Zyklus der Nebelreiche
Band 17
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorb...
43 downloads
959 Views
979KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Zyklus der Nebelreiche
Band 17
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorbehalten © 1986 - 1998
S
o ganz ungewöhnlich war es zu jener Zeit wohl nicht, wenn ein zwölfjähriger Knabe allein durch das Land zog. Nicht wenige Kinder dieses Alters mußten in allem für sich selbst sorgen und wie Erwachsene ihr Leben gestalten. Harkym gehörte nicht zu ihnen. Er hatte sich nur ein wenig von seiner reisenden Familie getrennt, um im schnellen Ritt das Gefühl unbändiger Freiheit zu genießen. Jetzt kniete er am Ufer eines kleinen Waldweihers und trank das samten schmeckende Wasser, dessen weiche Erfrischung ein wenig nach Erde und Moder roch. Der Weiher spiegelte sein Antlitz. Harkym fuhr mit dem Finger über die Wasseroberfläche, sah ihr kräuseln und erhob sich wieder. Er wußte, daß er nicht unbedingt ein hübscher Knabe war. Seine Nase zeigte sich ein wenig zu lang, die Brauen etwas zu buschig und die Lippen zu voll. Da die Unterlippe immer irgendwie wie vorgeschoben wirkte, erweckte er stets einen leicht trotzigen Eindruck. Sein dunkles Haar ließ sich einfach nicht bändigen. Er hatte es mit einem breiten Stoffband gebunden, doch es wollte nicht eng anliegen und umgab sein Haupt darum wie undurchdringliches Gestrüpp. Harkym zog das Band etwas fester. Er war nie sicher, ob er es lösen durfte. Nur Menschen der Macht stand es zu, in der Öffentlichkeit das Haar offen zu tragen. Die Mutter und der Vater gehörten zweifellos zu diesem Kreis. Eigentlich war es ihm egal und ohne Band würde sein Schopf ohnehin viel zu mächtig wirken. Das war nichts, worüber er nachdenken wollte. Der Knabe fand einige von reifen Beeren schwer beladene
Sträucher. Er naschte. Es gab keine Eile. Es war nicht mehr weit bis zur Burg des Herrschers und er würde sein Wort, vor dem Sinken der Abendnebel dort einzutreffen, leicht einlösen können. Jetzt, kurz vor der heißen Lichtwende, zeigten auch Nodhers Wälder reiche Fruchtbarkeit. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was ihm das Inselreich Amarra, wohin die Reise bald gehen würde, bieten konnte. Harkym freute sich auf jenes Land der Priester, das er jedes Jahr mit dem Vater aufsuchte. Dort besaß er Freunde. Sein Blick schweifte zu den hohen Nebeln hinauf. Dann bemerkte er nahe bei seinem rechten Fuß einen kleinen Vogel, der ängstlich fiepte und vergeblich mit den flaumbehafteten Flügeln schlug. "Ich geh ja schon," versprach der Knabe mit leiser Stimme. "Deine Eltern werden dich sicher versorgen, bis du fliegen kannst." Langsam wich er Schritt um Schritt zurück. Jetzt dachte er an den Vater und ein sanftes Schimmern trat in seine fast schwarzen Augen. Es gab keinen Menschen, für den der Knabe eine größere Liebe empfand. Harkym wußte genau, wie er ins Leben kam. In den Nebelreichen war es nicht unüblich, daß sich Priesterin und Priester in Trance vereinten, um auf diese Weise neuem Leben die Möglichkeit der Inkarnation zu geben, ohne karmische Bindungen zu erfüllen. So riefen die Herrscher ihre Erben, so aber wurden auch alle Tempelkinder gerufen. Sie mußten nicht zwangsläufig selbst Priester werden, doch sie erhielten von den Tempeln alle Anweisung und Hilfe, die sie sich nur wünschen konnten. Auch Harkym kam als Tempelkind. Seine Mutter befand sich auf Reisen, erreichte ihren Tempel nicht mehr. Er kam in einer ärmlichen Hütte zur Welt. Die Frau, die ihn gebar, überlebte jene Stunde nicht. Doch da kam ein Magier des Weges und nahm den Säugling zu sich, anerkannte ihn nach allem Recht als seinen Sohn und hielt ihn so.
Harkym lächelte verhalten. Dieser Magier, Tibra, war ein seltsamer Mann. Sein innerer Weg müßte ihn eigentlich allen Priestern verfeinden. Statt dessen errang er die Freundschaft hoher Eingeweihter und trug nun sogar den Titel 'Pala des Than', der ihn als innigen Freund des mächtigsten Mannes der Reiche auswies und ihm fast unbegrenzte Macht verlieh. Doch auch Nodhers Erbe Ilkonys liebte Tibra, sogar Nodhers Herrscher Ariston, der vor Jahren die Magier verfolgen ließ, schätze inzwischen diesen Mann, der sich seiner einzigen Tochter Aniela anvermählte. Tibra war immer noch Magier und ging bewußt diesen Weg. Daß er auch Pecha von Minas und damit Landesherr in Nodher wurde, bedeutete ihm nicht sehr viel. Er überließ die Macht und auch die damit verbundene Pflicht weitestgehend seiner Gemahlin. Die Mutter, und als solche betrachtete der Knabe Aniela, war wirklich eine Herrscherin, die ihr Amt liebte und mit großem Eifer versah. Der Knabe ritt schon weiter, während seine Gedanken noch immer die Familie umgaben. Er wußte sich reich und dies nicht, weil er keine materiellen Begrenzungen kannte, sondern weil er ein Leben führen durfte, das keinen Zwang und keinen äußeren Anspruch kannte. Tibra zwang seine Kinder niemals, doch er verstand es, sie so zu führen, daß sie mit großem Ernst ihre Aufgaben freiwillig wahrnahmen. Harkym mußte nicht einmal etwas lernen. Doch der Vater erweckte immer wieder seine Neugier, so daß er selbst begierig sein Wissen vermehrte. Der Knabe beherrschte die Schrift, was in den Reichen keineswegs eine Sache aller Menschen war. Er lernte es, Tuch zu machen, einfach, weil der Vater einst als Tuchmacher seinen Unterhalt verdiente. Er lernte, Möbel zu zimmern und dies nur, weil sein großer Freund Vogan Zimmermann wurde. Er verstand es, schmackhafte Speisen zu bereiten, weil ihm manches Mal nicht schmeckte, was er erhielt und der Vater ihm zeigte, wie es ging. Harkym kannte auch die geltenden Gesetze, wußte um Heil- und Zauberkräuter und lernte soeben, einen Säbel zu führen. In letzter Zeit hatte er sich
auch auffallend viel mit den Tempelregeln beschäftigt. Er kannte die Legenden, die sich um die sechs Gottheiten woben, wußte um die Weihen, die man ihnen zuordnete, erlernte viele der Tempelregeln und begriff so langsam die Unterschiede, die zwischen dem magischen und dem priesterlichen Weg lagen. Die Mutter hielt nichts von alledem. Sie liebte die Wissenschaften und schätzte ausschließlich greifbare Wirklichkeiten. Harkym suchte noch seinen eigenen Weg und er wußte, daß er sich auf der Suche befand. Es gab keine Eile, aber es konnte auch keinen Anlaß für ein Säumen geben. Der Weg gabelte sich und veränderte sich dann, wurde nun sehr breit und gut befestigt. Von hier aus ging es direkt zur Burg Nodher. Harkym zügelte sein Tier und zögerte. Ihm war, als habe er eben entferntes Weinen gehört. Er lauschte. Doch nur die vertrauten Geräusche des ihn umgebenden Waldes ließen sich vernehmen. Wieder dachte der Knabe an den Vater, der sich gern auf die eigene Intuition verließ und dadurch oft genug wider vernünftiges Denken handelte. Harkym lauschte noch. Vielleicht hatte er dieses Weinen nur gedacht, vielleicht war es wie ein Ruf in ihm selbst erstanden. Eigentlich war das auch nicht wichtig. Er würde die nächsten Tage darüber nachgrübeln, wenn er diesem Ruf nicht jetzt folgte. So zuckte er wie gleichgültig mit den Schultern, ehe er am Zügel zog und sein Tier ins lichte Unterholz lenkte. Nach geraumer Zeit vernahm er wirklich das Weinen einer Frau. Der Knabe begriff, daß nicht dieses Geräusch ihn lockte, denn dazu war es noch immer zu leise. Aber er dachte nun auch nicht weiter darüber nach, sondern glitt aus dem Sattel und ging zu Fuß weiter, dabei die gebotene Vorsicht nicht vergessend und sich in Deckung haltend. Hinter dicht belaubten Zweigen verborgen erblickte er dann einen mächtigen Meiler und nahe dabei ein kleine Hütte, vor der sich mehrere Menschen befanden. Die Frau dort kauerte am Boden und weinte verzweifelt. Neben ihr stand in gekrümm-
ter Haltung ein Mann, den man wohl geschlagen hatte. Er blutete aus der Unterlippe und von der aufgeschrammten Schläfe. Ein kaum zehnjähriger Knabe klammerte sich angstvoll an ihm fest, während zwei Bewaffnete versuchten, das Kind gewaltsam von seinem Vater zu trennen. "Beeilt euch endlich," trieb ein gut gekleideter Mann die Soldaten zu größerer Härte an. "Das wird den Kerl lehren, künftig seine Steuern zu bezahlen," stellte der Knabe an dessen Seite zufrieden fest. Harkym schob die Unterlippe weiter vor und zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er begriff, was hier geschah. Der Steuereintreiber erhielt vom Köhler nicht, was ihm zustand und so wollte er dessen Kind in Schuldhaft zwingen, wo es entweder auf seine Auslösung warten oder wie ein Sklave arbeiten mußte. Diese Härte mußte mit das Verdienst jenes Knaben sein. Harkym kannte ihn. Das war Changanar. Sie wurden im selben Jahr geboren, sie waren beide Tempelkinder. Königin Cynara brachte Changanar mit, als sie sich Nodhers Erben anvermählte. Vor dieser Ehe hatte Ilkonys der Sitte gemäß auf Amarra seinen Erben gezeugt und da er sich in Trance befand, wußte er nicht, wer die Mutter seines Erben war. Dem Alter nach konnte dies durchaus auch Changanar sein. Der einzige Mensch, der dies wirklich wußte, war der Than Seymas auf Amarra, aber niemand befragte ihn und es hatte auch niemand ein Recht dazu. Jedenfalls lebte Changanar als Prinz in Nodher und er erhob sich gern über andere. Harkym mochte ihn nicht. Als er sich selbst noch für Tibras leiblichen Sohn hielt, erklärte ihm Changanar höhnisch, daß er nur ein Findelkind war. Wenn sich Harkym in der Burg befand, ging er Changanar aus dem Weg. Sie hatten seit über zwei Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. In dieser Stunde mochte Harkym den Prinzen weniger denn je.
