words express fictional without making it fictional that those words are spoken or written by anyone or in any way to be attributed to anyone. (We might think of the choice as that between understanding a text to be preceded implicitly by “Let’s imagine that” or “Let’s imagine someone saying [writing, thinking] that.”).43
Walton gebraucht hier den Begriff Erzähler ausgehend von einem Verständnis, bei dem der Erzähler expliziter Teil des Werkes ist, also einem ‚dramatisierten‘ Erzähler, der auf extra- oder intradiegetischer Ebene dennoch ausgesprochener Teil der Fiktion ist. Für fiktionale Erzählungen, die keinen solchen dramatisierten Erzähler aufweisen, schlägt er ein Verständnis vor, das die Frage nach der Herkunft der fiktionalen Rede unbestimmt lässt – wie auch immer der Leser Kenntnis von den Worten des Textes erhält, er stellt sich die dargestellten Sachverhalte dennoch vor. Dies widerspricht der von mir oben angeführten Definition der fiktionalen Erzählung, die gerade davon ausgeht, dass es fiktional wahr ist in einer fiktionalen Erzählung, dass sie erzählt wird. Hier stellt sich die bereits oben aufgeworfene Frage, inwieweit es notwendig ist, die Vorstellung vom Erzähltsein an den anthropomorphen Agenten ‚Erzähler‘ zu knüpfen. Um fiktionale Texte zu verstehen, muss zunächst die Haltung ____________ 42
43
Weitere „Zeichen für den Erzähler“ nennt Jannidis (2002: 549f.). Das dort entwickelte Modell konstruktiver Inferenzprozesse behandelt aus kognitionswissenschaftlicher und linguistisch-pragmatischer Perspektive teilweise die im vorliegenden Artikel behandelte Problematik, jedoch nicht aus fiktionstheoretischer Sicht. Walton (1990: 365).
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des Make-Believe eingenommen werden, das Walton wie oben mit ‘Let’s imagine’ paraphrasiert – egal, ob es sich um einen Text mit dramatisiertem oder ‚abwesendem‘ Erzähler handelt. Denn nicht jeder Erzähltext beginnt wie Moby Dick: “Call me Ishmael.” Eine Vielzahl fiktionaler Erzählungen, auch solche mit einem dramatisierten Erzähler, enthüllen die Existenz und Identität ihres Erzählers erst spät, und bis dahin bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als sich den Text zunächst als auf irgendeine Weise erzählt oder vermittelt44 vorzustellen, auch wenn keine Klarheit darüber herrscht, wer denn eigentlich erzählt, wer Ursprung der Stimme sein soll. Es gehört zu den Eigenarten der fiktionalen Rezeption, dass wir als Leser so ziemlich alles akzeptieren, auch und gerade im Hinblick auf den Ursprung der Stimme im Text: tote Mütter, Zwerge, unsterbliche Ichs in ständiger Verbindung mit Plattfischen – die Liste ließe sich beliebig fortführen, in der Fiktion ist eben alles möglich – auch Erzähler, von denen wir ‚buchstäblich‘ nichts wissen, nicht einmal, ob es sie überhaupt fiktional ‚gibt‘. Doch gerade auch in diesen Fällen ist es meiner Ansicht nach Teil des Make-Believe-Spiels des Rezipienten, dass er sich den Text als auf irgendeine Weise erzählt oder vermittelt vorstellt. Es ist eine fiktionale Wahrheit, die sich nicht in der Welt des Textes explizit manifestieren muss, die aber einen impliziten Teil der Welt des fiktionsschaffenden Spiels des Rezipienten darstellt; das bloße Vorhandensein von Rede, die Vorstellung einer Stimme, die den Rezipienten zumindest auffordert: ‚Stell dir vor, dass‘ – denn sonst wird aus dem Text keine Fiktion, auch wenn der Text selbst keinen expliziten Anlass für das Vorstellen eines anthropomorphen Erzählers gibt. Die Definition oben wird wie folgt präzisiert: Die fiktionale Erzählung ist dadurch definiert, dass es im MakeBelieve-Spiel des Rezipienten zumindest implizit fiktional wahr ist, dass ihm die Erzählung fiktional erzählt oder auf andere Weise fiktional vermittelt wird. In einem fiktionalen narrativen Text ist somit das Vorhandensein von Stimme auch ohne explizites Aussagesubjekt eine fiktionale Wahrheit in ____________ 44
Damit sind lediglich andere Formen der Vermittlung als das rein ‚mündliche‘ (oder eigentlich schriftliche) Erzählen mit impliziert, die jedoch narratologisch nichts an der Kategorie und der Funktion des Erzählers ändern. Ob es fiktional wahr ist, dass der Erzähler im Ohrensessel vor dem Kamin sein ‚Garn spinnt‘ oder ob wir die Aufzeichnungen des Institutionsinsassen Oskar Matzerath lesen, beide sind narratologisch gesehen Erzähler, auch wenn letzterer eigentlich eher ein Schreiber wäre.
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der Welt des Rezipienten. In der Rezeptionshaltung des Make-Believe wird die implizite fiktionale Wahrheit einer Stimme generiert, deren Ursprung nur ein Erzähler sein kann. Der fiktionale Erzähler wird somit zum impliziten Erzähler, als Teil der fiktionsschaffenden Rezeptionsweise. So gesehen wird die Frage nach der Erzählerstimme durch Verwendung der Theorie Waltons zu einer anderen: Wie wird es fiktional wahr im Rahmen des Spiels, dass der Rezipient Kenntnis von den Propositionen des Werkes erhält? In einer fiktionalen Erzählung mit dramatisiertem Erzähler ist die Antwort, dass es fiktional wahr ist, dass der Erzähler dem Rezipienten die Geschichte erzählt. Gibt es keinen expliziten Erzähler, ist es dennoch implizit wahr im Rahmen des individuellen Spiels, dass der Rezipient auf irgendeine nicht näher bestimmte Weise der Vermittlung von den Propositionen des Werks Kenntnis erhält. Im Rahmen des Spiels wird beispielsweise akzeptiert, dass Frösche erzählen, aber eben auch, dass das Erzählen scheinbar von selbst geschieht, dass es Stimme ohne expliziten Ursprung gibt – das Fehlen des fiktionalen Agenten als dramatis persona ändert nichts an der Akzeptanz von Stimme und dadurch des Vermitteltseins, denn ohne diese Akzeptanz, die einen Teil der MakeBelieve-Haltung darstellt, gibt es keine Fiktion. Die ‚Mimesis des Erzählens‘ von Nünning wird im Rahmen von Waltons ‘Mimesis as MakeBelieve’ zu einer Mimesis des Erzähltseins, zu einer Mimesis der Stimme, zur Nachahmung der Situation des Erzählens im Sinne Bichsels. Durch die Mechanik des Spiels werden Worte eines Textes zur Nachahmung von Stimme – nicht notwendigerweise auf der Ebene des Textes explizit markiert, sicherlich aber mannigfaltiger implizit angedeutet als nur durch eine eindeutige Ich-Origo, beispielsweise stilistisch im Sinne Aczels, und als Voraussetzung dafür, dass aus Sätzen überhaupt etwas wird. Von der Stimme des Erzählers in fiktionalen Texten zu sprechen kann also fiktionstheoretisch im Modell Waltons als impliziter Teil des fiktionsschaffenden Make-Believe-Spiels erklärt werden.
4. Zusammenfassung Dorrit Cohns Kennzeichen der Fiktionalität sind eher Symptome der Fiktion, keineswegs aber Ausgangspunkt für die theoretische Beschreibung von Fiktion, will heißen für das Beschreiben der Funktion von Fiktion. Kendall Waltons Theorie scheint in dieser Hinsicht erfolgversprechender: Zum einen kann Fiktion nicht allein im Bereich der Literatur, sondern auch in anderen Bereichen wie Film und darstellender
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Kunst beschrieben werden, zum anderen konnte gezeigt werden, weshalb auch in nicht-fiktionalen Zusammenhängen von fiktionalen Strategien gesprochen werden kann, ohne dabei Vorwürfen der Unwahrheit ausgesetzt zu sein. Nachteil der Theorie Waltons ist aber sicherlich das Fehlen einer diachronen Perspektive, gerade für die Frage nach der Entscheidung des Lesers, ob ein Werk fiktional, also im Rahmen des Make-BelieveSpiels, oder nicht-fiktional rezipiert werden soll. Walton macht hierfür soziokulturelle Umstände verantwortlich; für die Literaturwissenschaft bleibt die Aufgabe, diese soziokulturellen Markierungen zu katalogisieren, um diachron und synchron über die Einteilung in fiktionale und nicht-fiktionale Werke entscheiden zu können. Ein großer Unterschied der Waltonschen Theorie im Vergleich zu literaturwissenschaftlichen Fiktionstheorien ist jedoch die theoretische Fundierung des Verzichts von Wirklichkeit und Wahrheit als Gegensatz der Fiktion. Diese Definition bietet die Möglichkeit, Fiktion nicht mit Fiktivität und somit ex negativo zu erklären, sondern einen funktionalen und qualitativen Zugang zu gewinnen. Der Gegensatz zu fiktionalem Erzählen ist somit nicht faktuales Erzählen, sondern nicht-fiktionales Erzählen. Für die Verbindung der analytisch-philosophischen Fiktionstheorie Waltons mit Fragestellungen der Narratologie wurden erste Vorschläge unterbreitet. Fiktionales Erzählen ist in dieser Sichtweise dadurch definiert, dass im Rahmen der Spielregeln fiktionale Wahrheiten generiert werden, die nicht notwendigerweise expliziter Teil des Werkes sind. Wird eine Erzählung als fiktionale rezipiert, ist es Teil des fiktionalen Umgangs des Rezipienten mit dem Werk, dass der Rezipient dieses sich als auf irgendeine Weise als erzählt oder vermittelt vorstellt. Nur dann kann der Rezipient aus den Worten des Textes Sinn generieren, nur dann kann der Text überhaupt verstanden werden, nur dann kann überhaupt von ‚Stimme im Text‘ geredet werden. In vermeintlich erzählerlosen Erzählungen auf textueller Ebene wird durch die Mimesis von Stimme Erzähltsein zum Teil des eigenen fiktionalen Umgangs mit der Erzählung. Bedenkt man, dass der Schritt vom dramatisierten Erzähler im Text zur Vorstellung des Rezipienten bisweilen sehr viel verlangt vom Rezipienten – beispielsweise, dass man sich Tote oder Tiere erzählend vorstellt – ist der Schritt von einem unmarkierten Erzähler zur Vorstellung des in seinem Ursprung nicht expliziten Erzählt- oder Vermitteltseins, der Mimesis einer erzählenden Stimme, bedeutend geringer. Am Objekt zu beweisen ist dies schlechterdings schwer – möglicherweise könnte eine Untersuchung Klarheit bringen, in der ein deutlich dramatisierter, aber zugleich nur
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schwer vorstellbarer Erzähler mit einer vermeintlich erzählerlosen Erzählung verglichen wird, die jedoch deutlicher eine Vorstellung des Erzähltseins, also der oben beschriebenen Mimesis von Stimme evoziert. Weiterhin sollten die aus Waltons Theorie resultierenden Einsichten besonders im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen fiktionalem vs. nicht-fiktionalem Erzählen weiter untersucht werden. Besonders interessant scheint dies für spezifisch fiktionsabhängige Erzählverfahren wie unzuverlässiges Erzählen, metafiktionales Erzählen, Metalepse und mise en abyme zu sein. Wie gezeigt wurde, konnte in Bezug auf das Verständnis der narratologischen Kategorie der Stimme ein Beitrag aus fiktionstheoretischer Sicht geleistet werden, der für die Frage des Erzählers von Bedeutung sein und damit für eine Erweiterung der Narratologie auf andere Felder brauchbar gemacht werden kann: Für die narratologische Beschreibung von Film, Theater, Lyrik und Malerei scheint es sinnvoll, ein Konzept des fiktional Vermitteltseins zu erproben. Die Frage, wie der Rezipient fiktional Kenntnis von den Propositionen des Werkes erhält, sollte sich auch in anderen Kunstarten, wenn nicht mit der Mimesis von Stimme, so doch mit der Strategie der Mimesis des Vermitteltseins narratologisch beantworten lassen und – hoffentlich – fruchtbare Verwendung finden können.
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ÁRPÁD BERNÁTH (Szeged)
Rhetorische Gattungstheorie und konstruktivistische Hermeneutik Abstract The paper’s theoretical interest is not to criticize the terminological framework of Genette’s narratology, but it tries to place his theory in the context of the theory of literary criticism. Its conclusion is that Genette’s narratology mainly serves to describe the rhetorical qualities of narrative literary texts. If one wants it to be effective for a hermeneutic pursuit, the theory should be transformed: narration as a text-productive principle has to be replaced with construction. Consequently the emphasis will move from time, mood and voice toward the rules which determine the construction of the fictional story. The approach of transforming Frege’s semantic theory and interpreting literary language as a construction that could include real elements corresponds to the Aristotelian view developed in Poetics. Ultimately the interpretation of Heinrich Böll’s novel entitled Ansichten eines Clowns (The Clown) serves as a case study for emphasizing the significance of a theory which conceives the literary work as construction. Bei bestimmten Erzähltheorien muss man „unausweichlich an das Ptolemäische System denken, das, um zu funktionieren, so viele Zusätze nötig machte, dass es am Ende zweckmäßiger war, darauf zu verzichten. Fragt sich jetzt nur, wer hier Ptolemäus ist – hält sich doch jeder gern für Kopernikus“1.
Die Erzähltheorie als Teil der Literaturtheorie hat einen schillernden Status. Wofür soll sie Termini liefern? Soll sie ein Begriffssystem erstel____________ 1
Genette [1983](1998b: 243).
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len für die Begründung und Abgrenzung einer Gattung innerhalb ‚der schönen Literatur‘ oder für die Beschreibung der Beschaffenheit möglichen Erzählens oder gar für die Erklärung des Aufbaus eines Textes, den man zur Gattung ‚Erzählwerk‘ zählt? Die Erzähltheorie steht aber nicht nur im schwer ermessbaren Spannungsfeld zwischen Gattungstheorie und Rhetorik, zwischen Poetik und Hermeneutik, sie nimmt oft auch die Aufgabe auf sich, durch eine genetische oder eine systematische Ableitung der fiktionalen Erzählkunst aus der faktualen Erzählung, Antworten auf die Frage zu geben, wie ‚Kunst‘ – prinzipiell oder als einzelnes Artefakt – entsteht, worin ihre Wurzeln zu finden sind und welche Entwicklungsmöglichkeiten vor ihr stehen. Der Hauptstrom der Erzähltheorie versucht diese Schwierigkeiten dadurch zu lösen, dass sie sowohl historisch als auch systematisch in der Narration die Basis findet, auf der sich ein System wohldefinierter Termini der Erzähltheorie aufbauen lässt. Ohne Zweifel bilden die Arbeiten zur Erzähltheorie von Gérard Genette eine starke Plattform in diesem Prozess: Durch eine kritische Aneignung der erzähltheoretischen Arbeiten, die seit Ende des 19. Jahrhunderts – gefördert nicht zuletzt durch Entdeckung oder Entfaltung neuer Medien und eine Erweiterung des Forschungshorizonts durch Einbeziehung der Volksdichtung – in immer größerer Zahl publiziert worden sind, erreichte Genette eine überragende Klarheit der meisten seiner Termini und verlieh ihnen ein Beschreibungspotential, wodurch sie fähig wurden, sehr feine und zugleich wesentliche Unterschiede in den Arten der Narration aufzudecken2. Ein Terminus, der sich in der Rezeption der Erzähltheorie von Genette jedoch oft als mehrdeutig oder als vage erwies, ist der Terminus ‚Stimme‘ (voix), um dessen Klärung sich die meisten Arbeiten in diesem Band bemühen. Meine Überlegungen widmen sich nicht der Frage, inwieweit einzelne Termini des Genetteschen Systems klar und eindeutig sind oder inwieweit sie im Rahmen seiner Theorie klarer und eindeutiger gemacht werden könnten. Mein Problem ist, ob der schillernde Status der Erzähltheorie selbst durch sein System aufgehoben werden kann. Ob wir durch dieses System die Problemfelder, die von den meisten Erzähltheorien berührt werden, zusammenfügen und – wenn nötig – ihr Verhältnis zueinander eindeutig bestimmen können? Zur Lösung dieser Aufgabe versuche ich in dieser Arbeit in drei Schritten beizutragen. ____________ 2
Genette [1972](1998a) und [1983](1998b).
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Ich werde zunächst das System von Genette durch die Formulierung eigener Thesen kritisch reflektieren, mit dem Ergebnis, dass seine Leistung auf dem Gebiet der Literaturtheorie vor allem im Rahmen der Rhetorik zu bewerten ist. Damit eine Erzähltheorie auch hermeneutische Fragestellungen ermöglicht, sollte man von der Narration als zentraler Kategorie Abschied nehmen und an ihre Stelle die Kategorie der Konstruktion stellen. Diese Modifizierung kann als eine ‚kopernikanische Wende‘ relativ zum Hauptstrom der Erzähltheorien betrachtet werden, insofern der Umbau dieser Theorien nicht durch die Ersetzung ihrer grundlegenden Komponenten durch andere Bestandteile erfolgt. Die Neuigkeit liegt eher in der Neubestimmung der Hierarchie der Komponenten eines Vorgangs, der klassisch – und auch von Genette – als ‚Narrration‘ bezeichnet wird. Diese Neubestimmung fördert dann auch neue Bestandteile zutage und erfordert auch Umbenennungen, um uns von störenden Vorstellungen, die die alten Benennungen evozieren, zu befreien. So bezeichnet in der umgebauten Theorie ‚Konstruktion‘ – wie die ‚Narration‘ in der Genetteschen Theorie – im Grunde genommen einen Textherstellungsprozess. Die klassischen Theorien der literarischen Narration setzen jedoch, ähnlich der alltäglichen Narration, das Vorhandensein einer Geschichte voraus, und zwar auch dann, wenn sie teilweise oder ganz als fiktiv anzunehmen ist. Eine Theorie der literarischen Konstruktion setzt dagegen das Vorhandensein von Bauregeln für Geschichten voraus, mit deren Hilfe abstrakte Geschichten erstellt werden können. Und diese Konzeption kann auch dann beibehalten werden, wenn eine abstrakte Geschichte in unserer Erfahrungswelt teilweise oder gänzlich reale Entsprechungen hat. Im zweiten Teil meiner Arbeit versuche ich zu zeigen, dass das als Grundlage einer Literaturtheorie durchzusetzende Konstruktionsprinzip bereits in der Poetik von Aristoteles zum Tragen kam. Gottlob Frege stellte uns am Ende des 19. Jahrhunderts in den Fußstapfen von Aristoteles auch eine Semantik zur Verfügung, die – modifiziert und erweitert – geeignet zu sein scheint, das Verhältnis von Konstruktionsregeln, Texten einer bestimmten Klasse und möglicher Referenz dieser Texte widerspruchslos zu klären. Im dritten Teil der Arbeit folgt eine kurze Probe des entworfenen Konzepts aufs Exempel: Einige Aspekte und Stellen des Romans Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll sollen daraufhin geprüft werden, ob die hier vertretene theoretische Einstellung zu neuen Fragen und dadurch auch zu neuen Erkenntnissen über dieses Werk führen kann.
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1. Ein Vorschlag für eine Kopernikanische Wende in der Erzähltheorie Die literaturtheoretischen Abhandlungen von Genette bieten uns ein System von Termini vor allem zur Beschreibung der Beschaffenheit möglicher Narrationen an. Das Produkt einer Narration wird von Genette ‚Erzählung‘ genannt. Eine Erzählung soll eine Geschichte wiedergeben, die als eine Ereigniskette mit Anfangszustand und Endzustand definiert wird. Es wird in diesem Zusammenhang über ein Ereignis gesprochen, wenn im Zustand mindestens einer Person, die Gegenstand der Narration ist, eine Veränderung erfolgt. Es ist zweckmäßig festzuhalten, dass es für eine Narration in diesem Sinne zwei Bedingungen gibt: die Kenntnis einer Geschichte und die Beherrschung eines Zeichensystems, mit dessen Hilfe der Narrator eine Ereigniskette präsentieren kann. Jede Präsentation durch Zeichen beschränkt sich notwendigerweise auf bestimmte Aspekte des zu Präsentierenden. Das Ziel der Narration ist die Information einer Gruppe von Personen über die präsentierten Aspekte der Geschichte. Durch die Beschreibung der Beschaffenheit einer Narration können grundsätzlich ihre rhetorischen Qualitäten festgestellt werden. Unter rhetorischer Qualität wird hier der Beitrag der Erzählweise zum Gelingen der Übertragung der Information mit dem beabsichtigten Zweck verstanden. Die erfolgreiche Übernahme der Information hängt von der Beherrschung des zur Übertragung verwendeten Zeichensystems und von Kenntnissen über die mögliche Beschaffenheit einer korrekten Narration ab. Eine Geschichte kann dem Narrator bekannt sein durch unmittelbare Erfahrung oder durch Präsentation der Erfahrung von Anderen über diese Geschichte. Nennen wir nun die sprachliche Präsentation einer Geschichte, um uns von Suggestionen zu befreien, die von Bezeichnungen wie ‚Narration‘, ‚Erzählung‘ und Ähnlichem ausgehen, ein Modell dieser Geschichte. Das Modell, wie alle Typen von Zeichen, steht immer für etwas anderes: Ein semantisches Modell einer Geschichte gibt die Anzahl der Personen und der Gegenstände wieder, die in der gegebenen Geschichte vorkommen, und einige ihrer Attribute, von denen sich mindestens ein Attribut mindestens einmal verändern soll. Zu einem Modelloriginal Geschichte G1 können unterschiedliche und doch richtig konstruierte Modelle (M1, 2 ... n) erstellt werden, wenn sie unterschiedliche Aspekte der Geschichte präsentieren. Das kann der Fall sein, wenn eine Geschichte mehreren Konstruk-
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teuren bekannt ist oder wenn ein Konstrukteur zu einem Modelloriginal mehrere Modelle erstellt. Ein Modell ist richtig konstruiert und repräsentiert das Modelloriginal, wenn und soweit das Modell seinem Original entspricht. Haben die zu Informierenden nicht dieselben Erfahrungsmöglichkeiten wie der Konstrukteur, bleibt ihnen der Glaube daran, dass das rezipierte Modell als Informationsträger auf Grund eines Modelloriginals richtig konstruiert ist und so eine Entsprechung zwischen Modell und Modelloriginal tatsächlich vorhanden ist. Dieser Glaube kann (bis zu an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) verstärkt werden durch mehrere, voneinander unabhängig erstellte Modelle, die uns erlauben, sie für Modelle vom gleichen Original zu halten. Dieser Glaube kann andererseits (bis zu an Sicherheit grenzender Unwahrscheinlichkeit) geschwächt werden, wenn Modelle, die vorgeben, nach gleichem Modelloriginal konstruiert worden zu sein, so beschaffen sind, dass sie unmöglich auf ein und dasselbe Original bezogen werden können. Solche Unstimmigkeiten können auch innerhalb eines Modells auftreten, wenn das Modell miteinander unvereinbare Informationen über die Anzahl der Personen und Gegenstände oder über ihre Attribute für ein und dasselbe Ereignis oder eine und dieselbe Ereigniskette in der Außenwelt enthält. ‚Unstimmig‘ ist ein Modell auch dann zu nennen, wenn die vermittelten Informationen von den zu Informierenden als unerfahrbar für den Konstrukteur gehalten werden, wenn also die Richtigkeit der Darstellung allein auf Zufall beruhen kann. Semantische Modelle auf solche Unstimmigkeiten oder auf nicht erfüllte Bedingungen einer richtigen Darstellung hin zu untersuchen, um sie unter dem Aspekt der Glaubwürdigkeit beurteilen zu können, ist ein gewöhnliches Verfahren der Historiker oder Richter, die über eine bestimmte Geschichte als Modelloriginal in institutionellem Rahmen Informationen sammeln. Die ‚rhetorische Leistung‘ der unstimmigen Beschaffenheit einer bestimmten Narration als Modellerstellung besteht also in der Erzeugung des Unglaubens bei den Modellverwendern in Bezug auf die Richtigkeit des Modells. Nichtsdestoweniger kann ein Modell auch dann noch als richtig konstruiert gelten, wenn es unstimmige Informationen über ein Modelloriginal enthält, das dem Bereich des rationalen Denkens entzogen ist und keinem anderen als dem Konstrukteur zugänglich ist. Ein Beispiel für diese Möglichkeit ist die Abbildung eines Traumes oder einer Vorstellung des Konstrukteurs, denn Ereignisketten, die Produkte der Innenwelt einer Person sind, unterliegen nicht den Kriterien, die für Ereignisse in der Außenwelt definiert sind. In diesem Fall kann nur der Konstrukteur selbst
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über die Entsprechung zwischen Modell und Modelloriginal ein Urteil fällen. Ein anderer Typ der Unbeurteilbarkeit der Entsprechung zwischen Modell und Modelloriginal tritt auf, wenn die Beschränkung für die Zugänglichkeit des Modelloriginals nur temporär ist, wie bei Vorhersagen, oder modal bedingt ist, wie bei Annahmen. Auf diesen Möglichkeiten der Modellerstellung beruht auch die Lüge, deren Modelloriginal nur in der Innenwelt des Narrators existiert. Die Lüge kann in diesem Rahmen als Verfälschung des ontologischen Status des abgebildeten Modelloriginals definiert werden, indem Innenweltgeschehen als Außenweltgeschehen präsentiert wird oder indem die Existenzform des Innenweltgeschehens (wie Traum, Vision etc.) nicht korrekt angegeben wird. Konstruktionen, die sich der Kontrolle der zu Informierenden durch ein In-Beziehung-Setzen des Modells und seines Modelloriginals oder durch eine Überprüfung der Stimmigkeit der Modellerstellung nicht unterwerfen wollen, können nur als Modelle von Geschichten in der Vorstellungswelt des Konstrukteurs aufgefasst werden. Nehmen die zu Informierenden ferner an, dass solche Modelle die präsentierten Aspekte des Modelloriginals richtig abbilden, gelangen sie primär zu Informationen über die Vorstellungswelt des Konstrukteurs. Konstruktionen dieser Art können Gegenstände psychologischer Untersuchungen werden als Dokumente über das Funktionieren der Vorstellungskraft eines Individuums. Bekanntlich gilt für Kunstwerke, die – wie Kurzgeschichten, Balladen, Novellen, Romane, Dramen – eine Geschichte präsentieren, die poetologische Konvention, wonach sie weder der Kontrolle durch ein InBeziehung-Setzen von Modell und Modelloriginal noch der Überprüfung der Stimmigkeit der Modellerstellung auf Grund von realen Kommunikationssituationen unterworfen sind. Nach dieser Konvention sollten aber die Erforscher geschehensdarstellender Literatur auch nicht die Position eines Psychologen übernehmen. Was für den Psychologen eine übliche Annahme ist, nämlich auch diese besondere Klasse der Modelle allein als Konstruktionen über eine Kette von singulären Ereignissen in der Vorstellungswelt des Konstrukteurs zu betrachten, kann eine selbständige Wissenschaft, die Literaturwissenschaft, nicht begründen. So bleibt für den Literaturwissenschaftler nur die Möglichkeit, geschehendarstellende Literatur als Konstruktionen der Autoren zur Erkennung spezifischer Wahrheiten, deren Gültigkeit nicht auf die Innenwelt einer Person beschränkt ist, zum Gegenstand einer Betrachtung zu machen. Das Spezifikum der Wahrheitsfindung eines Kunstwerkes liegt in dem Spezifikum der Kon-
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struktion des semantischen Modells: Das Erstellen eines richtigen Modells für eine abstrakte Geschichte wird – im Gegensatz zur üblichen, nichtliterarischen Konstruktion nach einem Modelloriginal – nicht durch die dargestellte Geschichte gesteuert! Das so konstruierte Modell kann zwar einigen Aspekten einer Geschichte in der Innenwelt des Autors entsprechen, und es kann auch Fälle geben, bei denen die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass solche Konstruktionen auch richtige Entsprechungen in der erfahrbaren Außenwelt haben, doch wäre es falsch, in diesem Zusammenhang die Geschichte in der Vorstellung oder ihre eventuelle außenweltliche Entsprechung als ‚Modelloriginal‘ zu benennen, da sie den Prozess der Konstruktion selbst nicht bestimmt, sondern nur – möglicherweise – interpretiert. Entsprechungen zum Modell der abstrakten Geschichte in der erfahrbaren Außenwelt werden in diesem Kontext daher nicht ‚Modelloriginal‘, sondern Interpretament genannt. Die Eigentümlichkeit der literarischen Konstruktion von Modellen besteht also in diesem Zusammenhang vor allem darin, dass sie nicht durch das Interpretament, sondern von Regeln für Bildung und Verknüpfung möglicher Ereignisse in einer möglichen Welt geleitet wird. Was überhaupt möglich ist, hängt von dem spezifischen, von dem Modellverwender zu eruierenden Thesaurus ab, von einem ‚Baukasten‘, der Elemente, Attribute, aber auch komplexere Bauelemente sowie Verknüpfungsregeln für die Erstellung von Geschichten eines besonderen Typs enthält. Die notwendige Bedingung der Konstruktion eines Modells in diesem Sinne ist das Vorhandensein eines Thesaurus für die Konstruktion von Ereignissen, das dem Autor ermöglicht, mit Hilfe von Zeichen für Personen und Gegenstände sowie von Zeichen für Attribute eines bestimmten Zeichensystems eine abgeschlossene Kette von Ereignissen zu präsentieren. Das spezifische Ziel einer Konstruktion dieser Art ist die Information einer Gruppe von Personen über die Regeln (Postulate, Axiome, Definitionen), die in einer präsentierten Geschichte zur Geltung kommen können. Die rhetorische Beschaffenheit einer Konstruktion ist grundsätzlich der Erkennbarkeit der zum Tragen kommenden Regeln untergeordnet. Die spezifischen Wahrheiten, die eine solche Konstruktion für die zu Informierenden liefert, sind also primär die Regeln, auf deren Grund sich die präsentierte Geschichte als ein stimmig konstruiertes Modell erweist. Ist ein Modell stimmig konstruiert, ist es auch ‚richtig‘. Denn bei der Konstruktion eines Modells sind weder die Frage der Erfahrbarkeit für den Autor noch ein Widerspruch zur Erfahrungswelt (fehlende oder unmögliche Entsprechung zu einem vorgegebenen Interpretament) maß-
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gebend. Die Regeln der Konstruktion werden üblicherweise vom Autor gar nicht – also weder im Werk selbst noch in seinen möglichen Kommentaren zu seinem Werk – oder nur teilweise mitgeliefert. Die Kenntnis aller Regeln, die durch eine Konstruktion zugänglich gemacht werden, gehören nicht zur Voraussetzung der Konstruktion selbst, sie zu erkennen kann aber als Ziel für die Literaturwissenschaft gesetzt werden. Zu den Bedingungen der Entdeckung der Konstruktionsregeln gehören die Beherrschung des vom Autor verwendeten Zeichensystems, Kenntnisse über die mögliche Beschaffenheit der stimmigen Konstruktion eines Modells und Fähigkeiten zu einem methodologischen Vorgehen in der Forschung. Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein mit Hilfe eines Zeichensystems erstelltes Produkt kann als ein semantisches Modell betrachtet werden. Das Modell einer Geschichte als Gegenstand der Literaturwissenschaft sollte auch als eine mögliche Realisation eines Regelwerks für Konstruktionen von Geschichten bestimmter Typen untersucht werden. Auch wenn Ereignisse, die durch ein literarisches Modell M1 präsentiert sind, für die Erfahrung zugänglich sind, gelten sie nicht als Originale für dieses Modell. Sie heißen in diesem Kontext Interpretamente vorgegebener und starrer Art, die durch ihre Zugänglichkeit und Einzelartigkeit spezifische Rückschlüsse auf den Inhalt des Regelwerks erlauben. Damit werden die Abhängigkeitsverhältnisse unter den Komponenten, die auch in der Erzähltheorie von Genette vorhanden sind, umdefiniert, und wurde eine Komponente, der Thesaurus, der in seiner Theorie nur mehr oder weniger latent vorhanden ist, neu bestimmt. Genette sah den Ursprung „bestimmte[r] Schwierigkeiten der Narratologie [...] in [der] Konfusion“3, die durch die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ‚Erzählung‘ (récit) erzeugt wird, und die übrigens auch in einigen anderen Sprachen – wie im Ungarischen (elbeszélés) – vorhanden sind. Die Mehrdeutigkeit ist in diesem Fall wahrlich störend, weil alle Verwendungsmöglichkeiten dieses Ausdrucks notwendige Komponenten möglicher Erzähltheorien bilden: ‚Erzählung‘ im Sinne von Textherstellung, ‚Erzählung‘ im Sinne von Geschichte, ‚Erzählung‘ im Sinne von Produkt der Textherstellung. So kann man Genette nur beistimmen, wenn er den Ausdruck ‚Erzählung‘ (récit) durch ‚Geschichte‘ (histoire) ersetzt, wenn dieser Ausdruck jene „Abfolge der realen und fiktiven Ereignisse“4 bezeichnen soll, die Gegen____________ 3 4
Genette [1972](1998a: 15). Genette [1972](1998a: 14).
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stand der Darstellung sind, wenn er den Ausdruck ‚Erzählung‘ (récit) durch ‚Narration‘ ersetzt, wenn dieser Ausdruck den Akt, der darin besteht, dass jemand etwas (jemandem) erzählt, bezeichnen soll, und wenn er den Ausdruck ‚Erzählung‘ (récit) nur dann beibehält, wenn es darum geht, bestimmte Klassen literarischer Werke zu benennen. Die Kohärenz einer literaturwissenschaftlichen Theorie wird jedoch nach der hier vertretenen Konzeption von der Definition der Geschichte als ‚Abfolge der realen und fiktiven Ereignisse‘ gefährdet, sie wird ohne zahlreiche rettende Zusätze zu dieser Definition sogar zerstört. Die Beantwortung der ontologischen Frage, ob eine Geschichte ‚real‘ oder ‚fiktiv‘ ist, hat eine andere Relevanz in Disziplinen, die die Richtigkeit, die Wahrheit eines semantischen Modells, primär auf Grund einer Korrespondenztheorie überprüfen wollen. Für Disziplinen wie die Literaturwissenschaft ist die ontologische Frage eine zweitrangige, denn weder die Feststellung einer fehlenden Korrespondenz des Modells mit einem Modelloriginal, noch die theoretische Unmöglichkeit, eine Korrespondenz festzustellen, reicht aus, eine besondere Glaubwürdigkeit der literarischen Erzählung, die zur Voraussetzung ihres Erkenntniswertes gehört, in Frage zu stellen. Andererseits reicht auch nicht aus, einem geschichtsdarstellenden Modell auf Grund einer erwiesenen Korrespondenz, die für die Geschichtsschreibung, Soziologie, das Zeitungswesen etc. einen unentbehrlichen Wert besitzt, literarische Glaubhaftigkeit zuteil werden zu lassen. Sie kann allein aus dem Thesaurus abgeleitet werden, dessen Inhalt – die Zeichen mit vorgegebenen und starren Interpretamenten einbegriffen – die Möglichkeiten, eine spezifische Geschichte in einer spezifischen Darstellungsweise aufzubauen, bestimmen. Die ‚kopernikanische Wende‘ gilt als vollzogen, wenn der Standpunkt angenommen wird: Nicht auf eine als vorgegeben gedachte Geschichte bezogen können wir die spezifische Beschaffenheit der literarischen Narration bestimmen, denn sowohl die Narration, als auch die durch sie dargestellte abstrakte Geschichte sind durch Konstruktionsmöglichkeiten determiniert, die durch den Inhalt eines spezifischen Thesaurus, der für einen Autor bei Erstellung eines Modells zur Verfügung steht, bestimmt werden können. Die Ersetzung der ‚Narration‘ durch ‚Konstruktion‘ und der ‚Erzählung‘ durch ‚Modell‘ sollte der Ausschaltung der suggestiven Kraft dieser klassischen Ausdrücke dienen, die besonders stark sein kann, wenn sie sich aus der Geschichte ihrer üblichen Verwendung speist. So suggeriert zum Beispiel die literaturwissenschaftliche Gattungsbezeichnung ‚Erzählung‘ die Annahme, dass die zu dieser Gattung gehörenden Texte als
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Produkt einer ‚Narration‘ zu betrachten sind, nicht zuletzt darum, weil man keinen Grund angeben kann, diese literarische Gattung entstehungsgeschichtlich nicht aus dem Akt des Erzählens, aus der Narration, abzuleiten, und weil literarische Modelle als Konstrukte natürlich auch der Imitation einer stimmigen Narration fähig sind. Ihre Qualitäten stammen freilich nicht aus diesem Umstand, denn Abweichungen in der Imitation von einer stimmigen Narration oder sogar das völlige Fehlen der Merkmale einer Narration in der Konstruktion beeinträchtigen den möglichen Wert des literarischen Produkts nicht.
2. Die semiotischen Grundlagen einer Theorie der literarischen Konstruktion Die ‚kopernikanische‘ Auffassung, dass geschehensdarstellende Literatur Produkt einer regelgeleiteten Konstruktion einer spezifischen Geschichte ist, ist gleichaltrig mit der Poetik von Aristoteles – oder genauer gesagt: Diese Erkenntnis steht im Einklang mit einem möglichen Verständnis der Poetik, auch wenn ihre Rezeption – dokumentiert nicht zuletzt durch ihre voneinander inhaltlich abweichenden Übersetzungen – diesen Einklang nicht immer wahrnehmbar macht. In diesem Rahmen ist es nicht möglich, eine ausführliche Revision der Poetik als Theorie der sprachlichen Konstruktion einer literarischen Geschichte (mýthos) zu leisten und so die aristotelischen Grundlagen der hier dargelegten Auffassung in mehrfacher Hinsicht sichtbar zu machen. Es soll hier genügen, auf diejenigen Thesen der Poetik hinzuweisen, die Ausgangspunkte für eine prüfende Wiederdurchsicht des ganzen Werkes unter dem Aspekt der Konstruktionstheorie bilden können. Aristoteles definiert bekanntlich die Kunst allgemein als Mimesis mit Hilfe eines Zeichensystems und spezifiziert seinen näheren Gegenstand unter den Künsten, der „bis jetzt keine eigene Bezeichnung hat“5, dadurch, dass er die Sprache als Zeichensystem verwendet und mit diesem Darstellungsmittel auch allein auskommen kann. Mimesis wird freilich in der Poetik in zwei Bedeutungen verwendet. Mimesis bezeichnet in historischem Kontext die Erstellung eines Modells nach einer Vorgabe als Original, der altgriechische Ausdruck ist in dieser Verwendung also mit ‚Nachahmung‘ gleichzusetzen. Wie Aristoteles formuliert: ____________ 5
Aristoteles, Poetik (1982: 5).
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Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren [...] als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.6
Letztere tritt nach Aristoteles sogar auch dann ein, wenn einem das Original des Modells selbst Unfreude erzeugen würde – eine Beobachtung, die auch für die Bestimmung der Wirkungsmöglichkeiten der Kunst von Belang ist. ‚Mimesis‘ bezeichnet in poetologischem Kontext die Erstellung eines semantischen Modells (mýthos) durch Zusammenfügung von Ereignissen (prágmata) nach wohldefinierten Regeln, das eine Geschichte (práxis) präsentiert, also ‚Konstruktion‘ in dem hier eingeführten Sinne. Denn die Poetik, die Lehre für literarische Konstruktionen7, gibt Antwort auf die Frage, „wie man die Handlungen [im Original: mýthos!] zusammenfügen muss, wenn die Dichtung gut sein soll“8. Es ist wichtig, in Bezug auf die literaturwissenschaftlichen Diskussionen über die Fiktionalität der Dichtkunst festzuhalten, dass die Poetik von Aristoteles die Konstruktion eines Mythos nach Regeln und das Vorhandensein eines vorgegebenen starren Interpretamenten für den Mythos nicht für unvereinbar hält. Er schreibt, um mögliche Missverständnisse auszuräumen, im 9. Kapitel (1451b30) der Poetik: Der Dichter – altgriechisch: poietés, ‚Verfertiger‘, ‚Konstrukteur‘ also – ist [...], wenn er wirklich Geschehenes dichterisch behandelt, um nichts weniger Dichter. Denn nichts hindert, dass von dem wirklich Geschehenen manches so beschaffen ist, dass es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könnte, und im Hinblick auf diese Beschaffenheit ist er Dichter derartiger Geschehnisse.9
____________ 6 7
8 9
Aristoteles, Poetik (1982: 11). Hier sei bemerkt, dass der Name, mit dem Aristoteles den in der altgriechischen Sprache bis zu seinen Überlegungen namenlos gebliebenen Gegenstand seiner Theorie bezeichnet, und der in der hier verwendeten Übersetzung als „Dichtung“ wiedergegeben wird, nämlich „poíesis“, seiner Grundbedeutung nach ‚verfertigen‘, mit lateinischem Lehnwort ausgedrückt, ‚konstruieren‘ heißt. Dieses Verständnis des altgriechischen Ausdrucks „poíesis“ wurde in der Rezeption dadurch verdrängt, dass die lateinischen Übersetzungen ihn nicht mit einem Äquivalent aus dem Wortschatz des Lateinischen ersetzt, sondern in der Form „poesis“ übernommen haben. Aristoteles, Poetik (1982: 5). Aristoteles, Poetik (1982: 32f.). Die Übersetzung von Olof Gigon drückt das Original folgendermaßen aus: „Auch wenn es sich trifft, dass er [der Dichter] über wirklich Geschehenes dichtet, ist er darum nicht weniger Dichter. Denn zuweilen kann wirklich Geschehenes dem Entsprechen, was wahrscheinlich und möglich gewesen wäre, insofern kann auch jenes als Werk des Dichters gelten.“ Aristoteles, Poetik (1961: 37). Siehe auch die jüngste englische Übersetzung: “So even should his poetry concern
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Denn das wirklich Geschehene – altgriechisch: historía, ‚erworbene Kunde vom Erfahrbaren‘ – ist bezüglich der dichterischen Produktion nur ein möglicher Beleg, ein Interpretament der Dichtung als Modell, „denn die Dichtung (poíesis) teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung (historía) hingegen das Besondere mit“10. Das Allgemeine – dessen Erkenntnis das Studium poetischer Werke ermöglicht – teilt sich durch die Regeln mit, auf Grund derer die Zusammenfügung eines bestimmten Mythos als wahrscheinlich oder sogar als notwendig erscheint. Und was sich notwendigerweise ereignet, ist immer auch möglich, oft im Gegensatz zu einem Konglomerat zufälliger Erfahrungen über die Taten realer Personen. Diese Taten zeigen sich üblicherweise als separate Ereignisse, die nicht einmal nach irgendeiner Regel der Wahrscheinlichkeit zusammenfügbar zu sein scheinen. „So führt der eine auch vielerlei Handlungen aus, ohne dass sich daraus eine einheitliche Handlung [práxis] ergibt“11. Die Zusammenfügung nach Regeln und die Einheit des Mythos aber bedingen einander. Die Stimmigkeit, die durch die Einhaltung der Regeln zu erreichen ist, überschreibt die Unkorrektheiten, die sich im Lichte der Erfahrung oder üblichen Verwendung der Sprache zeigen. Denn die Richtigkeit in der Dichtkunst [ist] [...] nicht so beschaffen wie in irgendeiner anderen Disziplin [téchne]. [...] Wenn ein Dichter Unmögliches [auf Grund der Erfahrung oder einer Disziplin] darstellt, liegt ein Fehler vor. Doch hat es hiermit gleichwohl seine Richtigkeit, wenn die Dichtung auf diese Weise den ihr eigentümlichen Zweck erreicht.12
Dass ein Text als Modell einer Geschichte zugleich als ein Konstrukt nach bestimmten Regeln für eine abstrakte Geschichte und auch als Nachahmung eines Originals aufgefasst werden kann, kann man am besten mit Hilfe einer modifizierten Frege-Semantik beschreiben. Es gibt auch historische Gründe, die aristotelische Sicht der Dichtkunst mit der Fregeschen Auffassung der Semantik zu verbinden, und so ergibt sich die Möglichkeit, mit der Hilfe der Letzteren einige Thesen der Poetik zu präzisieren, nicht ganz zufällig. Aristoteles wie Frege sind vor allem Logiker, und diese Tatsache drückt sich in der Annäherungsweise an ihren Gegen____________
10 11 12
actual events, he is no less a poet for that, as there is nothing to prevent some actual events being probable as well possible, and it is through probability that poet makes his material from them.” Aristoteles, Poetics (1999: 62f.). Aristoteles, Poetik (1982: 29). Aristoteles, Poetik (1982: 27). Aristoteles, Poetik (1982: 87).
Rhetorische Gattungstheorie und konstruktivistische Hermeneutik
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stand aus – nicht zuletzt darin, dass sie beide die Dichtkunst auch im Vergleich mit der Mathematik sehen wollen, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen. Aristoteles verbindet die beiden Bereiche der Konstruktion auf Grund der Schönheit, die ihre Konstrukte durch ‚Größe‘, ‚Anordnung‘ und ‚Abgeschlossenheit‘ haben13. Frege trennt die beiden Bereiche auf Grund prinzipieller Unterschiedlichkeit der verwendeten Zeichensysteme. Denn die in der Mathematik wie in der Narration verwendeten Zeichen sind nach Frege echte Zeichen, die in der Dichtung verwendeten Zeichen sind dagegen nur Surrogate von echten Zeichen, die er ‚Bilder‘ nennen möchte14. Aristoteles sieht den Unterschied zwischen Mathematik und Dichtung unter anderem darin, dass die Ordnung der Mathematik statisch ist, wogegen die Dichtung dynamisch sei, indem sie wohlgeordnete Ereignisse präsentiere. Diese Ansicht könnte Frege nicht mehr mit Aristoteles teilen, denn eine der Quellen seiner semantischen Überlegungen liegt in einer relativ neuen, nacharistotelischen Disziplin der Mathematik, die wir auch als eine Art ‚Mathematik der Ereignisse‘ auffassen könnten. Es handelt sich um die semantische Untersuchung der mathematischen Funktion. Denn Zeichen für Funktionen vom Typ ‚F(a)‘ mit einem Individuennamen an der Stelle von ‚a‘ und mit einem Attributsnamen an der Stelle von ‚F(...)‘ präsentieren – ähnlich dem Anfangszustand eines Ereignisses – ein Individuum mit bestimmten Attributen, nur heißen die zwei Komponenten in der Fregeschen Terminologie ‚Argument‘ und ‚Funktionsausdruck‘. Eine Zustandsänderung (Wertverlauf einer Funktion) tritt nun ein, wenn das Argument oder das Attribut verändert wird. Wichtiger als die Feststellung dieser Parallelitäten ist für unsere Fragestellung das Begriffsystem selbst, das Frege durch die Analyse der Funktionsformel erarbeitet, welches – trotz der eigenen Behauptung – auch für die Beschreibung der semantischen Leistung einer literarischen Konstruktion geeignet ist. Seine Semantik ist nämlich eine spezifische, zu einer Textsemantik ausbaubare Satzsemantik, und der Aufbau der mathematischen Modelle von Funktionen mit Hilfe seines Zeichensystems wird, ____________ 13 14
Aristoteles, Poetik (1982: 25). Vgl. dazu die Stelle in der Metaphysik von Aristoteles: 1078a36. Frege [1892](1966a: 48, Fußnote 6): „Es wäre wünschenswert, für Zeichen, die nur einen Sinn haben sollen, einen besonderen Ausdruck zu haben. Nennen wir solche etwa Bilder, so würden die Worte des Schauspielers auf der Bühne Bilder sein, ja der Schauspieler selber wäre ein Bild.“ (Oder in der Terminologie dieses Aufsatzes ausgedrückt: Die Schauspieler auf der Bühne sind Interpretamente der Individuen, die in der abstrakten Geschichte eines Stücks konstruiert wurden.)
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genauso wie der Aufbau literarischer Modelle von Ereignisketten, nicht von einem Modelloriginal, sondern von einem Regelwerk gesteuert. Die Struktur eines Behauptungssatzes wird von Frege mit der Struktur einer Funktionsformel gleichgesetzt. In der Subjektstellung steht demnach immer ein Individuenname, den Frege ‚Eigenname‘ nennt. Ein Eigenname bezeichnet genau einen Gegenstand. Dadurch, dass dieser eine Gegenstand mit verschiedenen Namen bezeichnet werden kann, wird leicht einsehbar, dass die Eigennamen nur bestimmte Aspekte, die Arten des Gegebenseins dieses einen Gegenstandes ausdrücken. Den bezeichneten Gegenstand nennt Frege ‚Bedeutung‘, die Art des Gegebenseins des bezeichneten Gegenstandes nennt er ‚Sinn‘. Steht ein Eigenname in der Position des Subjekts in einem Behauptungssatz, können dem Gegenstand, den er bezeichnet, weitere Attribute zugefügt werden, die in Freges Sprache als ‚Begriffe‘ angegeben sind. Von der Bedeutung und dem Sinne [sowie dem Begriff] eines Zeichens ist die mit ihm verknüpfte Vorstellung zu unterscheiden. Wenn die Bedeutung eines Zeichens ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand ist, so ist meine Vorstellung davon ein aus Erinnerungen von Sinneseindrücken, die ich gehabt habe, und von Tätigkeiten, inneren sowohl wie äußeren, die ich ausgeübt habe, entstandenes inneres Bild. [...] Die Vorstellung ist subjektiv: die Vorstellung des einen ist nicht die des anderen. [...] Die Vorstellung unterscheidet sich dadurch wesentlich von dem Sinne eines Zeichens, welcher gemeinsames Eigentum von vielen sein kann.15
Der bezeichnete Gegenstand soll demnach etwas Objektives, die damit verknüpfte Vorstellung etwas Subjektives, der Sinn eines Eigennamens – könnte man mit einem Terminus jüngeren Datums sagen – etwas Intersubjektives sein. Die Übermittlung von Informationen über einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand hängt bei Anwesenheit des Gegenstandes genau von der Größe der Schnittmenge der sinnlichen Eindrücke, in Abwesenheit des Gegenstandes genau von der Größe der Schnittmenge der Vorstellungen jener Personen ab, die am Informationsaustausch teilnehmen. Auch aus dieser kurzen Übersicht, die den Begriffsapparat der Fregeschen Semantik nur in seinen Grundelementen berücksichtigt, kann man ersehen, dass die Annahme eines Zeichentyps ohne Gegenstandsbezug systemwidrig ist. Denn wie könnten bestimmte Zeichen, die Eigennamen, für die Zeichenbenutzer allein einen Sinn ausdrücken und keinen Gegenstand bezeichnen, wenn der Sinn durch die Art des Gegebenseins eines ____________ 15
Frege [1892](1966a: 44).
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Gegenstandes definiert wird? Der Widerspruch in der Fregeschen Semantik kann nur durch die Modifikation aufgelöst werden, nach der die Definition von ‚Bedeutung‘ und ‚Gegenstand‘ als Termini für den gleichen Gegenstand verworfen, das semantisch bezeichnete Objekt vom ontologisch bestimmbaren Objekt eines Zeichens voneinander getrennt wird. Ein Eigenname bezeichnet demnach eine Bedeutung und drückt einen Sinn aus, und der Gegenstand, der einem bestimmten Eigennamen zugeordnet werden kann, existiert entweder nur in der für andere nicht zugänglichen Vorstellungswelt des Zeichenverwenders, oder auch außerhalb einer subjektiven Vorstellungswelt. Folglich sollten Eigennamen in literarischen Texten entweder Gegenstände, die allein in der Vorstellungswelt des Zeichenverwenders aufzufinden sind, oder auch etwas Objektives oder mindestens Intersubjektives (re)präsentieren. Hätte jemand Frege auf die Systemwidrigkeit seiner ‚Bild‘-Definition aufmerksam gemacht, hätte der deutsche Logiker für die Aufhebung des Widerspruchs höchstwahrscheinlich die erste Lösung gewählt. Nicht zufällig spricht er auch über Vorstellungen als ‚innere Bilder‘, denn sie zu erzeugen hält er für die grundsätzliche Rolle der Literatur. Wie er es formuliert: „Beim Anhören eines Epos z.B. fesseln uns neben dem Wohlklange der Sprache allein der Sinn der Sätze und die davon erweckten Vorstellungen und Gefühle“16. Sollte also jeder Eigenname infolge des Systemzwangs eine Bedeutung haben, dann sind die Bedeutungen der Eigennamen in einem literarischen Text in der Vorstellungswelt des Autors zu lokalisieren. Eine solche Auffassung von Literatur entspricht jedoch eher der platonischen Sicht der Literatur, wonach sie die Erkenntnis unserer Welt mehr verhindert als fördert17, und nicht der Aristotelischen, wonach sie „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres“18 sein kann als die korrekteste Geschichtsschreibung im Sinne der Wiedergabe bestimmter Aspekte einer einmaligen Ereigniskette. Wählt man jedoch für die Auflösung des Widerspruches den zweiten Weg, und erlaubt man der ‚Bedeutung‘ und dem ‚Gegenstand‘ zwei unterschiedliche Gegenstände zuzuordnen, wird Freges Begriffsystem sogar von anderen problematischen Annahmen befreit und kann zugleich mit der aristotelischen Sicht der Literatur in Einklang gebracht werden. Diese Lösungsmöglichkeit innerhalb des Fregeschen Systems wird durch die ____________ 16 17 18
Frege [1892](1966a: 48). Vgl. Platon, Der Staat, Buch 10, 595a ff. Aristoteles, Poetik (1982: 29).
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folgenden Überlegungen eröffnet. Die Zahlen sind für Frege Gegenstände. Jedes Zahlzeichen ist ein Eigenname, und der Gegenstand, den ein Eigenname bezeichnet, heißt ‚Bedeutung‘. Unklarheiten in der Mathematik rühren nach Frege gerade daher, dass man nach der „jetzt sehr verbreitete[n] Neigung“ nicht bereit ist, etwas „als Gegenstand anzuerkennen, was nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann“19. Das Untersuchungsobjekt der Mathematik bilden freilich nicht die Zahlzeichen, die selbst, um rezipiert werden zu können, sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften haben, sondern ihre unwahrnehmbaren Bedeutungen, die allein Träger arithmetischer Eigenschaften sind. Die Eigenschaft der 1 z.B., mit sich selbst multipliziert sich selbst wieder zu ergeben, wäre eine reine Erdichtung; keine noch so weit getriebene mikroskopische oder chemische Untersuchung könnte jemals diese Eigenschaft an dem unschuldigen Gebilde entdecken, das wir Zahlzeichen Eins nennen,20
schreibt Frege. Jede Zahl kann gleichwohl mit unterschiedlichen Zahlzeichenkombinationen ausgedrückt werden, die verschiedene Aspekte, Auffassungen und Seiten, eben die unterschiedliche Art des Gegebenseins des Gegenstandes als ‚Sinn‘ ausdrücken. So sind z. B. ‚2‘, ‚1+1‘, ‚3-1‘, ‚6:3‘ etc. Zeichen für die Zwei. Wenn Frege nun die Struktur einer mathematischen Funktion mit der Struktur eines Behauptungssatzes – verfasst in einer natürlichen Sprache – vergleicht, dann ordnet er den korrekt verwendeten Eigennamen einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand zu. So ist z. B. die Bedeutung des Ausdrucks „Englands Hauptstadt“21 die Stadt London. Damit entsteht freilich eine Asymmetrie im semantischen System der mathematischen und der natürlichen Sprachen. Es wird von Frege in beiden Klassen des Zeichens je eine Position unterdrückt, die auf verschiedenen Ebenen seines Systems liegen. Es ist nicht notwendig, in der mathematischen Sprache die Bedeutung mit dem Gegenstand gleichzusetzen, denn der Bedeutung der Zahlzeichen „Zwei“ kann man auch physische Interpretamente zuordnen: Alle Mengen von physischen Gegenständen mit zwei Elementen sind geeignet dazu. Es ist nicht notwendig, in der natürlichen Sprache den Gegenstand mit der Bedeutung gleichzusetzen: „Englands Hauptstadt“ als Ausdruck der deutschen Sprache hat auch eine Bedeutung, die „nicht mit den Sinnen wahrgenommen ____________ 19 20 21
Frege (1966b: 19). Frege (1966b: 20). Frege (1966b: 29).
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werden kann“22, nämlich den abstrakten Träger aller Attribute, die ihm in einem Text durch den Sinn der Ausdrücke in Subjektstellung (z. B.: ‚Wohnsitz der britischen Könige …‘) und Prädikate (z. B.: ‚… liegt auf beiden Ufern der Themse‘) korrekt zugeordnet werden können. Die Asymmetrie im Fregeschen System kann man aufheben, indem man den nicht wahrnehmbaren, abstrakten Gegenstand aller Eigennamen als Bedeutung, das zuordenbare Interpretament oder das zuzuordnende Original eines Zeichens als Gegenstand definiert. Die Notwendigkeit, jedem Eigennamen eine Bedeutung zuzuordnen, liegt bereits in der Fregeschen Definition des Eigennamens: Er ist ein Zeichen oder eine Zeichengruppe, der genau eine Bedeutung bezeichnet23. Diese Definition der Bedeutung leistet eigentlich nur eine Quantifikation des möglichen Trägers für Sinne sowie für Begriffe in einem abgeschlossenen Ausdruck. Allein das Zeichen ‚Eigenname‘ mit seiner Bedeutung und seinem Sinn und das Zeichen ‚Prädikat‘ mit seinem Begriff gehören zum Bereich der Semantik; Gegenstände, seien sie Originale, die die Zeichenverwendung steuern, oder Interpretamente, die die Zeichenverwendung illustrieren können, gehören dagegen zum Bereich der Pragmatik, bedürfen also der Zuordnungstätigkeit des Zeichenverwenders. Im Lichte dieser Überlegungen besteht nun der eigentliche Unterschied zwischen wohlformulierten mathematischen Ausdrücken und wohlformulierten Ausdrücken natürlicher Sprachen ‚zu‘ Ereignissen darin, dass den Bedeutungen in der Sprache der Mathematik nur solche Attribute stimmig zugeschrieben werden können, die das mathematische System erlaubt, während den Bedeutungen, die durch Einzelsprachen bezeichnet werden, alle Attribute korrekt zugeschrieben werden können, die die Erfahrung über eine bestimmte Ereigniskette legitimiert. Eine Geschichte korrekt zu erzählen heißt also, bestimmte Aspekte einer Ereigniskette durch ein semantisches Modell zu repräsentieren. Modelle sind kraft ihrer semantischen Leistung allerdings nur fähig, die Anzahl der Bedeutungen und einige ihrer Attribute (‚Sinne‘ und ‚Begriffe‘) zu präsentieren, also einen abstrakten Sachverhalt: einen abstrakten Zustand oder eine abstrakte Geschichte darzustellen. Den Aufbau der literarischen Modelle bestimmt – genauso wie den Aufbau eines mathematischen Ausdrucks – ein Thesaurus mit einem System von Postulaten, Axiomen und Definitionen. Dieser Thesaurus ____________ 22 23
Frege (1966b: 19). Vgl. Frege [1892](1966a: 41).
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kann allein ein einzelnes Konstrukt stimmig und damit interpretierbar machen, und nicht die Interpretamente, die ihnen möglicherweise zugeordnet werden können.
3. Ein Fallbeispiel für die Erklärung der Beschaffenheit einer poetologischen Konstruktion: Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns Analysen einzelner Aspekte des Romans Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll sollten exemplarisch zeigen, welche Vorteile sich für die Aufdeckung und Erklärung möglicher Strukturen eines literarischen Werkes ergeben können, wenn nicht von einer Narrations-, sondern von einer Konstruktions-Konzeption ausgegangen wird. Es ist unumstritten unter den Lesern dieses Romans, dass der Autor des literarischen Werkes Heinrich Böll ist, und dass Hans Schniers Geschichte, die der Roman enthält, von Hans Schnier selbst ‚erzählt‘ wird. Diese Sachlage wird in einer mustergültigen Studie folgendermaßen festgehalten: „Es war schon dunkel, als ich in Bonn ankam ...“ so beginnt Bölls Roman Ansichten eines Clowns. Es ist ein unambitiöser Beginn, ein betont sachlicher, kein furioser, der den Leser gleich hineinreißen könnte in den Text. Ein sachlicher Beginn, aber auch ein sachhaltiger, der über den Ort des Romangeschehens, den Beginn der erzählten Zeit und die Erzählweise informiert. Der Erzähler spricht von sich selbst, von seiner Ankunft. Er ist Ich-Erzähler. Diese Erzählperspektive wandelt sich im ganzen Roman nicht, wird weder durchbrochen noch ergänzt. Was in den Roman hineinkommt, kommt durch die Optik des Erzählers. [...] Die erzählte Zeit im engeren Sinne ist denkbar kurz. „Es war schon dunkel“ als der Erzähler ankam und sich auf den Weg zu seiner Bonner Wohnung macht. 245 Seiten später, auf der letzten Seite des Buches, ist es „noch nicht halb zehn“ (S. 252), als er im Aufzug des Bonner Hauses, in dem diese Wohnung liegt, wieder herunterfährt und sich auf den Weg zum Bahnhof macht, um dort als Straßensänger seinen Hut mit der Bitte um eine milde Gabe den Reisenden ins Blickfeld zu rücken. Der Roman umfasst nicht mehr als einen Zeitraum von drei bis vier Stunden.24
Die Beschreibung der Beschaffenheit des Romans als Narration und als Geschichte – sieht man von vage bleibenden („ein unambitiöser Be-
____________ 24
Götze (1985: 22f.).
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ginn“25) oder problematischen („kein furioser [Beginn], der den Leser gleich hineinreißen könnte in den Text“) Qualifikationen ab – entspricht in Großem und Ganzem der Genetteschen Auffassung. Die Länge der Erzählzeit beträgt also 245 Druckseiten in Taschenbuchformat, die Dauer der erzählten Basis-Geschichte umfasst drei bis vier Stunden. Die erzählte Zeit läuft folglich etwa zwischen 17.30 und 18.30 Uhr am Bonner Bahnhof an und endet um 21.30 Uhr am gleichen Ort – wie mit Einbeziehung späterer Angaben im Text feststellbar ist – Anfang März 1962. Dazwischen hält sich der Erzähler Hans Schnier, der als Künstler eher ein Pantomime als ein klassischer Zirkusclown ist, in seiner Wohnung auf, die am Markt hinter dem Beethovendenkmal liegt. Aus der Feststellung, dass Hans Schnier der Erzähler seiner Geschichte ist, folgt nach der zitierten Beschreibung für den Verfasser Götze freilich nicht, dass er Bedingungen unterliege, denen ein historischer Narrator unterliegt. Dies macht die Bemerkung, seine „Erzählperspektive wandelt sich im ganzen Roman nicht, wird weder durchbrochen noch ergänzt“, sofort ersichtlich. Wäre Hans Schnier ein historischer Narrator, wäre eine Annahme über Wandlungen oder Durchbrüche der Perspektive sinnlos, es sei denn, man wollte den Narrator der Fälschung überführen. Dennoch wird der literaturkundige Leser der Studie von Götze diese Bemerkung für sinnvoll halten, die ihm folgende Information erteilt: Der Romanheld Hans Schnier figuriert nicht nur die Rolle des Erzählers, indem er über sich 245 Druckseiten lang ‚spricht‘, dieses ‚Sprechen‘ erfüllt auch einige Bedingungen, die mit einer historischen Narration verbunden sind. Der Verfasser der Studie hält also gewisse Charakteristika der Textgestaltung fest, nimmt aber als selbstverständlich an, dass diese Züge der Erzählung für den Autor des Romans keine zwangsläufigen Folgen mit sich bringen. Wäre es für den Kommentator des literarischen Textes wirklich fruchtbar, die Bedingungen der echten homodiegetischen Narration als Grundlage für die literarische anzunehmen, hätte man die Klärung folgender Fragen nicht übergehen dürfen: 1 In welcher Situation wird Hans Schnier dazu veranlasst, die Geschichte der Ruinierung seiner künstlerischen Existenz zu erzählen? ____________ 25
Ist der Beginn des Romans Das Schloss von Franz Kafka noch unambitiöser? ”Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee.” Vgl. Franz Kafka, Die Romane, Frankfurt/Main 1966, S. 481.
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2
Wird er mit der Zeit aus einem mittellosen Straßensänger wieder ein „erzählfähiger“ Künstler? Aber warum erfahren wir dann aus seiner Erzählung von dieser glücklichen Wende nichts? 3 Wenn der Zustand, in dem er fähig ist, seine Geschichte zu erzählen, geschichtslogisch nur nach einer längeren Zeit eintreten kann, wie ist es möglich, dass Hans Schnier alle dreizehn Telefonate, die er während seines Bonner Aufenthalts führte, und sein langes Gespräch mit seinem Vater, der ihn in diesem Zeitraum besuchte, wortwörtlich wiedergeben kann? Mindestens diese drei Fragen wären zu stellen, wenn man die Präsuppositionen und Folgen der Feststellung „der Erzähler spricht von sich selbst“ ernst nehmen müsste. Statt dieser Fragen wird von Götze in der Beschreibung des Romananfangs für den Ausdruck ‚der Erzähler, der von sich selbst spricht‘ eine Abkürzung eingeführt: Er ist ‚Ich-Erzähler‘. Diese Abkürzungsmöglichkeit erklärt zugleich implizit auch, warum die Klärung der Erzählsituation in der Romananalyse unbeachtet bleiben konnte. Denn nur in der Theorie der ‚literarischen‘ Narration ist es üblich, den ‚Ich-Erzähler‘ von dem ‚Er-Erzähler‘ zu unterscheiden. In einer historischen Narration ist der Narrator immer ein ‚Ich‘, ein Individuum, das entweder über (auch) sich selbst oder ausschließlich über Andere spricht. Wenn aber eine literarische Narration nicht den Bedingungen unterliegt, denen eine historische notwendigerweise unterliegen muss, und wenn keine Konvention einen Autor zwingt, eine reale Erzählsituation in jeder Hinsicht nachzuahmen, dann bleibt die Frage, welche Folgen für die Auslegung, für ein akzeptables Verständnis des Romans die Feststellung der Erzählweise hat? Wieweit kann eine ‚literarische‘ Narration von einer ‚echten‘ abweichen, ohne ihre Eigenschaft, Narration zu sein, einzubüßen? Oder unter einem anderen Aspekt gefragt: Welche Verstöße einer Modellerstellung gegen welche Regeln sind erlaubt und welche führen zu Unstimmigkeiten? Frank Zipfel, der seine Arbeit über Fiktion in der Literatur und den Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft als eine Explikation und Präzisierung Genettescher Theorien über Narration und Fiktion begreift26, hält alle Abweichungen möglich, die durch die Annahme einer „phantastischen“ Erzählsituation27 mit einem Erzähler von „‚über‘-menschlichen ____________ 26 27
Vgl. Zipfel (2001: 122ff., 203ff., 316). Zipfel (2001: 156ff.).
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Fähigkeiten“28 möglich gemacht werden können29. Die Einführung eines phantastischen, mit in der Erfahrungswelt nicht auffindbaren Fähigkeiten ausgestatteten Erzählers in die Theorie macht es zwar leicht, Widersprüche aufzulösen, die durch das Festhalten an der Erzählsituation als Maßstab für die literarische Narration einhergehen. Es bringt aber nichts für die Erklärung der Eigenschaften eines konkreten Romanaufbaus, denn offensichtlich sind keine positiven Kriterien und Fragen aus dieser Annahme für die Auslegung abzuleiten. Eine spezifische Komplikation ergibt sich bei dem Kommentar unseres Beispieltextes dadurch, dass Hans Schnier ‚tatsächlich‘ eine übermenschliche Fähigkeit haben soll, und so ist es fraglich, ob nur die Narration, oder auch seine Geschichte nach dieser Auffassung eine ‚phantastische‘ sei. Schnier verfügt laut Romantext nämlich über die Gabe, „durchs Telefon Gerüche wahrnehmen“30 zu können. Worin unterscheidet sich die Hans Schnier explizit zugeordnete Fähigkeit des Riechens durchs Telefon von den ihm zuzuordnenden, die Narration seiner Geschichte möglich machenden anderen Fähigkeiten wie unermessliches Erinnerungsvermögen oder Gedanken in Druckseiten verwandeln zu können? Warum finden wir in der Sekundärliteratur über Ansichten eines Clowns immer wieder Versuche, die Funktion der Erweiterung des Geruchssinnes des Pantomimen zu erklären, und zwar ohne die Möglichkeit wahrzunehmen, die Geschichte als eine phantastische einzustufen, aber keine Versuche, auf die Fragen zu antworten, die die phantastische Fähigkeiten voraussetzende Erzählsituation betreffen. Die Antwort im Rahmen einer Konstruktionskonzeption des Romans, der von den meisten Literaturwissenschaftlern in dieser Hinsicht stillschweigend gefolgt wird, liegt auf der Hand: Wieweit die Rolle eines ‚Erzählers‘ mit Attributen einer Erzählsituation ausgestattet ist, hängt genauso von dem die Romankonstruktion steuernden Regelwerk ab, wie die Gestaltung der Geschichte, die der ‚Erzähler‘ ‚erzählt‘. Darum ist es nicht nötig, ihm ‚phantastische‘ Attribute zuzuordnen, auch wenn einem in einer als gültig anerkannten Wirklichkeitskonzeption keine Situation vorstellbar ist, in der Hans Schnier die Geschichte seines Scheiterns erzählen könnte. Sogar ____________ 28 29
30
Zipfel (2001: 165). Zipfel (2001: 165). Die Einteilung der Fiktionen „in unwahrscheinliche oder phantastische und in wahrscheinliche oder realistische“ stammt auch von Genette [1991](1992: 57). Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns, S. 16 (=Werke, hg. v. Árpád Bernáth u. a., Bd. 13, Köln 2004).
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seine tatsächlich phantastische Eigenschaft, „durchs Telefon Gerüche wahrnehmen“ zu können, macht ihn notwendigerweise zu einer ‚irrealen‘ Gestalt. Denn es könnte in einer ausführlicheren Untersuchung des Romans gezeigt werden, dass das Telefon, ähnlich der Maske des Künstlers, ein Postulat über eine unvermeidbare, die zwischenmenschlichen Beziehungen verstellende Distanz in der Welt des Romans manifest macht. Die verstellende Kraft dieser Distanz ist allerdings nicht symmetrisch: Dem Künstler wird die Fähigkeit zugesprochen, die Einengung der Wahrnehmung durch die Distanz (teilweise) überwinden zu können, seinen Widerparten wird dagegen die Fähigkeit abgesprochen, hinter der Maske des Künstlers sein „wahres Gesicht“31 erblicken zu können, ihn zu „verstehen“32. Eine Theorie, die den ‚phantastischen Erzähler‘ zulässt, kann die ‚Unwahrscheinlichkeit der Geschichte‘ auf Grund einer für gültig angesehenen Wirklichkeitskonzeption nicht ausschließen. Frank Zipfel stellt folgerichtig die gegenseitige Bedingtheit in diesem Rahmen fest: „Die fiktionsspezifischen Lizenzen fiktionalen Erzählens sind also erzähllogisch mit der Fiktivität der erzählten Geschichte verbunden“33. Eine Übersetzung dieser Feststellung in der hier eingeführten Terminologie ergibt die Formulierung: Wenn Romane als Modelle nicht nach einem Original konstruiert werden, dann gibt es keinen Grund, zur Norm zu erheben, dass die Gestalten mit Erzählfunktion einem Narrator als Original nachgebildet werden sollen. Und damit würde ich vollkommen einverstanden sein, wenn mit dieser Feststellung auch die Frage einherginge: Wenn sowohl der Narrator als auch seine Geschichte fiktiv sind, was steuert dann die Narration? Oder von der Seite des Lesers betrachtet: Welchen Erkenntniswert sollten fiktive (‚phantastische‘) Geschichten haben, die von fiktiven (‚phantastischen‘) Narratoren erzählt werden? Ein zusätzliches Problem erhebt sich in diesem Zusammenhang für den Kommentator unseres Romans, dass ihm weder die Zeit noch der Ort der Geschichte ‚fiktiv‘ zu sein scheint. Die etwa drei bis vierstündige ‚reale‘ Dauer der Geschichte wird auch von Götze auf Grund der Angaben im Text in Analogie zu unserer Zeitrechnung errechnet. Der Ort der Geschichte wird in Kenntnis der geographischen Gegebenheiten und der politischen Funktion der Stadt als „Hauptstadt Wirtschaftswunderdeutsch____________ 31 32 33
Böll, Ansichten eines Clowns, S. 216. Vgl. auch den Kommentar, S. 309. Böll, Ansichten eines Clowns, S. 93. Vgl. auch S. 37, 39, 71. Zipfel (2001: 165).
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lands“34 charakterisiert. Anders formuliert, wenn man auch zugibt, dass wir keinen Clown oder Pantomimen namens Hans Schnier Anfang März 1962 in der Bundeshauptstadt auffinden können, und darum seine Geschichte nach den poetologischen Konventionen für fiktiv halten sollten, könnten einige Elemente dieses Romans – eben die hier behandelten Zeitangaben und der Ort – nach ‚Originalen‘ abgebildet worden sein. Sie sind keine Konstruktionen nach irgendeiner Regel, unabhängig davon, inwieweit Hans Schnier selbst als Erzähler und als Held seiner Geschichte eine Konstruktion sein mag. Eine genauere Untersuchung unter diesem Aspekt erweist allerdings, dass sich weder die Zeit-, noch die Ortsangaben im Modell im Vergleich mit dem ‚Original‘ als richtig erweisen. Es ist von der Literaturkritik früh bemerkt worden (aber ohne Auswirkung auf die Auslegung des Romans!), dass entweder der Zeitpunkt der Ankunft (zwischen 17.30 und 18.30 Uhr) oder die Angabe „Es war schon dunkel“ nicht stimmen kann35. Denn Anfang März können die Lichtverhältnisse in Bonn auch noch in dem spätestmöglichen Zeitpunkt der Ankunft korrekt nur als ‚dämmrig‘ beschrieben werden. Auch die Zeitangaben im Text: „Acht Uhr am Abend“ (Kap. 11)36, „Es war fast acht, ich war schon fast zwei Stunden in Bonn“ (Kap. 16)37 sind widersprüchlich, denn nach der chronologischen Ordnung der Ereignisse hatte Hans Schnier die Idee, Sommerwild um „acht Uhr am Abend“ anzurufen, noch vor dem Besuch seines Vaters bei ihm gehabt, und so dürfte er nicht nach dem Besuch des Vaters und nach dem darauf folgenden Telefongespräch mit der Geliebten seines Vaters feststellen können: „Es war fast acht“38. Man könnte die fehlende Übereinstimmung zwischen den Aussagen auf Grund des Romans und auf Grund der empirischen Erfahrung über die Lichtverhältnisse in Bonn zur Zeit der Ankunft des Künstlers durch die Gleichsetzung von ‚dunkel‘ und ‚dämmrig‘ am ehesten herstellen. Dieser Annahme widerspricht aber die ‚Tatsache‘, dass das Münster am Marktplatz bei der Ankunft bereits mit Scheinwerfern beleuchtet wurde. Die ____________ 34 35
36 37 38
Götze (1985: 23). Reid (1966: 506f.). Der Widerspruch zwischen den Angaben auf S. 102 u. S. 171 in Ansichten eines Clowns könnte nach Reid aufgelöst werden, wenn man „Es war fast acht“ auf „Es war acht Uhr vorbei“ korrigieren würde (Reid (1966: 507)). Böll, Ansichten eines Clowns, S. 102. Böll, Ansichten eines Clowns, S. 171. Ebd.
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Entfernung zwischen dem Bonner Bahnhof und der Wohnung des Clowns am Marktplatz, die Hans Schnier expressis verbis über die ‚real existierende‘ Poststraße zurückgelegt haben soll, ist so klein („zwei Minuten nur vom Bahnhof bis zu unserer Wohnung“39), dass sich die Lichtverhältnisse in dieser kurzen Zeit nicht wesentlich hätten verändern können: [...] ein sanftes Geräusch trug mich nach oben; durchs schmale Aufzugfenster in den jeweiligen Flurabschnitt, über diesen Hinweg durchs jeweilige Flurfenster blicken: ein Denkmalrücken, der Platz, die Kirche, angestrahlt; schwarzer Schnitt, die Betondecke und wieder, in leicht verschobener Optik: der Rücken, Platz, Kirche, angestrahlt: dreimal, beim vierten Mal nur noch Platz und Kirche.40
Hat Böll (oder Hans Schnier?) hier einen Fehler gemacht, oder nicht nach dem Original gearbeitet? Welche Entscheidung können wir auf Grund der Theorie treffen, und welche Konsequenzen ergeben sich auf Grund unserer Entscheidung für die Auslegung des Romans? Eine längere Analyse könnte zeigen, dass die völlige Dunkelheit am Anfang der maximal vierstündigen Basis-Geschichte eine notwendige (durch Regeln bestimmte) Eigenschaft des Modells ist. So ist sie nicht ersetzbar durch das dem Interpretament Bonn, Anfang März, gegen 18 Uhr entsprechende Attribut dämmrig oder taghell. Auch die Entstehungsgeschichte zeugt davon, dass sich Böll des ‚Fehlers‘, die Lichtverhältnisse am Anfang des Romans nicht ‚originalgemäß‘ anzugeben, bewusst war. Die Ankunft des Künstlers wurde im Laufe der Arbeit am Roman aus verschiedenen Gründen auf einen früheren Zeitpunkt verschoben, aber Böll blieb doch bei „Es war schon dunkel“41. Denn das Merkmal ‚Dunkelheit‘ ist letzten Endes nicht durch den Zeitpunkt der Ankunft determiniert. Der Anfang der konstruierten Basis-Geschichte soll dieses Merkmal haben, er soll in Dunkelheit liegen. Traditionell gesprochen: Es handelt hier um eine ‚metaphorische‘ Dunkelheit, ähnlich der Dunkelheit in der ersten Szene Nacht der Goetheschen Tragödie Faust, die auch eine ‚metaphorische‘ ist. Ein ganz anderer Fall ist der Widerspruch zwischen den Zeitangaben in Kapitel 11 und 16. Es geht bei den ersten Zeitangaben nur darum, dass der Künstler den Prälat Sommerwild in einem „bestimmt unpassenden“ Zeitpunkt, etwa in der Nacht, anrufen will, und dazu ist 20 Uhr noch zu ____________ 39 40 41
Böll, Ansichten eines Clowns, S. 18. Böll, Ansichten eines Clowns, S. 18f. Vgl. die Entstehungsgeschichte des Romans im Kommentar: Böll: Ansichten eines Clowns, S. 243f.
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früh. Es ist leicht einzusehen, dass diese Eigenschaft des Modells auch mit Zeitangaben wie 19 oder 19.30 Uhr hätte präsentiert werden können. Diesen Widerspruch kann ich daher nur als eine Unstimmigkeit einstufen, da er mit Hilfe eines Thesaurus, den ich zum Roman zuordnen kann, nicht zu erklären ist. Er zeigt sich im Lichte der Entstehungsgeschichte als ein ‚technischer‘ Fehler in der Konstruktion, der auf die Zeitstruktur früherer Textstufen dieses Romans zurückzuführen ist42. Hätte bereits ein Lektor Böll auf diese Unstimmigkeit aufmerksam gemacht, hätte er ihn wahrscheinlich beseitigt. Die allzu genaue Lokalisierbarkeit der Wohnung am Markplatz mit Hilfe der Verlängerung der Linie, die durch die Verbindung des Beethovendenkmals mit dem Münster bestimmt wird, führt auch zu überraschenden Ergebnissen: Eine Überprüfung vor Ort macht klar, dass dort, wo Hans Schniers Wohnung hätte stehen sollen, 1962 kein fünfstöckiges Haus stehen konnte, geschweige denn ein Haus mit Aussicht auf Denkmal und Münster vom Aufzug aus. Nach einem Lokaltermin wird es klar: Da steht und stand das Gebäude des Hauptpostamtes. Hat Böll auch hier einen Fehler gemacht? Die Unproduktivität dieser Denkweise für die Auslegung liegt in der Fragestellung. Denn die fiktionsspezifische Lizenz besteht in Sicht auf die Konstruktion des Romans nicht in der Erlaubnis der Abweichung von einem Original, sondern in der grundsätzlichen Freiheit, überhaupt kein Original zu haben! Hat ein Modell durch die Zeichen „Denkmalrücken“ jedoch auch ein vorgegebenes Interpretament: das von dem Dresdner Bildhauer Ernst Hähnel geschaffene Beethoven-Bronzestandbild auf dem Münsterplatz in Bonn, dann hat man zu fragen, welche Konstruktionsprinzipien verlangen, dass der Clown eine Wohnung (noch dazu eine mit „rostfarbenen Verkleidungen“43) haben soll, die genauso auf die Kirche ausgerichtet ist, wie das Denkmalgesicht des großen Komponisten vor seiner Wohnung. Eine mögliche Antwort auf diese Frage kann so lauten: Die Positionierung der „standbildhaft“-rostfarbenen Wohnung des Künstlers gegenüber der Kirche bildet eine Relation ab, die Ernst Hähnel im August 1845 zum Gedenken an Beethovens 75. Geburtstag für sein Denkmal festgelegt hat. Für die Konstruktion seines Romans brauchte Böll diesen Ort mit dieser Relation, um eine Regel manifest werden zu ____________ 42 43
Zu Veränderungen der Zeitstruktur in den Textstufen „Drugort-Fassung“ und „KölnerFassung“ siehe den Kommentar: Böll, Ansichten eines Clowns, S. 254ff. Vgl. Böll, Ansichten eines Clowns, S. 18, 19.