In Minas, wo die Eltern herrschten, gab es keine Schuldhaft mehr. Wer seine Steuern nicht bezahlen konnte, erhielt Hilfe. Wer sie freilich nicht bezahlen wollte, dem wurde sie durchaus auch aberpreßt. Aber niemals hätte der Vater geduldet, daß ein Kind so leiden mußte. Harkym wußte, daß der Vater im Königreich Thara einen großen Sklavenhandel besaß. Zwei Mal war er schon mit Tibra im Bergreich gewesen. Doch auch dort erlaubte Tibra keinen Handel mit Kindern. Er hatte in Minas sogar eine Farm gegründet, die von elternlosen Kindern bewirtschaftet wurde und ihnen so ein Heim und Auskommen bot. Der Vater liebte Kinder. Er würde das, was hier geschah, sicherlich nicht dulden. Bei diesem Gedanken gab Harkym seine Deckung auf. Langsam kam er näher, gespannt abwartend, ob Changanar ihn erkennen würde. Doch der Prinz schaute ihn nur fremd und finster an. Harkym überkreuzte artig die Arme vor der Brust und verneigte sich. "Kann ich helfen?" erkundigte er sich freundlich, dabei an Changanar vorbei auf die Köhlerfamilie schauend. "Verschwinde," fauchte der Prinz böse. Der Mann hielt zitternd seinen Sohn fest, doch die Frau sah auf und schöpfte Hoffnung. "Unser Kind," stammelte sie, "sie wollen uns unser Kind nehmen." "Ihr habt die Steuern nicht bezahlt," fuhr sie der Eintreiber an. "Wir sind arme Leute." Die Stimme der Frau gewann an Festigkeit. "Wenn der Meiler nicht wieder erlischt, können wir alles bezahlen. Wir brauchen nur etwas Zeit."
"Ihr hattet Zeit genug," behauptete Changanar hochnäsig. "Nodhers Geduld ist erschöpft." "Nodhers Großmut wohl auch," spottete Harkym verärgert. "So hoch wird die Summe nicht sein, daß das Reich deshalb verarmt." "Auf die Knie," verlangte Changanar da aufbrausend. Harkym trat einen halben Schritt zurück. Er lächelte auf seltsame Art. Daß Changanar ihn nicht erkannte, gefiel ihm irgendwie. Und er mußte nicht vor dem Prinzen knien, das hatte ihm dessen Vater Ilkonys vor Jahren versprochen. "Es sind zwei Solare," flüsterte die Frau beschämt. Harkym starrte sie sprachlos an. Zwei Solare sollten die Freiheit dieses Kindes aufwiegen? Ein guter Arbeiter verdiente das zehnfache im Monat. Natürlich war dies eine Summe, doch niemals rechtfertigte sie solche Härte. "Auf die Knie mit dir," rief Changanar voll Ungeduld. Langsam wandte Harkym den Kopf, sah ihn still an. Seine Rechte öffnete dabei den Beutel an seinem Gürtel. Harkym griff nach zwei Münzen. Sein Blick glitt zu dem Steuereintreiber. Der Mann wirkte sehr beschämt. Anscheinend gefiel ihm das eigene Tun nicht. Und die Soldaten waren längst ein paar Schritte beiseite getreten, hoffend, nicht handeln zu müssen. "Zwei Solare," sagte er endlich, dem verduzten Eintreiber die Münzen in die Hand drückend, "mit denen die Schuld dieser Leute getilgt ist." Der Köhlerjunge erstarrte fast. Die Kraft, sich von seinem Vater zu lösen, fand er nicht, doch er wandte den Kopf und schaute zu Harkym, nun etwas unsicher, aber sehr erleichtert
lächelnd. "Du bekommst es zurück, Junge," versprach der Köhler mit bebender Stimme. Für Harkym war dies nicht so wichtig. Der Vater füllte seinen Beutel und erwies sich als äußerst großzügig. Vom Sohn erwartete er lediglich vernünftiges wirtschaften und Rechenschaft über die Ausgaben. Und diese zwei Solare würde er bestimmt nicht als verschwendet betrachten. Changanar gefiel das nicht. Eben noch hatten diese Leute ihn gefürchtet und nun beachteten sie fast nur den vermeindlich fremden Knaben, der ihnen wie ein rettender Held erschien. Diese dummen Waldleute sollten nur nicht meinen, ein Prinz in Nodher dürfe so einfach übersehen werden. Er winkte die Soldaten herbei. "Dieser freche Bursche verweigert mir den Respekt. Zwingt ihn zu Boden," verlangte er. Spürbar ungern traten die beiden Männer zu Harkym. Einer legte ihm wie mahnend die Hand auf die Schulter. "Dies ist Prinz Changanar, Sohn unseres Herrschers," erklärte er dem Knaben, hoffend, Harkym werde sich nun unterwerfen. "Ja, ich weiß." Harkym hatte nicht die Absicht, den Prinzen vor Zeugen zu ärgern. Aber er wollte sich auch nicht unterwerfen vor jemandem, der noch keine Macht über ihn besaß. Mit seinen zwölf Jahren empfand er durchaus Selbstbewußtsein und Stolz. "Er weiß es!" rief Changanar empört. "Nehmt ihn mit euch und kerkert ihn ein. Für diese Beleidigung wird er
büßen." Er lief zu seinem Pferd; ritt an, ohne sich noch einmal umzuschauen. Der Steuereintreiber folgte ihm hastig. Auch die beiden Soldaten hielten sich nicht weiter auf. Einer von ihnen nahm Harkym vor sich in den Sattel. "Hab keine Furcht, Junge," sprach er beruhigend, "es wird dich niemand quälen. Du wirst dich unterwerfen müssen. Aber wenn du um Verzeihung bittest, wird es schon nicht so schlimm werden." "Ich hab keine Angst," erwiderte Harkym selbstsicher. Der Soldat hielt ihn etwas fester, doch sah er erleichtert, daß der kleine Gefangene sorglos blieb. Sie plauderten auf dem Ritt, als seien sie zum Vergnügen unterwegs.
Harkym versuchte keine Flucht. Fast frewillig ging er mit dem Soldaten den schmalen Gang entlang, der zu den kleinen Kerkern tief unter der mächtigen Burg führte. Der Mann schob ihn in einen fensterlosen, kleinen, kahlen Raum. "Ich muß die Fackel mitnehmen," erklärte er bedauernd. "Ist schon gut." Harkym nutzte die kurze Zeit der Helligkeit, um sich umzusehen. "Ulander aus Sion kommt heute noch zur Burg. Erzählt ihm doch bitte, daß ich hier bin." "Ulander?" Der Soldat wiederholte erfreut den Namen des Mannes, der vor Jahren hier Führer der Burgwache war und nun das Heer in Minas befehligte. "Kennt er dich denn?" "Na ja, ein wenig. Mein Name ist Harkym. Bitte erzählt ihm von mir." Der Soldat versprach es. Als er dann aber mit der Fackel
den Raum verließ, die schwere Tür zuschob und den starken Riegel von außen umlegte, fühlte sich Harkym doch sehr verlassen und auch ein wenig mutlos.
T
ibra, noch nicht ganz fünfzig Jahre alt, genoß die Reise. Er freute sich auf die kommende Zeit, die ein paar erholsame Tage auf Burg Nodher versprach, ehe er, wie jedes Jahr zur heißen Lichtwende, nach Silsa ritt. Auf dieser kleinen Insel nahe der Grenze zu Sion traf sich jährlich die Gilde der Magier. Er gehörte zum innersten Zirkel; niemand zweifelte an seiner magischen Macht. Die Freunde dort würden ihn willkommen heißen. Und nach diesen Tagen reiste er, ebenfalls wie jedes Jahr, auf einige Zeit nach Amarra, wo er vergnügte und angeregte Stunden mit dem Than Seymas und dessen Pala Thyrian verbrachte. In diesem Jahr begleitete ihn seine Gemahlin. Aniela, dreizehn Jahre jünger als er, wollte ihre Familie besuchen, dort ein wenig verweilen und danach zurück nach Minas reisen. Dieses Mal verzichtete sie auf den Reisewagen. Sie war eine ausgesprochen gute Reiterin und die neunjährige Tochter Antaya sowie der achtjährige Sohn Uhray hielten sich auch recht tapfer im Sattel. Nur die sechsjährige Naphara und der vierjährige Krystan schafften die Reise nicht im Sattel, doch Tibra wurde nie müde, eines seiner Kinder zu halten und Naphara ritt ohnehin am liebsten mit Bakaar, dem Gefährten des Vaters. Ein paar Bewaffnete begleiteten sie, geführt von Ulander. Dieser Mann kam gern zur Burg, wo er früher diente und wo er jetzt mit dem Prinzen Willar gern seine Zeit verbrachte. Ylmir, Ulanders Sohn, galt mit seinen vierzehn Jahren fast schon als Mann und so verhielt er sich auch, wenn er sich beständig mit der Gesellschaft der Soldaten umgab. Krystan schlief in den Armen des Vaters, der sein Pferd nun nahe neben das seiner Gemahlin trieb. Aniela sah ihn
aus leuchtenden Augen an. "Wir sollten öfter zusammen reiten," meinte sie. "Nichts dagegen." Tibra lachte leise. "Wenn sich die Fürstin von Minas öfter die Zeit dazu nehmen will, spreche ich bestimmt nicht dagegen." Aniela regierte ja Minas und sie nahm diese Aufgabe sehr ernst. Da blieb nicht viel Freizeit und die Stunden für die Familie mußte sie sich erarbeiten. Aber sie hatte es so gewollt. Sie liebte ihr Leben. Und sie liebte ihren Gemahl. "Und wenn ich, so wie jetzt, Zeit habe, dann reitest du nach Silsa und wir sind wieder nicht zusammen," spöttelte sie liebevoll. "Das kann dir doch nur recht sein," behauptete er vergnügt. "Deine Mutter mag mich ohnehin nicht und dein Vater, hhm, er mag zumindest keine Magier. Erst, wenn ich weg bin, können sie dich so richtig offen bedauern." "Sie können mich bestenfalls beneiden," erwiderte Aniela mit Blick auf das jüngste ihrer Kinder. Dann sah sie nur ihn an. "Ich liebe dich." "Ich liebe dich auch, Aniela. Sieh es mir nach, wenn ich jetzt etwas kauzig werde. Ein Ritt zur Burg deines Vaters macht mich immer etwas nervös. Vielleicht sollten wir den Kindern noch einmal erklären, wie sie den König begrüßen müssen." "Der König ist ihr Großvater!" Aniela lachte hell auf. "Ich hoffe, sie werden ihn einfach umarmen. Und du freust dich hoffentlich wenigstens auf Ilkonys." Tibra lächelte bei diesen Worten. Anielas Bruder, der Erbe des Reiches, der gleichberechtigt neben seinem Vater
herrschte, war ihm wirklich ein lieber Freund. Es gab eigentlich keinen Anlaß zu Unbehagen. Als Pecha des Reiches erwies man ihm überall Respekt und als Pala des Than durfte er sogar Gehorsam verlangen. Aber er war eben auch Magier und als solcher mit Mißtrauen beäugt. Tibra schmunzelte. Eigentlich müßte er der Priesterschaft am meisten verhaßt sein und doch begegnete ihm ausgerechnet auf Amarra niemals eine auch nur abwertende Geste. Daß sich dies nicht auf die Priesterschaft allgemein ausweiten ließ, bewies ihm allerdings stetig Mercur, der Gefährte Ilkonys'. Als Priester des fünften Grades leitete er einst Nodhers Erben auf seinem inneren Weg. Er scheute sich nie, Tibra zu zeigen, wie wenig er ihn mochte. In den Tempeln würde es wohl ähnlich gehen, doch der Magier wich den hohen Prachtbauten ohnehin aus. Eine Ausnahme war nur der schwarze Tempel in Nodher, den man Raaki, dem dunklen Gott des Todes weihte. Dort herrschte Gerrys als Falla und dieser Mann war sein Freund und eigentlich auch die Ursache seiner immer wiederkehrenden Begegnungen mit dem Priestertum. Burg Nodher kam in Sicht. In den Nebelreichen baute man die Häuser ebenerdig und flach, meist aus Holz und nur selten aus Stein. Burg Nodher wirkte wie ein Berg; mächtig, trutzig und uneinnehmbar. Wehrgänge, hohe Türme und das feste, breite Tor ließen von außen keine Gemütlichkeit erahnen. Doch hinter der breiten Mauer lagen auch ein hübscher Garten mit Weiher, ein kleiner Tempelrundbau und einige Gesindehäuser. Tibra sah sich immer wieder suchend um. "Harkym ist bestimmt schon in der Burg," vermutete Aniela, die wußte, nach wem er Ausschau hielt. "Ohne uns? Das bezweifle ich," gab er unruhig zu. "Ich hätte ihm nicht erlauben sollen, allein zu reiten." "Wenn er ein paar Tage hindurch allein durch Minas stro-
mert, bist du auch nicht unruhig. Und es ist noch früh, Tibra. Er sollte erst in den sinkenden Nebeln zur Burg kommen." "Ich schätze, er kommt so spät als irgend möglich," grinste Tibra da, der durchaus wußte, wie ungern Harkym zur Burg ritt.