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lassen, die in der Romanwelt die Frage der künstlerischen Existenz in ihrem Bezug auf Werte, die hier die Kirche präsentiert, stellen lässt. Dieser Regel wird vom Autor auch dann gefolgt, wenn er die Maske des Künstlers zunächst als Totenmaske und diese Totenmaske dann „wie ein ausgegrabenes Denkmalsgesicht“44 darstellt. Diese Beobachtung bildet zugleich die Basis für die Beantwortung der Frage, warum die freie Interpretamente zulassende Reihe der Fregeschen Eigennamen ‚Kirche‘, ‚Denkmalrücken‘, ‚Platz‘ bei der ersten Beschreibung der Aussicht aus dem Aufzug, in dem der Künstler zu seiner Wohnung hochfährt, verwendet und erst bei der zweiten Beschreibung ‚derselben‘ Umgebung eine Reihe von Eigennamen mit vorgegebenen, starren Interpretamenten verwendet wird: „Münster“, „Beethovendenkmal“, „Markt“45. ‚Denkmalrükken‘ und ‚Beethovendenkmal‘ können zwar dasselbe Interpretament haben, aber sie müssen es nicht. So eröffnet sich die Möglichkeit für die Verwendung einer Konstruktionsregel, die die Verknüpfung des Denkmalrückens mit dem Denkmalgesicht als Attribute eines einzigen abstrakten Trägers verlangt. Durch diese Regel entsteht das Denkmal, das nur in der Welt des Romans existiert und den ‚unzeitgemäß gewordenen‘ Künstler abbildet. Hoffentlich konnte einmal mehr gezeigt werden, dass die fiktive Welt des Romans nicht durch die Abweichung von der empirischen Welt entsteht. Böll (nach meinem Thesaurus) baute nicht einen Teil der Stadt Bonn um, um für seinen Clown eine Wohnung zu finden. Umgekehrt: Er brauchte einen Teil der Stadt Bonn, um durch ihn dieser Wohnung spezifische Attribute zuteil werden zu lassen, und eine solche Operation ist nur in einer literarischen Konstruktion möglich. Ähnliches gilt für die Erzählsituation literarischer Werke. Böll darf die Frage nicht auf Grund ‚poetischer‘ Lizenzen offen lassen, warum und wann Hans Schnier seine Geschichte erzählt. Die konstruktivistische Lizenz besteht darin, nur jene Teile einer Erzählsituation zu verwenden, die für die spezifischen Ziele der Konstruktion notwendig sind! Genette als Literaturhistoriker ist kein literaturtheoretischer „Purist“46: Er ist sich im Klarem darüber, das ein Autor den Bedingungen der Narration im Sinne der historischen Erzählung nicht unterlegen ist. Bei der ____________ 44 45 46
Böll, Ansichten eines Clowns, S. 236. Böll, Ansichten eines Clowns, S. 67. Genette [1972](1998a: 148).
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Anwendung seines Beschreibungssystems gibt er freimütig zu, wenn er auf Grenzen stößt. Zahlreich sind die Stellen, schreibt er zum Beispiel, wo Proust die Fiktion des autobiographischen Erzählens und die dazugehörige Fokalisierung offenkundig vergißt [...] um seine Erzählung in einem dritten Modus abzufassen, bei dem es sich augenscheinlich um die Nullfokalisierung handelt, d. h. um die Allwissenheit des klassischen Romanciers. Was, nebenbei gesagt, unmöglich wäre, wenn die Recherche, wie einige immer noch meinen, tatsächlich eine Autobiographie wäre [...] und schließlich konkurrieren theoretisch unvereinbare Fokalisierungen miteinander, was die gesamte Logik der narrativen Repräsentation erschüttert.47
Genette rettet sich aus den Widersprüchen klassischer Erzähltheorien durch die Trennung des Fokus der Narration von der Stimme der Narration, durch Einführung neuer Instanzen, die auf ihrer eigenen Ebene die auf einer anderen Ebene zerstörte Logik der narrativen Repräsentation restituieren können. Ohne Zweifel sind seine Unterscheidungen notwendig und ihre Ebenen entsprechen Aspekten der historischen Narration. Man sollte sogar weitere Ebenen in die Theorie einführen, wenn man Fragen in diesem Rahmen hätte beantworten wollen wie: ‚Was bestimmt in Heinrich Bölls Roman Ansichten eines Clowns die unterschiedliche Wortwahl des homodiegetischen Erzählers für ‚dieselben‘ Sachverhalte bei der zweimaligen Beschreibung der Umgebung seiner Wohnung?‘ Aus konstruktivistischer Sicht ist diese Frage nicht eine stilistisch-rhetorische; die Möglichkeit, reale Teile der Erfahrungswelt und reale Aspekte der historischen Narration eines geschichtsdarstellenden Modells zuzuordnen, hängt – wie auch die Richtigkeit dieser Zuordnung – allein von Elementen und Regeln eines von dem Literaturwissenschaftler konstruierten Thesaurus ab, die die einzelnen qualitativen Schichten des Modells determinieren.
____________ 47
Genette [1972](1998a: 148f.).
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Literaturverzeichnis Aristoteles 1961 Poetik, übersetzt von Olof Gigon, Stuttgart. 1982 Poetik, Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart. 1999 Poetics, edited and translated by Stephen Halliwell, Cambridge, Mass. and London. Frege, Gottlob 1966a [1892] Über Sinn und Bedeutung, in: Ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, herausgegeben von Günther Patzig, 2., durchgesehene Aufl., Göttingen, 40-65. 1966b [1891] Funktion und Begriff, in: Ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, herausgegeben von Günther Patzig, 2., durchgesehene Aufl., Göttingen. Genette, Gérard 1992 [1991] Fiktion und Diktion, aus dem Französischen von Heinz Jatho, München. 1998a [1972] Diskurs der Erzählung, in: Ders., Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort herausgegeben von Jochen Vogt, 2. Aufl., München, 9-192. 1998b [1983] Neuer Diskurs der Erzählung, in: Ders., Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort herausgegeben von Jochen Vogt, 2. Aufl., München, 193-298. Götze, Karl Heinz 1985 Heinrich Böll. Ansichten eines Clowns, München. Reid, James H. 1966 The Problem of Tradition in the Works of Heinrich Böll, Glasgow. Zipfel, Frank 2001 Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin.
FOTIS JANNIDIS (Darmstadt)
Wer sagt das? Erzählen mit Stimmverlust Abstract The difference between focalization and voice, introduced into mainstream narratology by Genette, allows a clearer understanding of narrative communication. It is often viewed as an important step towards purging narratologist concepts of anthropomorphical residues like “the narrator”. The following article argues that the process of creating meaning and making sense of phenomena like focalization and voice is actually based on anthropomorphic assumptions and any attempt to remove them from our description would really hurt its adequacy. In order to include these assumptions and to achieve a richer description of narrative communication it is proposed to replace a structural and static with a more process oriented approach which tries to reconstruct how new information in the text is reconciled with the knowledge gathered up to that point. These more general aspects are discussed in a detailed analysis of two voice related phenomena: montage and free indirect discourse. Montage, which is curiously missing in most systematic outlines of voice phenomena, can be seen like free indirect discourse as a loss of voice on the part of the narrator. The communicative mechanisms which make it necessary or at least probable that a reader will try to reframe a sentence or a passage by assuming a change of voice are quite similar in both. Both rely on the assumption that a voice has a certain set of stable features characterizing it and that any text irreconcilably triggers the reframing with these features. The way these sets of features are handled is quite similar to the way characters are established and maintained in reading and it is argued that the way anthropomorphic concepts influence and model our understanding of characters can be transferred fruitfully to the understanding of voice.
Zu den besonders fruchtbaren Fortschritten der Erzähltheorie gehört ohne Zweifel die Unterscheidung zwischen Stimme und Fokalisierung, wie sie
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Fotis Jannidis
von Genette systematisch beschrieben wurde. Sie macht eine genaue Beschreibung dieser beiden Phänomenbereiche möglich und ist, so lautet das allgemeine Votum, damit den Vorschlägen überlegen, die beides in Form einer einzigen Instanz – der des Erzählers – verbinden. So wichtig dieser Fortschritt ist, die so gewonnene analytische Präzision verliert ihren Wert, wenn aus dem Blick gerät, wie stark sowohl die Konstruktion der Stimme als auch der Fokalisierung abhängig ist vom dem, was ich vorläufig als ‚Bild des Erzählens‘ bezeichnen möchte, und damit eben auch vom Erzähler. Die folgenden Überlegungen werden versuchen zu zeigen, wie die Konstruktion der Stimme von Inferenzprozessen1 abhängt, die denen sehr ähnlich sind, die bei der Figurenkonstitution eine Rolle spielen. Offensichtlich beziehe ich damit deutlich Stellung gegen Versuche, das Phänomen ‚Stimme‘ weiter von seinen anthropomorphen Resten zu befreien. Meines Erachtens ist es sehr viel fruchtbarer, die anthropomorphe Gestalt der Stimme ernst zu nehmen, als sie zugunsten eines szientistischen Textideals als Fehler der Rezipienten zu behandeln. Annähern möchte ich mich diesem Problemfeld über das Phänomen des Stimmwechsels, also der Wahrnehmung auf Seiten des Lesers, daß die Stimme von einem Sprecher ganz oder teilweise, also z. B. nur in Syntax, Idiomatik, Wissensvoraussetzung, Werteinschätzung, auf einen anderen übergeht2. Es gibt zumindest fünf Formen des Stimmwechsels im eben definierten Sinn; den Wechsel 1. zur direkten Rede, 2. zum inneren Monolog bzw. stream of consciousness 3. zu montiertem Sprachmaterial (Montage), 4. zur erlebten Rede, 5. zur imitierten Rede. Im Fall der ersten drei Formen ist der Verlust der Stimme vollständig, d. h. es findet ein Wechsel des Sprechers statt; 4. und 5. dagegen sind hybride Formen, d. h. der Sprecher ändert sich nicht, aber das sprachliche ____________ 1
2
‚Inferenz‘ bedeutet hier, wie in der Kognitionswissenschaft üblich, eine nicht notwendige Schlußfolgerung. Notwendige Schlußfolgerungen, wie sie z. B. in der Aussagenlogik beschrieben werden, sind nicht fallibel, während Inferenzen gleich mehrfach fallibel sind und zumeist der Schlußform der Abduktion folgen. Wenn hier von ‚Sprecher‘ die Rede ist, dann meint das die Inszenierung eines Sprechers in einer mündlichen Kommunikationssituation durch den Text, wie sie den meisten Erzähltexten zugrundeliegt.
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Material weist Eigenschaften auf, die den Leser veranlassen, es in Teilen einer anderen Quelle zuzuschreiben. Die direkte Rede ist für unsere Überlegungen ganz unergiebig, da sie heute fast immer typographisch vom restlichen Text abgesetzt wird. Interessanter ist da schon der innere Monolog, der zumeist nicht typographisch signalisiert wird, aber durch den Wechsel des Personalpronomens sehr deutlich markiert ist. Die Montage ist meines Wissens in der Erzähltheorie unbeachtet geblieben und fehlt auch regelmäßig in den einschlägigen Systematiken3. Auf sie wird gleich weiter einzugehen sein. Die erlebte Rede, eines der fruchtbarsten Forschungsfelder der Erzähltheorie, ist bekanntlich eine Mischform aus Erzähl- und Figurenstimme4. Sie läßt sich keineswegs immer eindeutig identifizieren, was sie natürlich auch für meine folgenden Überlegungen zu einem besonders interessanten Objekt macht. Was hier als ‚imitierte Rede‘ bezeichnet wird, ist vergleichbar mit der erlebten Rede, weil es sich um eine Mischform zwischen einer etablierten Erzählstimme und einer fremden Stimme handelt, nur ist die fremde Stimme nicht die einer Figur in der gerade dargestellten Szene, sondern gehört einer Figur, einer Person, einem Habitus oder einer typisierten Diskursform der aktualen Welt an5. Ziel der folgenden Überlegungen ist der Versuch, zu beschreiben, wie diese Stimmwechsel signalisiert werden und was wir auf dem Weg über diese Beschreibung über die Konstitution der Erzählstimme erfahren können. Vorausschicken muß ich, daß ich wie die meisten Erzähltheoretiker von einem Modell narrativer Kommunikation ausgehe; im Unterschied zu formalistischen und strukturalistischen Beschreibungsansätzen scheint mir aber der eigentliche Reiz narratologischer Untersuchungen in der genaueren Analyse des Kommunikationsprozesses zu liegen. Erst dadurch werden konkurrierende Beschreibungsmodelle vergleichbar. Diese Vorgehensweise versteht sich als Ergänzung zu den herkömmlichen strukturalistisch-formalistischen Beschreibungen, da letztere meist nur ____________ 3
4 5
Vgl. etwa Rimmon-Kenan (1983), Martinez/Scheffel (1999); bezeichnenderweise behandelt Vogt (1990), der auch auf historische Aspekte eingeht, das Thema aber vor allem unter dem Aspekt der Zeitgestaltung. So zumindest die immer noch weit verbreitete ‘dual voice’-Theorie, wie sie sehr überzeugend Pascal (1977) vertreten hat. Das entspricht ungefähr der Unterscheidung zwischen ‚Ansteckung des Erzählberichts am Figurentext‘ und der ‚Reproduktion‘, wie sie Schmid (1995: 225f.) vorschlägt.
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noch die Endergebnisse von kommunikativen Inferenzprozessen kategorisieren. Wenn hier von Kommunikationsprozessen die Rede ist, so geht es mir als Textwissenschaftler jedoch nicht um den realen Leser, sondern um die (Re-)Konstruktion der Rezeption durch den vom Text intendierten Leser, den Modell-Leser6.
I. Beginnen wir mit der Montage, mit einem Beispiel aus Döblins Roman Berlin Alexanderplatz, der als Beginn des Montageromans gilt7: Als Franz Biberkopfs Besuch bei einer Prostituierten an seiner Impotenz scheitert, wird das Erlebnis doppelt thematisiert: Raus auf die Straße! Luft! Regnet noch immer. Was ist nur los? Ich muß mir ne andre nehmen. Erst mal ausschlafen. Franz, wat ist denn mit dir los? Die sexuelle Potenz kommt zustande durch das Zusammenwirken 1. des innersekretorischen Systems, 2. des Nervensystems und 3. des Geschlechtsapparates. (Berlin Alexanderplatz, S. 34)
Der Absatz, beginnend mit „Die sexuelle Potenz“, ist deutlich erkennbar ein Wechsel in der Stimme. Der innere Monolog Biberkopfs wird abgelöst von einer sachlichen medizinischen Ausführung, die offensichtlich auch nicht mit dem bislang eingeführten Erzähler identisch ist. Jede dieser drei Stimmen, Biberkopfs umgangssprachlich geprägte, die neutrale Stimme des Sachtexts und die Stimme des Erzählers weisen eigene Charakteristika auf. Dieser Gegensatz wird noch deutlicher, wenn die Erzählerstimme direkt vom montierten Text abgelöst wird: Er wanderte die Rosenthaler Straße am Warenhaus Wertheim vorbei, nach rechts bog er ein in die schmale Sophienstraße. Er dachte, diese Straße ist dunkler, wo es dunkel ist, wird es besser sein. Die Gefangenen werden in Einzelhaft, Zellenhaft und Gemeinschaftshaft untergebracht. Bei Einzelhaft wird der Gefangene bei Tag und Nacht unausgesetzt von andern Gefangenen gesondert gehalten. Bei Zellenhaft wird der Gefangene in einer Zelle untergebracht, jedoch bei Bewegung im Freien, beim Unterricht, Gottesdienst mit andern zusammengebracht. (Berlin Alexanderplatz, S. 16f.)
Mit „Die Gefangenen werden in Einzelhaft“ setzt eine Passage an, die wohl die Hausordnung des Gefängnisses zitiert, das Biberkopf gerade verlassen hat. Die Hausordnung des realen Gefängnisses, das als Vorbild ____________ 6 7
Vgl. dazu ausführlich Jannidis (2004: 28ff.). Zitiert nach Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, hg. v. Werner Stauffacher, Zürich u. Düsseldorf [1929]1996.
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gedient hat, ist nicht überliefert, aber sie wird wahrscheinlich so oder so ähnlich gelautet haben, da der erste und der dritte Satz nachweisbar aus einer zeitgenössischen preußischen Dienstordnung für Gefangenenanstalten stammen8. Das wissen wir heute. Der Leser des Romans muß die Passage erst einmal als Gefängnisordnung identifizieren. Der Wechsel der Stimme, das Abbrechen der Erzählerstimme, ist zuerst einmal kenntlich am Tempuswechsel, oder sagen wir genauer: der Tempuswechsel markiert bereits eine Irritation. Die Irritation löst eine Suchbewegung nach einem neuen Schema aus, das den neuen Text zuordnen kann. Allerdings besagt der Tempuswechsel allein noch nicht, daß die Erzählstimme wechselt. Nur wenige Zeilen vorher findet sich der Satz „Die Strafe beginnt.“ (Berlin Alexanderplatz, S. 15), der ohne Probleme dem Erzähler zugeordnet werden kann und nicht unwesentlich für die weitere Konstitution der Stimme ist, da hier eine Abweichung gegenüber dem unpersönlichen heterodiegetischen Erzähler in der dritten Person sichtbar wird, nämlich das patronisierende Verhältnis des Erzählers zur Hauptfigur. Was also macht die Irritation so stark? Zuerst einmal die auffällig unpersönliche und etwas umständliche Wortwahl (der Gefangene, unterbringen, unausgesetzt, gesondert halten, Bewegung im Freien). Ein weiteres auffälliges Indiz ist der stilistische Verzicht auf variatio sowohl syntaktisch („Bei Einzelhaft wird“, „Bei Zellenhaft wird“) als auch in der Wortwahl („untergebracht“, „untergebracht“, „zusammengebracht“). Aber diese stilistischen Eigenheiten alleine sind noch nicht ausschlaggebend. Wirksam werden sie erst durch den Kontrast mit der eingeführten Erzählstimme. Sicherlich, die Stilmerkmale lassen so etwas wie Amtsdeutsch vermuten. Hinzu kommen der Inhalt und die Situation, in der die Zeilen im discours stehen, um den Schluß auf die Textsorte ‚Ordnung‘ und in diesem besonderen Fall: ‚Gefängnisordnung‘ des Tegeler Zuchthaus nahezulegen. Aber erst in dem Kontrast mit der eingeführten Erzählstimme wird dies als vollständiger Stimmwechsel erkennbar9. Wie hat sich diese Stimme eingeführt? Die ersten Sätze des Textes erinnern an die konventionalisierten Erzähler des 19. Jahrhunderts und sind ____________ 8 9
Vgl. Berlin Alexanderplatz, S. 482. Man könnte die Passage auch als erlebte Rede deuten, also als Zitat in der Erinnerung von Biberkopf. Dagegen spricht meines Erachtens schon der Umfang, da die meisten eindeutig als solche identifizierbaren sprachlichen Erinnerungen wohl kürzer sind. Außerdem können die nachfolgenden Montagen, schon aufgrund des Sprachmaterials und des vorausgesetzten Wissens, nicht Biberkopf zugeschrieben werden.
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dem prototypischen fiktionalen Erzählen recht nahe10. Erzählt wird im epischen Präteritum mit sinnlicher Prägnanz, sehr dicht am Geschehen in der erzählten Welt. Eingebettet darin finden sich, was schon ungewöhnlicher ist, Sätze, die zwischen erlebter Rede und innerem Monolog schwanken. Aber auch die Erzählstimme selbst weist im folgenden mit den Fragen in den Klammern ungewöhnliche Eigenheiten auf: Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. (Berlin Alexanderplatz, S. 15)
Die Tatsache und die Art der Anrede profilieren den Erzähler stärker, als das üblich ist, gemessen am Typus des objektiven Erzählens, wie er als Ideal in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von Flaubert, James und Spielhagen proklamiert wurde. Die Fragen der Erzählstimme kommentieren die Einstellung des Protagonisten und setzen sich so deutlich von ihm ab, da sie einen psychischen Mechanismus durchschauen und zu seiner Überwindung auffordern, was in dieser Weise ganz außerhalb der Reichweite der Hauptfigur liegt11. Diese deutlichere Konturiertheit der Erzählerfigur geht in ungewöhnlicher Weise einher mit einer internen Fokalisierung und einer Stimme, die ganz unvermittelt zwischen Gedankenbericht, erlebter Rede und innerem Monolog wechselt: In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. „Zwölf Uhr Mittagszeitung“, „B. Z.“, „Die neuste Illustrirte“, „Die Funkstunde neu“, „Noch jemand zugestiegen?“ [1] Die Schupos haben jetzt blaue Uniformen. [2] Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. [3] Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte. Mein Brägen hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausgetrocknet. (Berlin Alexanderplatz, S. 15)
____________ 10
11
Meines Erachtens kann man Erzählen als Kategorie am besten prototypisch beschreiben: „Jemand erzählt anderen etwas, das geschehen ist“; vgl. Jannidis (2003). Fiktionales Erzählen bettet dies dann bekanntlich ein in die Kommunikation zwischen Autor und Leser; vgl. Janik (1973). Diese patronisierende Art des Erzählers zeigt sich auch in den Kommentaren am Anfang der Bücher, so z. B. zu Beginn des zweiten Buchs, wo das Erzählte deutlich als Fiktion gekennzeichnet wird: „Aber es ist kein beliebiger Mann, dieser Franz Biberkopf. Ich habe ihn hergerufen zu keinem Spiel […]“ (Berlin Alexanderplatz, S. 47).
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Die Rufe der Zeitungsjungen sind noch nicht eindeutig zuzuordnen. Aber ab [1] folgt innerer Monolog, der noch einmal ([2]-[3]) von der Erzählstimme unterbrochen wird. Der Text etabliert also sehr schnell zwei Regelmäßigkeiten und impliziert damit auch entsprechende Erwartungen: 1. ein bestimmtes Modell der Erzählstimme aufgrund von typischen Formen der gewählten Sprachregister, der Wortwahl, des Satzbaus, aber auch des vorausgesetzten allgemeinen Wissens usw. 2. ein bestimmtes Erzählverfahren, d. h., daß Stimmen wechseln und wie sie mit welchen Formen der Fokalisierung zusammenhängen. Die oben zitierte Montage wird also kenntlich im Kontrast zu den Merkmalen der Erzählstimme, wie sie bis zu diesem Punkt etabliert wurde. Zugleich macht die Variabilität der Erzählstimme, ihr Wechseln, auch dieses ‚Sprechen in anderen Zungen‘ erwartbar. Grundlage dieser Schlußfolgerung ist aber die Annahme einer Konstanz der Merkmale, die eine Stimme auszeichnen, und die Ordnung der Merkmale in einer figuralen Gestalt.
II. Die Forschung zur erlebten Rede12 ist ausgesprochen umfangreich und das Phänomen, oder sagen wir genauer, das Phänomenbündel hat eine beeindruckende Zahl von herausragenden Studien provoziert13. Es scheint eine gewisse Einigkeit darüber zu bestehen, daß die erlebte Rede keine allgemeinen Kennzeichen aufweist, an denen sie immer erkannt werden ____________ 12
13
Der alberne deutsche Name ist seit seiner Einführung kritisiert worden. Gemeint ist bei Lorck (1921), dem Erfinder des Terminus, ursprünglich übrigens das ‚Gehörerlebnis‘ des Autors, der dieses dann anschließend niederschreibt. Ich behandele im folgenden die Ausdrücke ‚erlebte Rede‘, ‘free indirect discourse’ und ‘style indirect libre’ als austauschbar, wenn auch Kullmann (1995) darauf hinweist, daß es auffällige Unterschiede schon in den europäischen Sprachen zwischen den jeweiligen Formen erlebter Rede gibt. Z. B. Pascal (1977), Cohn (1978), Banfield (1982), Ehrlich (1990), Fludernik (1993). Zu den Anfängen der Forschung, angefangen von Toblers erster Beschreibung Ende des 19. Jahrhunderts über Ballys ausführliche Untersuchung, die dem Phänomen den im Französischen auch heute noch gebräuchlichen Namen ‘style indirect libre’ gegeben hat, bis zur sich anschließenden Kontroverse zwischen französischen und deutschen Theoretikern, vgl. den Forschungsüberblick in Pascal (1977).
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kann14. Vorschläge zur Beschreibung gründen sich daher zumeist auf einer Mischung von sehr wenigen obligatorischen und einer reichen Auswahl von fakultativen Merkmalen. So beschreibt Fludernik die beiden minimalen syntaktischen Bedingungen so: the deictic (that is, anaphoric) alignment of ‘personal’ referential expressions to the deictic centre of the reporting discourse, and the ex negativo syntactic condition that contenders for FID [free indirect discourse] must not be phrased in a verb-plus15 complement clause structure.
Alle anderen Signale für erlebte Rede – Tempusfolge, syntaktische Unabhängigkeit, narrative Parenthesen, Übereinstimmung in der zeitlichen und räumlichen Deixis mit der berichteten Rede, zahlreiche Formen direkten Ausdrucks typisch für direkte Rede, idiomatische Ausdrücke und adressatenbezogene Adverbien16 – sind, wenn sie vorkommen, Hinweise auf erlebte Rede, aber ihr Fehlen sagt nichts darüber aus, ob nicht doch erlebte Rede vorliegt. Ein Problem der erlebten Rede ist der weite Umfang der Kategorie, wodurch bei genauerer Betrachtung sehr unterschiedliche Phänomene gebündelt werden. Um nur eine Differenz hervorzuheben: Da ist zum einen der gesamte Bereich der Wiedergabe von Gedanken und von Rede auf der Figurenebene. Solche Sätze lassen sich in direkte Rede umformulieren, indem man ein „er dachte:“ oder „er sagte:“ an den Anfang setzt und das Verb in Tempus und Modus anpaßt. Da ist aber andererseits das sehr umfangreiche Feld dessen, was Stanzel (1995: 248) im Anschluß an Spitzer plastisch als ‚Ansteckung der Erzählersprache durch die Figurensprache‘ bezeichnet. Diese ‚Textinterferenz‘ (Schmid 1986: 39-79; Schmid 2005: 177-221) kann sich auf wenige Worte, ja manchmal eben nur auf ein einziges Wort beziehen. Solche Einsprengsel sind nicht sinnvoll in der angegebenen Weise umformbar. Ein klassisches Beispiel dafür ist die folgende Passage: Frau Stuht aus der Glockengießerstraße hatte wieder einmal Gelegenheit, in den ersten Kreisen zu verkehren, indem sie Mamsell Jungmann und die Schneiderin am Hochzeitstage bei Tonys Toilette unterstützte. Sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schö-
____________ 14 15 16
Vgl. Jahn (1994). Fludernik (1995: 95); Fludernik bietet in diesem Aufsatz eine kompakte Zusammenfassung ihrer Überlegungen zu den Merkmalen des FID. Liste nach Fludernik (1995).
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nere Braut gesehen, lag, so dick sie war, auf den Knieen und befestigte mit bewundernd erhobenen Augen die kleinen Myrtenzweiglein auf der weißen moirée antique … Dies geschah im Frühstückszimmer.17
Im ganzen Satz, der mit den kursivierten Worten beginnt, wird die Wahrnehmung von Frau Stuht dargestellt. Aber lediglich der kursivierte Teil ist erlebte Rede. Das Signal für die erlebte Rede ist hier ohne Zweifel die Formel „strafe sie Gott“. Denkt man sich den Satz ohne diese Formel, dann wird aus der erlebten Rede eine Feststellung des Erzählers. Die idiomatische Wendung ‚strafe mich Gott‘, die deutlich der mündlichen Rede entstammt, wo die Floskel wie eine Interjektion gebraucht werden kann, ist ganz unvereinbar mit der hochkultivierten Literatursprache der Erzählerstimme, wie sie sich bislang dargeboten hat. Es ist wohl nicht notwendig, die Konstitution dieser so häufig charakterisierten Erzählstimme hier ausführlicher nachzuzeichnen, deren feine Ironie, Subtilität und hochgebildete Sprache schon von den Zeitgenossen bewundert wurde. Weil also der intendierte Leser die Wendung mit dem bis dahin etablierten Bild der Erzählstimme unvereinbar findet, muß er sie jemand anderem zuschreiben, eben der fokalisierten Figur, zu der die Formulierung sozial und kulturell auch paßt.
III. Fassen wir zusammen. Meine These lautet: Der intendierte Leser konstruiert im Laufe der Lektüre eine Erzählstimme. Phänomene wie Montage und erlebte Rede werden erst wahrnehmbar durch Abweichungen von dieser Erzählstimme. Deren Eigenschaften sind kein einfaches Bündel von Merkmalen, sondern sind in figuraler Gestalt organisiert. Monika Fludernik hat diesen kommunikativen Ansatz in ihrer vielbeachteten Studie The Fictions of Language and the Languages of Fiction scharf angegriffen: One can therefore explain the entire communicative analysis of fiction as an (illicit) transferral of the frame of real-life conversational narrative onto literary personae and constructed entities (such as the implied author). […] The persistence of this precon-
____________ 17
Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, hg. v. Eckhard Heftrich, Frankfurt [1901]2002, S. 177f.; Hervorhebung von mir. Schon Stanzel (1995: 248) nennt die Passage einen „klassische[n] Beleg“.
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Fotis Jannidis
ceived notion that somebody (hence a human agent) must be telling the story in my view derives directly from the frame conception of storytelling rather than from any necessary textual evidence.18
Fludernik sieht in diesem Bezug auf die ‘frame conception of storytelling’ den unerlaubten Übertrag einer lebensweltlichen Kategorie auf die Textanalyse. Daran sind meines Erachtens zwei Punkte problematisch. Erstens scheint mir ihre Annahme, schriftliche Kommunikation komme ohne diese lebensweltlichen Konzepte aus, schwer plausibilisierbar. Es will nicht einleuchten, warum die menschliche Fähigkeit zur mündlichen Kommunikation, die sich in Zehntausenden von Jahren im Laufe der Humanevolution ausgebildet hat und deren besonderes Kennzeichen eine ausgesprochen ökonomische Zeichenverwendung ist19, für die Kommunikation mittels geschriebener Sprache, also einem relativ jungen Medium, ganz anders funktionieren sollte. Viel plausibler erscheint es mir, eine Weiterentwicklung der menschlichen Kommunikationsformen im Kontext der geschriebenen Sprache anzunehmen, deren Gewicht aber im Vergleich zu dem bereits vorhandenen Apparat relativ klein ausfällt. Zweitens kann man eben nur durch diesen Bezug auf das lebensweltliche Konzept des Erzählens die Annahmen erklären, die das Verständnis der Stimme regulieren. Wie die Beispiele gezeigt haben, ist schon die Annahme, daß die Eigenschaften der Stimme konstant bleiben, eigentlich nur durch eine figurale Organisation dieser Eigenschaften erklärbar. Stimme ist einerseits eine grammatische Einheit und weist als solche auch deiktische Aspekte auf, andererseits hat sie Symptomqualitäten und läßt Schlüsse auf Einstellungen, Wissen, Herkunft und die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen zu. Diese Aspekte sind jedoch nicht gänzlich unabhängig voneinander, da, wie gezeigt wurde, Stimmwechsel durch Wechsel der Eigenschaften signalisiert werden. Auch wie die Eigenschaften als sinnhaftes Ganzes wahrgenommen werden, verweist auf die figurale Informationsstruktur. Das bedeutet nicht, daß der Erzähler stets eine volle Figur ist – da gibt es bekanntlich sehr große Unter____________ 18
19
Fludernik (1993: 448). Sie stimmt darin übrigens mit Klaus Weimar (1994) überein, der nahezu gleichzeitig seine Kritik am Begriff des Erzählers vorgelegt hat. – Banfield (1982) geht von ihrer Beobachtung aus, daß ‚Du‘ sich schlecht in erlebter Rede verwenden läßt. Daraus leitet sie ab, erlebte Rede sei ein Zeichen für Literarizität und narrative Texte seien prinzipiell nicht-kommunikativ. Inzwischen hat man allerdings zahlreiche Befunde gesammelt, die belegen, daß erlebte Rede sehr wohl in nichtliterarischer Kommunikation auftaucht; vgl. Jahn (1992: 353). Vgl. z. B. Sperber/Wilson (1995) oder auch die Überlegungen in Eibl (2004: 210ff.).
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schiede –, sondern nur, daß auch bei einem unauffälligen Erzähler die Eigenschaften der Stimme und der Fokalisierung in ein Gesamtbild integriert werden. Die besondere Struktur dieses Erzählerbildes einschließlich der stets vorhandenen Möglichkeit, seine figurale Grundstruktur zu sprengen, ist sicherlich selbst wiederum historisch variabel. Insgesamt kann Fludernik meines Erachtens also nicht plausibel machen, daß die Auffassung des fiktionalen Erzählens als kommunizierte Kommunikation lediglich ein sachfremdes und fehlerhaftes Konstrukt seitens der Literaturwissenschaft ist. Vielmehr, so scheint mir nach allem bislang Diskutierten, basieren die für die angemessene Rezeption des Textes notwendigen Inferenzen auf eben diesen Konstruktionen seitens des Lesers. Vielleicht muß man sogar noch einen Schritt weitergehen – und versuchsweise will ich das einmal tun – und für die Wiedereinführung des ‚Erzählers‘ plädieren20. Fassen wir den Erzähler in fiktionalen Texten einmal als informationsorganisierende Gestalt, als mentales Modell auf, das weitgehend anthropomorph ist, aber in der Möglichkeit der Aufspaltung von Fokalisierung und Stimme eine gegenüber dem Ich-Erzähler in der Lebenswelt auffällige Besonderheit aufweist. Ein solches Konzept des Erzählers hätte z. B. den Vorteil, daß die prekäre Verwendung des Wissensbegriffs für die Bestimmung der Fokalisierung vermieden werden könnte. Bekanntlich definiert Genette die Art der Fokalisierung (extern, intern, Null-) aufgrund des Wissens, das der Text vermittelt21. Nullfokalisierung definiert Genette mit der Formel „Erzähler > Figur (wo der Erzähler also mehr weiß als die Figur, oder genauer, wo er mehr sagt, als irgendeine der Figuren weiß)“22. Entscheidend ist hier meines Erachtens der Unterschied zwischen ‚sagen‘ und ‚wissen‘: Das Gesagte legt Schlußfolgerungen über Wissensstände nahe. Wissen kann aber nur jemand mit Gedächtnis. D. h. das Konzept der Fokalisierung ist hier an einen figural gedachten Erzähler gebunden. Wenn hier von Wissen die Rede ist, dann handelt es sich zumeist um das Ergebnis sinnlicher Wahrnehmung, ergänzt um Introspektion, und nicht um kognitives Wissen. Dieses Wahrnehmungswissen wird dem Focalizer zugeschrieben, das gleichzeitig im Text enthaltene und voraus____________ 20 21 22
Gegen eine Position wie Fludernik (1993: 449): “the (now luckily rarely encountered) ill-judged use of the term narrator”. Genette [1991](1992: 134); er folgt dabei Todorov. Ebd. Hervorhebungen im Original.
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gesetzte Weltwissen indes der Stimme. Der Prozeß der Wahrnehmung wird aus dem von der Stimme Gesagten abstrahiert, wobei die scharfe Unterscheidung zwischen Stimme und Fokalisierung in wenig plausibler Weise suggeriert, daß dieser Abstraktionsprozeß so sauber möglich ist, daß also die Wahrnehmung vom Gesagten abgelöst werden kann, ohne daß die Eigenschaften der Stimme in die Wahrnehmung eingehen. Ein Problem stellen etwa Texte dar, in denen Ereignisse aus der Sicht einer Figur geschildert werden – sogenannte interne Fokalisierung –, aber die Stimme etwa über die verwendete Begrifflichkeit ein Wissen in die Schilderung einbringt, das den Horizont der Figur übersteigt. Um jedem Mißverständnis vorzubeugen: Ich plädiere keineswegs für eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen Fokalisierung und Stimme23; mir scheint nur die Abschaffung des Begriffs ‚Erzähler‘ durch die unverbunden gedachten Begriffe ‚Stimme‘ und ‚Fokalisierung‘ problematisch. Vieles spricht dafür, daß die Erzählinstanz als eine einheitliche Gestalt wahrgenommen wird, und das Bild, das der Leser sich vom Erzähler macht – und zwar aufgrund der Ausdrucksaspekte der Stimme ebenso wie aufgrund seines Fokalisierungsverhaltens24 –, den Hintergrund bildet für jeweils neue Inferenzen an jeder Stelle des Texts25. Will man die narrative Kommunikation adäquat verstehen, so ist es wenig nützlich, diese gestaltbasierten Prozesse zugunsten eines szientistischen Beschreibungsideals auszublenden. Vielleicht läßt sich die Situation mit der unseres Verständnisses von Deixis vergleichen. Die Raum-Zeit-Deixis in Erzähltexten ist letztendlich auf unseren Körper in der Lebenswelt zurückzuführen, aber eben mit der besonderen Pointe, daß sich diese Ich-Jetzt-Hier-Origo im fiktionalen Text verschieben kann. Der Versuch, die Erzähltheorie durch eine Vertreibung des Anthropomorphen zu präzisieren, scheint mir zum Scheitern verurteilt, da eben dieses Anthropomorphisieren des Lesers eine wesentliche Voraussetzung für das kommunikative Spiel des Textes ist. ____________ 23 24
25
Entsprechend ist Genettes Differenzierungsvorschlag dem Modell Stanzels meines Erachtens auch überlegen. Die Art und Weise, wie in einem Text die Stimmen wechseln, also das, was oben als Erzählverhalten bezeichnet wurde, wird dagegen wohl dem impliziten Autor zugeschrieben. Vielleicht wurden diese Abhängigkeiten auch dadurch verdeckt, daß viele Untersuchungen der erlebten Rede sich letztendlich auf den Einzelsatz beschränken. Vgl. etwa Banfield (1982). Oder noch ganz programmatisch Kullmann (1995: 316).
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LIESBETH KORTHALS ALTES (Groningen)
Voice, irony and ethos: the paradoxical elusiveness of Michel Houellebecq’s polemic writing in Les particules élémentaires Abstract This paper will argue that the notion of ‘voice’ needs to be freed from its essentialising associations and considered as the product of the dynamic appropriation of a text by a reader, rather than as a property of the text. Such an appropriation in terms of voice can occur according to very different real-life schemata and changing literary conventions. A combination of a narratological, cognitivist and rhetorical approaches seems best fit to allow the description of complex voiceeffects, such as dual voice and irony. The analytical tools will be tested in the analysis of voice-effects in Houellebecq’s Les particules élémentaires. When the mind is like a hall in which thought is like a voice speaking, the voice is always that of some one else.1
This paper will argue that ‘voice’ remains a useful notion in narratology, at least for, written or spoken, verbal narratives. It needs however to be freed from its essentialising associations, and considered as the product of the dynamic appropriation of a text by a reader, rather than as a property of the text. Such an appropriation in terms of voice can occur according to quite different real-life schemata and changing literary conventions. The various competing narratological approaches of voices, from Genette to the post-structuralist critic Andrew Gibson, have each tended to present ____________ 1
Wallace Stevens, Adagia (Opus Posthumous, edited by Milton K. Bates, London 1959, p. 194)
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Liesbeth Korthals Altes
their own conception as the norm, instead of recognising that there may be different literary and real-life conceptions of voice. One such normative conception is the idea that voice, in literary narrative as well as in real life, belongs to and expresses a distinct individuality; while at the poststructuralist end of the spectrum, voice, in real life as in literature, is understood as fundamentally polyphonic, dispossessed, and disseminated. In light of the impressive bulk of ‘theory’ exploring this phenomenon of voice, the challenge, as I view it, lies in the combination of a cognitivist-constructivist and a rhetorical-stylistic approach. The constructivist angle is required, because it takes into account the dynamic processing of a text by readers, and various factors (schemata, conventions) involved in it, instead of considering the text as a given, in which ‘voices’ could simply be localized2. Yet the linguistic-rhetorical perspective is not simply to be dismissed, as readers form hypotheses about the intentionality of a text on the basis of its linguistic, stylistic and generic, as well as paratextual features; however, different readers may pick out different aspects of the linguistic artifact, so these ‘textual’ arguments function more on the basis of the coherence of the reading they support, rather than as objective textual evidence. Like many scholars interested in voice, I will focus on phenomena which stretch the notion to its limits: double-voicedness, irony and other quotational effects. After discussing some approaches of narrative voice, and exploring what light the analysis of irony may shed on it, this paper will present an analysis of some voice-effects in Houellebecq’s Les particules élémentaires3, in the hope that this practical criticism can in turn contribute something to the general reflection on voice. The choice of this novel was prompted by the kind of controversy it roused, which was not only about the adequacy of its provocative analysis of contemporary western society, but very much about the ethos of the voice advancing these world-views: how seriously these were to be taken, and if they were shared by the author are questions which greatly divided the critics. ____________ 2
3
I am grateful to Barend van Heusden and Harald Pol, who is working on a dissertation on the premises of structuralist and ‘postclassical’ narratology (to be published in 2006), for the challenging discussions on the theme of this paper. See for a clear presentation of a cognitivist approach of film, Bordwell (1985, chapter 3, ‘The Viewer’s Activity’); for literature, see for instance Holland (1988). Michel Houellebecq, Les particules élémentaires, Paris 1998.
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The analysis will concentrate on two elements: first, what kind of (conflicting) conventions of narrative voice can be considered at work in this novel? Second, how can one account for the uncanny quotation-effect which, at least for the reader I am, often qualifies the voices in this novel: the impression that utterances are not just used, but mentioned, a distinction which Sperber and Wilson famously applied in their analysis of the mechanisms of irony. This comes close to the question of how to describe irony, a teasingly elusive voice-effect, which however can make quite a difference. Indeed, even a suspicion of irony triggers in the reader a hermeneutic frenzy, a search for the contours and targets of the potentially ironical or parodic voice—though the result may be that finally, neither the voices nor the irony can be determined with certainy. But for the reader, the decision of whose voice is read, and what its ethos is—or deciding that this is not to be assessed—has a significant influence on the interpretation of a novel, on the value-positions and intentions attributed to it, and on its impact.
Voice: a cacophony of definitions Voice in narratology has been made to mean everything and its opposite4. It has been sufficiently noted that it is of course only by figural extension that one can speak of voice in literary fiction. There is no orality/ auditivity except that wich is represented, mediated through written reported or inner speech, and commented upon. In what usually is meant or implied by voice in narratology, the following—controversial—assumptions play a role: – the idea that narrative discourse expresses or suggests distinct (affective, cognitive, ideological) subject-positions or voices through linguistic expressivity; conversely, that subject-positions are linguistically retrievable; – the idea that a reader is interpellated by the text: just as in real life a voice potentially calls for a response from the hearer, readers can experience texts as communication, interpellation, provocation, etc. To search for voices in texts may be one way of dealing with this experience (or experiential frame). ____________ 4
See the special issue on voice of New Literary History 32 (2001); Aczel (1998); Fludernik (1993) and (1996).
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With respect to written literary narrative, the notion of voice forms the node of different approaches, which all claim to be based on its textual, linguistic manifestation, including in various degrees the wider co-text and context5: 1. Genette’s typology of narrators (homo/hetero- and extra/intradiegetic), presented in Figures III, forms the corner-stone of a voicecentered narratology6. The choice of narrating instance is defined by its ontological relation to the story-world and degree of embeddedness, which opens up distinct possibilities of discourse, focalisation, and knowledge. Central in Genette’s conception is the assumption that these enunciation positions can be distinguished on the basis of objective, textual features, and that they form a fairly stable hierarchical model of textual communication. However, it has since been argued that this typology is too rough to be of much help in the analysis of the effects of voice, or of more complex slippages of voices, such as irony or dual voice. Richard Aczel, for instance, rightly objects that Genette’s question Who speaks? should be complemented with the question How does the who speak?, if only because “to identify ‘who speaks’, […] it may be necessary first to identify how a particular voice speaks, and to distinguish it from other competing voices”7. But Genette is more interested in the general narrating function than in the qualities of ‘voice’ (significantly, Genette borrowed this metaphor from the modes of the verbal construction—voix active/passive—and not, to start with, for the analogy with voice in its (oral/aural) materiality and expressivity)8. ____________ 5
6
7 8
Of course there are other approaches, such as ethical or ideological criticism, that rely on the notion of voice, associated in philosophical and ethical criticism with the bodily incarnation of the individual’s ‘spiritual self’, or as in postcolonial or feminist criticism, with personal identity and agency; but as far as they do not explicitly imply a linguistic or narratological dimension, I will not discuss them here (in fact, a critic like Susan Lanser combines the linguistic and the social/moral notions of voice). Genette (1972). I am not the first to observe the paradox that Genettian narratology, while aiming at eliminating ‘subjectivism’ and ‘humanism’, gave a central role precisely to the notion of voice, with all the connotations of (audible) human presence and existential interpellation, where these literally do not occur. See for instance Gibson (1996). Aczel (1998: 468). In fact, Genette slides from the passive/active verb form to grammatical person, and from there to a psychological notion of personality. In his model, deviations are labelled as errors caused by « remaniements hâtifs et des états d’inachèvement du texte »
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Strong criticism has also come from a poststructuralist critic such as Andrew Gibson9: to him, Genette’s notion of voice appears clearly obsolete, as it relies on similarly ‘suspect’ notions as intention and meaning. It mistakenly suggests a secure foundation, a coherent “narrative geometry” built around a centre: the origin of the enunciation, conceived as a “monolithic” subject. Genette, according to Gibson, relies on a hierarchical, “theological” concept of the text, where all voices are governed by one dominating authorial voice (we will return to some of these critiques further on). A constructivist perspective, finally, would object against the assumption that the various narrating positions his typology distinguishes are observable in texts, since they are, at least in part, constructions of readers. However justified these critiques, Genette’s typology still appears useful as a short-hand labeling of narrating situations, if only to describe where and how the ‘geometry’ starts to spin, and under the condition that the reader’s construction of the narrating voice is taken into account. 2. Another approach of voice finds its roots in expressive stylistics (Bally), which was successfully revived in discourse linguistics (Benveniste), focused on the expression of subjectivity in discourse. Thus, for instance, the French linguist Catherine Kerbrat-Orecchioni lists all kinds of grammatical features which can become ‘subjectivèmes’, that is: linguistic traces of subjective perceptual, emotional, and evaluative attitude10. In a stylistic perspective, Richard Aczel states that “where style does have an expressive function it will produce a voice effect […]. Narratorial self-comment posits a speaker function, and comment ____________
9 10
(Genette 1972: 254). Elsewhere in his Proust analysis he shows more sensitivity to the slipperiness of the norm and to its historical, conventional character: the contemporary novel, he notes, « n’hésite pas à établir entre narrateur et personnage une relation variable ou flottante, vertige pronominal accordé à une logique plus libre, et à une idée plus complexe de la ‘personnalité’. […] les attributs classiques du ‘personnage’ ont disparu, et avec eux les points de repère de la circulation grammaticale » (ibid.). But this insight did not induce him to adapt his model. Gibson (1996). Catherine Kerbrat-Orecchioni, a linguist who has always sought the challenge of testing her theories on literary discourse, is little known outside France, although Bordwell (1985: 21), does refer to her work (see Kerbrat-Orecchioni (1980)); Fludernik (1993), in chapter 3 and 4 offers a good English survey of markers of subjectivity in discourse.
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names a subject position, but it is only stylistic expressivity which endows this speaking subject with a recognizable voice”11. Both in The Fictions of Language and the Languages of Fiction (1993) and in Towards a Natural Narratology (1996), Monika Fludernik combines that linguistic-stylistic tradition and a cognitivist approach. To her, voice is [t]he linguistically generated illusion of a voice factor, which can be defined empirically by a complex set of interrelated textual and contextual features and is corroborated by a mimetic reading of the text that stimulates this projection of a speaker or reflector function.12
In true cognitivist fashion, she insists on the fact that voice is a construction of the reader, “derived from implication and illocution”13. The textual clues for the construction of an ‘ethos’ can however be analysed linguistically, in deixis and in the expressive features of discourse. It is difficult, though, to establish up to which point the analysis is strictly linguistic, and where more complex hermeneutic procedures intervene. Many ‘neutral’ words can indeed become expressive or evaluative to the reader on the basis of her expectations about an enunciator’s ethos, or of her knowledge of the context. As Fludernik herself recognises, the case for the linguistic, ‘empirical’ basis for the retrieval of voice in texts must not be overstated. Textual elements become signs on the basis of a pre-understanding, which is confirmed or corrected by further reading. More problematically, Fludernik, like Genette (but more explicitly), tends to rely on the ‘real-world frame’ of voice as a psychologically and morally coherent evaluating centre, usually constructed as a persona: Narrative discourse […] invites a reading in terms of mimetic representation, and it is for this reason alone that certain stylistic textual effects are immediately recuperated or naturalised in terms of verisimilar voice’, ‘characters’, perceptions and consciousness.14
____________ 11 12 13 14
Aczel (1998: 472). Fludernik (1993: 344). Perhaps it is to remind herself and her readers of this illusory character that ‘voice’ is constantly written between scare quotes. Fludernik (1993: 88). Fludernik (1993: 347 and 452).
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But real-life verisimilitude is a dangerous yard-stick: first because real-life theories about what makes a Self have diversified significantly since nineteenth century realist literature, which forms the bulk of Fludernik’s corpus. Psycho-analysis, philosophy, Marxist-inspired theories of sociolects weaving into individual speech etc., have led to alternative conceptions of human discourse and subjectivity. Secondly, literature, and not only of the modernist and postmodern kind, often subverts expectations about selves. This is something which Fludernik certainly recognises, for instance when, with reference to Ann Banfield, she discusses the possibility of narrative with an ‘empty centre’. But in such cases, she argues, readers do what they can to naturalise away such ‘anomalies’15. One could well contend, quite to the contrary, that readers may in fact enjoy complex games in which expectations get frustrated, or hold a conception of literature which cherishes, in the wake of Mallarmé and Blanchot, the experience of reading as dispossession of selves and voices, as will be briefly discussed further on. 3. A narratology such as Susan Lanser’s (1981), or more recently, Michael Kearns’ (1999), combining the kind of rhetorical approach developed by Booth with speech-act theory, offers a detailed grid with which to tease ‘out of the text’ a narrator’s “status”, “contact” (with the reader or other intended audience), and “stance”, drawing attention to the pragmatic characteristics of textual voice. Writing, in this perspective, is definitely considered as a form of communication; though how the reader comes in, remains an open question. Ultimately, it is the voice of the text, understood as something like its overall intentionality, these approaches are after, whether or not in the guise of an implied author (in which the idea of voice is really stretched to its limit, as this ‘voice’ is unvoiced, precisely). From a constructivist point of view, this approach is again problematic, as it tends to make the text speak where readers do the work; and it suggests that this speaking ultimately amounts to clear-cut ideological/affective positions. From a poststructuralist perspective, it builds on an unwarranted ‘humanism’, seeing ‘persons’ and psychological coherence where there are only textual effects and needs not be any monolithism. However, the rhetorical angle should not be too easily discarded, as it corresponds to many a reader’s experience: readers do feel pro____________ 15
Fludernik (1993: chapter 7 mainly).
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voked, seduced, interpellated by texts. Narratology needs to find an adequate way to account for such effects. 4. Bakhtin’s studies on the phenomenon of voice, developing the notions of dialogism, double-voicedness, polyphony and heteroglossia, expose the quotational and social nature, hence the unavoidable plurality, of narrative voice. In Problems of Dostoevsky’s Poetics, Bakhtin analyses double-voiced discourse, which has this intriguing characteristic that “[i]n one discourse, two semantic intentions appear”16. This insight significantly problematises the assumption that linguistic utterances can be expected to characterise their ‘speaker’, as various kinds of deviation now appear: in irony, parody, implicit polemics, and other forms of heteroglossia, one and the same linguistic utterance can be made to refer to several voices which could/would have uttered it, and to the sociolects which they represent. For Bakhtin himself the proliferation of pre- and intertexts is kept in check and even orchestrated by the authorial intention. But later poststructuralist critics such as Kristeva radicalise this understanding of discourse, and argue that there is in principle no textual limitation to the potentially relevant heteroglossia. This raises a fundamental question with respect to the assumptions traditionally implied in ‘voice’: If « je ne parle pas, ça parle », if there is no limit to understanding a voice as echo(es), then there is no way linguistic expressivity can be considered to metonymically point to a distinct subjectivity, which would hold a distinct (evaluative, affective, argumentative) position in a text—except indeed by decision of the reader. In fact, most of the aforementioned approaches still share the ‘reassuring’ convictions that voice is a relevant, and relatively stable, category for the analysis of narrative, especially literary narrative17; that it can be related to a distinct, textually retrievable origin or enunciator; that this origin can be conceived of as a subject, which, like real human subjects, shows a certain psychological and ideological coherence, intentionality, character (Bakhtin occupying a transitional position). These assumptions have been criticised from various sides, mainly from a linguistic, philosophical and cognitivist perspective. ____________ 16 17
Bakhtin [1929](1984: 189). The issue whether a similar phenomenon is at work in other narrative arts, is far from settled, and needs addressing, as well as the question whether there is a specific literary manifestation of voice.
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A famous objection, developed by Ann Banfield in Unspeakable Sentences and various articles, is that in written narrative, “No one speaks […], nor addresses anyone”18. In such a case, there is no voice, and—at least as important—no communication: “subjectivity or the expressive function of narrative emerges free of communication”19. The distinction between oral and written narrative is fundamental in this perspective. In writing, Banfield argues, only characters and explicit narrators can be characterised by their voice: through the representation of their accent, intonation, lexicon, syntax, argumentation, in quoted direct speech; or a narrator can convey an idea of what a character’s voice is like, by describing his or her intonation, or commenting upon it. But to speak about a heterodiegetic narrator’s voice is a mistake. Sentences of narration, she argues, are not only without a speaker, they are “linguistically free of the taint of subjectivity, of interpretation and evaluation”20. The equation of discourse with voice and with all the implications of a person speaking, is just an illusion. This also entails the idea that rhetoric is simply not a relevant discipline for the analysis of written, third person narrative, as there is no communication or persuasion involved. Banfield’s highlighting of the abstractness of the written, third person narrative, is challenging, especially after such personalising views as defended in rhetorical approaches (Booth, Lanser, Kearns). However, as Fludernik rightly objects, Banfield takes the notion of voice too literally, and her analysis is based on too narrow a conception of linguistics, which doesn’t take into account the developments in pragmatics. Indeed, speech act theory and discourse analysis have convincingly argued that every utterance can be interpreted as showing signs of the (affective, axiological and ideological) position from—and the intentionality with—which it is uttered. In the chapter where she discusses Banfield’s notion of narration with an “empty centre”, Fludernik shows how in most such cases, “expressivity devices” do argue “for the implicit presence of a SELF in the text”21. In such cases, she maintains that there is “an evocation of a storyinternal consciousness”, which is a “perceiving consciousness”. But “since no character is available to whom one could attribute such a con____________ 18 19 20 21
Banfield (1982: 97). Banfield (1982: 10). See also the discussion in Gibson (1996: 146-151). Banfield (1982: 263). Fludernik (1993: 390).
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sciousness, the reader directly identifies with a text-internal position”22. The speaker can thus be “un-embodied”, merely a “speaker function”23, which can carry strong subjectivity-effects, though: The language has both impersonalised itself to a mere evocation of subjectivity without ontological anchoring and, at the same time, intensified its subjectivity quotient to the point where a voice emerges from the impersonal subconscious of language.24
What is meant by voice here, would be covered by the formula: ‘discourse + evaluative and/or argumentative effects’, whether or not this voice can be attached to a specific origin. This understanding of voice, however, still suggests more contours and stability than can often be granted. As we will see in the analysis of Houellebecq’s novel, the reader has an important say in establishing voice. Strong critique on the ‘traditional’ narratological and rhetorical conceptions of voice has also come from poststructuralist thinking. The objections, not surprisingly, mainly concern the idea that voices in (literary) narrative suggest presence where there is none, as well as a non-existing coherence and distinctness: reading for voice(s) would express a search for a “monolithic” subject25. Blanchot’s essayistic and literary work, for instance, is one extended meditation on the experience of writing and reading as dispossession, as exposure to « le dehors », his name for the experience of otherness26. For our concern with voice, the essay on Le ‘il’, le neutre stands out27. ____________ 22 23 24
25
26 27
Fludernik (1993: 391). Ibid. Fludernik (1993: 393). The idea of a ‘subconscious’ of language is a bit puzzling, as is the subsequent development in which Fludernik analyses such kind of ‘centre-less’ narrative as in fact less narrative, closer, instead, to poetry’s reflection on language. Could not a ‘recuperation’ come from other ‘real-world frames’? The experience of la rumeur publique, all origin lost, is probably as old as human communication. In any case, intensive use of communication media (telephone, radio) have accustomed us to the overhearing of fragments of ‘disembodied’ stories with a high subjectivity quotient, just as we overhear fragments of life stories on the bus and on the street, phone conversations. The difference with random overhearing and with poetry may be that in narrative, these voices are interpreted, precisely, narratively and rhetorically as having a point. See again Gibson (1996: ch. 4.), also for his discussion of Derrida’s famous theses about the dominance of speech over writing in Western culture, and the illusion of presence it fosters. See for instance Blanchot (1955), (1969a) or (1983). Blanchot (1969b).
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Against an analysis of narrative which links voice to perspective and ‘vision’, metaphors implying control and distance, Blanchot argues that writing and reading present the end of « le règne de la conscience circonspecte » (of the reign of a consciousness that—taken literally—looks around, to check its surroundings). Written narrative, like traditional narratology in fact, may push forward a “privileged I” around whom the narrative perspective is ordered, and suggest that there is a “voice behind” the text28. But the narrating act is not referable to « la transparence d’une conscience ». There may be the suggestion of a voice behind the text, but cet « en arrière » qui n’est nullement un espace de domination et d’altitude d’où l’on pourrait tout ressaisir d’une seule vue et commander aux événements (du cercle), ne serait-ce pas la distance même que le langage reçoit de son propre manque comme sa limite […], distance infinie qui fait que se tenir dans le langage, c’est toujours déjà être au-dehors […]?29
For the reader, to occupy the position such a voice offers to him or her, is to lose the hold which ‘voice’ and ‘perspective’ seemed to grant (think of the function of deictics for Fludernik): sans point d’appui, […] il ne lui est plus permis de regarder les choses de loin, de maintenir entre elles et lui cette distance qui est celle du regard […]. Désormais ce n’est plus de vision qu’il s’agit. La narration cesse d’être ce qui donne à voir, par l’intermédiaire et sous l’angle de vue d’un acteur-spectateur choisi.30
Reading is exposure to a voice, an « il, le neutre », which makes the reader’s self lose ground31. In a similar vein, Derrida has insisted on the displacing force of language, subject to differance and dissemination, which also affect the speaking or writing subject. Such conceptions of the subject’s relation to language, however, raise intriguing questions as to the argumentative power of language: if the subject has no hold on the potential meaning of his discourse, if there can be no question of intentionality, can an utterance even be considered ironical? In fact, Derrida does not seem to state ____________ 28 29 30 31
Blanchot (1969b: 561). Blanchot (1969b: 557). Blanchot (1969b: 563). From a different perspective, Connor, in his fascinating study on ventriloquism, observes that voices with an ambivalent or ‘absent’ origin, such as that of the ventriloquist, have a deeply unsettling effect on an audience, as they are “immune to the powers of the eye and the categorical cognitive functions associated with it”; see Connor (2000: 24).
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that language cannot refer, communicate, or persuade, but that in doing so, it is already prey to differance, and is the stage of a play between the intention to mean and the slippage of meaning32. This incomplete survey of conceptions of voice shows how these encompass a wide spectrum, from the conception of ‘one man/one voice’ and of the communicative nature of language and narrative, to its apparent opposite: language, and more specifically literature, are intransitive: a voice opens onto the dissemination of voices, « le bruissement de la langue » (Barthes). Philosophically and linguistically speaking, there are good arguments for these apparently opposed conceptions, and there are periods in which one of these comes to dominate the aesthetic norm. Narratology must allow for various conventions of inscribing and reading subjectivity into discourse. Authors indeed encode their texts with quite different models of voice and subjectivity in mind: Balzac ‘heard’ his individual characters ‘speak’ in their specific idiom, whereas Blanchot explores through voice la rumeur, what Heidegger would call das Gerede. Readers, for their part, can be very inventive in finding clues to construct a/one voice, and from there, a persona; or they can be content to perceive mere subjectivity-effects, slots which offer the experience of perceptions, emotions, opinions or value-judgments, the experiencer of which remains indeterminate (and can include the reader herself). The advantage of a constructivist approach here is that it takes into account this variety of possible encoding and decoding conceptions of voice, as a background for the hypotheses with which a reader tries to make sense of a text. Bordwell, for instance, insists on the “schemata” that in the actual process of viewing a film (he himself establishes an analogy to reading on this point) “coax us to anticipate and extrapolate. Disconfirming instances make us readjust our expectations”33. He adds: In our culture the perceiver of a narrative comes armed and active to the task. She or he takes as a central goal the carving out of an intelligible story […]. While hypotheses undergo constant modification, we can isolate critical moments when some are clearly confirmed, disconfirmed, or left open. In any empirical case, this whole proc-
____________ 32
33
See also for the ethical implications of such a conception of language Critchley (1992); see Gibson (1996) for relevant and commented references to Derrida’s work on this issue, mainly Derrida [1967](1973), [1967](1978) or [1978](1987). Bordwell (1985: 38).
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ess takes place within the terms set by the narrative itself, the spectator’s perceptualcognitive equipment, the circumstances of reception, and prior experience.34
This seems to be quite a fruitful starting point for an analysis of voice, conceived as a reading effect that incorporates textual features according to expectations which may vary (voice as attached to a persona, or rather as anonymous, disseminating), tested and perhaps adapted throughout the reading experience.
Irony The issues about voice raised above become quite acute when one deals with the attribution of irony to voices in literary texts. In such a case, any approach of voice as a linguistic manifestation of subjectivity stumbles upon language’s capacity to blur the equation of ‘one man, one voice’. Indeed, deictic elements and evaluative expressive markers are “no longer a reliable tool of interpretation” leading to one distinct voice35. At the same time, paradoxically, these deictics and subjectivèmes become important clues as to which utterer the stated and implied meanings can plausibly be attributed. The ancient rhetoricians defined irony as saying, with a mocking intention, the opposite of what one means (antiphrasis), or as saying something else, more, or less, than is expected (using euphemism, periphrase, allusion, or hyperbole), which highlights the role of assumptions about the intentions and ‘ethos’ of a speaker. As Cicero acknowledged: “The disposition and the ethos of the orator must be in contradiction with the said”36. This implies that the decoder of irony has to have constructed an idea about the ethos of the speaker. Why is it so important to establish whether there is irony? In ancient rhetoric, irony is considered as belonging to the epideictic mode: it is an indirect way of blaming or praising. So it is a form of language use with strong social implications. Recent linguistic and narratological research stresses that irony ‘happens’ when there are value-judgments at stake, and that it functions within a broader argumentative strategy37. For some ____________ 34 35 36 37
Bordwell (1985: 39). Fludernik (1993: 228). Cicero, On the Ideal Orator, New York etc. 2001 (2.67.272). The linguist Berrendonner defines irony as a « contradiction de valeurs argumentatives » Berrendonner (1981: 184); see also Hamon (1996).
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reason, the ironist is bent on implying rather than explicitly arguing the unacceptability of a certain position. Such a strategy causes a ‘scission’ in the audience between those who do, and those who don not, get the irony (which can be useful in a situation of censorship, or when the need for strengthening of community or exclusion is felt)38. Considering the evaluative and argumentative component of irony, and its affiliative and therefore exclusive effect, it is not surprising that more than any other rhetorical figure, it elicits strong emotions and reactions. As Linda Hutcheon writes: “Irony has an evaluative edge and manages to provoke an emotional response in those who get it and those who don’t, as well as in its targets”39. The tricky thing, however, to start with, is how to even know whether there is irony at stake, since so much is in the implying. To decide on irony, whether in literary narrative or in a conversation, the audience/ reader engages in a complex hermeneutical calculus, conjecturing about whose perspective, voice and values one is presented with, and about the speaker’s (or focaliser’s) intention and reliability40. In oral irony, the intonation is an important marker of an ironic intention, and these marks are culturally quite defined. For irony in written texts, Booth, among others, has attempted to list the various ‘textual signals’, while at the same time lucidly describing the hermeneutic process involved in establishing irony41. Brushing aside such ‘textual signals of irony’, Stanley Fish argues that there are no ‘stable’, objectively observable ironies, pace Booth, only interpretive communities which tend to read (or not) irony into an utterance: Irony, then, is neither the property of works nor the creation of an unfettered imagination, but a way of reading, an interpretive strategy that produces the object of its attention, an object that will be perspicuous to those that share or have been persuaded to share the same strategy.42
____________ 38 39 40 41 42
See for the pragmatic effects of, and motives for, irony, Kaufer/Neuwirth (1982). Hutcheon (1994: 2), and Hamon (1996: 23 and passim). Hutcheon (1994). Booth (1974: chapter 3, 47-86; for the hermeneutic process, 84-85). Fish (1989: 194). On the basis of her cognitivist-linguistic model, also Fludernik states that irony is not “a purely linguistic phenomenon but can [only] be explained as the result of interpretive work brought to bear on the juxtaposition between the wordings of the text and the (by implication incompatible) cultural or textual norms of the text as constructed by the reader or implied as values shared by the reader and the realistic textual world” Fludernik (1993: 440). But like Booth in A Rhetoric of Irony, she ob-
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The absence of clear linguistic markers brought the linguists Sperber and Wilson to consider irony as a specific use of speech, a pragmatic rather than semantic phenomenon (the same reason for which Banfield proposed to keep irony out of linguistics): they famously describe irony as the mention—instead of the use—of a proposition implying a way of speaking or thinking. In irony, a proposition is, in a sense, set between quotemarks: toutes les ironies peuvent être décrites comme des mentions généralement implicites de proposition; ces mentions sont interprétées comme l’écho d’un énoncé ou d’une pensée dont le locuteur entend souligner le manque de justesse ou de pertinence.43
However, the problem remains: how is one to know whether there is quotation, and who or what is quoted? Irony thus appears not as something ‘in’ the text, but which happens in an act of reading, a hermeneutic procedure actively involving the reader, who conjectures about ‘voices’, ethos and positionings. In this respect, irony highlights what characterizes voice in general. Readers bring to the text their own interpretive strategies, which in turn can be related to interpretive communities, bound by a common ground of knowledge, beliefs and norms. There is always a circular movement to this: it is because I belong to a certain interpretive community that I am inclined to read ironies into a text, and by interpreting texts as ironical, I posit myself as belonging to a specific community of values. Exclusion is the other face of this mechanism. These reflections lead to the paradoxical conclusion that the presumably ironic text cannot be pinned down on its ‘intended’ meanings and values, whereas a reader has to produce an interpretation, if only already by deciding whether irony is at work or not, and which value-position, consequently, would be ironised, in favour of another. “As the reader of a novel or the viewer of a painting, I have to accept responsibility for my attribution of irony”, Hutcheon rightly concludes44. I have to take a stand, ____________
43 44
serves that “It is our moral conventions as well as the stylistic conventions and the interpretive norms which one constructs for the text as a whole that determine the ironical reading” Fludernik (1993: 351). This ‘common sense’ is rightly criticised by Gibson: “who is the ‘we’ deemed to share a set of ‘moral convictions’? Fludernik is treating specific hermeneutic decisions as objectively valid universals” Gibson (1996: 150). Sperber/Wilson (1978: 399). Hutcheon (1994: 123
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where the text does not. The stakes are high, even if the procedure to establish irony is vulnerable: The interpretation of an entire work can be affected by the decision to take certain utterances as ironic. This explains why ironic communication is such a ‘risky business’, both for ironists and their interpreters (who, according to Linda Hutcheon, are in fact the actual ironists). Part of the intensity of the reaction probably comes from that high involvement of readers, besides the evaluative and argumentative contents at stake. In the light of a poststructuralist language conception (such as Kristeva’s « je ne parle pas: ça parle »), it is important to observe that the implied slippage of the origin and intention of an utterance does not eliminate the relevance of searching to establish the origin or intention of an utterance, crucial in the case of irony. Who speaks, from where, with what intention, and where do I, the reader, stand? These unavoidable questions trigger a (re)constructing work, which can have quite different outcomes with different readers. It can lead to specific origins, just as it can merely make an utterance suspect of being distanced, without specifying an origin, or an ‘intended meaning’. However, Stanley Fish, as well as any approach which lays the whole burden for ‘irony’ with the reader, takes too little into account how texts (and situations) actually can shape these expectations: for instance by the way a text has until that point displayed a character’s and narrator’s discourse, and his or her actions, from which readers will infer goals, values: an ‘ethos’; and by offering elements for the construction of a more general argumentative and evaluative orientation of the narrative. Besides, readers may turn to the extra-textual ethos of the author—although a tricky move—as it has been expressed in the media (TV, printed media) and in paratexts. In any case, to speak of irony supposes that the reader forms a complex hypothesis about the ethos, especially the ideological, moral and emotional characteristics and argumentative strategy of (a) the voice speaking, (b) the potentially mentioned voice or discourse, or those with which the utterance holds a “dialogic relation” (Bakhtin) (c) the potentially intended victim and accomplices. But, just as with voice, there is no need to always ‘figuralise’ either the ironist or his victim (the figure who would endorse the quoted words or opinions). For the decoding of irony, it is sufficient that the reader senses a quotation-effect, and attributes a polemic or dubitative intention to it. This less figuralising approach allows to distinguish irony effects (the effect of quoting-cum-distancing) even in (post-)modernist texts with blurred voices and ‘absent characters’.
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Works like Beckett’s or Sarraute’s frequently stage voices, however anonymous, indeterminable and shifty, that still manage to give readers the impression of being ironical, or of being quoted ironically. Discourse produces affective and axiological vectors, which are experienced by the reader as challenging her meaning-making activity, and engage especially her conjectures about value-positions and argumentative strategies. If we too readily accept the poststructural suggestion that it is indifferent or impossible to assess ‘where it talks from’, then we are unable to decide that an utterance is ironical.
Les particules élémentaires: whose master’s voice? This novel presents the story of Michel and Bruno, two half-brothers who only meet in adolescence, and who each get their share of misery: Bruno is as sexually obsessed as he is deprived of sex and love; Michel, a biologist, withers away in utter loneliness, before inventing the formula that will allow humanity to be relieved from sexual reproduction and from death by cloning. Both brothers finally find love, quite unexpectedly, only to loose it in a rather pathetic way. The novel abounds in strong opinions, voiced either by the main characters or by the narrator, which go against the grain of political correctness. Mainly: the sexual liberation of May, ‘68 has created a new proletariat, a class of sexually deprived underdogs; the same liberation spirit has lured women into ‘self-fulfillment’, which entailed the breakdown of family and more generally, the capacity to love in western society. The plot lends itself to be read as an example illustrating the truth of these ‘theses’. Thus this novel comes close to what Susan Suleiman analysed as a roman à thèse, and indeed some critics explicitly identified it as such. Suleiman argues that in this sub-genre, the various narrative devices (plot, characterisation, discourse, setting) are redundant, and thus contribute to establish one same basic oppositional value structure. Moreover, either the narrator or one of the characters holds a crucial role as the ‘authorised’ Wertträger and interpreter45. In Houellebecq’s novel, the characterisation of the two main characters, the plot and the explicit comments of the narrator indeed seem to lead inexorably to a conclusion: the genetical ____________ 45
Suleiman [1983](1993). For an analysis of this novel as a paradoxically ambivalent roman à thèse, see Korthals Altes (2004).
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mutation, based on cloning, is to be acclaimed, as it puts an end to human misery as described, offering eternal bliss and sexual enjoyment without possessivity. As we will see, however, Houellebecq’s narrating voices are not exactly unambiguous Wertträger. Not surprisingly, most critics not only reflected on what the textual voices state, but also on how they state it, and whose voice one actually reads. I will first discuss some aspects of the telling in this novel. The story of the two brothers is framed by a prologue and an epilogue. In the prologue, the narrating voice seems at first conventionally heterodiegetic and omniscient, located at a temporal, affective and ideological distance from the story ‘he’ relates (« Ce livre est avant tout l’histoire d’un homme, qui vécut la plus grande partie de sa vie en Europe occidentale, durant la seconde moitié du XXe siècle », particules, p. 9). Three pages later we get a kind of psalm—a completely different generic and stylistic register, compared to the first narrating pages of the prologue. The narrating voice becomes a first person plural (“we”), whose identity is not clearly stated yet, but who affirm to belong to a “completely different realm” (occasioned by the « mutation métaphysique » the first pages mentioned?)46. However, there are hints that there is some continuity, even a causal relation, between the “we” and « ces hommes » belonging to « l’ancien règne », whose lives “we” will tell, as “we” recognize « ce que nous devons à leurs rêves » (particules, p. 12f.). Because of this (if disrupted) contiguity to the story world, the narrator could be labelled, in a sense, homodiegetic. A few pages later, the embedded story starts, told by a narrative voice which, as in the first section of the prologue, seems quite traditionally heterodiegetic: omniscient, ‘zooming’ in and out of a character’s perception through actorial focalisation and free indirect discourse (and, later, embedded direct discourse). In fact, throughout the telling, the deictics, lexical and syntactic choices and especially the interpretive stance of this narrating voice allow quite different personae to be constructed, which I retrospectively summarize: 1. A fairly traditional omniscient heterodiegetic narrator, who privileges a scientific interpretive frame, as suggested by the lexical, semantic and syntactic choices (highly specialised scientific vocabularies, ar____________ 46
The status of this “we” remains throughout ambiguous, as it can designate a collective narrator, or be interpreted as a conventional mode to speak of oneself—which in the case of a clone appears particularly appropriate.
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gumentative sequences of sentences; even the occasional references in foot-notes contribute to making the impression of popularising scientific discourse, and confer to its narrating voice(s) the authority of the scientist). The knowledge displayed corresponds with the current state of sociological, psychological, anthropological or biological sciences. Readers may thus construct this ‘voice’ as a contemporary of the two brothers, and thus, of themselves (theses references to the state of contemporary culture, society and science are a powerful means to entice the reader into identification with the novel’s story). Another familiar feature is that, like a classical moralist, this voice formulates ‘popular wisdom’, which presupposes a shared inside knowledge of this human world, instead of the unfamiliarity manifested elsewhere by the clone, as we will see. For instance: […] comme tous les vieux libertins il [Bruno’s father] devenait sentimental sur le tard et se reprochait amèrement d’avoir gâché la vie de son fils par son égoïsme; ce n’était d’ailleurs pas entièrement faux. (particules, p. 100; my emphasis, LKA)
Or: « Notre malheur n’atteint son plus haut point que lorsque a été envisagée, suffisamment proche, la possibilité pratique du bonheur » (particules, p. 306): the personal pronoun suggests the inclusion of the narrator in the evoked collective experience—which of course is, in terms of conventional verisimilitude, incompatible with the stance of a clone, who would, according to the text, be beyond any such ‘malheur’. 2. Like any traditional omniscient narrator, this one can move in and out of characters’ inner states, through focalisation and (free) indirect discourse. But beyond such means to present from the inside the experience of the characters, another narrative stance can be inferred from comments and from the selection of and perspective on story elements: that of an empathetic witness, instead of scientific distancing. Compassion, sarcasm, and indignation frequently colour the analysis of the twentieth century mores, suggesting an affective participation more characteristic of a ‘human’ contemporary who identifies with the misery of the two brothers, than of the dispassionate scientific observer, or as we will see, the passion-void product of a metaphysical mutation. The interpretive frame in such cases turns Bruno and Michel into subjects whose experience—their frustrated expectation of happiness and love—is rendered with maximum intensity and pathos, and not just analysed as specimina of general laws.
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One example among the many: at one of his bleakest moments, Michel looks at a picture of himself as a child, et il se mit à pleurer. Assis à son pupitre, l’enfant […] fixait le spectateur en souriant, plein de joie et de courage; et cet enfant, chose incompréhensible, c’était lui. L’enfant faisait ses devoirs, apprenait ses leçons avec un sérieux confiant. Il entrait dans le monde, […] et le monde ne lui faisait pas peur […]. Tout cela, on [Michel? the empathetic narrator?] pouvait le lire dans le regard de l’enfant. (particules, p. 30-31, see also p. 42 or 51)
In such a section, the narrator has ample recourse to pathos (through repetition, and the stress on the emotional realisation of the contrast between child and adult). 3. At many points of the telling, however, the construction of such a heterodiegetic narrator is thwarted by narratorial manifestations— deictics, discursive characteristics—which readers may identify as ‘originating’ from a clone (“we”), located at a clear temporal, epistemological and ontological distance from the humans whose story is told: in 2079, at the distance of a « mutation métaphysique ». (S)he/ they never speak(s) in the first pronoun singular; the need to express individuality seems to have disappeared, which would be consistent with the kind of character one may associate with such a clone. As (s)he/they argue(s), ‘they’ are beyond all human emotions and strivings. Still, the voice claims some compassion for the miserable humans depicted. But pathos is certainly not the dominant mode. The hypothesis of such a narrating perspective is confirmed by exoticising expressions used by the narrator to designate objects or states of affairs which belong to familiar human life: Notions such as ‘children’ one may want to have and cherish (particules, p. 32), ‘individual freedom’ (p. 385), or the ‘soul’ (p. 89) are set between quotation marks, as phenomena from another era which need explaining47. The epilogue, finally, makes explicit that one (or more) of the clones, introduced towards the end of the story of the two brothers, and prefigured in the “we” of the opening psalm, ‘is’ the narrator of this story, presented as an homage to mankind and written around ____________ 47
In fact, the narrator here clearly appears as an artifice, which many readers have learned to accept: we have animals, (unborn) babies, as narrators, why not clones. As Fludernik rightly argues, readers do not need more than some typical elements to construct a persona—except that here, it is not one but several personae which may be evoked.
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2079. This retrospective individuation of the narrator (if one can say so for a clone) may induce readers to reconsider their overall interpretation: from a heterodiegetic narrator, conventionally, a relative neutrality is expected (or perhaps the presumed commonality of norms makes these appear as ‘neutral’): the attention goes to the story itself, less to its telling. Whereas if the narrator is to be figuralised as a clone, the whole argumentative orientation of the telling itself may become suspect: like many (historical) narrations, it may be biased, and function as a legitimisation of an achieved or desired state. As for instance when the voice of the clone constructs a clear opposition between ‘them’: the 20th century humans, obsessed by sex and loneliness, and ‘us’: the clones, 80 years later, swimming in bliss. Moreover, the many actorial focalisations may also suddenly appear awkward, if one reads figuratively: how could a clone give an empathetic representation of a human character’s feelings, if they lack the experience of such emotions as described by the text? In any case, the homogeneity conventionally attached (at least in narratology) to the notion of ‘narrator’ and ‘narrator’s voice’ is not, by far, corroborated by this text. Not only does a heterodiegetic narrator appear to be, at times, homodiegetic; the persona resulting from the narrator’s voice is also remarkably heterogeneous. Some critics, indeed, have reproached the author for being sloppy in his use of literary technique. It is quite consistent with the ethos Houellebecq displays in the media to drop any concern to make his narrating voice mimetically consistent, or to obey conventional aesthetic norms. But this shift in stance can also be interpreted as a conscious technique. As Houellebecq himself acknowledges, sur un plan plus littéraire, je ressens vivement la nécessité de deux approches complémentaires: le pathétique et le clinique. D’un côté la dissection, l’analyse à froid, l’humour; de l’autre la participation émotive et lyrique, d’un lyrisme immédiat.48
The alternation of the pathetic and the clinical mode is indeed a cherished device in this novel, and examples abound, especially in the representations of childhood memories of the two brothers. For instance, the section evoking Michel rolling in the meadows with his cousin Brigitte on a warm summer day. After the idyllic opening, the reader expects the topos of blooming love and eroticism. Instead, the narrator switches to a meticulous biological register, including Latin names, concerning little bugs ____________ 48
Michel Houellebecq, Interventions, Paris 1998, p. 45.