S
ie hatten ihren Besuch nicht angekündet und so wurden sie auch nicht erwartet. Im Burghof kamen zwar Pagen gelaufen, um sich der Tiere und des Gepäcks anzunehmen, doch eine Begrüßung fand hier nicht statt. Aniela stand schon im Torrahmen, der ins Innere der Burg führte. Sie hielt Naphara an der Hand. "Kommst du nicht mit mir?" rief sie Tibra zu, der Krystan noch im Arm hielt und eben zu Bakaar trat. "Ich komme nach, Liebes. Begrüße du erst einmal deine Familie." Da kam sie nahe zu ihm. "Meine Familie ist bei mir," mahnte sie mit fester Stimme. Er übergab ihr den noch immer schlafenden Sohn. "Trotzdem wirst du deine Eltern zuerst ohne störenden Ehemann begrüßen," blieb Tibra fest. Er wirkte dabei aber völlig gelöst und heiter. Das Unbehagen, das er vor kurzer Zeit noch empfand, war schon geschwunden. Als er Aniela nun neckisch auf die Nasenspitze küßte, gab sie lachend nach und ging mit den Kindern voraus. Ulander wurde von einigen seiner einstigen Untergebenen begrüßt. Er sorgte selbst dafür, daß seine Männer in der Burg bewirtet wurden und Quartier erhielten. Bakaar hielt
sich nicht auf. Er suchte den Weg zum kleinen Rundtempel. Der Than befahl ihn an Tibras Seite und er mochte den Magier, aber er vermißte auch das Leben innerhalb eines Tempels und hoffte, ein wenig davon in dem kleinen Bau im Garten zu erahnen. Für ihn bedeutete die Reise nach Amarra mehr als eine Heimkehr; für ihn war sie stets wie eine geistige Erneuerung. Tibra erfrischte sich am Ziehbrunnen. Er wartete gern ein wenig, um Aniela und auch den Kindern ein wirklich unbeschwertes Wiedersehen zu ermöglichen. Und er hoffte noch, er könne den Herrschern zusammen mit Harkym begegnen. Als er dann doch die Burg betreten wollte, rief ihn Ulander an und kam dann rasch zu ihm. Der Soldat legte die Rechte auf die Brust. Fast hätte er sich verneigt. "Vergebung, Herr. Ich habe schlimme Botschaft." Und dann berichtete er mit leiser Stimme, was ihm soeben einer der Burgsoldaten erzählte.
N
icht die Dunkelheit im Kerker ängstigte den Knaben. Er fühlte sich nicht verlassen. Doch er wußte sich bedroht und konnte nur hoffen, daß der Vater rechtzeitig von seinem Schicksal erfuhr. Harkym hockte am Boden, gegen die Wand gelehnt, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen. Als er hörte, wie der Riegel zurück geschoben wurde, preßte er die Lippen fest zusamamen. So schnell konnte der Vater nicht hier sein. Sie kamen bestimmt, um ihn zu holen und zu demütigen. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, doch er sah nicht auf. Und plötzlich saß jemand neben ihm, legte den Arm um seine Schultern und hielt ihn einfach fest. Das sanfte Licht eines Flammenden Kristalles erleuchtete den Raum. Harkym regte sich nicht. Es dauerte einige Zeit, ehe er zaghaft fragte: "Bist du mir böse, Dada?"
"Ach, weißt du, Söhnchen, ich denke, es ist keine Schande, wenn man in Nodher im Kerker landet. Vor einigen Jahren erging es mir auch so." "Warst du lange eingesperrt?" "Nein, nicht sehr lange. Orales, der Pala des Königs, hat mich befreit. Bei Gelegenheit erzähle ich dir davon." "Woher wußtest du, daß ich hier bin? Hat der Soldat alles Ulander erzählt?" "Das hat er und du solltest dich bei diesem Mann bedanken." "Das mach' ich gern. Zu dir wär' er bestimmt nicht gegangen, aber er hat Ulander gekannt. Sag', werde ich vor dem Tribunal verklagt?" Tibra hielt den Sohn etwas fester, als er gestand: "Ich bin nicht ganz sicher. Ich habe bisher weder Ilkonys noch Ariston gesprochen und weiß nicht, welche Macht sie Changanar inzwischen zugestehen. Es war mir wichtig, zuerst dich zu sehen. Schaffst du es, wenn du noch ein wenig hier warten mußt?" "Kannst du das Licht hier lassen?" "Natürlich, Söhnchen. Der Riegel wird auch nicht umgelegt. Draußen sind keine Wachen. Trotzdem..." Er löste den Waffengurt und legte seinen Degen neben Harkym. "Ich denke, damit fühlst du dich bestimmt sicherer. Ich werde bald zurück sein." "Ich hab' keine Angst. Die Soldaten sind ganz nett hier. Nur Changanar mag ich nicht. Aber der kommt bestimmt nicht hier runter. Jetzt, wo ich weiß, daß du da bist, wird alles
gut." Tibra drückte den Sohn an sich, ehe er sich erhob. Wie versprochen, ließ er die Kerkertür geöffnet. Es schien niemand hier unten zu sein, denn keine der Türen war verschlossen. Trotzdem hatte er ein etwas ungutes Gefühl und entschloß sich deshalb zur Eile.
A
uch die kleine Kerkerzelle am Ende des Ganges blieb unverschlossen. Doch sie war nicht unbewohnt. Hier wartete ein Mann, dem man befahl, die Zelle nicht zu verlassen. Sein Name war Shannar. Er sah Tibra kommen und gehen und er empfand Bitterkeit. Dieser Magier war sein Vater, doch er verleugnete und übersah ihn beständig. Breite Kupferreifen zeigten sich um seine Unterarme geschmiedet, wiesen ihn als Sklaven aus. Er gehörte Ilkonys, der ihm die Freiheit nahm, als er, ein Jüngling noch, versuchte, Nodhers Erben zu töten. Das lag zwölf Jahre zurück. Seither hatte Shannar viel erlitten. Aber seit zehn Jahren sorgte Mercur für ihn und erwies ihm viel Freundlichkeit. Shannar wußte durchaus, daß dies geschah, weil Mercur Tibra so beweisen wollte, wie wenig seine Ablehnung des Sohnes richtig sein durfte. Vor langer Zeit hatte Shannar den damals zweijährigen Harkym ins Königreich Wyla entführt. Drei Jahre später unterstützte er Changanar bei seinem Bemühen, das Kind von seiner Nichtigkeit zu überzeugen. Seither verlangte Tibra, daß Shannar während jedes seiner Aufenthalte in der Burg eingekerkert zu sein habe und Ilkonys wehrte diesen Wunsch nicht ab. Mercur hatte das Nahen der Reiter bemerkt und Shannar in den Kerker befohlen, wo er nun zu warten hatte. Shannar hatte gelauscht und wußte, wer sich noch im Kerker befand. Harkym erhielt all die Zuwendung, die eigentlich ihm zustand. Dieser Knabe, so redete sich Shannar ein, raubte
ihm die Liebe des Vaters. Er wünschte seinen Tod. Vor vier Jahren hatte er Holzspäne unter Harkyms Sattel versteckt, hoffend, der Knabe werde zu Tode stürzen, wenn das Pferd durchging. Harkym verletzte sich damals nur leicht. Danach gab es keine Begegnung mehr. Aber jetzt waren sie allein; nicht einmal Zeugen befanden sich in der Nähe. Shannar schob sich aus seiner Zelle. Er wollte die Sache endlich zu Ende bringen.
T
ibra, noch immer in Reisekleidung, eilte durch die weiten Gänge der Burg. Er sah Jiddan, mit mehreren Männern ins Gespräch vertieft. Dieser Priester, genau wie Ilkonys Ende der Dreissig, stammte aus Amarra, von wo er vor sieben Jahren kam, um Nodhers Erben zu größerer priesterlicher Tiefe zu leiten. Grüßend legte der Priester, dessen Gewandung seinen Pfad nicht verriet, die Rechte vor die Brust. "Wo finde ich unseren Herrscher?" erkundigte sich Tibra ohne Gruß. "Ich kleinen Besprechungsraum, Pala," erwiderte Jiddan, verwirrt, weil der Pala des Than ihn nicht wirklich beachtete. "Danke, Jiddan." Tibra wollte schon weiter, doch der Priester hielt ihn zurück. "Wartet, Pala. Ihr solltet wissen..." "Später," wehrte Tibra ihn unterbrechend ab. "Harkym ist eingekerkert und das hat Vorrang." Er eilte weiter. Später würde er sich für seine Unhöflichkeit entschuldigen, zumal Jiddan, der ihm stets Respekt erwies, diese auch nicht verdiente. Die
Wachen vor dem Besprechungsraum schob er einfach
beiseite. Aber als er dann im Zimmer stand, wurde er doch unsicher. König Ariston und sein Sohn Ilkonys hatten hier einige Würdenträger des Reiches empfangen und blickten bei der unliebsamen Störung irritiert auf. Tibra gab sich einen inneren Ruck. Vor Zeugen galten alle Regeln des Anstandes und obwohl er Ilkonys jetzt gern umarmte, berührte er doch vor Ariston mit einem Knie den Boden, während er zugleich der Sitte gemäß die Arme kreuzte. Ariston lächelte nur. "Der Pecha von Minas ist sehr willkommen," versprach er. "Laßt euch Gasträume zuweisen und bewirten, Tibra." "Ich bitte jetzt um Gehör, Gebieter," verlangte der Magier aufsehend. "Später, Freund," mahnte Ilkonys rasch, der nie sicher war, ob der Vater dem Magier mit Nachsicht begegnen wollte. Man spürte den Unwillen der anwesenden Würdenträger, die in Tibras Verhalten eine Anmaßung sahen. Ariston blieb ungerührt. "Ist es so dringend?" erkundigte er sich gelassen, Tibra mit einem Handzeichen die Erhebung erlaubend. "Das ist es," beharrte der Magier, etwas näher zu ihm tretend. "Dann," wandte sich Ariston an die Anwesenden, "beenden wir unser Gespräch für heute." Die Männer waren damit entlassen. Es dauerte Tibra viel zu lange, bis sie sich endlich alle nach tiefer Verneigung entfernten. "Wir wußten nicht, wann du kommst," sprach Ilkonys zu dem Freund. "Aber inzwischen solltest du auch ohne gesonderte Begrüßung ein Quartier erhalten können und dich
nach der Reise umkleiden." "Beleidigt dich mein Anblick?" Tibra grinste. "Du bist doch sonst nicht so streng." Ilkonys warf einen raschen Seitenblick auf den Vater, der eben den letzten der Würdenträger entließ. Ariston trat zu ihnen. "Keine Ehrerbietung," mahnte er rasch, als sich Tibra erneut verneigen wollte. "Ihr habt unsere Besprechung gewiß nicht so nachhaltig gestört, um mir zu huldigen. Was gibt es, Tibra?" "Ich muß wissen, welche nar zugesteht."