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that jump on the occasion: « Brigitte avait seize ans. […] Il se blottissait contre sa poitrine chaude; elle portait une jupe courte. Le lendemain ils étaient couverts de petits boutons rouges [...] le Thrombidium holosericum » (particules, p. 44)49. Such changes of register and viewpoint may be interpreted in quite different ways. This section can be read both as focalised by Michel and/or by the narrator. In the case of Michel, the switch to scientific discourse confirms the ‘habitus’ of a scientist readers may associates with him, a rationalisation which has the useful side-effect to keep at bay too painful experiences, a protective move which the text then would (ironically) display. In the case of focalisation by the narrator/author, it inscribes itself unproblematically within that rationalising stance the reader has been ‘trained’ to associate with the narrating voice. It implies that even such intimate experiences (love, the death of dear ones) remain scientifically analysable, predictable mechanisms, instead of sources of emotions (a rationalising effect also cherished by Musil, this other writer/man of science, in Der Mann ohne Eigenschaften). The substitution of a scientific discourse to pathos may thus function as an ironic démasqué of the Big Feelings of the character, and of the sentimental expectations of the reader. Or, on the basis of what a reader may know of Houellebecq’s extra-textual ethos, such a switch of register may be interpreted as the auto-ironical pudeur of one who knows too well the seductions and risks of pathos. Thus one and the same sentence, or sequence of sentences, can indeed be considered to superpose various emotional and evaluative perspectives, all plausible in the context. Readers will effect their own associations, although some textual clues seem strong, as they are expectations elicited by the previous sections of the narrative, about the—contradictory—ethos of the narrator and that, much less contradictory, of the characters. Whatever readers decide about who is narrating and focalising, the appeals to pathos and logos displayed in the telling voice seem to work in opposed directions. Whether by luck or skill, the incompatibility of the cognitive and evaluative frames involved seems rhetorically and ideologically effective. It is tempting to interpret this incompatibility as iconic for a crucial question staged by the novel: how to describe human subjectivity and experience (in fact, important ingredients of what usually is meant ____________ 49
The same device interrupts the poignant evocation of the death of Bruno’s grandfather: the narrator, who had been in ‘consonance’ with his character’s emotions, abruptly shifts gear and disserts on the insects which clean up a corpse.
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by voice), when the competing vocabularies at hand seem incompatible? Indeed, how to reconcile the deterministic-scientific (humans as ‘objects’) and the ‘humanistic’ vocabularies (humans a subjects), which most real humans nowadays, just like Bruno, so carelessly use, trusting on the uniqueness of individuality? On top of the polyphony—or for some readers: the disturbing fuzziness—which may result from this heterogeneous narrative voice/persona, Houellebecq’s writing plays with the possibility of ‘saying more or less’, by degrees of adhesion, which may range from light estrangement to ironic distancing which most readers will recognise. There are indeed rather clear cases of irony, where the text puts affirmations of a character within a context which quite explicitly contains contrary value-judgments. This often happens when Houellebecq ‘quotes’ typical New Age discourses and expectations: the lofty values implied or stated in the utterance of a character (about finding spiritual self-fulfillment) resound against Bruno’s or the narrator’s more cynical (usually sexually inspired) views. Less evident—that is: relying more heavily on the reader’s own participation in historical cultural contexts—are the innumerable sections where the voice of a character can be understood as an echo of some extra-literary sociolect, ironically exhibited: motives and style of adverts, New Age, social and political movements, perhaps even the numerous bits of scientific reasoning. Probably all of Houellebecq’s readers—exsoixante huitards, yuppies, bourgeois, Christians—will recognise at one point or another of their reading their own beliefs and norms mentioned or alluded to in the text, and find it contaminated by the general insecurity about the speaker’s ethos: there are provocations of all kinds … Moreover, if the narrator’s voice can at times be quite redundant and therefore provide the contours of an ethos, it is, as I argued earlier, internally contradictory and finally, difficult to assess. Let us take a characteristic section, in which Michel (the biologist brother), utterly depressed, meditates on various proposals of meaning and adventure which land on his door-mat: a Christian brochure with « récits de vie convergeant vers une fin identique et heureuse », the Trois Suisses catalogue with its « lecture plus historique du malaise européen », and its global solution for all the world problems: « demain sera féminin » (particules, p. 152); the advertisement for a cruise promising an « authentique paradis flottant »; and Monoprix’ (a cheap ware-house) promise of an « équilibre, tout de suite et pour tous » (particules, p. 182f.). All these
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promises of bliss, beauty and quality are set on the same level, pondered by Michel with as much seriousness as Aspect’s physics’ theories on elemental particles, which are made to resound in this unexpected context. And all these messages of instant bliss similarly contrast with Michel’s hopeless depression, sufficiently established earlier by the text. Most readers will agree that the messages of bliss can plausibly be read as ironical, ‘mentioned’ rather than ‘used’. However, the ironic intention does not seem to belong to Michel’s voice or evoked perspective, but rather to the narrator (and of course, the reader), targeting with Voltairian indignation the vacuous persuasiveness of these engaging adverts and religious narratives alike. The irony would then characterise the ethos of the ‘voice’ to which it is attributed: in my reading, the narrator’s, whose stance of compassion with Michel is ‘expressed’ through this indignant irony. Much less evident to determine if, and how, ironical, are the many sections where narrator or character (it is not always easy to settle who is ‘asserting’, because of abundant recourse to dual voice) present provocative world views, as when the narrator describes the gang-bangs in the échangiste clubs in Paris, or in the sections on Bruno’s experiences in promiscuous paradises. An example in point is the section about Bruno’s visit to Cap d’Agde, where sex is freely practiced in all sorts of combinations, described in a chapter with the significant title « Pour une esthétique de la bonne volonté ». Partly, this section is voiced by the narrator, focalising with Bruno; partly, the narrator quotes Bruno’s report, which “nearly made it” into Esprit (in the ‘real’ world, one of the most serious French general cultural journals … First wink of the author?). The irony would then target either the seriousness of such a medium, or readers who may take at face value the suggestion that Esprit would indeed publish such ‘participating research’ in this field. Bruno argues that this club is the « lieu adéquat d’une proposition humaniste, visant à maximiser le plaisir de chacun sans créer de la souffrance morale insoutenable chez personne » (particules, p. 273). His tone is alternatively euphoric and coolly ethnographic (if not ethologic—as if describing the doings of a band of monkeys), in the precise descriptions of the erotic codes and gymnastics. How is this tone of voice to be interpreted? Hardly any reader belonging to contemporary culture will read such descriptions without referring them to the horizon of the various conventional normative ideas about sexuality. And just as in the descriptions of the Parisian échangiste sex-clubs, bourgeois norms are turned upside-down: whereas the novel
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describes ‘normal’ society as inhuman, unjust, deeply frustrating for the individual, according to Bruno’s descriptions, in these promiscuous places, “respect” for the other, generosity, and happiness are the norm, quite against the grain of conventional associations. It is left up to the reader to decide how to weigh these appreciations, which are quite systematically held throughout the novel, by the narrator’s voice as well as by Bruno’s. One can only experience them as ironical if one considers them as dialogically profiled against the doxa. Something different happens when the reader perceives weird cracks in this stance: in the midst of Bruno’s enthusiastic report, he compares his sexual partners and himself with Enid Blyton’s “the five” (“le club des cinq”), an unexpectedly candid association, which brings these adult sexual exchanges on the same level as children’s comradeship and adventure. And a bit later, in the heat of his defence of this « proposition humaniste », Bruno compares the wonderfully punctual and disciplined behaviour in sexualibus of the German visitors, with the « discipline » and « respect du contrat » which allowed the Germans to wage two devastating world wars and then achieve a Wirtschaftswunder (particules, p. 275). The incongruity of this comparison, and its implication of a general positive appreciation of the German attitude, including during the second world-war, goes textually unmarked—but if a reader seizes them, such rapid but un-orthodox comparisons may elicit doubts as to the speaker’s ethos. But who speaks, here, and who or what would be ironized? Technically, it is Bruno’s writing, addressed to the potential readers of Esprit, who could be, beyond the textual boundaries, you and me. Rushing to find support in the co-text so far, the reader may decide that beyond Bruno, the stance about sexuality implied in the whole section is quite congruous with the world-view advanced by the various narrator figures, as well as with what is known of the extra-textual ethos of the author. So it does not seem an ironic subversion, by ‘mention’, of Bruno’s own views by a non-consonant narrator. If irony there is, it rather seems to be an ironic provocation of the reader, cast as the figure liable to hold norms which allow him to be shocked by such statements and implications, or forced to gobble down not only perhaps unconventional views on sexual behaviour, but more problematic implications on the German/Nazi achievements. A case, hence, of dialogic orientation in Bakhtin’s sense. It clearly appears that what is perceived as a voice-effect, here, cannot be linguistically described, and is utterly a matter of allusions and expecta-
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tions roused by the text, against the background of the reader’s extratextual norms and knowledge. What narratology can offer here, is at best, through the analysis of voice and ethos, a series of hypotheses and arguments for those in terms of ethos. The individual reader has to decide where she stands: does she want to share Bruno’s values, against the doxa? Or does she feel provoked? Or does she slide from one position to the other? This ambiguous ethos seems characteristic of Houellebecq’s writing: not only are the voices ‘unstable’, their tonality—a mixture of humour, despair, irony and parody—is unstable and indeterminate as well, with however quite a provocative effect on most readers. Here we encounter the paradox of irony exposed earlier: the text’s evasiveness can paradoxically summon the reader to choose her camp. It is interesting to observe, in the documented reception, how readers have coped with these indeterminacies. Some have attempted to ‘naturalise’ them away, by turning to the real author for disambiguation, to what Aristotle would have called the ‘prior ethos’ of the author: what was known of him, before and beyond this specific text50. As if speaking, indeed, were truth, compared to writing/fiction. But alas, as his former colleagues of the magazine Perpendiculaires sourly observed, Houellebecq’s extra-literary stance is just as well characterised by a tantalising « flou idéologique ». One could also argue that Houellebecq extends to his public appearance and daily life the ambiguity—and irresponsibility?—conventionally reserved to art51. Other critics, and this is also my approach here, have turned precisely this evasiveness of voice into what has to be interpreted. ____________ 50
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Despite all the devastating critique, the notion, and impact, of authorial intention is not so easily be done with. In the case of Houellebecq, many critics have turned to the ‘personality of the author’ to explain the values and ideology read into the novel. However, the ethos which can be inferred from Houellebecq’s public manifestations presents the same ambiguity as his writing: the prior ethos in no way is more reliable, more ‘authentic’ than that of the fictional voices. See for this notion of ‘prior ethos’ Wisse (1989); see also Amossy (2001). In interviews, Houellebecq is known for his long silences, accompanied with strange grunts, alternating with incongruous answers, and, once he gets started, the same provocative opinions on sex, cloning, masculinity, race and religion. He has been brought before justice twice, the second time more seriously by the French Moslim community, who attacked him on the views on the Islam voiced in his later novel Plateforme, Paris 2001.
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Considering the different examples discussed in this paper, the question where ‘the narrator stands’ is indeed unanswerable, as his voice is multiple and shifty, and it is often not clear whether it is stating or ironically mentioning what it says. The reader, thus, is ‘hooked’, actively involved in interpretation and evaluation without getting a firm hold on ‘position’.
Conclusion To stick to the notion of voice makes narratology incur the danger of building on obsolete beliefs in the firmness of characters and positions. The kind of textual phenomena described above, and the reading they trigger, are however un-analysable without the notion of voice, understood in all its complexity: as a subject-effect, an affective, evaluative and ideological stance, constructed by the reader on the basis of deixis and ‘subjectivèmes’ in specific utterances; which however need not be “monolithic”, nor attached to a definite persona. A voice can echo other voices, and be taken as an echo of itself. With the ensuing difficulty, or pleasure, as such textual voices deny the reader the luxury of a firm positioning. Or, from a different perspective: The attention for voice and its slipperiness should be part of the training in literary—and more general, cultural—competence, as the capacity to understand complex, polyphonic and dialogic language use, and how individuals and interpretive communities react to it. It belongs to literary education to teach readers to develop different reading strategies, and increase the number of frames through which they can make sense of complex texts: not reducing them to the most familiar frame, but turning the encountered difficulty of interpretation—a slipperiness of voice, in this case—into what is to be interpreted.
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OLAF GRABIENSKI / BERND KÜHNE / JÖRG SCHÖNERT (Hamburg)
Stimmen-Wirrwarr? Zur Relation von Erzählerin- und Figuren-Stimmen in Elfriede Jelineks Roman Gier # Abstract The multiplicity of “voices” in the narrator’s speech and that of the introduced characters is characteristic of prose fiction by Elfriede Jelinek. In the example of her novel Gier (Greed), it will be tested whether or not the currently accepted narratological standards are sufficient for a differentiated analysis of the text. In doing so, the categorical separation from perception and speech, gaze and voice is proved problematic, so that in part II of the article, an instrument has been developed and a chart has been put together to describe in a typological process – following Schmid (2005) – the connection between perception and mediation. The effectiveness of this instrument should become visible in featuring an exemplary passage of the text from Greed in an attachment to the article. In part III, based on a complete analysis of the novel, its characteristic pattern of the narrative organization will be described.
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Wichtige Anregungen zu diesem Beitrag verdanken wir den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminars Narratologische Analysen zur Erzählprosa der 1990er Jahre (Wintersemester 2003/04, Uni Hamburg) und den Mitgliedern der Forschergruppe Narratologie (Uni Hamburg, http://www.narrport.uni-hamburg.de).
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Olaf Grabienski / Bernd Kühne / Jörg Schönert Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2004 wird der österreichischen Elfriede Jelinek verliehen für den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen.1
I. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen der Narratologie, dass Erzählerrede und Figuren-/Personenrede bzw. Erzählertext und Figurentext2 für die Textanalyse in Kategorienbildung und Textbeschreibung voneinander abgegrenzt werden können – ohne dass damit Konstellationen wechselseitiger Überlagerungen ausgeschlossen wären. Bei Elfriede Jelinek erscheint in Gier, ihrem (2000 veröffentlichten) „Unterhaltungsroman“3, die Überlagerung von Sprechakten und die Polyphonie von unterschiedlichen Stimmen zunächst als ein Verwirrspiel, das sich jedoch textanalytisch auf markierbare Verfahren zurückführen lässt. Allerdings ist zu fragen, ob sich solche Markierungen noch mit den eingeführten narratologischen Kategorien zum Erzählen von Geschehen, Gesagtem und Gedachtem erreichen lassen4. Zu diesen Vorgaben sei eine knappe Bestandsaufnahme formuliert. Für das Erzählen von Rede5 werden in der Regel drei Konstellationen unterschieden: (1) zitierte Figurenrede (figural organisierte Rede), (2) transponierte Figurenrede (figural und narratorial organisierte Rede) wie beispielsweise Erlebte Rede6 oder indirekte Rede, (3) berichtete Figurenrede (narratorial organisierte Rede) wie beispielsweise der Redebericht7. ____________ 1
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Aus der Begründung der Schwedischen Akademie, dokumentiert bei Spiegel online unter http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,322003,00.html (eingesehen am 22.10.2004). Vgl. Schmid (2005: 154-156); siehe dazu genauer Fußnote 34 dieses Beitrags. Elfriede Jelinek, Gier. Ein Unterhaltungsroman, 2. Aufl., Frankfurt/Main 2002. Vgl. Füger (1993). Der Einfachheit halber fassen wir unter ‚Rede‘ in der Folge sowohl Gedankenrede als auch gesprochene Rede, da eine Unterscheidung im Rahmen unserer Untersuchung keine Konsequenzen für die Textanalyse hat. Zur Erlebten Rede u. a.: Steinberg (1971). Vgl. das Schema in Martinez/Scheffel (2002: 62). – Erweiterungen zu den drei Konstellationen bringt der Beitrag von Fotis Jannidis in diesem Band.
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Um die jeweilige Vermittlungsform zu beschreiben, sind vor allem zu untersuchen: der eigentliche Redeteil, auf die Rede hinweisende Referenzsignale wie etwa die Kommunikationsverben des Sagens, Fühlens und Meinens8 sowie Textpassagen, die die Rede umgeben. Figurale bzw. narratoriale Organisation von Rede lässt sich für ‚Wahrnehmen‘ und ‚Vermitteln‘ (s. Teil II) kennzeichnen mit Hilfe folgender Merkmale: Zeitpunkt der Rede/Stellenwert in der Chronologie, Ort der Rede bzw. Position des Sprechers im Raum, die Redeweise bestimmende Werte und Normen (im Sinne einer ‚Disposition‘), sprachliche Gestaltung der Rede. Für alle Aspekte lassen sich – theoretisch gesehen – figurale und narratoriale Festlegungen kennzeichnen; dabei können sich ‚homogene‘ Konstellationen (die Aspekte sind alle figural oder alle narratorial bestimmt) und ‚heterogene‘ Konstellationen (figurale und narratoriale Organisationsformen sind miteinander verbunden) ergeben9; für Raum und Zeit sind solche Festlegungen in der Regel genauer zu bezeichnen als für Werte/Normen und sprachliche Gestaltung. Da die hier genannten Parameter den von Genette etablierten Kategorien ‚Modus‘ (im engeren Sinne: Wahrnehmen) und ‚Stimme‘ (im engeren Sinne: Vermitteln) zugeordnet werden können, stellt sich das prinzipielle Problem, ob diese als voneinander unabhängig gelten können, oder ob im Erzählen nicht jeder Wahrnehmungsvorgang zugleich zu seiner Vermittlung bestimmt ist. Dieses Problem verliert an Gewicht, wo sich in der Geschichte des (literarischen) Erzählens Konstellationen zeigen, in denen die narratorialen und figuralen Rede-Anteile deutlich voneinander abgegrenzt werden, wie beispielsweise in Homers Epos Ilias, in dem die direkte Rede der erzählten Figur stets markiert wird: ‚Und so begann er zu reden ...‘‚ ‚Also sprach er ...‘, ‚Ihm erwiderte darauf ...‘. Ähnliche Verfahrensweisen zeigen sich in der ‘Rise of the Novel’-Situation des 18. Jahrhunderts – z. B. wenn in Goethes Die Leiden des jungen Werther der Herausgeber der Briefe des Protagonisten als primäre Vermittlungsinstanz eingeführt wird und sich auch in der sprachlichen Gestaltung seiner Rede von dem nachgeordneten (sekundären) Vermittler Werther deutlich unterscheidet: „Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet ...“ vs. „Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!“; ebenso ist markiert, wenn in Werthers Lektüre des Ossian eine weitere (tertiäre) ____________ 8 9
Vgl. Weinrich (2003: 898-900). Schmid (2005: 147-149, 36f.) spricht von ‚kompakter‘ und ‚distributiver‘ Perspektive.
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Vermittlungsebene angelegt wird: Er „setzte sich nieder und las“ (es folgt Ossian-Text)10. Weitaus mühevoller abzugrenzen sind Wahrnehmungsweisen und Stimmen in vielen Erzähltexten der sogenannten Klassischen Moderne, zwischen 1885 und 1930 – etwa in Döblins Berlin Alexanderplatz mit gleitenden Übergängen zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und oft unmarkierten Wechseln von Stimmen11. An solche Konstellationen wird in der Erzählliteratur der zurückliegenden 60 Jahre wiederholt angeknüpft. In Jelineks „Unterhaltungsroman“ werden die Erzählerrede und die (von ihr konstituierte) Figurenrede in vielfachen stimmlichen Ausarbeitungen derart verschränkt und in den Übergängen verschliffen, dass der Eindruck eines Stimmengewirrs entsteht12. Das erzählte Geschehen in Gier wird auf eine Folge von etwa sieben Tagen (vermutlich in den 1990er Jahren) beschränkt und durch zahlreiche Analepsen und Prolepsen (als Achronien des Erzählten) erweitert. Es vollzieht sich im Heimatbereich der Autorin (Raum Mürzzuschlag) und in Wien (wo Elfriede Jelinek heute lebt). Im Mittelpunkt steht der Landgendarm Kurt Janisch, der, von ‚Besitz-Gier‘ getrieben und seine ‚SexualGier‘ befriedigend, gleichzeitig ein Verhältnis mit der minderjährigen Auszubildenden Gabi und der etwa 50-jährigen, nicht mehr berufstätigen Fremdsprachenkorrespondentin Gerti unterhält. Er erreicht sein Ziel: den Besitz des Wohnhauses von Gerti. Sie überschreibt es ihm, ehe sie sich selbst tötet. Wenige Tage zuvor hatte der Gendarm Gabi getötet. Im erzählten Geschehen – es schließt mit dem Selbstmord von Gerti – bleibt dieser Mord unaufgeklärt. Der Textauszug, der für unseren Beitrag im Anhang ausgewertet wird, ist Teil einer der wiederholten und eingehenden Beschreibungen sexueller Handlungen von Gerti und Kurt. Der Gendarm hat Gerti nach der Tötung ____________ 10
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Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther, in: Goethe, Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 2.2, München 1987, S. 349-465, hier: S. 349, S. 350 u. S. 449. Siehe dazu Jähner (1984); vgl. auch den Beitrag von Fotis Jannidis in diesem Band. Damit ist gegenüber der prinzipiellen ‚Zweistimmigkeit‘ des Erzählens mit Erzählerrede und Figurenrede das vervielfachende Phänomen der ‚Polyphonie‘ zu beschreiben, vgl. Bachtin [1934/35/1975](1979: 192ff.) zur „Redevielfalt im Roman“. Die Probleme in der Beschreibung sieht auch Bayer (2005) und kommt zu folgendem Fazit (277f.): „Nach den Kriterien des Hamburger (Langer/Schulz v. Thun/Tausch 1981) Verständlichkeitskonzepts für Informationstexte (!) besitzt der Roman alle Merkmale eines schwerverständlichen Textes in hoher Ausprägung“.
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Gabis einige Tage lang nicht mehr besucht; Gerti verabredet sich mit ihm nicht – wie gewohnt – in ihrem Haus, sondern auf einer Bergwiese. Da tritt sie also aus dem Dickicht, die Frau, die so etwas noch nicht oft gemacht hat, noch dazu in diesem Zustand. Sie tritt hervor, wie mit dem Mann vereinbart, sie bricht ungeschickt, beinahe strauchelnd, Vorsicht! (dort gehts sicher fünfzig bis siebzig Meter weit senkrecht hinunter), durchs weiße Rinnsal zwischen den Felsblöcken und dem alten Gletschersand, der am Boden herumliegt, hervor und versucht sofort, das fremdartige Tier, das da witternd stehengeblieben ist, zärtlich wie ein Insekt zu umgaukeln und das vorbereitete Garn fürs Netz herauszuziehen, so, jetzt [285] noch die Häkelnadeln, und den Stecker in die dafür vorbereitete Dose hineinstecken und schauen, was kommt. Sie sagt, was für sie Glück ist: daß er jetzt da ist, wie vereinbart. Ich liebe dich so. Jetzt haben Wunder die größte Bedeutung, weil sie bereits geschehen sind und wir stündlich neue Wunder hereinbekommen, die uns vielleicht noch glücklicher machen könnten, oder jetzt gleich, da kommt ein neues Wunder, in diesem Augenblick, wie zwischen uns vereinbart. Es ist aber nur das alte, das sich anders angezogen hat. Die Frau läßt den Mann, den sie überzeugen konnte, sich hier und jetzt mit ihr zu treffen, und wärs nur für einen kurzen Augenblick, einen Moment, er hat noch kein Wort gesprochen, sie aber schon viele, die ich nicht eigens nennen möchte, sie läßt ihn durch ihre Worte und ihr Aussehen zusammenzucken (er ist nicht dafür ausgerüstet, sie jetzt schon aus der Wand heraus zu kratzen, hinter der sie sich verschanzt hat, aber gleich wird sie ja ganz einstürzen, diese dumme Mauer da zwischen ihnen), während sie sofort, kaum daß er die Hand heben kann, die Bluse aus der Passe des stilisierten Dirndlrocks reißt und den recht losen BH nach oben schiebt. Jetzt hängt der nur noch an den Trägern, die im Grunde nichts mehr zu tun haben, unterm Kinn, wie ein etwas komisch geschnittenes Kragerl, und da, hastdunichtgesehn, da sind ihr schon die schweren Brüste, alle beide, darunter herausgefallen, haarscharf am geöffneten Trachtenkleid entlang, dem Boden entgegen. (Gier, S. 284f.)
Die homodiegetische Erzählerin führt ihre Rede im historischen Präsens; sie erweckt hier und über weite Strecken des Romans die ‚Erlebensillusion‘ – nämlich den Eindruck, dass sie wie eine Reporterin am Ort des Geschehens anwesend ist, um es zu beobachten und (simultan) mitzuteilen: „so, jetzt“13. Sie weiß aber auch Bescheid über die Gedanken und Gefühle von Gerti, über ihre Lebensgeschichte sowie ihre Enttäuschungen und Erwartungen vor der zu erzählenden Begegnung mit dem Gendarmen14. ____________ 13
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Ihre Erzählung ist vielfach gekennzeichnet durch performative Deiktika wie ‚jetzt, nun, gerade, soeben; hier; so‘ und die Urheberschaft der Rede durch die Personalpronomen ‚ich/wir‘. Als Wahrnehmungsweisen werden sowohl Allsicht (nach Genette ‚Nullfokalisierung‘) als auch Mitsicht und Introspektion (‚interne Fokalisierung‘) sowie Außensicht (‚externe Fokalisierung‘) genutzt.
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Redewendungen wie „Vorsicht (dort gehts sicher fünfzig bis siebzig Meter weit senkrecht hinunter)“ sind einer ‚Stimme‘ nicht eindeutig zuzuordnen: Der Ausruf kann als Gedankenrede von Gerti, aber auch als Anrede der Erzählerin an die von ihr geschaffene Figur verstanden werden. Eindeutig zu erkennen sind dagegen in der oben wiedergegebenen Passage Redebericht und zitierte direkte Rede, obwohl dafür nicht alle möglichen Markierungen genutzt werden: „Sie sagt, was für sie Glück ist: daß er jetzt da ist, wie vereinbart. Ich liebe dich so.“ Die folgenden Sätze – „Jetzt haben Wunder die größte Bedeutung, weil sie bereits geschehen sind und wir stündlich neue Wunder hereinbekommen, die uns vielleicht noch glücklicher machen könnten [...]“ – können nicht eindeutig zugeordnet werden: Triviales wird als Lebensweisheit wie eine Ware ‚verkauft‘; das kollektive ‚wir‘, das mit solchen Waren handelt, ist in Jelineks Roman vielfach die ‚Stimme der Print- und Bildmedien‘ (Presse und TV), während das ‚uns‘ als Stimme der ‚Käufer‘ solcher Waren zu verstehen ist – zu dieser Gruppe gehört Gerti (‚uns‘ als Teil von Gedankenrede), aber auch die Erzählerin schließt sich in bestimmten Verhaltensweisen oder Rollensegmenten dieser Gruppe an. Das zweite ‚uns‘ („wie zwischen uns vereinbart“) bezieht sich dann allein auf Gerti (und ihren beutegierigen Geliebten). „Es ist aber nur das alte [Wunder]“ kann als ironischdesillusionierende Rede der Erzählerin gelten, die ihren Bericht zum Verlauf der Begegnung nun mit Allsicht fortsetzt; die Wendung von der „dummen Mauer da zwischen ihnen“ ließe sich zum einen als Übernahme von Figurenrede in die Erzählerrede, zum anderen als zitierte Gedankenrede von Gerti verstehen, während die abschließende Schilderung einer sich sarkastisch distanzierenden ‚Reportage‘ der Erzählerin zuzuschreiben wäre. Bereits angesichts solcher erster Textbeschreibungen zum Verschränken der unterschiedlichen ‚Stimmlagen‘ ist das narratologische Kategoriensystem dahingehend zu befragen, ob die implizite Metonymie von Stimme und Person nicht aufgegeben werden muss, ob unterschiedliche Stimmen auch unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen einer erzählten Figur oder des figurierten Erzählers zugeschrieben werden können. Um diesen Fragen am Beispiel von Jelineks „Unterhaltungsroman“ besser nachgehen zu können, soll der Zusammenhang von Wahrnehmen und Vermitteln in seinen einzelnen Aspekten für eine Typologie des Erzählverhaltens aufgeschlüsselt werden. Wir plädieren dafür, im narratologischen Begriffsgebrauch ‚Stimme‘ durch ‚Vermittlungsinstanz‘ und ‚Perspektive/Fokalisierung‘ durch ‚Wahrnehmung‘ zu ersetzen, er-
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schließen jedoch mit diesem Beitrag gemäß der Vorgabe ‚Stimme(n)‘ für die Wuppertaler Tagung insbesondere den Bezeichnungsbereich von ‚Stimme‘.
II. Um ein Instrumentarium für die Analyse der Stimmen in Gier zu gewinnen, modifizieren wir die Überlegungen von Wolf Schmid (2005) und ergänzen sie im Parameter ‚sprachliche Repräsentation‘ mit kennzeichnenden Begriffen von Dorrit Cohn (1978). Im systematisierenden Zuschreiben von Kategorien ist ‚Stimme‘ als Aspekt der Vermittlung einer Narration vom ‚Wahrnehmen‘ zu unterscheiden, in der textanalytischen Praxis sind jedoch beide Aspekte aufeinander zu beziehen. Deshalb bauen wir unser Beschreibungsmodell auf der Kopplung von Wahrnehmen und Vermitteln auf15. (a) ‚Figurales Wahrnehmen‘ liegt vor, wenn dem Wahrnehmen einer Figur oder mehrerer Figuren der erzählten Welt gefolgt wird, wobei die Figuren jeweils eindeutig zu benennen sind. (b) ‚Figurale Vermittlung‘ liegt vor, wenn die vermittelnde Erzählinstanz identisch ist mit der wahrnehmenden Figur. Wir sprechen in diesem Fall von einer Figuren-Identität zwischen der figural wahrnehmenden Instanz und der figural vermittelnden Instanz16. (c) Die Verbindung von ‚figuraler Wahrnehmung‘ und ‚narratorialer Vermittlung‘ liegt vor, wenn keine Identität zwischen figural wahrnehmender und vermittelnder Instanz (die zumeist nicht genauer expliziert ist) gegeben ist. (d) Kann kein figurales Wahrnehmen festgestellt werden, so fallen narratoriales Wahrnehmen und Vermitteln zusammen. Um die Relationen zwischen figuralem Wahrnehmen und figuralem bzw. narratorialem Vermitteln bestimmen zu können, greifen wir auf Wolf Schmid zurück. Erzählungen können in den Parametern17 ‚Zeit‘ und ____________ 15
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Auch Schmid (2005: 126), differenziert zwischen Erfassen und Darstellen: er kritisiert, dass „in den verbreiteten Modellen der Perspektive [...] diese Unterscheidung oft nicht gemacht oder nicht gebührend berücksichtigt“ werde. Allerdings nutzt er die Unterscheidung für sein eigenes Modell nicht entschieden genug. Auch die technizistisch klingende Ableitung ‚figural‘ bleibt noch dem anthropomorphen Bild von ‚Figur‘ verpflichtet. Die Untersuchung zu Gier wird aber im Weiteren zeigen, dass unser Verständnis von ‚Figur‘ über den anthropomorphen Kernbereich hinausgeht. Wir sprechen (einem Vorschlag von Jan-Christoph Meister, Forschergruppe Narratologie der Universität Hamburg, folgend) von Parametern – so auch Schmid (2005: 138-
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‚Raum‘ entweder figural18 oder narratorial vermittelt werden; in Bezug auf die Parameter ‚Disposition‘19 und ‚sprachliche Repräsentation‘20 gelten die gleichen Orientierungen, hier markieren sie jedoch nicht zwingend eine ‚Entweder-oder‘-Entscheidung, sondern die Randbereiche eines Kontinuums unterschiedlicher Ausprägung21. Für unser Modell nutzen wir zunächst die Unterscheidungsmöglichkeiten für Zeit, Raum und Disposition. Da die Frage nach der sprachlichen Repräsentation dem Thema der Wuppertaler Tagung „Stimme(n)“ am nächsten kommt, soll sie im Anschluss ausführlicher dargestellt werden. Innerhalb des Bereichs ‚figurales Vermitteln‘ wollen wir eine Binnenunterscheidung in 4 Typen einführen22. Bei Typ 1 bleiben die Parameter ____________ 18 19
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147); wir bedienen uns also auch nicht der bei Rimmon-Kenan entwickelten Terminologie der ‚Facetten‘ – vgl. Rimmon-Kenan (1983: 77ff.). Der Begriff ‚figural‘ gilt uns als voraussetzungsärmer als ‚personal‘ bei Schmid (2005: 132-136). Unter ‚Disposition‘ wollen wir emotionale, kognitive und wertende Einstellungen subsumieren, also Gefühle, Wissen, Werte. Es mag für manche Texte sinnvoll erscheinen, die Aspekte einzeln zu untersuchen. Unter ‚sprachliche Repräsentation‘ fassen wir die sprachliche Kompetenz und die Gestaltung der sprachlichen Äußerungen bzw. ihrer ‚Transformationen‘ zusammen. Schmid (2005: 138-142) gibt darüber hinaus noch als Parameter ‚Perzeption‘ an, wobei die spezifisch narratologische Relevanz dieser Kategorie nicht genauer festgelegt wird. Es soll damit wohl vor allem die Auswahl der vermittelten Geschehenselemente erfasst werden. Wir meinen, dass für die Textanalyse auf die Kategorie ‚Perzeption‘ verzichtet werden kann, weil sich die Aspekte, die damit ‚zusammenführend‘ erfasst werden, aus den übrigen Parametern gewinnen lassen. Mit seinem Modell der unterschiedlichen Parameter zum Wahrnehmen und Darstellen modifiziert Schmid Uspenskijs Modell, in dem ‚Wertung/Ideologie‘, ‚Phraseologie‘, ‚raum-zeitliche Charakteristik‘ und ‚Psychologie‘ unterschieden werden. Andere Differenzierungen finden sich bei Lintvelt (psychologisch-perzeptive, zeitliche, räumliche und verbale Facette) und Rimmon-Kenan (perzeptive, psychologische, ideologische Facette) – vgl. einführend zu den Parametern die Zusammenfassung bei Schmid (2005: 114-125). Vgl. das Schaubild im Anhang, welches in der Abgrenzung der Typen als grundsätzlich offen zu denken ist. Die Typen 1-4 (figurales Vermitteln), 5 und 8-9 beschreiben in der Literaturgeschichte häufig realisierte Konstellationen. Insbesondere Typ 8 ist für eine Beschreibung von Gier irrelevant, während sich die Typen 6 und 7 erst aus der intensiven Beschäftigung mit Elfriede Jelinek ergeben haben; letztere dürften jedoch auch für Texte anderer Autoren zeitgenössischer Literatur gelten. Die Typisierung soll zum einen die Bandbreite unseres Modells veranschaulichen und zum anderen dazu beitragen, in der Analyse zu Gier bestimmte Konstellationen zu beschreiben. Besonders zu beachten ist, dass in den Typen 8 und 9 auch andere Typen mit bestimmten strategischen Zielen strategisch eingesetzt werden. In diesem Fall kommt es zu einer
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Zeit, Raum und Disposition des figuralen Wahrnehmens im figuralen Vermitteln erhalten: Es wird synchron erzählt, das heißt der Zeitpunkt des figuralen Wahrnehmens entspricht dem Zeitpunkt des figuralen Vermittelns23; es wird ortsgleich erzählt, das heißt die räumlichen Verhältnisse des figuralen Wahrnehmens entsprechen denen des figuralen Vermittelns; es wird identisch erzählt, das heißt die figurale Disposition zur Zeit des Wahrnehmens entspricht der Disposition der Vermittlungsinstanz zur Zeit des Vermittelns. Im realistischen Erzählen muss gelten, dass bei synchroner figuraler Vermittlung auch ortsgleich und mit identischer Disposition figural vermittelt wird24. Ohne dass Zeit verstreicht, kann die figural vermittelnde Erzählinstanz weder den Raum wechseln, noch eine andere Disposition annehmen25. Typ 2 figuralen Vermittelns liegt vor, wenn nicht alle Parameter figuralen Wahrnehmens im figuralen Vermitteln erhalten bleiben. Für realistisches Erzählen bedeutet das, dass im figural organisierten Erzählen zumindest asynchron figural vermittelt wird. Zudem kann – es muss aber nicht – für den Parameter ‚Raum‘ ortsverteilt (der Raum zum Zeitpunkt des figuralen Wahrnehmens ist ungleich dem Raum zum Zeitpunkt des figuralen Vermittelns) und für den Parameter ‚Disposition‘ diskrepant (die Disposition zum Zeitpunkt des figuralen Wahrnehmens ist ungleich der Disposition zum Zeitpunkt des figuralen Vermittelns) vermittelt werden. Die Typen 3 und 4 sind an die Typen 1 und 2 angelehnt, die ihnen zugeordneten Figuren nehmen aber im Gegensatz zu den Figuren in Typ 1 und 2 nicht am Geschehen teil26. Die Vermittlung im Typ 3 gilt beispielsweise für den Live-Reporter einer Sportveranstaltung, die Ver____________
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Staffelung von Typen. Für einen anderen Bezugstext oder für differenzierende Feinbestimmungen sind gegebenenfalls aus den vier Parametern (gekoppelt mit der Unterscheidung zwischen figuraler und narratorialer Vermittlung) weitere Beschreibungsmöglichkeiten zu gewinnen. Im Einzelfall kann es sinnvoll sein, statt eines Zeitpunktes einen Zeitraum anzusetzen. Zugunsten einer kompakten Darstellung vernachlässigen wir bei den folgenden Überlegungen durchweg den Sonderfall des ‚fantastischen Erzählens‘. Zu subtilen Differenzierungen im Parameter ‚Disposition‘ siehe jedoch unten Fußnote 47. Für eine Bestimmung des Wahrnehmens ist es nicht unbedingt erforderlich, die Stellung des Erzählers zum Geschehen explizit zu machen. Diese Kategorie trägt jedoch zur Anschaulichkeit unseres Schaubilds (vgl. Anhang) bei, indem sie die Begrenztheit eines puristischen Typenmodells kompensiert, das für sich gesehen zu grob wäre, um wichtige, in der Literatur und im Alltag vorkommende Erzählphänomene zu erfassen – vgl. etwa den oben angesprochenen Live-Reporter.
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mittlung im Typ 4 entspricht beispielsweise der Zeugenaussage im Rahmen einer rekonstruierenden Beweisaufnahme. Typ 5 hat in unserem Schaubild eine Zwischenstellung: Er gehört nicht mehr zum Bereich figuralen Vermittelns und zeichnet sich durch die Dominanz bzw. hohe Anteile figuralen Wahrnehmens bei narratorialer Vermittlung aus. Dieser Typ wurde oft Reflektor genannt. Die Erzählinstanz vermittelt im Parameter Zeit synchron das figurale Wahrnehmen einer Figur. ‚Synchron‘ impliziert in dem Fall nicht (wie dies bei Typ 1 der Fall ist), dass nahezu gleichzeitig zum Wahrnehmen vermittelt werden muss (häufig kommt auch ein retro- oder prospektives narratorial organisiertes Vermitteln vor) – es bedeutet lediglich, dass die verwendeten ZeitDeiktika (z. B. ‚jetzt‘ und ‚morgen‘) auf die Position des figuralen Wahrnehmens verweisen. Im Parameter ‚Raum‘ wird das figurale Wahrnehmen mit Typ 5 ortsgleich vermittelt. In Entsprechung zur Kennzeichnung ‚synchron‘ bedeutet ‚ortsgleich‘, dass Orts-Deiktika wie ‚hier‘ und ‚dort‘ auf die Position des figuralen Wahrnehmens verweisen – die narratorial vermittelnde Erzählinstanz ist damit nicht zwingend als im erzählten Raum anwesend gedacht27. Unter dem Parameter Disposition kann in Typ 5 entweder identisch (im Sinne der figuralen Disposition) vermittelt werden oder diskrepant (in Annäherung an die zu erschließende Disposition einer Erzählinstanz)28. Für weitere Konstellationen narratorialen Vermittelns haben wir die Typen 6 bis 9 abgegrenzt. Bei Typ 6 und 7 liegt – angelehnt an die Typen 1 und 2 – eine Reduktion auf quasi-figurales Wahrnehmen vor, das heißt es wird das vermittelt, was in der erzählten Welt eine nicht weiter ausgeführte Figur29 wahrgenommen haben könnte. Quasi-figurales Wahrnehmen folgt in den Parametern Zeit und Raum dieser ‚Mimikry-Figur‘, die sich so verhält, als wäre sie in der erzählten Welt anwesend (bzw. als würde sie sich – beim asynchronen Typ 7 – autobiographisch an diese erinnern) und bezöge sich (positiv oder negativ) auf das Verhalten dort agierender anderer Figuren. In der Disposition sind unterschiedliche ____________ 27
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Ein Reflektor-Vermittler, der nur das zeitliche, nicht aber das räumliche bzw. nur das räumliche, nicht aber das zeitliche Orientierungssystem einer Figur übernimmt, ist unseres Erachtens schwer vorstellbar, ließe sich jedoch eventuell konstruieren. Damit ergibt sich die Möglichkeit einer lediglich partiellen Übernahme figuraler Wahrnehmung in den Parametern Zeit und Raum: Die Vermittlungsinstanz heftet sich an die raum-zeitliche Wahrnehmung einer Figur, übernimmt aber nicht deren Wertesystem. Vgl. als Beispiel aus Gier weiter unten Fußnote 67.
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Möglichkeiten denkbar. Auch hierfür kann die Mimikry fortgesetzt werden, das heißt es kann entweder eine identische Disposition oder aber eine diskrepante imitiert werden. Typ 8 ist in seiner narratorialen Vermittlung in der Regel durch eine zeitlich und/oder räumlich begrenzte Wahrnehmung bestimmt. Unter Einbezug von erzählten Wahrnehmungen aus anderen Positionen wird die begrenzte Wahrnehmung erweitert – etwa in der Rolle eines Chronisten, der Berichte und Dokumente sammelt, um sich für sein Erzählen kundig zu machen. Er kann diese Informationen dann (integrativ) mit der eigenen Disposition verbinden oder unterschiedliche Dispositionen in einem komplexen Zusammenhang vermitteln. Bei Typ 9 schließlich liegt ein Zusammenfall von prinzipiell ungebundenem narratorialem Wahrnehmen und narratorialem Vermitteln vor. Typ 9 ist in den Parametern Zeit, Raum und Disposition nicht immer mit konkreten oder eindeutigen Angaben festzulegen; insbesondere aber kann Typ 9 sich der Erzählweisen von Typ 1 bis 8 bedienen, um auf diese Weise bestimmte Strategien zum Lenken des Leserverhaltens zu nutzen. In der Vorbereitung für die Wuppertaler „Stimme(n)“-Tagung haben wir uns vor allem mit dem Thema ‚sprachliche Repräsentation‘ befasst. Nachdem wir dann über diesen Aspekt hinaus weitere Parameter zu einem ‚Stimme(n)‘- bzw. Wahrnehmungs- und Vermittlungsmodell zusammengeführt hatten, behielt die sprachliche Repräsentation eine Sonderstellung, die nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass im Fall der sprachlichen Repräsentation Sprache sich selbst repräsentiert30. Damit der Sprechakt einer Figur vom Adressaten des Erzählers31 (sprich vom Leser) wahrgenommen werden kann, muss die Rede von der vermittelnden Instanz berichtet oder gleichsam zitiert werden32. Die Kom____________ 30
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Aus dem Diskussionsverlauf ergab sich auch die Trennung der eigentlich eng zusammenhängenden Parameter sprachliche Repräsentation und Disposition, die in weiteren Forschungen enger zusammengeführt werden sollten, da beide wesentlich subtilere Unterscheidungen erlauben, als es bei den Parametern Zeit und Raum der Fall ist. Wir verwenden ‚Erzähler‘ als vermittelnde Instanz (sowohl für die Typen figuraler wie für die narratorialer Vermittlung) ‚unterhalb‘ der Instanz des ‚abstrakten Autors‘. So auch Rimmon-Kenan (1983: 108): “Language can only imitate language, which is why the representation of speech comes closest to pure mimesis, but even here—I believe [...]—there is a narrator who ‘quotes’ the character’s speech, thus reducing the directness of ‘showing’”. Ähnlich Genette [1972/1983](1998: 123): „Die ‚mimetischste‘ Form ist ganz offensichtlich die, [...] wo der Erzähler so tut, als rede nicht er, son-
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munikationsebene der Figuren liegt hierarchisch immer mindestens eine Ebene unter der Kommunikationsebene von Erzähler und Adressat der Erzählung. So muss auch in den Typen 1 und 2 der Erzähler seine eigene Stimme einsetzen, um aus der erzählten Welt die Rede einer Figur zu zitieren, so dass der Leser auf übergeordneter Ebene sie ‚vernehmen‘ kann; der Leser bleibt von der vermittelnden Instanz abhängig33. Grundsätzlich ist von einer Zweistimmigkeit besonderer Art auszugehen, für die der Leser, der die Stimme der vermittelnden Instanz ‚hört‘, die hierarchisch untergeordnete Stimme der Figur sich erschließen und ‚erschaffen‘ muss34. Dem Erzähler bieten sich verschiedene Möglichkeiten, wie er Rede vermitteln kann. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht von der berichteten Rede über die transponierte Rede bis hin zur zitierten Rede35. In der berichteten Rede ist der (sich vorzustellende) Wortlaut der Figurenrede am schwierigsten zu erschließen: Im Extremfall kann der Erzähler lediglich vermerken, dass auf Figurenebene überhaupt gesprochen wurde36. In der zitierten Rede dagegen zeigt schon die Bezeichnung an, dass – so die Fiktion – der Erzähler die Rede einer Figur direkt wiedergibt37. ____________ 33 34
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dern die Person.“ Vgl. dazu auch die Überlegungen in Platon Politeia 392c-394a, an die Genette anschließt. Dabei gilt die prinzipielle Annahme zur ‚Zuverlässigkeit‘ der Erzählinstanz. Schmid (2005: 154-156) will zwischen Personentext bzw. Personenrede einerseits und Erzählertext bzw. Erzählerrede andererseits unterscheiden: „In unserer Begriffsverwendung unterscheidet sich Text von Rede dadurch, dass er die Subjektsphäre der jeweiligen Instanz, ihre perzeptive, ideologische und sprachliche Perspektive in reiner, unvermischter Form enthält. Diese reine genotypische Form, in der der Erzählertext und der Personentext gedacht werden müssen, ist natürlich eine Abstraktion von der phänotypischen Gestalt, in der die der direkten Beobachtung zugängliche Rede vorliegt.“ Dass ‚Personen‘- und ‚Erzählertext‘ für Schmid als imaginäre Größen gelten, ist insofern irreführend, als gerade der Phänotyp einer Erzählung, wie er z. B. in Form eines Druckwerks vorliegt, von den wohl meisten Lesern intuitiv als ‚Text‘ (und nicht etwa als ‚Rede‘) aufgefasst wird. Uns ist hier jedoch die prinzipielle Unterscheidung zwischen Erzählerrede und Personenrede wichtig: Da der Erzähler als vermittelnde Instanz das alleinige Privileg hat, aus dem – bleiben wir bei Schmids Terminologie – ‚genotypischen Text‘ die ‚phänotypische Rede‘ werden zu lassen, gibt es im Grunde nur ‚Erzählerrede‘, in der gegebenenfalls bestimmte Passagen als ‚Figurenrede‘ (als Zitat des ‚Personentextes‘) ausgewiesen werden. Siehe dazu wiederum das hilfreiche Schaubild bei Martinez/Scheffel (2002: 62). Ein Beispiel wäre: „Sie unterhielten sich den ganzen Abend.“ Platon vermerkt für diesen Fall, dass die Erzählinstanz sich bemühen wird, die Rede möglichst ‚authentisch‘ wiederzugeben: „Aber wenn er [der Erzähler/Autor] irgendei-
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Zieht sich Gedankenrede einer Figur über eine längere Textpassage hin, so wird zumeist von einem Inneren Monolog bzw. bei inhaltlicher Ungeordnetheit der Rede von einem Bewusstseinsstrom gesprochen. Erstreckt sich die zitierte Rede über eine sehr lange Textpassage, so wird eine neue (eine ‚sekundäre‘) Erzählebene angelegt38. Metaphorisch wird oft formuliert, dass der Erzähler seine Stimme an die Figur abgebe. Doch führt weiterhin der primäre Erzähler die Stimme: Er ‚zitiert‘ in seiner Rede die als ‚direkt‘ fingierte Rede der Figur. Zwischen zitierter und berichteter Rede steht die transponierte Rede. In indirekter Rede werden Gedanken und Aussagen von Figuren vermittelt. Wie genau dabei im Wortlaut die fingierte Rede der Figuren erfasst wird, muss für den jeweiligen Einzelfall aus dem Kontext erschlossen werden. Insgesamt aber ist wohl Genette beizupflichten, der davon ausgeht, dass der Erzähler „die fremde Rede [...] verdichtet und seiner eigenen Rede integriert, sie also seinem eigenen Stil gemäß interpretiert“39. Einen Spezialfall der transponierten Rede bildet die sogenannte Erlebte Rede (‘free indirect discourse’)40. Sie ist unabhängig von einem übergeordneten Verb; ihr Basistempus und ihre grammatische Form gleichen Tempus und grammatischer Form der Erzählumgebung. Als charakteristisch für die Erlebte Rede gilt der ‘dual-voice’-Charakter41. Erzähler- und Figurenposition überlagern sich gleichsam (aber auch in diesem Fall ‚redet‘ die Figur mit Hilfe der Stimme des Erzählers). Unter Berücksichtigung der Passagen, die die Rede umgeben, muss, um Rede-Anteile zuordnen zu können, gefragt werden, ob der Sprachstil42 der Äußerung eher ____________
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ne Rede vorträgt, als wäre er ein anderer: müssen wir nicht sagen, daß er dann seinen Vortrag jedesmal so sehr als möglich dem nachbildet, von dem er vorher ankündigt, daß er reden werde?“ Platon (1994), Politeia 393c. Im Grunde ist die Eröffnung einer zweiten Erzählebene nicht mit einer bestimmten Textlänge verbunden, sondern lässt sich bereits ansetzen, wenn in einer zitierten Rede die Minimalvoraussetzungen des Erzählens erfüllt sind – so etwa durch das Vorliegen mindestens einer Sequenz mit einem Ereignis im emphatischen Sinn. Genette [1972/1983](1998: 122). Der Begriff ‚Erlebte Rede‘ ist bekanntlich nicht intuitiv überzeugend; im deutschsprachigen Raum hat sich seit Étienne Lorcks prägender Arbeit Die erlebte Rede von 1921 keine überzeugende und damit durchsetzungsfähige Alternative finden lassen. Die Bezeichnung ‘dual voice’ reicht zurück bis Pascal (1977). Ein hilfreiches Frageraster zur Ermittlung des Sprachstils bietet Nischik (1991: 58-64). Uspenskij [1970](1975: 26-68) untersucht unter „Phraseologie“ die sprachliche Relation von Erzähler- (bei ihm Autor-) und Figurenstimme und erörtert mehrere Beispiele für die Wechselwirkung der Stimmen. Einen Merkmalskatalog gemäß seiner Parameter
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auf den Erzähler oder auf die Figur verweist. Im Einzelfall kann diese Abgrenzung sehr schwer fallen43. Um den Unschärfebereich bei Überlagerungen von ‚Text‘, der dem Erzähler, und ‚Text‘, der einer Figur zuzuschreiben ist, in der Rede besser beschreiben zu können, hat Dorrit Cohn eine neue Terminologie eingeführt: In psychological novels, there is considerable variation in the manner of narrating [...] consciousness. These variations range between two principal types: one is dominated by a prominent narrator who, even as he focuses intently on an individual psyche, remains emphatically distanced from the consciousness he narrates; the other is mediated by a narrator who remains effaced and who readily fuses with the consciousness he narrates.44
Erzählerdistanz zum Figurenbewusstsein nennt Cohn in der Folge “dissonance”, Erzählernähe zum Figurenbewusstsein “consonance”. Konsonanz herrscht demnach vor, wenn der Erzähler im Figurenbewusstsein aufgeht und sich zurücknimmt, Dissonanz herrscht vor, wenn der Erzähler – zum Beispiel über ironisierende, bloßstellende Wortwahl – stets spürbar bleibt45. Wir wollen diese Terminologie aufgreifen und in unser Beschreibungsmodell einarbeiten46. ____________
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der Perspektive gibt Schmid (2005: 138-149) an. – Im Zweifelsfall mögen auch die Inhalte der Rede (bzw. die darin angesprochenen Werte und Normen) Hinweise liefern, ob die Rede eher dem Erzähler oder einer Figur zuzurechnen ist. Zuschreibungen dieser Art sind zwar nicht geeignet, eine plausible Interpretation zu begründen, sie können eine solche jedoch stützen. So auch Hübner (2003: 51) zur Abgrenzung der indirekten Rede gegenüber der Erlebten Rede: „Die Frage, wann man es mit erlebter Rede zu tun hat und wann nicht, hängt natürlich vor allem von der Definition des Begriffs ab. Die Debatte der letzten Jahre hat bei aller Diversität gezeigt, daß erlebte Rede nicht aufgrund sprachlicher Merkmale, sondern nur kontext- und funktionsabhängig definiert werden kann und daß es deshalb kaum möglich scheint, klare Grenzen zur Erzählerrede auf der einen Seite und zur indirekten Figurenrede auf der anderen Seite zu ziehen.“ Cohn (1978: 26). In Abgrenzung zu Cohns Bevorzugung von ‘psychological novels’ hat Alan Palmer kürzlich darauf hingewiesen, dass die Bewusstseinsdarstellung in ‚nicht psychologischen‘ Erzähltexten generell unterschätzt werde – vgl. Palmer (2004: 58f.). Vergleiche dazu auch Bachtins Konzeption der Hybridität, für die Folgendes gelten soll: „Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositionellen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ‚Sprachen‘, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen“ (Bachtin [1934/35/1975](1979: 195)). Konsonanz wäre in unserer Begrifflichkeit gegeben, wenn
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Beginnen wir wiederum mit dem figuralen Vermitteln. War Typ 1 vor allem in den Parametern Zeit und Raum eindeutig festzulegen, so ist er es im Parameter ‚sprachliche Repräsentation‘ nicht zwingend. Es ist denkbar, dass die Redeweise im figuralen Vermitteln mit der Sozialisation der Figur nicht übereinstimmt47. Gibt es dafür keine Anzeichen, so sprechen wir von konsonantem figuralem Vermitteln; finden sich jedoch entsprechende Merkmale, so stehen sie für dissonantes figurales Vermitteln. Diese Möglichkeit der Dissonanz ist auch für Typ 2 denkbar. Weit häufiger genutzt wird aber eine andere Konstellation: Ein exemplarisches Beispiel für Dissonanz ist dann gegeben, wenn in einer Autobiographie über Erfahrungen aus der Kindheit in direkter oder transponierter Rede mit der Sprache eines alten Mannes erzählt wird – die Dissonanz beruht hierbei auf der Asynchronität48. ____________
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die vermittelnde Instanz die erschlossene zugrunde liegende Rede nicht verändert, Dissonanz wäre gegeben, wenn die vermittelnde Instanz die erschlossene zugrunde liegende Rede verändert. Zuletzt hat auch Hübner (2003: 53f.) wieder versucht an die Begrifflichkeit Cohns anzuschließen, seine Terminologie bleibt jedoch unscharf. Martinez/Scheffel (2002: 83) unterscheiden im Anschluss an Cohn für den autodiegetischen Erzähler „zwischen einer konsonanten und einer dissonanten Form“ [Hervorhebung Martinez/Scheffel]. Konsonanz ist demnach gegeben, wenn die Instanzen von erzählendem und erlebendem Ich „nahezu identisch“ sind, Dissonanz ist gegeben, wenn sie „weit auseinandertreten“. Unser Modell kann mit Typ 2 die Differenzen zwischen erlebendem und erzählendem Ich in vier Parametern deutlich feiner bestimmen. Die Begriffe der ‚Konsonanz‘ und ‚Dissonanz‘ dagegen sollen ausschließlich dem Parameter sprachliche Repräsentation vorbehalten bleiben. Damit ergeben sich subtile Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb von Typ 1, während die ersten Ausführungen zu diesem Typ (vgl. die einführenden Bemerkungen im Kontext von Fußnote 22) prototypisch angelegt waren. In subtiler Differenzierung der oben zur Disposition beschriebenen Konstellation kann eine übergeordnete Erzählinstanz die Übereinstimmung im Wahrnehmen und Vermitteln aufbrechen, etwa indem die Disposition und/oder sprachliche Repräsentation der Vermittlungsinstanz nicht zu ihrer Sozialisation passt. Dies kann besonders gut in der sprachlichen Repräsentation der figuralen Vermittlung nachvollzogen werden – siehe dazu weiter unten Fußnote 69, wo auf ein Beispiel aus Gier verwiesen wird, in der die Figur Gerti als sekundäre Erzählerin spricht. Vgl. aber auch Gier, S. 287f. mit (manipuliert) dissonanter Figurenrede Gertis (ab S. 287, Zeile 9). Dissonanzen aufgrund von ‚Eingriffen‘ in die Rede der Figuren (incl. der direkten Rede des erzählten Ichs) können annähernd neutral erfolgen, wenn die zugrunde liegenden Figurenreden ‚nur‘ zitiert oder transponiert werden; sie lassen sich beispielsweise auf eine dynamische Entwicklung der Vermittlungsinstanz zurückführen – vgl. die Konstellation ‚Autobiographie‘. Dissonanzen können aber auch strategisch moti-
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Auch bei den Typen 3 und 4 kann in der sprachlichen Repräsentation dissonant vermittelt werden. Was bezogen auf Typ 4 bereits aufgrund der Asynchronität nahe liegt, bleibt bei Typ 3 wiederum den subtilen Eingriffen einer übergeordneten Erzählinstanz vorbehalten. Für den ZwischenTyp 5 ergibt sich Konsonanz, wenn ohne erkennbare (figurenfremde) sprachliche Manipulation vermittelt wird; Dissonanz liegt dagegen in dem Maße vor, wie die sprachliche Vermittlung als ‚figurenfremd‘ erscheint und narratoriale Spezifika erkennen lässt. Die Mimikry-Typen 6 und 7 lassen sich in gleicher Weise weitergehend modifizieren. Typ 8 kann Rede entweder eher auf die figurale Position des Wahrnehmenden bezogen (homogen) präsentieren oder aber sie durch Einbezug anderer figuraler Positionen ergänzen (komplex). Typ 9 dagegen ist – wie schon in den Parametern Zeit, Raum und Disposition – auch in der sprachlichen Repräsentation als Sonderfall zu betrachten, da er ohne figurenähnliche Konturen bleiben kann und insofern in seiner Sprachgestaltung frei ist. Wie bereits weiter oben erläutert, kann Dissonanz nur in Ansätzen oder aber sehr stark ausgebildet sein.49 Höchste Konsonanz ist in der Regel gegeben, wenn die (fiktive) Rede der Figur zitiert wird. Die Analyse zu Gier zeigt jedoch, dass man sich dessen nicht allzu sicher wähnen sollte50, und es liegt auf der Hand, dass (auch punktuelle) Bruchstellen, die den regelgemäßen Erwartungen widersprechen, für Bedeutungszuschreibungen im Sinne einer literaturwissenschaftlich reflektierten Inter-
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viert sein, etwa wenn die zugrunde liegende Rede der Figuren ‚desavouierend zur Schau gestellt‘ wird. Zulassen wollen wir auch Zuschreibungen in der Art von ‚Der Sprachstil dieser Textstelle verweist eher auf die vermittelnde Instanz als auf die Figur.‘ Möglicherweise können nicht alle Textpassagen eindeutig zugeordnet werden – somit eröffnet sich ein Spielraum für differente Interpretationen. Ein Beispiel dafür bietet schon Uspenskij [1970](1975: 54ff.); vgl. auch Schmid (2005: 154): „Zumindest die Regeln der Fiktion wollen, dass der Leser die Reden der Person als authentische Wiedergabe des unvermischten Personentextes [zu Schmids Definitionen von ‚Text‘ und ‚Rede‘ siehe Fußnote 34] auffasst. Wir haben indes gesehen, dass die Personenrede den Personentext keineswegs vollmimetisch wiederzugeben braucht. Der Erzähler kann dem reinen Personentext eine narratoriale Beimischung geben, entweder unbewusst, aus mangelnder Kompetenz zur authentischen Wiedergabe fremder Rede, oder bewusst, mit bestimmten Intentionen.“
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pretation einen wichtigen Bezugspunkt darstellen können51. Außerdem kann eine besonders ausgeprägte Konsonanz oder Dissonanz im Parameter ‚sprachliche Repräsentation‘ Rückschlüsse zum Parameter der jeweils geltenden Dispositionen nahe legen52. Für eingehende Textanalysen sind also im konkreten Einzelfall die Parameter Zeit, Raum, Disposition und Sprache in ihrem wechselseitigen Bezug zu beschreiben. Insofern können die kategorialen Abgrenzungen von Modus und Stimme nicht mehr aufrechterhalten werden – so hilfreich sie für einen ersten beschreibenden Zugang zum Erzähltext sein mögen53. Abschließend zu diesem allgemein-narratologischen Teil bleibt festzuhalten, dass die Typologie im anhängenden Schaubild nur erste Orientierungen (und insbesondere eine Analyse-Hilfe für Gier) geben will, d. h. sie ist offen für Erweiterungen und Differenzierungen. So ist es denkbar, dass sich mit Hilfe eines erheblich erweiterten Modells nicht nur einzelne Erzähltexte, sondern auch charakteristische Konstellationen im literaturund kulturgeschichtlichen Prozess beschreiben lassen. Um den zweiten Schritt nicht vor dem ersten auszuführen, sollen solche Unternehmungen hier zugunsten einer detaillierten Textanalyse von exemplarischen Passagen aus Gier zurückgestellt werden.
III. Auf der Grundlage der voranstehenden Überlegungen haben wir versucht, für einen längeren Textauszug unterschiedliche Vermittlungsweisen zu ____________ 51
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Schmid (2005: 224f.) bezeichnet mit Recht „ein breites Spektrum möglicher Formen mit unterschiedlichen Wertungsrelationen, die von der Empathie über die humoristische Akzentuierung, die kritische Ironie bis zur vernichtenden Verhöhnung reichen.“ Schmid (2005: 129), geht davon aus, dass der Parameter Disposition („ideologische Perspektive“) in anderen Parametern enthalten sein kann. Mit Schmid wäre zwischen direkter (expliziter) und indirekter (impliziter) Wertung zu unterscheiden. Nicht zustimmen können wir den Ausführungen von Martinez/Scheffel (2002: 29), die „Fragen, die vorrangig den Sprachstil einer Erzählung betreffen (also das Sprachniveau, das verwendete Vokabular, die syntaktische Struktur der Sätze, Redefiguren u.ä.)“, nicht als „Gegenstand einer narratologischen Analyse im engeren Sinn“ sehen. Zwar gestehen Martinez und Scheffel im folgenden Satz zu, dass „auch diese Fragen für die Analyse einer Erzählung von Bedeutung sind“, doch gehören Aussagen beispielsweise zum ‚Modus‘ durchaus zu einer narratologischen Analyse ‚im engeren Sinn‘, und sie können oft nur getroffen werden, wenn sprachlich-stilistische Phänomene von Erzähler- und Figurenrede beschrieben werden.
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kennzeichnen (vgl. Anhang). Darüber hinausgehend lässt sich für den Gesamttext die nachfolgende Konstellation beschreiben. Für Gier ist zunächst eine primäre Erzählinstanz anzusetzen54, die nicht von einer deutlich profilierten ‚Erzählperson‘ wahrgenommen wird, sondern von einem Ich, das seine Rede in mehreren Rollen führt: Zum einen (1) als figurierte Erzählerin55 in den Rollen (1.1) als Beobachterin (‚ja, ich sehe es‘/‚sehe etwas nicht mehr‘) eines als ‚real‘ imaginierten Geschehens, ausgestattet mit begrenztem Wissen (TYP 3)56; (1.2) als verunsicherte Erzählerin, die sich um die erzählende Vermittlung eines scheinbar unabhängig von ihr ablaufenden Geschehens bemühen muss57; (1.3) als selbstbewusst-‚allwissende‘ Erzählerin, die ‚allmächtig‘ über das Geschehen herrscht, es dirigiert sowie im Sinne von ‚Metafiktion‘ das Erfinden und Schreiben thematisiert58 (TYP 9); (1.4) als Erzählerin, die ihr narratives Vorgehen (im Sinne von selbstreflexivem Erzählen und Metanarration59) definiert, reflektiert und kommentiert60; (1.5) als Erzählerin, die um ihre öffentliche Reputation als Autorin von Erzählprosa ____________ 54
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Als sekundäre (intradiegetische) Erzählerin wird (als erzählte Figur) nur Gerti eingesetzt (Gier, S. 119f), die ihrerseits – so die Fiktion – der primären Erzählerin den Auftrag zum Erzählen gegeben hat (vgl. S. 461: „ich wurde von ihr nur benachrichtigt, dies aufzuschreiben“). Eine ‚Figur‘ wird in Umrissen sichtbar – mit Aussagen zur Herkunft („[...] auf der einen Seite bis nach Mariazell, auf der andren nach Mürzzuschlag, ich komme von dieser Gegend seit Ewigkeiten nicht mehr los, die ebenfalls, wie ich, die Unauffälligkeit selber ist, aber doch auch eine Fessel.“ Gier, S. 81) sowie zu Einstellungen und Besonderheiten (die Erzählerin ist zum Beispiel „nicht gläubig“ (S. 421), fährt kein Auto (S. 410 und 418), gehört nicht mehr zu den jungen Menschen (S. 192) und hat Vorbehalte gegen die österreichische Regierung (S. 361)). Mit Großbuchstaben – z. B. TYP 3 – verweisen wir auf Einordnungen aus dem oben entwickelten Schaubild, wobei deutlich wird, dass die Typen für die Textanalyse von Gier im Hinblick auf zuzuordnende ‚Rollensegmente‘ weiter differenziert werden müssen. „Ruhe. Jetzt spreche ICH. Und ich spreche als Frau. Ich möchte auch einmal etwas sagen dürfen, wenn ich schon die ganze Zeit schreiben muß.“ (Gier, S. 137). Der Appell richtet sich metaleptisch an die Figuren Gerti und Kurt. „Nur ich weiß alles, weil ich es eigens mit Wasser-Farben ausgeführt habe, ist das nicht unerträglich verdünnt?“ (Gier, S. 150). Zum selbstreflexiven Erzählen und zur Metanarration siehe auch Scheffel (1997) und Nünning (2001). „Ich dagegen bin hier, wie ich merke, unermüdlich in meiner Beschilderungswut!“ (Gier, S. 88).
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besorgt ist und auf Urteile der Literaturkritik reagiert61; (1.6) als aggressive und sarkastische Kommentatorin zu Verhaltensweisen von Figuren und Figuren-Gruppen sowie als Kommentatorin der politischen Verhältnisse (insbesondere Österreichs)62; (1.7) als Vermittlerin von Alltagsweisheiten und banalen, mitunter aber auch ‚abgründigen‘ Kalauern63; zudem pflegt sie (1.8) die Anrede an sich selbst64, an Leser65 und – metaleptisch – an Figuren66. Zum anderen ist dieses erzählende Ich auch (2) eine ‚QuasiMitspielerin‘ im Geschehen, die individuell agiert oder einbezogen ist (2.1) in ein kollektives ‚wir‘ von erzählten Figuren oder Institutionen der erzählten Welt67 (ein ‚wir‘, das zudem noch die Leserschaft oder bestimmte Leser- und Leserinnengruppen einschließen kann); in ihrer Rede – in der ‚Kollektivstimme‘ (in der Redeform des Andere einschließenden ‚wir‘) – werden Einstellungen und Denkweisen von Figuren und Figurengruppen zum Zweck der Kritik repräsentiert (das Ich spricht für diese und
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Am Anfang des Romans gibt sich die Erzählerin ein Motto vor: „Das wirft man mir oft vor, daß ich dumm dastehe und meine Figuren fallenlasse, bevor ich sie überhaupt habe, weil sie mir offengestanden rasch fad werden.“ (Gier, S. 13) Hier scheint die Stimme der Literaturkritik gegenüber der Autorin Elfriede Jelinek aufgenommen zu werden. Der Roman liest sich dann auch als Erfüllung des Vorwurfs – so auch Detering (2000: 16). Der Aufstieg von Jörg Haider wird zum Beispiel in Gier, S. 108, S. 144 und S. 200 verarbeitet, die Lewinsky-Affäre ist auf S. 67 thematisiert. Vgl. Bayer (2005: 267, 271-277). „Andre wohnen im See, nein, das können Sie nicht sagen, Autorin, wenn jemand in einem See schläft, heißt das noch nicht, daß er dort auch wohnt.“ (Gier, S. 317). „Was ist denn das? bitte schreiben Sie mir unverzüglich, falls Sie es wissen!“ (Gier, S. 234). Siehe das Beispiel aus obigem Textauszug – „Vorsicht! (dort gehts sicher fünfzig bis siebzig Meter weit senkrecht hinunter)“ (Gier, S. 284) – oder das Beispiel aus Fußnote 57. Die Erzählerin übernimmt im Sinne einer Mimikry die Disposition der Figuren oder die ‘personal identity’ von Institutionen (z. B. in typischen Einstellungen sowie Handlungsweisen ihrer Mitglieder) und ihr Sprachverhalten. Beispielhaft zeigt sich das schnell wechselnde ‚wir‘ in folgendem Ausschnitt: „Da hat einer bei uns Schulden, aber er stellt sich für die Bezahlung nicht zur Verfügung, was machen wir da? Wir sitzen in den bequemen Fauteuils der uns entsprechenden Filiale herum, haben unsren Spaß [...]“ (Gier, S. 29). Verweist das erste ‚wir‘ im ersten Satz noch auf eine Mimikry mit der „Raiffeisen“-Bank, so verweisen ‚Wir‘ und ‚uns‘ im folgenden Satz auf eine Mimikry mit einer der erzählten Figuren.
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mit diesen Figuren, um sie der Kritik auszusetzen – TYP 6 und 7)68; oder (2.2) die Erzählerin imitiert die männliche Darstellung von Geschlechtsverkehr nach dem Muster von Autoren von de Sade über Philipp Roth bis zu Michel Houellebecq. Auch hier werden in der sprachlichen Mimikry bestimmte Wahrnehmungs- und Vermittlungsweisen kritisch ‚nachgestellt‘. Jeder dieser Rollen – die in einander ergänzender, aber auch widerspruchsvoller Weise korreliert sind – könnte eine eigene Stimme zugeordnet werden; die Erzählerin hat nicht ‚ihre‘ (und eine) Stimme, sondern sie wechselt zwischen den Stimmen (Erzählerstimme, Kollektivstimme, Figurenstimme69), wie ein Chamäleon die Farbtöne seiner Außenhaut wechselt. Rollen-, Fokalisierungs- und Stimmenwechsel werden oft nicht oder nur schwach markiert. Selbst die kategoriale Trennung zwischen der realen Autorin und der Erzählinstanz des Textes sowie zwischen heterodiegetischer (ggf. auch homodiegetischer) Erzählinstanz und erzählten Figuren (insbesondere Gerti) wird verwischt70. Wer da eigentlich redet, ist in den gleitenden Übergängen zwischen Erzählerkommentaren und Figurenmonologen, zwischen Reflexion und Rollenprosa bald kaum mehr auszumachen. Keine unterscheidbaren Stimmen mehr, sondern die Sprache selbst ist es, die da raunzt und grölt und feixt. [...] Aus den Klangeffekten dieser Stimmenimitation komponiert die Erzählerin den Soundtrack einer mopsfidelen Bestialität, kako71 phonisch und kakanisch.
In diesem ‚Soundtrack‘ erklingen auch Stimmen, die nicht durch Figuren in die erzählte Welt eingebunden sind: Zitate aus Werbung, Presse und Fernsehen; Sprichwörter (oft modifiziert), Zitate aus Volksliedern, Agitprop, Chansons und Pop-Songs; intertextuelle Verweise auf die Bibel, ____________ 68
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Das ‚wir‘ wirkt als (Einstellungen bezeichnendes) kollektivierendes ‚wir‘ – ‚wir frustrierten Frauen‘ – oder als rhetorisch aufforderndes ‚wir‘ – ‚jetzt wollen wir erst einmal schön gewaltsam zuschlagen‘. Figurenstimmen, Kollektivstimmen und Erzählerstimmen sind nur schwer zu unterscheiden, da sie vielfach im gleichen Sprachstil präsentiert werden. So wird zum Beispiel Gerti per Doppelpunkt als sekundäre Erzählerin (TYP 1 und TYP 2) eingeführt (Gier, S. 119ff.), bedient sich dann aber ebenfalls der Leser-Anreden und übernimmt die Kalauer der Erzählerin. Die sprachliche Repräsentation ist eindeutig dissonant in Annäherung an die übergeordnete Erzählinstanz. Vgl. Detering (2000: 15f.): Die „Grenze zwischen Erzählfiktion und Autorschaft“ wird „so weit wie möglich“ unterlaufen, um – mit Jelineks Worten – „Erzählgeröll“ zu produzieren: alles gleitet und rutscht. Detering (2000: 17).
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kanonische Belletristik72, fingierte Publikationen und Selbstzitate zum Werk der Autorin (z. B. zu Die Klavierspielerin)73. Das ‚Wie‘ des Erzählens ist in Gier angesichts eines zu vermittelnden „Restbestand[s] an Geschehen“74 intensiver ausgearbeitet als das ‚Was‘75. In diesem „Unterhaltungsroman“ sind die ‚Unterhaltungen‘, die von der Erzählerin geführt werden, wichtiger als das Unterhaltende der sex-andcrime-story. Der ‚Vielstimmigkeit‘ der Erzählinstanz entspricht auf der Figurenebene76 eine Vielzahl von figuralen Redeformen wie Innerer Monolog, Erlebte Rede, berichtete und zitierte Gedankenrede sowie szenische Wechselrede (die auch als monologische Rede erscheint, zu der die ausgesparte Gegenrede des Partners aus den Repliken des Redeführenden zu erschließen ist). Zwischen diesen Redeformen wird oft mit ‚gleitenden Übergängen‘ hin und her gewechselt, d. h. der jeweilige Typus der Redeform wird an seinen Grenzen in seinen kennzeichnenden Merkmalen gleichsam ‚verschlissen‘ (dies gilt insbesondere für die Erlebte Rede und die Gedankenrede). Mit solchen Erfahrungen zu Gier wären die narratologischen Standard-Definitionen für diese Redeformen zu bedenken und gegebenenfalls zu verändern – insbesondere für die Kennzeichnungen mit ‚autonom‘77. Vielfach findet sich auch Erlebte Rede im Präsens78, da diese ____________ 72 73
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Der letzte Satz des Romans („Es war ein Unfall“) verweist auf den letzten Satz von Ingeborg Bachmanns Malina: „Es war Mord“. Setzt man dafür den Begriff ‚Montage‘ ein (vgl. den Beitrag von Fotis Jannidis in diesem Band), so wird der Bildbereich des Akustischen zugunsten des für ‚Stimmen‘ eigentlich ‚unzuständigen‘ Visuellen verlassen. Gegenüber Deterings akustisch konnotierter Variante hat Jannidis’ metaphorischer Rückgriff auf die Filmsprache jedoch den Vorteil, dass er sich heute nicht mehr so sehr von einem modisch-inflationären Gebrauch abzusetzen braucht, wie es – spätestens seit der Popliteratur-Rezeption – beim Begriff ‚Soundtrack‘ notwendig geworden ist. Detering (2000: 15). So lässt sich auch der Erzählvorgang auf ungefähr Anfang/Mitte 1999 bis Anfang 2000 datieren (vgl. u. a. die Verweise auf die Lewinsky-Affäre – Gier, S. 67, auf „Prinzessin Caroline mit ihrer neugeborenen Tochter aus dem Krankenhaus in Vöcklabruck“ [Geburt am 20.07.1999] (S. 205), auf das Zugunglück in Norwegen am 04.01.2000 (S. 408), wogegen das Geschehen chronologisch nicht genau festgelegt werden kann. Eine ‚Stimme‘ können nicht nur Figuren erhalten, so sprechen zum Beispiel auch der Penis von Kurt Janisch (Gier S. 169) oder ‚das Wasser‘ (S. 366f). Vgl. Martinez/Scheffel (2002: 62): ‚autonom‘ in Verbindung mit direkter Rede und Innerem Monolog; die Inneren Monologe von Gerti sind nicht ‚autonom‘, sondern überlagert mit Erzählertext, d. h. dissonant.
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Zeitform über weite Strecken das Basis-Tempus der Erzählumgebung darstellt. Der Wechsel – oder besser: das Gleiten – der Rede der Erzählerin (in einer der oben beschriebenen Rollen) in die Figuren-Rede wird häufig nicht markiert: Die Stimme der Erzählerin ‚verwandelt‘ sich in die Stimme einer Figur (oder umgekehrt), so dass die Frage ‚Wer spricht?‘ oft nur mit erheblichem analytischen Aufwand zu beantworten ist. Will man sie stellen und beantworten, müssen zumeist Anschlussfragen im Sinne des ‚Modus‘ formuliert werden: Von welcher raumzeitlichen Position wird gesprochen? In welcher Verhaltensweise (resultierend aus bestimmten Normen- und Werte-Positionen) nimmt der/die Sprechende wahr? Wie (in welchem Sprachstil) wird formuliert? Daraus folgt, dass die – prinzipiell nützliche – Unterscheidung zwischen Stimme und Fokalisierung an Stringenz verliert. Schließlich gibt die Erzählinstanz in Gier auch ein Beispiel dafür, dass die (an die Vorstellung einer Person gebundene) alternative Zuordnung zu einer heterodiegetischen oder homodiegetischen Erzählinstanz nicht zu halten ist. Die Erzählerin bewegt sich im ‚Raum‘ des erzählten Geschehens (zu dem ihr Erzählen weithin simultan abläuft), ohne eigentlich ‚Mitspielerin‘ zu sein oder auf eine bestimmte Beobachterposition festgelegt zu werden; sie nimmt sowohl heterodiegetische als auch homodiegetische Positionen ein79.
IV. Unsere typologisierende Analyse hat zum Ziel, das ‚Gewirr‘ der Stimmen zu ordnen, um zu klären, wo die Erzählerin ‚auf eigene Rechnung‘ spricht und wo sie zum Zweck der Kritik imitiert und parodiert, wo sie provoziert, sich selbst inszeniert oder sich mit Literaturkritik und Leserschaft ____________ 78
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Zudem lässt sich auch Erlebte Rede in der 1. Person kennzeichnen. Vom Inneren Monolog lassen sich diese Passagen zumeist durch Überlagerungen mit Erzählerrede, narratoriale Vermittlung und eine geringere Ausdehnung abgrenzen. Vgl. bei Martinez/Scheffel (2002: 82): Für das Beispiel von Madame Bovary wird darauf verwiesen, dass bei der Erzählinstanz von der 1. Person Plural (homodiegetisch) in die 3. Person Singular (heterodiegetisch) gewechselt wird. Bei Elfriede Jelinek ist eine solche Unterscheidung jedoch prinzipiell aufgehoben – wie auch die Trennung von realem Autor und Erzählinstanz. Ähnlich verfährt Jelinek in ihrem Theaterstück Das Werk, wo die Autorin (von einer Schauspielerin dargestellt) in ihrem Stück selbst auftritt und Anweisungen gibt.
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auf ironische Weise solidarisiert. Diese Klärung betrifft insbesondere das Verhältnis zwischen Erzählerin und Gerti. Es zeigt sich, dass die Erzählerin ihre Figur Gerti vor allem ‚vorführt‘ und sich darin deutlich von ihr distanziert80. Die Erzählerin weist Gerti – als Vertreterin eines bestimmten Typus der ‚bürgerlichen Frau von heute‘ – die Schuld zu an ihrem ‚wünschereichen Unglück‘81. Aus einer solchen Zuweisung wäre so etwas wie Resignation gegenüber den Aufklärungsleistungen feministisch engagierter Belletristik zu erschließen82 – und überhaupt die Absage an das literarische Vermitteln von ‚Gesinnung‘ durch das Engagement einer authentischen ‚Erzählperson‘. Trotz der figuralen Konturierung erscheint die Erzählerin in Gier als Chamäleon; sie entzieht sich möglichen Festlegungen durch sprachliche Mimikry, durch Redensarten und Kalauer (im Sinne trivialisierter Konversation) sowie durch sprachspielerische ‚Kunststücke‘83. Über diesen Aspekt hinaus kann die Untersuchung zur spezifischen Organisation von Stimmen ein ‚Deutungskonzept‘ erhellen, das sich für Elfriede Jelineks Dramentexte und Erzählprosa seit Ende der 1980er Jahre herausarbeiten lässt: Die ‚vorgeführte Rede‘ (in der Erzählprosa vielfach auch die Erzählerrede) speist sich aus dem Erwartbaren bzw. Bekannten und bereits Gesagten84: In der Welt von heute gibt es kein authentisches ____________ 80 81
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Eine solche Distanzierung gilt bereits gegenüber der Figur Gerti in Elfriede Jelineks Roman Lust (1989). Vgl. zum Beispiel Gier, S. 117: „Alle ihre [gemeint ist Gerti] Türen stehen die ganze Zeit sperrangelweit offen, merkt sie das denn nicht, es zieht, sie sollte sie endlich schließen“ oder S. 267: „Ich habe sie [Gerti] jetzt lange genug zurückgehalten, um mich ihrer Sache anzunehmen, soll sie ihn auffressen und ihm dafür das ganze Geschirr und das Haus drumherum übergeben. Sie wird von ihm verdaut werden und verschwinden, spurlos. Das sehe ich schon im voraus.“ Vgl. zum Beispiel Gier, S. 440: „Wir haben nicht Schwarz unterm Nagel gestohlen, wir haben den Dreck unter den Nägeln vom Garteln bekommen, und die machen wir jetzt weiter, diese gesunde Arbeit, bevor wir noch selber unter die Erde kommen. Vorher sollte man uns schon noch ein paarmal lieb anschaun, um uns erkennen zu können, als Frauen. Wir erheben uns heute wieder einmal recht deutlich über die Männer. Sehen Sie uns? Daß wir heute einen Beruf haben und unabhängig sind, versteht sich von selbst. Was habe ich alles darüber geschrieben, und es ist vollkommen unnötig gewesen.“ Elfriede Jelineks Erzählerin erscheint als eigenständige Ausprägung des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ und der Verunsicherung der Leser, vgl. Bayer (2005: 266, 270f.). Im Programmheft (S. 20) zu ihrem Theaterstück Das Werk (Uraufführung am 11. April 2003 am Wiener Burgtheater) äußert sich Elfriede Jelinek selbst zu ihrer ‚Technik der Montage‘: „Dieses Nebeneinander all der Ebenen und Sprachstränge dient mir dazu,
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Wahrnehmen und Vermitteln, Erleben und Sprechen. Nicht nur das ‚Was‘ (story/plot) ist schematisiert, sondern auch die Redeweise der vermittelnden Instanzen. Ein Drama, ein Roman (und speziell ein „Unterhaltungsroman“) wird zusammengesetzt aus bereits Erlebtem und Gesagtem, aus dem Materiallager der ‚öffentlichen (durch ‚Public Relations‘, Werbung, Presse und Fernsehen vermittelten) Unterhaltungen‘.