Macht ihr inzwischen Changa-
"Das ist alles?" Ariston schien irritiert. "Der Junge ist ein Prinz in Nodher, genau wie seine Brüder Maggelan und Orrest." "Nicht mehr?" "Was soll das, Tibra?" Ilkonys wurde unwillig. "Changanar erhebt sich bestimmt nicht über dich und wenn er ansonsten manches Mal etwas herrschsüchtig wirkt, dann ist er eben genau wie sein Vater in jenem Alter." Ariston legte dem Sohn die Hand auf die Schulter und brachte ihn so zum Verstummen. "Was hat der Junge angestellt?" wollte er wissen. "Er ließ Harkym einkerkern, nachdem dieser ihm den Kniefall verweigerte," erwiderte der Magier düster. "Bei allen Göttern," rief Ilkonys da aus, "ein einfacher Kniefall ist doch wirklich keine große Sache."
"Harkym hatte dein Wort, daß Changanar dies nicht fordern darf." "Das ist sieben Jahre her. Die Kinder waren zerstritten und das sollte nun wirklich erledigt sein." "Gut, dann gilt dieses Wort nicht mehr," brummte Tibra. "Du wirst verstehen, daß ich unter diesen Umständen nur noch zu offiziellen Anlässen und ohne meine Familie in die Burg kommen werde. Erlaubst du jetzt, daß ich Harkym aus dem Kerker hole? Wir werden morgen früh die Burg verlassen." "Eine Nacht im Kerker wird ihm nicht schaden," wehrte Ilkonys aber ab. "Ich rede morgen dann mit deinem Sohn und er wird verstehen, daß auch er Mächtigere zu achten hat." "Und wie soll er das verstehen?" Ariston lächelte ein wenig belustigt. "Sein Vater ist Pala des Than, dem der mächtigste Mann der Reiche alle Rechte einräumt. Ich schätze, weder Seymas noch Thyrian erwarten einen Kniefall von Harkym. Changanar hat gewiß weit weniger Rechte als diese." "In Nodher ist er aber ein Prinz und..." "Er ist auch hier in erster Linie ein Tempelkind," beharrte Ariston, noch immer sehr ruhig. "Wenn Amarra es befiehlt, hat er in einem Tempel zu leben." Verunsichert sah Nodhers Erbe zu Tibra. Bei entsprechender Betonung war dessen Wort durchaus Amarras Befehl gleich zu setzen. Daß der Magier diese Macht so gut wie nie auslebte, ließ sie zu leicht vergessen. Tibra nickte seinem Herrscher dankbar zu. "Ich habe wohl überreagiert," gab Ilkonys da nach. "Ich
freue mich so, dich zu sehen, Tibra. Es ist übel, daß unsere Söhne sich nicht mögen, aber das sollte unsere Freundschaft nicht bedrohen dürfen. Hole deinen Sohn. Und dann werden wir versuchen, die beiden zu versöhnen."
V
om Licht des Kristalles erleuchtet wirkte der Kerker noch unfreundlicher als in der Dunkelheit. Harkym schob den Lichtstein unter seine Füße, so daß nur schwache Dämmerung herrschte. Sorglos hing er seinen Gedanken nach, bis er ein Geräusch vernahm. Rasch zog er den Kristall hervor. Im hellen Licht sah er Shannar in der Tür, den er nicht erkannte. Der Mann sprang auf ihn zu. Harkym reagierte ohne Überlegung, als er den Degen des Vaters an sich riß. Shannar sprang in die Klinge. Ein heiserer Schrei entwand sich seiner Kehle. Blut strömte aus seiner Seite. Er taumelte. Auch Harkym schrie vor Entsetzen. Er war schon aufgesprungen, hielt die Waffe in der Hand. Shannar taumelte auf ihn zu. Der Knabe wich Schritt um Schritt zurück, die Waffe erhoben, bereit, sich zu verteidigen und zugleich fürchtend, seinen Angreifer töten zu müssen. Mit einem Mal sprang ein vornehm gekleideter Mann in die Zelle. Er trat Shannar kräftig in die Seite. Der stürzte zu Boden, wo er sich in Schmerzen wand. "Schon gut, Junge." Jiddan sprach beruhigend auf Harkym ein. "Niemand bedroht dich weiter. Gib mir die Waffe." Harkym stand wie erstarrt, unfähig, den Blick vom Blut seines Gegeners zu wenden. Er zitterte ein wenig und als Jiddan ihm den Degen entwand, wehrte er sich nicht. "Er stirbt," murmelte Harkym tonlos. "Ich habe ihn getötet."
"Wir senden ihm einen Arzt," versprach der Priester, den Knaben bei der Hand nehmend und mit sich führend. Harkym ließ es geschehen. Er hörte kaum, wie Jiddan wirklich Befehl gab, einen Arzt in den Kerker zu schicken. Erst, als der Priester mit ihm den Besprechungsraum betrat, wo er den Vater sah, kam wieder Leben in ihm. Er stürzte in die Arme des Vaters, barg sein Gesicht an dessen Brust und kämpfte still mit der inneren Bestürzung. Tibra hielt ihn fest, während er, genau wie Ariston und Ilkonys, dem kurzen Bericht des Priesters lauschte. Jiddan hatte sich sehr verändert. Vor einem Jahr trug er noch die schwarze Tunika, die ihn als Raakis Priester auswies. Nun kleidete er sich wie ein Edelmann und seine Mimik und seine Sprache wirkten viel selbstbewußter als einst. "Mit eurer Erlaubnis, Herr," wandte er sich nach seinem Bericht an Tibra, "will ich euch jetzt Gasträume zuweisen und dafür sorgen, daß alles zu eurer Bequemlichkeit getan wird." Er warf Ilkonys dabei einen mahnenden Blick zu. Dann verneigte er sich vor dem Pala des Than, der nach allem Recht als sein Gebieter galt. Er wartete auf Tibras Bereitschaft, ihm zu folgen. Ariston nickte hierzu. "Gebieter," sagte da der Magier, "ich danke für euren Beistand. Aniela und die Kinder sind gewiß bei eurer Gemahlin. Sie wird sich sehr freuen, wenn sie euch sieht." Ariston empfand tiefe Freude bei diesen Worten. Zu lange sah er die Tochter nicht. Daß Tibra dieses Mal seine ganze Familie mitbrachte, gefiel ihm sehr. "Wir werden später miteinander reden," versprach er.
T
ibra folgte mit Harkym dem Priester, beachtete den Mann aber zunächst nicht weiter, sondern kümmerte sich ausschließlich um seinen Sohn, der sich den Tod Shannars anlastete und dessen Verzweiflung sich dann endlich in Weinen entlud. Der Knabe ließ sich waschen und in eine bequeme Haustunika kleiden, verweigerte aber jede Nahrung und wurde einfach nicht ruhig. Tibra bettete ihn auf das breite Lager. Er kleidete sich selbst auch um, blieb aber bei Harkym. Jiddan wartete gelassen. Ein Bote brachte endlich die Nachricht, daß Shannar seiner Wunde nicht erliegen würde. Harkym atmete auf. Jetzt weinte er vor Erleichterung und endlich fiel er auch in einen unruhigen Schlummer. Erst jetzt kam Tibra in den angrenzenden Wohnraum, wo ihm Jiddan ein reichhaltiges Mahl hatte bereiten lassen. Der Priester schenkte heißen Tee in einen Becher. Tibra musterte ihn kurz, ehe er sich setzte und seinen Hunger stillte. Jiddan stand abwartend und dienstbereit dabei. "Setzt euch endlich," forderte ihn Tibra schließlich auf. "Wenn ihr schon gehalten seid, mir Gesellschaft zu leisten, dann verhaltet euch dabei wenigstens nicht wie ein Page." Jiddan lächelte, als er dieser Aufforderung nachkam. "Ich habe keine Anweisung, bei euch zu sein," erklärte er gelassen. "Wenn ihr allein sein wollt, gehe ich." "Ihr habt euch verändert," stellte Tibra fest. "Allem Anschein nach seid ihr inzwischen etwas mehr als nur Ilkonys' Leiter und Gefährte." "Wie kommt ihr darauf?" entfuhr es Jiddan verblüfft. Tibra lachte leise auf. "Ihr benehmt euch in Aristons Gegenwart nicht mehr
wie ein Abhängiger," erklärte er grinsend. "Und die Leute hier begegnen euch bedeutend respektvoller als zum Beispiel Mercur, von dem ich bisher annahm, er stehe mit euch auf einer Rangstufe. Und wenn ihr mich in Ilkonys' Gegenwart euren Herrn nennt, tut ihr dies auf so nachdrückliche Weise, als wolltet ihr seinen Einwand abwehren." "Ihr seid Pala des Than und als solcher werdet ihr stets auch mein Gebieter sein," murmelte Jiddan, dessen Stimme jetzt etwas unsicher klang. "Ein Problem, mit dem wir leben müssen," schmunzelte Tibra, der plötzlich begriff. "Ich freue mich, daß Ilkonys die Freundschaft, die euch beide verbindet, von jeder Beschränkung befreit." Verblüfft starrte Jiddan den Magier an, von dessen Intuition er wohl schon hörte, die er aber nie wirken sah. "Ihr wißt es, Herr? Ich wollte es nicht, doch Ilkonys hat mich vor wenigen Tagen zu seinem Pala ernannt und mir damit auch weltliche Macht in Nodher verliehen. Boten zu den Pechas sind unterwegs, um das zu verkünden. Der Bote nach Minas hat euch wohl nicht mehr angetroffen." "Mercur ist wohl sehr enttäuscht, weil die Wahl nicht auf ihn fiel," vermutete Tibra grinsend. "Er ist der Bruder der Königin." "Das ist kein Verdienst." Tibra zeigte sich sehr vergnügt. "Er hat sich nie für Politik interessiert und seine menschlichen Qualitäten konnten mich auch nie überzeugen. Ihr seid mir als Pala meines Königs bedeutend lieber. In Nodher steht ihr somit über mir, Jiddan. Jetzt wird es richtig schwierig mit der Anrede. Wir können uns kaum gegenseitig als Herrn titulieren."