____________ mich durch fremdes Sprachgewirr, Fetzen von Zeitungsartikeln, Werbeplakaten, volkstümlichen Sprichwörtern, philosophischen Diskursen, etc. etc. durchzuarbeiten, mich durch das Gerede-Dickicht hindurchzukämpfen [...].“ In Das Werk wird ein ‚Erzählertext‘ auf unterschiedliche Sprecher, die nicht als ‚Charaktere‘ angelegt sind, verteilt und dabei so modifiziert, dass eine gemeinsame Grundlage für ihre Reden noch zu erkennen ist; zudem zitieren die Sprecher ‚fremde Stimmen‘: Filme und andere Medienprodukte, Lieder. Die Stimmen werden teils nacheinander gereiht, teils als Chor gemeinsam verbunden, teils ertönen sie im Durcheinander. Zudem erscheint die Autorin selbst als Figur und ‚Mitspielerin‘, bei der sich die Figuren beschweren oder die den Figuren Anweisungen gibt – auch in Gier beklagt sich die Erzählerin über ihre Figuren. Gleichfalls an Gier erinnert, dass Figuren als Kollektive („Wir sind das Österreich-Kollektiv“) auftreten können. Zu den Erscheinungsformen dieses postdramatischen Theaters siehe auch Poschmann (1997).
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Erzählerrede (Allsicht) (TYP 9) metaleptische Anrede der Erzählerin – [an G] Anrede an Gerti [/an G]; [an L] Leseranrede [/an L] Erzählerrede (Reporter-Außensicht) (TYP 3) (vermittelte) konsonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] (vermittelte) dissonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] Mimikry-Figurenrede (TYP 6 / 7) { V: … } = Variante(n)
Da tritt sie also aus dem Dickicht, die Frau, die so etwas noch nicht oft gemacht hat, noch dazu in diesem Zustand. Sie tritt hervor, wie mit dem Mann vereinbart, sie bricht ungeschickt, beinahe strauchelnd, [an G] Vorsicht! (dort gehts sicher fünfzig bis siebzig Meter weit senkrecht hinunter) [/an G], durchs weiße Rinnsal zwischen den Felsblöcken und dem alten Gletschersand, der am Boden herumliegt, hervor und versucht sofort, das fremdartige Tier, das da witternd stehengeblieben ist, zärtlich wie ein Insekt zu umgaukeln und das vorbereitete Garn fürs Netz herauszuziehen, [an G] so, jetzt [285] noch die Häkelnadeln, und den Stecker in die dafür vorbereitete Dose hineinstecken und schauen, was kommt [/an G]. { Va: [G] so, jetzt [285] noch die Häkelnadeln, und den Stecker in die dafür vorbereitete Dose hineinstecken und schauen, was kommt. [/G] } { Vb: so, jetzt [285] noch die Häkelnadeln, und den Stecker in die dafür vorbereitete Dose hineinstecken und schauen, was kommt. } Sie sagt, [G] was für sie Glück ist: daß er jetzt da ist, wie vereinbart. Ich liebe dich so. [/G] Jetzt haben Wunder die größte Bedeutung, weil sie bereits geschehen sind und wir stündlich neue Wunder hereinbekommen, die uns vielleicht noch glücklicher machen könnten, oder jetzt gleich, da kommt ein neues Wunder, in diesem Augenblick, wie zwischen uns vereinbart. Es ist aber nur das alte, das sich anders angezogen hat. Die Frau läßt den Mann, den sie überzeugen konnte, sich hier und jetzt mit ihr zu treffen, [G] und wärs nur für einen kurzen Augenblick, einen Moment [/G], er hat noch kein Wort gesprochen, sie aber schon viele, die ich nicht eigens nennen möchte, sie läßt ihn durch ihre Worte und ihr Aussehen zusammenzucken [G] (er ist nicht dafür ausgerüstet, sie jetzt schon aus der
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Erzählerrede (Allsicht) (TYP 9) metaleptische Anrede der Erzählerin – [an G] Anrede an Gerti [/an G]; [an L] Leseranrede [/an L] Erzählerrede (Reporter-Außensicht) (TYP 3) (vermittelte) konsonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] (vermittelte) dissonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] Mimikry-Figurenrede (TYP 6 / 7) { V: … } = Variante(n)
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Wand heraus zu kratzen, hinter der sie sich verschanzt hat, aber gleich wird sie ja ganz einstürzen, diese dumme Mauer da zwischen ihnen) [/G], während sie sofort, kaum daß er die Hand heben kann, die Bluse aus der Passe des stilisierten Dirndlrocks reißt und den recht losen BH nach oben schiebt. Jetzt hängt der nur noch an den Trägern, die im Grunde nichts mehr zu tun haben, unterm Kinn, wie ein etwas komisch geschnittenes Kragerl, und da, hastdunichtgesehn, da sind ihr schon die schweren Brüste, alle beide, darunter herausgefallen, haarscharf am geöffneten Trachtenkleid entlang, dem Boden entgegen. Die Frau ist all die Zeit schön warmgestellt gewesen, seit Tagen schon; doch wie aus Verlegenheit, um von sich abzulenken, gerade indem sie auf sich zeigt, stürzt sie aus ihrem Gefäß heraus, Speisen würden staunen, aus keinem anderen Grund als [286] dem, herausgenommen und vertilgt zu werden. Sie gebärdet sich vor Vergnügen, das doch erst noch kommen soll, jetzt schon wie wahnsinnig. Sie ist kaum zu bremsen. Da reicht sie ihm also als erstes ihre Fleischlaibchen in der Schüssel ihrer beiden Hände und weist den Mann gleichzeitig an, ohne daß ihre Sinne sich noch an solche Derbheiten gewöhnen konnten, doch es sprudelt bereits aus ihr heraus, sie weist ihn also an, ihren Rock hochzuheben, sie hat schließlich keine Hand mehr frei, ja, und wie vereinbart hat sie tatsächlich keine Unterwäsche an. [G] Siehst du. Das war doch ganz leicht, oder. [/G] [G] Will er sie nicht zuerst ausführlich ergründen, bevor er in sie hineinkommt und dann, der obligate Teil, als Durchführung des vorgegebenen Themas, von seiner Liebe sprechen, in ihr Ohr hinein, in das er zart blasen soll, das ist am schönsten, ja, von seiner Liebe soll
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er ihr künden, damit sie umso ausführlicher von der ihren sprechen kann? [/G] Zumindest das können wir eigentlich schon verlangen. Wir zahlen schließlich dafür. Der Mann schlägt sie stattdessen, fast liebevoll, von der Seite her leicht ins Gesicht und deutet ihr mit der andern Hand, ein wenig grob deutet er, von diesem Weg wegzugehen, auf dem sie steht, den es aber eigentlich gar nicht gibt, also ein Weg ist das wirklich nicht. Die Frau versteht nicht gleich und gibt immer noch vor, [G] es nicht mehr auszuhalten und daher gleich hier! die versprochene und ersehnte Bedeutung erlangen zu wollen, unter ihm, auf ihm, zwischen ihm und dem Nichts, in der Luft schwebend, auf der Erde schlafend, egal, hier und jetzt, wie zwischen uns vereinbart. Vielleicht könnte er ihr wenigstens einmal zuvorkommen und seine Hose als erster herunterziehen bitteschön [/G], aber das sagt sie nicht laut, [287] das ist jetzt eindeutig eine Phantasie von ihr, die nicht gedeutet werden muß. [G] Er könnte sie doch gleich hier, auf diesem wenig begangenen Wegerl ins Nichts, auffalten und in sie eindringen, [/G] [G] es kommt ja sonst keiner, nie, nicht um diese Zeit, die wir uns ausgemacht haben, und zu der es bereits dämmert, und das ist sowieso kein Weg, jedenfalls kein öffentlicher. Runter mit dir, auf die Knie, auf den Boden, ich muß, ich muß. [/G] [K] Ich will ja auch, aber was andres, warte, so, [/K] [G] die Brüste sind schon ganz ausgelassen, die können dir jetzt gleich, und wie gern auch noch, in dein hartes männliches Brustkörbchen hineinfallen, da hast du sie dann schon eßfertig in Mundnähe, wenn du wieder einmal reinbeißen willst; wer träumt nicht davon, daß ihm die gebratenen Tauben in den Mund fliegen oder was man halt sonst gern ißt, einen Schweinsbraten eventuell, mit Gurkensalat. So, da werf ich ihn dir also, wie vereinbart, hin, meinen ganzen Haufen Fleisch, du kannst ihn ja mit den Händen neu ordnen, bis du dich auskennst, viel Spielraum hast du dabei nicht. Du kannst sie auch rechts
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Erzählerrede (Allsicht) (TYP 9) metaleptische Anrede der Erzählerin – [an G] Anrede an Gerti [/an G]; [an L] Leseranrede [/an L] Erzählerrede (Reporter-Außensicht) (TYP 3) (vermittelte) konsonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] (vermittelte) dissonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] Mimikry-Figurenrede (TYP 6 / 7) { V: … } = Variante(n)
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und links von dir runterhängen lassen, meine Spaßsäcke, meine Staubbeutel, oder ich kann dir einen tuten und blasen, oder du darfst wieder ganz fest zubeißen so wie neulich, mir macht das nicht mehr so viel aus, und wir haben es uns schließlich fest ausgemacht; also gut, meine Brüste werde ich jetzt halt fallen lassen und dir vorwerfen, du fängst sie schleunigst auf, gelt, das ist gutes Futter für den Hund in dir, den ich schon ein, zweimal kennengelernt habe. Davonrennen geht nicht mehr. Aber nur mit viel Gewinsel habe ich mich an ihn gewöhnt, so schnell, das hätte ich nicht von mir gedacht, der beißt halt gern zu, wenn man ihn reizt, der Hund, was soll [288] man machen, ich weiß, ich weiß. [/G] [G] Bin ja froh, daß ich noch so reizvoll für dich bin. Dafür habe jetzt ich beide Hände frei und kann den Rock schon selber noch höher schieben, bis zur Taille. Das geht aber nur, wenn wir uns hinlegen. Warum hast du nur diese blöde Jogginghose an, die mußt du ja bis zu den Knien hinunterzerren, damit du dich wenigstens ein bisserl rühren kannst, tust du das mir zu Fleiß? Wir haben es uns doch vorher ausgemacht, [/G] [G] also hättest du ruhig eine andere, praktischere, farblich ruhigere Hose anziehen können, z. B. die Jeans, wie sonst auch. [/G] [G] Ach so, eine Tarnung soll die Hose sein, weil du angeblich joggen gehst, und überhaupt müssen wir dann noch sprechen über etwas von gestern abend. Wir haben was zu reden miteinander,
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[/G] ein Satz aus einem Heimatfilm, wo die Sennerin ein süßes Geheimnis hat und darauf brennt, es im Wald bald wieder loszuwerden. [G] Etwas, das ich weiß. Du weißt schon. Aber nicht jetzt. [/G] [G] Neben uns steht der Liebesgott und haut uns auf die nackten Popos, weil es schade wäre, auf diese Entfernung einen Pfeil zu verschwenden. Für uns braucht er den Pfeil sowieso nicht. Wir lieben uns doch bereits. [/G] [G] Schau, der Rock ist jetzt weg, der ist dir nicht mehr im Weg, und ich bin schon halbwegs auf dich raufgeklettert, siehst du, so mach ich das, gleich bin ich oben, fertig. [/G] [G] Du mußt gar nichts mehr machen. Nur eine Millionärin veranlassen, dich zum Erben einzusetzen. [/G] Dort droben halten sich, [an L] haben Sie so etwas je gesehn? [/an L], der Dirndlrock und die Brüste an ihrer eigenen Schwerkraft fest, die können wir vergessen, aber unten, [G] greif nur, da ist es schon wie in einem ganzen Gewässer, so naß, und schau den dichten Pflanzenwald, der darauf wächst! Wie die Latschen, nur mit Locken. Da willst [289] du doch die ganze Zeit schon hinein, Kurti, mein Kurti, hab ich nicht recht, oder willst du was anderes? Nein. Nichts. Greif mal, wie feucht mein Sumpfland dort unten ist. Das ist alles für dich und deinetwegen passiert. [/G] [G] So haben wir es uns ausgemacht, oder? Reden tun wir nachher. [/G] So kriegt sie also ihre zweite, schon kräftigere Ohrfeige, die Frau, und fängt endlich, mit Verspätung, doch wieder zu heulen an. Wie immer. Der Gendarm hat nicht einmal richtig ausholen müssen, und schon plärrt sie noch lauter, bevor sie den zweiten Schlag, den sie nicht kommen sah, einstecken muß, vielleicht auch, weil er sie zuvor wirklich so fest in die Brustwarzen gezwickt hat, wie sie es ihm eigens angeboten hat. [G] Sie hätte nicht gedacht, daß er ihr Angebot annehmen würde. [/G] Ein Fehler von ihr. Sie kommt wieder etwas zur Besinnung in ihrem grellen Rausch, der von ihrer angemaßten Bedeutung als Liebende in ein paar Sekunden von null auf zweihundert beschleunigt und sich dann bis zur Raserei gesteigert hat. Dann hat er sie abstürzen lassen, der Almenrausch; endlich hört sie wieder, am Boden angekommen, auf den Mann und läßt sich halbnackt, den Rock schon gerafft, fast tropfend, längst nicht mehr Herrin der Situation, die Gejagte-
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Erzählerrede (Allsicht) (TYP 9) metaleptische Anrede der Erzählerin – [an G] Anrede an Gerti [/an G]; [an L] Leseranrede [/an L] Erzählerrede (Reporter-Außensicht) (TYP 3) (vermittelte) konsonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] (vermittelte) dissonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] Mimikry-Figurenrede (TYP 6 / 7) { V: … } = Variante(n)
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ste der Gejagten, die sich vor kurzem noch Jägerin und wie auf das Schild einer Diana mit Mentholflasche plus Pfeil und Bogen gehoben glaubte, hinter ein etwas höher gewachsenes Kieferngehölz schieben und zerren und stoßen, ein ganzer Latschenkieferwald ist es eigentlich. [G] Im Stehen würde er einen nicht verdecken, aber bei dem, was wir vorhaben, wird man höchstens leise Bewegung im Busch wahrnehmen können. Mehr wird da nicht gewesen sein. [/G] Jetzt endlich geht der Gendarm freiwillig und ge-[290] schmeidig zu Boden unter dem Ansturm der Frau und ihrem im Lauf der trägen, ereignislosen Jahre etwas erhöhten Gewicht, als wäre er selber Boden, der Gendarm, der unter einem Ereignis, mit dem die Natur sinnlos, nur ihr selber verständlich, vor sich hin plappert, nachgibt und zusammenfällt. Und da stürzt die Frau auch schon der Länge nach über ihn hin. [G] Sie ist nämlich so verliebt, sie weiß, daß es sowas nur gratis gibt oder gar nicht oder für sehr viel Geld. [/G] Sie wird es natürlich als Geschenk bekommen. Sein Schwanz steht schon da, bravo, als wäre er bereits vor dem Mann dagewesen, als Erster, von Anfang an. Man kriegt das Elastan der Leggings kaum über ihn drüber, was man muß, damit auch richtig Platz zum Explodieren zweier Leiber ist. Die Frau hat sich das alles für den Tisch ihres Lebens eigens bestellt und in ihr Haus liefern lassen, als Sonntagsmahl. Ein Anruf genügt, komme ins Haus. Der Mann [G] kann es gewiß gar nicht mehr erwarten, in ihr engstes Zimmerchen eingewiesen und ihr, schön heiß, serviert zu werden, ein Zimmer, das zwar klein ist, aber oho, man kann sich trotzdem drin verirren, wenn man sich nicht auskennt. [/G] Manchmal läuft ein Mensch aus dem Ruder, wenn er die falsche Sportart gewählt hat und nicht weiß, worauf er da steht. Ist das jetzt ein Laufband oder ist das ein
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gekachelter Fußboden, von dem sich das Blut leicht abwischen lassen wird? Die Frau soll dem Gendarmen [K] endlich zeigen, was sie will, damit er dann etwas ganz anderes machen kann mit seinem lebendigen, eigenwilligen Eigentum. [/K] Das Zeigen beherrscht die Frau gut, sie war ja unter anderem auch eine Art Lehrerin für Klavier, und hier ist also jetzt ihr Stab, mit dem man wandern, wandern, wandern kann. [an G] Frau Gerti, bitte zeigen Sie [291] mir endlich mit diesem Zeigestab, was und wohin Sie wollen. Sie müssen es nicht aussprechen, aber sagen sollten Sie es uns schon. Dann sehen wir das Ziel, aber wir müssen Sie nicht sehen. [/an G] Wer beherrscht sich noch. Keiner beherrscht sich mehr. Das Fernsehen sagt uns das und zeigt es uns noch einmal, wenn wir es nicht verstanden haben. Leider zu spät. Nach dreiundzwanzig Uhr. Ihr Körper schlägt einen rauheren Ton an als sonst bei dieser Frau üblich. Das hier ist kein Spiel. Der Gendarm ist nicht recht bei der Sache heute, er strengt sich aber an, weil er muß. Er ist bei einer andren Sache, die er sich in Ruhe vorlegt, wenn er allein ist: [K] In der Gemeinschaftsdusche, die Körper der Männer, nette Leute, zu denen man nicht höflich sein muß. Schöne junge Körper, im Bündel, einer neben dem anderen, alle ohne Kleider und ohne ihren Kleinen einfach undenkbar, auf den man verstohlene Blicke wirft. [/K] Am liebsten würde er sie auf den Armen tragen, der Gendarm, und ihre Körper baumelten wie leblos links und rechts herunter, was für eine wunderbare, schlaffe und doch schwere Belastung das wäre für diesen Mann. [K] Alles offen und ausgebreitet, was da ist, schön von der Natur zubereitet und präsentiert und wie am eigenen Leibe getragen. Waffen. Strahlend dürfte er alles, alles sehen, gerade das, was verboten ist! Das am allermeisten. Mit den Händen würde er nachhelfen, wenn er nicht weit genug in den fremden Körper hineinsehen könnte. [/K] Was ist dagegen die Frau. Sie ist schmutzig. Eine Fischfabrik. Sich in ihren Körper einzufügen, ist weder nötig noch ratsam. Es bleibt von diesem Körper immer etwas an einem haften, das sich niemals wieder wegwaschen läßt. { V: [K] Was ist dagegen die Frau. Sie ist schmutzig. Eine Fischfabrik. Sich in ihren Körper ein-
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Erzählerrede (Allsicht) (TYP 9) metaleptische Anrede der Erzählerin – [an G] Anrede an Gerti [/an G]; [an L] Leseranrede [/an L] Erzählerrede (Reporter-Außensicht) (TYP 3) (vermittelte) konsonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] (vermittelte) dissonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] Mimikry-Figurenrede (TYP 6 / 7) { V: … } = Variante(n)
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zufügen, ist weder nötig noch ratsam. Es bleibt von diesem Körper immer etwas an einem haften, das sich niemals wieder wegwaschen läßt. [/K] } Heimlich schaut sich der Gendarm gern Abbildungen von nackten jungen Män-[292]nern an, die er sich, weitab von seinem Wohnort, gekauft hat, so Heftln, aus denen all die Schwänze ihn hinterlistig zu mustern scheinen, schillernd wie Schlangen, wippend wie Stahlfedern. { V: [K] aus denen all die Schwänze ihn hinterlistig zu mustern scheinen, schillernd wie Schlangen, wippend wie Stahlfedern. [/K] } An diese jungen Männer denkt er jetzt, er kennt jeden beim Vornamen, der unter dem Foto angeschrieben steht. [K] Vielleicht stimmen die Namen ja gar nicht. Man kann diese Männer sicher nicht anrufen. [/K] { V: Vielleicht stimmen die Namen ja gar nicht. Man kann diese Männer sicher nicht anrufen. } [K] Aber nein. Das wäre doch gar nicht nötig gewesen, seinen Ständer kriegt er ja trotzdem, ob jetzt eine Frau hier liegt und sich anbietet oder nicht, eine Frau, bemüht, nett zu sein, aber auch leidenschaftlich, falls gewünscht. Beides. Man braucht beides, und man kann beides. Man würde sie am liebsten in Fetzen reißen, diese Frau. Kampfhahngeschmückt, mit seinem kleinen roten Helm, kommt sein Schwanz stattdessen, weil sie es sich wünscht, zu Gerti herein, lieber ginge er woanders hin. [/K] Und wenn er schon mal steht, kann es ihm gar nicht schnell genug gehen, damit es wieder vorbei ist. [G] O je, schon vorbei? [/G] [G] Bitte, hier ist ja das Tor,
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dort, wo es immer ist, und wie immer steht es scheunenweit offen, [/G] und wir futtern wie ein Scheunendrescher Menschenfleisch. Musik zur Belebung ist gar nicht nötig. Der Mann mag gar nichts mehr hören, er hat sich schon so viel anhören müssen, das ganze ist für ihn ein Vorgang ohne jeden Zierat. [K] Dieser Vorgang kann schon mal vorgehen, und er kann auch gleich weitergehen. Umso schneller ist es wieder vorbei. [/K] Dem Mann ist das alles im Grund ziemlich egal, er braucht ja nur den Grund, den Rest wird er wegschmeißen. [K] Hat sie da nicht einen Walkman in der Tasche, die Gerti, mit dem sie vorhin bis zum Äußersten noch Mozart hören konnte? Gleich fliegt er aus dem Sack und die Felsen hinunter. Den brau-[293]chen wir nicht. [/K] Ja, jetzt erst merkt er, da das Gerät schon fliegt: Sie hatte tatsächlich einen in der Tasche, und einer der Korken steckte ihr noch vom Aufstieg her in den Ohren, aber sie hat den dazugehörigen Apparat schon vorher abgedreht. Schade, vielleicht hätten die Gemsen eine Freude gehabt. Den Stöpsel reißt es ihr auch heraus, der Apparat fällt schweigend über die Klippen. Die Frau achtet es gering. Sie versucht immer noch, durch hektisches Pressen, Streicheln, Drehen und Ziehen zu bewirken, daß der Mann endlich auf ihre Wellenlänge kommt, [G] wo sie ganz alleine, aber gemeinsam, dahinschwimmen können, lange, sie beide, im Äther, in der Unendlichkeit, solange sie wollen, denn das ganze Universum gehört ihnen, solange sie wollen, heute aber nur zu dieser Zeit, [/G] [G] die wir uns vorher ausgemacht haben. Gelt, Kurti. [an G] Geld, Gerti [/an G]. Die Liebenden. Sie gehören einander schließlich zu jeder anderen Zeit auch noch, ganz wie sie wollen. Zu allen Zeiten. Die Frau hat aufgehört zu existieren und lebt nur noch durch ihn. Ihre Schamlippen werden einmal kurz angehoben, wie vereinbart, er kommt herein, und die Lippen schließen sich zufrieden hinter ihm. [K] War da nicht ein Geräusch, halt!, [/K] zieht er sich einen Augenblick zurück und horcht, [G] Liebster, bitte nicht aufhören, [/G] [G] man hört mit den Ohren oder den Kopfhörern und nicht mit dem Schwanz. [/G] Eine Ablenkung von sich und ihrem Thema, das ebenfalls sie ist, kann diese Frau niemals dulden. Ihre Seele gräbt sich jetzt, hechelnd, schnaufend, stöhnend in die Seine. Erde fliegt.
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Olaf Grabienski / Bernd Kühne / Jörg Schönert
x x
Erzählerrede (Allsicht) (TYP 9) metaleptische Anrede der Erzählerin – [an G] Anrede an Gerti [/an G]; [an L] Leseranrede [/an L] Erzählerrede (Reporter-Außensicht) (TYP 3) (vermittelte) konsonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] (vermittelte) dissonante Figurenrede – [G] Gerti [/G]; [K] Kurt [/K] Mimikry-Figurenrede (TYP 6 / 7) { V: … } = Variante(n)
x x x x x
Wir habens geschafft: Das Grab klafft auf. Die Frau reißt ihm die Hand von seinem eigenen Geschlecht weg, das an ihm doch angewachsen ist, es kann also keine Mißverständnisse geben. Es [294] kann ihr dafür gar nicht schnell genug gehen, [G] daß er endlich anfängt, und dann soll es sehr lange dauern und zärtlich vonstatten gehen. [/G] Sie schiebt sich selbst eigenhändig hinein, was ihr da mit einer Hand hingehalten worden ist, packt den Rest des Mannes beim Arsch, zeigt ihre beiden Reihen Zähne, schreit und haut ihm rhythmisch, wenn auch zunächst noch etwas zaghaft, bald aber heftiger eins hinten drauf, ein Gefühl für Rhythmus hat sie ja, aber es ist ihr Rhythmus, nicht seiner. Doch genau in dieser Gangart, ihrer, nicht seiner, soll der Mann [G] sofort fortfahren, aber gleichzeitig dableiben und dann: überhaupt nie wieder fortgehen. [/G] [G] Fortgehen: nein, das darf er nicht. Ich glaube und ich sehe, zu ihrem Vergnügen können sich solche Menschen schon mal wie die Wahnsinnigen gebärden, zum Beispiel diese Frau hier, aber wo dabei das Vergnügen sein soll, verstehe ich jetzt noch nicht. Ich werde es an mir ablesen und weitergeben, wenn ich es finde. Es gibt ihn, diesen Funken der Liebe, aber man muß fest draufblasen und dranbleiben, damit er nicht beim nächsten Mal mit einer andren ausgeht, der Funke. [G] Wenn man liebt, dann ist alles ja viel schöner, aber auch schrecklicher, [/G] weiß die Frau, [G] wohl weil es auch ein wenig ums Geistige geht, oder etwa nicht? [/G] [an G] Nein, nicht! [/an G] [G] Er wird ihr eine schöne Schwäche bringen, der Mann, aber erst nachher, wenn wieder Ruhe ist und man über alles nachdenken und reden kann und sich dem Gedachten beliebig hinzufügen, an die Stellen, wo man hinpaßt. [/G] Aber erst, nachdem das eine Viertelstunde, zwan-
Stimmen-Wirrwarr? Anhang (I)
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zig Minuten oder beliebig länger so weitergegangen sein wird, daß ein harter Prügel ihren Unterleib innerlich drischt, daß es laut schmatzt und sie irgendwann einmal unwillkürlich, vor [295] Schmerz und Lust, laut aufschreien muß, ob sie will oder nicht. [G] [K an Erzählerin] Sie will nicht. Sie darf auch nicht. Sonst fällt es noch einem Wanderer ein nachzuschauen, ob da einer ist. [/K an Erzählerin] Er muß ihr zwischendurch die Hand auf den Mund legen, [K] sie vertreibt ja Tiere und alle andren Sportler auch noch mit ihrem Gebrüll, und sie treibt sie genau in ihre Richtung. Das können wir jetzt aber nicht brauchen. [/K] [G] Es ist keiner da, Liebster. Alle schicken sich an, zur Ruhe zu gehen oder haben es bereits getan. [/G] [K] So etwas in der freien Natur zu vollführen, könnte für sie Gewohnheit werden, [/K] fürchtet der Mann, [K] welcher es ihr lieber in ihrem Haus macht. [/K] Sozusagen als Hausbesorger, nein, so sagen wir es nicht. Dort fühlt er sich sicher und behütet, weil es ihm bald gehören wird.
230
Stimmen-Wirrwarr? – Anhang (II)
Beziehung der Wahrnehmung / Vermittlungsinstanz Typ Vermittlung1 zur erzählten Welt2 am erzählten Geschehen beteiligt (‚Akteur‘) figurale Wahrnehmung und Vermittlung nicht am erzählten Geschehen beteiligt
figurale Wahrnehmung, narratoriale Vermittlung
kein Teil der erzählten Welt
kein Teil der erzählten Welt, aber im Sinne einer Mimikry am narratoriale erzählten Geschehen beteiligt Wahrnehmung und Vermittlung kein Teil der erzählten Welt
Disposition
Sprache3
identisch (auch: diskrepant)4 identisch oder diskrepant identisch (auch: diskrepant) identisch oder diskrepant6
konsonant (auch: dissonant) konsonant oder dissonant konsonant (auch: dissonant) konsonant oder dissonant
ortsgleich
identisch oder diskrepant
konsonant oder dissonant
ortsgleich
identisch (auch: diskrepant)
konsonant (auch: dissonant)
ortsgleich identisch oder ortsver- oder diskreteilt pant
konsonant oder dissonant
Zeit
Raum
1
synchron
ortsgleich
2
asynchron
ortsgleich oder ortsverteilt
3
synchron
ortsgleich5
4
asynchron
ortsgleich oder ortsverteilt
5
synchron
6
synchron
7
asynchron
8
asynchron
ortsgleich oder ortsverteilt
identisch oder diskrepant
konsonant oder dissonant
9
synchron
ortsgleich
identisch
konsonant
____________ 1
2 3
4 5 6
Die Zuordnungen in den Parametern Zeit, Raum, Disposition und Sprache beziehen sich jeweils auf das Verhältnis zwischen den in der ersten Spalte genannten Wahrnehmungs- und Vermittlungsinstanzen. Vgl. Fußnote 26 des Beitrags. Zeit und Raum sind leichter zu identifizierende Kategorien als Disposition und sprachliche Repräsentation, die letzteren sind stark interpretationsabhängig. Disposition und Sprache scheinen sich außerdem häufig gegenseitig zu beeinflussen, daher sind sie im Schaubild weniger deutlich voneinander abgegrenzt, als die anderen Kategorien. Vgl. Fußnote 47 des Beitrags. Die Identität im Parameter Raum kann in Typ 3 auch durch technologische Mittel, z. B. einen Bildschirm, hergestellt werden. In der Idealvorstellung liegt bei Typ 4 Identität sowohl im Parameter Disposition als auch im Parameter Sprache vor, in der Realität sieht das anders aus – vgl. Aussagen vor Gericht, in denen die ‚Erinnerung‘ von Zeugen häufig durch aktuelle Faktoren beeinflusst wird.
Stimmen-Wirrwarr? Erzählerin und Figuren-Stimmen bei Elfriede Jelinek
231
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232
Olaf Grabienski/Bernd Kühne/Jörg Schönert
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JAN-OLIVER DECKER (Kiel)
Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität in Hermann Hesses Der Steppenwolf Abstract After discussing Genette’s terms and hierarchization of narrative levels (i.e. ‘extradiegetic’, ‘intradiegetic’, ‘metadiegetic’) in Hesse’s Steppenwolf, this article modifies these categories. Instead of the term ‘metadiegetic’ characterising the third stage of a subsequential narrative, the term ‘intra-intradiegetic’ is to be established. The article also recommends the use of ‘metadiegetic’/‘metanarrative’ for facultative constructed narrative levels which feign, as in Steppenwolf, to display the external communication between the author and reader within the communication situation constructed in the text. Furthermore, the conclusions of this analysis of narrative levels is to be adopted for the diegesis of Steppenwolf, its conception of the person and, most notably, for the poetological concept of the text. Thus, Steppenwolf will be positioned in the literary epoch of ,Frühe Moderne‘ (1890–1930).
1. Zum Begriff ‚Erzählinstanz‘ Grammatikalisch manifeste Spuren eines Erzählers können in einem Text bekanntermaßen die Qualitäten einer personalen Erzählinstanz implizieren und genau in dieser Hinsicht problematisiert Genette die Kategorie ‚Person‘ in seinem Modell der Ebenen des Erzählens und der Hierarchisierung verschiedener Erzählertypen1. Genette verwendet grundlegend den Begriff eines personalen Erzählers in einem eher übertragenen Sinne. In seinem ersten Teilkapitel Die narrative Instanz im übergeordneten ____________ 1
Vgl. Genette [1972/1983](1998: 174-180, 257-267).
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Jan-Oliver Decker
Kapitel Stimme expliziert Genette deutlich, dass er den erzählerischen Akt grundsätzlich einer Erzählinstanz zuweist, die personal besetzt sein kann, es aber nicht sein muss2. Von einer manifesten personalen Anwesenheit einer Person im erzählerischen Akt kann damit bei Genette nicht die Rede sein. Er begreift eine Ŧ möglicherweise auch personal besetzte Ŧ Erzählinstanz vor allem als einen Effekt des Textes auf der Grundlage seiner individuellen Konstrukte. In diesem Sinne formuliert Genette dann auch sein Erkenntnisinteresse hinsichtlich des erzählerischen Aktes und der Erzählinstanz: Diese narrative Instanz haben wir nun also noch zu betrachten, und zwar im Hinblick auf die Spuren, die sie im narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat.3
Insofern jeder Erzähler nach Genette also nur ein Texteffekt ist, soll im Folgenden für alle Merkmale, die sich in Hesses Steppenwolf zu einem Textkonstrukt ‚Erzähler‘ bündeln lassen, der Begriff ‚Erzählinstanz‘ benutzt werden. Im Fokus meiner Ausführungen steht dabei die Struktur der verschiedenen Erzählebenen4, auf denen diese Erzählinstanzen angesiedelt sind, um die Genetteschen Kategorien am Beispiel zu überprüfen und schließlich zu modifizieren. Dabei soll diese Untersuchung der Erzählebenen in Hesses Steppenwolf kein reiner Selbstzweck sein. In einem zweiten Schritt geht es mir vor allem um die Funktionen, die die konkrete Struktur der Erzählebenen in Hesses Steppenwolf auf der Ebene des Erzählten hat. Im Mittelpunkt wird dabei die poetologische Funktion selbstreflexiven Erzählens in Hesses Steppenwolf stehen, die wesentlich auf der Organisation der Erzählebenen des Steppenwolf beruht und eine narrative Poetik des Textes begründet5.
____________ 2 3 4
5
Vgl. Genette [1972/1983](1998: 151-153). Genette [1972/1983](1998: 152). Martinez/Scheffel (1999) – auch die wohl derzeit populärste Revision der Genetteschen Erzählanalyse im deutschsprachigen Raum – reden unglücklich und missverständlich von ‚Orten‘ des Erzählens. Im Folgenden soll der neutrale Ausdruck Erzählebene verwendet werden. Den Begriff der ‚narrativen Poetik‘ verwende ich in Anlehnung an Scheffel (1997), im Sinne einer poetologischen Dimension des Textes, die dieser durch seine Erzählverfahren und das durch diese Erzählverfahren Erzählte als konkrete Texteffekte selbst hervorbringt.
Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität im Steppenwolf
235
2. Stimmenvielfalt: die Erzählebenen nach Genette im Steppenwolf Zunächst scheinen sich die Erzählinstanzen im Steppenwolf klar voneinander unterscheiden und untereinander hierarchisieren zu lassen (vgl. Abb. 1). Als Erzählinstanz erster Stufe lässt sich der Herausgeber von Harry Hallers Aufzeichnungen bestimmen6, dessen Vorwort des Herausgebers zu Harry Hallers Manuskript eine extradiegetisch-homodiegetische „Ich“-Erzählung darstellt. Obwohl der Herausgeber von seiner Beziehung zu Harry und damit auch von sich erzählt, steht im Vordergrund des Erzählinteresses jedoch eine an den fiktionalen Fakten orientierte Schilderung von Harrys Aufenthalt zur Untermiete in der Mansarde der Tante des Herausgebers7. Das extradiegetische, bürgerliche „Ich“ bewertet die Aufzeichnungen Hallers nun wie folgt: Ich zweifle nicht daran, daß sie zum größten Teil Dichtung sind, nicht aber im Sinne willkürlicher Erfindung, sondern im Sinne eines Ausdruckversuches, der tief erlebte seelische Vorgänge im Kleide sichtbarer Ereignisse darstellt. (Steppenwolf, S. 29)8
Die nachfolgend vom Herausgeber-„Ich“ präsentierten Aufzeichnungen stellen also eine intradiegetisch-homodiegetische „Ich“-Erzählung Harry Hallers dar und obwohl sie vom bürgerlichen Herausgeber als fiktional bewertet werden, sind die in ihnen geschilderten Handlungen und Ereignisse Ausdruck der Psyche des schreibenden „Ich“ Harry9. Es wird die Fiktion einer autobiographischen Erzählung zweiter Stufe aufgebaut10. Dabei ist festzuhalten, dass derjenige Haller, der in den Aufzeichnungen ____________ 6
7
8 9
10
Vgl. zum Begriff der ‚Erzählinstanz erster Stufe‘ Genette [1972/1983](1998: 249f.) und im Weiteren zu den Begriffen ‚extradiegetisch‘, ‚intradiegetisch‘, ‚metadiegetisch‘ nach Genette Martinez/Scheffel (1999: 75-84). Nach Martinez/Scheffel (1999: 82) ist der Herausgeber damit ein beteiligter Beobachter. Angemerkt sei, dass sich der Herausgeber zu allen erzählten Welten in nachgelagerten Erzählebenen heterodiegetisch verhält. Das heißt, der Herausgeber ist kein Bestandteil der erzählten Welten auf nachgelagerten Erzählebenen. Zitiert wird, sofern nicht anders angegeben, aus Hermann Hesse, Der Steppenwolf, (=suhrkamp taschenbuch 175), Frankfurt/Main 1974. Vgl. Niefanger (2003: 87-102), der auf der Grundlage des Genetteschen Modells der Erzählebenen die Rolle des Goethe- und Mozartbildes in den Aufzeichnungen untersucht und auf dieser Folie die Referenzen Hallers auf Hesse und den Steppenwolf im Kontext frühmoderner Autobiografien liest. Im Sinne von Martinez/Scheffel (1999: 82) eine als autodiegetisch benannte Erzählung.
236
Jan-Oliver Decker
von sich berichtet, keinesfalls als der authentische Haller bewertet wird, den der Herausgeber kennen gelernt hat, sondern eben nur als eine von diesem Haller erfundene, literarische Figur angesehen wird. Innerhalb der Aufzeichnungen präsentiert Harry Haller wiederum nachgeordnete Ŧ nach Genette metadiegetische Ŧ Texte dritter Stufe, so das Tractat vom Steppenwolf und die beiden Gedichte Ich Steppenwolf trabe und trabe und Die Unsterblichen. Die beiden Gedichte werden von Harry verfasst und das Sprecher-„Ich“ des ersten Gedichtes deutlich durch den intradiegetischen Kontext der Aufzeichnungen mit Harry identifiziert. Das Sprecher-„Wir“ der Unsterblichen stellt dagegen ein Projektion von Harrys Gedanken über die Unsterblichen in die Stimmen der Unsterblichen dar, die sich auch in Goethes Handeln in Harrys Traum und Mozarts Interagieren mit Harry im Magischen Theater als von Harry imaginierte/durch Drogen evozierte „Ichs“ in den Aufzeichnungen manifestieren. Beide Gedichte werden also als autonomer literarischer Ausdruck des intradiegetischen „Ich“ Haller markiert und spannen eine Leitdifferenz zwischen den Polen 1. unmittelbare Identität von metadiegetischem Sprecher-„Ich“ in Ich Steppenwolf trabe und trabe und intradiegetischem „Ich“ Haller in den Aufzeichnungen vs. 2. nur durch den intradiegetischen Kontext vermittelte Identität von Autor-„Ich“ Haller und metadiegetischem Sprecher-„Wir“ Unsterbliche. Genau diese Leitdifferenz zwischen vermittelter und unmittelbarer Anwesenheit eines Autorsubjekts in einem Text innerhalb einer und dabei sogar der am stärksten nachgeordneten Erzählebene bildet dabei, so die These, das poetologische Organisationsprinzip des Gesamttextes und seiner Erzählebenen ab, nämlich die Minimalisierung der Grenze zwischen einem Autor-„Ich“ jenseits eines Textes und einem konkret fassbaren Autor-„Ich“ in einem Text. Im Gegensatz zu den beiden metadiegetischen Gedichten findet sich im metadiegetischen Tractat vom Steppenwolf grammatikalisch ein „Wir“, das ein implizites Sprecher-„Ich“ und ein angeredetes Publikum umfasst, jedoch nie explizit als ein „Ich“ in Erscheinung tritt. In diesem Tractat, das Harry auf der Suche nach dem phantastischen Magischen Theater erhält, wird nun eine pseudotheoretische, vulgärpsychologische Studie über Harry Haller präsentiert. In diesem Sinne handelt es sich um eine metadiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz, also eine Erzählung dritter Stufe von einem impliziten „Ich“, das nicht von sich, sondern über Haller erzählt. Harry Haller – der intradiegetische Finder, Leser und Verschrifter des Inhaltes des Tractats in den Aufzeichnungen – ist dabei
Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität im Steppenwolf
237
zugleich die im Tractat behandelte metadiegetische Figur Harry Haller. Obwohl das Tractat als Erzählung dritter Stufe die nachgeordnete Erzählung ist, signalisiert es, dass es die übergeordnete, Haller kommentierende Erzählung ist, die eine pseudoanalytische Erklärung des intradiegetischen „Ich“-Erzählers Haller der Aufzeichnungen liefert. Hinzu kommt, dass Harry Hallers Aufzeichnungen ebenso wie das Tractat paratextuell durch die Zueignung „Nur für Verrückte“ selektiv das gleiche spezielle Publikum adressieren beziehungsweise beide eine analoge Deutung der jeweils im Tractat und in den Aufzeichnungen erzählten Geschichte vornehmen: Der Inhalt der Aufzeichnungen ist so verrückt, dass nur Verrückte ihn als authentisch und realitätskompatibel verstehen. Diese Parallelisierung beider Texte (intradiegetische Aufzeichnungen und metadiegetisches Tractat) durch die Adressierung „Nur für Verrückte“ und der Umstand, dass die intradiegetische Figur über sich selbst im metadiegetischen Tractat liest, führt dazu, dass die Erzählebenen hier nicht mehr deutlich voneinander unterschieden werden können. Im Genetteschen Sinne liegt im Steppenwolf damit eine narrative Metalepse vor11, bei der die Grenze zwischen Erzählen und Erzähltem beziehungsweise die Grenze zwischen der Welt, in der erzählt wird, und der Welt, von der erzählt wird, überschritten wird12. Das bedeutet, erzähllogisch wird die Grenze zwischen der intradiegetisch-homodiegetischen Erzählung zweiter Stufe des „Ich“-Erzählers Harry Haller und der metadiegetisch-heterodiegetischen impliziten „Ich“-Erzählung des Tractats dritter Stufe über Harry Haller verwischt (vgl. Abb. 2).
3. Paratext und Erzählebenen in der Erstausgabe des Steppenwolf Bemerkenswerterweise konterkariert die Erstausgabe von 1927 dieses erzähllogische Verwischen der Grenzen zwischen Tractat und Aufzeichnungen, zwischen Erzählung dritter und Erzählung zweiter Stufe13: Die Erstausgabe von 1927 inszeniert das Tractat als einen eigenständigen Text, der vom Steppenwolf beziehungsweise von Harrys Aufzeichnungen nur dokumentiert wird, indem das Tractat ein eigenes, gelbes Titelblatt und einen gelben Umschlagrücken bekommt. Weiterhin weist das Tractat ____________ 11 12 13
Vgl. Genette [1972/1983](1998: 167ff.). Vgl. Martinez/Scheffel (1999: 79, 190). Vgl. Hermann Hesse, Der Steppenwolf, Berlin, 1927.
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Jan-Oliver Decker
Vorwort 1. Stufe: extradiegetisch-homodiegetisch: „Ich“, Herausgeber Adressat: Leser des Gesamttextes
Harry Hallers Aufzeichnungen 2. Stufe: intradiegetisch-homodiegetisch: „Ich“, Harry Haller Adressat: ? / Zueignung an Herausgeber 3. a
Traktat vom Steppenwolf
3.Stufe: metadiegetisch-heterodiegetisch: „Wir“ (akad. Plural) ............................................................. 3. b Sprecher der Gedichte 3. b1 „Ich“ = Harry Haller 3. b2 „Wir“ = Die Unsterblichen
Abb.1 Erzählebenen im Steppenwolf nach Genette
Vorwort Harry Hallers Aufzeichnungen
Tractat vom Steppenwolf
1. Stufe
extradiegetisch-homodiegetisch
2.Stufe
intradiegetisch-homodiegetisch
3. Stufe
Abb.2 ‚Metalepse‘ im Steppenwolf
narrative Metalepse
Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität im Steppenwolf
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eine autonome Seitenzählung auf (S. 1-33 in der Erstausgabe), die erst nach dem Titelblatt des Tractats beginnt und die fortlaufende Seitenzählung des Gesamttextes (zwischen S. 64 u. 65 in der Erstausgabe) unterbricht, die mit dem Vorwort beginnt und über den Beginn der Aufzeichnungen (zwar mit einem eigenen, aber farblich nicht weiter abgesetzten Titelblatt auf S. 39 in der Erstausgabe) bis zum Textende ununterbrochen fortgeführt wird. Außerdem ist das Tractat einzeilig, der übrige Text aber zweizeilig gesetzt. Während Vorwort und Aufzeichnungen also erzähllogisch klar voneinander geschieden sind, nicht aber durch den verlegerischen Peritext der Seitenzahlen14, verhält es sich in der Erstausgabe zwischen Tractat und Aufzeichnungen (plus Vorwort) genau umgekehrt: Tractat und Aufzeichnungen sind erzähllogisch nicht klar voneinander zu trennen, wohl aber durch den verlegerischen Peritext formal deutlich voneinander getrennt15. Dieses Prinzip der asymmetrischen Opposition zwischen Erzählebene und formaler Textgestalt lässt sich strukturell weiter ausbauen: Im Sinne der Klassifikation der Paratexte nach Genette ist das Vorwort als fiktives, ____________ 14 15
Vgl. zum Begriff ‚Peritext‘ für den paratextuellen Status der Seitenzahlen Genette [1987](2001: 22). Die beiden aktuellen Suhrkamp-Ausgaben, Hermann Hesse, Der Steppenwolf (=suhrkamp taschenbuch 175), Frankfurt/Main 1974, und Hermann Hesse, Der Steppenwolf (=suhrkamp Basis Bibliothek 12), Frankfurt/Main 1999, nehmen diese deutliche Trennung der Erstausgabe zurück, indem die Seitenzählung des Gesamttextes durch das Tractat nicht unterbrochen, sondern fortgeführt wird. In st 175 und SBB 12 wird das Tractat nur durch Kursivdruck, nicht aber durch eine eigene Seitenzählung oder aber durch einen anderen Zeilenumbruch, wohl aber durch Beginn und Ende auf einer eigenen Seite hervorgehoben. SBB 12 reproduziert im Gegensatz zu st 175 zwar drucktechnisch das Deckblatt des Tractats aus der Erstausgabe von 1927, allerdings ohne dessen im Buchblock erkennbare gelbe Färbung, und lässt auch die leere gelbe Rückseite des Tractats in der Erstausgabe weg. In den beiden aktuellen Ausgaben wird damit das Tractat als ein Teiltext bewertet, der sich in den Gesamttext einfügt, nicht aber wie in der Erstausgabe als eigenständiger eingefügter Text, der ‚authentisch‘ dokumentiert wird. Eine Zwischenstellung nimmt die Gutenberg-Ausgabe (Hesse, Hermann, Der Steppenwolf und Texte aus dem Umkreis des Steppenwolf, Frankfurt/Main 1988) ein: Hier wird das gesamte Tractat auf gelbem Papier und in einer anderen Schrifttype als der Rest fett gedruckt sowie mit zwei neuen Illustrationen auf dem Titel des Tractats und dessen Rückseite versehen. Die Seitenzählung des Tractats erfolgt in der Gutenberg-Ausgabe einerseits eigenständig: Sie beginnt fortlaufend alphabetisch. Andererseits wird in Klammern weiter fortlaufend die numerische Seitenzählung des Gesamttextes unterhalb der alphabetischen Zählung weitergeführt.
240
Jan-Oliver Decker
allographes Vorwort zu klassifizieren16. Das heißt, eine fiktionale Figur behauptet sich als Herausgeber eines von einer anderen fiktionalen Figur verfassten Textes. Nur auf der Titelseite wird Hermann Hesse als verantwortendes Autorsubjekt jenseits des Textes benannt und als den Gesamttext und damit die Figuren des Herausgebers und Harry Hallers verantwortende personale Größe im Text indiziert. Die Figur des Herausgebers weist nun im Gegensatz zu Haller keine referenziellen Bezüge auf ein kulturelles Wissen über den Autor Hermann Hesse auf. Der Herausgeber geht einer bürgerlichen Tätigkeit in einem Büro nach, wohnt bei seiner Tante und bastelt in seiner Freizeit einen Radioapparat zusammen. Alles Verhaltensweisen, die nicht für Hermann Hesse bekannt sind, allerdings im Rahmen des Vorworts in Hinblick auf ein bürgerliches Publikum die Deutung Hallers als pathologischen Fall, der repräsentativ für eine Krise der Zeit steht, legitimieren soll. Darüber hinaus eröffnet die bürgerliche Perspektive auf Haller und der konventionelle Erzählstil des Herausgebers einen Rahmen von verifizierten Fakten zur Person Harry Haller, auf deren Folie die Aufzeichnungen als ‚Seelenbiographie‘ eines auch erzählerisch formal vom Bürgerlichen abweichenden Subjekts gedeutet werden sollen. Im Gegensatz zum Herausgeber verweisen einige Merkmale aus Hallers Biographie nun dezidiert über die Diegese hinaus auf ein kulturelles Wissen über den Autor Hermann Hesse. Wie in Hesses Biographie ist die erste Frau Hallers wahnsinnig geworden und hat sich von ihm scheiden lassen, wie Hesse auch wird Harry Ŧ mittlerweile im schweizerischen Exil Ŧ aufgrund pazifistischer Artikel in seinem Heimatland als Vaterlandsverräter gebrandmarkt. Innerhalb der dargestellten Welt markieren diese Merkmale denotativ und kategorial Hallers Außenseitertum jenseits der bürgerlichen Gesellschaft. Zusätzlich verweisen diese Merkmale jedoch identifizierend auf einer zweiten, konnotativen Ebene auf den Autor
____________ 16
Vgl. Genette [1987](2001: 176). Leider gibt es keine Verbindung zwischen Genettes Theorie der Paratexte und seiner Erzähltheorie, obwohl beide die hierarchische Schichtung von Textebenen betreffen, aber keine gemeinsamen Kategorien teilen. Beide Theorien mögen sich zwar ergänzen und vielleicht mag es auch keine Kategorien geben, die sinnvoll eine Erzähltheorie mit einer Theorie der Paratexte verbindet. Die Überlegung einer solchen theoretischen Verbindung, die alle möglichen Textschichten aufeinander bezieht, wäre aber zumindest wünschenswert, wie ja gerade der hier vorliegende Fall eines fiktiven Vorworts eines Herausgebers demonstriert.
Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität im Steppenwolf
241
Hermann Hesse17. Auch der Name „Harry Haller“ referiert, wie immer wieder in der Forschung ausgeführt18, indirekt durch die identischen Initialen und die trochäisch gleiche Silbenzahl auf den Autor Hermann Hesse jenseits des Textes. Allerdings muss angemerkt werden, dass damit nicht gerechtfertigt ist, den Steppenwolf eins zu eins als eine Selbstaussage des Autors Hermann Hesse biographistisch zu lesen und die sekundären Verweise im Text auf den textexternen Autor dazu zu benutzen, die Biographie des Autors zum Schlüssel des Textes Steppenwolf zu funktionalisieren19. Eine solche Analyse vertauscht die jeweils zu interpretierenden Sachverhalte Text des Autors und Text über den Autor. Gerade die Namensgebung „Harry Haller“ gibt im Text im Gegenteil gerade vor, dass textexterner Autor und textinterne Figur nicht verwechselt werden dürfen. Dass gleichzeitig durch den Namen der Autor im Text indiziert, nicht aber durch die Identität der Namen der textexterne Autor und die textinterne Figur identifiziert werden, signalisiert schon, dass im Text selbst eine vermittelnde Ebene zwischen textexterner Wirklichkeit und textinterner Fiktion sekundär konstruiert wird. Wohlgemerkt: Diese vermittelnde Ebene wird von diesem einen Text individuell konstruiert.
4. Paradoxe Erzählebenen und Folgen für die Erzählinstanzen Folgendes lässt sich bis hierher resümieren: 1. Die textinterne von Harry verfasste Literatur (die beiden Gedichte Ich Steppenwolf trabe und trabe und Die Unsterblichen) entwerfen innerhalb der dargestellten Welt der Aufzeichnungen das Bild eines Autors Harry, der sich weg von einem expliziten unmittelbaren Ausdruck seines Ich in einem literarischen Text hin zu einem nur noch vermittelt durch seine von ihm erfundenen Figuren sprechenden Autor entwickelt. 2. Durch die narrative Metalepse zwischen den Aufzeichnungen und dem Tractat einerseits und durch die Gestaltung des verlegerischen Peritextes in der Erstausgabe andererseits wird die zunächst scheinbare Hierarchie der Erzählebenen aufgebrochen. Der Herausgeber erscheint als extradiegetische Erzählinstanz gegenüber Haller ____________ 17
18 19
Vgl. zur grundsätzlichen Unterscheidung von ‚Elementschaft‘ als einer primären und ‚Identität‘ als einer sekundären Referenzialisierungsfunktion von Zeichen Krah (1997: 347-362). Vgl. Schwarz (1993: 134). Eine solche, von den aktuellen literaturwissenschaftlichen Methoden, Theorien und Diskussionen völlig unbeleckte Studie stellt dar: Prinz (2000).
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als die nachgeordnete Erzählinstanz, weil die Figurenmerkmale Hallers sekundär semiotisiert sind und auf ein Wissen über den textexternen Autor Hermann Hesse verweisen. Während die Figur Haller damit also dem Autor Hesse angenähert ist, wird die gegenüber Haller nicht sekundär semiotisierte Figur des Herausgebers zu einer nachgeordneten Erzählinstanz. 3. Das untergeordnete Tractat ist eine pseudotheoretische Analyse der übergeordneten Hauptfigur Haller, an dessen Ende auch auf Harrys intradiegetischen Besuch im Magischen Theater proleptisch als Möglichkeit hingewiesen wird. Im Tractat ist damit die Ebene höchster Reflexion über das schreibende Subjekt Haller gegeben, die auch der erzähltheoretisch vorgelagerte Herausgeber nicht erreicht. Hinzu kommt, dass durch die narrative Metalepse die eigentlich (im Genetteschen Sinne) metadiegetische Erzählebene des Tractats von der intradiegetischen Ebene der Aufzeichnungen nicht mehr klar zu trennen ist. Durch diese narrative Metalepse wird noch begünstigt, dass das eigentlich auf der dritten Erzählebene den Aufzeichnungen und dem Vorwort nachgelagerte und eingebettete Tractat den Status einer übergeordneten Erzählung bekommt. Im Tractat haben wir nun einen akademischen Plural. Die „Wir“ und „Unser“ des Tractats implizieren ein Erzähler-„Ich“ und ein als Adressat mit einbezogenes Publikum, ohne es explizit zu benennen. Eigentlich ist das Tractat, das Haller liest und das ihn ganz speziell analysiert, nur für ihn geschrieben. Wenn also das Tractat „Nur für Verrückte“ ist, dann ist Harry hier der einzig angesprochene Verrückte. Nun sind aber auch die Aufzeichnungen, die dem Herausgeber zugeeignet worden sind, selbst „Nur für Verrückte“. Hier wird also beide Male ein Publikum adressiert, das über die eine Person des Herausgebers und über die eine Person Haller hinausgeht. Welches Publikum kann das anderes sein als alle möglichen Leser der Aufzeichnungen und des Tractats als Bestandteil der Aufzeichnungen? Als jeweils vorangestellter Paratext ist das Motto „Nur für Verrückte“ jeweils auf einer nächsthöheren diegetischen Ebene angesiedelt. Das bedeutet, es richtet sich im Falle der intradiegetischen Aufzeichnungen an ein extradiegetisches Publikum und im Falle des nach Genette metadiegetischen Tractats an ein intradiegetisches Publikum. Nun liegt aber zwischen Tractat und Aufzeichnungen eine narrative Metalepse vor und es ist nicht mehr zu entscheiden, welche übergeordnete Instanz sich denn eigentlich an wen mit den der Narration jeweils übergeordneten – in diesem paratextuellen Sinne metadiegetischen – Mottos „Nur für Verrückte“ wendet.
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Durch die inhaltliche Überordnung des Tractats über die Aufzeichnungen und auch durch das dem textexternen Autor angenäherte „Ich“ Haller wird damit auf der Grundlage der narrativen Metalepse im Rahmen der paratextuellen Mottos ein metadiegetischer Freiraum eröffnet. ‚Metadiegetisch‘ verstehe ich hier nicht im Sinne von ‚metasprachlich‘ als eine Reflexion über die Diegese, sondern vielmehr im Sinne einer deskriptiven Beschreibung einer Textschicht oberhalb der Diegese. In diesem metadiegetischen Freiraum oberhalb der Diegesen der jeweiligen Teiltexte lässt sich das implizite „Ich“ im Tractat nicht mehr eindeutig einer Erzählebene zuordnen und richtet sich aus der Autonomie des eingefügten Textes Tractat heraus an ein Publikum des Gesamttextes, das auch Haller und dem Herausgeber übergeordnet ist, und damit als höchste Erzählinstanz im Steppenwolf erscheint. Gerade in dieser Hinsicht ist es funktional, dass es im Text durch Haller unmittelbar vor Einfügung des Tractats heißt: „Und Folgendes war der Inhalt [Hervorhebung von mir] der Schrift, die ich mit stets wachsender Spannung in einem Zuge las: [!]“. Nach dem Doppelpunkt in der Erstausgabe von 1927 wird fingiert, das OriginalTractat als autonomen Text zu dokumentieren. Statt bloß den Inhalt wiederzugeben, richtet sich der fingierte autonome Text Tractat direkt an den Leser des Steppenwolf, der das Buch in den Händen hält. Der Steppenwolf indiziert damit durch die Vermischung und oppositionelle Semantisierung der Erzählebenen einen metadiegetischen Raum, in dem sich ein implizites „Ich“ als höchste Erzählinstanz, das weder mit Haller noch mit dem Herausgeber identisch ist, oberhalb aller Diegesen in den Teiltexten an sein textexternes Publikum wendet (vgl. Abb. 3)20. Diese höchste Erzählinstanz weist nun keinerlei weitere personale Merkmale auf und ist darüber hinaus niemals im ganzen Tractat als ein „Ich“ explizit. Diese als metanarrativ vom Text fingierte höchste Erzählinstanz, die in ihrem Text als personelle Leerstelle auftaucht, eröffnet einen Projektionsraum, in den die textexterne Person des Autors Hermann Hesse als verantwortende Größe des Textganzen hinein projiziert werden kann, ohne dass sie als Autor Hermann Hesse in Erscheinung
____________ 20
Vgl. auch den Hinweis von Esselborn-Krumbiegel (2004: 283), dass die verschiedenen Erzählebenen des Textes ein einziges, übergeordnetes „Ich“ indizieren. Leider setzt Esselborn-Krumbiegel diese Behauptung nur und deutet den Text unreflektiert als Selbstanalyse Hesses.
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0. Stufe: metanarrativ / metadiegetisch: 1. Stufe:
extradiegetisch-homodiegetisch: Herausgeber intradiegetisch-homodiegetisch: Harry Haller
3. Stufe: intra-intadiegetisch-homodiegetisch: „Ich Steppenwolf“ + die Unsterblichen
Gedichte
Harry Hallers Aufzeichnungen
2. Stufe:
Vorwort
implizite Autorenstimme / implizites Lesepublikum
Abb.3 Modifikation der Genetteschen Kategorien am Beispiel des Steppenwolf
tritt oder gar Merkmale erhält, die im Text als Merkmale der realen Person Hermann Hesse sekundär semiotisiert werden. Damit liegt im Steppenwolf als Fiktion die Konstruktion einer – deskriptiv – metadiegetischen Ebene vor, in der ein Autor-„Ich“ zwar durch die Textkonstrukte als höchste Erzählinstanz vorausgesetzt und indiziert wird, nicht aber als solche explizit auftaucht und benannt wird. Im Gegenzug wird gerade eine Herausgeberfiktion aufgebaut, die definitiv keine Merkmale des realen Autors Hesse transportiert und darüber hinaus mit Harry Haller in seinen Aufzeichnungen eine literarische Figur fingiert, die zwar Merkmale mit dem Autor Hesse gemeinsam hat, dieser aber – deutlich markiert – eben nicht ist. Der Text selbst setzt hier also durch die Logik der Erzählebenen, dass Literatur ein Raum ist, indem ein Autor einem Publikum
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etwas von sich vermittelt, er selbst aber als Person nicht greifbar und eben auch nicht explizit, sondern immer nur sekundär und implizit enthalten ist21.
5. Vorschlag zur Modifikation der Genetteschen Kategorien Im Diskurs der Erzählung problematisiert Genette die Doppeldeutigkeit der Vorsilbe ‚meta-‘ im Begriff ‚metadiegetisch‘22, die er entgegen des „logisch-linguistischen Vorbild[s]“ nicht im Sinne einer Überordnung, sondern im Sinne eines Überganges verstanden wissen will. Diese Problematik greift Genette dann im Neuen Diskurs der Erzählung auf und kritisiert seine eigene Terminologie schließlich folgendermaßen: Als mustergültige Terminologie für dieses Schema böte sich zwar an: extradiegetisch, intradiegetisch, intra-intradiegetisch usw., aber metadiegetisch scheint mir doch klar genug zu sein, und vor allem hat es für mich den wichtigen Vorzug, gut den systematischen Zusammenhang mit Metalepse zu verdeutlichen.23
Gerade hier ist Genette zu widersprechen. Zwar bezeichnet ‚Metalepse‘ den Übergang von einer Erzählebene zu einer nächsten, allerdings bedingt die Metalepse eine Verwischung der Grenze zwischen den Erzählebenen, die im Extremfall der mise-en-abyme dazu führt24, dass man nicht mehr genau die Hierarchie der Erzählebenen bestimmen kann, weil sich Rahmen und Binnenerzählung scheinbar wechselseitig enthalten. Dagegen bleibt bei der metadiegetischen Erzählung nach Genette die Grenze zwischen der metadiegetischen und der intradiegetischen Ebene, also zwischen der Erzählung dritter und zweiter Stufe, grundsätzlich klar erhalten. Da nun ein Text eine Metalepse erst (logisch) sekundär errichten kann, wenn er primär zwei Erzählebenen aufgebaut hat, und weil die narrative Metalepse sowohl zwischen extradiegetischer und intradiegetischer als ____________ 21
22 23 24
In diesem Zusammenhang erscheinen die Hessestudien von Karalaschwili (1986) merkwürdig paradox: Einerseits wird immer wieder gerade auch im Rückgriff auf Lotmans Konzepte der Steppenwolf als autonomes sekundäres semiotisches System untersucht, das aus sich heraus ein Bedeutungspotential generiert, andererseits aber der Text auch biographisch als Hesses Verarbeitung der Jungschen Psychoanalyse gelesen und in diesem Sinne als psychologische Autobiographie Hesses gedeutet. Vgl. Genette [1972/1983](1998: 163, Fußnote 40). Genette [1972/1983](1998: 254). Martinez/Scheffel (1999: 79).
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auch zwischen intradiegetischer und metadiegetischer – also zwischen einer Erzählung erster und zweiter Stufe und einer Erzählung zweiter und dritter Stufe usw. – vorliegen kann, sollte man damit künftig Genettes eigener Argumentation folgen und die Erzählebene dritter Stufe künftig als intra-intradiegetisch, die vierte Stufe als intra-intra-intradiegetisch usw. bezeichnen. Dagegen sollte man künftig den Begriff ‚metadiegetisch‘ ausschließlich für eine Erzählebene des Textes reservieren, die, ähnlich wie zum Beispiel im Bereich der Paratexte die Peritexte (Titeleien, Mottos, etc.), dem Erzählvorgang erster Stufe oberhalb der extradiegetischen Ebene eines Textes vorgelagert und übergeordnet sind. In der Filmnarratologie hat sich anhand des Werbespots genau diese Verwendung des Begriffes ‚metadiegetisch‘ und des Begriffes ‚intraintradiegetisch‘ zur Benennung einer Erzählung dritter Stufe bereits seit langem durchgesetzt25. In Werbespots tauchen z. B. immer wieder Einstellungen auf, die das Produkt als Pack-Shot oder aber einen Werbespruch auf einer eingeblendeten Schrifttafel zeigen, die nicht einer ebenfalls im Spot möglicherweise enthaltenen extradiegetischen Erzählinstanz zugewiesen werden können26. Diese Verwendung des Begriffes ‚metadiegetisch‘ harmoniert insofern mit Genette, als dieser selbst den Begriff ‚metanarrativ‘ im Diskurs der Erzählung benutzt, um in Anlehnung an Roman Jakobsons Sprachfunktionen und an Roland Barthes eine mögliche Funktion der Erzählung zu klassifizieren, bei der die Erzählinstanz metasprachlich (im eigentlichen Wortsinne!) die interne Organisation der eigenen Erzählung verdeutlicht27. Genette selbst räumt hier damit eine Ebene ein, die er der jeweilig vom Erzähler hervorgebrachten Erzählebene vorgelagert sieht, und die der Erzählsituation damit übergeordnet ist. Einen Ausbau erfährt die in der Filmnarratologie etablierte Verwendung des Begriffes ‚metadiegetisch‘ als ein der extradiegetischen Erzählsituation vorgelagerter Raum in Decker (2005)28. Madonnavideos unterscheiden z. B. häufiger eine Sängerin Madonna und eine von Madonna in einer Geschichte verkörperte Figur. Die Sängerin wird dabei zum einen als extradiegetische Erzählinstanz aufgebaut, andererseits wendet sich die Sängerin permanent über die Diegese hinaus an ein vorausgesetztes, textexter____________ 25 26 27 28
Vgl. Grimm (1996: 49, 63-69). Zumal solche Phänomene auch in nicht-narrativen Werbespots – also ohne irgendeine Erzählinstanz – vorkommen. Vgl. Genette [1972/1983](1998: 183). Decker (2005: Kap. 2.2, 4.5).
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nes Publikum. Vor allem auf diese Weise indizieren die Videos oberhalb der Sängerin Madonna, die das Video in einem Erzählakt hervorbringt, und oberhalb der im Video von Madonna verkörperten Figur eine erschließbare Künstlerin Madonna in einem metakommunikativen und damit metadiegetischen Raum oberhalb potenziell vermittelter Diegesen. Das heißt, dass die Videos zusätzlich zu einer extradiegetischen Erzählebene eine Ebene im Text konstruieren, die behauptet, dass auch die eigentlich textexterne Kommunikation einer Autorinstanz mit einem textexternen Rezipienten innerhalb des Textes mit abgebildet wird. Die Sängerin und die verkörperte Figur erscheinen damit in den Madonnavideos nur als äußere Erscheinungsformen einer implizit im Video angezeigten Künstlerin Madonna in einem behaupteten metadiegetischen Raum, die an den textexternen Rezipienten relevante Werte und Normen vermittelt. Gerade im Bereich der Musikvideos von Superstars ist dieses Verfahren üblich und lässt sich historisch sowohl bei Michael Jackson, aber auch aktuell z. B. bei Britney Spears finden. Auch wenn sich nun audiovisuelle und literarische Texte hinsichtlich ihrer Präsentationstechniken, die jeweils an die beteiligten Informationskanäle gebunden sind (Sprache/Schrift vs. Sprache/Ton, Musik/Ton, Filmbilder), nicht vergleichen lassen, so ist doch die Analogie zwischen den Musikvideos und der Konstruktion der Erzählebenen im Steppenwolf evident: Hier wie dort werden zwar keine explizit, expressis verbis grammatikalisch manifesten, metadiegetischen Erzählebenen und Erzählinstanzen oberhalb einer extradiegetischen Ebene vorgeführt, wohl aber eine solche metadiegetische Ebene erzähllogisch indiziert und signalisiert. Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen zum Steppenwolf und zur Filmnarratologie soll deshalb vorgeschlagen werden, auch für literarische Texte nur dann von einer metadiegetischen Erzählebene zu sprechen, wenn solche Fälle zu beschreiben sind, bei denen ein literarischer Text die Fiktion produziert, dass neben und oberhalb der in narrativen Texten obligatorischen extradiegetischen Erzählebene ein literarischer Text zusätzlich auch eine im Text enthaltene Autorstimme indiziert, die – in der Logik der individuellen Textkonstrukte – mit einem textexternen Rezipienten durch den literarischen Text kommuniziert (vgl. Abb. 3). Nur für solche Fälle wie den Steppenwolf, wo neben einer extradiegetischen Erzählebene zusätzlich eine implizite Autorstimme vom Text konstruiert wird, sollte terminologisch eine metadiegetische Erzählebene als eine (wie die intradiegetische oder die intra-intradiegetische Erzählebene) fakultativ von einem Text konstruierte, neue Erzählebene
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reserviert bleiben. Von einer metadiegetischen Erzählebene sollte also nur dann gesprochen werden, wenn ein literarischer Text fingiert, dass er neben einer textinternen fiktionalen Kommunikationssituation auch die textexterne Kommunikation zwischen dem Autor und dem Rezipienten mittels des vorliegenden literarischen Textes mit abbildet. Im Gegensatz zur obligaten extradiegetischen Erzählebene in narrativen Texten ist eine metadiegetische Erzählebene also nur eine zusätzliche Möglichkeit, die ein Text innerhalb seiner fiktionalen Kommunikationssituation, die er mittels seiner Erzählinstanzen aufbaut, realisieren kann und kein Zwang. Ein möglicher Extremfall wären dann Texte, in denen sich die Erzählinstanz erster Stufe als identisch mit dem textexternen Autor behauptet (Nach dem Muster: „Ich, der Autor Hermann Hesse, erzähle Dir, lieber Leser …“). Hier hätte man zwar primär weiterhin eine extradiegetische Erzählinstanz erster Stufe, zusätzlich würde ein solcher Text jedoch fingieren, die textexterne Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser textintern mit abzubilden. Die extradiegetische Erzählebene würde im Falle einer fingierten Identität von Autor und extradiegetischer Instanz in eine indizierte, übergeordnete, metadiegetische Sphäre ausgedehnt werden. Eine solche Erzählsituation dient dabei ganz offensichtlich dazu, Merkmale, die textintern für die Erzählinstanz aufgebaut werden, an den textexternen Referenten dieser Erzählinstanz zu binden. Solche Texte würden primär dazu dienen, ein Image des Autors zu entwerfen. Auch solche Texte dürften also nicht dazu einladen, textexternes Wissen über den Autor im Text wiederzufinden. Vielmehr ist umgekehrt zu fragen, welches Selbstbild des Autors durch einen solchen Text entworfen wird und in welcher Beziehung es zu anderen Selbst- und Fremdbildern des Autors steht.
6. Metadiegetische Ebene und das Konzept des ‚impliziten Autors‘ Insofern also eine metadiegetische Erzählebene oberhalb der extradiegetischen Ebene eine mögliche, fakultative Erzählebene ist, die ein konkreter Text realisieren kann, aber nicht muss, ist diese Erzählebene auch nicht an das Konzept des ‚impliziten‘ oder ‚abstrakten‘ Autors oder das Konzept eines ‚Modellautors‘ als eine obligatorische Ebene im Text anbindbar, wie dieses Konstrukt für die deutsche Literaturwissenschaft
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durch Hannelore Link eingeführt29 und auch im deutschen Raum und international durch Umberto Eco bis in die heutige Zeit transportiert wird30. Genette legt im Neuen Diskurs der Erzählung in seiner Auseinandersetzung mit Wayne Booth über dessen Begriff des ‘implied author’ dar31, dass der implizite Autor als obligatorische narrative Instanz abzulehnen ist32. Genette argumentiert: Eine Fiktionserzählung wird fiktiv von ihrem Erzähler produziert und faktisch von ihrem realen Autor; zwischen ihnen wird kein Dritter aktiv, und jegliche textuelle Performanz kann nur dem einen oder dem anderen zugeschrieben werden, je nachdem, welche Ebene man wählt. Der Stil von Joseph und seine Brüder zum Beispiel kann nur (fiktiv) dem himmlischen Erzähler zugeschrieben werden, der von Natur aus diese pseudo-biblische Sprache sprechen soll, oder aber Thomas Mann, […] der ihn so sprechen läßt.33
Logisch sortiert Genette von vornherein alle Strategien aus, die sich einem explizit fingierten Autor-Erzähler wie Tristram Shandy zuwenden. Hier betreffen alle Merkmale des fiktiven Autors und Erzählers Tristram Shandy nur die fiktive Erzählinstanz Tristram Shandy. Genette führt dann im Folgenden für die personal unbestimmt bleibenden heterodiegetischen Erzählinstanzen aus, dass das Konzept des impliziten Autors dazu benutzt wird, dem Autor mittels eines literarischen Textes 1. ein Unbewusstes zu unterstellen oder aber diesem 2. bestimmte Arten der Sprachverwendung wie Ironie etc. zuzuweisen. Beide Male würden also Aussagen über den realen Autor gemacht werden. Genette fasst seine Position wie folgt zusammen: ____________ 29 30
31 32 33
Vgl. Link (1976). Gerade Eco (2004: 9-37) ist insofern ein problematischer Fall, da er aus individuellen – so nur in diesem einen konkreten Fall (in Poes Gordon Pym) vorliegenden – Textkonstrukten ein allgemeines Modell eines impliziten Autors für alle möglichen Texte verbindlich aufbaut und die Verschachtelung der Erzählebenen in einem konkreten Fall eben nicht notwendig auch die Vorstellung eines für alle Texte allgemein gültigen Modellautors bedingt. Ecos Beispiel könnte m. E. dagegen individuell auf die Möglichkeit einer hier vorgeschlagenen metadiegetischen Ebene untersucht werden, da zumindest Eco auch bei seinem Beispiel das Konzept seines Modellautors auf der Grundlage paratextueller und damit im neuen Sinne metadiegetischer Daten begründet. Vgl. Genette [1972/1983](1998: 283-295). Vgl. in jüngster Zeit auch Jannidis (2002: 540-556). Genette [1972/1983](1998: 286).
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IA [gemeint ist der implizite Autor] scheint mir daher im allgemeinen eine Art Schatteninstanz zu sein […], die durch zwei Unterscheidungen konstituiert wird, die sich wechselseitig ignorieren: 1) IA ist nicht der Erzähler, 2) IA ist nicht der reale Autor – wobei übersehen wird, daß es sich in 1) um den realen Autor handelt und in 2) um den Erzähler, so daß hier nirgends Platz ist für eine dritte Instanz, die weder der Erzähler, noch der reale Autor wäre.34
Genette lehnt also einen impliziten Autor als eine narrativ obligatorische Instanz deutlich ab, schlägt aber für alle Aussagen, die aus einem Text als eine Vorstellung über den Autor ableitbar sind, den Begriff ‚induzierter Autor‘ vor. Gerade dieser Begriff impliziert dabei eine indexikalische Funktion von Textdaten, ähnlich also, wie auch eine mögliche metadiegetische Ebene eine Autorstimme im Text indiziert. Der induzierte Autor und die metadiegetische Ebene sind jedoch deutlich zu trennen. ‚Induzierter Autor‘ heißt, dass alle möglichen Textsignale sekundär als Anzeichen für eine nicht narrativ gebundene Konstruktion eines Autors durch den Leser gedeutet werden können. Aber nur durch Installation einer metadiegetischen Ebene kann ein Text fingieren, dass er auch die textexterne Kommunikation eines Autors mit einem Rezipienten mittels des literarischen Textes und damit eine Autorstimme textintern abbildet. Wenn ein Text wie der Steppenwolf fakultativ eine metadiegetische Autorstimme oberhalb der extradiegetischen Ebene konstruiert, dann ist genau diese Ebene die Schnittstelle, an der ein induzierter Autor im Text greifbar wäre. Alle anderen Vorstellungen über den Autor, die ein Text evoziert, müssen notgedrungen abstrakt bleiben. Über Urteile, dass ein Autor mindestens ebenso gebildet sein muss, wie seine Figur, kommt man nicht hinaus, aber vielleicht ist er ja auch wesentlich gebildeter. Man kann also immer nur ein sehr unscharfes, vor allem aber nur minimales Bild eines Autors aus einem Text ableiten. Dagegen erlaubt die Konstruktion einer metadiegetischen Autorstimme oberhalb der extradiegetischen Ebene ein möglichst stark konturiertes, jedoch fiktionales Bild des Autors. Nun ist aber im Steppenwolf diese implizite metadiegetische Autorstimme im Tractat nur indirekt im akademischen Plural greifbar und darüber hinaus nicht mit weiteren, konkreten, personalen Merkmalen ausgestattet. Dies liegt nun gerade daran, dass 1. extradiegetische Erzählinstanz (der Herausgeber im Vorwort) und durch die Metalepse metadiegetische, oberhalb dieser extradiegetischen Ebene des Herausgebers angesiedelte Instanz („Wir“ im Tractat) personell gerade nicht identisch ____________ 34
Genette [1972/1983](1998: 289).
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sind und 2. die intradiegetische Erzählinstanz Harry Haller gerade mit zusätzlichen Merkmalen ausgestattet ist, die auf den textexternen Autor Hermann Hesse verweisen. Zu fragen ist also, warum im Steppenwolf über einer – mit dem Herausgeber durch eine fiktionale Figur besetzten – extradiegetischen Ebene metaleptisch eine metadiegetische Autorstimme indiziert wird, die personal eine Leerstelle bleibt. Die Frage nach der Funktion genau dieser Erzählsituation im Textganzen lässt sich jedoch nur in Verbindung mit dem Erzählten klären.
7. Das Erzählte: Spiegelmetapher und Selbstreflexivität im Steppenwolf Zwei wesentliche Arten von Spiegelungen sind im Text zu unterscheiden: a) selbstreflexive Spiegelungen auf vertikaler Ebene, d. h. nach Scheffel Wiederholungsbeziehungen zwischen Texteilen und Teiltexten auf verschiedenen Erzählebenen35 und b) metaphorische Spiegelungen und ihre Bedeutung innerhalb einer Erzählebene, so z. B. wenn Hermine in den Aufzeichnungen behauptet, der Spiegel Hallers zu sein: „Begreifst du das nicht, du gelehrter Herr: daß ich dir darum gefalle und für dich wichtig bin, weil ich wie eine Art Spiegel für dich bin, weil in mir innen etwas ist, was dir Antwort gibt und dich versteht?“ (Steppenwolf, S. 140).
Zu den vertikalen Spiegelungen gehört insbesondere auch die narrative Metalepse zwischen intra-intradiegetischem Tractat und intradiegetischen Aufzeichnungen, die (wie ausgeführt) formal bewirkt, dass die hierarchisch eigentlich am stärksten nachgeordnete Erzählung eine metadiegetische Ebene oberhalb der extradiegetischen Erzählebene indiziert und als die hierarchisch höchstmögliche Erzählebene des Textes konzipiert wird. Neben dieser extremen und sicher relevantesten vertikalen Spiegelung im Steppenwolf lassen sich noch zahlreiche andere im Detail finden. Zwischen vier Erzählebenen sind vertikal theoretisch sechs Möglichkeiten der Spiegelung vorhanden, die alle im Steppenwolf auch realisiert werden (vgl. Abb. 4). Im Folgenden sollen zur Veranschaulichung als Belege nur einzelne solcher Spiegelungen skizziert werden, es lassen sich weitaus mehr auflisten:
____________ 35
Vgl. Scheffel (1997: 71-85, bes. 71).
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0. metanarrativ/metadiegetisch: „Wir“, Tractat 1. extradiegetisch-homodiegetisch: „Ich“, Hg., Vorwort 2. intradiegetisch-homodiegetisch: „Ich“, Harry Haller, Aufzeichnungen 3. intra-intradiegetisch: Gedichte Hallers
„Ich Steppenwolf trabe und trabe…“
Sauberkeit Vorplatz
„Die Unsterblichen“
Goethe in Harrys Traum
Sauberkeit Vorplatz
Literatur
Mozart im + Magischen Theater
Figurenmerkmale Harry Hallers
Harry
Hermine
Harry
andere Figuren im Magischen Theater
Magisches Theater
Hallers Aufzeichnungen sind Dichtung.
Haller ist ein pathologischer Fall. Haller ist ein pathologischer Fall. Haller ist ein Steppenwolf.
Magisches Theater
textexternes kulturelles Wissen über Hermann Hesse
Abb.4 Vertikale Spiegelungen zwischen den Erzählebenen und innerhalb der Aufzeichnungen
a) Spiegelung zwischen metadiegetischem Tractat und extradiegetischem Vorwort: Wechselseitig bestätigen sich Tractat und Vorwort als Texte über Harry Haller massiv in seiner Pathologisierung. In beiden wird breit ausgeführt, dass Harry vom Typus her das Leben eines Selbstmörders führe, der zwar
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aus dem Bürgertum ausgestoßen und ihm entfremdet sei, es dennoch aber immer noch als verlorene Heimat betrachte. Damit nähern sich extradiegetische und metadiegetische Ebene auch inhaltlich aneinander an, der extradiegetische Herausgeber wird als vorgeschobene Fiktion einer übergeordneten Stimme markiert. b) Spiegelung zwischen extradiegetischem Vorwort und intradiegetischen Aufzeichnungen: Am deutlichsten beglaubigen sich Vorwort und Aufzeichnungen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit ihres Referenten Harry Haller durch die parallel ausgeführte Hinwendung Harrys zum bürgerlich ordentlichen und sauberen Wohnungsvorplatz mit der Araukarie. Hier wird also eher die faktische Existenz Harrys jenseits des Textes postuliert. c) Spiegelung zwischen intradiegetischen Aufzeichnungen und intra-intradiegetischem Gedicht Die Unsterblichen: Das Handeln von Goethe in Harrys Traum und das Handeln von Mozart im Magischen Theater und beider Bewertung durch Harry in den Aufzeichnungen findet sich bis in die Wortwahl hinein im Gedicht Die Unsterblichen wieder. Damit wird Literatur hier als veräußertes Produkt eines inneren Seelenlebens eines Autors behauptet. d) Spiegelung zwischen metadiegetischem Tractat und intra-intradiegetischem Gedicht Ich Steppenwolf trabe und trabe: Diese Spiegelung, die sich im Einzelnen zwischen den Strukturen beider Teiltexte nachzeichnen ließe, wird vor allem auch durch Harry selbst in den Aufzeichnungen hergestellt, da er nach der erzählten Lektüre des Tractats unmittelbar selbst das Gedicht präsentiert und eine Widerspiegelung behauptet: „Da hatte ich nun zwei Bildnisse von mir in Händen, […].“ (Steppenwolf, S. 88). e) Spiegelung zwischen metadiegetischem Tractat und intradiegetischen Aufzeichnungen: Inhaltlich die wichtigste Spiegelung ist das als Heilung Hallers im Tractat proleptisch prognostizierte Magische Theater, auf dessen Besuch Hallers
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Aufzeichnungen zielgerichtet zulaufen. Die Bedeutung des Magischen Theaters für die Personwerdung Hallers liegt insbesondere in der Konfrontation Hallers mit seinen divergenten Persönlichkeitsanteilen, was für die Forschung exemplarisch von Schwarz (1993) auf der Folie des goethezeitlichen Bildungsromans und insbesondere Rilkes Werken und der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches im Handlungsverlauf des Romans nachgezeichnet wird. f) Spiegelung zwischen extradiegetischem Vorwort und intra-intradiegetischen Gedichten: Marginal ist hier die Spiegelung, die sowieso den ganzen Text auf allen hier gelisteten Ebenen durchzieht, nämlich Harrys Steppenwolfnatur, die grundsätzliche Spaltung seiner Persönlichkeit in Trieb und Intellekt. Fundamentaler scheint mir hier eher eine Spiegelung auf abstrakter Ebene: Der Herausgeber bezeichnet Hallers autobiographische Aufzeichnungen aufgrund ihres phantastischen Charakters als ‚Literatur‘ und Harrys Gedichte sind selbst wieder literarische Texte. Im Rahmen dieser Spiegelung wird wiederum deutlich der fiktionale Charakter zumal der Aufzeichnungen und der Gedichte hervorgehoben. Eine siebte Spiegelungsmöglichkeit liegt dann vor, wenn man den sekundären Verweis der Figurenmerkmale Hallers auf ein textexternes kulturelles Wissen über den Autor Hermann Hesse als Spiegelung bezeichnen möchte36. Diese Spiegelungsmöglichkeit hebt nun die intradiegetischen Aufzeichnungen besonders hervor, auf die auch alle als solche bezeichneten und metaphorischen Spiegelungen innerhalb einer Erzählebene begrenzt sind. Die Aufzeichnungen Hallers erweisen sich hinsichtlich der Spiegelungen zwischen den Erzählebenen und in einer Erzählebene damit quantitativ und qualitativ als besonders herausgehoben. In diesem Zusammenhang ist auch die spezielle Erzählsituation der Aufzeichnungen noch einmal näher zu erläutern: Ein erzählendes „Ich“ erzählt über sich als ein erzähltes „Ich“ in der Weise, dass sich das erzählende „Ich“ immer wieder in die Gegenwart und das Bewusstsein des erlebenden, erzählten „Ich“ projiziert und dabei von der Vergangenheitsform über die erlebte Rede in der Vergangenheitsform in ein Präsens ____________ 36
Vgl. zu dieser Form der Spiegelung auch Huber (1994: 92), der allerdings den Steppenwolf auf der Folie fleißig gesammelter intertextueller Bezüge biographisch liest.
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überwechselt (z. B. Steppenwolf, S. 100)37. Thema der Aufzeichnungen ist damit, so banal diese Grundthese auch ist, dass ein erzählendes „Ich“ über sich als ein erzähltes „Ich“ reflektiert38. Alle diese Spiegelungen vernetzen nun die einzelnen Erzählebenen so miteinander, dass vor allem jeweils der fiktionale Charakter jeder Erzählebene dominant markiert wird. Auf dieser Folie erweisen sich der Herausgeber und Harry Haller jeweils deutlich als fiktionale Figuren, weil die einzelnen Erzählebenen sich im Gesamttext als ein gemachtes, aufeinander verweisendes Gewebe erweisen. Bedeutsam erscheint mir dabei insbesondere, dass durch diese Spiegelungen der Status des auf den einzelnen Ebenen Ausgesagten nicht mehr klar festzulegen ist. Was sich im Rahmen einer Spiegelung als scheinbar faktisch erweist, wird im Rahmen einer anderen Spiegelung als fiktional ausgewiesen. Genau durch diesen oszillierenden Realitätsstatus des auf jeder Ebene Ausgesagten wird im Textganzen die Bedeutung aufgebaut, dass die einzelnen Elemente der Spiegelungen auf jeder Erzählebene nur uneigentliche Bilder sind. Anders gesagt: Auf jeder Erzählebene des Textes erweist sich das Erzählte nur als eine uneigentliche Spiegelung. Es ist unentscheidbar, was denn eigentlich der logisch vorgelagerte Referent ist, der gespiegelt wird39. Keine der einzelnen Erzählebenen und damit kein jeweils in ihnen Erzähltes bekommt damit im Steppenwolf in Gänze den Status, der grundlegende Bezugspunkt und Ursprungspunkt des Erzählten und des Erzählens zu sein. Der Steppenwolf baut also die Bedeutung auf, dass alles, was erzählt wird, nur jeweils den Charakter eines Abbildes hat und dass ein Ursprung dieser Abbilder – der logisch vorgelagerte Referent – im Erzählten grundsätzlich fehlt. Genau auf dieser Relation von Abbild und Referent baut das ganze poetologische Konzept des Steppenwolf auf.
____________ 37
38 39
Vgl. Cohn (1980), die dieses Erzählverfahren als ‚selbsterzählten Monolog‘ konturiert. Vgl. grundlegend zur Problematik einer Polyphonie der erlebten Rede zwischen Erzähler-, Autor- und Figurenstimme der erlebten Rede Bachtin (1979: 206ff.). Vgl. die Unterscheidung in ‚Person‘ und ‚Persona‘ in Friedmann (1980: 131-134). Vgl. zur Problematik der Semiose via Spiegelbildern einführend Eco (2002: 26-61, bes. 38), der darauf hinweist, dass reale Spiegelbilder niemals Zeichen und damit nicht interpretierbar sind, sondern vielmehr nur ein Reizfeld duplizieren und damit individuelle Referenten bloß reproduzieren.
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8. Poetologisches Konzept des Steppenwolf Grundlage des poetologischen Konzepts des Steppenwolf ist ein Konzept der Person, bei dem keine einheitliche Person als ein „Ich“ existiert, sondern die Person aus vielen „Ichs“ zusammengesetzt ist. Genau diese Konzeption der Person manifestiert sich im Erzählten im Magischen Theater, wo Harry sein bisheriges Selbstbild, sein steppenwölfisches Harry-„Ich“, zunächst in einem Spiegel betrachten und symbolisch durch Auslachen umbringen muss, also dieses Harry-„Ich“ nicht mehr als dominant und relevant setzt. Aus Harry springen dann viele verschiedene Personen heraus, die in einzelnen Räume des Magischen Theaters bisher nicht ausgelebte Persönlichkeitsanteile ausagieren und denen das Bewusstsein, der Rest des selbst ‚getöteten‘ Harrys, selektiv folgt. Die ganze bisherige Handlung, vor allem das Erlernen einer hedonistischen Komponente durch Harry – seine masochistische Unterwerfung unter Hermine, der Lebenswandel der Boheme und das Erlernen der Erotik mit Maria – fungiert dabei als Katalysator, der genau auf den Moment des Ausbruchs von Harrys Persönlichkeitspotential im Magischen Theater hin funktionalisiert wird. Diese Konzeption der Person ist typisch für die Frühe Moderne40: In der Person sind unter der Oberfläche des Bewusstseins als Potential viele verborgene Persönlichkeitsmerkmale angesiedelt. Durch Normverstöße, vor allem im erotischen Bereich (hier im Text durch eine im Drogenrausch nur virtuell ausgelebte Gruppensexorgie Harrys mit Hermine, Maria und Pablo, die auch männliches und weibliches homosexuelles Verhalten umfasst), wird das Persönlichkeitspotential befreit. So kann Harry (wiederum virtuell im Raum mit der Aufschrift: „Alle Frauen sind dein“) seine erotische Biographie im Magischen Theater nacherleben und seine Erotik auch dort ausleben, wo er es sich bisher in seinem Leben versagt hat. Typisch für die Frühe Moderne wird dabei das Ausagieren des Persönlichkeitspotentials oppositionell zur Gesellschaft und dabei als Überwindung einer sozialen Ordnung und auf diese Weise als Gewinnen absoluter Autonomie des Subjekts im Text gedacht, wie die Episode Hochjagd auf Automobile verdeutlicht41. Damit die Person sich schließ____________ 40 41
Vgl. modellhaft zur Konzeption der Person in der Frühen Moderne (ca. 1890-1930) Titzmann (1989). Vgl. zum Steppenwolf als Kritik an soziokulturellen Entwicklungen der Moderne Delabar (2004).
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lich als Person wieder auf einer höheren Ebene reintegriert, muss sie ihre Potentiale anerkennen und in ihre Persönlichkeit einbauen. Genau dies versucht Harry zu lernen, indem er sich im Magischen Theater zeigen lässt, dass der Aufbau seiner Persönlichkeit wie bei einer Art Schachspiel mit Hilfe von fiktionalen Figuren geschieht, die alle einen Teil seiner Persönlichkeit darstellen und die er beliebig und immer wieder aufs Neue beginnend miteinander interagieren lassen kann und soll. Dies gelingt im Verlauf seiner Anwesenheit im Magischen Theater jedoch nicht. Harrys Steppenwolf-„Ich“ gewinnt wieder bei einem erneuten Blick in einen Spiegel die Oberhand und das alte Harry-„Ich“ tötet Hermine. Dieses Versagen Harrys wird im Magischen Theater damit bestraft, dass das Spiel mit den Persönlichkeitspotentialen abgebrochen wird. Harry wird durch Auslachen hingerichtet. Ihm wird aber am Textende die Möglichkeit eines neuen Spiels mit der eigenen Persönlichkeit als Versprechen eröffnet. Hermine wird aus dem Spiel als Figur genommen und erweist sich auf der Folie der Schachspielmetapher als ein nur veräußerter Teil der Person Harry, mit dem er nicht umgehen konnte. Auf der Folie dieser Personenkonzeption und der Handlung im Magischen Theater stellen sich somit die erzählten „Ichs“ Harry, Hermine, Pablo, Maria etc. innerhalb der Diegese der Aufzeichnungen nur als einzelne, durch Figuren verkörperte Aspekte des erzählenden „Ich“ Harry Haller der Aufzeichnungen dar (vgl. Abb. 5). Das Magische Theater ist in diesem Sinne eine Metapher für die literarische Verfasstheit der Diegese und des in ihr Erzählten. Aus dieser Perspektive ist bedeutsam, dass Harrys Ziel, die Entfaltung seiner Persönlichkeit, ihn den Unsterblichen näher bringen soll. Was Harry also anstrebt, ist eine Überwindung von Persönlichkeitsanteilen, um zu etwas zeitlos Höherem zu kommen. Auf diese Weise wird rückwirkend das Erlernen der hedonistischen Komponente und das Ausleben der Erotik als ein Umweg semantisiert, der ein Höheres in der Person katalysiert42. Als Beleg dafür kann angeführt werden, dass Harry Hermine, als er sie endlich begehrt, durch ihren Transvestismus auf dem Maskenball verwehrt bleibt und als Erfüllung seines Begehrens statt des faktischen Geschlechtsverkehrs schließlich das durch Drogen evozierte Magische Theater betreten wird43. Dieses Höhere, das Harry anstrebt, ____________ 42 43
Auch das ist typisch für die Frühe Moderne, vgl. Wünsch (1990). Vgl. Mecocci (2004), die sich vor allem den Geschlechterrollen in Hesses Steppenwolf widmet und herausarbeitet, dass im Text das Weibliche grundsätzlich als ein Fremdes und bedrohlich Abweichendes von einer männlichen Norm im Text interpretiert wird.
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metadiegetischer/metanarrativer Raum:
diegetischer Raum: Harry Hallers Aufzeichnungen
Tractat
Abbild : Urbild :: Erzählte Ichs : Erzählendes Ich
Literatur : Dichterseele
Religion
Harry – Hermine
Literatur
Magisches Theater
diegetische „Stimmen“ Harry Hallers in „Dichtung“
implizite Autorenstimme in „Theorie“
- untergeordnete Erzählebene -
- übergeordnete Erzählebene -
Gesamttext : realer Autor
Abb.5 Poetologisches Konzept des Steppenwolf
wird im Text damit als Überwindung eines begrenzten „Ich“ behauptet. Anstelle eines solchen „Ich“ soll die Person in einen höheren Seinszustand übergehen, der im Text in seinen konkreten Merkmalen allerdings Leerstelle bleibt, jedoch allgemein mit Kunst und Religion benannt wird. So spürt Harry eine höhere Seinsstufe nur in Musik und Dichtung (Steppenwolf, S. 39f.), so überwindet sich der leidende Künstler nach Harry im Kunstwerk selbst und offenbart ein höheres Sein (Steppenwolf, S. 59). Die eigentlich kulturellen Konstrukte Kunst und Religion werden damit zu in der Welt essenziellen, aber verborgenen Wesenheiten stilisiert, die universelle Wahrheiten und Seinsbereich dekodieren44. Genau dieser Zusammenhang wird in den Aufzeichnungen explizit zwischen Hermine und Harry verdeutlicht. So erklärt Hermine Harry, dass sein Ärger über das verkitschte Goethebild beim jungen Professor und ihr Ärger über verkitschte Heiligenbilder in derselben Erkenntnis wurzeln: „Aber ich weiß trotzdem, daß auch mein Heiland- oder Franzbild bloß ein Menschenbild ist und an das Urbild nicht heranreicht, […]“ (Steppen____________ 44
Hier manifestiert sich Gedankengut Nietzsches, wie dieser auch explizit vom Herausgeber im Vorwort als modellhafter Typus für Harry Haller in den Dienst genommen wird. Vgl. zur Verarbeitung von Nietzsches Philosophie Horrocks (1993).
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wolf, S. 131). Die Werke literarischer oder bildender Kunst selbst sind also bloße Abbilder, bloße Spiegelungen eines nicht direkt und konkret erfassbaren, universellen und ontologischen Referenten, eben des „Urbildes“. Genau diesen Zusammenhang verdeutlicht schließlich auch das an Platons Höhlengleichnis angelehnte „Radiogleichnis“ im Magischen Theater (Steppenwolf, S. 271-273)45. Hier behauptet Mozart: Sie hören und sehen Wertester, zugleich ein vortreffliches Gleichnis alles Lebens. Wenn Sie dem Radio zuhören, so hören und sehen Sie den Urkampf zwischen Idee und Erscheinung, zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Göttlichem und Menschlichem. Gerade so, mein Lieber, wie das Radio die herrlichste Musik der Welt zehn Minuten lang wahllos in die unmöglichsten Räume wirft, […] – gerade so schmeißt das Leben, die sogenannte Wirklichkeit, mit dem herrlichen Bilderspiel der Welt um sich […]. (Steppenwolf, S. 272)
Innerhalb des diegetischen Raumes der Aufzeichnungen lässt sich also folgende Homologie explizit festhalten: Ein zeitloses, universelles Höheres und das konkrete menschliche Leben verhalten sich zueinander, wie sich ein abstrakt bleibender Referent („Idee“) und konkretes Abbild („Erscheinung“) zueinander verhalten: Das Konkrete ist ein Uneigentliches, das ein nicht anders als uneigentlich bezeichenbares Eigentliches vermittelt. Die Welt ist transzendentes, mediales Signifikant, das ein rein abstrakt bleibendes Signifikat kodiert (vgl. Abb. 5). Die Welt im Steppenwolf ist eine Welt, in der alles Zeichen ist, das konkrete Signifikat oder gar der Referent jedoch Leerstelle bleiben. Damit verhält sich das Erzählte, nämlich Abbild und Referent innerhalb der Diegese der Aufzeichnungen, genauso zueinander, wie sich auch erzählte „Ichs“ in den Aufzeichnungen und erzählendes „Ich“ der Aufzeichnungen zueinander verhalten: Alles was vorgeführt wird, ist ein zeichenhaftes Abbild, das auf ein außerhalb der Aufzeichnungen existentes Eigentliches verweist. Genau diese Konzeption der literarisch manifesten Welt der Aufzeichnungen wird nun im Tractat explizit mit einer Konzeption von Dichtung verbunden (bes. Steppenwolf, S. 78f.). Hier reflektiert die implizite Autorstimme im metadiegetischen Raum über den Zusammenhang der Konzeption der Person als viele Personen mit der Dichtung und folgert schließlich:
____________ 45
Vgl. die Analyse des Magischen Theaters im Kontext einer bei Hesse im Werk immanenten Theatersemantik von Huber (1991).
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Und in unserer modernen Welt gibt es Dichtungen, in denen hinter dem Schleier des Personen- und Charakterspiels, dem Autor wohl kaum ganz bewußt, eine Seelenvielfalt darzustellen versucht wird. Wer dies erkennen will, der muß sich entschließen, einmal die Figuren einer solchen Dichtung nicht als Einzelwesen anzusehen, sondern als Teile, als Seiten, als verschiedene Aspekte einer höheren Einheit (meinetwegen der Dichterseele). (Steppenwolf, S. 78f.)
Diese Aussage auf der metadiegetischen Erzählebene kann deutlich als Reflexion der Autorstimme im Gesamttext über den konkreten vorliegenden literarischen Text Steppenwolf verstanden werden. Hier behauptet die implizite Autorstimme innerhalb der Fiktion, dass die textintern fingierte Kommunikationssituation auch die textextern reale Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser abbildet, dass alles, was in den literarischen Zeichen konkret vorliegt, nur Abbild der Psyche des Autors als eigentlichem Referenten jenseits des Textes ist. So sind Harry Hallers erzählte „Ichs“ (die Figuren in den Aufzeichnungen) nur Abbilder des erzählenden „Ich“, so ist das Tractat nur programmatisches Abbild der Aufzeichnungen und – so kann man die Homologie in der Logik der Textkonstrukte fortsetzen – so ist der literarische Text Steppenwolf nur Abbild der Dichterseele Hermann Hesses: Gesamttext und realer Autor verhalten sich genauso zueinander wie die Aufzeichnungen Harrys und das metanarrative Tractat und diese wiederum genauso wie innerhalb der Aufzeichnungen die erzählten „Ichs“ und das erzählende „Ich“ Harry sowie wiederum die Spiegelungen untereinander in den Aufzeichnungen auf der Grundlage der „Abbild/Urbild“-Metapher Hermines. Wenn also alle Literatur nur Abbild eines im Text nicht enthaltenen Referenten ist und damit auch Abbild der Psyche des textexternen Autors, muss Harry notwendig am Ende des Steppenwolf scheitern und kann auch Hermann Hesse nur diese Konzeption der Welt und der Literatur als Zeichen benennen, nicht aber wirklich direkt im Text ein Höheres und Universelles oder gar sich selbst direkt darstellen und benennen. Da eine explizite metadiegetische Selbstnennung Hesses ebenso wie ein Durchbruch Harrys zum Universellen jenseits aller Bilder seiner Person immer nur im Rahmen des literarischen Textes Steppenwolf stattfinden könnte und damit, in der Logik der Transzendenz allen Seins im Erzählten und im Erzählen des Textes, wiederum nur Abbild wäre, kann notwendig die Person des Autors nur indiziert werden und muss Harry notwendig schei-
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tern, um davon noch als ein „Ich“ schreibend berichten zu können46. Gerade deshalb bleibt die implizite Autorstimme im Tractat unbenannt, gerade deshalb ist die extradiegetische Erzählinstanz eine fiktive, und gerade deshalb verweist Harry Haller nur sekundär auf den textexternen Autor. Die Urbilder oder das postulierte höhere, zeitlose Universelle oder der konkrete und abstrakte Referent können notgedrungen nur postuliert, nicht aber literarisch dargestellt werden, wenn Literatur nur als ein uneigentliches Bezeichnendes für ein eigentlich Bezeichnetes gesetzt wird, das nur uneigentlich ausgedrückt werden kann, ansonsten aber hinter allem Sein verborgen ist47. Im Steppenwolf wird durch dieses aus dem Erzählten und den Erzählstrategien rekonstruierbare poetologische Konzept also die Grenze zwischen der Welt des Textes und einer Welt jenseits des Textes, auf die referiert wird, zwar maximal minimalisiert, sie lässt sich aber eben nicht aufheben. Hesses Steppenwolf lässt sich damit auch literaturhistorisch verorten: Einerseits resümiert und expliziert der Text fast schon penetrant wichtige Konzepte der Literatur der Frühen Moderne, wie besonders das Konzept der Person. Andererseits radikalisiert der Text wiederum nur die Konzeption einer grundsätzlich transzendenten Welt und der Literatur als Ort der Vermittlung dieser Transzendenz, die mindestens seit der Klassik Schillers und Goethes etablierte und traditionelle Konzepte von Welt und Literatur sind. Nicht also nur Harry steckt in der Krise – und man mag mir am Ende diesen aphoristischen Biographismus verzeihen – auch der Autor Hesse steckt in der Krise. Anders gesagt: Nicht nur ____________ 46
47
Der mögliche Einwand, dass gerade diese Relativierung aller Teiltexte untereinander den Konstruktionscharakter des Textes und damit seine Gemachtheit signalisiert und er auf diese Weise als künstlerisch artifizieller Text damit von einem realen Autor des Textes entkoppelt ist, sticht hier also gerade nicht: Wenn alles im Erzählten als relativ und nur als Reflex auf einen konkreten Referenten gedacht wird, dann impliziert auf dieser Folie des Erzählten notgedrungen die Relativität aller Teiltexte und ihrer Erzählinstanzen auf der Ebene des Erzählens einen Referenten jenseits des Textes, der genau diesen Text zu verantworten hat. Um eine Analogie aus der bildenden Kunst zu bemühen: Die beiden berühmten, sich wechselseitig zeichnenden Hände von M. C. Escher implizieren notwendig eine übergeordnete dritte Hand, die diese beiden Hände ihrerseits gezeichnet hat. Jenseits der Zweidimensionalität des Blattes muss es einen Urheber in der dritten Dimension geben, der die Paradoxie im zweidimensionalen Blatt auf einer übergeordneten Ebene auflöst. Vgl. Söring (1988), der ein ähnliches Konzept (allerdings nicht anhand des Steppenwolf, sondern aus poetologischen Selbstäußerungen Hesses) als grundlegend für Hesses Werk entwirft.
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Haller gehört zu denen, die zwischen zwei Zeiten hineingeraten, die aus aller Geborgenheit und Unschuld herausgefallen sind, zu denen, deren Schicksal es ist, alle Fragwürdigkeit des Menschenlebens gesteigert als persönliche Qual und Hölle zu erleben (Steppenwolf, S. 32),
sondern auch die Literatur ist mit Hesses Steppenwolf zwischen zwei Zeiten und in eine Krise geraten: Einerseits gehört der Text durch seine Konzeption der Person und die Funktion der Erotik in dieser Konzeption deutlich zur Frühen Moderne, andererseits versucht der Text, die Frühe Moderne zu überwinden und frühmoderne Elemente mit einer konventionellen, gar konservativen klassischen Literaturkonzeption zu verbinden. So scheitert letztlich nicht nur Harry, so scheitert letztlich auch der Text, wenn man ihn an ästhetischen Maßstäben misst. Der Steppenwolf erweist sich formal zwar als ungeheuer innovativ, seine Literaturkonzeption ist es dagegen auf keinen Fall. Darüber hinaus wirkt erstens die Explizitheit und Perpetuierung der Spiegelmetapher auf allen Ebenen des Textes überdeutlich und zweitens die Überhöhung von Kunst und Religion als Vermittler eines höheren Seins auch als implizite Selbststilisierung und Selbsterhöhung des Autors Hesse, die sich davor drückt, innovative Konzepte auf der Ebene des Erzählten in die Literatur einzuführen.
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MARTIN NIES (Passau)
‚Stimme‘ und ‚Identität‘: Das Verschwinden der ‚Geschichte‘ in Knut Hamsuns Pan, Johannes V. Jensens Skovene, Joseph Conrads Heart of Darkness und Robert Müllers Tropen Abstract Apart from sharing central thematic and structural analogies Knut Hamsun’s Pan (N 1894), Johannes V. Jensen’s Skovene (DK 1904), Joseph Conrad’s Heart of Darkness (GB 1911) and Robert Müllers Tropen (D 1915) each tell us about ‘tropical’ river journeys of Northern European characters. The narrative model of the journey that coincides with a fundamental experience of strangeness is used to convey different values and ideologies, so that the texts can be read as constructs and counterconstructs. But decisive for the interpretation is that the texts call the narrator and his ‘personal voice’ into question, so that diegesis disappears in order to maintain the act of speaking as the last presence. The comparative analysis shows that the texts that have often been treated as examples of the literary exotism of early modernism are in fact metatexts. As metatexts, they disavow exotism and in the end want ‘Tropen’ (‘tropes’/‘tropics’) to be interpreted in a rhetorical sense: talking about the journey turns out to be talking indirectly about cultural narrative patterns.
Das die Erzählinstanz selbst betreffende narrative Verfahren, das hier am Beispiel von vier Erzähltexten der Frühen Moderne komparatistisch problematisiert werden soll, ist die Verunsicherung über den Seinsstatus und die ‚Identität‘ des Erzählers. Einen Extremfall dieser Erzählstrategie hat Gérard Genette in Die Erzählung als ‚Metalepse‘, also als einen
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„Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen“, beschrieben1. Gemeint sind alle Grenzüberschreitungen eines Erzählers oder Adressaten in die dargestellte Welt der Erzählung (Diegese), von Figuren der intradiegetisch dargestellten Welt in die metadiegetische Ebene einer Binnenerzählung sowie Grenzüberschreitungen diegetischer Figuren in die jeweils übergeordnete Ebene des Erzählers2. Genette spricht diesen ‚eigentlich unmöglichen‘ Wechseln von Seins- oder Kommunikationsebenen eine „bizarre Wirkung“ zu3. Zwar scheint es wenig ungewöhnlich, wenn etwa eine Figur intradiegetisch Gegenstand einer narrativen Kommunikationssituation zwischen zwei Figuren ist. Wird aber eine Binnenerzählung als ‚fiktiv‘ gekennzeichnet und eine ihr zugehörige, fiktionale Figur tritt etwa in der übergeordneten (fiktiven) Realität der dargestellten Welt als handelnde Person auf, erzeugt der Text eine fundamentale Verunsicherung über den Gehalt des Erzählten und den Status der dargestellten Welt. Hier soll es insbesondere um die Fälle „paradoxaler Transgressionen“ gehen4, die den Status der Erzählerperson, genauer das Verhältnis von ‚erzählendem‘ und ‚erzähltem Ich‘, betreffen und in den Textbeispielen die erzählte ‚Geschichte‘ in ihrer fiktiven Historizität sukzessive entwirklichen5. Sie haben, wie eine Problematisierung des Seinsstatus des Erzählers überhaupt, die Funktion metafiktional und selbstreflexiv die Literarizität und ____________ 1 2 3 4
5
Genette [1972/1983](1994: 167). Genette [1972/1983](1994: 168). Ebd. Der Terminus ‚paradoxale Transgression‘ ist dem Begriffsapparat der Forschungsgruppe Narratologie an der Universität Hamburg entlehnt, insbesondere dem Projekt Nr. 4 unter der Leitung von Klaus Meyer-Minnemann, Paradoxale Grenzüberschreitungen von Kommunikations- und/oder Seinsebenen literarischer Erzähltexte: Die narrativen Verfahren mise en abyme, Metalepse, Meta-/Hypo- und Pseudodiegese, www.narrport.de. Nach Genette handelt es sich bei dem ‚Ich-Erzähler‘ um einen extradiegetischen Erzähler erster Stufe mit homodiegetischer Beziehung zur Erzählung, in der er autobiographisch seine eigene Geschichte erzählt (Genette [1972/1983](1994: 178)). Zur Darstellung des hier untersuchten Phänomens reicht aber diese Klassifikation nicht aus, da sie dort personale ‚Identität‘ suggeriert, wo die Texte sie in Frage stellen. Die Termini ‚erzählendes‘ vs. ‚erzähltes Ich‘ machen durch die Miteinbeziehung der Perspektive und einer Relation ‚Schöpfer‘ vs. ‚Geschaffenes‘ deutlich, dass das erzählende Ich immer einen gegenüber der Diegese übergeordneten Wahrnehmungsstandpunkt innehat, von dem aus das zumeist in der Vergangenheit Erlebte nicht ‚unmittelbar‘ wiedergegeben wird, sondern dass das erzählende Ich sich rückprojizierend als ein erlebendes Ich erfindet. Das ‚erzählte Ich‘ lässt sich also als ein vom Erzähler kommuniziertes Konstrukt der eigenen Person verstehen.
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den Konstruktionscharakter des Textes herauszustellen, den Erzähler und den Erzählvorgang in den Blickpunkt zu rücken und die erzählten Ereignisse teilweise oder ganz als imaginiert zu relativieren. Die insgesamt vier Textbeispiele, Knut Hamsuns Pan (Norwegen 1894), Johannes V. Jensens Skovene (Dänemark 1904, im Folgenden mit dem deutschen Titel Wälder bezeichnet), Joseph Conrads Heart of Darkness (Großbritannien 1911) und Robert Müllers Tropen (Deutschland 1915), weisen über die Besonderheiten der Erzählverfahren hinaus einen sehr engen thematischen und motivischen Zusammenhang auf: Sie beschreiben mehr oder weniger zentral tropische Flussreisen in Transitionsphasen befindlicher männlicher Protagonisten, die als ‚nordeuropäischer Abenteurertypus‘ konzipiert sind und deren Individuations- und bürgerlicher Integrationsprozess jeweils durch die Erfahrung des ‚Fremden‘ vorübergehend gefährdet ist6, denn mit dem Vordringen in den Dschungel schildern die Texte zunehmende Entgrenzungen des Ich bis zum Verlust der ‚Person‘7. Als Erzählinstanz fungiert ein Ich-Erzähler, der die Reise retrospektiv Revue passieren lässt. Die Geschehnisse und berauschenden Wahrnehmungen des Exotischen werden also nicht im Moment des Erlebens präsentiert, sondern nach ihrem Abschluss in Gestalt einer geordneten und ästhetisierten ‚Geschichte‘ erzählt oder verschriftet: Alle Texte verfügen über eine Rahmenerzählung, die das Erzählen bzw. Aufschreiben des Ich thematisiert, sowie über eine Binnenerzählung, in der das erzählte Ich als Perspektiv- und Handlungsträger agiert. Da es sich um persönliche ‚Lebenserinnerungen‘ handelt, sind die Darstellungen der Ereignisse der Binnengeschichten von vornherein als subjektiv gekennzeichnet, aber alle Texte relativieren das Erzählte weiter, da sie implizit oder explizit Distanz zu den Erzählerfiguren schaffen, z. B. indem sie diese als unzuverlässig und unglaubwürdig z. T. bis hin zu ihrer Psychopathologisierung ausweisen. ‚Eigentlicher‘ Gegenstand der Texte ist damit das Erzählen, die Diskrepanz zwischen Erzählen und ‚Geschichte‘, die ‚Stimme‘ als Ausdruck der ‚Person‘ der Erzählerfiguren sowie die psychische und soziale Funktion des Erzählens bzw. Schreibens, d. h. der discours wird metafiktional als die eigentlich bedeutungskonstituierende Ebene akzentuiert. Der Vergleich legt außerdem die Eröffnung einer intertextuellen Interpretationsebene nahe, auf der die analogen und divergenten Strukturen ____________ 6 7
Zum hier verwendeten Fremdheitsbegriff vgl. Nies (im Erscheinen). Zu den Termini ‚Person‘ und ‚Identität‘ vgl. Titzmann (1989a).
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der Texte relational im Sinne jeweils von ‚Konstrukt‘ und ‚Gegenkonstrukt‘ gedeutet werden. Zwischen den dialogizierenden Texten verliert sich allerdings der fiktiv ‚reale‘ Gehalt der erzählten Geschichten gänzlich, da sie aus dieser Perspektive lediglich selbstreflexive Zitationen und Variationen von Literatur darstellen. Wälder z. B. enthält parodistische Referenzen auf Pan, die diese Lesart erzwingen, in Heart of Darkness und Tropen findet zwar keine Explikation von intertextuellen Bezügen statt, aber neben deutlichen Allusionen auf die anderen Texte greifen sie nachweisbar die Erzählmodelle, Themen und Motive der literarischen Vor-Bilder auf. Deren detaillierte, die Systemgrenzen von Nationalliteraturen überschreitende Aktualisierung über einen Zeitraum von über zwanzig Jahren mag auf ihre zentrale und paradigmatische Signifikanz für die Literatur der Frühen Moderne verweisen.
1. Das Problem der Erzähleridentität in Knut Hamsuns Pan Knut Hamsuns Pan. Af Løitnant Thomas Glahns papirer (dt. Pan. Aus Leutnant Thomas Glahns Papieren) impliziert im Titel eine Herausgeberschaft, die der Text nicht weiter thematisiert. Der Gesamttext Pan untergliedert sich in zwei Teiltexte, deren erster (Ta) die Erinnerungen des IchErzählers Thomas Glahn an einen in Nordnorwegen verbrachten Sommer enthält, während der wesentlich kürzere zweite (Tb) seinen Tod im indischen Dschungel berichtet, mit „Glahns Tod. Ein Papier aus dem Jahre 1861“ betitelt ist und von einem nicht näher identifizierten Ich-Erzähler präsentiert wird. Beide Teiltexte untergliedern sich je in eine Rahmenund Binnenerzählung, wobei die Erzählungen der ersten Stufe das Niederschreiben der Erzählungen der zweiten Stufe und seine Bedingungen zum Gegenstand macht. Die verschiedenen Ebenen verhalten sich zueinander wie in der nebenstehenden Abbildung dargestellt. Die zeitliche Organisation der Ebenen ist auffällig symmetrisch angelegt – zwischen Erzählen und Erzähltem sowie zwischen Ta und Tb liegen jeweils zwei Jahre –, ein Sachverhalt, der sich nicht aus der Notwendigkeit des Erzählten ergibt, sondern lediglich die Funktion haben kann, auf den Konstruktionscharakter des Gesamttextes zu verweisen und den Blick auf eine übergeordnete Kohärenz der beiden Teiltexte zu lenken, die erst das implizite ‚Weltmodell‘ von Pan offen legt. ‚Inhaltlich‘ be steht der Zusammenhang der Teiltexte zunächst in der Präsentation von zwei Abschnitten aus dem Leben Thomas Glahns. In Ta2 wird sein Aufenthalt in Nordnorwegen berichtet, wo er ein naturnahes Dasein fern der Zivilisa-
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Gesamttext: Pan: Aus Leutnant Thomas Glahns Papieren [1894] Ta1
1857
„Ich“: Thomas Glahn
(ohne Titel) norwegische Großstadt (Kristiania?)
Ta2
1855
Tb1
„Glahns Tod. Ein Papier aus dem Jahr 1861“
„Ich“: anonym Tb2
Sirilund, Nordland
(Verschriftungsort nicht benannt) 1859
Dorf (?), ind. Dschungel
tion führen will, aber dieser Rückzug aus der Gesellschaft in die nordische Waldeinsamkeit wird zunehmend durch die Kaufmannstochter Edvarda gestört. Schwankend zwischen rituellen Beschwörungen der Naturkräfte und einer die Erfüllung meidenden Sehnsucht nach dieser modern-nervösen, sozial hochrangigen Frau, die ihn noch an die Gesellschaft bindet, erfährt Glahn ein intensives berauschendes Lebensgefühl, das ihn aber zunehmend seine Individualität als problematisch erfahren und irrational handeln lässt, bis er – von der Erkenntnis der NichtRealisierbarkeit seiner Zivilisationsflucht und Unmöglichkeit einer Normalisierung der Liebesbeziehung desillusioniert – in die Großstadt zurückkehrt. Dort erhält er zwei Jahre darauf einen Brief der Geliebten mit zwei Federn, die den Erinnerungs- und Schreibprozess in Ta1 auslösen: In den letzten Tagen dachte und dachte ich an des Nordlandsommers ewigen Tag. Ich sitze hier und denke an ihn und an eine Hütte, in der ich wohnte, und an den Wald hinter der Hütte, und ich mache mich daran, einiges niederzuschreiben, um mir die Zeit zu verkürzen und um meines Vergnügens willen. Die Zeit ist sehr lang, sie will mir nicht so rasch vergehen, wie ich möchte, trotzdem ich über nichts traurig bin und trotzdem ich das lustigste Leben lebe. Ich bin wohl zufrieden mit allem und meine dreißig Jahre sind kein Alter. Vor einigen Tagen erhielt ich ein paar Vogelfedern von
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weither zugesandt, von einem Menschen, der sie mir nicht schuldig war, aber es waren zwei grüne Federn, in einem Bogen Briefpapier, der eine Krone trug und mit einer Oblate versehen war. Es macht mir auch Vergnügen, zwei so teuflisch grüne Vogelfedern zu sehen. [...] Ich erinnere mich, daß vor zwei Jahren die Zeit sehr rasch verging, ohne Vergleich viel rascher als jetzt; ein Sommer war vorbei, bevor ich es recht wußte. Das war vor zwei Jahren, 1855 – ich will davon schreiben, um meines Vergnügens willen, es geschah mir etwas, oder ich träumte es“.8
Die ornamentalen Satzgebilde erzeugen den Eindruck einer Beschwörung der Erinnerungen, aber die auch zum Ende des Teiltextes nochmals wiederholte Versicherung, nur um des Vergnügens willen zu schreiben, signalisiert eine psychische Notwendigkeit dieser Verschriftung für das Ich, um damit das Erlebte und die dadurch manifestierte Identitätskrise bewältigen zu können. Schreiben/Erzählen erscheint als ein Akt der Selbstbehauptung und Überlebensstrategie einer gespaltenen Persönlichkeit und zugleich ermöglicht es eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit, in der die Zeit kürzer, das Leben intensiver und ereignisreicher war. Dass das erzählende Ich das ‚Erlebte‘ im Nachhinein nicht nur ästhetisiert, sondern Geschehnisse auch fehlinterpretiert, zeigt die Passage, die die erste Begegnung mit Edvarda beschreibt: Edvarda gab mir einen Blick durch den Schleier, dann flüsterte sie weiter mit dem Hund und las auf seinem Halsband: Soso, du heißt Äsop ... Doktor, wer war Äsop? Das einzige, woran ich mich erinnere, ist, daß er Fabeln verfaßte. War er nicht Phrygier? Nein, ich weiß nicht. [...] Sie hatte vielleicht an diesem Nachmittag in einem Lexikon bei Äsop nachgeschlagen, um dies gleich zur Hand zu haben. (Pan, S. 11)
Glahns Anmerkung ist schon deshalb nicht plausibel, weil die Begegnung unmittelbar vorher als zufällig beschrieben wird. Sie ist ein beiläufiges Irritationsmoment, das bereits zu Textbeginn Distanz zu der Erzählerfigur erzeugt, indem sie deren Sichtweise des Erlebten in Frage stellt. In der Anspielung auf lexikalisches Wissen über den „Verfasser von Fabeln“ markiert der Text implizit die Signifikanz dieser Passage für den Status der Ta2 zu Grunde liegenden ‚Geschichte‘. Allerdings exemplifizieren hier nicht Tiere menschliches Handeln, sondern der intradiegetische Verfasser Glahn fabuliert sich selbst als eine von Triebkräften dominierte Person mit „Tierblick“ (Pan, S. 60), von der der Bocksgott Pan Besitz ____________ 8
Knut Hamsun, Pan. Aus Leutnant Thomas Glahns Papieren, autorisierte Übersetzung von J. Sandmeier, München o. J., S. 5f. [Hervorh. M. N.] – Die Zitation der skandinavischen Texte Pan und Wälder folgt, außer wo ausdrücklich vermerkt, den autorisierten Übersetzungen, die in der Frühen Moderne in Deutschland rezipiert worden sind, Heart of Darkness wird nach dem englischen Originaltext zitiert.
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ergriffen hat. Der Titel des impliziten Herausgebers, „Pan“, macht deutlich, dass der Gesamttext als Fallgeschichte dieser psychopathologischen Selbstfiguration gedeutet sein will. Zum Ende der metadiegetischen Erzählung beteuert Glahn wiederum die Irrelevanz des eben Erzählten: Ich habe dies geschrieben, um die Zeit zu verkürzen. Es machte mir Vergnügen, an den Sommer in Nordland zurückzudenken, wo ich viele Male die Stunden gezählt habe, die Zeit trotzdem aber flog. Alles ist verändert, die Tage wollen nicht mehr vergehen. [...] Was Edvarda betrifft, so denke ich nicht an sie. Warum sollte ich sie in dieser langen Zeit nicht ganz vergessen haben? [...] Da liegen nun zwei Vogelfedern! denke ich weiter, mir ist, als sollte ich sie kennen, sie erinnern mich an einen kleinen Scherz oben im Nordland, so ein kleines Erlebnis unter vielen anderen Erlebnissen [...]. Nun habe ich dieses nur um meines Vergnügens willen geschrieben und mich belustigt, so gut ich konnte. Keine Sorge drückt mich, ich sehne mich nur fort, wohin weiß ich nicht, aber weit fort, vielleicht nach Afrika, vielleicht nach Indien. Denn ich gehöre den Wäldern und der Einsamkeit an. (Pan, S. 191ff.)
Nachdem die Geliebte Glahns selbstvergessenes Naturdasein in den nordischen Wäldern gestört hat, reißen ihn die zurückgesandten Vogelfedern, die er ihr zur Erinnerung überließ und die nun seinen eigenen Erinnerungsprozess motivieren, aus einem wieder errungenen labilen Gleichgewicht, so dass er mit dem Abschluss ihrer Vergegenwärtigung die Sehnsucht nach einem außersozialen Leben in fremden Naturräumen formuliert. Der zweite Teiltext berichtet von Glahns Aufenthalt im indischen Dschungel. Er ist in mehrfacher Hinsicht gegenüber dem ersten Text ‚gesteigert‘: Zunächst sind die Person des erzählenden bzw. schreibenden Ich, der Ort, an dem sich dieses zum Zeitpunkt der Verschriftung aufhält, und der genaue Ort des berichteten Geschehens signifikante Leerstellen, die den Sprecher camouflieren, so dass er lediglich als entpersonalisierte, nicht lokalisierbare ‚Stimme‘ hervortritt, die Glahn ‚hasst‘ (vgl. Pan, S. 194 und 198)9. Das natur- und liebesberauschte positive Lebensgefühl, das der erste Teiltext beschreibt und beschwört, wird substituiert durch eine negative Erzählhaltung gegenüber dem Protagonisten, dessen Liebe ____________ 9
Weitere Steigerungen sind: Den nordischen Wald am Rande der Zivilisation substituiert im zweiten Text der räumlich entferntere und wildere Dschungel, den kurzen nordischen der die Jahreszeiten nivellierende tropische Sommer, die Jagd für den persönlichen Lebensunterhalt ersetzt die Leoparden- und Tigerjagd und an die Stelle eines die Sehnsucht nach der Geliebten gegenüber der Erfüllung höher wertenden „Liebestraums“ (Pan, S. 147) treten Liebesnächte mit einer kindlichen ‚Eingeborenen‘, Alkoholexzesse und Orgien mit entindividualisierten Sexualpartnern.
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zum ‚Leben‘ dem Wunsch nach Selbstdestruktion weicht, nachdem er einen zweiten Brief von Edvarda erhalten hat, in dem sie mitteilt, wieder für ihn frei zu sein. Sein Ausruf, „Niemals! Niemals! Eher laß ich mich zerteilen!“ (Pan, S. 214), bezieht sich bildlich auf die von ihr ausgelöste Identitätskrise. Da weder ein psychisches Gleichgewicht, eine dauerhafte Entgrenzung des Ich noch eine Integration der streitenden Persönlichkeitsanteile zu einer ‚Einheit‘ der Person realisierbar ist, erscheint als einzige Lösung des Konfliktes die physische Konkretisierung der Partikularisationserfahrung und die Tilgung der beiden unversöhnbaren Ichs. Der anonyme Erzähler berichtet, dass Glahn als Reaktion auf den Brief wie ein Bräutigam geschmückt und einen Hochzeitspsalm singend mit ihm zur gemeinsamen Tigerjagd aufbrach und ihn provozierte, bis er ihn tötete. Dieser indirekte Selbst-Mord stellt in seiner rituellen Inszenierung Glahns Vermählung mit der ‚Natur‘ dar. Dass es dabei um die Auflösung der problematischen Identität in eine höhere Einheit geht, markiert der Text zeichenhaft durch die Substitution der Zerteilung als Todesart: Der Erzähler von Tb zerschießt das Gesicht des Erzählers von Ta. Christine Holliger hat in ihrer Pan-Analyse die Strategien der Selbstästhetisierung der Erzählerfigur Glahn durch die Mythisierung des Erzählten herausgearbeitet10. Sie weist darüber hinaus in Ta und Tb parallele Strukturen nach, die eine übergeordnete kompositorische Kohärenz beider Texte erzeugen. Hierzu gehören die textuelle Zweiteiligkeit, die das Motiv der personalen Zwiegespaltenheit in beiden Teiltexten strukturell widerspiegelt, die ‚Steigerungen‘ in Tb gegenüber Ta sowie eine Gegensätzlichkeit der beiden Teiltexte in Bezug auf einerseits den „schönen Schein“, der die Aufzeichnungen des ersten Erzählers umgibt, und andererseits „die intensiven Haßgefühle“, die die Berichterstattung des zweiten Erzählers kennzeichnen11. Ihre Deutung der Zweiteiligkeit und der Steigerung leitet Holliger aus Nietzsches Kategorien des Apollinischen und Dionysischen ab, die sie als grundlegendes Strukturprinzip beider Diegesen erkennt. Der mythische Subtext um Pan aus Ta wird, wenn der Dionysosmythos (in der Ausgestaltung Nietzsches) Ta und Tb umschließt, nur scheinbar fiktional objektiviert. Denn Holliger gelangt zu der These, dass Glahn auch der anonyme Erzähler von Tb sei, der sich in einem dionysischen (Selbst-)Hass seinen eigenen Tod erfindet, sich von seiner Identitätsproblematik freischreibt, indem er sein altes Ich mythisch-sinn____________ 10 11
Holliger (1988: 181-235). Holliger (1988: 205).
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stiftend zerstört. So verlockend dieser Gedanke ist, die vorgebrachten Argumente reichen zu ihrer Verifikation nicht aus. Zunächst bestätigt Glahns ‚dionysisches‘ Verhalten im Dschungel, insbesondere die Inszenierung seines Todes, nur, dass seine Erzählstrategie des Mythisierens bei der Niederschrift der Nordlanderlebnisse in Ta1 im erzählten Geschehen von Tb2 zum sinnstiftenden Selbstentwurf und Handlungsmodell geworden ist: Glahn geriert sich nun als Satyr, der die Nähe des Gottes sucht, und davon berichtet ein anonymer Erzähler. Mag zwar analog zu Nietzsches Konzeption Ta1 die „apollinische Erlösung im Scheine“, Tb2 „das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein“ darstellen12, so genügt das allein noch nicht, um die Identität der beiden Erzähler festzustellen, denn das Dionysische in Tb wäre noch immer Teil der Selbstinszenierung Glahns auf der Ebene des erzählten Geschehens. So bleibt von Holligers Argumentation lediglich der Hass des nicht individualisierten Erzählers auf den Protagonisten, der diesen in das Referenzsystem des Apollinisch-Dionysischen integrieren soll. Hier aber wäre der ‚implizite Autor‘ die zuständige arrangierende Instanz, die ggf. eine ‚dionysische‘ Erzählhaltung schafft. Dennoch lässt sich Holligers These von der Identität der Erzähler durch andere Indizien, die einerseits die spezifische ‚Stimme‘ Glahns, andererseits die verschiedenen textuellen Ebenen betreffen, stützen: 1. Die Merkmale, mit denen der Erzähler Glahn charakterisiert, z. B. der „Tierblick“ (Pan, S. 195), seine „Macht“ (ebd.) und sein „Verführerwesen“ (Pan, S. 203), entsprechen wörtlich dem Selbstentwurf Glahns in Ta (vgl. Pan, S. 60 bzw. 7). 2. Signifikanter als der Hass des Erzählers auf seinen „Todfeind“ Glahn (Pan, S. 196) ist die als zwanghaft inszenierte Rekurrenz, mit der er diesen betont. Sie erinnert an die Beteuerungen Glahns in Ta, dass er nur zum Vergnügen und um sich die Zeit zu verkürzen schreibe. 3. Der Titel des Gesamttextes „Pan: Aus Leutnant Thomas Glahns Papieren“ suggeriert eine schriftliche Hinterlassenschaft, die den Teiltext „Glahns Tod: Ein Papier von 1861“ inkludiert und ihn damit als ein, wenn schon nicht von ihm verfasstes, so aber doch in seinem Besitz befindliches Schriftstück ausweist, dass seinen Gegenstand, Glahns Tod, ad absurdum führt. ____________ 12
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Darmstadt 1997, Bd. I, S. 53.
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Diese Indizien beweisen nicht die fiktive Verfasserschaft Glahns für den zweiten Teiltext, was auch nicht im Sinne des Textes sein kann, fordern aber auf, sie zu denken. Mindestens handelt es sich um Irritationsmomente, die das Erzählte unglaubwürdig machen, über dessen Realitätsgehalt innerhalb der Fiktion verunsichern und auf das Erzählen selbst als Gegenstand des Erzählten verweisen. Nimmt man Glahn als Erzähler von Tb an, so steigert sich auch die Partikularisierung des ‚Ich‘ gegenüber Ta. Mussten hier noch ein erzählendes Ich (= Glahn) und ein erzähltes Ich (= Glahn) differenziert werden, sind dort ein anonymes erzählendes Ich (= Glahn), ein anonymes erzähltes Ich (= Glahn) und die extern fokalisierte Figur Glahn als Erzählgegenstand voneinander zu unterscheiden. Bei Annahme einer Identität der Erzähler erscheinen die Erlebnisse des Nordlandsommers als ästhetisiert, die des Dschungelaufenthaltes dagegen als erfunden. Wenn aber der erzählende Glahn den Bericht auf der ersten Seite von Ta1 einleitet mit „Es geschah mir etwas oder ich träumte es“ (Pan, S. 6), dann verschwindet auch die ‚Geschichte‘ in Ta2. Übrig bleibt ein sowohl Ta als auch Tb erfindendes Ich, über das der Text keine weiteren Informationen gibt als diejenigen, die der Titel präsentiert: Thomas Glahn, Leutnant, Verfasser der vorliegenden Papiere. Nun ließe sich lediglich noch psychoanalytisch interpretieren, weshalb ein Leutnant in dargestellter Weise seinen Tod erschreibt, womit sich aber der Interpret auf der Suche nach intratextuell fiktiven (!) Autorenintentionen befände. Konstatieren lässt sich nur ein schreibendes Ich, dessen Person eine interpretatorische Nullstelle ist. Pan ist demnach weniger ein Text über ‚romantische‘ Liebe und exotistische Zivilisationsfluchten als ein Metatext über Erzählen, Autorschaft, literarische Sinnstiftungsstrategien und die Literatur als Fluchtraum. Wenn Holliger ihre Untersuchungen zur Erzählerrolle in u. a. Pan „Das Verschwinden des Erzählers“ nennt, ergibt sich aus den hier weiter geführten Überlegungen darüber hinaus ein ‚Verschwinden der Geschichte‘, bis als gesicherte Präsenz nur der Text, ein Sprecher und der implizite Herausgeber übrig bleiben. Jener nimmt mit der Titelzuschreibung nicht nur eine erste Interpretation des Gesamttextes vor, sondern generiert über den Text hinaus ein Mehr an Bedeutung, das noch vor Glahns Pan-Allusionen einen mythologischen Referenzrahmen eröffnet, den der Text wiederum implizit psychologisch dekonstruiert.
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2. Gegenmodell und Parodie in Johannes V. Jensens Wälder Analog dem bei Pan aufgezeigten Modell verfahren auch die drei weiteren Beispieltexte: Sie verunsichern den Leser über den fiktionalen Realitätsstatus des erzählten Geschehens, indem sie die Erzählinstanz in ihrer Identität (sowohl der personalen Identität als auch im Sinne ihrer Textebenenzugehörigkeit) oder in ihrer Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen, also weder die ‚Geschichte‘ noch zunächst die erzählende ‚Person‘ bestehen lassen. Abseits der Kategorisierung (und damit Erledigung) derartiger literarischer Phänomene als ‚metafiktional‘ und ‚selbstreferenziell‘ stellen sie ein grundsätzliches interpretatorisches Problem dar: die Hinfälligkeitserklärung für das Erzählte. Der textinhärente Umgang mit Ideologien bzw. mit Normen und Werten lässt sich aus dem erzählten Geschehen (z. B. in impliziten oder expliziten Sanktionierungen von Figurenhandlungen durch die ‚Geschichte‘) unter Berücksichtigung des Distanzgrades zwischen Erzählen und Erzähltem (bedingt z. B. durch Wertungen und Kommentare des Erzählers) analysieren. Jensens Wälder etwa präsentiert auf der Ebene der histoire ein Gegenmodell zu Pan, wenn das anonyme Ich (von Glahn bleiben noch Name und soziale Funktion, hier nicht einmal das) seine exotische Reise in das Herz des Dschungels von Birubunga nicht als Zivilisationsflüchtling unternimmt, sondern um den Weg ‚heim‘ in die Zivilisation noch einmal selbst zu durchschreiten und schließlich in die „donnernden Wälder der Zivilisation aus Eisen und Stein“ der Großstädte zurückzukehren13: „Ich richtete meinen Blick auf die Ideale des Mannesalters, auf Ordnung, Zucht und Komfort. Ich sehnte mich, mich den Legionen der Gesellschaft als Glied der Gemeinschaft einzuverleiben“ (Wälder, S. 256). Stellt Pan auf der Ebene der ‚Geschichte‘ einen radikalen Austritt aus der Zivilisation und bürgerlichen Ordnung dar, so erzielt Wälder mit der von vornherein intendierten Rückkehr des Protagonisten eine bewusste Konsolidierung derselben. Am Schluss des dänischen Originaltextes findet sich eine „Zueignung“, die dem zeitgenössischen Kulturpessimismus einen Eid auf das „dänische Wappen“ entgegenhält: „Ich will schlagen den Verneiner. / Ich will bestätigen die Tatkräftigen / im Recht auf das Reich“14. Wälder parodiert en detail ____________ 13 14
Johannes V. Jensen, Wälder, in: Ders.: Die Welt ist tief...: Novellen, Berlin 1923, S. 121-260, 260. Johannes V. Jensen, Skovene, in: Ders.: Skrifter, 8 Bde., København og Kristiania 2 1916, Bd. VII, S. 125. Übersetzung M. N.
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zentrale Motive und Strukturen von Pan wie eben die tropische Flussfahrt, die dort noch nicht als Erfahrung des Raumes in der Bewegung im Mittelpunkt der Darstellung steht, sondern lediglich ohne die für alle späteren Texte typische szenische Präsentation exotischen Naturinventars erwähnt ist. Wichtiger als der Weg ist der Bestimmungsort und seine Entrückung: „Ich vermeide es mit Absicht, den Ort zu nennen, wohin wir reisten, um niemand auf die Spur zu bringen“ (Pan, S. 196). In Wälder repräsentiert die Flussfahrt die Eroberung des fremden Raumes durch den europäischen Abenteurer, dem die „moderne Dampfwalze“ und die „Ingenieure“ folgen (Wälder, S. 123 u. 254), um den „obskuren Urwaldzustand“ zu beenden (Wälder, S. 124). Und sie ermöglicht dem Protagonisten, bei der Verfolgung einer Affenhorde flussaufwärts seine Rassenund Kulturtheorien zu reflektieren. Spielt Pan mit der Mythisierung des Erzählten, so profaniert Jensens Text den dem Referenztext unterstellten ‚Neuromantizismus‘ und seine Anspielungen auf das ‚Dionysische‘15. Zentral für das Verhältnis von Erzähler und Erzähltem ist eine Passage, in der die Infragestellung der eigenen Identität nicht wie für Glahn existenzielles Problem ist, sondern funktionalisiert wird, um den Geldforderungen eines ‚eingeborenen‘ Gläubigers zu entkommen: In meiner Ratlosigkeit versuchte ich, ihn loszuwerden, indem ich meine eigene Identität stark bezweifelte. Woher könne er wissen, dass ich es war, der hier stand und den er mahnte? Ich wäre selbst nicht einmal ganz sicher darüber. In der letzten Zeit hätte ich, obwohl ich Führer einer Expedition hinauf in die inneren Bergwälder war, eine solche Sehnsucht nach dem Meer und nach Gegenden auf einer ganz anderen Seite der Erdkugel gehabt, dass es sehr unwahrscheinlich wäre, dass wirklich ich es war, der sich hier aufhielt. Außerdem hätte ich in all der Zeit, die ich oben in den Wäldern gewohnt habe, keinen Spiegel gehabt, in dem ich mich hätte sehen können, wer könnte also wissen, ob ich es überhaupt w a r ? [...] Was mich anging, so behauptete ich, bis ich widerlegt würde, dass ich gar nicht oben in den Wäldern oder in Birubunga gewesen war, sondern dass das Ganze bloß eine Ausgeburt meiner tropischen Fantasie wäre, der ich daheim in Europa sitzend eine Form gegeben hätte, die sich zur Subskription für die tausenden Heime eignete. (Skovene, S. 107f., Übersetzung M.N.)
Darüber hinaus zitiert die Passage das Erzählverfahren von Pan, indem sie als eine die gesamte Fiktion dekonstruierende Illusionsstörung aufgefasst werden kann, die wiederum den Erzähler von angeblich Erlebtem als (fiktiven) Autor von frei Erfundenem zu denken erlaubt und der das ____________ 15
Hamsuns Text wurde und wird noch oftmals in der skandinavischen Literaturgeschichtsschreibung unzutreffend der literarischen Jahrhundertwendeströmung ‚Nyromantikk‘ zugeschrieben.
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Erzählte mit den Klischees exotistischer Literatur nach dem Geschmack des Publikums in den „tausenden Heime[n]“ aufbereitet. Dieser spielerische Fiktionsbruch erfolgt in Wälder aber auf der Ebene des erzählten Ich und nicht auf der des erzählenden Ich. Hat in Pan noch der Erzähler seinen Protagonisten ermordet, falsifiziert hier der Protagonist innerhalb der Diegese den extradiegetischen Erzähler, der vorgibt, Erlebtes zu berichten. Ganz nebenbei wird auch der Leser ‚beleidigt‘, der mit dem vorliegenden Text als massentauglich konzipierte Literatur konsumiert. Dass das Erzählte keinen Reisebericht darstellt, der auf ‚reale‘ Erfahrungen rekurriert, macht schon der Name des bereisten Landes deutlich. „Birubunga“ ist nicht bloß ein nur in der Fiktion existierender Schauplatz, sondern die Zitation einer aus der Literatur hinlänglich bekannten Metapher. Als Kompositum aus den malaiischen Begriffen für „blau“ und „Blume“ bezeichnet er auf Heinrich von Ofterdingen verweisend das „Land der Sehnsucht“: „Hier gibt es alles, was die Mythe begehrt“ (Wälder, S. 123). Der ‚erfahrene‘ Raum ist damit von vornherein als eine exotistische Fantasie nach literarischen Mustern konzipiert, die im Textverlauf sukzessive entzaubert wird, so wie sich auch das erzählte Ich vor der endgültigen Heimkehr entsehnsuchten muss. Das oben angesprochene interpretatorische Problem besteht darin, dass das Erzählte nicht nur explizit diskursiv, sondern auch durch das dargestellte Geschehen eindeutige Ideologien und Werte vermittelt wie etwa die Höherwertigkeit ‚der nordischen Rasse‘ gegenüber ‚der südlichen‘, der Zivilisation gegenüber primitiver Natürlichkeit, der ‚Tat‘ gegenüber einem schwärmerisch-sehnenden Dasein. Das Erzählte als ein Konstrukt offeriert in diesem Fall ein Gegenmodell des Erzählten in Pan und impliziert damit eine oppositionelle ‚Moral‘. Wenn diese aber für die Subskription der „tausend[] Heime“ geeignet sein soll – also ‚populistisch‘ ist, entwertet sie sich dann selbst? Außerdem überspitzt der Text nicht nur die parodierten Motive aus Pan, sondern auch seine eigene ‚Moral‘ in der expliziten Verbalisierung von Topoi der Literatur des ‚Realismus‘ wie die bereits angesprochenen „Ideale des Mannesalters, [...] Ordnung, Zucht und Komfort“. So erscheint die ‚Stimme‘ des Textes im Unterschied zur hoch emotionalisierten Sprechweise in Pan als eine, die ironisiert, übertreibt, lächerlich macht und am wenigsten sich selbst ernst nimmt. Will aber der Sprecher nicht ernst genommen werden, wird das Erzählte und die daraus abstrahierbare Ideologie desavouiert. Der reale Autor Johannes V. Jensen hat in zahlreichen Essays und einem mehrbändigen Romanwerk über die Entwicklung der Zivilisation durch ‚die nordische Rasse‘ seine
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Ideologien propagiert. Sie entsprechen dem, was Wälder erzählt, wenn man die Brüche durch die Distanzierungsstrategien der Stimme ignoriert. Diese sind aber so offensichtlich, dass sie sich kaum unbeabsichtigt in den Text eingeschlichen haben. Da sie auch eine überspitzte Zitation der Erzählstrategien in Pan darstellen, die dort bereits eine Distanzierung vom Erzählten verursachten, distanziert sich der Text von einem Gegenmodell, dessen Ausgangsmodell bereits nicht für bare Münze genommen werden wollte. Parodiert Wälder Pan oder parodiert sich der Autor Jensen selbst in seiner Ernsthaftigkeit, mit der er sonst essayistisch Kulturoptimismus verbreitet? Das Beispiel birgt einige Paradoxien, die eine ideologiekritische Textanalyse ins Leere laufen lassen, denn wo intradiegetisch Wertevermittlung erfolgt, wird sie, wenn das erzählte Ich sich schon selbst dekonstruiert, als selbstreferenzielle literarische Spielerei präsentiert.
3. ‚Stimme‘ als Selbstversicherung und -behauptung in Joseph Conrads Heart of Darkness Conrads Heart of Darkness verfährt mit der erzählten Geschichte anders. Der Text weist eine etwas ausführlichere Rahmenerzählung auf, die konkret situiert, an der mehr Personal beteiligt ist und die nicht mehr die eigene Schriftlichkeit thematisiert. Hier berichtet ein anonymer IchErzähler retrospektiv von einer Themseflussfahrt, bei der ein Seemann namens Marlow seine Erlebnisse während einer Flussfahrt in das Herz des afrikanischen Dschungels in der Ich-Form mündlich erzählt. Es handelt sich also um zwei unterschiedliche Erzähler auf zwei differenten Textebenen, deren personale und ebenbezogene ‚Identität‘ nicht problematisiert wird. Den weitaus größeren Textanteil nimmt die metadiegetische Erzählung ein, für die die Diegese zunächst als Einleitung fungiert, in der das Sprechen situiert, der Sprecher und die für ihn typische Erzählweise charakterisiert und eine ‚Gebrauchsanweisung‘ für die Rezeption der metadiegetischen Erzählung geliefert wird. Denn eine Nebenbemerkung des ersten Erzählers relativiert von vornherein den vermeintlichen Erlebnisbericht des intradiegetischen Erzählers: [B]ut it was only after a long silence, when he said, in a hesitating voice, ‘I suppose you fellows remember I did once turn fresh-water sailor for a bit’, that we knew we
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were fated, before the ebb began to run, to hear about one of Marlow’s inconclusive experiences.16
Weiter bezeichnet die übergeordnete Erzählinstanz die folgende „unwahrscheinliche“ Geschichte vorab als „Seemannsgarn“: The Yarns of seamen have a direct simplicity, the whole meaning of which lies within the shell of a cracked nut. But Marlow was not typical (if his propensity to spin yarns be excepted), and to him the meaning of an episode was not inside like a kernel but outside, enveloping the tale which brought it out only as a glow brings out a haze, in the likeness of one of these misty halos that sometimes are made visible by the spectral illumination of moonshine. (Heart, S. 48)
Zunächst ist fraglich, warum der Erzähler der ersten Ebene überhaupt eine für unwahrscheinlich gehaltene Geschichte aufzeichnet, noch dazu mit diesen expliziten Distanzierungs- und Relativierungshinweisen. Der Text motiviert das Schreiben nicht, aber implizit erhält Marlows „Garn“ den Status des Besonderen, „Untypischen“, wie das Zitat deutlich macht, es hat also einen Wert, eine Bedeutung als eine ‚Geschichte‘ ungeachtet seiner Authentizität. Anders als in Pan oder Wälder, wo die Bedeutung des Erzählten sich an seinem Realitätsgehalt misst, spielt dieser hier von vornherein keine Rolle: Authentizität beansprucht lediglich die Rahmenerzählung von der Themseflussfahrt, als deren Bestärkung auch der folgende Verweis auf anderweitige Publikationen des Erzählers fungiert: “Between us there was, as I have already said somewhere, the bond oft the sea” (Heart, S. 45). Die oben zitierte Charakterisierung von Marlows Erzählpraxis kann auch als ein Hinweis verstanden werden, dass, wenn der Sinn des Erzählten außerhalb der Geschichte in ihrer „Umhüllung“ gesucht werden muss, die Metadiegese innerhalb des Gesamttextes ihren ‚eigentlichen‘ Sinn durch deren Relation zur Diegese erhält: Die ‚Bedeutung‘ von Heart of Darkness liegt nicht in den geschilderten Begebenheiten der tropischen Reise, sondern in ihrem Verhältnis zur Situation, in der sie erzählt werden. Diegese und Metadiegese weisen ohnehin die auffällige Parallelisierung der Flussfahrt auf und in beiden sind akustische und optische Codierungen rekurrent, so dass beide Erzählungen einen Sinnzusammenhang ergeben, der über die Wiedergabe einer in einer bestimmten Situation gehörten Geschichte hinausgeht. ____________ 16
Joseph Conrad, Heart of Darkness, in: Youth and two other stories, New York 1924, S. 51.
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Die zentralen Paradigmen in der Semiotisierung des Erzählten sind der ‚Lichtwert‘ bzw. ‚Sichtbarkeit‘ vs. ‚Nicht-Sichtbarkeit‘ und die ‚Stimme‘. So wird in beiden dargestellten Welten das jeweilige flussaufwärts gelegene Landesinnere auffällig analog durch skalierbare Grade von Dunkelheit semantisiert. Der Text unterscheidet hier vor allem “gloom”, in der Bedeutung „Düsternis“/„nicht völlig dunkel“, von “darkness”, also völliger „Dunkelheit“. Diese Lichtwerte von annähernd Null und Null konnotieren Zivilisationsgrade, wobei das Ziel der tropischen Flussreise, der Aufenthaltsort von Kurtz, als „Heart of Darkness“ in der Terminologie von Renner den „Extrempunkt“17 der Dunkelheit und damit die Negation von Zivilisation markiert, während London, zugleich der Herkunftsraum der Erzähler, Marlows Reiseausgangspunkt und topografischer Bezugspunkt in der Diegese, als dessen zivilisatorischer Gegenpart präsentiert ist: “the biggest, and the greatest, town on earth” (Heart, S. 45), von der aus “messengers of the might within the land, bearers of a spark from the sacred fire” über die ‚Wasserstraße‘ zu den “uttermost ends of the world” aufbrechen (vgl. Heart, S. 47). Die größte europäische Stadt der Moderne ist aber keineswegs etwa durch ‚Helligkeit‘ und damit den oppositionellen Extremwert des Zivilisatorischen bezeichnet. Diesen erhält vielmehr der Fluss Themse, über den, wie Marlow ausführt, einst die Römer die Zivilisation nach Großbritannien und von dort aus später die britischen Eroberer und Kolonisatoren von London in die Welt brachten (Heart, S. 49). Das heißt, dass einem zivilisatorischen Zustand, wie London ihn in der Diegese gegenwärtig repräsentiert, die Vorstellung von Zivilisation als einem dynamischen Prozess übergeordnet ist. So wie der Fluss selbst Bewegung bezeichnet, semiotisiert er im Text Aufbruch, Expansion und Kolonisation als positive ‚Lichtwerte‘: “Light came out of this river since” (Heart, S. 49). London ist dem gegenüber lediglich durch relational weniger Dunkelheit gekennzeichnet: “‘And this also,’ said Marlow suddenly, ‘has been one of the dark places of the earth’” (Heart, S. 48) und “but darkness was here yesterday” (Heart, S. 49). Einerseits ist Dunkelheit damit historisiert als etwas Überwundenes, andererseits „brütet“ noch immer bewegungslos „Düsternis über der Menschenmasse“ der Stadt (vgl. Heart, S. 45 u. 46). Der vermeintliche Widerspruch löst sich auf, wenn Marlow sagt, dass von seiner Erfahrung des “Heart of darkness” „ein Licht ausgeht“ (vgl. Heart, S. 51), denn hier wird deutlich, ____________ 17
Vgl. Renner (1986). Und vgl. dazu in Heart of Darkness: “It was the farthest point of navigation and the culminating point of my experience” (Heart, S. 51).
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dass ähnlich wie in Wälder Zivilisation als ein Wert gesetzt ist, den nicht die „Menschenmasse“ einer als hochrangig verstandenen Kultur per se innehat, sondern den der Einzelne jeweils neu erringen und verteidigen muss, wovon auch die intradiegetische Fallgeschichte um Kurtz erzählt. Den eigentlichen Gegenstand der Erzählung zweiter Stufe formuliert der Text präzise in dem Studieninteresse eines Arztes, der Marlow vor Antritt seiner Reise untersucht: die “mental changes of individuals” in den Tropen (Heart, S. 58). Während Kurtz eine fundamentale Persönlichkeitsveränderung zum Barbarischen vollzogen hat, kann sich Marlow gegen die tropischen Einflüsse behaupten und in der Diegese aus faszinierter Distanz seine Begegnung mit ihm schildern. Das davon ausgehende „Licht“ besteht darin, dass der Verlust von Kultur und Zivilisation, für den Kurtz als Negativbeispiel fungiert, den Protagonisten in seiner europäischen ‚Identität‘ bestärkt und zu einer individuellen und kulturellen Selbstbehauptung führt. In diesem Sinne besteht Marlow die Prüfung, die ihm die Narration auferlegt: nicht Selbstverlust, sondern Selbstfindung ist das Ergebnis der tropischen Erfahrung. Entsprechend schätzt er in der Arbeit die Möglichkeit “to find yourself” (Heart, S. 85), also nicht in der Entgrenzung, sondern in einer konstruktiven, Kultur schaffenden Leistung. Der Text funktionalisiert nun als zweites zentrales Paradigma das der ‚Stimme‘, um diesen Akt der Selbstbehauptung zwischen Eigenem und Fremdem zu verhandeln. Es umfasst die Bandbreite von der Absenz einer ‚Person‘ in der Stille: “utter silence, where no warning voice of a kind neighbour can be heard whispering of public opinion” (Heart, S. 116) und die die tropische Flussfahrt als “interminable miles of silence” empfinden lässt (Heart, S. 98), bis zum Schrei, der sich aus der Stille des Urwaldes heraus bis zu einem „unerträglich schrillen Kreischen“ steigert und Zeichen der unsichtbaren Präsenz eines Unheil verkündenden un‚heimlichen‘, also völlig fremden menschlichen Wesens ist (vgl. Heart, S. 101f.). Korreliert mit dieser als Warnung vor einem weiteren Eindringen in das Herz der Finsternis verstandenen extremen Stimmäußerung ist wiederum eine Nicht-Sichtbarkeit der Umgebung des Schiffes, obwohl Tageslicht herrscht: What we could see was just the steamer we were on, her outlines blurred as though she had been on the point of dissolving, and a misty strip of water, perhaps two feet broad, around her—and that was all. The rest of the world was nowhere, as far as our eyes and ears were concerned. Just nowhere. Gone, disappeared, swept off without leaving a whisper or shadow behind. (Heart, S. 102)
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Zweierlei wird hier deutlich: Zum einen entzieht sich die nicht zivilisierte ‚Umwelt‘ in ihrer radikalen Fremdheit der Erkenntnisfähigkeit der Europäer, zum anderen bezeichnet die Auflösungserscheinung des Dampfschiffes im Urwald die an dieser Stelle beginnende Gefährdung der ‚Identität‘ im Sinne einer Abgrenzung des ‚Eigenen‘ (Sichtbaren) gegenüber dem ‚Fremden‘ (Nicht-Sichtbaren). Jenseits der Sichtbarkeitsgrenze können nur noch Stimmen vernommen werden, entsprechend ist Kurtz, der die Grenze zur Nicht-Zivilisation überschritten hat, synekdochisch durch seine ‚Stimme‘ repräsentiert, d. h. die Stimme ist hier nicht bloß eine von vielen Ausdrucksmöglichkeiten einer Person, sondern deren Manifestation: I made the strange discovery that I had never imagined him as doing, you know, but as discoursing. I didn’t say to myself, ‘Now I will never see him’, or ‘Now I will never shake him by the hand’, but, ‘now I will never hear him’. The man presented himself as a voice. [...] The point was in his being a gifted creature, and that of all his gifts the one that stood out preeminently, that carried with a sense of real presence, was his ability to talk, his words— (Heart, S. 113).
und: I was cut to the quick at the idea of having lost the inestimable privilege of listening to the gifted Kurtz. Of course I was wrong. The privilege was waiting for me. Oh, yes, I heard more than enough. And I was right, too. A voice. He was very little more than a voice. And I heard—him—it—this voice—other voices—all of them were so little more than voices—and the memory of that time itself lingers around me, impalpable, like a dying vibration of one immense jabber, silly, atrocious, sordid, savage, or simply mean, without any kind of sense. Voices, voices. (Heart, S. 114f.)
Die Manifestation der fremd gewordenen Person ist die Stimme selbst, nicht aber die Sprache, für die die Stimme als Medium fungiert, daher bleibt kaum ein Redeinhalt im Gedächtnis des Erzählers, sondern lediglich der Eindruck vom sinnlosen „Geschnatter“ sich überlagernder Stimmen. Kurtz’ letzte Worte, “the horror, the horror” bezeichnen gerade das Erschrecken vor dem Unbegrenzten, in dem ‚Sinn‘ als ein Produkt von Abgrenzungsprozessen sich auflöst, so wie das mit der deutschen Übersetzung „das Grauen“ verwandte ‚Graue‘ Ergebnis einer Grenztilgung oder eines Übergangs zwischen ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ ist. Der Stimmmodus, in dem sie geäußert werden, “a cry that was no more than a breath” (Heart, S. 149), ein geflüsterter Schrei also, in dem sich die panische Lautäußerung der Stille annähert, repräsentiert selbst eine Kombination von Gegensätzlichem. Die Form des Äußerungsaktes ist damit für die Bezeichnung des Aussageinhaltes ebenso zeichenhaft wie der gewählte
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Signifikant – ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung, die im Textganzen der Präsentation des Gesagten zukommt. Die letzten Worte ragen signifikant aus dem „Geschnatter“ heraus, sie bleiben im Erzählergedächtnis und können in der Erzählung zitiert werden, denn sie bezeichnen sinnvoll das, was als sinnlos gesetzt ist, d. h. dass die sprachliche Benennung des Nicht-Sinnhaften das Phänomen der Sinnlosigkeit ‚domestiziert‘. Kurtz’ Tod schließlich ist analog dem Ersterben der Stimme: “The voice was gone. What else had been there?” (Heart, S. 150). Die ‚Stimme‘ fungiert in Heart of Darkness als individuelle und kulturelle Selbstvergewisserung. Entsprechend ist die angesprochene individuelle Selbstbehauptung Marlows gegenüber der tropischen Erfahrung von Sinnlosigkeit und der Negation von Kultur mit einem Erheben der ‚eigenen‘ Stimme verbunden: Let the fool gape and shudder—the man knows, and can look on without a wink. But he must at least be as much of a man as these on the shore. He must meet that truth with his own true stuff—with his own inborn strength. Principles won’t do. Acquisitions, clothes, pretty rags—rags that fly off at the first good shake. No; you want a deliberate belief. An appeal to me in this fiendish row—is there? Very well; I hear; I admit, but I have a voice, too, and for good or evil mine is the speech that cannot be silenced. (Heart, S. 97)
Die eigentliche Überwindung des „Grauens“ geschieht aber im Erzählakt, der das Erfahrene bzw. als ein „Garn“ das Ersponnene ordnet und ihm einen Sinn einschreibt. Nicht der Reisende und Heimkehrer, sondern der Erzähler Marlow ist die eigentliche Gegenstimme von Kurtz: “It had become so pitch dark that we listeners could hardly see one another. For a long time already he, sitting apart, had been no more to us than a voice” (Heart, S. 88), sagt der Erzähler der ersten Ebene, und zwar eine Stimme, die die Düsternis durchdringt, so wie in der Metadiegese der unheimliche Schrei das Grau des Nebels an der Stelle der Flussfahrt, an der der Übergang von einer mehr oder weniger zivilisierten und beschriebenen Welt in die Wildnis stattfindet. ‚Erzählen‘ ist demnach die Funktion der Stimme, die sich sprachlich fremde Nicht-Kultur aneignen kann, ohne die eigenkulturelle Perspektive zu verlieren, die Grenzen zu setzen und Strukturen zu konstruieren vermag, wo Grenzen und Strukturen negiert werden, wie eben die Erzählung von der Grenzüberschreitungserfahrung im Nebel und die distanzierte Beschreibung von Kurtz deutlich machen. Wenn Marlow nach dessen Tod fragt, was außer der Stimme eigentlich da gewesen sei, so lässt sich dies auch auf den Gesamttext beziehen. Die Frage nach der Authentizität des intradiegetisch Erzählten ist im Text
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nicht relevant. Handelt es sich um eine Erfahrung Marlows, so führt die Narration eben die Selbstbehauptung des Protagonisten vor, handelt es sich um Seemannsgarn, so bleibt die ‚Bedeutung‘ die gleiche – nur dass der ‚Stimme‘ auf diese Weise größeres Gewicht zufällt, weil sie als eine aus sich selbst heraus kreative und Sinn gebende Instanz noch deutlicher hervortritt. Dieser gegenüber behauptet sich wiederum der Erzähler der ersten Stufe als eine eigene ‚Stimme‘, die den Wahrheitsgehalt des Erzählten bezweifelt, wobei dessen Verschriftung des mündlichen Erzählaktes sich auch als die kulturhistorisch höhere Stufe der Medialisierung von Narration darstellt und darin der Zivilisationsprozess auf der Ebene des verwendeten Zeichencodes abgebildet wird: Schriftliches Erzählen ist gegenüber dem mündlichen nicht nur eine neuere kulturelle Errungenschaft, sondern auch eine gesteigerte Form der Vermittlung, wie sie auch die narrativen Ebenen in ihrer Relation zueinander aufweisen – ein Erzähler erzählt von einer Erzählung und seinem Erzähler. Die implizite Historisierung des Erzählens auf der discours-Ebene findet ihre Entsprechung in einem Bewusstsein von der Historizität des Erzählgegenstandes der Metadiegese, wenn Marlow einen Hinweis auf die Intention seiner Erzählung gibt: “to convoy the life-sensation of any given epoch of one’s existence—that which makes its truth, its meaning—its subtle and penetrating essence” (Heart, S. 82). ‚Authentizität‘ ist also nicht in Bezug auf das Erlebte relevant, sondern in Bezug auf die narrative Repräsentation selektiver Aspekte des Denksystems der Gegenwartskultur18, die das Spektrum von Lebensideologie, Entgrenzungsbestreben des Subjekts, Problematisierung der ‚Person‘, den Psychologismus und die kulturelle Selbstbehauptung gegenüber dem Fremden in der Verwerfung von Exotismus umfassen19, und die als die kulturelle ‚Wahrheit‘ verstanden sind. Fraglich ist allerdings, wer die „anderen“, die gemeinten Adressaten dieser Wahrheit sind, die zugleich als eine epochengebundene historischepisodisch relativiert wird. Zu den zentralen Paradigmen der Frühen Moderne gehört jedenfalls auch die Problematisierung des Verhältnisses von Erzählinstanz und Narration in der Erzählliteratur, wie sie exemplarisch bereits in den beiden vorangehenden Textanalysen thematisiert wurde. Insofern stellt Heart of Darkness wie schon die anderen Texte einen Metatext über literarische Themen sowie über die Erzählpraktiken und Ästhetiken der Zeit dar. ____________ 18 19
Zu dem Begriff des „Denksystems“ vgl. Titzmann (1989b). Vgl. dazu ausführlich: Nies (im Erscheinen).