"Das wäre wirklich seltsam. Seid aber versichert, daß ich euch stets als Pala des Than achten werde und bemüht bin, euch und die euren in Nodher keinerlei Beschränkung zu unterwerfen." "Ihr habt schon bewiesen, wie sehr ihr das auf meine Familie ausdehnt. Ihr habt Harkym womöglich das Leben gerettet." "Euer Sohn gehört nicht in einen Kerker. Was immer diese Handlung herausforderte, sie ist gewiß auch anders zu beurteilen." Sie plauderten, bis Harkym nach etwa einer Stunde erwachte und zu ihnen kam. Der Knabe wirkte sehr scheu, aber er verneigte sich vor Jiddan und dankte ihm für seine Hilfe. Nachdem der Priester ihm nochmals versicherte, daß Shannar am Leben blieb, aß er ein wenig. "Wir sollten Ariston nicht länger warten lassen," mahnte Jiddan schließlich. Harkym wollte nicht mit ihnen gehen. Die Burg hatte ihm nie gefallen, doch jetzt fühlte er sich in ihr noch unwohler. Er sah aber ein, daß der Vater dem König begegnen mußte und allein warten wollte er auch nicht. Also kam er mit, still und angespannt.
D
ie Stunden mit Aniela und ihren Kindern erfreuten Ariston ungemein. Nun, über siebzig Jahre alt, empfand er es als gutes Gefühl, als Großvater geliebt zu werden. Seine Gemahlin Cynesta weinte fast vor Freude, weil die einzige Tochter zu Besuch kam. Viel zu selten trafen sich alle Familienmitglieder. Der große Wohnraum des Königs wirkte fast zu klein für all diese Menschen. Cynara, Ilkonys' Gemahlin und Talima, Mercurs Frau, plauderten vergnügt mit Aniela. Die Kinder spielten am Boden. Nur der kleine Krystan
saß auf Aristons Schoß und lauschte dessen Geschichten. Auch Ilkonys' Bruder Willar und Mercur weilten im Raum; sie redeten mit Orales, der sich den achtzig Jahren näherte und nicht mehr alles in seinem Umfeld wahrnahm. Als Jiddan mit Tibra und Harkym den Raum betrat, stellte Ariston Krystan auf die Beine. Er nickte Tibra nur kurz zu, ehe er sich an Harkym wandte und ihm beide Hände entgegen hielt. "Es tut mir sehr leid, daß du hier so bedroht wurdest," versprach er dem Knaben. "Kannst du deinem alten Großvater verzeihen?" Zögernd griff Harkym nach seinen Händen. "Ihr seid nicht mein Großvater," sagte er schüchtern. "Ich wünschte, ihr wäret es, Herr." "Hat dich dein Vater nicht gelehrt, daß die Dinge immer dann wahr sind, wenn man sie als wahrhaftig denkt?" "Doch, das schon. Aber es genügt nicht, wenn ich so denke, Herr." "Nun, ich denke auch so." Ariston ließ den Knaben noch nicht los. "Ich denke, das betrifft auch nur uns beide." Harkym lächelte etwas unbeholfen. Aber dann irrte sein Blick zu Changanar und verfinsterte sich. "Ich hatte ihn doch gar nicht erkannt," brummte der. "Er hat mir auch nicht gesagt, wer er ist." "Also war alles nur Ilkonys aufatmend fest.
ein
Mißverständnis,"
stellte
"Es betrifft nur uns," wiederholte Harkym Aristons Worte, dem er nun die Hände entzog. "Tibra ist mein Vater, weil
er und ich das denken und weil wir uns lieben. Aber ihr seid Nodhers Herrscher." "Und du meinst, einen König kann man nicht lieben?" forschte Ariston leicht amüsiert. "Kann man schon," erwiderte Harkym da trotzig. "Thyrian ist wie Amarras König und den hab' ich gern." "Was willst du mir sagen?" Harkym preßte die Lippen zusammen und schwieg. "Sei ohne Scheu, Harkym. Ich werde dir nichts übel nehmen." "Hat Dada immer alle Steuern bezahlt, Herr?" "Ich denke schon," erwiderte Ariston erstaunt. "Das muß er wohl, denn sonst wäre ich ja in Schuldhaft gekommen." Harkym zögerte. "Ich will, glaube ich, keinen Großvater, der Kinder einsperrt." Ilkonys und Tibra wollten nun eingreifen und Harkym an weiterem Reden hindern, doch Ariston winkte sie fast herrisch zurück. "Erzähle mir, was dich beschäftigt," bat er den Knaben, den er nun neben sich in die Polster zog. Harkym schwieg verkrampft. Erst, als sich dann auch Tibra neben ihn setzte, fühlte er sich etwas sicherer. Mit stockender Stimme berichtete er von seiner Begegnung mit Changanar, erzählte er von dem Köhlerpaar, dessen Sohn und den zwei Solaren, die über die Freiheit dieses Kindes entschieden. "Den Mann hatten sie geschlagen," berichtete er leise. "Aber ich glaube nicht, daß die Soldaten oder der Steuereintreiber grausam sind. Ich glaube, daß Changanar das so
gewollt hat," fügte er trotzig hinzu. "Aber ihr macht die Gesetze, Herr, die erlauben, daß man wegen zwei Solaren eingekerkert wird." "Die Gesetze erlauben es, aber sie verlangen es nicht," erwiderte Ariston langsam. "Abgaben müssen entrichtet werden, damit ein Reich bestehen kann." "Das verstehe ich schon, Herr. Aber wenn ein Meiler erlischt, hat ein Köhler viele Wochen hindurch vergeblich gearbeitet. Und wenn man ihm dann den Sohn nimmt, verliert er doch auch jede Hilfe, die er vielleicht braucht, um einen neuen Meiler zu hegen. Er hätte seine Schuld bestimmt beglichen." "Schuldhaft geschieht sehr selten und sie sollte nicht das Ergebnis unverschuldeter Not sein," erklärte Ariston nachdenklich. "Ich hoffe sehr, daß man das in Nodher weiß und werde es überprüfen lassen." "Das tut ihr?" Erstaunt sah Harkym den Herrscher nun ganz offen an. Da der König lächelnd nickte, schwand sein Mißtrauen. Der Großvater wollte wohl wirklich nicht, daß so etwas geschah. Ilkonys hatte das Gespräch mit Interesse verfolgt. Jiddan warf ihm einen auffordernden Blick zu. Da nahm er Changanar beiseite. "Was gibt dir das Recht, dich so über die Menschen unseres Volkes zu erheben?" hielt er dem Sohn vor, laut genug, daß die anderen alles hören konnten. "Wenn du dich wie ein Kind benimmst, wirst du auch so behandelt werden. Ab sofort gibt es für dich keine Machtbefugnisse mehr, Changanar, und das gilt solange, bis ich glauben kann, daß du weißt, was Verantwortung ist. Etwas mehr Pflichten und etwas weniger Rechte werden dir helfen, dies zu lernen."
Harkym staunte. Er hatte nicht damit gerechnet, daß jemand Changanar tadeln würde. Der Prinz zog sich bald zurück und von da an fühlte sich Harkym richtig wohl. Er spielte mit den Kindern und unterhielt sich mit den Erwachsenen, als befände er sich in gewohnter Gesellschaft.
T
ibra hielt sich, wie geplant, einige Tage auf. Oft ritt er mit Ilkonys und Jiddan übers Land. Nodhers Erbe nahm sich viel Zeit für den Gast. Die Abende verbrachten sie im großen Familienkreis. "Ich war heute bei Shannar," erzählte Harkym bei einer solchen Gelegenheit. Tibras Kopf ruckte hoch. "Du hast mit ihm geredet?" "Nein, Dada. Ich wollte nur sehen, ob er wirklich wieder ganz gesund wird. Außerdem waren Bakaar und Ulander dabei, um auf mich aufzupassen. Warum wollte er mich töten?" Angespannte Stille herrschte. Jeder der Erwachsenen im Raum kannte die Antwort. Tibra starrte ihn finster an. Schließlich gab er die Antwort, die eigentlich keiner erwartete. "Er ist dein Bruder." Harkym sah kurz zu Uhray und Krystan. Das waren Tibras und Anielas Söhne, das waren seine Brüder. "Du meinst, er ist Dimiras Sohn?" erkundigte er sich vorsichtig. Er wußte, daß der Vater, den er stets nur Dada nannte, in
seinen jungen Jahren eine Gefährtin dieses Namens besaß, die ihn mit dem zweijährigen gemeinsamen Kind verließ. Tibra nickte nur. "Erzähle mir von ihm," bat Harkym da. "Ungern," gab der Vater offen zu. "Dimira nahm ihn mit sich. Ich habe Shannar ein paar Jahre lang vergeblich gesucht. Vor zwölf Jahren erfuhr ich durch meinen Freund Farrak, daß Shannar lebt und auch, wo er sich aufhielt. Also sandte ich ihm Botschaft, daß ich kommen würde, wenn er wolle und das hat er abgelehnt." "Tut es dir weh, wenn du darüber redest?" erkundigte sich Harkym besorgt. Tibra lächelte. Nein, dieser Sohn bereitete ihm keinen Schmerz im Erzählen. Etwas offener und viel ausführlicher berichtete er nun, daß Shannar sich zu jener Zeit einem reichen Kaufmann prostituierte und hoffte, auf diese Weise Erfolg zu finden. In jenen Tagen kehrte Ilkonys als Priester aus Amarra zurück, um von nun an an der Seite seines Vaters zu herrschen. Als Gast kam er ins Haus dieses Kaufmanns, der in jener Nacht Shannars kleiner Schwester Gewalt antun wollte und deshalb von Shannar getötet wurde. Ilkonys wurde Zeuge des Vorfalles. Aus Furcht vor Entdeckung versuchte Shannar, Nodhers Erben, den er zuvor schon überwältigte und der ihm nun wehrlos ausgeliefert war, zu ermorden. Der Magier Farrak rettete den Prinzen. "Deshalb habt Ilkonys gewandt.
ihr
ihn
versklavt,"
begriff Harkym, an
"Nein, nicht deshalb," wandte Tibra ein. Er berichtete, wie er in diesen Tagen Harkym fand und wie er zögerte, den Säugling als Sohn anzuerkennen. Er
entführte Shannar aus Nodhers Gewahrsam, um im Gespräch mit ihm zu erkunden, weshalb dieser Sohn zum Mörder wurde. Irgendwie zweifelte er damals daran, ein guter Vater zu sein. Doch er fand keinen Berührungspunkt zwischen sich und Shannar. Dieser Sohn blieb ihm völlig fremd. So wandte er sich allein Harkym zu. Ilkonys hätte Shannar wegen des Mordversuches zum Tode verurteilt, doch da er nun wußte, daß dies Tibras Sohn war, urteilte er sehr gnädig und nahm ihm nur die Freiheit. "Er ist so übel nicht," nahm Prinz Willar den Sklaven in Schutz. "Er kam auf die Insel der Läuterung, wohin man die übelsten Verbrecher bringt. Keiner von euch kann sich vorstellen, was er dort erlitt." Seine Stimme bebte ein wenig bei diesen Worten, denn sie erinnerten ihn an jene Zeit, in der er selbst dort als Gefangener litt. Es war Tibra gewesen, der ihn damals dem sicheren Tod entriß. "So übel nicht?" wiederholte Tibra spöttisch. "Er geht für den geringsten Vorteil über Leichen und besitzt nicht das mindeste Ehrgefühl. Er denkt wohl," sagte er zu Harkym, "daß du ihm meine Liebe raubst. Es ist ja nicht das erste Mal, daß er dir schaden wollte." Er sprach nun auch von jenem Raub, der den kleinen Harkym nach Wyla entführte. An alles, was danach geschah, erinnerte sich Harkym durchaus selbst. "War er deshalb im Kerker?" "Ja, Söhnchen. Ich hatte verlangt, daß er stets für die Dauer deines Aufenthaltes bei verschlossener Tür und bewacht eingekerkert sei." Dabei sah er aber nur Mercur an, dem dieser Befehl ja galt. Der Priester senkte den Blick. Er begriff, so wenig
wie Ilkonys, niemals, weshalb der Magier diesen Sohn so ablehnte. In seiner Gegenwart verhielt sich Shannar wie ein treuer Gefährte. Er kannte keinen Falsch an diesem Mann. Daß er versuchte, Harkym zu töten, verstand Mercur einfach nicht, aber die Schuld daran lag seiner Ansicht nach bei Tibra allein. "Irgendwann," murmelte Harkym fast furchtsam, "wird er vielleicht meine kleinen Geschwister bedrohen." "Wie kommst du denn darauf?" Mercur reagierte ärgerlich. "Shannar sehnt sich nach der Liebe seines Vaters. Er ist kein wildes Tier, das wahllos Menschen anfällt. Eine solche Behauptung ist Lüge." "Ich habe nichts behauptet," wehrte sich Harkym selbstbewußt. "Das ist wie das Weinen im Wald, das ich hörte." Tibra wurde aufmerksam. "Es ist wie ein Gefühl - nicht wirklich da, aber trotzdem sehr nahe und Wirklichkeit." "Dann ist es wirklicher als alles Überlegen," stellte Tibra nachdenklich fest. "Und dann muß auch etwas geschehen." "Was meinst du?" erkundigte sich Ilkonys. "Er ist dein Sklave. Verkaufe ihn mir." "Ach, Tibra," wehrte Nodhers Erbe nachdrücklich ab, "du weißt doch, daß ich Shannar nie als Besitz betrachtete und daß er dir in der Stunde gehören wird, in der du ihn forderst." "Was wollt ihr mit ihm tun?" forschte Mercur feindselig. Harkym gab die Antwort: "Die Sklaven in Thara greifen niemanden an. Sie gehorchen nur und tun, was man ihnen sagt."
"Du bist von Sinnen," fuhr ihn Mercur grob an. Unwillkürlich zog Harkym den Kopf ein wenig ein. Tibra lachte leise auf. "Eine vortreffliche Idee," entschied er, den Sohn so lobend. "Ich bitte dich, Ilkonys, sende Shannar zu meinen Leuten nach Molt mit der Anweisung, ihn ins Landesinnere zu schaffen. Die hohen Berge Tharas schließen ihn hoffentlich fest genug von uns ab." "Das könnt ihr nicht tun," verlangte Mercur erbleichend. "Er ist euer Sohn, Tibra." "Da ich so nicht denke," grinste der Magier, "kann es auch nicht wahr sein." "Hört zu," rief Mercur mit beschwörender Stimme, "Shannar wird keinen der euren mehr bedrohen. Ihr habt mein Wort, daß er künftig nicht mehr..." "Euer Wort genügt mir nicht," fuhr ihn Tibra mit scharfer Stimme an. "Daß euch mein Befehl nichts gilt, kann ich verschmerzen. Aber erwartet nicht, daß ich euch traue, Priester." "Ihr betont seinen inneren Pfad," staunte Jiddan. Tibra lachte. "Manchmal gefällt es mir einfach, zu sehen, daß auch Priester nicht unbedingt Ehrenmenschen sind," meinte er vergnügt. Jiddan lächelte. "Aber die wenigsten haben wohl verlernt, dem Pala des Than Respekt zu erweisen. Mit Shannar wird geschehen, was
ihr verlangt." "Ilkonys," hoffte Mercur noch auf Beistand, "das wirst du nicht zulassen. Du mußtest nie die Liebe deines Vaters missen und das ist das einzige, was sich Shannar ersehnt: daß sein eigener Vater ihn endlich einmal eines Blickes würdigt und ihn beachtet. Du weißt doch, daß er stets, wenn Tibra nicht hier ist, ein aufrichtiger, ehrenvoller Mensch ist. Es kann nicht allein an ihm liegen, daß die Gegenwart des Magiers ihn so verwandelt." "Genug," mischte sich Jiddan da mit scharfer Stimme ein, "hütet eure Zunge. Shannar hat versucht, ein Kind zu töten. Das ist nicht zu entschuldigen." "Und," ergänzte Tibra nicht ohne Spott, "das wäre nicht geschehen, wenn Mercur meinen Befehl befolgte." "Er versprach, den Kerker nicht zu verlassen." "Da er keine Ehre hat, kann sein Wort ohnehin nichts wert sein," brummte Tibra, der das Thema beendet wissen wollte. "Er hätte sie," fauchte Mercur aber, "wenn ihr ihm die geringste Chance geben würdet, Mann." Da schnellte Jiddans Faust nach vorne und umklammerte Mercurs Handgelenk. "Ihr redet mit dem Pala des Than," warnte er leise, doch sehr nachdrücklich. "Bei dem sich der Pala des Königs wohl einschmeicheln will," murrte Mercur unwirsch, seine Hand zurück reißend. "Das hat er nicht nötig," lachte Tibra da heiter. "Genug nun! Mit Shannar geschieht, was ich will und damit ist die Sache erledigt."
"Ihr wißt ja gar nicht, was ihr ihm damit antut." "Ich weiß es sehr wohl, Mercur." Tibra trat nun ganz nahe vor ihn. "Ich kenne Thara und ich kenne seine Sklaven. Shannar hatte seine Chancen, mehr, als er verdient. Mein Entschluß ist nicht mehr zu ändern." Später, in einer ruhigen Minute, suchte Ilkonys, den Gefährten zu entschuldigen: "Mercur mag Shannar. Eine Trennung wird schwer für ihn." "Nun, Mercur tat alles, daß ich ihn nicht mag," grinste Tibra vergnügt. "Warum sollte ich also auf ihn Rücksicht nehmen und dadurch meine Familie gefährden. Ist es wichtig für dich?" "Es ist mir wichtig, daß Jiddan seinen Rang kennt." Ilkonys lächelte. "Mercur macht es ihm etwas schwer hier. Er ist eifersüchtig, was ich verstehen kann. Und da Jiddan deine Entscheidung schon voll unterstützt, wird es auch so geschehen. Ich brauche einen starken Pala." "Ich glaube, den hast du. Du hast eine gute Wahl getroffen."
E
s wurde Zeit, nach Silsa aufzubrechen. Obgleich Harkym in der Burg keine Beschränkung sah, freute er sich doch sehr auf die Abreise und scheute sich auch nicht, dies zu zeigen. Wie immer, so bot Ilkonys dem Freund ein paar Bewaffnete zum Geleit und wie stets, so lehnte Tibra auch jetzt ab. Er ritt in Begleitung Bakaars und Harkyms aus der Burg und freute sich auf ein unauffälliges Reisen. "Wir reiten um die Wette," rief Harkym ungestüm. "Wer verliert, muß für das Nachtlager sorgen." An diesem Tag war er nicht der Verlierer. Tibra trug es mit Gelassenheit. Es fiel ihm leicht, für Feuerholz und ein Mahl zu sorgen, während Bakaar sich um die Pferde kümmerte und Harkym sich einfach nur bedienen ließ. Am andern Tag traf es Harkym und auch der Knabe verstand es mühelos, alles Nötige am Abend zu finden. Er fand es herrlich, in den wehenden Nebeln der Nacht, welche den Reichen alle notwendige Feuchtigkeit brachten, auf einer Decke zu lagern, dem Knistern des Feuers zu lauschen und sich mit dem Vater und dessen Gefährten zu unterhalten. Unbekannte Geräusche schreckten ihn nicht, aber er ließ sie sich voll Wißbegierde erklären. Später schlief er im Arm des Vaters ein, wo er sich geborgen und sicher wußte.
S
mink besaß zwar einen Hafen, verdiente aber nicht den Namen Hafenstadt. Es führte keine der Handelsstraßen in jene kleine Siedlung, in welcher die Menschen in erster Linie von der Landwirtschaft lebten. An den
Anblick des weißen Seglers, der jedes Jahr zur Lichtwende hier auftauchte, hatte man sich inzwischen gewöhnt. Die Leute dort kamen nicht an Land. Sie warteten auf drei Reiter, nahmen sie an Bord und segelten davon. Ein junger Mann lebte hier mit seiner kleinen Familie, für den der Segler aber stets ein gutes Zeichen war. Denn wenn er kam, kamen auch die Reiter, die ihm ihre Pferde übergaben. Er durfte sich viel Zeit lassen, doch er hatte sie zum Oberlauf des Riatha zu bringen und dort in einem Stall abzugeben. Für diese Arbeit wurde er gut belohnt und Tibra erlaubte diese eingespielte Lösung, nach dem Magiertreffen direkt nach Amarra zu reisen und dann auf dem Rückweg am Riatha seine Tiere wartend zu finden. Es ersparte ihm einen gewaltigen Umweg, da er gute Reittiere nur ungern verkaufen wollte. An Bord des Seglers gab es ein fröhliches Wiedersehen. Sasaran befehligte die Mannschaft, eine Tatsache, über die sich Bakaar und Tibra gleichermaßen freuten, da sie beide diesen Priester seit Jahren schätzten. Auch andere waren hier, die ihnen schon vertraut wurden. Sogar Harkym kannte und mochte einige der Männer hier, zumal sie ihm erlaubten, ihnen wie ein Seemann zu helfen. Sie segelten Richtung Sion, bis sie die hohen tardischen Berge deutlich aufragen sahen. Es war nicht mehr weit bis Silsa; die Insel konnte im Meer erkannt werden. Die Stimmung an Bord war so gelöst und freudig, daß Tibra es gar nicht eilig hatte, diese kleine Insel, die ihm Seymas vor vielen Jahren schenkte, zu erreichen. Bis zur Lichtwende dauerte es ohnehin noch drei Tage und die Leute seiner Gilde pflegten, von Ausnahmen abgesehen, erst am Festtag einzutreffen. Er selbst zog es meist vor, einen Tag früher da zu sein, doch zur Eile gab es wirklich keinen Grund. Harkym ließ sich, wie immer, viel über das Magiertreffen erzählen. Tibras Antworten wurden von Jahr zu Jahr ausführlicher. Er spürte auch, daß es für den Sohn immer wichtiger wurde, zu verstehen.