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4. Potenzierung der narrativen Strategien in Robert Müllers Tropen Tropen. Der Mythos der Reise; Urkunden eines deutschen Ingenieurs potenziert die an den drei Textbeispielen bisher aufgezeigten narrativen Strategien in einem paradoxalen Spiel bis hin zur Camouflierung der Autorschaft Robert Müllers, der sich als Herausgeber eines Manuskriptes des Ingenieurs Hans Brandlberger ausgibt20. Ingrid Kreuzer hat in ihrer Analyse die komplexe Verschachtelung der Erzählebenen, die paradoxalen Transgressionen und die Problematisierung der Erzähleridentitäten im Text systematisch und detailliert herausgearbeitet, so dass es genügt, hier nur einige Grundzüge zu skizzieren21. Zunächst scheint es sich um eine einfache Herausgeberfiktion mit einem Vorwort des Herausgebers Robert Müller zu handeln, der Haupttext wird der Autorschaft Brandlbergers zugeschrieben, und weist einen Ich-Erzähler Brandlberger auf, der von seinen ‚Erlebnissen‘ bei einer tropischen Flussfahrt in den südamerikanischen Dschungel berichtet. Das Vorwort Müllers verbürgt die Historizität des Autors und vermutet dessen Identität mit demjenigen Brandlberger, der im Jahr 1907 bei dem Versuch, in den südamerikanischen Tropen eine Freelandkolonie zu gründen, von aufständischen Indianern unter Führung der Priesterin Zaona getötet worden ist. Zum einen ist damit – nimmt man die Identität der beiden Brandlbergers an – das weitere Schicksal des Autors von Tropen Jahre über den Text hinaus angedeutet, zweitens erlaubt das Vorwort, die Identität Zaonas mit der Priesterin Zana zu denken, die im Manuskript eine bedeutende Rolle spielt: Vielleicht war sie es wirklich, dann lag nur eine individuelle Lautauffassung ihres Namens vor. Und dann hätten wir wieder einen der seltsamen Züge über die Beziehungen der Menschen in der Wirklichkeit vor uns, einen jener Züge, an denen dieses geheimnisvolle Buch so reich ist. (Tropen, S. 15)
Außerdem wird die Authentizität einer weiteren im Haupttext zentral behandelten Figur, Jack Slim, als einer wohlbekannten „historische[n]“ Persönlichkeit verbürgt: „Man weiß ja, wer Jack Slim war“ (Tropen, S. 12). Offenbar ist dem Vorwort also daran gelegen, über die Authentifizierung der an dem im Manuskript Tropen geschilderten Geschehen beteiligten Personen implizit auch das Erzählte zu beglaubigen. Das Interesse des Herausgebers, den Text Jahre später zu publizieren, wird ____________ 20 21
Robert Müller, Tropen: Der Mythos der Reise; Urkunden eines deutschen Ingenieurs, Stuttgart 1993. Kreuzer (1981).
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zuerst durch die Information über Brandlbergers Tod geweckt und gilt dann vor allem der darin erzählten Geschichte um die Ermordung Slims. Der künstlerische Wert des „mangelhaften“ Manuskripts wird dagegen explizit heruntergespielt (Tropen, S. 15): Ich bin mir vollständig darüber klar, daß ich durch diese Tat [die Publikation, M. N.] kaum die Literaturgeschichte, aber vielleicht die Geschichte der Menschheit um einen wertvollen Beitrag bereichere. Irgendwelche anderen künstlerischen Absichten, als scharf und umfassend zu beschreiben, treten darin nicht zutage, wie es von einem Manne, der naturwissenschaftliche und technische Studien betrieben hat, auch nicht anders zu erwarten ist. Wenn gleichwohl hier und da die Anstrengung deutlich wird, etwas zu schaffen, das ein Ergebnis von Kunst sein könnte […] [E]r besaß eine einzige Tugend: er war gründlich! So daß man seiner Arbeit zwar nicht die eines Kunstwerkes, aber immerhin die eines Dokumentes zuweisen kann. (Tropen, S. 10)
Auf den wenigen Seiten des Vorwortes werden Brandlbergers Text teilweise oppositionelle Charakteristika zugeschrieben, die den ‚Wahrheitsgehalt‘ des Erzählten betreffen, indem sie es einerseits als historisch bezeugen, andererseits als fiktionalisiert herausstellen. So ist das Manuskript „Dokument“ eines Naturwissenschaftlers (Tropen, S. 10), bei dem fraglich erscheint, „ob der Verfasser überhaupt je so etwas wie einen erzählenden Stil beabsichtigt habe“ (Tropen, S. 9) und zugleich erscheint es wie „eine freie Erfindung seines spekulativen Dranges, seines heftig monologisierenden Innenlebens“ (Tropen, S. 11), es beschreibt einen „Mythos der Reise“, also nicht eine authentische Erfahrung, sondern einen Metadiskurs, und ist „Urkunde“, wie der Titel des Herausgebers deutlich macht. Diese widersprüchlichen Wertungen verunsichern über den fiktionalen Status und ‚Gehalt‘ des Textes und wenn das Vorwort eine Rezeptionsvorgabe für das Manuskript sein will, so ist das Ergebnis eine intrinsische Veruneindeutigung. Eine übergeordnete kompositorische Kohärenz beider Teiltexte, des Manuskriptes als auch des Vorwortes, ergibt sich weiterhin aus der Funktionalisierung von drei miteinander verknüpften narrativen Strategien: (1.) Metafiktionalität bzw. Selbstreflexivität, (2.) das Spiel mit Paradoxien sowie (3.) die Verunsicherung über Identitäten. Es finden sich rekurrent Hinweise auf den Konstruktcharakter des Textes, die über das Spiel mit der eigenen Literarizität in Pan, Wälder und Heart of Darkness hinausgehen. Schon das Herausgebervorwort mit seinen Wertungen des Manuskriptes expliziert das Problem der Authentizität der tropischen Erfahrungen, das sich aus der Lektüre der vorgenannten Texte ergibt, nicht um zu vereindeutigen, sondern um es zu potenzieren. In dem Brandlberger-Manuskript selbst alternieren die Behauptungen
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eines angeblichen Erfahrungsberichts und Fiktionalitätssignale bis hin zur gegenseitigen Durchdringung von ‚Dichtung‘ und ‚Wirklichkeit‘: Ich bitte zu bemerken, daß ich referiere, die Gedanken eines von Hitze verbrannten und zu Asche gewordenen Gehirnes wiedergebe; ich schildere einen Mann, der inmitten gesegneter, abenteuerlicher Umstände, wie er sich einbildet, das Buch schreibt, das er erst erleben wird. Dieser Mann war ich. Ich war mit visionärer Kraft meiner eigenen Zukunft vorausgeeilt. Ich fuhr als Schreibtisch einen Strom hinauf. (Tropen, S. 39)
Dann wieder wird die tropische Erfahrung als ein subjektives ‚Erleben‘ objektiviert, indem der Erzähler es zwar Visionen zuschreibt, die aber als eine psychische Reaktion auf die Tropen verstanden sein wollen: Mein Vegetieren war ein schäbiger Rest von Wirklichkeit. Alles andere fand allein in meinem Gehirn statt […]. Mein Zustand war bekannt. Das Wort Tropenkoller fiel mir wie ein Gnadengeschenk zu. Damit konnte ich arbeiten, erklären. (Tropen, S. 287f.)
Und dort wo der Erzähler tropische Sozialsysteme beschreibt, tut er es im Bewusstsein, exotistische Klischees zu entwerfen, „Ein Indianerdörfchen gefällig?“ (Tropen, S. 69), und psychologisiert sie als eigenkulturelle Projektionen. Hinzu kommen diejenigen Beschreibungsmuster, die intertextuelle Diskurse eröffnen. Wolfgang Reif und Daniela Magill haben etwa die Referenzen auf Johannes V. Jensens Wälder nachgewiesen22, die sich nicht in einzelnen ‚Motiven‘ erschöpfen, sondern das Erzählerkonstrukt und ‚Weltmodell‘ des Gesamttextes sowie das Paradox als zentrale Erzählstrategie betreffen; spielerische Allusionen auf Hamsuns Pan finden sich in den Hinweisen auf die Präsenz des griechischen Gottes während der südamerikanischen (!) Reise (Tropen, S. 31 u. 43) sowie in den Titelanalogien, Anspielungen auf Conrads Heart of Darkness in der Redundanz des Lexems „das Grauen“ (Tropen, z. B. 26ff.) und der Beschreibung des Flusses als „ein großes Herz“ (Tropen, S. 31). ‚Realität‘ jenseits des Subjekts und seiner Imagination ist damit in Tropen schlicht kein relevantes Referenzsystem, denn die Fiktionalisierung, die Psychopathologisierung von (fiktivem) ‚Erleben‘, der bewusste Gebrauch eigenkultureller Fremdbilder und deren Desavouierung führt zur ‚Entwirklichung‘ des Erzählten, demgegenüber sich zunächst das kreative Subjekt behauptet: Man könnte vermuten, daß die Beobachtung ein Dichter ist, der sein Buch aus dem eigenen Kopfe abschreibt. Je besser der Beobachter, desto größer das Plagiat seines
____________ 22
Vgl. Reif (1975) und Magill (1989).
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Ichs. Ich sehe Moräste, Raubtiere und Jägermenschen nur darum, weil alles in mir nach Gestaltung dieser Erscheinungen drängt. (Tropen, S. 193)
Die Konsequenz ist eine Tilgung der Innen-Außen-Grenze, zwischen Erzähler-Ich und erzählter Welt, so dass die Tropen als ein Teil des Ich begriffen sind (vgl. Tropen, S. 400 u. 402). Was in Pan und Heart of Darkness nur angedeutet und interpretatorisch zu erschließen ist, expliziert der Meta-Metatext Tropen: dass die Rede über einen semantisierten Raum der dargestellten Welt ‚Tropen‘ eine metaphorische Rede über einen Teilraum der eigenen Psyche darstellt und damit nicht zuletzt bereits ein poetisches Klischee des Literatursystems. Entsprechend funktionalisiert der Erzähler den Titel des Textes: Da fällt mir ein, dies ist riesig bedauerlich, denn ich werde das Buch, das ich über meine Erfahrungen vom Verkehr und der Wirkung von Mensch auf Mensch schreiben wollte, nie mehr schreiben. Ich hätte es ‚die Tropen‘ genannt; nicht nur dem Milieu zuliebe und gleichsam der hypertrophischen und deutlichen Entfaltung aller menschlichen Beziehungen wegen, die hier rein und ungehemmt, tropisch sozusagen ins Kraut schießen; nicht nur, weil das gesamte menschliche Gefühlsleben auf sein Vegetatives zurückgeführt ist: sondern aus Hinterlist, aus Spitzfindigkeit, weil alles Gegebene immer nur eine poetische Methode, ein Tropus ist. (Tropen, S. 303)
Der Titel „Tropen“, verstanden als der Terminus, der in der klassischen Rhetorik die Figuren und Tropen im engeren Sinne umfasst, mit denen sich also innerhalb eines geregelten Codesystems eigentliche durch uneigentliche Rede ersetzen lässt, signalisiert, dass uneigentliche Rede Methode und Gegenstand des Gesamttextes ist. Das gemeinte ‚Eigentliche‘, die letzte präsente Entität des Textes ist aber auch nicht das ‚Ich‘, das wiederum paradoxal zu den vorherigen Aussagen als „im Verhältnis zu den Tropen ein Tropus“ bezeichnet wird (Tropen, S. 400). Im Unterschied zu den anderen Texten erweist „Tropen“ nicht das sprechende Subjekt als die letzte gültige Instanz, denn die Identität des ‚Ich‘ ist hier keine gesicherte mehr, da die in der Literatur der Frühen Moderne nach Nietzsche so oft thematisierte Auflösung des principium individuationis die Erzählinstanz mit einbezieht. Dass der Selbstverlust intradiegetisch Gegenstand des Erzählten wird als ein pathologisiertes Symptom des „Tropenkollers“, ist nicht das Entscheidende (vgl. Tropen, S. 41f.), denn die Verwendung dieses Topos ist dem strukturierten und Sinn gebenden Erzählen des Sprecher-Ich zuzuordnen. Das paradoxale Erzählen aber dekonstruiert den ‚Sinn‘ der Erzählung grundsätzlich als eines Wirklichkeitsentwurfes: „Bald lassen wir den Zug, bald die Landschaft laufen. Lernet die Wirklichkeiten skandieren! Gleichberechtigung für das Paradoxe“ (Tropen,
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S. 56). Entsprechend wird in letzter Konsequenz auch das ‚Ich‘ durch paradoxale Transgressionen dekonstruiert – und zwar sowohl zwischen Erzählen und Erzähltem als auch zwischen den intradiegetisch geschilderten Figuren in Form von Identitätsdiffusionen. Das Manuskript ist damit nicht nur der Wirklichkeits- bzw. ‚Literaturentwurf‘ Brandlbergers, sondern beinhaltet die Schriften und Wirklichkeiten einander gegenseitig hervorbringender fiktionaler Persönlichkeiten. So will Slim ebenfalls ein Buch mit dem Titel „Tropen“ schreiben (Tropen, S. 332), mit einem Erzähler, der niemals in den Tropen gewesen ist (Tropen, S. 333) und Figuren, die keine Charaktere (Tropen, S. 343), sondern „Träger von Ideen“ sind (Tropen, S. 345). Wenn dann in der Diegese Van den Dusen und Brandlberger nicht nur sukzessive die Merkmale des ermordeten Jack Slim zugeschrieben werden (Tropen, S. 366, 377, 393), sondern ein Diffundieren der Persönlichkeiten, „Alle sind wir derselbe geworden“ (Tropen, S. 377), angedeutet ist, lässt sich auch das noch als eine erschriebene ‚neue Identität‘ des Erzähler-Ich auffassen. Aber der Text tilgt noch die Grenzen zwischen Erzählen und Erzähltem bis Slim und Brandlberger Figuren gegenseitiger Fiktionen werden: „[E]r [Slim] schrieb also eigentlich bloß von mir [Brandlberger] ab, wenn er sprach“ (Tropen, S. 92) und: „Wer war ich in seiner Erzählung? Wer war er selbst? Und ich gewahrte, daß er nur ein Stück seiner Erzählung war. Er war die Gestalt eines Buches, das ich las. Während ich es aber las, schrieb ich es“ (Tropen, S. 181). In letzter Konsequenz dekonstruiert der Text damit auch die ‚Stimme‘ als Selbstbezeugung einer ‚Person‘, als Hervorbringung eines identifizierbaren ‚Autor-Ich‘, auf das das Zerbrechen des principium individuationis ausgeweitet ist und das in der intratextuellen Leugnung der Autorschaft Robert Müllers für Tropen seinen Höhepunkt findet, wobei dieser als Herausgeber eine Figur des Textes authentifiziert, die intratextuell als fiktional gesetzt ist und damit unglaubwürdig wird. Nicht das schöpferische ‚Ich‘ ist die letzte Präsenz des Textes, sondern die Realität des Textes. Doch das Manuskript spielt selbst noch mit der eigenen Existenz, wie Ingrid Kreuzer bemerkt: Dieses [das Buch Tropen] wird, während er [Brandlberger] es als fiktiver Autor auf dem Diwan erdenkt, durch den Mund seines ‚Helden‘, der es scheinbar zugleich erlebt und plant, sowohl als zu schreibendes, schon geschriebenes, niemals zu schreibendes oder nie geschriebenes vorgestellt.23
____________ 23
Kreuzer (1981: 117).
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Das Buch existiert zuletzt als Textmaterial, das aufgefasst sein will als eine Verdichtung tropischer Rede, die sich selbst zum einzigen Referenzpunkt erhebt und den Autor als ihr Produkt ausweist. Die ‚Stimme‘ ist hier bloß noch entpersonalisierte Implikation eines nicht zu leugnenden Sprechaktes. Dennoch misst sie sich explizit an einer Fiktion von ‚Person‘, auch wenn diese sich als Paradoxon alternierender und sich durchdringender Persönlichkeiten realisiert. Das Personalpronomen ‚Ich‘ beansprucht eine textuelle Präsenz, dessen Signifikat aber nicht ‚eindeutig‘ identifizierbar und lokalisierbar ist.
5. ‚Stimme‘, ‚Person‘ und ‚Identität‘ Den ausgewählten Textbeispielen aus unterschiedlichen nationalen Literatursystemen der Frühen Moderne ist gemeinsam, dass sie intratextuell eine spezifische ‚nordeuropäisch-nordische‘ kulturelle ‚Identität‘ postulieren24. Zugleich entwerfen sie die ‚individuelle Einheit der Person‘ und ‚Identität‘ aber nicht als etwas Gegebenes, sondern als problematische Entitäten, die sich in der Narration erst in Opposition zu südlich-tropisch fremder ‚Nicht-Zivilisation‘ und ‚Nicht-Kultur‘ zu konstituieren haben – auch wenn sich diese metafiktional als lediglich imaginiertes und erzähltes Gegenmodell eines Erzählers erweisen. ‚Stimme‘ ist hier eine textinterne Funktion, mittels derer die Erzählinstanz individualisiert bzw. entindividualisiert und so in die Textaussage über ‚Identität‘ und den Status der ‚Person‘ mit einbezogen werden kann. Zwischen einerseits der Selbstbehauptung des kreativen Erzähler-Ich durch das Erheben der Stimme im Erzählakt sowie andererseits seiner Dekonstruktion durch paradoxale Transgressionen, Infragestellungen seines Seinsstatus und seiner Identität wird entweder die nunmehr ‚konstante Person‘ des Erzählers implizit als Produkt eines gelungenen Integrationsprozesses in das ‚Eigene‘ dargestellt (Wälder, Heart of Darkness) oder als eine Sprechinstanz, die sich einer Festlegung signifikant entzieht (Pan, Tropen und wiederum, da ambivalent, Wälder). Die Frage, ob Genettes Begriff der ____________ 24
Auch in Tropen wird rekurrent „der Nordeuropäer“ nicht nur als Typus des (über-)kultivierten und zivilisierten Menschen, sondern als ‚Mensch‘ überhaupt im emphatischen Sinne präsentiert, z. B.: „Was immer der Mensch findet, er findet es in sich, und wenn er südwärts wandert, dann merkt er mit Befremdung und Erkältung, daß er, der Nordländer, viel südlicher ist in seinen Trieben als die südlichste Rasse, und er lernt einsehen, daß der Mensch überhaupt bereits eine Vernördlichung ist“ (Tropen, S. 400).
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‚Stimme‘ notwendig an eine Vorstellung von ‚Person‘ zu knüpfen sei, muss letztlich von Fall zu Fall in der konkreten Textanalyse entschieden werden, für die ja die Terminologie nur ein operationalisierbares Instrumentarium sein will. In den Texten ist der Sprechakt der ‚Stimme‘ die einzige intratextuelle Gewissheit, wenn nicht ausdrücklich als Ausdruck der Selbstbehauptung einer Person, so wenigstens ex negativo als Hinweis auf eine problematische oder pathologisierte Identität. Die Texte weisen ‚Stimmbrüche‘ auf mehreren Ebenen auf: In den geschilderten Transitionen der erlebenden Ich-Figuren der Diegesen (in Pan auch zwischen den potenziell identischen Erzählerpersönlichkeiten) durch einen Wandel der ‚Stimme‘ bzw. ein neues Bewusstsein von der Eigenheit der Stimme vor dem Hintergrund der behaupteten Fremderfahrung; in der Relation von jeweils erzählendem und erzähltem Ich, wenn sie durch Verunsicherungen über die personale Identität, paradoxale Transgressionen oder Hinweise auf unzuverlässiges Erzählen verunklart wird; in den logischen Brüchen in Erzählen und Erzähltem, sowie im Zerbrechen der ‚Stimme‘ selbst als eines Ausdrucks von ‚Individualität‘ im Sinne der Zerstörung des principium individuationis. Nur in Heart of Darkness findet sich (hier auch lexikalisch) ‚Stimme‘ in Erzählen und Erzähltem als ein expliziter Ausdruck der Selbstbehauptung und Grenzziehung des Individuums gegenüber Kultur- und Selbstverlust. Auch bzw. gerade dann, wenn die Metadiegese als „Garn“ verstanden wird, bleibt das Primat der Stimme im Text erhalten, die sich in der Zweiheit der Erzähler doppelt manifestiert. D. h. wenn die ‚Geschichte‘ in ihrem Anspruch auf intradiegetische Realität und nachweisbare Historizität verschwindet, tritt sie in ihrer Fiktionalität gerade als Produkt einer autonomen Stimme hervor: Indem das Erzählte sich selbstreflexiv und metafiktional als Konstruktion thematisiert, authentifiziert es seinen Schöpfer. Entgegen Holligers These vom „Verschwinden des Erzählers“ in der skandinavischen Literatur der Jahrhundertwende, zeigen die hier behandelten Beispiele (auch die beiden skandinavischen!) vielmehr ein Verschwinden der ‚Geschichte‘ im Sinne intradiegetisch real gesetzter Ereignisse und gerade eine Hervorhebung des Erzählaktes. So lässt keiner der vier Texte die geschilderte tropische Reise als ein tatsächlich Erlebtes unbezweifelt, sondern alle präsentieren dieses als eine Imagination, wobei Pan, Wälder und Tropen explizit den eigentlichen Ort der ‚Erfahrung‘ am heimischen Schreibtisch lokalisieren. D. h. die Differenzierung der Texte zwischen einem extradiegetisch erzählenden und einem intradiegetisch erlebenden Ich sowie deren unterschiedlicher zeitlicher Situierung – das
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erzählende Ich vergegenwärtigt sich Vergangenes – ist hinfällig: Das vergangene Ich ist ein im gegenwärtigen Erzählen imaginiertes: Der Erzähler kreiert sich seine ‚eigene‘ Historie und Genese. Dieser Sachverhalt muss nun gerade bei in der Forschung als exemplarisch für exotistische Literatur behandelten Texten auffallen, denn offenbar ist nicht einer von ihnen exotistisch ideologisiert. Im Gegenteil erweisen erstens die dargestellten Welten die Höherwertigkeit der Eigenkultur gegenüber dem Fremden und alles exotische Inventar ist nicht Gegenstand einer Fremderfahrung, die etwa das Eigene relativieren oder in Frage stellen könnte, sondern ein Produkt eigener Vorstellungswelten und damit eine Aussage über „Lebensgefühl“, „Wahrheit“ und Wunschräume einer Epoche der Eigenkultur. Die alternativen Fluchtwelten bleiben demgegenüber signifikant dem Gedanklichen verhaftet und erhalten keinen Realitätsstatus. Aber auch der imaginative Eskapismus der Erzähler wird relativiert: durch Pathologisierung in Pan, in Wälder durch den Hinweis auf die intendierte Trivialität des Erzählten nach dem Massengeschmack, in Heart of Darkness ist das Garn per se nicht eskapistisch motiviert, sondern intendiert die Bestätigung eigenkultureller Normen und Werte und Tropen stellt dem gegenüber nur noch ein zugespitztes Spiel mit den Lesererwartungen dar, in dem exotistische und metaexotistische Literatur gleichermaßen parodiert und dekonstruiert wird. Alle vier Flussfahrten-Erzählungen sind Metatexte, die literarischen Eskapismus und exotistisches Erzählen desavouieren, denn die exotistische Rede ist hier eine ‚tropisch-uneigentliche‘. In letzter Konsequenz erzeugt die vielfältige intra- und intertextuelle Dialogizität und Überlagerung von ‚Stimmen‘ mit Marlows Worten „jabber“ – „What else had been there?“
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Literaturverzeichnis Genette, Gérard 1994 [1972/1983] Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort herausgegeben von Jochen Vogt, München. Holliger, Christine 1988 Das Verschwinden des Erzählers. Die Entwicklung der Erzählerrolle in der skandinavischen Prosa 1870-1900, Frankfurt/Main und Berlin. Kreuzer, Ingrid 1981 Robert Müllers ‚Tropen‘. Fiktionsstruktur, Rezeptionsdimensionen, paradoxe Utopie, in: Kreuzer, Helmut/Helmes, Günter (Hg.): Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887-1924), Göttingen. Magill, Daniela 1989 Literarische Reisen in die exotische Fremde. Topoi der Darstellung von Eigenund Fremdkultur, Frankfurt/Main. Nies, Martin [im Erscheinen] Der Norden und das Fremde. Kulturelle Krisen und ihre Lösung in den skandinavischen Literaturen der Frühen Moderne, Kiel. Reif, Wolfgang 1975 Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, Stuttgart. Renner, Karl-Nikolaus 1986 Zu den Brennpunkten des Geschehens. Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie. Die Extrempunktregel, in: Kanzog, Klaus (Hg.): diskurs film: Münchener Beiträge zur Filmphilologie 1, München, 115-130. Titzmann, Michael 1989a Das Konzept der ‚Person‘ und ihrer ‚Identität‘ in der deutschen Literatur um 1900, in: Pfister, Manfred (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, Passau, 36-52. 1989b Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitung für französische Sprache und Kultur, 99, 47-61.
JULIA ABEL (Wuppertal)
Konstruktionen ‚authentischer‘ Stimmen. Zum Verhältnis von ‚Stimme‘ und Identität in Feridun Zaimoglus Kanak Sprak Abstract As research in the past few years could show, story-telling plays an elementary role in the construction of identity. Turned around, it is also now to be asserted, that a changed interpretation of identity in literary story-telling, specifically in the area of “voice”, has left its traces. With the example of Feridun Zaimoglus’ volume Kanak Sprak, in which a multiplicity of voices in the narrative technique serves to generate authenticity, the article examines the connection between the shape of the voice and model of identity. The analysis of the individual narrative voices thereby leads to a modification of the narrative-theoretical category of “voice”, which brings the author into the game and makes phenomena such as the unreliable narrative capable of being described.
„Was für ein Sound! Big Beat, großmäulig, wortgewaltig, kraftvoll und wütend“1. Mit diesen Worten beschreibt die tageszeitung die in Kanak Sprak laut werdende Stimme junger Migranten. Diese eine Stimme ist aber in Wahrheit polyphon; sie wird von Zaimoglu aus „24 Mißtönen vom Rande der Gesellschaft“, so der Untertitel, erzeugt. In diesem mehrstimmigen Erzählverfahren findet meines Erachtens eine veränderte Auffassung von Identität ihren Ausdruck. Wie wichtig Erzählen für die Konstruktion individueller und kollektiver Identität ist, hat die Forschung ____________ 1
Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, 5. Aufl. Hamburg 2000, Klappentext.
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der letzten Jahre gezeigt2. Umgekehrt ist nun auch festzustellen, daß die wachsende Skepsis gegenüber statischen Identitätskonzepten im literarischen Erzählen, speziell im Bereich der ‚Stimme‘, Spuren hinterlassen hat. Besonders deutlich wird dies an der sogenannten ‚Migrantenliteratur‘, in der das Thema Identität bekanntlich eine wichtige Rolle spielt. Am Beispiel von Kanak Sprak möchte ich in diesem Beitrag den Zusammenhang von Stimmengestaltung und Identitätsmodell untersuchen. Sieht man von der Figurendarstellung ab, müßte gerade die ‚Stimme‘ im Sinne Genettes von einem gewandelten Identitätsverständnis betroffen sein, da unter dieser Kategorie Fragen des narrativen Akts (narration) behandelt werden. Dieser ist aber als Ursprung der Erzählung als einer Form der Rede (discours) aufs engste mit der Vorstellung einer Person verknüpft3. Ja, vielleicht mehr noch als die Figuren eignet sich die ‚Stimme‘ für die Umsetzung neuer Identitätskonzepte. Zwar wissen wir sowohl von der Narration als auch von der Geschichte (histoire) allein durch den discours der Erzählung4; doch unterscheidet sich die Art der Vermitteltheit. Die Figuren als Teil der Geschichte sind nämlich Gegenstand dieses discours. Als Objekte von Aussagen und Zuschreibungen neigen sie stärker zu einer fest umrissenen Gestalt, als dies bei der Erzählstimme der Fall ist. Die Narration ist dagegen in der Erzählung zunächst nur als Spur5, sozusagen als Stimme gegeben, die eine Rekonstruktion einer dahinter stehenden Person zulassen kann, dies aber nicht muß6. Aus Sicht neuerer Identitätstheorien, in denen die Möglichkeit kohärenter Identitätsbildung zunehmend skeptisch beurteilt wird7, liegt hierin ein entschiedener Vorteil. Hinzu kommt, daß die Vorstellungen von der Figur des Erzählers und seiner Identität bloß durch dessen Erzählen, d. h. den sprachlichen Akt der Narration evoziert werden. Dieses Faktum macht in der Tat die ‚Stimme‘ zu einem besonders geeigneten Experimentierfeld ____________ 2 3 4 5
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Einen Überblick über die Forschung zum Zusammenhang von Erzählen und Identität bietet Scheffel (2004: 127-129); vgl. auch Straub (2000: 171-174). Vgl. Genette [1972/1983](1998: 259f.). Vgl. Genette [1972/1983](1998: 17). Solche Spuren der Narration sind nach Genette etwa das „Vorkommen eines Personalpronomens in der ersten Person […] oder das eines Verbs in Vergangenheitsform […], wobei freilich auch direktere und explizitere Hinweise möglich sind.“ (Ebd.) Vgl. hierzu zuletzt Schmid (2005: 72-81); ihm zufolge gibt es sogar Erzähler, die „stark markiert [sind], ohne eine persönliche Identität zu besitzen“ (Schmid (2005: 78)). Vgl. Gymnich (2003: 33).
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für moderne Identitätskonzepte, nach denen Identität kein Besitz ist, sondern handelnd erzeugt wird. Der Sprache kommt hierbei eine zentrale Bedeutung zu, Identität hat insofern einen deutlich performativen Charakter. Das Ziel dieses Beitrags läßt sich also weiter präzisieren: Wie wirken sich dynamische Konzepte von Identität auf die Konstruktion kollektiver wie einzelner Stimmen im Text aus? Zur Klärung dieser Frage verfahre ich folgendermaßen: Zunächst soll Kanak Sprak vorgestellt werden, wobei die Frage, ob es sich überhaupt um eine Sammlung von Erzähltexten handelt, sowie Besonderheiten auf dem Gebiet der ‚Stimme‘ im Vordergrund stehen. Diese Besonderheiten machen dann zum einen eine Bestimmung des mehrdeutigen Begriffs der ‚Stimme‘ erforderlich; zum andern sprechen sie für eine Modifikation der Genetteschen Kategorie, wofür versuchsweise Bachtins Begriff der ‚Mehrstimmigkeit‘ genutzt werden soll. Auf dieser Basis soll in einem weiteren Schritt die Stimmengestaltung in Kanak Sprak genauer untersucht und schließlich mit neueren Identitätskonzepten in Beziehung gesetzt werden.
Erzählen und Erzähler in Kanak Sprak Mit Kanak Sprak, 1995 erstmals erschienen und mittlerweile in 6. Auflage wie auch als preisgekröntes Hörspiel auf dem Markt, machte Feridun Zaimoglu als enfant terrible der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Furore8. Der 1964 in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Autor vereint in diesem Band vierundzwanzig kurze Prosatexte, die laut Vorwort auf Interviews mit jungen Männern9 türkischer Abstammung basieren. „Wie lebt es sich als Kanake in Deutschland?“ (Kanak Sprak, S. 9), wollte Zaimoglu von ihnen, den Vertretern der zweiten und dritten Generation türkischer Migranten, wissen. Zaimoglu, das genaue Gegenteil eines Underdog10, konzentrierte sich dabei bewußt auf die Randständigen, ____________ 8 9
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Formulierungen wie diese finden sich in Arbeiten über Kanak Sprak immer wieder, z. B. bei Fachinger (2001: 98) und Wertheimer (2002: 131). 1998 erschien in Hamburg Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft, das Pendant zu Kanak Sprak aus weiblicher Sicht. Zaimoglu ging bei der Erstellung dieser Texte etwas anders vor als bei Kanak Sprak, vgl. dazu Skiba (2004: 190f.). Vgl. Die Zeit, zitiert im Booklet des Hörspiels Kanak Sprak, Audio Verlag 2000. Zaimoglu hat einige Semester Kunst und Humanmedizin studiert, war Hausautor des Nationaltheaters Mannheim und arbeitet heute als freier Schriftsteller, Journalist und Drehbuchautor. Vgl. http://www.rotbuch.de (eingesehen am 25.08.2005). Etwas genauere Angaben zur Biographie Zaimoglus liefert Skiba (2004: 188f.). Dort wie auch
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die sich selbst „mit stolzem Trotz“ (ebd.) als ‚Kanaken‘11 oder ‚Kümmel‘ bezeichnen; die in die deutsche Gesellschaft ‚erfolgreich‘ Integrierten bleiben dagegen außen vor: „Hier hat allein der Kanake das Wort“ (Kanak Sprak, S. 18)12. Dessen Jargon, „eine Art Creol oder Rotwelsch“, beschreibt Zaimoglu folgendermaßen: Die Wortgewalt des Kanaken drückt sich aus in einem herausgepreßten, kurzatmigen und hybriden Gestammel ohne Punkt und Komma, mit willkürlich gesetzten Pausen und improvisierten Wendungen. Der Kanake spricht seine Muttersprache nur fehlerhaft, auch das ‚Alemannisch‘ ist ihm nur bedingt geläufig. Sein Sprachschatz setzt sich aus ‚verkauderwelschten‘ Vokabeln und Redewendungen zusammen, die so in keiner der beiden Sprachen vorkommen. In seine Stegreif-Bilder und -Gleichnisse läßt er Anleihen vom Hochtürkisch bis zum dialektalen Argot anatolischer Dörfer einfließen. (Kanak Sprak, S. 13)
Diese „Mischung aus Poesie und Härte, Heimatdialekt und Straßendeutsch“13 ist es, die den Sound der ‚Protokolle‘ prägt. Ob die Texte nun tatsächlich aus Interviews entstanden sind und was dies für die Stimmengestaltung bedeutet, wird später zu diskutieren sein. Schon jetzt ist aber festzuhalten, daß es sich bei ‚Kanak Sprak‘ um eine von Zaimoglu geschaffene Kunstsprache handelt, die, wenngleich sie auf der im Alltag gesprochenen Sprache der Jugendlichen beruht, mit dieser nicht verwechselt werden darf. Und das nicht nur, weil schriftliche Texte gar nicht anders können, als Mündlichkeit bloß zu simulieren. Zunächst ist jedoch die Frage zu klären, ob hier überhaupt erzählt wird14. Gewöhnlich vermeidet man nämlich, die Texte als Erzählungen zu bezeichnen15. Und tatsächlich werden hier keine wohlgeformten Geschich____________
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in Zaimoglus Vorwort selbst (Kanak Sprak, S. 15f.) werden zudem die soziale Differenz zwischen Autor und Interviewten und die daraus entstandenen Probleme der Kontaktaufnahme thematisiert. Zum Begriff ‚Kanake’ und seiner Umwertung vgl. Skiba (2004: 184f.). Das Spektrum der Interviewten reicht in den Worten Zaimoglus vom „MüllabfuhrKanaken bis zum Kümmel-Transsexuellen, vom hehlenden Klein-Ganeff […] bis zum goldbehängten Mädchenhändler, vom posenreichen Halbstarken bis zum mittelschweren Islamisten.“ Kanak Sprak, S. 16f. Aus dem Vorspann des Hörspiels Kanak Sprak, Audio Verlag 2000. Da Erzählen bekanntlich nicht fiktional sein muß, läßt sich diese Frage noch vor jeder Überlegung zum pragmatischen Status der Texte beantworten. Umschrieben werden sie etwa als „dramatische[…] Monologe“, als „provokante Portraits“ (Zaimoglu (1999)) oder „Positionsprotokolle“, in denen der Sprecher sein „Selbstbild und das Bild, das er von seiner Umwelt hat“ (Trefz (1998/9)), skizziere.
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ten von vergangenen ‚Begebenheiten‘ erzählt, obgleich Ansätze dazu durchaus noch vorhanden sind16. Wie Dietrich Weber gezeigt hat, umfaßt Erzählen aber weitaus mehr als Geschichtenerzählen. So kann der Gegenstand des Erzählens auch „bloß aus Statischem bestehen“, also aus „Situationen, Zuständen, Umständen“17. Hiervon könne wiederum „summarisch […], insbesondere durativ oder iterativ“18 erzählt werden, wie etwa Hebel dies in Der Generalfeldmarschall Suwarow tue. Hebel antworte mit dieser Erzählung nicht auf die nur auf ein einziges Ziel ausgerichtete Frage: ‚Was geschah da einmal Charakteristisches im Leben Suwarows?‘, sondern er antwortet ausschweifend auf die allgemeinere Frage: ‚Wie war er so, der General Suwarow, wie lebte er charakteristischerweise?‘19
Genau diese Erzählweise20 findet sich in Kanak Sprak schon weitaus häufiger als das klassische Geschichtenerzählen, auf das man in den affektgeladenen Darstellungen der Sprecher nur noch in fragmentarischer Form stößt. Den Unterschied dieser beiden „Grundarten des Erzählens“ beschreibt Weber folgendermaßen: „Starkes Erzählen ist geradlinig, zielstrebig, geschlossen. Schwaches Erzählen ist locker, mosaikhaft, offen“21. Zurückführen läßt sich die Dominanz von schwachen Erzählformen in Kanak Sprak auf den mündlichen Charakter der Texte22. Im Alltag wird diese Form des Erzählens oft verwendet, um Typisches zu veranschaulichen; gewöhnlich nutzt man dabei Präsens als Erzählzeit23. Indem Zaimoglu diese Form alltäglichen Erzählens simuliert, illustriert er einerseits die ____________ 16
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Zaimoglu selbst verzichtet mit der Wahl des Untertitels („24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“) bewußt auf jegliche Gattungszuordnung. Vgl. auch Skiba (2004: 188). So heißt es etwa in „Ich bin, der ich bin“: „im anfang war schlick, und der kam irgendmal an die reihe, puste, gottes ureigene heilige puste kam da rein und brachte ordentlich regung in den matsch, war wohl sowas wie ne gute infektion“; Kanak Sprak, S. 91. Weber (1998: 17). Weber (1998: 18). Weber (1998: 21). Ein Beispiel aus „Ich bin der ich bin“: „Also, du hörst es von mir, ich hab mir den ganzen mist was abläuft gemerkt: du bist der fighter und drehst fein deine runden und nimmst die puste aus deinen verdammten lungen, und machst draus ne schöne form mit dem spitzen ende und sagst den hängern: freunde, nicht mit mir, mit mir nich, und die kapieren wie nix gutes.“ Kanak Sprak, S. 92. Weber (1998: 20). Zur Mündlichkeit von Kanak Sprak vgl. Abel (2005: 34-37). Vgl. Schwitalla (1997: 50f.).
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Lebensumstände der Erzähler und macht ihre Einstellungen verständlich; andererseits wirken die Erzählungen dank solcher mündlichen Erzählformen besonders authentisch – nicht zuletzt, weil auch hier, wie im Alltag üblich, Präsens als Erzählzeit gewählt wurde24. Nun tendieren die Texte aus Kanak Sprak aber nicht nur deutlich zu schwächeren Formen des Erzählens, sondern verzichten manchmal sogar vollständig auf Erzählen im strukturellen Sinne. Bestimmt man nämlich mit Weber Erzählen zum einen als adressiert, zum anderen als Rede von zeitlich bestimmten Sachverhalten25, so ist die erste Bedingung zwar klar erfüllt, da die ursprüngliche Gesprächssituation nahezu durchgehend in den Texten präsent ist26; doch ist nicht immer von zeitlich bestimmten Sachverhalten die Rede27. Dennoch plädiere ich dafür, diese Texte als Erzählungen zu behandeln28. Und zwar nicht bloß wegen ihres mündlichen Charakters, der allein schon einen weniger strengen, an der Alltagskommunikation orientierten Begriff von Erzählen verlangt29. Sondern auch, weil Zaimoglus Ausgangsfrage ganz im Sinne eines narrativen Interviews geradezu als Aufforderung der Interviewten zu verstehen ist, von ihrem Leben in Deutschland zu erzählen. Bedenkt man nun die wichtige Rolle des Erzählens für die Identitätskonstruktion, so stellt sich die interessante Frage, warum hier Erzählen offenbar in Auflösung gerät. Eine solche Perspektive läßt sich aber nur einnehmen, wenn man die Texte als homodiegetische Erzählungen betrachtet. Im übrigen ist mit Weber festzuhalten, daß Erzählungen in der Regel eben nicht nur aus Erzählen bestehen30 – für Alltagserzählungen gilt dies in besonderem Maße. ____________ 24 25
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Vgl. etwa das Textbeispiel in Anm. 20. Weber nennt noch weitere Merkmale; bei den beiden genannten handelt es sich aber um die formalen Grundvoraussetzungen, ohne die es Erzählen nicht gibt. Vgl. auch Scheffel (2004: 123). Siehe das Beispiel in Anm. 20. Gleich das erste Protokoll beginnt etwa mit der allgemeinen Feststellung: „Pop is ne fatale orgie, ein ding ohne höhre weihen, und es macht aus jeder göre aus’m vorort’n verdammten zappler und aus jedem zappler ne runde null.“ Kanak Sprak, S. 19. Was implizit in der Sekundärliteratur auch immer wieder getan wird, wenn die Texte dort etwa als „Selbst-Narrative“ (Cheesman/Göktürk (1999)) bezeichnet werden. Vgl. dagegen Skiba (2004: 198). Viele der Texte dieses Bandes weisen die sprunghaften, abschweifenden und assoziationsreichen Strukturen alltäglichen Erzählens auf, wobei, hierfür typisch, starkes und schwaches Erzählen mit nicht erzählenden Passagen abwechseln. Vgl. Weber (1998: 70).
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Obwohl also als Erzählungen zu begreifen, bleibt die Frage offen, welchen pragmatischen Status die Texte haben und was dies für die Stimmengestaltung bedeutet. Hierfür ist nun entscheidend, was uns Zaimoglu im Vorwort mitteilt und wie glaubwürdig diese Informationen sind. Traut man seinen Angaben, so ging Zaimoglu bei den Vorarbeiten zu dem Band geradezu soziologisch vor und führte die Gespräche wie narrative Interviews31. Allerdings stellt er zugleich klar, daß Kanak Sprak nicht als Sammlung von transkribierten Narrationen verstanden werden darf. Denn Zaimoglu hat, wie seinem Vorwort zu entnehmen ist, die Interviews nicht nur übersetzt und in Schriftform gebracht, sondern das „hybride […] Gestammel“ (Kanak Sprak, S. 13) überhaupt erst zu ‚authentischen‘ Stimmen stilisiert, die sowohl individuelle wie gruppenspezifische Züge tragen32. Folgerichtig spricht er in seinem Vorwort von „Nachdichtungen“, in denen er „ein in sich geschlossenes, sichtbares, mithin ‚authentisches‘ Sprachbild zu schaffen“ versuche (Kanak Sprak, S. 18). Schon laut Vorwort handelt es sich also keineswegs um eindeutig faktuale Erzählungen33. Insofern erscheint Zaimoglu auf dem Titelblatt zu Recht als Autor, und nicht bloß als Herausgeber der Texte. Gleichwohl hat Zaimoglu nicht das letzte Wort; die fertigen „Übersetzungen“ legte er den Befragten zur Einsicht vor, die sie erst danach zur Publikation freigaben (ebd.). Wer spricht hier also? Weder sind es fiktive Erzähler, noch handelt es sich um ‚authentische‘ Stimmen realer Menschen. Authentizität scheint nichts Gegebenes zu sein, sondern muß offenbar erst erzeugt werden34. Zaimoglu versucht dies, indem er durch Überlagerung der Stimmen der Interviewten mit seiner eigenen diese zu ‚authentischen‘ Stimmen stilisiert und damit die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität bewußt überschreitet. Das Prinzip der Mehrstimmigkeit bestimmt ____________ 31
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Die Protokolle entstanden innerhalb von anderthalb Jahren, Zaimoglu verbrachte laut eigener Aussage zunächst viel Zeit mit den Befragten, um einen stimmigen Gesamteindruck von ihnen zu bekommen; erst danach kam es zu den ersten richtigen Gesprächen, die er in der Regel auf Band aufzeichnete. Vgl. Kanak Sprak, S. 15f. Aus diesem Grund darf ‚Kanak Sprak‘ eben auch nicht mit der im Alltag gesprochenen Sprache der Jugendlichen verwechselt werden. Skiba (2004: 187) weist darauf hin, daß Zaimoglus „Verfahren, Gespräche aufzuzeichnen und sie nachträglich literarisch zu verdichten, […] in der Tradition der ProtokollLiteratur“ einer Erika Runge, Sarah Kirsch und Maxie Wander steht. Diese Sichtweise kommt auch in der Weigerung des Autors zum Ausdruck, „die Realität aus doktrinärer Distanz heraus zu beschreiben, anstatt sie vom Schreibtisch aus zu konstruieren“. Kanak Sprak, S. 17.
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demnach nicht nur die Konstruktion der kollektiven ‚Stimme‘, sondern auch die einzelner Erzählerstimmen. Dagegen ließe sich nun einwenden, Zaimoglu könnte uns im Vorwort getäuscht haben; immerhin besteht die Möglichkeit, daß er die Texte geschrieben hat, ohne daß jemals ein Interview stattfand. Ausschließen läßt sich dies letztlich nicht, da Zaimoglu erklärt, er habe die Bänder im Beisein der Interviewten auf deren ausdrücklichen Wunsch hin löschen müssen (Kanak Sprak, S. 18). Entscheidend ist aber, daß es keinerlei Indizien gibt, aufgrund derer man die Glaubwürdigkeit des Vorworts in Zweifel ziehen könnte – weder in Kanak Sprak selbst, noch außerhalb des Bandes35. Ohne solche Indizien ist es aber ebenso unsinnig, das im Vorwort Mitgeteilte zu bezweifeln, wie es unsinnig wäre, den Verfasserangaben auf Titelblättern grundlos zu mißtrauen36. Obwohl also davon auszugehen ist, daß die Angaben im Vorwort stimmen, will ich den gegenteiligen Fall einmal probeweise durchspielen. Selbst unter diesen veränderten Bedingungen wäre zunächst festzuhalten, daß Zaimoglu die Erzählerstimmen im Vorwort zumindest als mehrstimmige Konstruktionen inszeniert und uns damit nahelegt, die folgenden Texte in entsprechender Weise zu rezipieren37. Aus Sicht jüngerer Identi____________ 35 36
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Genette bezeichnet solche den Text betreffenden Mitteilungen z. B. in Interviews, Briefen oder Tagebüchern als Epitext. Vgl. Genette [1987](2001: 12). Ich stütze mich hier auf Genette, der in seinem Buch Paratexte [1987](2001: 265f.) Vorworte, die nicht die Wahrheit über die Beziehung zwischen Autor und dem folgenden Text sagen, als fiktional bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine Gattung, „die gewöhnlich mit einer provisorischen Zuschreibungsfunktion verknüpft ist, die früher oder später einem expliziten Dementi verfällt“ (271). Bei Kanak Sprak ist dies nicht der Fall. Ohne gegenteilige Indizien gelte aber das Prinzip, „demzufolge man den Paratext wortwörtlich und buchstäblich nimmt, jede Skepsis, ja jede hermeneutische Befähigung ausschaltet und ihn für das hält, wofür er sich ausgibt“ (Genette [1987](2001: 176)). Zugleich ist die Geschichte der Textgenese, ob nun wahr oder erfunden, Teil der Authentisierungsstrategien, die in Kanak Sprak am Werk sind. Zu diesen zählt, daß Zaimoglu, selbst Teil dieser Ethnie (also gewissermaßen von Hause aus für diese Arbeit besonders befugt und kompetent), im Vorwort erklärt, daß dem Band gründliche Recherchearbeiten im Milieu vorausgingen und er „viel Zeit mit den Befragten [verbrachte], um einen stimmigen Gesamteindruck zu gewinnen“ (Kanak Sprak, S. 15). Indem Zaimoglu dennoch seinen eigenen schriftstellerischen Anteil offenlegt, präsentiert er sich als soziologisch aufgeklärten Autor, der weiß, daß es keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit gibt, die immer Konstruktion bleibt. Dank der Mündlichkeit der Texte aber, die an sich schon als besonders authentisch gilt, „kommen hier Kanaken in ihrer eigenen Zunge zu Wort.“ (Kanak Sprak, S. 18). Zur Authentizität trägt
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tätstheorien ist dies bereits außerordentlich bezeichnend. Im übrigen teile ich Genettes Einschätzung, daß solche ‚Leseinstruktionen‘, ob wir wollen oder nicht, auf unserer Lektüre „lasten“38: Wir lesen die Texte anders, als jemand, der das Vorwort nicht kennt39. Die Frage, die sich dank dieses Gedankenexperiments nun in aller Deutlichkeit stellt, ist, ob eine solche Mehrstimmigkeit der Erzählerstimmen durch Analysen der Texte selbst aufgewiesen werden kann, oder ob sie nichts als eine bloße Suggestion des Autors ist.
Präzisierungen des Begriffs ‚Stimme‘ Mehrstimmigkeit, kollektive Stimme, Erzählerstimme: Es dürfte nicht verborgen geblieben sein, daß das Wort ‚Stimme‘ bisher ganz unterschiedlich benutzt wurde. Gleichwohl handelt es sich in allen Fällen um uneigentliche Verwendungen, schließlich bezeichnet ‚Stimme‘ ursprünglich ein akustisches Phänomen. Laut Wörterbuch40 meint ‚Stimme‘ nämlich zunächst die Fähigkeit, Töne hervorzubringen, sowie diese Töne selbst, wobei zwischen Menschen- und Tierstimmen, Sprech- und Singstimme unterschieden wird. An der Stimme eines Sprechers oder Sängers lassen sich wiederum charakteristische Merkmale entdecken (etwa die Klangfarbe oder der Tonfall), die sie unverwechselbar machen. In einer metonymischen Verschiebung steht ‚Stimme‘ deshalb oft für solche individuellen Züge, die Art eines oder mehrerer Menschen zu sprechen, zu denken, sich zu äußern. Die weiteren im Wörterbuch verzeichneten Bedeutungen scheinen mit dieser Tatsache zu tun zu haben: Sowohl die musikalische Bedeutung von Stimme wie auch die Ausdrücke ‚Stimme des Volkes‘ und ‚Wählerstimme‘ beruhen offenbar auf dieser Metonymie. Auf dieser Grundlage lassen sich nun die unterschiedlichen Verwendungsweisen in meinem Beitrag genauer bestimmen. Zunächst war die Rede von der „Stimme der Migranten“, also einer Art kollektiver Stimme (1), die im Fall von Kanak Sprak aus verschiedenen Erzählerstimmen ____________ 38 39 40
nicht zuletzt bei, daß Zaimoglu das Vorwort signiert und datiert. Zur Frage der Authentizität von Kunstwerken vgl. Martinez (2004). Genette [1987](2001: 217). Dies bedeutet natürlich nicht, wie Genette zu Recht bemerkt, daß wir uns nicht kritisch dazu verhalten könnten. Vgl. Genette [1987](2001: 15). Genette bezieht sich hier zwar eigentlich auf die Kenntnis biographischer Fakten; das gleiche gilt aber auch für Vorworte. Vgl. Duden (1999: 3746f.).
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erzeugt wird. Ich verstehe darunter den charakteristischen gemeinsamen ‚Ton‘, in dem hier die unterschiedlichen homodiegetischen Erzähler von der erzählten Welt sprechen. Er zeichnet sich durch eine spezifische Sprachverwendung, mündliche Erzählformen und bestimmte Themen aus. Eine so verstandene kollektive Stimme kann zwar nicht zum Urheber eines Erzählakts werden, wohl aber im Sinne Bachtins „als deutende[r] Standpunkt[…], als sprachliche Weltanschauung[…]“41 Kontur gewinnen. Dann habe ich von der ‚Stimme‘ als narratologischer Kategorie (2) im Sinne Genettes gesprochen; sie betrifft die gesamte im Text entworfene Kommunikation, d. h. das Erzählen selbst (den Erzählakt), die Erzählerfigur (den Urheber des Erzählakts) sowie die Figur des Hörers oder Lesers (den Adressaten des Erzählens). Anschließend war in personifizierender Weise die Rede von dem nur als Stimme gegebenen Erzählakt in der Erzählung; hier geht es um das Erzählen selbst, also die Narration (3), die zwar als Tätigkeit ein Subjekt voraussetzt, aber eben nur in seiner Erzählfunktion, ohne daß hier bereits die Frage entschieden wäre, ob dies unbedingt eine Person sein muß42. Im Gegensatz zu Genette, der eine solche Differenzierung nicht kennt43, würde ich deshalb vom Erzählakt selbst die Erzählinstanz (4) unterscheiden, die bei Genette ja auch unter die Kategorie ‚Stimme‘ fällt. Für eine solche Unterscheidung spricht etwa der Ausdruck ‚authentische Stimme‘, der nur sinnvoll ist, wenn von der Stimme (3) ein Sprecher als eine bestimmte Person (4) zu unterscheiden ist, zu der diese Stimme mehr oder weniger gut paßt. Die Stimme in den letzten beiden Bedeutungen wird analog zum Begriff der Sprechstimme verwendet. Wie diese mündlich eine Rede erzeugt und diese Rede dabei mehr oder weniger charakteristische Eigenheiten des Sprechers aufweisen kann, so erzeugt die Erzählstimme (3) die Erzählung, wobei jene wiederum charakteristische Eigenheiten eines ‚Erzählers‘ (4) aufweisen kann. Mit Genette gilt es hier noch einmal zu betonen, daß beides natürlich Konstrukte sind, die aufgrund eines Textes erstellt werden. Sowohl von ____________ 41 42
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Bachtin [1963](1985: 205). Ich halte es für nicht sehr glücklich, daß Genette als Korrelat der Kategorie ‚Stimme’ die Narration angibt. Vgl. Genette [1972/1983](1998: 20). Denn tatsächlich umfaßt jene ja weitaus mehr (z. B. den Adressaten), als bloß den Erzählakt selbst. Dieser ist nun aber durchaus beschreibbar (z. B. als mündlich oder von Dialekten geprägt), ohne daß unbedingt eine dahinter stehende Erzählerfigur rekonstruierbar sein müßte. Vgl. Genette [1972/1983](1998: 157 u. 167); an diesen Stellen wird deutlich, daß Genette den Begriff ‚narrative Instanz’ sowohl für die Person des Erzählers als auch für den Erzählakt selbst verwendet.
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der Erzählinstanz (4) als auch vom Erzählakt (3) wissen wir immer nur vermittelt durch den discours, der nichts anderes als der vom Autor geschriebene Text ist. Schließlich kam die Stimme des Autors (5) ins Spiel, die über die Stimme des Erzählers gelegt werde und damit die Gestalt des Erzählakts betrifft. Sie kann als ein weiterer Standpunkt neben demjenigen des Erzählers im Erzählen erkennbar werden, wie ich im folgenden zu zeigen versuche. Zuletzt wurde Bachtins Begriff der Mehrstimmigkeit (6) erwähnt. Nur wenn man berücksichtigt, daß Bachtin immer dann von Stimme spricht, wenn in einer Äußerung, einem Wort oder einem Sprachstil ein Standpunkt, ein Subjekt erkennbar wird44, läßt sich verstehen, wie Bachtin so unterschiedliche Dinge wie Figurenrede, Erzählerrede oder die durch den Autor vorgenommene Stilisierung jeweils als Stimme bezeichnen kann. Wenn ich im folgenden von einer mehrstimmigen Erzählerstimme spreche, so beziehe ich mich lediglich auf diese Denkfigur Bachtins, nicht aber auf seine gesamte Theorie. Mehrstimmig ist eine Erzählerstimme dann, wenn in ihr verschiedene Standpunkte und damit verschiedene Aussagesubjekte erkennbar werden. Es lassen sich also allein in diesem Aufsatz, soweit ich sehe, sechs verschiedene Bedeutungen von Stimme unterscheiden, denen allerdings gemeinsam ist, daß sie sich hier allesamt auf den Erzählakt beziehen. Im Gegensatz zu Genette meine ich nun, daß man auch auf narratologischer Beschreibungsebene den Erzählakt noch genauer in den Blick bekommen kann, wenn man den Autor mit einbezieht. Ich schlage deshalb vor, unter der narratologischen Kategorie der Stimme auch diesen Aspekt zu behandeln. Dies bedeutet eine Erweiterung des Begriffs, da sich dieser laut Genette ausdrücklich auf die Narration in ihrer Beziehung zur histoire und zum discours beschränkt45. Will man aber die Konstruktion der Narration genauer erfassen, benötig man die von Genette vernachlässigte Differenzierung zwischen Erzählakt und Erzählinstanz. Daß eine solche sinnvoll ist, ergibt sich aus meinen bisherigen Ausführungen zur Stimmengestaltung in Kanak Sprak. Schließlich sind hier an der Gestaltung einzelner Erzählakte (3) verschiedene Stimmen beteiligt. Erst hierdurch entsteht wiederum das Bild der einen Erzählinstanz (4). Es macht meiner Meinung nach einen Unterschied, ob man die Konstruktion eines Erzählakts untersucht oder aber die Erzählinstanz aus diesem rekonstruiert. Ein mikroskopisches Eindringen in die Erzählaktkonstruktion wird aber durch ____________ 44 45
Vgl. Bachtin [1963](1985: 205). Vgl. Genette [1972/1983](1998: 284).
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die Genettesche Gleichsetzung von Erzählinstanz und Erzählakt verhindert, was sich konsequenterweise in seinem Beschreibungsvokabular widerspiegelt, das auf Personen bezogen bleibt. Bezieht man dagegen den Autor bei der Analyse des Erzählakts mit ein, so läßt sich nicht nur ein Fall wie Kanak Sprak besser beschreiben, sondern man bekäme auch bestimmte Fälle des unzuverlässigen Erzählens genauer in den Blick, in denen „der Autor dem Leser implizit, sozusagen an dem Erzähler vorbei, eine andere, den Erzählerbehauptungen widersprechende Botschaft vermittelt“46. Daß dies dem Autor überhaupt möglich ist, liegt an der doppelten Kommunikationssituation von Erzähltexten. Denn diese werden zugleich, wenn auch auf verschiedene Weise, vom Erzähler wie vom Autor hervorgebracht. Es scheint dem Autor nun durchaus möglich zu sein, sich diese Tatsache zunutze zu machen und wieder als Aussagesubjekt des discours in Erscheinung zu treten, wobei die Erzählerrede dann wie ein Zitat behandelt wird. Damit schließe ich mich Genettes Kritik am Begriff des ‚impliziten Autors‘ an47, der gewöhnlich für Fälle wie das unzuverlässige Erzählen zugrunde gelegt wird. Genette hat meiner Ansicht nach sehr klar gezeigt, daß mit dem Begriff des impliziten Autors niemand anders gemeint ist als der Autor selbst. Dieser hat aber (ebenso wie der Leser) nach Genette in der Narratologie nichts verloren48. Genettes beinahe dogmatisch zu nennende Weigerung, den Autor naratologisch zu berücksichtigen, hat leider zur Folge, daß er die Frage unbeantwortet lassen muß, wie ein Erzähler ironisiert werden kann49 – obwohl es sich beim unzuverlässigen Erzählen doch zweifelsohne um ein narratives Phänomen handelt50. Geht man dagegen von einem Wechsel des Aussagesubjekts aus, ließe sich eine solche Ironisierung des Erzählers besser als bisher erklären. Illustrieren möchte ich dies an einem ähnlich gelagerten Fall aus dem außerliterarischen Bereich. Wenn ein Kabarettist Aussagen eines Politikers der Lächerlichkeit preisgeben möchte, so wird er diese ____________ 46 47 48 49 50
Martinez/Scheffel (2000: 101). Genette widmet der Kritik des Begriffs das gesamte Schlußkapitel des Nouveau Discours du récit. Vgl. Genette [1972/1983](1998: 283-295). Vgl. Genette [1972/1983](1998: 284). Vgl. Genette [1972/1983](1998: 286 u. 288f.). Vgl. auch Nünning (1998). Nünning, der selbst den Begriff des impliziten Autors kritisiert und verworfen hat (1993), versucht, unzuverlässiges Erzählen ohne Rückgriff auf diesen zu erklären. Wie bei Genette kommt hierfür der Autor von vornherein nicht in Frage, während der Bezug auf den Leser für Nünning offenbar weniger problematisch zu sein scheint.
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Aussagen gewöhnlich in einen bestimmten Kontext betten. Im Extremfall kann es aber schon ausreichen, daß er sie bloß zitiert. Ironisiert werden die Aussagen in diesem Fall lediglich dadurch, daß sie zu Zitaten werden, es also ein anderer (mit einem andern Standpunkt) ist, der sie spricht. Analog hierzu läßt sich meines Erachtens eine Ironisierung des Erzählers verstehen. Zustande käme sie eben dadurch, daß die Sätze zwar vom Erzähler stammten, aber eben vom Autor gesprochen, also zitiert würden, wobei noch zu klären wäre, wodurch ein solcher Sprecherwechsel signalisiert wird. In diesen Fällen ließe sich die Konstruktion des Erzählaktes mit Bachtins Begriff der ‚Mehrstimmigkeit‘ genauer erfassen: Als mehrstimmig würde ich ihn bezeichnen, wenn sich neben der Erzählerstimme ein zweites Urteil, eine Stellungnahme des Autors ‚heraushören‘ läßt51.
Mehrstimmige Erzählerstimmen in Kanak Sprak Am Beispiel zweier Texte aus Kanak Sprak möchte ich nun genauer das Prinzip der Mehrstimmigkeit untersuchen. „Yücel, 22, Islamist“ ist alles, was uns Zaimoglu über den Erzähler von „Im Namen des Allerbarmers“ wissen läßt. Hier, wie in allen andern Fällen, hält er ergänzende Angaben zur Erzählung denkbar knapp52. Das Bild, das sich der Leser von dem jungen Mann macht, basiert also fast ausschließlich auf dessen Selbstdarstellung in der homodiegetischen Erzählung, die wiederum deutlich von Zaimoglus schriftstellerischer Arbeit geprägt ist. Der Erzähler des anderen Textes ist der dreizehnjährige Hasan, ein „Streuner und Schüler“. Der Titel („Ich bin, der ich bin“) ist, wie in allen andern Fällen auch, ein Zitat aus der Erzählung, das ein zentrales Moment aus der Selbstdarstellung aufnimmt. Im Text heißt es: Also, du hörst es von mir, ich hab mir den ganzen mist was abläuft gemerkt: du bist der fighter und drehst fein deine runden und nimmst die puste aus deinen verdammten lungen, und machst draus ne schöne form mit nem spitzen ende und sagst den hängern: freunde, nicht mit mir, mit mir nich, und die kapieren wie nix gutes. Und die sagen: du bist auf’m damm, mann, wie willst du, daß wir dich nennen? Und du sagst: ich bin, der ich bin! (Kanak Sprak, S. 92)
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Sinnvoll (und gängig) ist die Bezeichnung ‚mehrstimmig’ natürlich auch im Falle einer Kombination mehrerer Erzählstimmen. In diesem Sinne habe ich den Begriff etwa zu Beginn verwendet, als es um die verschiedenen homodiegetischen Erzählungen in Kanak Sprak ging. Bis auf wenige Ausnahmen hat Zaimoglu alle Namen geändert. Vgl. Kanak Sprak, S. 18). Zur Anonymität und Form der Angaben vgl. auch Skiba (2004: 189).
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Diese abwehrende Haltung gegenüber jeglicher Festlegung beschreibt Zaimoglu im Vorwort als gruppentypisch: Auch wenn sie zu einer endgültigen Entscheidung gezwungen würden, die Kanaken suchen keine kulturelle Verankerung. Sie möchten sich weder im Supermarkt der Identitäten bedienen, noch in einer egalitären Herde von Heimatvertriebenen aufgehen. Sie haben eine klare Vorstellung von Selbstbestimmung. Sie bilden die eigentliche Generation X, der Individuation und Ontogenese verweigert worden sind. (Kanak Sprak, S. 12f.)
Hasans Haltung läßt sich anhand einer anderen Stelle aus seiner Erzählung (zumindest auch) als Reaktion auf abwertende Zuschreibungen durch Deutsche begreifen: Diese scheiße mit den zwei kulturen steht mir bis hier […]. Die wollen mir weismachen, daß ich wie ne vertrackte rumheul an muttern ihr zipfel und, auch wenn’s hell is, bibber vor angst, weil mich das mit innen und außen plagt. Die deutschen müssen was zu hassen kriegen, damit sie wie’n köter an’m knochen knaupeln daran, und wenn sie nix zu beißen haben, kriegen die ne wut und zünden an. (Kanak Sprak, S. 96)
Hier deutet sich schon an, daß das zur Schau getragene Selbstbewußtsein nicht ungebrochen ist; auch Zaimoglu spricht dies an: „Als selbstbewußtes Individuum aber existiert der Kanake auch nur auf dem Paßfoto. Er lebt in dem Gefühl, minderwertig zu sein, fehlzugehen oder auf Abwege zu geraten“ (Kanak Sprak, S. 11). Dies äußert sich in Hasans Erzählung in immer wiederkehrenden Bildern einer Gefährdung: Auch mit der familie und auch mit nem namen bleibst du ein bastard, du hast krause haare und benimmst dich nicht wie die deutschen, denen das licht längst ausgegangen is, du hast was vor, aber ne menge arschlöcher möchten dich aus der gegend haben, und wenn du dich nicht wehrst, kappen sie dir die leitung und machen dich zur dunklen memme […], dir kann das nich egal sein, daß dir der olle sabber runterläuft wie bei der irren abteilung in der geschlossenen. (Kanak Sprak, S. 93)
Gegen dieses Gefühl von Bedrohung setzt Hasan die Inszenierung eigener Stärke; wesentliches Mittel hierfür ist die Sprache: „Die Sprache entscheidet über die Existenz: Man gibt eine ganz und gar private Vorstellung in Worten“, wie Zaimoglu formuliert (Kanak Sprak, S. 13). Bei Hasan ist diese deutlich von amerikanischen Filmen im Stil von Dirty Harry beeinflußt, wie das zuletzt angeführte Zitat zeigt. Aber auch an anderen Stellen wird deutlich, daß Filme, die in ‚üblen Gegenden‘ spielen, Vorbild seiner Darstellungen sind. So klärt Hasan seinen Gesprächspartner darüber auf, woher der Satz „Ich bin, der ich bin“ eigentlich stamme – und das ist durchaus nicht die Bibel:
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Bruder, das hab ich mal aufgeschnappt von nem spaghetti, und der hat’n film gesehen mit’m meschuggenen cop, der hat’n verrücktes ding drehen gehabt in seiner birne, der stieß immer auf schmutz und dreck und schlick, und das war sein easy ausweis, wenn ihm jemand über’n weg lief und fragte, wer er denn sei und woher. Und der cop sagt dann cool: baby, ich bin, der ich bin, und was machst du in der gegend. (Kanak Sprak, S. 92)
Schaut man sich die bisher zitierten Passagen genauer an, so lassen sich sowohl mündliche Elemente53 (die auf ihren realen Urheber verweisen) wie auch schriftsprachliche Strategien der Verdichtung54 (die auf einen Autor deuten) identifizieren. Gerade wenn man den zerfasernden Charakter von Transkriptionen narrativer Interviews kennt, läßt sich ausschließen, daß der dreizehnjährige Hasan in einem Gespräch tatsächlich genau so erzählt hat. Zaimoglu macht in seinem Vorwort ja auch unmißverständlich deutlich, daß diese geschlossenen Sprachbilder von ihm erst konstruiert wurden. Das Bild (4), das dabei von dem Erzähler entsteht, basiert auf einem Erzählakt (3), der so gestaltet ist, daß einerseits die mündliche Sprache des Interviewten in ihn eingeht, zugleich aber auch die schriftstellerische Arbeit des Autors deutlich wird, der mittels Verdichtung die Art, wie Hasan spricht, noch klarer profiliert. Andere Textverfahren dienen gerade nicht zur Unterstützung der Erzählerrede, sondern erfüllen im Gegenteil die Funktion, eine ironische Distanzierung von derselben zu ermöglichen. Indem Zaimoglu beispielsweise dem Abschnitt, der mit „Ich bin, der ich bin“ endet, unvermittelt die Passage über die Herkunft dieses Ausspruchs folgen läßt, wird Hasans Rede ironisch gebrochen. Dadurch kommt es meiner Ansicht nach zu einem kurzfristigen Wechsel des Aussagesubjekts, Zaimoglu tritt als Verfasser in Erscheinung und ironisiert diese Äußerung Hasans. Den dezidiert mündlichen Elementen des Textes setzt Zaimoglu, allerdings in unterschiedlich starkem Grad, weitere schriftsprachliche Strategien entgegen, welche die ____________ 53
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Dazu zählen etwa das umgangsprachliche Vokabular (easy ausweis, meschuggenen cop, spaghetti, cool), Verschleifungen und Verkürzungen (auf’m damm, wenn’s, nich, ’n film), wie sie im Alltag üblich sind, wie auch der von Mündlichkeit geprägte Satzbau. Hier ist als erstes die Kürze und Prägnanz der Selbstdarstellungen zu nennen. Darüber hinaus weisen die zitierten Passagen (nicht zuletzt in ihrer Bildlichkeit) eine Dichte auf, die mit dem von Zaimoglu beschriebenen „Gestammel“ nicht vereinbar ist. Zur Unterscheidung von mündlichen und schriftlichen Textstrategien vgl. den Aufsatz von Koch/Oesterreicher (1985), der bis heute die theoretische Grundlage vieler Arbeiten zur fingierten Mündlichkeit darstellt.
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Arbeit des Autors erkennen lassen und den Text zusammenhalten. So greift z. B. die Formulierung „du […] nimmst die puste aus deinen verdammten lungen, und machst draus ne schöne form mit nem spitzen ende“, die gewissermaßen den Beginn der Selbstbestimmtheit markiert, den ganz zu Anfang der Erzählung stehenden, eigenwillig reformulierten Schöpfungsbericht wieder auf: Du willst wissen, wie mein dreh is, und ich will ihn dir mal verraten unter uns: zorn, wie ihn dir der herrscher beigab ins blut, in die sehnen, ins organ, denn die alten erzählen doch: im anfang war schlick, und der kam irgendmal an die reihe, puste, gottes ureigene heilige puste kam da rein und brachte ordentlich regung in den matsch, war wohl sowas wie ne gute infektion, das geb ich dir also erst mal mit, wenn du schon fragst, was hier abgeht und was nich. (Kanak Sprak, S. 91)
Ferner durchziehen verschiedene, aufeinander abgestimmte Motive die Erzählung, so etwa das bereits erwähnte Motiv der Gefährdung, das zu dem der „Gegend“ in Beziehung gesetzt wird. Die Gegend, das Hauptthema seiner Erzählung, ist hier zugleich Symbol für Hasans Selbstwertgefühl: ich hab nen wert, ich hab ne zweite haut, da brauch ich feinen zwirn nich, weil der wert, den gibt’s nicht im kaufhaus, den hast du, weil die leute sagen: der ist die gegend. Paß auf, sie meinen nicht, daß du in derselben gegend hängst wie sie, sie sagen, du bist die gegend, und das mußt du erst mal in den kopf kriegen. (Kanak Sprak, S. 93)
Aufgrund der Bedeutung dieses Symbols endet der Text auch mit ihm: Du hörst das von mir, bruder, vergiß das nich, du hörst die gute alte wahrheit von nem ollen kanaken, den die hänger nich gekriegt haben, ich kenn die masche, ich weiß, was ne münze is und was richtig gut schotter. Bin hier die gegend. (Kanak Sprak, S. 96)
Den Abschnitten über die Gegend stehen Passagen zum Gefühl der Gefährdung gegenüber. Beide befinden sich in diesem Text in einer vorsichtig austarierten Balance, die mit Hasans Absicht, seine Stärke zu demonstrieren, nicht in Einklang steht. Das Bild, das durch diese Verfahren von der Erzählinstanz (4) erzeugt wird, zeigt einen Halbstarken, dessen von Hollywood inspirierte Aufschneiderei durch Zaimoglus beschriebene Textstrategien und Stilisierungen im Erzählakt (3) behutsam als Verletzlichkeit entlarvt wird, während Zaimoglu seinen wütenden Angriffen auf
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deutsche Abwertungen durch einen Verzicht auf Zweistimmigkeit Respekt zollt55. Im Vergleich zu Hasan ist das Bild, das Zaimoglu von dem Erzähler Yücel entwirft, durch größere Distanz gekennzeichnet56. In verbittertem Haß spricht hier der Erzähler von dem Land der „Ungläubigen“. Gerade weil auch seine Erzählung mit dem Schöpfungsmythos beginnt, wird der Unterschied zu Hasans Ton besonders deutlich: Im namen des allerbarmers, des gnadenvollen. Dank sei ihm, der gläubige tatkraft in jede fiber meines leibes hineingeheißen, und einst, als er feuchten schlick im unendlichen handumfang gehalten und gewendet und gedreht und es so befunden, daß ins tote sein fruchtbar odem wehe auf sein geheiß und drängen, also einst, als er dies tat im anfang des werdens, auch meinen unwürdigen namen ins lebensstammbuch eingeschrieben in die endliche liste seiner ihm ergebenen knechte. (Kanak Sprak, S. 137)
Obwohl sich der Erzähler hier als „ergebenen Knecht“ bezeichnet, entlarven ihn die folgenden Passagen als selbstgerechten Mann, dessen eifernder und haßerfüllter Ton von Zaimoglu beinahe karikiert wird. Der anfechtungen sind viele hier in der ungläubigen land. Die jugend wird geführt in lästerung durch baalhörige unterteufel, die gier und lust erwecken, gier nach hab und noch mehr hab und lust auf nacktes frauenfleisch, das entblößt und aller hüllen beraubt keinen gedanken oder freien willen haben darf, wie ein haus mit einer rundherumfassade und einem blütenweißen anstrich […] Und ich habe es verstanden, so wahr es einen gütigen und herrlichen gott gibt im himmel wie auf erden, ja ich habe es verstanden: die tödlichste waffe des gläubigen gegen baals tempel und das sündige system ist radikale und fundamentale ablehnung all dessen, was krieg führt wider gott, die völlige nichtbeteiligung, und so sollen sie uns hassen als fundamentalisten, das ist eine auszeichnung, das ist ganz recht. […] Ich sage dir, mein panzer ist das wort gottes, geheiligt sei sein name, und sind die überlieferungen des propheten, friede sei mit ihm, und keine macht der welt kann mich brechen, denn ich habe das alte kleid abgelegt und zum wahren leben gefunden. (Kanak Sprak, S. 138-140)
Anders als Hasan pocht Yücel nicht auf Selbstbestimmung, sondern sucht Flucht in traditionellen Mustern. Während man nun in Hasans Fall davon sprechen kann, daß Zaimoglu durch seine Stilisierung aktiv dessen Identitätsentwurf unterstützt, hat man hier den Eindruck, als unterlaufe Zaimoglu durch Übertreibung gerade Yücels Identifikation mit dem Fundamen____________ 55
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Hier finden sich nämlich weder ironisierende Formen von Stilisierung, noch gibt es in der unmittelbaren oder weiteren Textumgebung andere Elemente, die diese Angriffe ironisch brechen würden. In der Hörspielfassung wird diese distanzierte Haltung gegenüber dem Erzähler durch eine verstellte Stimme (!) zu erkennen gegeben.
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talismus. Zaimoglu macht seine Distanz zur Rede des Islamisten erneut durch die Textstruktur deutlich, etwa wenn, wie oben gezeigt, Textabschnitte in Widerspruch zu vorangehenden Aussagen des Erzählers geraten. Durch solche Textstrategien erfährt die Absicht des Erzählers eine Brechung, wodurch meines Erachtens wiederum ein Wechsel des Aussagesubjekts signalisiert wird. Der Autor macht sich so zum Subjekt des discours, wobei die Erzählerrede gewissermaßen als Zitat zu betrachten ist. Auf diese Weise wird im Erzählakt neben dem Standpunkt des Erzählers auch derjenige des Autors deutlich. Obwohl Yücel sich keinmal als Kanake bezeichnet oder ausdrücklich gegen die Deutschen abgrenzt, sondern sich allein an den Gegensatz Gläubige – Ungläubige hält, läßt sich erkennen, daß der Hintergrund dieses Fundamentalismus dieselben Erfahrungen von Abwertung und Bedrohung sind, die in Hasans Erzählung offen thematisiert werden. Beide betonen, daß man einen Panzer, eine Hülle aus Stahl57 benötige, um in der feindlichen Umwelt zu bestehen. Neben einer ganzen Reihe von weiteren gemeinsamen Motiven sind es vor allem der hybride Sprachstil und die Metaphorik, die den gemeinsamen Ton prägen.
Kanak Sprak und moderne Identitätstheorien Wenn im folgenden das Prinzip der Mehrstimmigkeit aus Kanak Sprak mit Identitätstheorien in Verbindung gebracht wird, so ist damit natürlich nicht unterstellt, Zaimoglu habe eine bestimmte Theorie vor Augen gestanden, ja, nicht einmal, daß er von irgendeiner dieser Theorien Kenntnis hatte. Doch läßt das Prinzip der Mehrstimmigkeit gewissermaßen einen impliziten, vagen Begriff von Identität erkennen, der mit bestimmten Theorien besser, mit anderen schlechter zu vereinbaren und deshalb zu explizieren ist. Auf den ersten Blick scheint das hier beschriebene Prinzip der Mehrstimmigkeit mit postmodernen Identitätstheorien zu korrespondieren, nach denen „jeder Einzelne eine offene Kombination einer Vielzahl von Stimmen“58 ist. Hiermit steht jedoch Zaimoglus Bemühen im Widerspruch, ein in sich geschlossenes Sprachbild hervorzubringen, während postmoderne Theoretiker davon ausgehen, daß dem divergenten Subjekt ____________ 57 58
Vgl. Kanak Sprak, S. 95. Straub (2000: 180). Straub zitiert hier (ohne weitere Angaben) Philipp Sollers.
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keine angebbare Identität mehr zugrunde liegt59. Man könnte vielleicht sagen, daß in Kanak Sprak gerade mehrere Stimmen daran mitwirken, entweder ein halbwegs geschlossenes Bild, wie im Fall Hasans, zu erzeugen, oder aber, wie im Fall Yücels, ein solches durch Erzeugung von Dissonanzen zu unterwandern. Dagegen läßt sich das von Zaimoglu angewendete Prinzip der Mehrstimmigkeit besser mit anderen Richtungen jüngerer Identitätstheorien in Beziehung setzen, nach denen Identität nicht das Ergebnis „stabile[r] Selbstzuschreibung[en] von Merkmalen“60 ist, sondern in einer permanenten Interaktion mit der Umwelt ausgehandelt wird61: Sie ist kein Besitz, sondern wird in einem lebenslangen Prozeß erzeugt62. Stimmen Fremd- und Selbstbild dauerhaft nicht überein, bleibt Identität, wie bei den Erzählern aus Kanak Sprak, ein äußerst fragiles Gebilde. Ob Identitätsbildung in solchen Fällen gelingt, hängt stark davon ab, wie ‚zäh‘ um sie gerungen wird. Charakteristisch hierfür ist die Selbstbezeichnung junger Migranten als ‚Kanake‘ oder ‚Kümmel‘; sie werten deutsche Schimpfwörter um und machen sie damit zum Ausdruck einer eigenen, positiv verstandenen Identität63. Diesem Akt kommt aber besondere Bedeutung zu, weil Identität als sprachliche Konstruktionsleistung begriffen wird, die – gerade aufgrund ihres sprachlichen Charakters – vorläufig und zerbrechlich ist64. Nun erfüllt Sprache in Kanak Sprak aber gleich in mehrfacher Hinsicht eine identitätsstiftende Funktion, denn sie ist nicht nur in gewöhnlicher Weise Mittel der Selbstdarstellung, sondern sie ist für den ‚Kanaken‘ das Mittel: Hier kann er auftrumpfen, sie entscheidet über seine Existenz. Gerade deshalb ist es so wichtig, ein „geschlossenes, […] mithin authentisches Sprachbild“ zu schaffen (Kanak Sprak, S. 18, Hervorhebung J. A.). Zugleich ist die im Alltag gesprochene ‚Kanak Sprak‘ als gemeinsame Sprache junger Migranten für diese Gruppe identitätsstiftend65. Bedenkt man die kohärenzstiftende Funktion speziell des Erzählens und damit seine Bedeutung für die Identitätskon____________ 59 60 61
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Vgl. Straub (2000: 178). Straub bezieht sich hier v.a. auf Wolfgang Welsch. Gymnich (2003: 33). Vgl. Gymnich (2003: 30). Gymnich bezieht sich bei ihren Darstellungen jüngerer Identitätstheorien u. a. auf die Arbeiten von Keupp, Strauß/Höfer, Frey/Hauser und Krappmann. Vgl. Gymnich (2003: 31). Vgl. Bleicher (1999: 91). Vgl. Straub (2000: 171). Vgl. Hinnenkamp (2000: 101).
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struktion66, so kann man durchaus davon sprechen, daß Zaimoglu, indem er die jungen Männer zum Erzählen auffordert und anschließend durch Stilisierungen und andere Textstrategien die Erzählstimmen mit erzeugt, an der Konstruktion der Identitäten der Erzähler beteiligt ist. „Die Erzählung konstituiert Identität als Einheit der Person, ohne zu unterschlagen, daß diese Einheit eine stets fragile und ständig zu reproduzierende Synthese des Differenten und Heterogenen ist“67. Aus diesem Grund ist die narrative Identität als dynamisches Gebilde zu verstehen68. Interessant ist hier nun zu sehen, daß in Kanak Sprak eben oftmals nicht im klassischen Sinne erzählt wird. Dies ließe sich als Indiz dafür deuten, daß in diesen konkreten Fällen die Identitätskonstruktion besondere Schwierigkeiten bereitet. Indem nun Zaimoglu den Selbstdarstellungen eine Form gibt, unterstützt er gewissermaßen die Arbeit an der Identität. Ähnliche Korrespondenzen lassen sich zwischen Zaimoglus Konstruktion der kollektiven Stimme und neueren Theorien kollektiver Identitäten feststellen. In Abgrenzung zu Bestrebungen der ‚Leitkulturen‘, u. a. mittels der Literatur ihre eigene als die kollektive Erinnerung zu setzen69, findet man in Minoritätenliteraturen immer häufiger das Kompositionsprinzip polyphoner divergierender Stimmen70. Auch Zaimoglu wendet dieses Verfahren an, obwohl er die Stimme junger Migranten gerade als eine eigene Stimme präsentieren möchte. Trotz aller Unterschiede läßt sich diese Gruppe aufgrund des Alters, des Geschlechts und der gesellschaftlichen Lage als relativ homogen bezeichnen. Gleichwohl besteht Zaimoglu zufolge hiervon kaum ein Bewußtsein, was in Kanak Sprak auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß jeder einzeln erzählt. Sie alle eint das Gefühl, ‚in der liga der verdammten zu spielen‘, gegen kulturhegemoniale Ansprüche bestehen zu müssen. Noch ist das tragende Element dieser Community ein negatives Selbstbewußtsein, wie es in der scheinbaren Selbstbezichtigung seinen oberflächlichen Ausdruck findet: Kanake! Dieses verunglimpfende Hetzwort wird zum identitätsstiftenden Kennwort, zur verbindenden Klammer dieser ‚Lumpenethnier‘. Analog zur Black-consciousness-Bewegung in den USA werden sich die einzelnen Kanak-Subidentitäten zunehmend übergreifender Zusammenhänge und Inhalte bewußt. […] Inmitten der Mainstreamkultur entstehen die ersten rohen Entwürfe für eine ethnizistische Struktur in Deutschland. (Kanak Sprak, S. 17)
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Vgl. Gymnich (2003: 38). Straub (2000: 173). Vgl. ebd. Vgl. Neumann (2003: 64f.). Vgl. Basseler (2003: 171).
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Kanak Sprak unterstützt diese Prozesse, indem zwischen den einzelnen Texten Übereinstimmungen zum Vorschein kommen, die zum einen bestimmte Erfahrungen und Haltungen, zum andern aber die Sprache selbst betreffen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten bleiben die Unterschiede der einzelnen Stimmen in diesem Band aber eben vernehmlich71, wodurch zugleich ein diskontinuierliches Bild der erzählten Welt entsteht. Diese Diskontinuitäten entsprechen jüngeren Auffassungen von kollektiven Identitäten als dynamischen Gebilden72. Zugleich vermeidet man durch das Prinzip der Polyphonie, es den dominanten Gesellschaftsgruppen und Literaturen gleichzutun und wieder eine Stimme als die Stimme zu setzen. Was für kollektive Identitäten gilt, gilt auch für Kulturen: sie lassen sich als ein bewegliches Ensemble sozialer Prozesse und kollektiver Identitäten begreifen73. Nach einem solchen Verständnis von Kultur wird immer erst ausgehandelt, was zu ihr gehört und was nicht. In diesem Sinne läßt sich Zaimoglus Kanak Sprak als Versuch interpretieren, einer marginalisierten Gruppe eine Stimme zu ‚geben‘, mit der sie ihren Platz innerhalb der deutschen Gesellschaft einfordert; schließlich verfügt die Literatur Ricœur zufolge über die Fähigkeit, bisher unbekannte Aspekte der Wirklichkeit zugänglich zu machen74 und hierdurch auf die Wirklichkeit zurückzuwirken. Zugleich ist Kanak Sprak aber auch Teil der Minderheitenliteratur, die sich einerseits ausdrücklich von der „weinerliche[n], sich anbiedernde[n]“ (Kanak Sprak, S. 11) Gastarbeiterliteratur der siebziger Jahre abgrenzt und andererseits noch immer darum kämpft, als Bestandteil einer deutschen Literatur akzeptiert zu werden. Mit seinem aufsehenerregenden, beispiellosen Sound hat Kanak Sprak hierzu sicher einen wichtigen Beitrag geleistet.
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72 73 74
Zaimoglu selbst beurteilt dies im nachhinein kritischer, in einem Interview spricht er im Blick auf Kanak Sprak von einer „Monofrequenz“, die er bei dem Folgeband Koppstoff bewußt vermieden habe. Vgl. Tuschick (1998) u. Skiba (2004: 195). Vgl. Neumann (2003: 54f.). Neumann referiert hier die Theorien von Halbwachs und Nora. Vgl. Basseler (2003: 171). Vgl. Neumann (2003: 71).
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RÜDIGER ZYMNER (Wuppertal)
‚Stimme(n)‘ als Text und Stimme(n) als Ereignis Abstract The starting point of my article is the observation that there are a couple of vague areas and open questions in narratological voice theory. Thus the article developes a reconstruction of processes of reading in general and, more specifically, of ‘literary reading’. It tries to show that the above mentioned vaguenesses are results of a confusion of the inner voice on the one hand, which is perceptible in its neuronal emergence during processes of silent reading, and stylistic aspects of the text as a structure on the other hand. As far as classical narratology is concerned it does not reckon with this psychological and neuronal effects and as a result of this blindness it uses mere metaphorical concepts with ontological implications as if they were descriptions of structural elements of the text: Classical narratology does not see the ‘brain-trap’ and it does not circumvent it.
1. Unklarheiten Genette stellt im Hinblick auf das Untersuchungsfeld der „Stimme“ von vornherein deutliche Warnsignale auf. Er betont gleich zu Beginn von Discours du récit, daß der Ausdruck „Stimme“ leider immer noch stark von psychologischen Konnotationen geprägt sei1. Und es bleibt durchaus nicht bei dem bloßen Bedauern über dieses Handicap. Wie zur Demonstration seines linguistisch strukturellen Begriffsverständnisses (und im Anschluß an seine Minimalbestimmung, daß man eine Erzählung als eine „wenn auch noch so gewaltige Erweiterung eines Verbs im grammatischen Sinn“ betrachten könne) kommt Genette auf die grammatische Bedeutung des Ausdrucks „Stimme“ („voix“, das genus verbi: „Hand____________ 1
Genette [1972/1983](1998: 19).
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Rüdiger Zymner
lungsart des Verbs in Beziehung zum Subjekt“) zu sprechen, um festzuhalten, daß „Stimme für uns eine Beziehung zum Subjekt (oder allgemeiner zur Instanz) des Aussagevorgangs bezeichnen wird“2. Diese Instanz unterscheidet Genette vom Autor des Textes. Sie werde erkennbar an narrativen Spuren, „die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat“3. Freilich ist Genettes Konzept von einer textstrukturell indizierten, nur in der Textstruktur und als Textstruktur ‚gegebenen‘ „Stimme“ als einer „narrativen Instanz“ in einem strukturellen Geflecht der „Zeit der Narration“, der „narrativen Ebene“ und der Beziehung zwischen „Erzähler“ und erzählter Geschichte („Person“) nicht leicht vereinbar mit einer Reihe von weiteren Erläuterungen. So hält Genette etwas später fest: „Die Stimme des Erzählers ist immer als die einer Person gegeben, mag sie auch anonym sein [...]“4. Und zur Abwehr der Vorstellung einer Erzählung ohne Erzähler, einer Aussage ohne Aussageakt („Hirngespinst“, nennt Genette dies), bekennt Genette sogar: „Ob Erzählung oder nicht, ein Buch schlage ich nur auf, damit der Autor zu mir spricht“5. Das Konzept der ‚Stimme‘ als strukturelles Beziehungsgefüge (welches auf eine narrative Instanz schließen lasse) kann also auch von Genette nicht freigehalten werden von der psychologischen Hypothek, so daß die Frage „Wer spricht?“ letztendlich nicht hinreichend klar beantwortet wird. Erkennbar wird dabei zugleich eine undurchschaute und unbeabsichtigte Vermischung verschiedener Textbegriffe, und zwar der Auffassung vom Text als Struktur und der vom Text als (perzeptuellem) Ereignis: Führt die eine Komponente dazu, die Stimme des „Erzählers“6 als Zusammenhang einer Text-Struktur begreifen zu können, so führt die andere Komponente dazu, dennoch an Vorstellungen von jemandem, eben der Stimme einer Person, festzuhalten. Während die Stimme des ‚Erzählers‘ als Struktur gewissermaßen stumm bleibt, weil sie nichts anderes als narrative Verfahren, Semantik und Syntax ist, erscheint die Stimme als Stimme einer Person doch zugleich auch gewissermaßen ‚sprechend‘, ____________ 2 3 4 5 6
Ebd. Genette [1972/1983](1998: 152). Genette [1972/1983](1998: 235). Genette [1972/1983](1998: 260); zur grundsätzlichen Kritik an den ‚essentialistischen‘ Anteilen strukturalistischer Erzähltheorie siehe auch Fludernik (1996: 341ff.). Siehe hierzu den klärenden Beitrag von Weimar (1994).
‚Stimme(n)‘ als Text und Stimme(n) als Ereignis
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nämlich anders denn lediglich als Textstruktur wahrnehmbar. Das erscheint in der konzeptuellen Engführung bei Genette und anderen paradox, so daß man feststellen muß: Das Konzept der Stimme ist metaphorisch unscharf und begrifflich mehrdeutig7. Genette betont außerdem in diesem Zusammenhang, daß es sich bei dem ‚Subjekt‘, bei dieser sprechenden ‚Produktionsinstanz‘ des narrativen Diskurses, um ein Spezifikum der „Fiktionserzählung“ handele8. In der Tat mögen insbesondere intradiegetisch-homodiegetische ebenso wie intradiegetisch-heterodiegetische Erzähler (Typ ‚Scheherazade‘) und extradiegetisch-homodiegetische Erzähler (Typ ‚Simplicissimus‘) solche Überlegungen naheliegend erscheinen lassen, weil deren Fiktivität irgendwie ‚auf der Hand liegt‘. Doch Genettes Aussage erhebt ja auch Anspruch auf Geltung im Falle eines extradiegetisch-heterodiegetischen Narrators, der eben nur als Instanz beschrieben werden kann, welche die Erzählung (und gegebenenfalls das Erzählen in der Erzählung usw.) ‚spricht‘ – eine Erzählung, für die nun aber nicht unbedingt ‚auf der Hand zu liegen‘ braucht, daß es sich auch um eine „Fiktionserzählung“ handelt und die sogar eine nicht-fiktionale Erzählung sein kann (als Dichtung oder als ‚alltägliche Rede‘)9. Hier wird zudem deutlich, daß auch die Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Erzähltexten im Hinblick auf das Problem der ‚Stimme‘ im Grunde irreführend ist, denn der fehlende bzw. gegebene Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder Erfülltheit hat weder notwendigerweise etwas mit der textstrukturellen ‚Stimme eines Erzählers‘ noch mit der perzeptuellen oder ereignishaften ‚Stimme einer Person‘ zu tun, sondern mit den Konventionen eines ‚Lesens-Alsob‘, die solchen Strukturen und perzeptuellen Ereignissen vorausgehen und als pragmatische Orientierungen dafür sorgen, daß Erzähltexte als Formen realer oder aber real-inauthentischer bzw. imaginär-authentischer Kommunikation betrachtet werden können. Das kann je nachdem erhebliche Konsequenzen haben, dieser Unterscheidung müssen aber weder Unterschiede in der Textstruktur noch in den perzeptuellen Vorgän____________ 7
8 9
So auch Aczel (1998). Aczel diskutiert neben Genettes Konzept der Stimme außerdem u. a. die Positionen von Chatman (1978); Chatman (1990); Sniader Lanser (1981: bes. Kap. 3, “The textual voice”); Coste (1989). Genette [1972/1983](1998: 152). Ein bekannter Fall fingierten faktualen heterodiegetischen Erzählens ist Wolfgang Hildesheimers Marbot. Eine Biographie. Siehe hierzu Zipfel (2001: 144f.); siehe auch Blume (2004).
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gen zugrundeliegen. Die Stimme des ‚Erzählers‘ kann als Ensemble von Verfahren und semantischen wie syntaktischen Konstellationen in faktualen wie fiktionalen Erzähltexten gleichermaßen die Narration ausmachen und zwischen histoire und récit vermitteln, die Stimme einer Person kann gleichermaßen in faktualen wie fiktionalen Texten als ‚das, was zum Leser spricht‘ wahrgenommen werden. Die Frage ist jedoch: In welcher Weise genau10?
2. Lesen überhaupt und Inneres Sprechen Bei allen Abwehrversuchen der psychologischen Konnotationen von „Stimme“ verschafft sich bei Genette und anderen gegen ihren erklärten Willen eine interessante Intuition Geltung: daß man es eben immer mit (mindestens) zwei verschiedenen und doch irgendwie zusammenhängenden ‚Stimmen‘ (nämlich der metaphorischen in der Textstruktur und der irgendwie wahrgenommenen) zu tun bekommt, wenn man sich mit Erzählungen befaßt. Daß es sich hierbei um eine begründete Intuition handelt, läßt sich vielleicht durch einen Rückgriff auf das Elementarwissen der empirischen Lese- und Schreibforschung zeigen, mit dem an zahlreichen Stellen durchaus bekannte hermeneutische Hypothesen in einem kontrollierten ‘context of justification’ bestätigt werden. Natürlich ist nicht nur aus Gründen der systematischen ‚Vollständigkeit‘ grundsätzlich auch an gesprochene (vorgetragene oder vorgelesene) und auditiv rezipierte Erzähltexte zu denken, und nicht allein an geschriebene und gelesene. Orale Erzählliteratur11 will ich allerdings hier unter anderem auch deshalb beiseite lassen, weil das narratologische Konzept der Stimme sich auf schriftlich fixierte Erzähltexte konzentriert. Unabhängig davon nun, ob es sich um einen fiktionalen oder um einen faktualen Erzähltext handelt, und unabhängig auch davon, ob man es mit ____________ 10
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Siehe auch Aczel (1998: 495). Aczel skizziert Konsequenzen aus seiner kritischen Sichtung von Konzepten der Stimme und fordert u. a. einen qualitativen Zugriff, welcher “will address itself to the question of how – that is, on the basis of a dialogue with what analyzable textual procedures – readers are able to construct differently speaking entities from silent, written texts.” Mit eben dieser Frage werde ich mich im folgenden beschäftigen. Siehe hierzu Allport u. a. (1987). Zu den Anfängen des stillen Lesens siehe auch Saenger (1997); siehe auch Finnegan (2003).
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einem Erzähltext als Kunstwerk oder nicht zu tun bekommt, hat man es demnach zunächst und vor allem mit einem Schriftwerk, einem Schrifttext zu tun, der – ganz elementar – geschrieben worden sein muß und gelesen werden kann. Es ist einigermaßen trivial, trotzdem sei es gesagt: Alle Schrifttexte, so (1) vollendet und abgeschlossen, von (2) situationsunabhängiger Dauer sie als Struktur auch sein mögen, gehören immer zugleich mehr als einer Situation an, nämlich stets (a) der Situation des Lesenden, in der sie mit jedem Lesenden immer neu gegenwärtig sind, und zugleich (b) auch – als verdinglichtes Fragment der Vergangenheit – der zeitlich davon getrennten Situation des Schreibenden12. So ist der Sinn eines Textes auch nie allein einfaches Resultat einer Strukturentzifferung, sondern das Ergebnis von Produktions- und Rezeptionsprozessen bzw. Rezeptionsprozessen13. Ich wende mich deshalb in einem ersten Schritt dem Lesen von Schrifttexten überhaupt zu (und zunächst ohne besondere Berücksichtigung von Erzähltexten), übergehe hierbei weitgehend die basale Psychophysiologie des Lesens14 und weise vorderhand nur auf die Feststellung neuerer Leseforschung hin, daß bereits auf der physiologischen Ebene visuelle (Fixation) und kognitive Vorgänge (Bedeutungsrepräsentation) nicht voneinander zu trennen seien15. Auf solche Feinheiten kommt es mir aber hier noch nicht an. Hier ist mir vielmehr die Feststellung wichtig, daß man es beim Lesen eines Schrifttextes grundsätzlich mit einer doppelten Transformation der Schrift zu tun bekommt, nämlich dem Vernehmen und dem Verstehen16: Im Falle des Vernehmens handelt es sich um die Transformation der Schrift in gesprochene und gehörte Sprache – und beim stillen Lesen, der wenigstens heute wichtigsten Rezeptionsform von Literatur, die im Hinblick auf das narratologische Konzept der Stimme ja von besonderem Interesse ist, ist diese Transformation als sogenanntes „Inneres Sprechen“ ____________ 12 13
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Weimar (1980: 38ff.). Zur Unterscheidung von Rezeption („all diejenigen psychischen Prozesse, [...] die während des Lesens eines Textes stattfinden“) und Wirkung („die Folgen des Lesens“) literarischer Texte siehe Groeben/Vorderer (1988: 192). Siehe hierzu z. B. Nell (1988: 183-192); Groner/Ydewalle/Parham (1990); Robeck/Wallace (1990); Kieras/Just (1984); einen guten zusammenfassenden Überblick bieten Barr u. a. (1991), sowie Gross (1994: 7-15), und Wittmann/Pöppel (1999). Siehe schließlich auch Oerter (1999). Siehe Just/Carpenter (1977a), bes. Just/Carpenter (1977b); Spoehr/Lehmkuhle (1982). Siehe hierzu Weimar (1999b).
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wahrnehmbar. Im Falle des Verstehens handelt es sich sodann um die Transformation des Vernommenen in ein Verständnis, also um Sinnkonstitution, die selbst wiederum unter spezifischen Bedingungen vor sich geht. „Inneres Sprechen“ oder „innere Sprache“ meint einen psycholinguistischen Sachverhalt, dem vor allem durch Leo Wygotski17 als einem „Bindeglied zwischen Gedanke und Wort“18 besondere Bedeutung zugewiesen worden ist. Erste Überlegungen zum Inneren Sprechen19 gab es bereits im 19. Jh.20, sie beruhten freilich noch weitgehend auf Introspektion. Erst seit der Wende zum 20. Jh. stößt man vermehrt auf experimentelle Untersuchungen, von denen vielleicht diejenige Agnes Thorsons (1925) hervorzuheben ist, weil sie zwischen der “internal speech (processes involved in the verbal formulation of thought)”, der “implicit speech (muscular contractions)” und der “overt speech (voluntarily articulated language)” unterscheidet und herausarbeitet, daß das Innere Sprechen unabhängig von Bewegungen der Zunge oder Muskelkontraktionen (“implicit speech”, auch: Subvokalisation) existiere und daß die Zungenbewegungen, die Inneres Sprechen begleiten können, vollkommen anders ausfallen als beim lauten Sprechen. Wygotski konzentriert sich im Unterschied zu neueren psycholinguistischen Untersuchungen bei seiner Argumentation nicht auf den Bereich aphatischer Störungen, sondern auf denjenigen des kindlichen Spracherwerbs. Hierbei grenzt er sich von Jean Piagets Konzept der „egozentrischen Sprache“21 des Kindes ab und betrachtet diese als Vorstufe der Entwicklung des Inneren Sprechens, ja außerdem sogar als „die der direkten Beobachtung und dem Experimentieren zugängliche innere Sprache, d.h. ein seinem Wesen nach innerer und seiner Erscheinungsform nach äußerer Prozeß“22. Im Unterschied zu Piaget sieht Wygotski das Innere Sprechen (die Innere Sprache) als Ausdruck einer „allmählichen Individualisierung“ des Kindes „auf der Grundlage seines sozialen Wesens“23 und als Endpunkt eines Interiorisierungsprozesses, der von der ____________ 17 18 19 20 21 22 23
Wygotski (1974). Grevenaus/Wichmann (http://www.linse.uni-essen.de, 2). Es gibt in diesem Bereich eine Reihe von unterschiedlichen Begriffsnamen. Siehe hierzu Wahmhoff (1980); siehe auch Wild (1980). Piaget (1975: 22). Wygotski (1974 315). Wygotski (1974 317).
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äußeren sozialen Sprache über die egozentrische Sprache schließlich zur Inneren Sprache führe24. Wygotski benennt eine Reihe von syntaktischen, ‚phonetischen‘ und semantischen Merkmalen der Inneren Sprache (wie z. B. Auslassung des Subjektes und Beibehaltung des Prädikates, ‚phonetische Reduktion‘, Idiomatismen usw.), die hier nicht weiter dargestellt werden müssen (aber von Interesse sein könnten, wollte man sich ausführlicher mit narrativen Techniken der Wiedergabe innerer Rede wie Innerer Monolog oder stream of consciousness befassen). Von Bedeutung ist im vorliegenden Zusammenhang die grundlegende Auffassung Wygotskis, das Inneres Sprechen überall dort eine Rolle spiele, wo sprachabhängige oder sprachgeleitete intellektuelle Prozesse ablaufen25. Wygotski selbst befaßt sich allerdings noch nicht mit dem Inneren Sprechen als einer Erscheinung, die auch das stille Lesen begleitet. Er stellt hingegen Überlegungen zum Verhältnis von Innerer und schriftlicher Sprache an: Während die ‚äußere Sprache‘ der „Inneren Sprache“ in der Entwicklung vorangehe, stehe die geschriebene Sprache nach der „Inneren Sprache“ und setze deren Vorhandensein bereits voraus26. Es gelte jedoch: Die innere Sprache ist eine maximal zusammengedrängte, verkürzte ‚stenographische‘ Sprache. Die geschriebene Sprache ist eine maximal entfaltete, formal vollendeter als selbst die gesprochene. Sie hat keine Ellipse. Die innere Sprache ist darin überreich. Sie ist in ihrem syntaktischen Bau fast ausschließlich prädikativ. Ähnlich wie unsere Syntax in der gesprochenen Sprache dann prädikativ wird, wenn das Subjekt und die dazugehörigen Satzglieder in gewisser Weise zu Gesprächspartnern werden, besteht die innere Sprache, bei der das Subjekt, die Sprechsituation dem denkenden Menschen selbst immer bekannt ist, fast nur aus Prädikaten. Uns selbst brauchen wir niemals mitzuteilen, wovon die Rede ist. Das wird stillschweigend vorausgesetzt und bildet den Hintergrund des Bewußtseins.27
Erst im Anschluß an Wygotski und ergänzend zu ihm kommen schließlich andere Vertreter der kulturhistorischen Schule der Psychologie (wie Luria, Leontjew, Ananjew) zu der Einschätzung, daß Lesen und Schreiben (der Prozeß, nicht das Ergebnis, über das Wygotski sich äußert) sogar die höchstentwickelten Formen des Inneren Sprechens seien28. Auch in der ‚westlichen‘ Leseforschung, und selbst da, wo man von Wygotski ____________ 24 25 26 27 28
Wygotski (1974 44). Grevenaus/Wichmann (http://www.linse.uni-essen.de, 15). Wygotski (1974 227). Ebd. Vgl. Wahmhoff (1980: 102f.).
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unabhängig ist oder wenigstens nicht explizit auf Wygotski zurückgreift, geht man immer wieder in terminologisch unterschiedlichen Konzepten auf das Innere Sprechen ein (zumeist ununterschieden von der Subvokalisation)29, ohne doch so weitreichende Konsequenzen zu ziehen wie Wygotski30. Allerdings wird hier anders als bei Wygotski auch sehr deutlich gemacht, das das Innere Sprechen auf einem neuronalen Effekt beruht, der beim Lesen insbesondere im Schläfen- und Stirnlappen des menschlichen Gehirns erzeugt wird (man könnte auch von der Emergenz des Inneren Sprechens auf der Basis neuronaler, nicht auditiv, sondern optisch induzierter Prozesse sprechen: die neuronalen Effekte sind also nicht identisch mit dem Inneren Sprechen)31. Insgesamt kann man festhalten: Inneres Sprechen ist allgemein die (1) im Vergleich zur entfalteten äußeren Sprache ‚für andere‘ interiorisierte Sprache ‚für den Sprechenden selbst‘, die als ‚Vehikel des Denkens‘ und des inneren Problemlösens verwandt wird, und besonders (2) die sprechende „Stimme“, die auch beim stillen Lesen vernehmbar wird, „sobald man nur darauf achtet“32. Freilich ist ‚einfaches‘ oder ‚freies‘ Inneres ____________ 29 30 31
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Z. B. in Singer/Ruddell (1985). Ausführlich geht allerdings z. B. Huey (1977) auf das Innere Sprechen ein. Siehe hierzu Pugh u. a. (1996); Wittmann/Pöppel (1999: 230) sprechen von „lautsprachlichem Prozessieren beim [stillen] Lesen in temporofrontalen Bereichen.“ Siehe auch Ratey (2001: 302-351); zu Grundsatzfragen und Konsequenzen neurobiologischer Hirnforschung siehe auch Roth (2004); Singer (2004). Weimar (1999b: 51f.); ähnlich auch Rayner/Pollatsek (1989: 188): “When we read silently, we often experience the feeling of hearing our voice saying the words our eyes are falling on.” Siehe hierzu auch die folgenden Eintragungen aus Lexika, die die psychologische und die linguistische Aufmerksamkeit, die man dem „Inneren Sprechen“ entgegenbringt, belegen – freilich auch das terminologische Durcheinander, das hier herrscht: „Inneres Sprechen [engl. subvocal speech]: nicht hörbares Sprechen mit Artikulationsbewegungen (Lippen-, Zungen- und Kehlkopfbewegungen) beim stillen Lesen, Schreiben, Hören von Sprache und Denken. Syn. Subvokalisation“ (Peuser/Winter (2000: 230)). „Innere Sprache: Sprachform, die nicht zu verbaler Kommunikation, sondern als Vehikel des Denkens dient. Über Funktion, Form und Entwicklung der I. S. gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze; eine ausführliche Diskussion findet sich in Wygotski [1934]. Er charakterisiert die ‚Tendenz zur Verkürzung, zur Abschwächung der syntaktischen Gliederung und zur Verdichtung‘ (S. 341)“ (Bußmann (1990: 343)). „Inneres Sprechen (inner speech, internal speech). Bezeichnung für Vorstellungen, die beim Lesen oder Schreiben den gelesenen oder geschriebenen Begriffen entsprechend auftreten. Manchmal wird der Ausdruck auch für Denkprozesse verwendet, die in terminis von Begriffen ablaufen, jedoch kein lautes Sprechen einbegreifen (Syn. Subvokales Sprechen; umgangssprachlich ‚innerer Monolog‘)“ (Fröhlich/Drever
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Sprechen als ‚interiorisierte Sprache für den Sprechenden selbst‘ hierbei ausdrücklich insofern von der gelesenen ‚interiorisierten Sprache für den Sprechenden selbst‘ zu unterscheiden, als diese gelesene Sprache eigentlich und zuerst ‚Sprache für andere‘ und ‚Sprache eines anderen‘ ist, die nun interiorisiert und im Inneren Sprechen wahrgenommen wird. Schriftwerke überhaupt und literarische Schriftwerke im besonderen sind als Textstrukturen quasi Partituren für das lesend entfaltete Innere Sprechen, die es lenken und gewissermaßen vorstrukturieren und den kognitiven Prozeß bedingen, den Paul Hernadi als “the reader’s voluntary lending of his or her mind to figments of someone else’s imagination” bezeichnet33. Trotz des Partiturcharakters des Textes als Struktur im Prozeß des stillen Lesens kann doch gesagt werden, daß die Transformation der Schrift in die vom Leser beim Lesen als Inneres Sprechen vernommene Sprache ein Eigenprodukt des Lesers ist, auch wenn er in der Gewißheit, daß der gelesene Text ja nicht von ihm selbst geschrieben worden ist, leicht annimmt, das Vernommene sei ein Fremdprodukt, nämlich Äußerungen und Mitgeteiltes des Schreibers. Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten läßt sich das Lesen von Texten daher zutreffend und allgemein mit der Formulierung Klaus Weimars als „zu sich selbst sprechen in fremdem Namen“ beschreiben. Es ist demnach nicht der Autor, der spricht und vernommen wird, es ist der Leser, der seine eigene lesende Transformation innerlich ‚spricht‘ und vernimmt; er nimmt diese Transformation ‚im Namen des Autors‘ (oder eben eines anderen, der nicht er selbst ist) vor, weil er sein Inneres Sprechen gewissermaßen überspringt und nicht von dem Schriftwerk unterscheidet (in einer „Selbstvergessenheit der Rezeption“34, obwohl Inneres Sprechen und Schriftwerk fraglos voneinander zu trennen sind). ____________
33 34
(1983: 183)). „Innere Sprache (engl. inner speech, inner language) Ende des 19. Jh. aufgekommen als Name für die Gesamtheit der inneren Prozesse, die dem manifesten Sprechen vorausgehen. Heute vorwiegend in der ganz anderen Bedeutung, die L. S. Wygotski (1896-1934) dem Ausdruck gegeben hat: gegenüber der entfalteten äußeren Sprache ‚für andere‘ die interiorisierte Sprache ‚für den Sprechenden selbst‘, die als Vehikel des sprachl. Denkens und des inneren Problemlösens verwandt wird [...], nicht zu verwechseln mit der inneren Rede, die einfach Sprechen minus Laut ist (etwa wenn man sich ein memoriertes Gedicht still aufsagt) und auch nicht mit der inneren Programmierung der Rede, die der Ausdruck ursprüngl. mit umfaßte. Ebenfalls häufig verwechselt mit der / Inneren Sprachform W. von Humboldts“ (Glück (1993: 271)). Hernadi (2002: 24). Weimar (1999a: 129).
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Diese Beschreibung dürfte selbst für den Fall zutreffen, daß es sich bei dem Schriftwerk um einen tatsächlich vom Lesenden selbst zuvor geschriebenen Text handelt, insofern der Lesende im Prozeß des Lesens in gewissem Sinn nicht identisch ist mit sich als dem schreibenden Autor, auch wenn beide Rollen extrem nah beieinander liegen und einander extrem schnell abwechseln können. Mit diesem ‚Rollenwechsel‘, bei dem das Lesen als „zu sich selbst sprechen in fremdem Namen“ auch dann zu beschreiben ist, wenn der Leser zuvor als Autor den Text selbst verfaßt hat, hängt vermutlich auch der vielfach bestätigte Effekt der ‚Objektivierung‘ oder ‚Klärung‘ von Sachverhalten für das schreibende/lesende Subjekt durch das Niederschreiben zusammen. Der Effekt der ‚Objektivierung‘ oder ‚Klärung‘ wird allerdings nicht allein dadurch erzielt, daß ein Schriftwerk gelesen und dabei als Inneres Sprechen vernommen wird, sondern das Vernehmen muß einhergehen mit der zweiten Komponente der doppelten Transformation der Schrift beim Lesen, nämlich mit dem Verstehen, also der Sinnkonstitution. Daß dies so ist, sieht man leicht, wenn man beispielsweise Texte liest, die eine unbekannte Sprache in eine bekannte Schrift transformieren. Man kann die Zeichen zwar lesen (und in Inneres Sprechen transformieren), man weiß aber nicht, was sie bedeuten. So, wie das Vernommene als Eigenprodukt des Lesers zu bezeichnen ist, so ist aber auch das Verstandene, die Sinnkonstitution als sein Eigenprodukt zu bezeichnen, obwohl beide Transformationen auf der Textpartitur, der ‚Sprache eines anderen‘, beruhen. Die Sinnkonstitution im Rezeptionsprozeß wird nämlich nicht allein vom Text, sondern immer auch von den Rezeptionsmöglichkeit des Lesers bestimmt und begrenzt35. Dies wären besonders 1. sein je individuelles Sprachwissen sowie Art und Grad der Verfügung über eine bestimmte Sprache; 2. Art und Grad des textuellen Wissens (darüber, wie man Texte macht oder mit ihnen umgeht); 3. Art und Grad des Kontextwissens über ‚das beobachtete Ereignis‘, den konkreten Sachverhalt, um den es geht;
____________ 35
Siehe hierzu Dijk/Kintsch (1983); Christmann/Schreier (2003); vgl. auch Emmott (1997: bes. „Part One: Cognition and Discourse“); Tierney u. a. (1987); siehe zudem Eco (1994); Eco (1992).
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4. Art und Grad des allgemeinen ‚Weltwissens‘36 und 5. Art und Grad des Metakognitionswissens, also das Wissen um das eigene Wissen und die prozedurale Fähigkeit, eigene kognitive Aktivitäten zu steuern und zu kontrollieren. Im Rezeptionsprozeß von Schriftwerken übernimmt der Leser also sowohl die Rolle des Senders (er spricht in fremdem Namen) als auch die des Empfängers (zu sich selbst). Es ist somit auch das Verstehen der je eigenen Sprache und damit Sinnbildung gemäß der je eigenen Kompetenz – was von Leser zu Leser zu unterschiedlichen, allerdings nicht beliebig weit auseinander liegenden Ergebnissen führen kann, da der Text eben nicht einfach wie ein Code entschlüsselt oder übersetzt wird, sondern jeder Leser unter den Bedingungen seiner Rezeptionsmöglichkeiten auf seine Weise aktiv mit dem Text umgeht – aktiv ergänzend, aktiv übersehend, aktiv verbindend oder trennend: Although we rarely notice it, we are all the time engaged in constructing hypothesis about the meaning of the text. The reader makes implicit connections, fills in gaps, draws inferences and tests out hunches; and to do this means drawing on a tacit knowledge of the world in general and of literary conventions in particular. The text itself is really more than a series of ‘cues’ to the reader, invitations to construct a piece of language into meaning.37
3. Lesen von Literatur Während allerdings bei Gebrauchstexten die Möglichkeit der Verständigung zwischen Autor und Leser in der Regel durch verschiedene konventionelle, pragmatische Mittel tendenziell38 abgesichert wird, wird die Möglichkeit einsinniger Verständigung bei literarischen Texten unter den Vorzeichen einer veränderten Einstellung ästhetischen Lesens geradezu systematisch unterlaufen. Damit meine ich folgendes: In Schrifttexten stößt man vielfach auf Formen und Verfahren, die im Bereich der sprachlichen Stilisierung, der Symbolisierung und auch der Fiktionalisierung angesiedelt und als Struktur durch das gekennzeichnet ____________ 36
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Jerry R. Hobbs spricht statt von Weltwissen oder enzyklopädischem Wissen von “belief systems”, zu denen eben nicht notwendig nur wahre Annahmen gehören, sondern auch falsche oder unsichere Überzeugungen und Annahmen sowie Annahmen über die “belief systems” anderer Kommunikationspartner – Hobbs (1990). Eagleton (1983: 76); siehe hierzu auch Holland (1975). Christmann/Schreier (2003: 261f.).
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sind, was man vielleicht (mit Paul Celans Worten) als ‚Engführung‘ und als ‚Vielstelligkeit des Ausdrucks‘39 bezeichnen könnte – so, daß im Prinzip jedenfalls in jeder Wendung der Weg in eine andere Sinnrichtung gewiesen werden kann. Solche Strukturelemente sind nicht literaturspezifisch, sondern Stilisierung, Symbolisierung und Fiktionalisierung sind auch außerhalb der Dichtkunst in der Nichtkunst von Zeitungsartikeln, Werbetexten oder auch Gesetzestexten zu entdecken. Es scheint aber so etwas wie eine kritische Konstellation40 zu geben, ab der ein Text als Dichtung oder Literatur gelesen wird – vor allem überstrukturierende Quantität und Qualität poetischer Formen (die die Aufmerksamkeit vom Gesagten auf die Art des Sagens ziehen41) signalisieren dabei die Möglichkeit zu einem Einstellungswechsel in der Rezeption und mithin der Veränderung der Situation des Lesenden42. Diese Möglichkeit zum Einstellungswechsel des Lesers ist dabei durchaus nichts Mysteriöses, sondern kulturell antrainiert – und oft reichen sogar schon ganz einfache Signale, wie selbst der bloße Hinweis, z. B. ein Auszug aus einem Telephonbuch sei in Wirklichkeit ein Gedicht, um den Einstellungswechsel zu veranlassen und im Telephonbuch den ästhetischen Reichtum des Gedichtes zu suchen43 – freilich wird der Leser im Falle eines Telephonbuches anders als womöglich bei einem wirklichen Gedicht auch schnell an Grenzen des ästhetischen Reichtums stoßen. Jeder Leser hat die Möglichkeit, jenen Einstellungswechsel zurückzuweisen und sich den Optionen ästhetischen Lesens vorsätzlich oder aus Unkenntnis zu entziehen. Vollzieht sich aber der Einstellungswechsel und rezipiert ein Leser einen Text als literarischen Text, so liest er auch in gewisser Weise anders als im Fall von Gebrauchstexten: Er ist z. B. eher dazu bereit, beim Text zu verweilen, sich durch langsames und wiederholendes Lesen, durch probierendes oder gar meditierendes Durchdringen des Textes und Nachdenken über ihn als Artefakt auf mögliche Strukturen der Polyvalenz einzulassen oder besser: sie selbst, zu sich selbst in frem____________ 39
40 41 42 43
Siehe hierzu auch das Gedicht mit dem Titel „Engführung“ sowie den dazugehörigen Kommentar in Paul Celan, Gedichte. Kommentierte Ausgabe in einem Band, hg. v. Barbara Wiedemann, Frankfurt/Main 2003, S. 113ff. Vgl. hierzu Vipond/Hunt (1984); Hoffstaedter (1986); Peer (1986). Siehe hierzu auch Wiseman/Peer (2003); siehe auch Lásló (1987). Siehe hierzu Robeck/Wallace (1990: bes. Kap. 15); Groeben/Landwehr (1991); Christmann/Groeben (1996); Gross (1994: 25ff.). Siehe hierzu z. B. Fish (1983); Meutsch (1986); Viehoff (1988).
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dem Namen sprechend, als poetischen Eigensinn hervorzubringen, indem er sie in der Struktur erwartet und prompt auch entdeckt44, und zwar so, als spräche der Text nur zu ihm45. Die skizzierte Konstitution ästhetischer Sinnbildung kann nicht allein dazu führen, daß sich der Leser dabei als (kreatives, phantasievolles) Individuum erlebt und seine Sinnbildung also für ihn emphatisch wird, indem er ein (kreatives, phantasievolles) Individuum zu verstehen glaubt (diese Beglückung des Lesens kennt wohl jeder passionierte Leser), sondern sogar dazu, daß der Leser sich selbst als Individuum verstanden fühlen kann, und zwar von dem Fremden, den zu verstehen der Leser vermeint, wenn er nur sich vernimmt und versteht. Die Geschichte des Lesens von Literatur bietet – zumal seit dem 18. Jh. – zahlreiche Zeugnisse für die angesprochenen Effekte, ja die Literatur thematisiert sie sogar selbst: Man denke nur an das berühmteste Wort aus Goethes Leiden des jungen Werthers, es lautet: „Klopstock“. Gerade die glückende bzw. geglückte ästhetische Lektüre kann somit dem fruchtbaren Eindruck Vorschub leisten, daß der Leser nicht allein sei, sondern verstehend verstanden.
4. Exkurs über das Schreiben Die genannten Aspekte des Lesens haben auf der Seite des Schreibens durchaus ihre Entsprechungen46. Wenn man nämlich erst einmal schreiben kann und also die ersten Hürden der Graphomotorik, des rhythmischsynchronen Sprechschreibens, der Aneignung von Rechtschreibstrategien und der Aneignung verschiedener Schreibregister überwunden hat, so scheint doch beim Schreiben eines Textes ungefähr folgendes zu passieren: Der Autor entschließt sich, Vorstellungen oder Ideen, die ich vereinfachend als ‚Prätext‘ bezeichne, in einen Text auf dem Papier zu transformieren47. Für diesen ‚Prätext‘ selbst gibt es stets einen äußeren Anstoß ____________ 44 45 46 47
Siehe hierzu Christmann/Groeben (1996); vgl. auch Zwaan (1993); siehe zudem Groeben/Schreier (1992). Siehe hierzu Nell (1988); Gerrig (1993); Graf (1995); Alfes (1995); Peer (1994); siehe auch Winko (2003). Vgl. z. B. Gibson/Levin (1989: bes. Kap. 10); Mann u. a. (2001: 28ff.). Siehe hierzu Kellog (1993: 26ff.); Steinfeld (1995); siehe auch praxisorientierte Einführungen in das Schreiben als Prozeß wie z. B.: Weidenborner/Caruso (1990); Lawrence (1977); Watkins-Goffman/Berkowitz (1990); White/Arndt (1990). Gute Überblicke bieten auch Günther/Ludwig (1994/1996); Wrobel (2000).
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(z. B. ein Erlebnis oder Ereignis, etwas, das man wahrnimmt oder beobachtet oder das einen beschäftigt, wie z. B. ein geschriebener Text, der zuvor gelesen wurde). Bevor der Autor zum Schreiber wird, ist er also in gewissem Sinne zunächst einmal selbst Rezipient, und der ‚Prätext‘ ist so etwas wie eine erste kognitiv versprachlichende, durch Inneres Sprechen artikulierte, Reaktion auf das Rezipierte oder Perzipierte. Der ‚Prätext‘ und auch der Schrifttext stehen dabei nicht allein im Zusammenhang mit dem ‚Anstoß‘ (z. B. dem gelesenen Text), sondern zu ihrem bestimmenden Umfeld gehören ebenso 1. die Situation des Schreibenden 2. das Sprachwissen des Autors und allgemein Art und Grad der Verfügung über eine bestimmte Sprache, 3. sein textuelles Wissen (z. B. darüber, wie man Text macht, was sprachliche Symbolisierung, Stilisierung und Fiktionalisierung ausmacht, Textwissen auch historischer Art), 4. thematisches Wissen über ‚das beobachtete Ereignis‘, den konkreten Sachverhalt, um den es geht, 5. allgemeines ‚Weltwissen‘ und 6. Metakognitionswissen. Der ‚Prätext‘ nimmt nicht umstandslos den Text auf dem Papier vorweg, in der Regel „entsteht im Schreibprozeß ein Wechselspiel zwischen dem Text auf dem Papier und dem Prätext“48, der bereits geschriebene Text auf dem Papier beeinflußt gewissermaßen die Fortsetzung des ‚Prätextes‘, der dann seinerseits wiederum in Text auf dem Papier transformiert wird. Indizien für diesen Zusammenhang sind nicht nur aus der empirischen Lese- und Schreibforschung bekannt, sondern auch aus der Editionsphilologie: Varianten, Textentwürfe, Streichungen und Neuformulierungen gehen der vermeintlich ‚endgültigen Fassung‘ voraus: So individuell, lediglich durch die Textstruktur gelenkt und durch Art und Grad des Sprach- und Umfeldwissens bedingt und begrenzt, wie die ästhetische Transformation des Textes nun bei einem Leser ist, so individuell ist auch das Hervorbringen von Texten als poetische Texte. Sie werden unter den Bedingungen eines nun produktiven Einstellungswechsels im ‚Prätext‘ gebildet und dann in den Text auf dem Papier im Wechselspiel zwischen Text und Prätext überführt. Doch während die Transformation poetischer Texte den Leser (und jeden Leser anders) mit vielleicht sogar zunächst störenden, befremdenden und ihn zu neuer Sinnkonstitution zwingenden ____________ 48
Steinfeld (1995: 137).
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Strukturen konfrontieren kann, bevor es durch das Verstehen zu seiner Lösung des Problems, das durch den poetischen Text gestellt wird, kommen kann (nicht muß!), ist der poetische Text für den Schreiber gewissermaßen ein Resultat, die Konstitution von Sinn findet für den Autor damit ihren erhellenden poetischen Ausdruck (der dann oft mit dem Stichwort „Wahrheit“ belegt wird)49. Die Konstituierung poetischen Eigensinns ist aus der Autorperspektive ein Ereignis, mit dem er eben nicht konventionell, sondern gewissermaßen expressiv agiert. Der ‚Prätext‘ wird gerade durch die poetischen Verfahren und Formulierungen zu einem expressiven Erlebnis des Verstandenen bzw. des Verstehens, das ganz individuell ist und mit dessen Transformation in einen geschriebenen Text der Autor sich als Individuum auszudrücken meinen kann. Allerdings entsteht doch mit seinem ersten Schriftzeichen lediglich so etwas wie eine Text-Persona. Das geschriebene „Ich“ oder „Du“ ist eben nicht identisch mit dem, der diese Wörter schreibt; der ist aus Fleisch und Blut, die Text-Persona jedoch besteht nur aus Schriftzeichen, Semantik und Syntax. Selbst wenn der reale Autor also meinen sollte, daß er mit dem Schrifttext sich ausdrücke, so entsteht mit dem Text gewissermaßen immer ein Anderer, er selbst kann nie in den Text und ist nie der Text, und die Text-Persona ist niemals er. Und das allerletzte, was der Autor macht, ist durch das Schriftwerk zu ‚sprechen‘, im nichtmetaphorischen Sinn ist das schlicht eine physische Unmöglichkeit – nicht jedoch, daß Genette die Stimme des Autors zu vernehmen glaubt, wenn er einen Text liest: dies ist lediglich seine Selbstvergessenheit der Rezeption. Dekodierung und Neukodierung sind also auf der Schreiber- wie auf der Leserseite je für sich miteinander verwoben: Der sich äußernde Schreiber ist zuvor und zugleich ein verstehender Rezipient, der im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten versteht und im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten sich äußert und sich dabei als Individuum zu zeigen meinen kann, während doch in der Textstruktur allenfalls eine Text-Persona gefunden werden kann – Schreiben wäre somit also in Anlehnung an die Weimarsche Formulierung geradezu ein Fremdausdruck in eigenem Namen. Auf der anderen Seite des Textes ist der Leser, der lesend einen scheinbar Fremden zu verstehen meint und doch immer nur sich selbst im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten versteht und sich dabei ver____________ 49
Siehe hierzu am Beispiel der Metapher Biebuyck (1998).
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standen fühlt von einem scheinbar Fremden, der der Autor eben nicht ist. Die je unterschiedliche Entschematisierung konventioneller Sprachhandlungsmuster bei der Konstitution poetischen Sinns auf beiden Seiten der Textstruktur (auf der Basis einer gemeinsamen Sprache), die individuelle Findung poetischer Verfahren und Formulierungen sowie das individuelle Verstehen solcher Formulierungen als poetisch (auf der Basis einer gemeinsamen Sprache), begründet nun dabei, daß Kommunikation und Verstehen im Sinne einer Identität des poetisch Gesagten für den Schreiber und für den Leser kaum möglich ist, ebensowenig wie die Identität des poetisch Gesagten für verschiedene Leser untereinander. Das bedeutet allerdings keineswegs zugleich auch Beliebigkeit: Grenzen werden hier stets schon allein durch die semantischen, syntaktischen und pragmatischen Möglichkeiten einer gemeinsamen Sprache gezogen50. Aber es bedeutet doch sozusagen die reizvolle Versatilität des poetischen Eigensinns, die Literatur bzw. den Umgang mit Texten als literarischen Texten für jeden einzelnen zum Vergnügen machen kann (freilich nicht muß, denn: „Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber“, wie Kafka seinen Geistlichen sagen läßt).
5. Lesen und Verstehen von Erzähltexten Wenn es sich insgesamt so verhält, so gilt dies natürlich auch im Hinblick auf Erzähltexte. Als Schriftwerke fallen sie unter die Bedingungen der doppelten Transformation der Textstruktur durch das Vernehmen (Inneres Sprechen) und durch das Verstehen (Sinnkonstitution), als Kunstwerke darüber hinaus unter die Bedingungen des ästhetischen Lesens. Im Hinblick auf die Textstruktur weisen sie sich als Erzählungen in einem strukturellen Sinn aus, nämlich als Schriftwerke, in denen wenigstens der Grundtendenz nach erzählt, also adressierte, serielle entfaltete berichtende Rede mit zwei Orientierungszentren über nichtaktuelle, zeitlich bestimmte Sachverhalte von seiten eines Außenstehenden präsentiert wird51. Sie lassen sich nach Aspekten des ‚Wie‘ (Darstellung) und des ‚Was‘ (Handlung und erzählte Welt) ebenso wie grundlegend nach Fiktionalität und Faktizität narratologisch weiter bestimmen52 und so auch gattungssyste____________ 50 51 52
Siehe hierzu auch Hernadi (1995: 13ff.). So die etwas umständliche Bilanz in Weber (1998: 63). Siehe Martinez/Scheffel (1999).
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matisch nach außen gegen andere Gattungen abgrenzen und nach innen in ihre Genres differenzieren. Als Textstruktur sind sie dabei von situationsunabhängiger Dauer, sie gehören jedoch zugleich zwei unterschiedlichen Situationen an, der des Lesers und der des Autors. Interessant im Hinblick auf das Problem der ‚Stimme‘ ist nun, wie unschwer zu sehen ist, vor allem die ‚Situation des Lesers‘, denn der Leseprozeß ist der Vorgang, bei dem allein in einem nichtmetaphorischen Sinn eine Stimme wahrnehmbar ist: Als Inneres Sprechen des Lesenden. Es ist der Lesende selbst, der – einer Textstruktur folgend – die Erzählung im eigentlichen Sinn erzählt (nämlich die Schriftzeichen in verstandene Sprache überführt) und durch eben diese ‚Versinnlichung‘ der Textstruktur zugleich den Eindruck gewinnen kann, er habe es bei der ‚Stimme des Erzählers‘ mit derjenigen einer anderen, von ihm selbst unterschiedenen Person zu tun. Freilich muß differenziert werden. Natürlich gibt es auch die Figur des Erzählers im Erzähltext (den intradiegetischen, homo- oder heterodiegetischen Erzähler), von dem ohne Zweifel gesagt werden kann, er sei eine Erzählinstanz im Erzähltext. Wenn es aber um die narrative Instanz geht, die beispielsweise auch jene Erzählerfiguren erzählt, ohne durch etwas anderes als das Sprechen oder Erzählen selbst hervorzutreten, so sollte besser nicht von einem Erzähler gesprochen werden, dessen Stimme gar vernehmbar werde und der als Person zu denken sei53. Vielmehr ist es der Leser, der hier dem Erzähltext durch Inneres Sprechen seine Stimme leiht sowie auf der Basis der Textstruktur sinnkonstituierend seine ‚erzählte Welt‘ entwickelt und ihr kognitive Präsenz verleiht. Die narrative Instanz, die beispielsweise durch die Art und Weise des Erzählens eines Erzählers oder durch das einfache ‚Sprechen‘ eines Erzähltextes ohne weiteres figural konkretisiertes Hervortreten unterstellt zu werden scheint, sollte daher auch besser als eine ‚stilistische Haltung‘ oder ‚Sprechhaltung‘ begriffen werden, die die Textstruktur dem Leser für seinen sinnkonstituierenden Leseprozeß als Bedingung der Textwelt wie eine Regieanweisung vorgibt54. Damit meine ich nicht allein das stilistisch narrative ‚Wie‘ der Darstellung, sondern auch das ‚Was‘ des Dargestellten, die vorgegebene ‚Sprechhaltung‘ umfaßt beides (gewissermaßen die Auswahl aus stilistischen Möglichkeiten und gleichzeitig die Auswahl aus den Möglichkeiten darstellbarer Welten). Gewiß gibt es hier klimaktische Über____________ 53 54
So auch Galbraith (1995). Ähnlich schon Banfield (1982), und Fludernik (1993).
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gänge von der figuralen ‚Nullmarkierung‘ der bloßen ‚Sprechhaltung‘ über Ansätze einer Erzählerfigur in kommentierenden Einmischungen ohne weitere figurale Konkretisierung (wie bei Fontanes Der Stechlin) bis hin zu gestalteten Erzählerfiguren in metadiegetischer Potenzierung (wie etwa in Storms Der Schimmelreiter). Und zumal Erzählerfiguren können wie alle anderen Figuren eines Erzähltextes in dem textstrukturellen Sinn eine eigene ‚Stimme‘ erhalten, als daß beispielsweise die Formen der Redewiedergabe die Figur als Einzelfigur und mehr noch als unverwechselbares Individuum charakterisieren. Eine versinnlichende, personale Stimme kommt aber nur einem zu, dem Leser. Das versinnlichende, zugleich sinnkonstituierende Innere Sprechen könnte weiter als tendenziell imaginativ mimische Sinnkonstitution55 bezeichnet werden – insofern nämlich, als eben nicht allein die figural unmarkierte Sprechhaltung als Option und Bedingung Inneren Sprechens und sinnkonstituierender Textweltbildung genutzt werden kann, sondern tendenziell ebenso alle anderen, den figural markierten Figuren zugeordneten, unterschiedlichen Sprechhaltungen. Oder anders gesagt: Mit welcher Figur und mit welcher Textwelt auch immer es der Leser in einem Erzähltext zu tun hat, es ist immer er und nur er in seiner Lesesituation und im Rahmen seiner Rezeptionsmöglichkeiten, der den unterschiedlichen Figuren wie den Textwelten imaginative Präsenz und eine (nämlich: seine) ‚Stimme‘ verschaffen kann und verschafft, mögen sie sich auch noch so sehr von ihm in seiner realen Lebenswelt unterscheiden. Jeder Erzähltext bietet daher im Prinzip für jeden Leser eine Gelegenheit, verschiedene, vielleicht auch sehr fremde, Rollen kennenzulernen und nach Maßgabe der Textpartitur konsequenzentlastet zu erproben56. Er kann imaginativ in ein anderes Geschlecht ‚schlüpfen‘ ebenso wie in eine andere gesellschaftliche Stellung, in eine andere ‚Rasse‘ und in eine andere Art, eine andere Nationalität und in eine andere Zeit oder auch in eine andere Psyche – und jedesmal muß dieses Andere mit seinen eigenen und nur seinen kognitiven Möglichkeiten ‚gestaltet‘ werden, jedesmal kann der Leser diesem Anderen seine (und doch eine ‚andere‘, nämlich ____________ 55 56
Fludernik (1996: 344) schreibt ähnlich von “mimic reading”. Zum Thema “Reading as simulation” siehe besonders Oatley/Gholamain (1997: 265ff.); siehe auch Gerrig (1993: bes. Kap. 1); siehe hierzu auch Groeben/ Vorderer (1988: Kap. 3.1.2); siehe auch Füger (1993); siehe zudem Beilfuß (1987); Wellershoff (1975); Oatley (1994); Andringa (1984); Bourg (1996); vgl. schließlich aus philosophischer Perspektive Denett (1992).
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von ihm gewissermaßen unerprobte) Stimme geben und doch zugleich das Fremde als fremd reflektieren (denn dem Leser ist ja in der Regel sehr bewußt, daß er nicht Mrs. Dalloway – geschweige denn ein erzählender Kater –, ja in den meisten Fällen nicht einmal Engländer ist, daß er niemals im Ernst „unseren Helden“ Eduard nennen würde und tatsächlich eigentlich nicht viel über das wilde Kurdistan oder auch über Tristan da Cunha weiß). Die vernehmende und verstehende Transposition eines Erzähltextes kann also im Prinzip zu einer Multiplikation der Stimme, zur ‚Polyphonie‘ im Inneren Sprechen des Lesers führen. Die mimische Sinnkonstitution bei Erzähltexten (die je nach Lesekompetenz und Lesertemperament mal verhaltener, mal engagierter ausfallen dürfte) ist wegen ihrer unauflöslichen Abhängigkeit von der vorgegebenen Textstruktur jedoch auch ‚tastend‘. Als ‚tastend‘ bezeichne ich sie schon deshalb, weil der Leser ja immer durch den Text angeleitet wird und der kognitive Aufbau einer erzählten Welt, der sich bewährter Hilfsmittel wie ‘frames’, ‘schemes’, ‘scripts’ und ständiger Inferenzziehungen bedient57 und tatsächlich beispielsweise bei der ‚Entwicklung‘ einer Figur nicht dem textstrukturellen Nacheinander58 der Informationsvergabe folgen muß, sondern die Textrichtung durch ‚Lesesprünge‘ (und eine mit der Augenbewegung springende Sinnkonstitution) unterlaufen kann, stets den Charakter eines vorläufigen Versuches hat: Entweder werden die Hypothesen über die Verhältnisse der ‚erzählten Welt‘ im Verlauf der Lektüre durch den Text bestätigt und gestärkt, oder aber sie müssen korrigiert werden – der Leser weiß eben nur sehr bedingt oder gar nicht, ‚wie es in der Erzählung weitergehen‘ wird. Die hier so genannte ‚tastende Simulation‘ im Leseprozeß führt nicht allein zur kognitiven Konstituierung einer vom Leser selbst ‚erzählten‘ Welt (die in Details durchaus gravierend von der in der Textstruktur angelegten ‚Welt‘ abweichen kann59), sie hält den Leser zugleich auch auf Distanz zu der erzählten Welt (und je ungeübter, schlechter man liest, ____________ 57
58 59
Siehe hierzu Herman (1997); Jahn (1997); Echterhoff (2002: 265-285); Schneider (2000); Jannidis (2004b); Jannidis (2004a). Siehe auch Ibsch (1990); Andringa/Davis (1994). Siehe schließlich auch Oostenkamp/Goldman (1999). Siehe hierzu Zymner (1998). Emmott (1997: 66): “Readers not only forget details from the original text, they also add inferences from general knowledge and ‘filter’ the text through their own personal viewpoint.”
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desto stärker), so daß der Prozeß des Lesens insgesamt auch von beiden, in gewisser Weise einander widerstreitenden Bedingungen konturiert wird: die Simulation und die Distanz zum Simulierten. Die Distanz zum Simulierten wird zudem durch das schon angesprochene Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der fremden Textwelt im Lesen und der bekannten Wirklichkeit des Lesers erhöht, während doch die Täuschung der Simulation, die Selbstvergessenheit der Rezeption andererseits so weit gehen kann, daß der Leser glaubt, Stimmen wahrzunehmen (des Autors, des Erzählers, der Figuren) oder wenigstens doch eine Stimme, wo er nur Schriftzeichen in seine Imagination transformiert.
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Vorlesbarkeit – zur Lautstilistik narrativer Texte Abstract The discussions about the voice in a text threaten to become sterile as long as they use this term solely metaphorically and do not question the oral speaking voice (and with it practices such as reading aloud and reciting from texts) with the further-reaching question of whether or not it is possible to identify texts based on how well they lend themselves to being read aloud; in reference to sound and rhythm, ease of pronunciation for the speaker and understanding for the listener as well as aesthetic pleasure. In the context of the growing acoustic reception of literature through author’s readings and audio books, such aspects will most likely become more meaningful in the future. The article sketches questions about the oral stylistics of narrative texts with examples from Heinrich von Kleist to Uwe Johnson and discusses their specific possibilities as well as difficulties.
Wie, wenn wir die Rede von der ‚Stimme im Text‘ einmal nicht metaphorisch nähmen, sondern ganz buchstäblich, also nach der lauten Sprechstimme fragten? Damit aber nach Vorlesen, Deklamieren und Rezitieren von Texten, mit der weiteren Frage, ob es möglich ist, Textstrukturen zu identifizieren, die mit Rücksicht auf die Vorlesbarkeit geschrieben werden, mit Rücksicht auf Phänomene wie Klanglichkeit und Rhythmus, Sprechbarkeit, leichte Auffaßbarkeit und ästhetischen Genuß? An Selbstzeugnissen von Autoren, die das laute Vorlesen als Test für Klanglichkeit und Stimmigkeit ihrer Texte nutzten, fehlt es nicht. Von Goethe über Thomas Mann und Robert Walser bis zu Günter Grass ließe
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Reinhart Meyer-Kalkus
sich eine Kette von bemerkenswerten Aussagen beibringen1. Heute, unter Bedingungen medialer Literaturvermittlung, mehren sich sogar die Anzeichen dafür, daß die auditive Rezeption von Literatur immer wichtiger wird. Am Beispiel der jüngeren Generation der Dichter-Performer könnte man zeigen, wie Vortrag und Performance wesentliche produktionsästhetische Gesichtspunkte geworden sind. Kaum ein Schriftsteller, der nicht auch als Performer vor dem Publikum auftritt. Lyrikbände erscheinen häufig zeitgleich mit Autorenlesungen auf CDs oder im Internet. Die neuen technischen Übertragungs- und Speichermedien erlauben eine Literatur für Stimme und Ohr, die die akustische Dimension von Literatur wieder in Erinnerung ruft2. Selbst Übersetzer praktizieren das laute Vorlesen: Elmar Tophoven etwa pflegte seine Beckett-Übersetzungen auf Band zu sprechen und bei seinen Autofahrten vom Kassettenrecorder abzuspielen – der beste Test für Rhythmus und Stimmigkeit der sprachlichen Mittel, wie er meinte. Allerdings leben Texte auch unabhängig von der Autorenlesung. Diese stellt ja nur eine Möglichkeit dar, wie man Texte vortragen kann. Vorab ist dem Vorurteil zu opponieren, die Autorenlesung sei die autoritative Lesart von Texten. Aufschlußreich ist sie für die Intentionen des Autors und dessen Poetik des Vorlesens. Ist er ein virtuoser Vorleser, so kann sie den Tonfall von Texten, Zwischentöne und das Mitgemeinte auf unvergleichliche Weise hörbar machen. Sie erschließt dem Text auf diese Weise eine andere menschliche und emotionale Bedeutungsdimension, die beim stummen Lesen nicht hervortritt. Doch haben literarische Texte ein Potential, das auch andere Lesarten erlaubt. Wenn man eine Lesung Gert Westphals mit der von Thomas Mann vergleicht, dann wird schnell deutlich, daß er eine andere Poetik des Vorlesens zugrunde legt. Wo Mann die Vielstimmigkeit seiner Texte klassizistisch dämpft, theatralisiert Westphal die Vielfalt der Stimmen und profiliert die verschiedenen Dialekte, Idiome und Tonfälle; wo Mann die Ironie in der Konstruktion der Sätze und Formulierungen fabulierend hörbar macht, da signalisiert bei Westphal ein lachender Tonfall, was gemeint sei. Westphals Lesungen folgen einer anderen Poetik als Manns. Sind sie deshalb den Texten weniger angemessen? Mobilisieren sie nicht ein in Manns Texten selber liegendes Potential, das dessen eigene Lesungen ungenutzt ließen? ____________ 1 2
Vgl. die drei von der Marbacher Schillergesellschaft herausgegebenen Bände (1984; 1989; 1995). Vgl. Meyer-Kalkus (2004).
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Die hier exponierte Fragestellung grenzt sich auch gegenüber derjenigen nach dem Erzählen in überwiegend oralen Kulturen ab. Paul Zumthor, der sowohl mittelalterliche als auch moderne westafrikanische Literatur erforschte, sprach von vocalité und meinte damit die Implikationen, die der laute Vortrag für strukturelle Eigentümlichkeiten von Dichtungen und Erzählungen hat. Mittelalterliche oder afrikanische Geschichtenerzähler wenden sich an ein Auditorium, das sie mit frei vorgetragenen Erzählungen in Bann schlagen wollen. Viele Züge ihrer Darbietungen, besonders die formelhafte Phraseologie, typische Szenen oder Themen sowie standardisierte Erzählmuster erleichtern mit ihren “ready made structural units” den Mitvollzug des Vortrags3. So eindrucksvoll diese Analysen sind, so wenig überzeugend sind die daraus abgeleiteten Ursprungshypothesen über die Geburt des Erzählens aus der mündlichen Erzählsituation. Wir kennen nur Erzählkulturen, wo zumindest eine Mischsituation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vorliegt, wo es – wie vermittelt auch immer – eine Rückkoppelung zwischen dem Erzählten und dem Aufgeschriebenen, zwischen dem Vorgetragenen und dem Gelesenen gibt. Dies ist die Prämisse der folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Sprechkunst und Erzählen unter Bedingungen der Schriftlichkeit. Was zu untersuchen ist, sind die spezifischen Spannungsverhältnisse zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit4. Unter diesen Voraussetzungen sind mündliche Vorträge stets textgestützt, insofern ihnen schriftliche Aufzeichnungen zugrunde liegen, die sie vergegenwärtigen. Der Vortrag als Medium der Vergegenwärtigung von Texten, dies muß die leitende Fragestellung sein, fragt man nach dem Verhältnis von Sprechkunst und Erzählen. Im 6. Band von Über Kunst und Altertum (1828) hat sich Goethe nachdrücklich zugunsten des lauten Vortrags von Dichtungen (übrigens auch von dramatischen) ausgesprochen. Seine Bestimmung des Verhältnisses von Text und Vortrag hat auch heute wenig von ihrer Aktualität verloren. Das stille Lesen sei immer nur ein sehr unvollkommener Behelf. Der Mensch ist von Natur kein lesendes sondern ein hörendes Wesen; so wie auch der Poet keineswegs gemacht ist seine Gedanken zu Pa-
____________ 3 4
Vgl. Garner (2005: 410f.); vgl. auch Goetsch (2005: 413f.). Dies war der Name eines von Wolfgang Raible geleiteten Sonderforschungsbereichs an der Universität Freiburg, dessen Publikationen in vieler Hinsicht für die hier verhandelten Probleme wegweisend sind.
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piere zu bringen, sondern vielmehr sich mündlich vernehmen zu lassen. Das geschriebene Wort, sagt man, ist todt; zum wenigsten erscheint es uns in vielen Fällen als ein sehr unbestimmtes einer mannigfaltigen Deutung fähiges etwas, wogegen aber das gesprochene durch den Ton der Stimme sogleich seinen entschiedenen Charakter empfängt und den Hörer auf der Stelle in die Empfindung seiner unzweifelhaften Bedeutung setzet […].5
Präziser kann man das Verhältnis von Text und vokaler Performanz nicht bestimmen: Das geschriebene Wort ist ein „sehr unbestimmtes, einer mannigfaltigen Deutung fähiges Etwas“, während die Stimme dem Ganzen einen entschiedenen Charakter verleiht und den Hörer in anderer Weise emotional anspricht, ja ihn „auf der Stelle in die Empfindung seiner unzweifelhaften Bedeutung setzet“. Goethe hat an anderer Stelle behauptet, daß sich die Poesie in „Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik“ vollende, um als „wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes“6 erscheinen zu können. „Poesie [könne] durch das Auge nicht aufgefaßt werden […]“, „Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stilles für sich Lesen ein trauriges Surrogat der Rede“7. Wer bei Literaturwissenschaftlern nach Auskunft für diesen Fragenkomplex sucht, wird freilich enttäuscht. Die Klanggestalt der Literatur scheint seit einem halben Jahrhundert kein seriöser Gegenstand der Forschung mehr zu sein. Man findet so gut wie keine theoretisch anspruchsvollen neueren Beiträge dazu. Allenfalls wird man zugestehen, daß Dichtung immer wieder mündlich vorgetragen worden ist und wird, ja vielleicht sogar aufs Gesprochenwerden angewiesen ist, doch hat dies keine Folgerungen für die Forschung. Der mündliche Vortrag wird vielmehr verdächtigt, einer Reduktion der essentiellen Vieldeutigkeit von Texten auf die eine, durch den Vortrag gegebenen Bedeutung Vorschub zu leisten. Nur das stumme Lesen könne dieser den Texten innewohnenden Dissemination ihrer Bedeutung gerecht werden, wie dies Ursula Geitner mit Rückgriff auf Prämissen Jacques Derridas behauptet hat: „Der Deklamation entspricht das hermeneutische Begehren, der prinzipiell unabschließbaren Auslegung des schriftlich-literarischen Textes zu entkommen“8. Der Entfremdung von der Klanglichkeit der Texte wird mit sol____________ 5
6 7 8
Johann Wolfgang von Goethe: Dramatische Vorlesungen (1828), in: J. W. v. Goethe. Ästhetische Schriften 1824-1832, hg. v. Anne Bohnenkamp, Frankfurt 1999, S. 475477, hier S. 476. Goethe: Noten zum Westöstlichen Divan, Bd. V, S. 222f. Weithase (1949: 99ff.). Vgl. Geitner (1992: 340-343, 342).
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chen Thesen eine scheinbar unanfechtbare Grundlage geschaffen. Daß verschiedene Vortragsweisen ihrerseits die Vieldeutigkeit von Texten hörbar machen können (was exemplarisch in der Aufführungsgeschichte von Dramen auf dem Theater zu verfolgen ist), wird ausgeblendet. Die Folge solcher und anderer Fehlurteile ist, daß das Ohr mehr und mehr illiterat geworden ist, und dementsprechend der literaturkritische Diskurs auditiv unsensibel. Auch die Narratologen denken nicht an die laute Stimme, wenn sie von der Stimme sprechen, und sie tun dies seit Gérard Genette, – sondern stets an das ‚Phantom‘ der Stimme im Text. Will man hier weiter kommen, muß man die Fragestellung verändern: Statt von der eingebildeten oder inneren Stimme auszugehen, die sich im Akt des stummen Lesens bildet, sollte der laute Vortrag Ausgangspunkt sein, verbunden mit der Frage, welche textimmanenten Strukturen sich ihm verdanken. Wer eine solche These begründet, muß zunächst zugestehen, daß es keinen bündigen Beweis für sie gibt, sondern nur Plausibilitäten und eine eindrucksvolle Reihe von Selbstzeugnissen der Autoren. Denn literarische Texte können selbstverständlich auch ohne lauten Vortrag verfaßt werden. De facto sind wahrscheinlich zahllose literarische Texte nie laut vorgelesen worden. Das Vorlesen erfolgt in der Regel post hoc, kommt also nach dem Akt des Schreibens und hängt von kontingenten Umständen ab. Allerdings stellt sich die Frage, ob das Schreiben nicht von sich aus die Vorlesbarkeit antizipiert und als Maßstab mit sich führt. Sind Phänomene des literarischen Schreibens wie Klangstruktur und Rhythmus, die Atemlänge von Sätzen und Halbsätzen, Übersichtlichkeit oder besser ‚Durchhörbarkeit‘ der Satzgefüge und deren potentiell auditive Auffaßbarkeit durch den Zuhörer nicht wesentliche Kriterien beim Verfassen von Texten? Haben stilbewußte Autoren wie Gustave Flaubert nicht ihre Texte während des Niederschreibens immer wieder laut vorgetragen, gebrummelt oder herausgeschrieen? Solche Phänomene gehören zum Bereich einer literarischen Stilistik, genauer gesagt, zu einer Lautstilistik, die Texte aus dem Horizont ihres lauten Vortrags und Erklingens untersucht9. Ansätze dazu finden sich im ____________ 9
Schon Novalis hat diesen Sachverhalt auf den Punkt gebracht, als er die laute Stimme mit der „schriftlichen Stimme“, die Redekunst mit der Stilistik parallelisierte: „Wie die Stimme mannichfaltige Modificationen in Ansehung des Umfangs – der Geschmeidigkeit – der Stärke – der Art (Mannichfaltigkeit) – des Wohlklangs – der Schnelligkeit – der Praecision oder Schärfe hat – so ist auch die schriftliche Stimme oder der Styl auf
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Umkreis des Cercle linguistique de Prague der 1920er und 30er Jahre sowie bei Autoren, welche die von der Leipziger Schallanalyse (Eduard Sievers, Franz Saran) ausgehende Diskussion in den 40er und 50er Jahren fortgesetzt haben10. Ohrenphilologie statt Augenphilologie, das war die zündende Parole für eine ganze Generation von Forschern11. So problematisch viele ihrer Untersuchungen heute anmuten, so wird man die Fülle der Beobachtungen und Phänomenbeschreibungen zur Oralität von Literatur doch auch heute noch mit Gewinn lesen. Vorab sind theoretische Vorklärungen zu treffen, um das Verhältnis von Schrift und Klang der Literatur zu bestimmen. Gegenüber dem graphisch fixierten Text stellt der Vortrag ja ein anderes Medium dar. Mit jeder Vorlesung findet ein Medienwechsel statt: vom Text zur Stimme. Dort die stummen Schriftzeichen auf Papier (oder auf dem Bildschirm), hier die laute Stimme, Mimik und Gestik, ja der sprechende Körper. Dort eine im Prinzip unvergängliche Fixierung, hier ein ephemeres einmaliges Geschehen durch eine individuelle Stimme hic et nunc. Um die Interdependenzen von Schrift und Stimme zu entschlüsseln, werde ich im ersten Abschnitt einige theoretische Vorüberlegungen zu den Varianz-Spielräumen der Stimme gegenüber dem Text entwickeln, um mich im zweiten und dritten Teil exemplarisch auf Phänomene der literarischen Lautstilistik zu konzentrieren, an denen die Rücksicht auf die Vorlesbarkeit unmittelbar textkonstitutiv wird: rhythmische und klangliche Strukturen des Textes. Im vierten Abschnitt komme ich auf die Erzählerstimme zurück und auf ihr Verhältnis zur Persona des Vorlesers.
1. Varianz-Spielräume der Sprechkunst Im Anschluß an den russischen Formalisten Sergej Bernstejn unterscheide ich zwischen dem poetischen Kunstwerk, das in geschriebener Sprache vorliegt, und dem deklamatorischen Kunstwerk, durch das ein Text in je einzigartiger Weise eine Vergegenwärtigung durch Lesung, Deklamation ____________ eine ähnliche Weise unter mannichfachen Gesichtspunkten zu beurtheilen. Die Stylistik hat ungemein viel Aehnlichkeit mit der Declamationslehre – oder der Redekunst im strengern Sinne.“ Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, Bd. 2, München/Wien 1978, S. 718. 10 Vgl. Meyer-Kalkus (2001: 172ff.). 11 Meyer-Kalkus (2001: 73ff.).
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oder Schauspiel erfährt12. Diese analytische Unterscheidung erkennt dem Vortrag eigenes Recht und eigene Spielregeln zu, die durch das geschriebene Kunstwerk nicht restlos determiniert werden, wie etwa Tempo, Lautstärke und Sprechmelodien, weiterhin Stimmregister und Sprecherrolle, mit denen der Text vorgetragen wird und vieles andere mehr. Insofern gibt es grundsätzlich mehrere Realisierungsmöglichkeiten eines Textes, welche die spezifischen Varianz-Spielräume des Vortrags nutzen. Die von Bernstejn wohl erstmals getroffene Unterscheidung wendet sich gegen die von der Leipziger Schallanalyse (Eduard Sievers, Franz Saran) zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts behauptete Determination des Vortragsaktes durch den Text: als ob dieser selber verbindliche Anweisungen im Hinblick auf Stimmtypus, Sprechmelodien, Tempo, Rhythmus und Akzentuierung aufwiese13. Sie wendet sich gleichermaßen gegen eine subjektivistische Sprechkunst, welche die „Eigenstellung“14 des Vortragenden und dessen Expression der durch den Text geweckten Emotionen in den Mittelpunkt stellt. Bernstejn insistiert dagegen auf den Spielräumen des Vortrags, auf der besonderen Weise der Vergegenwärtigung des poetischen Kunstwerks. Der im Text angelegte dynamische Wechsel von Spannung und Lösung, von Anschwellen und Abschwellen müsse eine vokale Entsprechung finden, doch stelle diese niemals eine Eins-zu-eins-Umsetzung dar. Vielmehr besitze die Deklamation/Rezitation gegenüber dem Text ihre eigenen Freiheits- und Interpretationsspielräume – das, was ich die beschränkte Autonomie der Sprechkunst nenne. Dieser Ansatz grenzt sich auch gegenüber einer wirkungsästhetischen Lesetheorie ab, die unterstellt, daß sich ein Text erst in der Wahrnehmung der Leser bzw. Hörer vollendet, und jedwede Sinndeutung durch den Leser eine legitime Weise der Ausschöpfung seines Sinnpotentials darstellt. Rainer Warning hat darauf insistiert, daß das „materielle Artefakt“ sich erst im Akt des Lesens zum „ästhetischen Objekt“15 konkretisiere und zugleich historisiert werde, dieser Prozeß sei allerdings nicht nur hörerseitig determiniert oder vom Leser abhängig, sondern auch von der Struktur des Texts. Freilich unterscheidet Warning nicht mit hinreichender Deutlichkeit zwischen den im Werk angelegten unterschiedlichen ____________ 12 13 14 15
Bernstejn (1972: 343ff.). Meyer-Kalkus (2001: 106ff.). Drach (1926). Warning (1975: 17).
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Deutungsmöglichkeiten einerseits und den im lauten Lesen angelegten Varianzspielräumen, die wohl etwas mit der Unbestimmtheit des Werks zu tun haben, doch primär aus der Eigengesetzlichkeit des mündlichen Vortrags resultieren. Beide Dimensionen müßten analytisch auseinander gehalten werden, um ihre Interdependenz studieren zu können. Als Künste der Vergegenwärtigung leisten Sprechkünste eine Umsetzung von Texten in eine momentane Aktion vor Zuhörern und Zuschauern. Medientheoretisch gefaßt: die Übersetzung einer graphisch kodierten Mitteilung in eine phonisch kodierte, von Buchstaben in Klang. Dieser Vorgang hat einen medialen und einen ästhetischen Aspekt: Mit dem Wechsel vom Geschriebenen zum Gesprochenen findet ein Medienwechsel statt. Eine Arbeitsgruppe des Instituts der Deutschen Sprache, die sich der Erforschung der gesprochenen Sprache widmet, hat kürzlich vorgeschlagen, die auf der Hand liegende Differenzierung zwischen optisch vs. akustisch bzw. visuell vs. auditiv – hier die Schrift, die wir sehen, dort der mündliche Vortrag, den wir hören – zu erweitern durch drei weitere mediale Unterscheidungsebenen. Die genannten Unterschiede (des Übertragungsmediums bzw. der Modalität der Rezeption) seien häufig von nur sekundärer Bedeutung, während drei andere Differenzierungen viel wichtiger seien. So die Unterscheidung hinsichtlich des „Realisierungsmediums“, also der Unterschied zwischen graphematischer und phonologischer bzw. nichtverbaler Realisierung gedanklicher Strukturen – einerseits Buchstaben, andererseits Laute und nichtverbaler Körperausdruck. Eine weitere Unterscheidungsebene betrifft das Übertragungsmedium, also „Schallwellen und elektromagnetische Wellen im Fall mündlicher Kommunikation und bei schriftlicher Kommunikation lediglich Lichtwellen“. Eine letzte Unterscheidung zielt auf das Trägermedium – hier dauerhafte Träger, die sich zugleich zur Speicherung eignen, dort der menschliche Körper mit seinen vergänglichen Ausdrucksformen16. In der Tat ist der mündliche Vortrag ephemer – es sei denn, er werde durch andere Trägermedien, wie Phonograph und audiovisuellem Film medial aufgezeichnet, gespeichert und für Reproduktionen verfügbar gemacht. Doch auch dann handelt es sich um die dauerhaft gemachte Aufzeichnung eines Ephemeren. Der bestimmte Augenblick einer Vergegenwärtigung wird durch ein anderes Träger- und Speichermedium fixiert. Ich knüpfe an diese Betonung des ephemeren Charakters des Trägermediums gesprochener Kommunikation an. Es ist der menschliche Kör____________ 16
Vgl. Fiehler u. a. (2004: 117f.).