"Ich möchte Silsa sehen," bat der Knabe am Ende eines solchen Gespräches. "Na schön. Es ist noch Zeit. Wir können das Beiboot nehmen und hinrudern. Aber nur für einen Tag, Söhnchen." Harkym schüttelte langsam den Kopf. "Ich glaube, ich muß es allein tun, Dada." "Was willst du dort finden? Es ist nur eine winzig kleine Insel, Harkym." "Du sagst, Silsa ist ein Ort der Kraft, genau wie jene Orte, auf denen die großen Haupttempel gebaut sind. Spürt man das nicht?" "Manche Leute tun es; die meisten sind dazu wohl nicht in der Lage. Es ist auch nicht wie in einem Tempel. Dort wirken die Rituale der Priester, deren Schwingungen nie verebben. Auf Silsa ist es die pure Kraft, die wirkt." "Ich will wissen, ob ich es spüre, Dada." Harkym war nun sehr ernst geworden. "Ich will wissen, wie es ist. Ich kenne ja Raakis Tempel. Aber ich habe keinen Vergleich. Verstehst du das?" Zärtlich umfaßte Tibra die Hand des Sohnes. "Du mußt dich nicht jetzt schon für einen Weg entscheiden," mahnte er sanft. "Genau genommen, mußt du dich überhaupt nicht entscheiden, Harkym. Du hast keinen Anlaß, zwischen den beiden Pfaden der Priesterschaft und der Magie zu wählen. Lebe dein Leben, Sohn. Tue immer nur, was in dir ist und was aus dir heraus will. Richtiger kann man es nicht machen." Sie
saßen
nebeneinander auf den Holzplanken. Harkym
kuschelte sich nun an den Vater. Er sagte nichts weiter dazu, doch gerade sein schweigendes Nachsinnen überzeugte Tibra von der Dringlichkeit seines Wunsches. Am andern Morgen erlaubte er dem Sohn, allein nach Silsa zu rudern. "Ich nehme an, es ist noch niemand dort," erklärte er. "Wenn sich aber schon Magier auf Silsa aufhalten, und sei es auch nur einer, dann wirst du die Insel sofort wieder verlassen. Sie dulden zur Lichtwende keine Gäste, verstehst du?" Wenig später stand er an der Reeling und schaute, genau wie ein Großteil der Priester, dem sich entfernenden Knaben nach.
D
er Mann hatte eine weite Reise hinter sich. Er kam aus dem Königreich Sarai, wo er im Landesinneren ein prachtvolles Gestüt besaß. In Sarai kannte man den Wert edler Pferde; nirgendwo wurden sie feuriger gezüchtet. Seine fein gearbeitete Kleidung wies ihn als wohlhabend aus. Bransyl kannte wirklich keine Not. Und Silsa, nun, das war für ihn so etwas wie ein Höhepunkt im Jahr. Er hoffte, Freunde zu treffen. Daß zur Lichtwende wirkliche Kraft spürbar wurde, bedeutete ihm weniger. Er war nun Anfang der Fünfzig und gehörte seit vielen Jahren zum innersten Zirkel der Gilde. Er war einer von jenen, welche diese Kraft riefen und auch beherrschten. Bransyl hatte die Insel erkundet, befriedigt festgestellt, daß sich kein Fremder auf ihr befand und begonnen, Holz für das große Lichtwendfeuer aufzuschichten. Er übernachtete inmitten des großen Steinkreises auf der Insel, der den freien Platz hier umschloß. Am Morgen spazierte er zum Ufer. Sein Blick glitt über das Meer. Ihm entging der weiße Segler nicht, der nahe an Nodhers Küste ankerte. Bransyl lächelte. Es war gut, zu wissen, daß auch Tibra kommen wollte. Der innerste Zirkel würde komplett versammelt
sein. Das versprach eine gewaltige Krafterfahrung. Dann sah er das nahende Ruderboot. Das gefiel ihm nicht. Vor der Lichtwende war es Magiern nicht erlaubt, auf der Insel zu sein, sofern sie nicht zum innersten Zirkel gehörten. Also nahte dort, wenn es nicht Tibra war, ein Fremder. Das mochte ein neugieriger Bürger sein, den er leicht vertreiben konnte. Oder ein Neuling auf dem magischen Pfad, der die Regeln noch nicht kannte. Aber auch den würde er jetzt noch nicht auf Silsa dulden. Er wartete.
Sorgsam befestigte Harkym die Halteleine seines Bootes an einer vom Wasser ausgeschwemmten Baumwurzel, ehe er geschickt die Böschung hinauf kletterte. So dichtes Unterholz hatte er nicht erwartet. Ganz winzig zeigte sich die Insel nicht. Zu Fuß durchmaß man sie in etwa drei Stunden, wobei ein rasches Gehen wegen der fehlende Pfade nicht möglich war. Vom Vater wußte der Knabe, daß der alte Baumbestand und das dichte Buschwerk in der Mitte der Insel wie abgeschnitten einem freien Platz Raum gaben, den ein gewaltiger Steinkreis säumte, von dem niemand mehr wußte, wer ihn in der alten Zeit wohl errichtete. Dorthin wollte er gehen, gespannt darauf, was sich auf Silsa an Kraft und Macht erfühlen ließ. Hier gab es keine gefährlichen Tiere. Unzählige Vogelarten ließen ihr Lied vernehmen, hie und da huschte ein kleiner Nager durchs Unterholz oder verbarg sich eine mittelgroße Schlange vor dem Kind. Bunte Insekten und fette Raupen erregten Harkyms Aufmerksamkeit. Er kam nur langsam vorwärts. Dann aber lichtete sich das Unterholz. Hier wirkte der Wald sehr freundlich und einladend. Schließlich erreichte er einen der hohen Steine. Nachdenklich fuhr er mit der Hand über den rauhen Stein. Der freie Platz war viel größer, als er es sich vorstellte. In der Mitte lag abgestorbenes Holz. Dort also würde das Lichtwendfeuer brennen. Harkym trat ein paar wenige Schritte nach vorne.
Irgend etwas war anders als zuvor. Die Vögel verstummten und das sanfte Rauschen der Blätterkronen schien reglos zu verharren. Harkym stand still. Das bisher feste Erdreich zu seinen Füßen machte einen fast lebendigen Eindruck. Obwohl es sicheren Grund versprach, spürte der Knabe doch genau, daß es gefährlich und verschlingend wie Moras' Sumpflöcher auf ihn lauerte. Langsam sah er ringsum. In kaum merklicher Bewegung umwog ihn die Erde. Ein sicherer Pfad war nicht mehr zu sehen. Für einen Moment empfand Harkym fast panische Angst. Hinter riesigen Lattichblättern verborgen stand Bransyl und beobachtete grinsend das Kind, dessen aufflammende Angst er deutlich spürte. In Kürze würde der vorwitzige Kleine schreiend von Silsa fliehen und so bald nicht wieder die Insel aufsuchen. Eben wollte er sich auf die gierige Erde ausrichten, als er dann doch innehielt. Harkym legte ich einer fast behutsamen Geste seine Fingerspitzen aneinander. Der Vater nannte dies das Schließen des inneren Kraftkreises, das klareres Denken versprach. Die Angst wich. Gäbe es auf Silsa irgendwelche gefährlichen Orte, so hätte Tibra sie sicher erwähnt. Aber Magier durften noch nicht hier sein. Harkym überlegte. Für die Leute des innersten Zirkels galt kein Verbot. Auch der Vater gehörte dazu. Wenn jemand hier war, dessen magische Macht jener des Vaters glich, so konnte der gewiß diese Täuschung bewirken. Harkym atmete tief durch. Der Vater war kein Illusionist. Was er rief, das besaß wirkliche Kraft. Aber er bewirkte nichts, nur, um sinnlos anderen Menschen zu schaden. Seine Freunde würden das sicher auch nicht tun. Andererseits war es ihm wie auch den Geschwistern und sogar Aniela verboten, das Studierzimmer des Vaters zu betreten. Die unvorbereitete Begegnung mit magischen Kräften konnte töten. Und das konnte dieses seltsame Erdreich bestimmt auch tun. Da setzte sich der Knabe mit untergeschlagenen Beinen nieder, weiterhin die Fingerspitzen gegeneinander gerichtet und sehr gefaßt wirkend. Bransyl staunte. Damit hatte er
wirklich nicht gerechnet. Langsam ließ er die schwach wabernde Masse näher an den Knaben heran gleiten. Für einen Moment schloß Harkym die Augen. Er seufzte ganz leise, ehe er mit deutlicher, aber nicht sehr lauter Stimme redete: "Ich bitte für mein Hiersein um Vergebung, Bransyl. Mit eurer Erlaubnis werde ich Silsa sofort verlassen." Für einen Moment geschah gar nichts. Harkym fürchtete schon, er habe sich im Verursacher des Geschehens geirrt, doch da bemerkte er, daß sich das Erdreich fest und friedlich zeigte, wie es seiner Natur entsprach. Langsam wand er den Kopf. Am Rand des Unterholzes stand mit verschränkten Armen ein großer Mann Anfang der Fünfzig. Artig drehte sich Harkym auf die Knie. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß diese Geste demütigend wirken könnte. Ein großer Magier war für ihn so mächtig wie ein König; ihm stand ein solcher Gruß durchaus zu. Bransyl lächelte wider Willen. "Wie hast du mich genannt, Kind?" "Es gibt nur einen Meister der Erde, der jetzt schon auf Silsa weilen darf," erwiderte Harkym mit erhobenem Haupt. "Mein Vater Tibra hat sehr gehofft, euch hier zu treffen." "Tibra, hhm?" Bransyl kam langsam näher. "Du also bist der Sohn der Tempel, der zugleich der Sohn eines Magiers ist. Steh auf, Harkym. Ich bedrohe dich nicht mehr." Er winkte dem Knaben zu und richtete dann seinen Schritt an eine entfernte Stelle am Rand des Steinkreises, wo er sein Bündel aufbewahrte. Mit ruhigen Bewegungen entfachte Bransyl ein vorbereitetes Feuer, warf ein paar angenehm duftende Kräuter in die Flammen und legte dann dicke Scheiben eines Pilzhutes hinein, die rasch mit aromatischem Geruch brieten. Geschickt angelte er ein Stück davon
und schob es Harkym zu. "Iß, Junge," lud er den Knaben ein, während er zugleich auf seinen Wasserschlauch deutete, damit Harkym auch trinken konnte. "Und dann erzähle mir, was du auf Silsa willst." "Ich habe mir gewünscht, die Insel zu sehen," erklärte der Junge aufrichtig. "Ich weiß, daß sie ein Ort der Kraft ist und ich habe gehofft, ich könnte diese Kraft spüren." "Spüren? Wie den Wind oder den Nebel?" Bransyl lachte leise. "Du weißt noch nicht, was Kraft ist, Kleiner." Harkym lächelte unsicher. "Ich werde es nie wissen, wenn ich der Begegnung ausweiche, Herr. Ich kenne Raakis Tempel. Manchmal erlaubt mir Gerrys, eine der heiligen Hallen zu betreten. Natürlich finden dann keine Rituale statt. Aber dort spüre ich etwas." "Und was spürst du?" "Das kann ich nicht beschreiben," gab der Junge nach kurzer Überlegung zu. "Es ist wie ein Ahnen von etwas, das größer ist als alles, das ich kenne. Ich möchte es aber kennenlernen." "Und warum bist du dann hier?" erkundigte sich der Magier mit sehr sanfter Stimme. Harkym grübelte. Es war gar nicht so einfach, einem Erwachsenen die Dinge so zu erklären, daß sie verständlich wurden. Schließlich meinte er: "Silsa ist wie der Tempel der Magier. Vielleicht ist hier das, was ich finden muß. Ich suche noch nach einem Weg, Herr. Und ich will nichts falsch machen."