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per hic et nunc, der in der Sprechkunst ausdrucksvoll wird, mit Hilfe von Sprache wie von nonverbalen Äußerungen in Mimik, Gestik und Haltung. Diese Trägermedien liegen den Varianz-Spielräumen gesprochener Sprache zugrunde, sie geben der Sprechkunst ihre eigentlichen Ausdrucksmittel an die Hand, von der Tempogestaltung über Prosodie und Akzentsetzung bis hin zu Lautstärke und anderen Dimensionen. Allerdings treten die einzelnen Varianten nicht isoliert voneinander auf, sondern stets funktional miteinander verbunden: Grundlegend für die Konstitution von Varianten ist die Auffassung, daß Varianz nicht zufällig streut, sondern daß variierende Merkmale ‚gebündelt‘ auftreten, d. h. daß mehrere Merkmale kovariieren. Diese Kovarianz konturiert und konstituiert verschiedene Varianten gesprochener Sprache, die sich voneinander unterscheiden und die sich gegeneinander abgrenzen lassen.17
Tatsächlich müssen die einzelnen Varianten der verschiedenen Ausdrucksregister in einem ‚stimmigen‘ Verhältnis zueinander stehen, zumal im künstlerischen Vortrag18. Hier müssen die einzelnen Parameter (wie etwa Lautstärke, Tempo und Prosodie des Vortrags) funktional aufeinander bezogen sein. So läßt Goethes Prometheus gewiß viele Spielräume bei der Tonhöhenbewegung der Stimme, bei Geschwindigkeit und Lautstärke zu (wie die unterschiedlichen Interpretationen von Josef Kainz, Alexander Moissi, Rolf Henninger, Oskar Werner, Ulrich Mühe, Ben Becker u. a. zeigen). Doch sind diese Spielräume keineswegs unbeschränkt – und auch nicht unabhängig voneinander. Man nehme einmal den Schluß des Gedichts mit der Kaskade von Fragen und der sich daran anschließenden Assertation ‚Hier sitz’ ich, forme Menschen nach meinem Bilde‘, und man wird erkennen, daß die Gliederung des Textes eine Veränderung von Prosodie, Akzentuierung und Geschwindigkeit erzwingt. Den letzten Absatz kann man einfach nicht in durchweg elegischem Tonfall sprechen. Im Kontrast der Abschnitte wird ein Wechsel der Töne gegenüber dem Vorhergehenden erfordert, für den es verschiedene Möglichkeiten der vokalen Realisierung gibt. Doch über die Tatsache, daß hier ein Kontrast notwendig ist, wird man sich nicht hinwegsetzen können, ohne den Eindruck eines den Sinn des Textes verfehlenden Vortrags zu erwecken. Jeder Vortrag muß seine eigene sinnhafte Kohärenz haben, andernfalls machte er einen nicht durchgebildeten, eben unstimmigen Eindruck. ____________ 17 18
Fiehler u. a. (2004: 137). T. W. Adornos Ästhetische Theorie hat 'Stimmigkeit' als wesentlichen werkästhetischen Gesichtspunkt von Kunstwerken herausgestellt, vgl. Adorno (1970: 205-243).
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Die einzelnen Parameter der Kovarianz-Spielräume stellen das dar, was ich die Koordinaten der Sprechkunst nenne. Dazu gehören, um nur die sprechtechnisch relevanten zu nennen: Tempo, Tempovariationen, Pausen und Zäsuren, Rhythmus, Lautstärke bzw. Dynamik, Lautstärkewechsel, Tonhöhen/Prosodie, Akzentsetzungen, Tonhöhenschwankungen, Sprechmelodien, Atmung, Vielstimmigkeit, Lautmalerei und Timbrierungen, sprachbegleitende Gesten und Aktionen. Anders als in musikalischen Partituren werden diese Koordinaten der Sprechkunst nicht im Text notiert, weil es dafür keine Zeichenkonventionen gibt, wenn man einmal von phonetischen Umschriften absieht sowie von denen, welche die Sprachwissenschaftler neuerdings zur Notierung von Prosodie, Lautstärke und Tempo eingeführt haben19. Gegenüber der stillen Lektüre eines Textes bedeutet der laute Vortrag in der Regel ein Mehr und ein Anderes, indem er das nur Geschriebene ins Akustische überträgt und dabei die ihm eigenen Varianz-Spielräume nutzt. Doch kann ein Vortrag in bestimmten Ausnahmefällen auch ein Weniger bedeuten, insofern er keine exakt differenzierenden vokalen Darstellungsmittel für schriftliche Zeichen des Texts besitzt, dazu zählen etwa Typographica wie Groß- und Kleinschreibungen, Unterstreichungen, Kursivschreibungen, Absätze und Kapitel, überhaupt die Verteilung des Textes im Raum, unterschiedliche Pausenzeichen wie Semikolon, Gedankenstrich und Punkt (wie sehr man diese auch sprechtechnisch durch die Tempogestaltung umsetzen kann), schließlich aber auch lexikalische Zeichen, die nur in der Schriftsprache zu erkennen sind. Das Sprechen bleibt stumm gegenüber solchen Zeichen, für die es kein lautliches Unterscheidungsmerkmal gibt. Ein extremes und deshalb aufschlußreiches Beispiel ist James Joyces eigene Lesung aus Finnegans Wake aus den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Vergleicht man sie mit dem Text, so stellt man fest, daß die abgründige Vieldeutigkeit, mit der die Schriftsprache durch ihr Schriftbild auf andere Sprachen verweist, ja ein ganzes Babel der Sprachen eröffnet, reduziert wird. Es ist nur noch diese einzelne Stimme des Dichters, deren gleichmütiges Parlando dem Text ein flacheres, zugleich aber unmittelbar ansprechendes, vielleicht sogar ‚natürlicheres‘ Profil verleiht. Der Vortrag mach den hermetischen Text kommunikativ kommensurabel – um den Preis seines nur graphisch repräsentierbaren lexikalisch-semantischen Reichtums. Dort die schriftlich fixierte Vielstimmigkeit, hier die Reduktion auf eine einzelne Stimme, die durch Prosodie und Akzente, Tempo ____________ 19
Vgl. B. Schönherr (1999).
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und Tonfall Eindeutigkeiten schafft. Beides ermöglicht der Text, und beide Varianten waren für Joyce legitim. Andererseits leistet der laute Vortrag gegenüber dem stummen Lesen in der Regel ein Mehr, insofern er den Text in einen anderen Code und in eine andere Materialität übersetzt, welche graphische Zeichen nie fassen, ja nicht einmal restlos erschöpfend beschreiben oder determinieren können: die Stimme eines Sprechers, die auf eine ganz bestimmte Person, deren Geschlecht, Alter, Herkunft usw. verweist, weiterhin die Dimension von Klang und Rhythmus, also Tempo, Lautstärke, Tonhöhenbewegungen, Akzente, Atmung, Vielstimmigkeit und vokale Gesten des Vortrags. Im wesentlichen sind es diese beiden Dimensionen: die Stimme des Vortragenden (das ‚Wer‘) und die Art des Vortrags (das ‚Wie‘), die gegenüber der stummen Lektüre eines schriftlichen Texts Neues und Anderes hervorbringen. Ich nenne diese letzte Dimension bewußt nicht das Musikalische eines Vortrags, weil diese Züge eine sprachlich gliedernde und expressive Funktion besitzen, die stets auf die Bedeutung des Vorgetragenen, auf das ‚Was‘ bezogen bleibt. Dieses Mehr des Vortrags ist weder auf Musik noch auf Körperlichkeit zu reduzieren, auch wenn es Züge von beidem besitzt. Es ist eine eigene autonome Darbietungsform mit eigenen Kompositionsgesetzlichkeiten, die den stummen Text zum Gegenstand der Sprechkunst macht.
2. Zur Lautstilistik erzählender Texte Ein ganz elementarer, allerdings vielfach übersehener Stilzug narrativer Texte, an dem die Rücksicht auf die Vorlesbarkeit unmittelbar greifbar wird, ist die Länge von Sätzen und Satzteilen. Es gibt in literarischen Texten immer wieder syntaktische Gefüge, die einfach zu lang, zu komplex und zu undurchsichtig sind, als daß sie noch angemessen mündlich vorgetragen werden könnten, geschweige denn durch die Zuhörer verstanden würden. An solchen Sätzen werden die Grenzen der Rücksicht auf die Vorlesbarkeit deutlich. Diese Texte wurden offenbar nicht primär für den mündlichen Vortrag und für ein lauschendes Publikum geschrieben, sondern für die stumme Lektüre, die mit dem Auge noch einmal zum Anfang des Satzes zurückschwenken, ja über ein und demselben Satz ins Nachdenken versinken kann. Man könnte dafür Bandwurmsätze aus Prousts A la recherche du temps perdu heranziehen, oder Satzgefüge mit Parenthesen aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Dort heißt
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es einmal hinsichtlich von General Stumm von Bordwehrs Überlegungen zum zeitgenössischen Gebrauch des Wortes ‚Erlösung‘: Seine erste Ansicht, war, daß es einfach zu der sprachwissenschaftlich nicht ganz durchleuchteten Gruppe der 'geschwollenen Worte' gehöre. Das sagte ihm sein natürlicher Soldatensinn; aber abgesehen davon, daß dieser durch Diotima verwirrt worden war, – denn Stumm hatte doch das Wort Erlösen zum erstenmal aus ihrem Mund gehört und war sehr entzückt gewesen, und heute noch war das Wort von dieser Seite her, trotz der Artillerievorlage, von einem holden Zauber umweht, so daß also des Generals erste Ansicht eigentlich schon die zweite seines Lebens war! – schien die Theorie der Wortgeschwulst auch aus einem anderen Grund nicht zu stimmen ...20
Dergleichen Satzgefüge mit Parenthesen, wovon es mehrere in Musils Roman gibt21, stellen für Vorleser wie auch Zuhörer eine fast unlösbare Aufgabe dar. Selbst ein Vorleser wie Wolfram Berger, der die beiden ersten Teile des Romans im Hessischen Rundfunk in 79 Folgen eindrucksvoll vorgelesen hat, muß hier passen. Berger fügt, nachdem sich die Parenthese geschlossen hat, ein "also abgesehen davon" ein, um den Bezug zur einleitenden Satzgruppe in Erinnerung zu rufen. Nur mit Hilfe dieser Interpolation kann er den Sinnzusammenhang für den Nachvollzug durch die Zuhörer herstellen. Gewiß sind Satzgefüge wie dieses ohne größere Rücksicht gegenüber der Maxime der Vorlesbarkeit geschrieben, doch ist dies eine Ausnahme? Man könnte, und dies ist ein erstes Ergebnis dieser Überlegungen, zwischen Texten unterscheiden, die mit größerer Rücksicht auf die Vorlesbarkeit geschrieben sind, und solchen, denen diese Rücksicht sekundär oder gar belanglos ist. Zur letzten Gattung gehören z. B. Textmontagen wie Rolf Dieter Brinkmanns posthum veröffentlichten Schnitte (1988), bei denen das Auge zwischen den mit der Schreibmaschine getippten Texten (die z. T. in parallelen Kolonnen angeordnet sind), den einmontierten Zeitungsphotos und den anderen einmontierten Texten oder Textpartikeln ständig oszillieren muß. Hier ist eine andere Grenze der Vorlesbarkeit erreicht. Das Auge ist mehr gefordert als das Ohr22. Auch an barocke Figurengedichte wäre zu denken oder an Beispiele der Konkreten Poesie (Gomringer, Mon, Heißenbüttel). ____________ 20 21 22
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 518. Vgl. Musil: Mann ohne Eigenschaften, S. 524. Freilich hat sich gerade ein Autor wie Rolf Dieter Brinkmann äußerst reflektiert der akustischen Aufzeichnungsmittel bedient, wie sein akustischer Nachlaß zeigt, vgl. Brinkmann [1973](2005).
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Von solchen Grenzfällen aus erkennt man besser die Konventionen dessen, was die Erzählliteratur in ihrer Breite bestimmt, nämlich potentiell vorlesbar zu sein. Dafür möchte ich zwei weitere strukturelle Sachverhalte anführen, an denen die klanglich-musikalische Dimension von Prosatexten unmittelbar greifbar wird, nämlich Rhythmus und Klanglichkeit. Gibt es einen Prosarhythmus23? Nach Andreas Heusler, dem führenden Verstheoretiker der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sind in der Prosa die „rhythmusbildenden Größen Stärke und Dauer ungeregelt, auch die Pausen sind ungleich lang, während die takthaltige Sprache des Verses die Verhältnisse zwischen diesen Größen regelt und sie dadurch ordnet“24. Die Prosa habe nur passagenweise oder zufällige rhythmische Eigenschaften, häufig ohne Absicht des Verfassers. Immerhin gibt es eine aus dem Altertum überlieferte Lehre von den Satzschlüssen, den Satzklauseln (cursus planus, tardus, velox), welche das Gefälle der Satzschlüsse durch die Abfolge von verschiedenen Versfüßen betonen. Nach Christine Lubkoll dient der Rhythmus in literarischen Texten auf Makroebene der Absicht, Texte überschaubar und einprägsam zu machen, auf Mikroebene wird er zur Musikalisierung poetischer Rede genutzt. Auch Prosatexte hätten Sprachrhythmen, doch nicht in gleich regelmäßiger Weise wie die Verssprache. In rhythmisch gestalteter Prosa, wie z. B. dem Anfang von Thomas Manns ‚Der Erwählte‘, läßt sich der Rhythmus lediglich über die Feststellung von regelmäßigen Wiederholungen, alternierenden Strukturen und sprachlich erzeugten Pendelbewegungen beschreiben. Es finden sich aber in Prosatexten auch Übergänge zu versrhythmischen Ordnungen, die der Eingängigkeit dienen, namentlich in biblischen Texten und Märchenerzählungen.25
Solche Formen einer rhythmisch-metrischen Organisation von literarischen Texten erfüllen unterschiedliche Formen, sie stehen im Dienste der Mnemotechnik ebenso wie der Ordnungsstiftung und poetologischen Kanonbildung; sie lassen in der Sprache natürliche und anthropologische Grunderfahrungen und ‚Ur-Empfindungen‘ anklingen und bereiten ästhetische Lust; schließlich haben sie Teil an der semantischen Codierung von Texten: sie können das Gesagte lautmalerisch gestalten und bekräftigen, sie können aber auch ein Spannungsver-
____________ 23 24 25
Ich folge hier den Ausführungen von Lockemann (1960: 20ff.). Lockemann (1960: 20). Lubkoll (1999: 104f.).
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hältnis von Form und Inhalt erzeugen. So wird aus der rhythmischen oder rhythmischmetrischen Struktur nicht nur ein ästhetischer Funke geschlagen, sondern zugleich die polyvalente Semantik eines poetischen Textes entbunden.26
Es ist ein überraschender Befund, daß solche rhythmischen Strukturierungen in Prosatexten häufiger sind als man gemeinhin unterstellt, und zwar nicht nur in rhythmisierter Prosa wie in Goethes Werther oder Hölderlins Hyperion. Ein musikalisch komponierender Prosaautor wie Thomas Mann bedient sich dieser Kunstmittel regelmäßig, aber auch ein Schriftsteller wie Adalbert Stifter, der nicht im Ruf des ‚Musicus‘ steht, nutzt ihre Möglichkeiten, zum Beispiel in seiner Novelle Bergkristall (1845), die folgendermaßen beginnt: Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Lieblicheres denken als Pfingsten und kaum etwas Ernsteres und Heiligeres als Ostern. Das Traurige und Schwermütige der Charwoche und darauf das Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das Leben. Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht, und Schnee alle Fluren deckt, das Fest der Weihnacht.27
Auffällig ist ein daktylischer Rhythmus (mit wechselweise 2, 3 oder auch 4 Senkungen), welcher diesem Text einen fallenden Charakter verleiht. Nun ist eine vereinzelte Beobachtung dieser Art nicht sonderlich aufschlußreich, es kann sich um ein zufälliges Sprechmuster handeln, das keine weitere Bedeutung für Textaufbau und Bedeutung besitzt. Aussagekräftig werden solche Beobachtungen erst, wenn sich Rekurrenzen im Text wie auch Variationen und Kontraste dazu ergeben. Und in der Tat ist dies in Stifters Novelle der Fall. Die ganze Exposition mit ihren allgemeinen Ausführungen zum Festcharakter der Weihnachtszeit hat einen daktylisch-fallenden Charakter, erst, als der Erzähler den Fokus auf den Ort der Erzählung richtet, verklingt dieser Rhythmus, ein anderer Gestus mit jambisch bzw. anapästischem Charakter tritt an seine Stelle. Eine hörbare Skansion durch rhythmische Gliederungsmittel trennt klangsymbolisch die reflektierende Exposition von der eigentlichen Narration. Natürlich können wir diesen Unterschied auch beim stummen Lesen wahrnehmen, wenn wir dafür ein Gespür entwickeln, doch ist es signi-
____________ 26 27
Lubkoll (1999: 120). Adalbert Stifter: Bunte Steine, Frankfurt/Main u. Hamburg 1960, S. 174.
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fikanterweise das laute Vorlesen, bei dem dieser Charakterzug am deutlichsten hervortritt28. Fragt man nach der Rücksicht auf die Vorlesbarkeit, so ist neben dem Rhythmus die Klanggestalt der Erzählprosa, also die Verteilung von Vokalen und Konsonanten, Alliterationen und Assonanzen eine weitere wichtige Dimension. Diese klanglich-musikalischen Mittel können ganz zufällig im Fluß eines Textes auftauchen, sie können aber auch eine bedeutungsstiftende Funktion erfüllen. Dies ist in vielen Prosastücken von Thomas Mann der Fall, etwa im 5. Kapitel des 3. Buches der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Erzähler hat die Identität seines aristokratischen Freundes, des Marquis de Venosta, angenommen und reist mit dessen Paß und Geld von Paris nach Lissabon im Zug. Darüber berichtet er rückblickend folgendermaßen: Der Zug hatte Paris um sechs Uhr verlassen. Die Dämmerung sank, das Licht ging an, und noch schmucker erschien darin meine Privat-Behausung. Der Schaffner, schon höher an Jahren, erbat sich die Erlaubnis zum Eintreten durch sachtes Klopfen, legte salutierend die Hand an die Mütze und wiederholte die Ehrenbezeigung, als er mir meine Fahrkarte zurückgab. Dem biederen Manne, dem eine loyale und bewahrende Gesinnung vom Gesichte zu lesen war und der auf seinem Gang durch den Zug mit allen Schichten der Gesellschaft, auch mit ihren fragwürdigen Elementen, in dienstliche Berührung kam, tat es sichtlich wohl, in mir ihre wohlgeraten-vornehme, das Gemüt durch bloße Anschauung reinigende Blüte zu grüßen.29
Mit vier kurzen Sätzen skizziert der Erzähler Schauplatz, Zeit und Umstände, in denen er sich befindet, um sodann mit länger und immer komplizierter werdenden Satzgefügen auszuholen. Schon syntaktisch-prosodisch ein typisches Gliederungsmittel narrativer Erwartungssteuerung und Exposition: Die Stimme beginnt ruhig und sachlich berichtend mit kurzen parataktischen Sätzen, um zu einer lang geschwungenen prosodischen Linie überzugehen, welche den syntaktisch immer komplexer werdenden Satzgefügen entspricht. Mir kommt es hier vor allem auf die Verteilung der Vokale an, auf das, was man in der Stilistik ‚Assonanzen‘ nennt. Ist die Rekurrenz des ‚a‘-Lauts in dem ganzen Passus zufällig? Wie ein Grundton geht dieser nachtdunkle Laut durch alle Sätze, vor seinem Hintergrund hebt sich der Klangzauber des letzten Satzes besonders deut____________ 28
29
Ohne die rhythmisch akzentuierende Vorlesung durch Erich Ponto in einer Aufnahme aus dem Jahr 1953 wäre ich selber gar nicht auf dieses Phänomen gestoßen (wiederveröffentlicht auf CD im Literarischen Archiv der DGG). Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil, Frankfurt 1954, S. 299.
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lich ab. Hier ertönt mit einem Male ein kleines Lautkonzert auf den ‚i‘ und ‚ü‘. Gehören ‚a-‘ und ‚i‘-Laute zum statistischen Mittel der Lautverteilung der deutschen Sprache, so läßt die Rekurrenz des ‚ü‘-Lautes doch aufhorchen: ‚fragwürdig‘, ‚Berührung‘, ‚Gemüt‘, ‚Blüte‘, ‚grüßen‘. Der Erzähler gerät ins Fabulieren und benutzt lautmalerische Mittel, um den leisen Aberwitz der Situation zu grundieren: daß die Autorität dieser biederen Amtsperson gerade vor einem Hochstapler wie Krull ihr ganzes Repertoire an Ehrenbezeugungen aktiviert, ja mehr noch, daß sie dies angesichts des bloß physiognomischen Eindrucks von Krull mit sichtlichem Genuß tut, im Unterschied zu den unangenehmen Eindrücken all der fragwürdigen gesellschaftlichen Erscheinungen, die ihr zuvor in anderen Teilen des Zuges begegnet sein mochten. Die Klanglichkeit ist wie geschaffen, um zu verstehen zu geben, daß der Erzähler hier aus Wohlgefallen an sich selber und deren Spiegelung in anderen ins sprachliche Schwelgen gerät: „[…] in mir ihre wohlgeraten-vornehme, das Gemüt durch bloße Anschauung reinigende Blüte zu grüßen“. Dieser Satz schwingt sich gar in spekulative Höhen zur blauen Blume der Romantiker auf. Durch das beiher laufende Quietschgeräusch des ‚ü‘-Lauts wird die komische Unangemessenheit dieses Vergleichs in seiner Outriertheit leise hörbar gemacht. Klanglichkeit als Mittel nicht nur des poetischen Schmucks der Sätze, sondern als Ironiesignal. Wahrscheinlich hätte ich über dieses Beispiel hinweggelesen, hätte ich nicht Thomas Manns eigene Lesung aus dem Jahre 1953 gehört, die als Hörbuch verfügbar ist30. Mit unverkennbarer Gourmandise kostet er die Lautlichkeit dieser Sätze aus, die syntaktischen Abstufungen mit prosodischen Mitteln präzise herauspräparierend, die Akzente treffend setzend. Gerade an Thomas Mann könnte man zeigen, wie wichtig ihm der Testlauf des lauten Vorlesens für das Schreiben seiner Texte war. Die Mündlichkeit des Vortrags ist nicht etwas post hoc von außen Hinzutretendes, sondern ist dem Text selber eingeschrieben. Sie macht die Sprachmusik hörbar, die in der stummen Partitur des Textes nur als Potential fixiert ist.
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Im Hörbuchverlag 2003.
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3. Rhythmus und Atemsyntax narrativer Texte Teil einer Lautstilistik narrativer Texte müßten auch Begriffe für die rhythmischen Proportionen von Sätzen und Satzreihen und die dadurch aufgebauten Spannungsverhältnisse sein. Doch was ist Rhythmus in narrativen Texten? Diese Frage zu beantworten, setzte voraus, daß man einen halbwegs brauchbaren Begriff des Rhythmus profilieren kann. Doch eben daran fehlt es. Seit der Überstrapazierung dieses Begriffs in den Rhythmustheorien der 20er und 30er Jahre ist eine Ernüchterung eingetreten, mit der Folge, daß mit dem diskreditierten Begriff seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch der von ihm gemeinte Phänomenbereich aus dem Blickfeld verschwunden ist. Von Henri Meschonnic und anderen ist zwar auf vehemente Weise eine Erneuerung dieses Begriffs ins Gespräch gebracht worden31, doch leiden diese Konzepte zumeist an mangelnder empirischer Anschlußfähigkeit und haben für die Beschreibung konkreter Textstrukturen zu geringe Aufschlußkraft. Ich knüpfe deshalb an Beobachtungen der älteren Rhythmus-Diskussion an, um ein Phänomen herauszuarbeiten, an dem mir plausibel zu werden scheint, daß mikrorhythmische Eigenschaften narrativer Texte nicht ohne Rücksicht auf die Atemrhythmik und deren auditive Wahrnehmung durch den Zuhörer gedacht werden können. Fritz Lockemann, ein Dichtungstheoretiker der 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, hat dafür bedenkenswerte Überlegungen entwickelt. Sein Gegenstand sind die Spannungsverhältnisse innerhalb von Sätzen wie auch zwischen den Sätzen. Durch den Satzbau werde eine bestimmte Ordnung der Glieder und Akzente vorgegeben, die eine „entsprechende Verwirklichung im rhythmischen Erlebnis nahelegt, also Anweisungen gibt für den Verlauf der Spannungen und Lösungen des rhythmischen Bogens“32. Lockemann entwickelt dafür ein instruktives formales Modell: Wenn wir von 1 bis 10 zählen, also eine gleichmäßig fortlaufende Reihe von Wörtern herstellen, so haben wir keinerlei Spannungserlebnis. Gliedern wir aber die Reihe durch einen Einschnitt, so wird es anders: 1 2 3 4 5 / 6 7 8 9 10// Im Gegensatz zur fortlaufenden Reihe, die endlos weiterlaufen könnte, erleben wir hier ein Ganzes. Im ersten Teil erleben wir Anspannung, Anstieg, im zweiten Lösung, Abstieg. Die Reihe rundet sich zum Spannungsbogen. Am Ende jedes Astes vor dem
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Vgl. Meschonnic (1997: 613). Lockemann (1960: 29).
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Einschnitt oder dem Einhalt des Schlusses, auf 5 und 10, entsteht eine Ballung, ein Stärkeakzent. Verlaufsspannung (Anstieg und Abstieg), Einschnitt oder Pausen und Ballungen bedingen sich gegenseitig und schaffen eine rhythmische Gliederung.33
Im angegebenen Beispiel fällt die Symmetrie der beiden Glieder auf. Eben diese Symmetrie stellt in der Prosa aber eine Ausnahme dar. In der Regel lesen wir Sätze mit asymmetrisch langen Ästen. Im Modell können wir uns dies klar machen, wenn wir den Einschnitt statt hinter die 5 schon hinter 4 setzen: 1 2 3 4 / 5 6 7 8 9 10 // Wir versuchen, die beiden Äste miteinander in Beziehung zu setzen, indem wir etwa den zweiten Ast (von 5-10) schneller als den ersten (von 1-4) sprechen. Auf jeden Fall werden wir versuchen, die zehngliedrige Periode als eine rhythmische Einheit zu sprechen und entsprechend prosodisch zu gliedern, wobei nach dem Einschnitt hinter 4 die Stimme bis zum Ende hin sinkt. Offenbar liegt hier ein Beispiel für die Wahrnehmung von gestalthaften Ganzheiten im auditiven Bereich vor, welche schon die Gestalttheoretiker der 20er und 30er Jahre (W. Köhler, R. Arnheim u. a.) thematisiert haben. Roman Jakobson sprach explizit von der „Gestaltqualität“ des poetischen Rhythmus: Im Gegensatz zur praktischen Sprache gliedere dieser die poetische Rede in einer „subjektiven Zeit“34, also in einem „Zeiterlebnis“, durch welches die Wahrnehmung der Sprache entautomatisiert werde35. Was geschieht, wenn wir zwei Großbögen miteinander kombinieren, also etwa: 1 2 3 4 5 /6 7 8 9 10 // 11 12 13 14 15 / 16 17 18 19 20//? Auch hier lesen wir die Folge als eine Einheit, und wie zuvor entsteht eine satzübergreifende Rhythmik. Die Folge 1-10 wird (unbeschadet ihrer internen Differenzierung) als ein eigener Bogen gelesen, der gegenüber dem nachfolgenden (11-20) – in der Terminologie von Lockemann – die Funktion des Spannungsaufbaus hat, während der zweite Teil lösend wirkt. Was vorher Auf- und Abstiegsast (1-5, 6-10) war, wird als Auf____________ 33 34 35
Lockemann (1960: 22). Jakobson [1923](1974: 30). Roman Jakobson hat darin den Unterschied zwischen Prosa und Dichtungssprache gesehen: „So ist der dynamische Rhythmus der praktischen Sprache eine Automatisierung der Exspiration beim Sprechen. Der poetische Rhythmus ist im Gegensatz dazu eine der Weisen, die Rede aus dem Zustand des Automatismus herauszuführen. Er ist eine Voraussetzung für die Ausrichtung auf die Zeit der Rede, eine Voraussetzung für das Zeiterlebnis.“ Jakobson [1923](1974: 27).
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stiegsast in eine neue Struktur eingebaut, die rhythmische Eigenbewegung der Teiläste damit in einer neuen Gesamtbewegung aufgehoben. Im Anstieg wird die vorher lösende spannend, im Abstieg die vorher spannende lösend: 1 2 3 4 5 ’ 6 7 8 9 10 / 11 12 13 14 15 ’ 16 17 18 19 20 // Die übergeordnete Spannung überlagert die kleinteiligere, ohne sie allerdings völlig aufzuheben36. Lockemanns Ansatz birgt die Schwierigkeit in sich, daß er zwischen den drei Dimensionen der Semantik, der Syntax und der Prosodie nicht hinreichend unterscheidet, sondern sie der Aufgabe des Spannungsaufbaus und der Spannungslösung unterordnet. Nun können Sätze unter dem Aspekt des Spannungsaufbaus gelesen werden – sie müssen dies aber nicht. Die prosodischen Bewegungen im ersten Halbsatz müssen nicht als Spannungsaufbau, und die im zweiten Teil nicht als Spannungsabbau gelesen werden – und werden dies in vielen Fällen auch nicht. Lockemann leitet aus der Tatsache, daß im Deutschen jeder Satz (wenn er nicht gerade ein Fragesatz ist) mit einer Stimmsenkung endet, die These ab, daß damit die im ersten Teil des Satzes aufgebauten Spannungen gelöst würden. Doch ist dies keineswegs immer der Fall. Man sieht z. B. nicht, was in Lockemanns aus Lessings Fabeln genommenem Beispiel der zweite Teil des Satzgefüges zur Spannungslösung beiträgt: „Die eherne Bildsäule eines vortrefflichen Künstlers / schmolz durch die Hitze einer wütenden Feuersbrunst in einen Klumpen.“37 Einen solchen Satz im Hinblick auf seine Spannungserzeugung zu lesen, erscheint unangemessen. Wenn man denn schon von Spannung sprechen will, so wird diese im zweiten Teil des Satzgefüges nicht gelöst, vielmehr wird eine Spannung, oder besser eine Erwartung hinsichtlich des Folgenden erweckt. Spannungsaufbau und -lösung können nicht unabhängig von dem Spiel mit Erwartungen und deren Erfüllung begriffen werden, damit aber nicht unabhängig von der semantischen Dimension der Sätze. Eben diesen Sachverhalt übersieht Lockemann: Wichtiger als die Spannungsverhältnisse innerhalb eines Satzes erscheinen die Spannungen zwischen den Sätzen, welche durch obligatorische Stimmsenkung, Innehalten und Atmung markiert werden. Jeder Satz exponiert in erzählenden ____________ 36 37
Lockemann (1960: 22f.). Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u. a., Bd. 4: Lessings Werke 1758-1759, hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt 1997, S. 315.
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Texten eine Erwartung, die durch den folgenden erfüllt oder abgewiesen wird. Eben dieser Wechsel von Erwartungsaufbau und Erwartungseinlösung, unterbrochen von der Atmung und der Stimmbewegung, schafft den Fluß der Erzählung. Jeder Satz steht für sich und ist doch Teil eines Ganzen, in das er sich einfügt. Beim Erzählen kommt es darauf an, diese immer wieder neu ansetzenden und endenden syntaktischen Bögen in sich prosodisch zu artikulieren, zugleich aber über die Einschnitte zwischen ihnen ein neues, aus größeren Einheiten komponiertes Ganzes hörbar zu machen. Die Senkung der Stimme und das Atemschöpfen in der darauffolgenden Pause erfolgen im selben Augenblick, wie eine neue Erwartung geschaffen wird. Die Kunst des Erzählens hat das Problem zu lösen, wie die durch jeden Satz geschaffene Vorstellungseinheit so gefaßt wird, daß sie syntaktisch-prosodisch abgeschlossen ist und sich zugleich auf das Folgende hin öffnet; wie die Stimme sich senkt, schweigt und Atem schöpft, und zugleich in der Einbildungskraft des Zuhörers Erwartungen hinsichtlich des Kommenden erweckt werden – Abschluß einer Mikroeinheit und zugleich Öffnung hin zum Folgenden. Nehmen wir das von Lockemann selber gewählte Beispiel aus Kleists Novelle Der Zweikampf, das er syntaktisch-typographisch folgendermaßen gliedert: Es war am Montag nach Trinitatis, als der Graf Jakob der Rotbart, mit seinem glänzenden Gefolge von Rittern, der an ihn ergangenen Aufforderung gemäß, in Basel vor den Schranken des Gerichts erschien, und sich daselbst, mit Übergehung der ersten, ihm, wie er vorgab gänzlich unauflöslichen Frage, in Bezug auf die zweite, welche für den Streitpunkt entscheidend war, folgendermaßen faßte: Edle Herren! Und damit stützte er seine Hände auf das Geländer, und schaute aus seinen kleinen blitzenden Augen, von rötlichen Augenwimpern überschattet, die Versammlung an.38
Lockemann deutet dieses komplexe Satzgefüge im Hinblick auf den Spannungsaufbau folgendermaßen: Der Spannungsast steigt in zwei großen Teilästen (1. es war - erschien, 2. und sich Herren!); diese sind in Unteräste gegliedert, der erste in fünf, der zweite in drei. Diese
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Heinrich von Kleist: Der Zweikampf, in: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, hg. v. Klaus Müller-Salget, Frankfurt 1990, S. 320.
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letzten sind wieder unterteilt (Unteräste). Der zweite dieser Unteräste ist nochmals geteilt. Alle diese Glieder führen in zunächst größeren, dann immer kleineren Antrieben die Spannung zur Höhe, von der sie in kräftig gegliedertem Fall (zwei Unterteiläste, der zweite noch dreimal untergeteilt) herabstürzt. Die syntaktische Gliederung wird dafür in sehr freier Weise benutzt. Von dem Hauptsatz „es war …“ ist das folgende in dem großen Als-Satz abhängig gemacht (bis „Edle Herren“). Dann folgt, überraschend durch „und damit“ mit diesem Nebensatz verbunden, ein Hauptsatz. Der Spannbogen übergeht die erste, syntaktisch wichtige Wende vom Haupt- zum Nebensatz, steigt bis „Edle Herren“ und fällt in dem angeschlossenen Hauptsatz, ohne daß von der Syntax her dafür ein Zwang vorliegt.39
So plausibel die syntaktisch-prosodische Gliederung auf den ersten Blick auch erscheint, so wenig einleuchtend ist sie doch. Lockemanns These von Spannungssteigung und Spannungslösung bzw. -fall innerhalb von Sätzen unterstellt, daß alle Sätze auf diesem Prinzip beruhen, mithin Höhepunkte und Spannungsabfall haben. Doch ist diese These schon mit Blick auf Kleists Text nicht plausibel. Am Wendepunkt dieser Satzgefüge („Edle Herren“) fällt die Spannung nicht, sondern steigt im Gegenteil noch an. Wichtiger als der dem Satzgefüge immanente Spannungsaufbau ist der zwischen den Sätzen, zwischen denen ein Spiel mit den Erwartungen und deren Erfüllung oder deren Abweisung (eine andere Weise der Erwartungserfüllung) getrieben wird. Der neue Hauptsatz vergrößert die Spannung gegenüber dem Folgenden, nämlich gegenüber der Rede des Grafen, die im nächsten Satz beginnt mit „Ihr beschuldigt mich, […]“ – statt eine Lösung zu bewirken. Lockemann verabsolutiert den hypotaktischen Spannungsaufbau, wie er ihn exemplarisch in Kleists Erzählungen zu finden glaubt, und wertet deshalb parataktische Satzgefüge in narrativen Texten ab (exemplarisch etwa in Gottfried Kellers Novelle Pankraz der Schmoller), bei denen Stauungen und Akzente schwach bleiben, als ob hier die rhythmischen Ausdrucksmöglichkeiten verschenkt wären40. Die Unterstellung, daß jeder Satz prosodisch und rhythmisch aus Spannungsaufbau und Spannungsabfall, aus Erwartung und Lösung der Erwartung besteht, mit der impliziten Behauptung, daß jeder Satz einen Spannungshöhepunkt besitzt, der zugleich den Wendepunkt darstellt, verstellt den Blick für das, was sich zwischen den Sätzen und Satzgliedern ereignet, synchron mit Stimmsenkung, Innehalten, Atmung und Neuanheben. Diese Atemsyntax von Sätzen und Satzteilen erscheint mir – in Verbindung mit dem Spiel der ____________ 39 40
Lockemann (1960: 28). Lockemann (1960: 29).
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Erwartungen zwischen den Sätzen und Satzteilen – als die eigentliche Grundlage für das, was wir als den je spezifischen Rhythmus von erzählender Prosa beschreiben können. Die unterschiedlichen Atem-Einheiten werden durch Verzögerungen und Pausen einerseits, durch Akzeleration andererseits in epischen Fluß gebracht. Dem entspricht auf Seiten des Zuhörers der Eindruck des Rhythmischen, einer Bewegung, die Satzgefüge, Textabschnitte und ganze Texte durchläuft. Gerade die Verzögerungen und Pausen durch die Atmung sind es, welche bedeutungskonstituierend werden können, indem sie die Erwartungen der Zuhörer hinsichtlich des Folgenden wecken. Es ist das im Augenblick des Einatmens noch Ungesagte, das den Horizont für das Erzählbare aufreißt. Elias Canetti hat in einer Rede auf Hermann Broch aus dem Jahre 1936 von „Atemräumen“ und einem „Atemgedächtnis“ des Erzählers gesprochen, Brochs Dichtung sei wesentlich aus der Erfahrung des Atmens gestaltet. Canetti gesteht unumwunden zu, daß er damit nichts wissenschaftlich Objektivierbares beschreibe. Die abendländische Zivilisation sei von „allen subtileren Problemen des Atmens und der Atemerfahrung abgekommen“41, wie sie etwa in der indischen Kultur gepflegt wurden. Canetti beschreibt den Atemraum – in Analogie zur akustischen Maske, deren Erfahrung er in den 30er Jahren in Wiener Lokalen gemacht hatte42 – als etwas Atmosphärisches, das aus dem Zusammenprall der Atmung und des Aufeinanderlossprechens vieler Menschen entsteht43. Canetti spricht von einer „großen Verwandtschaft, die zwischen Atem und Sprache zweifellos besteht“44, doch vernachlässigt er über dem Atmosphäri____________ 41 42 43
44
Canetti (1975: 18). Vgl. Meyer-Kalkus (2001: 320ff.). „Der Raum, in dem Sie hier sitzen, in ganz bestimmter Anordnung, fast völlig von der Umwelt abgeschlossen, die Art, in der sich Ihr Atem vermischt, zu einer Ihnen allen gemeinsamen Luft, und dann mit meinen Worten zusammenstößt, die Geräusche, die Sie stören, und die Stille, in die diese Geräusche wieder zurückfallen, Ihre unterdrückten Bewegungen, Abwehr oder Zustimmung, das alles ist, vom Standpunkt des Atmenden aus, eine ganz einmalige, unwiederholbare, in sich ruhende und wohlabgegrenzte Situation. Aber gehen Sie dann ein paar Schritte weiter und Sie finden die völlig andere Situation eines anderen Atemraumes, in einer Küche vielleicht oder in einem Schlafzimmer, in einem Gassenschank, in einer Tram, wobei immer an eine konkrete und unwiederholbare Konstellation atmender Wesen in Küche, Schlafzimmer, Gassenschank oder Tram zu denken ist. Die Großstadt steckt von solchen Atemräumen so voll wie von einzelnen Menschen […]“ Canetti (1975: 19). Canetti (1975: 20).
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schen der Atemräume die Realisierung der Atmung im Mikrorhythmus der Erzählung. In späten Aphorismen ist er allerdings auf das Problem zurückgekehrt: „Er will keine Gedanken mehr, die zubeißen. Er will Gedanken, die den Atem erleichtern“, heißt es da einmal45. Was gewinnen wir, wenn wir die syntaktisch-prosodischen Einheiten von Sätzen bzw. Teilsätzen in literarischer Rede auch als Atemeinheiten verstehen? Die zeitliche Vollendung einer syntaktischen Einheit und der Genuß des Mitvollzugs durch den Zuhörer wären synchron mit der Verausgabung eines Atemvolumens, wie das Wiederanheben eines neuen syntaktischen Gebildes synchron ginge mit einer neuen Atemwegzehrung, die sich im Sprechen aufbraucht. Jedes Satz- bzw. Teilsatzende wäre ein Wendepunkt zwischen dem soeben zu Ende gebrachten und dem folgenden46. Wer heute danach fragt, inwiefern das literarische Schreiben den Gesetzen der Atemrhythmik untersteht, kann vorerst nur spekulative Überlegungen exponieren. Von Seiten der Sprachwissenschaft erhält er dabei eben so wenig Unterstützung wie von Seiten der Lautstilistik. Einige Hinweise sind allerdings bei den auf Stimme und Atmung spezialisierten Physiologen zu finden. Der Stimmphysiologe Günther Habermann z. B. unterscheidet zwischen der Ruheatmung bzw. stummen Atmung (d. h. einer Atmung ohne Belastung) und einer Phonationsatmung beim Sprechen und Singen. Die Phonationsatmung ähnelt nur in der Einatmungsphase der Ruheatmung, verläuft dann aber völlig anders: Die Ausatmungsphase ist nicht nur ungleich länger, sondern auch weniger ausgeglichen in den Luftdruckverhältnissen. Während sich die stumme Ausatmung im allgemeinen unbewußt vollzieht und gewissermaßen eine Entspannungsphase nach der muskulären Anspannung der vorausgegangenen Einatmung darstellt, wird die Ausatmung dem Sinngehalt der gesprochenen oder gesungenen Phrase untergeordnet und damit in gewissem Grade vom Hirn kontrolliert und gesteuert. Psychische Einflüsse wirken auf das Atemzentrum ein; deshalb verraten sich Gedanken, Gefühle, Stimmungen in einer Veränderung der Atmung. Die Tiefe und die Häufigkeit der Atmung werden ständig durch den Wechsel in der Stimmung und in der Intensität der Emotion abgewandelt. Die ruhige Atmung der Zufriedenheit, die schnelle Folge tiefer Ein-
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Canetti (1987: 72) Ein anderer Aphorismus lautet: „Nicht mehr zubeißen, den Mund der Sätze offenlassen.“ Canetti (1987: 160). Diesen Sachverhalt des Wendepunkts hat der Kunsthistoriker Erwin Panofsky in den 20er Jahren als Wesen dessen beschrieben, was den Rhythmus in Bildwerken ausmacht – eine überraschende Parallele, die für die Erzähltheorie bislang noch nicht fruchtbar gemacht worden ist. Vgl. Panofsky [1926](1998: 399).
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atmungen bei Erregungen aller Art und der oberflächliche, zögernde Rhythmus bei Depression und Niedergeschlagenheit sind nur einige Beispiele der Parallelität der Atemweise mit der Gemütslage des Menschen.47
Die Phonationsatmung beim Singen und Sprechen untersteht mithin vielfältigen semantisch-kognitiven und emotionalen Bedingungen, welche dazu führen, daß Tiefe und Häufigkeit der Atmung wie vor allem der Ausatmung unendlich differenziert werden, parallel zu den unterschiedlichen syntaktischen und prosodischen Strukturen. So wird beim Sprechen die Ausatmung gewöhnlich in die Länge gezogen, während die Einatmung schnell und geräuschlos vor sich gehen muß. Dazu atmen wir beim Sprechen mit geöffnetem Mund oder mit Mund und Nase zugleich ein. „Vor Beginn einer Satzkette erfolgt wohl ein anfänglicher nasaler Atemzug, während der Wortkette oder einer Gesangsphrase bleibt jedoch hierzu keine Zeit. Ein voller Atemzug erfordert mindestens 2-3 Sekunden“48. Viele Vortragende versehen ihre Text mit Markierungen dafür, wo Atem zu holen ist, neben Zeichen für die Akzentsetzung. Atemgebung und semantisch-syntaktische Strukturierung sind eng aufeinander bezogen. Man kann einen Vortrag vollständig ruinieren, wenn man an den falschen Stellen oder zu hastig Atem holt. Die falsche Atmung macht den Zuhörer bang und raubt ihm selber das Gleichmaß der Atemrhythmik. Welche entscheidende Rolle die Atemtechnik beim Vorlesen narrativer Texte spielt, erhellt ein Vergleich zwischen einem Meister des Atmens, Gert Westphal einerseits und einem Atemgeschädigten wie dem kurzatmigen Günther Lüders andererseits. Beide haben die 2., 3. und 4. Kapitel aus dem vierten Teil von Thomas Manns Buddenbrooks vorgelesen (Aufnahmen 1979/80 bzw. 1974). Die Atmung von Westphal ist fast unhörbar, jedenfalls genauestens koordiniert mit den syntaktischsemantisch gebotenen Pausen und Stockungen. Er atmet wie eine Orgel, die immer noch genug Luft findet, um einen Ton hervorzubringen, ohne scharfe Zäsur und hastiges Lufteinziehen. Das verleiht seinem Vortrag das ruhige Gleichmaß, auf dessen Grundlage er dann durch kleinste Veränderungen prosodisch differenzieren kann. Ganz anders Günther Lüders: Das schöne Gleichmaß seiner baritonalen Stimme erhält durch kurzen Atem und hastiges Lufteinziehen etwas Gehetztes. Ist man als ____________ 47 48
Habermann (1978: 16). Ebd.
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Zuhörer darauf erst einmal aufmerksam geworden, so kommt etwas Banges und Gehemmtes in den Vortrag. Die eigene Atmung scheint durch diese Arhythmie aus der Ordnung zu geraten. Beim Zuhören unterscheiden wir instinktiv, um welche Ausdrucksbedeutung es sich bei der jeweiligen Atmung handelt49. Tatsächlich besteht eine Kovarianz mit anderen Parametern wie Tonhöhe, Lautstärke und Geschwindigkeit. Kann man nicht immer wieder beobachten, daß Erzähler Satz- oder Teilsatzeinheiten entsprechend der Rhythmik des Atems gestalten, indem sie eine Korrelation von Atmung und syntaktischsemantischem Einschnitt herzustellen bestrebt sind, gerade weil sie wissen, daß der Grundrhythmus ihrer Texte von diesem Auf und Ab der Atmung lebt?50 Ist dies nicht einer der entscheidenden Unterschiede zwischen literarischer und nichtliterarischer Sprache? Hier die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem atmenden Sprecher, mit Satzgefügen, die vor allem durch das Auge entziffert sein wollen, dort eine Synchronie von Atem-, Sinn- und prosodischen Einschnitten? Dies bedeutet ja keineswegs ein uniformes Gleichmaß der Einschnitte, im Gegenteil lebt die Prosa von der rhythmisch-expressiven Bewegtheit der Sätze und Teilsätze51.
4. Stimme des Erzählers und Persona des Vorlesers Von Uwe Johnson haben wir den Mitschnitt einer Lesung eines späten Erzählfragments mit dem Titel Marthas Ferien aus dem Jahre 197852. Klaus Niebuhr, der Erzähler, tastet sich zurück in die Liebes- und Ehejahre seiner Eltern Martha und Peter Niebuhr vor dem Jahr 1933 und skizziert eine private Lebenswelt im kleinstädtischen und ländlichen Mecklenburg, noch beschützt vor der dunkel drohenden Zeitkulisse. Durch Johnsons eigene Vorlesung wird etwas hörbar, das man beim stummen Lesen, ohne Kenntnis von Johnsons Vorlesung, allenfalls imaginieren könnte, der spezifische Tonfall dieses Erzählers und dessen ____________ 49
Vgl. Lockemann (1952: 57). Uwe Johnson schrieb einmal von dem „im Druck zunächst unsichtbaren rhythmischen Hintergrund des Textes, den in der Tat nur der Urheber blosszulegen vermag“. Zitiert von Norbert Mecklenburg, in: Mecklenburg (1988: 88). 51 Vgl. die Unterscheidung verschiedener Rhythmustypen durch Wolfgang Kayser (1957: 246ff.) für den Versrhythmus. Er selber zögerte, diese Charakteristika auf den Prosarhythmus zu übertragen. 52 Als Tonkassette zusammen mit dem Text von Norbert Mecklenburg im Suhrkamp Verlag (Frankfurt 1988) herausgegeben. 50
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eigentümliche Vielstimmigkeit. Wie der Herausgeber Norbert Mecklenburg schreibt: Es ist eine einfühlsame, behutsame Stimme, die der Autor dem Sohn verleiht, der da seinen Eltern als einem Liebespaar nachspürt, eine Stimme, die das allzu Innige der beschworenen Idylle durch Ironie und Humor ausbalanciert. Der Erzähler selbst tritt […] in den Hintergrund, er läßt seine Sprache bereitwillig von der Sprache der Figuren ‚anstecken‘, sein Erzählen wird, wie das des klassischen humoristischen Romans, durch solche Stimmenüberlagerung gewissermaßen ‚zweistimmig‘. Mehrstimmig aber wird der Text […] durch starke Dialogisierung und dadurch, daß die beiden Hauptpersonen Peter und Martha […] aus Lust an Versteckspiel mit allerlei verstellten Stimmen zu reden lieben.53
Auch dialektal gefärbte Stimmen anderer Figuren treten auf, wodurch die Mecklenburgische Szenerie ein vielstimmiges akustisches Profil erhält. Die Stimme des Erzählers Klaus, der all diese fremden Stimmen nicht ohne Lust an imitativer Komik in sich hervorbringt, bleibt dennoch als von ihnen unterschiedene hörbar; in seinen Anreden an die beiden Liebenden, in den aus Fotos herausgelesenen Szenenbeschreibungen und in einem ernsten, nachdenklichen Unterton, der den humoristisch aufgeräumten Hauptton kontrapunktiert. Mit ihm deutet der Vorleser Johnson an, daß hier, als Trauerarbeit, eine Unterhaltung mit Toten geführt wird, daß hier im Rückblick des Nachgeborenen ein Schatten auf eine Liebesbeziehung fällt, welcher nicht nur deren Vergangenheit meint, sondern vielleicht auch dunkel die Frage anklingen läßt, was aus ihr später geworden sein mag.54
In diesem Beispiel macht die Autorenlesung etwas hörbar, was beim stillen Leser nicht ohne weiteres wahrzunehmen ist, die spezifische Emotionalität dieses Textes, seine vielschichtigen Untertöne und das nur Zwischen-den-Zeilen-Gesagte. Der spezifische Tonfall dieses Erzählens ist keine idiosynkratische Pose des Vorlesers, sondern macht etwa im Text selber Angelegtes, aber nicht Fixierbares deutlich. Im Vorlesen erhält mithin eine wesentliche Bedeutungsdimension plastische Gestalt, ohne die es kein Verständnis dieses Textes gäbe. Zugleich tritt mit dem Spiel zwischen Erzählerstimme und vielstimmigem Figurenarsenal das Kompositionsgesetz des Textes zu Tage: Die Lust an der Vielstimmigkeit und ‚imitativen Komik‘ wird grundiert von einem melancholisch gefärbten Unterton, von stiller Trauerarbeit, mit der der Erzähler diese Szenen seiner Eltern vor seiner Geburt aufsucht. Zwischen den vielen Stimmen und der einen Stimme des Erzählers ist dabei wohl zu unterscheiden – wie sehr diese sich auch in sie hineinschmiegt. ____________ 53 54
Mecklenburg (1988: 90). Mecklenburg (1988: 91).
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Gibt hier die Autorenlesung doch einmal eine Art von autoritativer Lesart des Textes? Kann man den Erzähler Johnson nur durch den Vorleser Johnson verstehen? Tatsächlich leben Uwe Johnsons Texte mehr als narrative Texte anderer Autoren (etwa von Heinrich Böll oder Siegfried Lenz) von dieser spezifischen Erzählerstimme, die ihren eigentümlichen Tonfall ausmachen. Ähnliches könnte man vielleicht von dem Günter Grass der Blechtrommel sagen oder von dem Elias Canetti der Blendung, Texte, die beide Autoren auf eindrückliche Weise vorgelesen haben. Die Besonderheit der jeweiligen Erzählerhaltung wird uns hier dank der Autorenlesung auf eindringliche Weise auditiv vermittelt. Gewiß können diese Texte auch unabhängig von der Autorenlesung leben. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob es eine auditive Rezeptionsgeschichte über die Autorenlesung hinaus gibt. Werden professionelle Vorleser einmal andere Aspekte und Töne an diesen Texten entdecken (so wie Gert Westphal an den von Thomas Mann vorgetragenen Texten)? Eine Voraussetzung unserer auditiven Rezeption von Gegenwartsliteratur ist, daß wir die Stimmen der Autoren aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumeist gespeichert haben und wie ein imaginäres Tonband beim Lesen mitlaufen lassen können. Die Stimme des Erzählers im Text, die wir beim stummen Lesen hören, ist in der Regel die imaginierte oder wiedererinnerte Stimme des Autors, die man in Radio, Fernsehen oder Audiobook einmal vernommen hat. Von fast allen Autoren, die nach 1945 hervorgetreten sind, besitzen wir solche Tonaufzeichnungen mit Lesungen eigener Texte. Selbst wenn wir andere Texte von ihnen lesen, vernehmen wir unwillkürlich ihre Stimmen, Tönfälle, Akzente, Besonderheiten der Aussprache, Timbrierung und Atmung. Dieses akustische Apriori stellt eine Besonderheit der Rezeption von Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüber der älteren dar, bei der wir auf die reine Imagination von Stimmen angewiesen sind. Wir sind bei diesen akustisch dokumentierten Autoren in gewisser Weise privilegiert. Hörend erkennen wir Stilzüge ihrer Texte, die uns ohne die Lesung verborgen geblieben wären, den melancholischen Tonfall eines Jean Améry, den fabulierend, Mannheimischen eines Ernst Bloch, den ironisch fein ziselierenden eines Hans Magnus Enzensberger, den mädchenhaft scheuen einer Ingeborg Bachmann, den manieristisch dozierenden eines Theodor W. Adorno usw. Diesem Privileg des hörenden Wissens steht freilich das Risiko gegenüber, daß wir die Texte nicht mehr unabhängig von ihren Autorenstimmen zu lesen gewohnt sind. Wer würde sich als professioneller Vorleser
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an Texte von Uwe Johnson oder Günter Grass heranwagen, nachdem so virtuose Vorlesungen von ihnen selber vorliegen? Die „Einschüchterung durch Klassizität“ (B. Brecht) kann zur Erstarrung der Texte und ihrer Wirkungsgeschichte führen. Die Erneuerung, die aus immer veränderten Erzähler- und Vortragsstilen erwächst, und die auch in der Zukunft noch zu erhoffen ist, könnte eingeschränkt werden – zu Lasten des Lebens der Texte. Gegenüber Thomas Manns Texten ist freilich der Bann gebrochen, auch deshalb, weil es vergleichsweise wenige Texte sind, die er selber für den Tonbandmitschnitt hat vorlesen können. Auch Brechts Texte gewinnt man mehr und mehr unabhängig von der kanonischen Vortragstradition seiner Schule zurück, jenseits der autoritativen Lesarten der Helene Weigel, Therese Giehse, Gisela May und Ernst Busch. Hier kommen die Anstöße zur Erneuerung zumal aus den rasch sich verändernden Inszenierungsstilen des Theaters, mit Ausstrahlungen auch auf das Vorlesen55. Der Unterschied zwischen der Stimme des Erzählers und der des Autors liegt auf der Hand. Weniger offensichtlich ist, daß gegenüber diesen beiden Stimmen auch der Vorleser eine eigene Stimme besitzt. Dieser kann ganz unterschiedliche Sprecherrollen annehmen, je nachdem ob er als Fabulierer, Unterhalter, weiser Philosoph, Märchenonkel oder -tante, ‚Witzereißer‘, Ironiker, Polemiker und Zeitkritiker, als Spötter und Spaßvogel, als Tragöde oder Melancholiker auftritt – was immer er als empirische Person auch sein mag. Die Rolle, die er vorspielt, darf nicht mit dem verwechselt werden, was er im wirklichen Leben ist, es ist eine Persona, eine ‚akustische Maske‘ (mit Elias Canettis Begriff), die er für sich geprägt hat, durch sein Vorlesungsrepertoire wie durch seinen spezifischen Vortragsstil und sein Auftreten. Die Persona des Vorlesers für die authentische Stimme des Autors zu nehmen, hieße, einem jener physiognomischen Trugschlüsse zu unterliegen, denen wir nach Ernst H. Gombrich immer dann anheimfallen, wenn wir kulturelle Objekte, wie etwa eine Rezitation oder Vorlesung, als unmittelbaren Ausdruck einer zugrundeliegenden Subjektivität betrachten56. Wir begehen nach Gombrich noch einen zweiten physiognomischen Trugschluß, wenn wir unterstellen, daß der Künstler seine höchsteigenen Empfindungen und Erlebnisse in Gestalt des Kunstwerks an Hörer und Zuschauer weiterreiche, die nun ihrerseits dieselben Gefühlserlebnisse auf sich wirken lassen könnten – so als ob ____________ 55 56
Man denke etwa an Walter Schmidingers Lesungen der Hauspostille (1982). Vgl. Ernst H. Gombrich in einem Brief an Ernst Robert Curtius vom 12.04.1948, Wuttke (1989: 177).
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wir über die Abstände von Geschichte und Kultur hinweg einen unvermittelten Zugang zum Gefühlserlebnis des Vortragenden finden könnten. Doch wird auf Empfängerseite nicht einfach reproduziert, was auf Senderseite ausgedrückt wird. Es gibt keinen geschlossenen Kommunikationskreislauf zwischen Ausdruck und Eindruck. Ein angemessenes Verstehen hängt nach Gombrich davon ab, daß wir die Ausdrucksmöglichkeiten studieren, die einem Künstler oder einer Epoche zur Verfügung stehen, gewissermaßen die Palette der Farben und Formen, mit denen gemalt wird. Dies gilt auch für den Bereich der Sprechkünste, wo jeder Sprechstil sich an überlieferten Vortragstraditionen ‚abarbeitet‘ und eine spezifische Differenz markiert57. Wie man in der Erzähltheorie zwischen dem Autor und dem Erzähler unterscheidet, so sind in der Sprechkunst-Lehre die empirische Person des Vortragenden und die Stimme des Erzählers von der Persona des Vorlesers zu unterscheiden. Diese Persona ist immer eine einzige, auch wenn sie die Gabe zur vielstimmigen Differenzierung besitzt. Mit dieser Persona kommt etwas scheinbar Authentisches ins Spiel, das So-und-nichtanders-Sein einer Stimme, die uns etwas aus ihrer spezifischen Lebenserfahrung mitzuteilen scheint58. Doch muß man sich davor hüten, diese Stimme mit der des empirischen Sprechers zu verwechseln. Sie ist vielmehr eine akustische Maske, eine bestimmte, durch Redewendungen und Worte, Tonfälle und Gesten, Ausdruck und Appell gesetzte Rollenhaltung, die vor anderen aufgebaut und durchgehalten wird, in wechselndem Abstand zur Erzählerperspektive der vorgetragenen Texte. ____________ 57 58
Vgl. Meyer-Kalkus (2001: 42-50). Wie baut sich eine solche Persona in der Sprechkunst auf? Zunächst durch das Repertoire. Ein Günther Lüders liest die heiter besinnlichen Texte, ein Erich Ponto die ironisch-ätzenden, ein Ernst Ginsberg die klassischen Balladen und schwerblütigen Gedankentexte, ein Will Quadflieg die Bildungsemphase der deutschen Klassik usw. Viele Vorleser sind auf ihren Typus festgelegt, ein Ulrich Matthes oder ein Ulrich Mühe lesen die durchproblematisierten Werther und Kleist, ein Ulrich Wildgruber die verdrehten Texte von Kafka, Beckett und Svevo. Thomas Mann tritt in seinen Vorlesungen aus Felix Krulls Bekenntnissen als sprachverliebter heiterer Fabulierer auf. Erich Drach, der Begründer der Sprechererziehung in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, hat diese, die empirische Person des Rezitators überlagernde Persona sehr genau bestimmt: Auch der Rezitator „suggeriert sich in gewissem Sinne in eine ‚Rolle‘ hinein; aber es ist nicht die Rolle der im Inhalt vorkommenden Einzelfiguren (wie auf der Bühne), noch weniger die Rolle des historischen Dichters, sondern die Rolle eines Menschen, der in irgendeiner konkreten Situation des Lebens wirklichen Hörern die Dinge mitteilen würde, die in dem Gedicht stehen.“ Drach (1926: 99).
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Reinhart Meyer-Kalkus
Goethe und Schiller haben am Beispiel des epischen „Rhapsoden“, also eines Künstlers, der „das vollkommene Vergangene“ vorträgt (im Gegensatz zum dramatischen Mimen, der sich in die Rolle verwandelt), die eigentümliche Persona des Erzählers beschrieben: dieser müsse als ein weiser Mann erscheinen, der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht; sein Vortrag wird dahin zwecken, die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er wird das Interesse egal verteilen, weil er nicht im Stande ist, einen allzu lebhaften Eindruck geschwind zu balancieren, er wird nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und wandeln, man wird ihm überall folgen, denn er hat es nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt, und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche sie aufruft. Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im Allgemeinen zu hören glaubte.59
Diese Beschreibung des Rhapsoden scheint über ihre Zeit hinaus auf die Vorlesung narrativer Texte in Radio und Audiobooks zu verweisen. Der epische Erzähler hat Autorität zu vermitteln, so als ob die Musen selber durch ihn sprächen. Vorleser wie Gert Westphal, Wolfram Berger und Bruno Ganz haben sich dieses Ideal auf je unterschiedliche Art zueigen gemacht. Neuere Sprecher wie Ulrich Mühe, Ulrich Matthes oder Christian Brückner bauen die Persona eines nachdenklich problematisierenden Sprechers auf (‚unser kritischer Zeitgenosse‘). Sie wollen gerade den Abstand zwischen dieser Rolle und dem lyrischen Ich etwa in Gedichten von Goethe und Hölderlin hörbar machen, während die älteren Rezitatoren, von Alexander Moissi über Will Quadflieg und Matthias Wiemann, den Eindruck einer unmittelbaren Verschmelzung zwischen Persona, empirischer Person und lyrischem Ich bzw. Erzählerperspektive vermittelten – so als ob sie das Gesagte selber just in diesem Augenblick empfunden und in eigene Worten gefaßt hätten. So posaunt Will Quadflieg das Liebesbekenntnis von Goethes Mailied heraus, als wäre es sein eigenes. Die älteren Normen der Rezitationskunst bis in die Mitte der 60er Jahre zielten tatsächlich auf solche Vergegenwärtigung durch unmittelbare Verkörperung bzw. Verschmelzung ab. Durch Brechts Überlegungen zum epischen Theater wie überhaupt durch den Wandel der Inszenierungsstile des postdramatischen Theaters haben Schauspieler gelernt, die Abstände ____________ 59
Goethe: Über epische und Dramatische Dichtung, in: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden: Ästhetische Schriften 1771-1805, hg. v. Friedmar Apel, Frankfurt 1998, S. 447.
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zwischen der empirischen Person des Schauspielers bzw. Vorlesers, der eigenen Sprecher-Rolle (Persona) und der vorgegebenen Rolle des Textes (sei es Figur oder Erzähler) zu respektieren, ja die Brüche zwischen diesen Stimmen als eigenes Kunstmittel zu nutzen. Um auf die Autorenlesung Uwe Johnsons zurückzukommen, so liegt die These einer Projektion der Persona des Vorlesers auf die Erzählerstimme des Textes nahe, so sehr man beide Stimmen auch analytisch auseinander halten muß. Die akustisch konzipierte Persona des Vorlesers erscheint als Modell und Muster für die Erzählerstimme. Gewiß ist diese These nicht zu beweisen, man könnte ihr sogar den Vorwurf einer Petitio principii machen, da sie nur das schlußfolgert, was sie voraussetzt. Doch scheint die Persona des Sprechenden, den wir in Lesungen von Uwe Johnson hören, nicht zu trennen zu sein von der Erzählerstimme, die uns in seinen Texten entgegentritt, jener nachdenklichen und zugleich humorvollen Stimme, die sich liebevoll in die Stimmen ihrer Figuren hineinspricht. Die Persona des Vorlesers ist ein akustisches Konstrukt zwischen dem Autor und dem Erzähler des Textes, unterschieden von beiden, doch mit beiden kommunizierend. Man kann diese Persona nie gehört haben und dennoch die Erzählerstimme zutreffend aufgrund der stummen Lektüre imaginieren. Doch wird man einen anderen Zugang zur Erzählerstimme haben, hat man die Persona des vorlesenden Autors erst einmal gehört. Wer deren Ton erinnert, wird den Text in anderer, wahrscheinlich angemessenerer Weise lesend-hörend verstehen können.
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Reinhart Meyer-Kalkus
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Personenregister
Abel, Julia 301 Aczel, Richard 3f., 10f., 21, 23ff., 54, 84, 111f., 114, 167170, 323f. Adorno, Theodor W. 357, 375 Alfes, Henrike F. 333 Allport, Alan 324 Améry, Jean 375 Amossy, Ruth 190 Andringa, Els 338f. Aristoteles 58, 60, 89, 92, 113, 123, 125, 132-35, 137, 190 Arndt, Valery 333 Arnheim, Rudolf 366 Austin, John Langshaw 88 Bachmann, Ingeborg 215, 375 Bachtin, Michail 4, 10, 21ff., 31f., 41-48, 53, 57, 63-72, 75, 77f., 172, 180, 190, 198, 209, 255, 299, 306f., 309 Bally, Charles 157, 169 Balzac, Honoré de 176 Banfield, Ann 3, 11, 16-20, 27, 84, 102, 157, 160, 162, 171, 173, 179, 337 Barr, Rebecca 325 Barthes, Roland 11, 14, 19f., 23, 63, 72, 94, 176, 246 Basseler, Michael 316f.
Bayer, Klaus 198, 213, 217 Becker, Ben 357 Beckett, Samuel 181, 350, 377 Beilfuß, Wilfried 338 Beißner, Friedrich 84 Benveniste, Émile 11, 55f., 73, 169 Berend, Alice 86 Berger, Wolfram 360, 378 Berkowitz, Diana G. 333 Bernstejn, Sergej 354f. Berrendonner, Alain 178 Bichsel, Peter 101, 116 Biebuyck, Benjamin 335 Blanchard, Marc 13 Blanchot, Maurice 171, 174ff. Bleicher, Joan Kristin 315 Bloch, Ernst 375 Blume, Peter 105, 323 Boìarov, Sergej G. 42 Böll, Heinrich 123, 125, 140, 143-49, 375 Booth, Wayne C. 10, 13, 17, 171, 173, 178f., 249 Bordwell, David 166, 169, 176f. Bourg, Tommy 338 Bracher, Hans 38 Brecht, Bertolt 376
384
Personenregister
Brenkman, John 20 Brinkmann, Rolf Dieter 360 Broch, Hermann 370 Brückner, Christian 378 Bühler, Karl 92, 103 Burke, Seán 14 Busch, Ernst 376 Bußmann, Hadumod 328 Canetti, Elias 370f., 375f. Carpenter, Patricia 325 Caruso, Domenick 333 Celan, Paul 332 Chatman, Seymour 3, 16f., 323 Cheesman, Tom 302 Christmann, Ursula 330-33 Cicero 177 Cohn, Dorrit 10, 16f., 92f., 96, 101f., 104-07, 110, 113, 116, 157, 201, 208f., 255 Connor, Steven 175 Conrad, Joseph 267, 269, 280f., 289 Cornils, Anja 111 Coste, Didier 323 Coulmas, Florian 54 Critchley, Simon 176 êudakov, Aleksandr 40-45 Culler, Jonathan 16, 107 Curtius, Ernst Robert 376 Decker, Jan-Oliver 246 Delabar, Walter 256 Denett, Daniel C. 338 Derrida, Jacques 14f., 27, 53, 57-63, 69-73, 75, 174ff., 352 Detering, Heinrich 213ff. Dijk, Teun A. van 330 Döblin, Alfred 154, 198 Dostojewskij, Fjodor M. 22f., 33, 39f., 42f.
Drach, Erich 355, 377 Drever, James 328 Eagleton, Terry 331 Echterhoff, Gerald 339 Eco, Umberto 11, 20, 249, 255, 330 Eggers, Michael 58, 60f. Ehrlich, Susan 157 Eibl, Karl 160 öjchenbaum, Boris 31, 34-43, 45f., 48 Emmott, Catherine 330, 339 Enzensberger, Hans M. 375 Epple, Angelika 92 Escher, M. C. 261 Esselborn-Krumbiegel, H. 243 Fachinger, Petra 299 Fiehler, Reinhard 356f. Finnegan, Ruth 324 Fish, Stanley 21, 178, 180, 332 Flaubert, Gustave 20, 26, 78, 156, 216, 353 Fleming, Ian 20 Fludernik, Monika 3, 12f., 17, 19, 24-27, 84, 104, 106f., 112f., 157-161, 167, 169ff., 173ff., 177ff., 184, 322, 337f. Fontane, Theodor 338 Foucault, Michel 14 Frege, Gottlob 125, 134-39 Friedmann, Ralph 255 Fröhlich, Werner D. 328 Füger, Wilhelm 196, 338 Gabriel, Gottfried 90 Gadamer, Hans-Georg 21f. Galbraith, Mary 337 Ganz, Bruno 378 Garner, Lori Ann 351 Geitner, Ursula 352
Personenregister
Genette, Gérard 1-4, 6, 10-14, 16-20, 26, 31f., 46, 48f., 5357, 71, 73, 75-80, 83ff., 90f., 93, 102, 106, 110, 112f., 123126, 130, 141ff., 148f., 151f., 161f., 165, 168ff., 197, 200, 206f., 233-37, 239f., 242, 245f., 249f., 267f., 292, 298f., 304-08, 321-24, 335, 353 Gerrig, Richard J. 333, 338 Gholamain, Mitra 338 Gibson, Andrew 3, 9, 12, 14f., 17, 22f., 26f., 165, 168f., 173f., 176, 179 Gibson, Eleanor 333 Giehse, Therese 376 Ginsberg, Ernst 377 Glück, Helmut 329 Goethe, Johann W. 146, 197f., 261, 333, 349, 351f., 357, 378 Goetsch, Paul 351 Gogol, Nikolai W. 36 Göktürk, Deniz 302 Goldman, Susan A. 339 Goldstein, Moritz 38 Gölz, Christine 45 Gombrich, Ernst H. 109, 376f. Gombrowicz, Witold 107 Gomringer, Eugen 360 Götze, Karl Heinz 140ff., 144f. Graf, Werner 333 Grass, Günter 349, 375 Greimas, Algirdas Julien 11 Grevenaus, Holger 326f. Grimm, Petra 246 Groeben, Norbert 106, 325, 332f., 338 Groner, Rudolf 325 Gross, Sabine 325, 332
385
Gruzdev, Il’ja 45 Günther, Hartmut 333 Gymnich, Marion 298, 315f. Haas, Wolf 33 Habermann, Günther 371 Halbwachs, Maurice 317 Hamburger, Käte 10, 83, 85-93, 95, 102, 105f. Hamon, Philippe 178 Hamsun, Knut 267, 269f., 272, 278, 289 Hebel, Johann Peter 301 Heidegger, Martin 176 Heißenbüttel, Helmut 360 Henninger, Rolf 357 Herman, David 9, 24, 339 Hernadi, Paul 329, 336 Hesse, Hermann 233ff., 237, 239-45, 248, 251, 257, 259-62 Heusler, Andreas 361 Hildesheimer, Wolfgang 323 Hillis Miller, J. 16 Hinnenkamp, Volker 315 Hobbs, Jerry R. 331 Hoffmann, E.T.A. 38 Hoffstaedter, Petra 332 Hölderlin, Friedrich 362, 378 Holland, Norman 21, 166, 331 Holliger, Christine 274ff. Homer 197 Horrocks, David 258 Houellebecq, Michel 165f., 174, 181f., 185ff., 190 Huber, Peter 254, 259 Hübner, Gert 208f. Huey, Edmund Burke 328 Humboldt, Wilhelm von 329 Hunt, Russel A. 332 Hutcheon, Linda 178, 180
386
Personenregister
Ibsch, Eltrud 339 Ingarden, Roman 85 Iser, Wolfgang 21 Jacoby, Nathalie 103 Jahn, Manfred 26, 157, 160, 339 Jähner, Harald 198 Jakobson, Roman 246, 366 Jakubinskij, Lev 42 James, Henry 12, 37, 156 Janik, Dieter 93, 156 Jannidis, Fotis 94, 103, 114, 154f., 249, 339 Jauss, Hans-Robert 21 Jelinek, Elfriede 195f., 198, 200, 201, 203, 213f., 216f. Jensen, Johannes V. 267, 269, 277-280, 289 Johnson, Uwe 105, 373ff., 379 Joyce, James 358f. Just, Marcel 325 Kablitz, Andreas 83 Kafka, Franz 76, 84, 96, 141, 336, 377 Kainz, Josef 357 Kania, Andrew 102, 111 Karalaschwili, Reso 245 Kaufer, David 178 Kayser, Wolfgang 373 Kearns, Michael 111, 171, 173 Keller, Gottfried 369 Keller, Ulrich 89 Kellog, Ronald T. 333 Kerbrat-Orecchioni, C. 169 Kieras, David E. 325 Kindt, Tom 48 Kintsch, Walter 330 Kirby, John T. 113 Kirsch, Sarah 303
Kleist, Heinrich von 368f., 377 Koch, Peter 311 Kolesch, Doris 60 Korthals Altes, Liesbeth 181 Koschorke, Albrecht 58, 60f. Kreuzer, Ingrid 287, 291 Kristeva, Julia 23, 57, 172, 180 Kullmann, Dorothea 157, 162 Lachmann, Renate 68-71 Lamarque, Peter 105 Landwehr, Jürgen 332 Lanser, Susan 16f., 46, 168, 171, 173, 323 Lásló, János 332 Lawrence, Mary S. 333 Lehmkuhle, Stephen 325 Leibfried, Erwin 84 Lenz, Siegfried 375 Lessing, Gotthold Ephraim 367 Levin, Harry 333 Link, Hannelore 249 Lockemann, Fritz 361, 365-69, 373 Lorck, Jean Étienne 157, 207 Lotman, Jurij 245 Lubbock, Percy 10, 37f. Lubkoll, Christine 361f. Lüders, Günther 372, 377 Ludwig, Emil 110 Ludwig, Otto 37f. Lyotard, Jean-François 13 Magill, Daniela 289 Mallarmé, Stéphane 171 Man, Paul de 74f. Mann, Christine 333 Mann, Thomas 26, 96, 159, 249, 349f., 361-64, 372, 375ff. Margolin, Uri 108
Personenregister
Martinez, Matias 49, 75, 84, 95, 110f., 153, 196, 207, 209, 211, 215f., 234f., 237, 245, 305, 308, 337 Martínez-Bonati, Félix 93, 95 Matthes, Ulrich 377f. May, Gisela 376 McHale, Brian 17 Mecklenburg, Norbert 373f. Mecocci, Micaela 257 Menke, Bettine 74ff. Mersch, Dieter 60 Meschonnic, Henri 365 Metz, Christian 11 Meutsch, Dietrich 332 Meyer-Kalkus, Reinhart 37, 350, 354f., 370, 377 Meyer-Minnemann, Klaus 268 Moissi, Alexander 357, 378 Mon, Franz 360 Morrison, Kristin 84 Mühe, Ulrich 357, 377f. Müller, Hans-Harald 48, 287, 368 Müller, Robert 267, 269, 287, 291 Musil, Robert 186, 359, 360 Nell, Victor 325, 333 Neumann, Birgit 316f. Neuwirth, Christine M. 178 Nickel-Bacon, Irmgard 106 Niefanger, Dirk 235 Nielsen, Henrik Skov 102 Nies, Martin 269, 286 Nietzsche, Friedrich 14, 258, 275, 290 Nischik, Reingard M. 207 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 353
387
Nünning, Ansgar 25, 89, 95, 101, 104, 106, 111ff., 116, 212, 308 Oatley, Keith 338 Oerter, Rolf 325 Oesterreicher, Wulf 311 Olsen, Stein Haugom 105 Oostenkamp, Herre van 339 Palmer, Alan 208 Panofsky, Erwin 371 Parham, Ruth 325 Pascal, Roy 4, 17, 78, 153, 157, 208 Pavel, Thomas 110, 113 Peer, Willie van 332f. Perlina, Nina 43f. Peuser, Günter 328 Piaget, Jean 326 Platon 61, 92, 113, 137, 206f., 259 Poe, Edgar Allan 249 Pollatsek, Alexander 328 Ponto, Erich 363, 377 Pöppel, Ernst 325, 328 Poschmann, Gerda 218 Prince, Gerald 16, 111 Prinz, Alois 241 Proust, Marcel 13, 149, 169, 359 Pugh, Kenneth 328 Puškin, Alexander 44 Quadflieg, Will 377f. Raible, Wolfgang 351 Rancière, Jacques 15f. Ratey, John R. 328 Rayner, Keith 328 Reid, James H. 145 Reif, Wolfgang 289 Renner, Karl-Nikolaus 282
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Personenregister
Ricœur, Paul 9, 92, 317 Riffaterre, Michael 106 Rilke, Rainer Maria 254 Rimmon-Kenan, Shlomith 16, 153, 202, 206 Robeck, Mildred C. 325, 332 Rossholm, Göran 103 Roth, Gerhard 328 Rousseau, Jean-Jacques 15 Roussel, Raymond 20 Ruddell, Robert P. 328 Runge, Erika 303 Ryan, Marie-Laure 103 Saenger, Paul 324 Saran, Franz 354f. Sarraute, Nathalie 181 Sartre, Jean-Paul 93 Saussure, Ferdinand de 11, 24 Scheffel, Michael 49, 75, 84, 86, 92f., 95f., 106, 110f., 153, 196, 207, 209, 211, 215f., 234f., 237, 245, 251, 298, 302, 308, 337 Schernus, Wilhelm 111 Schiller, Friedrich 261, 378 Schmid, Wolf 32ff., 43, 45f., 85, 93-96, 153, 158, 195ff., 201f., 206, 208, 210f., 298 Schmidinger, Walter 376 Schmitz, Thomas A. 67 Schneider, Ralf 339 Schönherr, Beatrix 358 Schopenhauer, Arthur 254 Schreier, Margrit 106, 330f., 333 Schwarz, Egon 241, 254 Schwitalla, Johannes 301 Searle, John R. 83, 85, 88-92 Segal, Eyal 106f.
Sievers, Eduard 354f. Singer, Wolf 328 Skalin, Lars-Åke 102 Skiba, Dirk 299-303, 309, 317 Smith, Barbara Herrnstein 89 Sollers, Philipp 314 Šor, Rozalija 38 Söring, Jürgen 261 Sperber, Dan 160, 167, 179 Spielhagen, Friedrich 156 Spitzer, Leo 15, 158 Spoehr, Kathryn 325 Stanzel, Franz K. 1, 10, 17, 25f., 76, 84, 92, 158f., 162 Steinberg, Günter 196 Steinfeld, Christoph 333f. Stevens, Wallace 165 Stifter, Adalbert 362 Storm, Theodor 338 Straub, Jürgen 298, 314ff. Striedter, Jurij 37 Suleiman, Susan 181 Sutrop, Margrit 103 Svevo, Italo 377 Thorson, Agnes 326 Tierney, Robert J. 330 Titunik, Irwin 32, 36, 46 Titzmann, Michael 256, 269, 286 Tobler, Adolph 157 Todorov, Tzvetan 11, 19, 23, 32, 161 Toolan, Michael 17 Tophoven, Elmar 350 Trefz, Marc 300 Turgenjew, Iwan 35, 43 Tuschick, Jamal 317 Tynjanov, Jurij 42
Personenregister
Uspenskij, Boris A. 202, 208, 210 Vaihinger, Hans 85, 90 Vendryès, Joseph 54ff., 73 Viehoff, Reinhold 332 Vinogradov, Viktor 35, 38-48 Vipond, Douglas 332 Vogt, Jochen 86, 153 Vološinov, Valentin 42 Vorderer, Peter 325, 338 Wahmhoff, Sibylle 326f. Wallace, Randall R. 325, 332 Walser, Robert 349 Walsh, Richard 102 Walton, Kendall 101, 103f., 107-12, 114-18 Wander, Maxie 303 Warning, Rainer 355 Watkins-Goffman, Linda 333 Weber, Dietrich 94, 301f., 336 Weidenborner, Stephen 333 Weigel, Helene 376 Weigel, Sigrid 57, 79 Weimar, Klaus 160, 322, 325, 328f. Weinrich, Harald 197 Weithase, Irmgard 352 Wellershoff, Dieter 338
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Welsch, Wolfgang 315 Werner, Oskar 357 Wertheimer, Jürgen 299 Westphal, Gert 350, 372, 375, 378 White, Ron 333 Wichmann, Klaus 326f. Wiemann, Matthias 378 Wild, Erentraud 326 Wildgruber, Ulrich 377 Wilson, Deirdre 160, 167, 179 Winko, Simone 333 Winter, Stefan 328 Wiseman, Michael 332 Wisse, Jakob 190 Wittmann, Marc 325, 328 Wrobel, Arne 333 Wünsch, Marianne 257 Wuttke, Dieter 376 Wygotski, Leo 326-29 Ydewalle, Géry d’ 325 Zaimoglu, Feridun 297, 299-05, 309, 311-17 Zipfel, Frank 84, 95, 103, 110, 113, 142ff., 323 Zumthor, Paul 350 Zwaan, Rolf A. 333 Zymner, Rüdiger 109, 339