"Wärest du nicht Tibras Sohn," gab Bransyl da gutmütig zu, "würde ich dich jetzt verprügeln und von der Insel jagen. Silsa ist kein Tempel, gleichwohl aber ein Ort der Kraft. Man hat die Tempel auf solche Orte gebaut, aber du kannst sie auch dort finden, wo besonders edle Bäume wachsen oder sehr reine Quellen sprudeln. Es gibt viele Orte der Kraft, überall." Harkym erhob sich. "Ich werde es bedenken," versprach er. "Und es ist nicht nötig, daß ihr mir droht. Ich habe Vater versprochen, die Insel zu verlassen, wenn jemand auf ihr weilt. Eure freundliche Einladung ließ mich verweilen. Ich bitte um Verzeihung." Er verneigte sich steif, wandte sich dann um und überquerte den freien Platz, um zurück zum Ufer zu gehen. Bransyl lachte leise auf. "Du bist stolz," rief er dem Knaben nach, "und ziemlich leicht eingeschnappt." Harkym verhielt den Schritt. "Außerdem denkst du bereits wie ein Priester, Junge." Der Magier ging zu dem Knaben, legte ihm mit festem Griff die Hand auf die Schulter und fuhr fort: "Du suchst die Kraft an Orten, suchst sie außerhalb von dir. Genau das tun die Priester - eine äußere Kraft suchen, der sie sich ausliefern und gleich gestalten können." Bransyl stieß einen fast verächtlichen Laut aus, ehe er weiter sprach: "Magische Kraft liegt nie außerhalb. Wenn du sie besitzen willst, mußt du sie in dir selbst erwecken und dann bist du es, der jede äußere Kraft der eigenen angleicht, der sie beherrscht, bezwingt und lenkt. Wenn du ein Priester bist in deinem Geist, dann findest du wahre Kraft nur in den Göttern. Bist du ein Magier, kannst du sie nur in dir selbst finden." Er ließ den Jungen los, musterte ihn eingehend.
"Silsa kann dir trotzdem eine Antwort auf deine Fragen geben, Harkym. Da dies ein Ort der Kraft ist, gibt es auch ein Zentrum der Kraft. Suche es." Zögernd sah Harkym zu dem großen Mann auf. "Ihr schickt mich nicht fort?" "Du mußt gehen, ehe die Nebel sinken," erwiderte Bransyl freundlich. "Nutze die Stunden, um Silsa zu erkunden. Gegen Abend komme zu mir. Ich werde hier sein und auf dich warten."
H
arkym bedankte sich artig. Dann ging er in nachdenklichem Sinnen langsam über den freien Platz, suchte die großen Steine an dessen Rand auf, drang in den Wald ein und durchstreifte das Unterholz. Oft hielt er inne, lauschend, zögernd, fragend. Silsa war sehr schön, wie er fand. Da sich nur einmal im Jahr Menschen hier aufhielten, zeigten sich die Tiere ohne Scheu und der Bewuchs sehr ursprünglich. Es gab große, starke Bäume und ebenso vom Sturm gefälltes Holz, auf dem mächtige Pilze wuchsen, die ihren Untergrund langsam zersetzten. Harkym fand erstaunlich viele Gift- und Zauberpflanzen. Unglaublich dichtes Moos gab ihm das Gefühl, auf dickem Teppich zu gehen, wie es nur in einem Palast wirklich geschah. Zwischen mannshohem Farn fand er ein Spinnennetz von vollkommener Kreisform. Vergeblich versuchte er, die Erbauerin zu entdecken. Erst, als ein Falter in das Netz flatterte und dort an den Fangfäden hilflos zappelnd um sein Leben rang, huschte die Spinne unter einem Blatt nahe des Bodens hervor, um ihre Beute zu betäuben und dann einzuspinnen. Harkym staunte. Er hatte nicht erwartet, ein handtellergroßes Tier von fast hellblauer Farbe zu sehen. Diese Art kannte er nicht. Die Bewegungen des Falters erstarben unter dem ersten Biß. Der Knabe wich etwas zurück.
Diese Spinne schein sehr giftig zu sein. Dann lächelte er, denn ihm fiel die Zeichnung auf dem Rücken des Tieres auf, die man mit etwas Phantasie durchaus als Siebenstern, Amarras Zeichen, werten konnte. Entweder war der Falter zu schwer für das Netz oder die Spinne benahm sich ungeschickt, jedenfalls fiel die Beute zu Boden. Gespannt beobachtete Harkym, wie jetzt eine recht kleine Jagdspinne angestürmt kam, um das unverhoffte Futter zu bergen. Die Netzspinne seilte sich ab. Für einen Moment sah es nach einem sehr ungleichen Kampf aus, denn die Jagdspinne besaß kaum ein Drittel der Größe ihrer Gegnerin. Aus unerfindlichen Gründen jedoch verzichtete die Netzspinne auf ihre Beute. Sie kletterte zurück ins Netz, flickte die schadhafte Stelle aus und verberg sich dann wieder auf der Unterseite eines Farnblattes. Längst hatte die Jagdspinne ihre Beute in Sicherheit gebracht. Harkym ging weiter. Er mußte die wenigen Stunden nutzen, die ihm hier vergönnt waren. Auf einer Lichtung, von Schachtelhalm überwachsen, der fast seine Größe erreichte, sah er zwischen dem Moos Wasser hervorsickern. Harkym trank. Auf Silsa gab es keine starken Quellen. Die Menschen brachten mit, was sie für die Dauer ihres Aufenthaltes benötigten. Das kleine Rinnsal konnte auch kaum viele Menschen erfrischen. Aber es brachte Süßwasser den kleinen Tieren und es mundete dem Knaben, der das Gefühl hatte, den Geruch von frisch aufgebrochener Erde und vermoderndem Holz zu verspüren. Dieses Wasser schmeckte sehr weich. Es war seltsam. Harkym hatte nicht das Gefühl, daß es seinen Magen erreichte, eher, als verbände es sich sofort mit seinem Blut und stärke ihn darin. Er erreichte das Ufer. In der Ferne sah er das Königreich Khyon aus den Wellen aufragen. Zu seiner Linken kletterte eine Maus den Stengel einer großen Blüte hinauf, um dort zum Nektar zu gelangen. Er lachte leise, weil die Bewegungen des Tieres zu drollig aussahen. Hoch über ihm
zogen Seevögel ihre Bahn und dicht vor ihm schnellten kleine, silberne Fische aus dem Wasser, um tief fliegende Insekten zu erhaschen. Silsa barg sehr viel Frieden. Während er zurück ging, zog er Vergleiche. Manchmal, wenn er allein Amarra durchstreifte, empfand er ebenso wie an diesem Tag. Auch dort hatte er das Gefühl der Ganzheit, des Heilseins. Aber auch in Minas gab es unweit des Pechasitzes einen kleinen, lichten Wald, in dem er sich so wohl fühlte. Und manchmal glaubte er in Raakis Tempel genau dies zu empfinden. Es gab also Orte, die riefen in ihm diesen Zustand der Harmonie hervor. Doch es waren verschiedene Orte; nur er blieb der Gleiche. Also mußten sie ein Echo seines Geistes sein. Er dachte an das Rinnsal, aus dem er trank. Es verbündete sich sofort mit ihm. Das hatte er zuvor nie erlebt. Bransyl lagerte am Fuß eines der Steine. Er öffnete nicht einmal die Augen, als Harkym sich neben ihn setzte. "Hast du gefunden, was du suchtest?" erkundigte er sich leise. "Ich fand das Zentrum der Kraft," behauptete Harkym, "aber ich fand nicht die Antwort auf meine Fragen." Da Bransyl schwieg, fuhr er fort: "Ich dachte immer, ein Zentrum müsse in der Mitte liegen und dann wäre das auf Silsa hier, wo nichts wächst. Aber da ist ein kleines Rinnsal, dessen Wasser sich seltsam anfühlt. Ich glaube, dort ruht die Kraft der Insel - und ihr Geist, falls sie einen hat." "Alles hat einen Geist." "Das sagt Dada auch immer." Harkym lächelte unbeholfen. "Silsa ist sehr schön. Es ist..." Er suchte nach Worten. "Es ist viel Harmonie hier." "Mehr hast du nicht gefunden?"
"Nein, Herr," gab der Knabe etwas traurig zu. Erst jetzt richtete sich Bransyl auf. Forschend betrachtete er den Knaben. "Du solltest zufrieden sein," schlug er dann vor. "Du hast den Geist der Insel berührt und ihn sogar erkannt. Das ist bisher nur wenigen gelungen. Die meisten trinken das Wasser, ohne sich ihm zu verbünden. Und so erfahren sie nie etwas von seiner wirklichen Macht. Du sprichst von Harmonie, Junge. Aber das bedeutet auch ein aufeinander abstimmen und ein angleichen.Vielleicht bist du wirklich fähig, diese Kraft zu leben." "Aber es ist dieselbe Harmonie, die ich auf Amarra, in Minas und im Tempel finde." "Ein gutes Zeichen," behauptete Bransyl mit leichtem Erstaunen. "Wenn du überall finden kannst, was in dir ist, dann steht dir auch jeder Weg offen. Dann entscheidet keine Bestimmung und keine Notwendigkeit, sondern allein dein eigener Wille." "Ihr meint, ich finde auf jedem Pfad Erfüllung?" "So ungefähr." Bransyl lächelte. "Dann," entschied Harkym in diesem Moment voll Selbstbewußtsein, "dann will ich ein Magier wie mein Vater werden. Ich danke euch, Herr. Ihr habt mir sehr geholfen." "Ich bringe dich zu deinem Boot," beschloß der Magier, ohne auf die Worte des Jungen einzugehen. "Wo seid ihr an Bord des Seglers gegangen?"
"In Smink, Herr." "Ist noch jemand mit auf dem Schiff?" erkundigte sich Bransyl im Gehen. "Bakaar ist bei uns," erzählte Harkym offen. "Sonst sind nur Leute aus Amarra da. Einige kenne ich von früher." "Keine Fremden?" Harkym schüttelte den Kopf. Er fand diese Fragen merkwürdig, aber Bransyl erklärte sich nicht und er wollte nicht unhöflich nachforschen.
T
ibra hörte dem Bericht des Sohnes zu, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Ein wenig wunderte er sich darüber, daß Bransyl den Jungen auf Silsa duldete. Als er aber von den Fragen des Magiers während des Rückwegs erfuhr, nickte er verstehend. Zunächt aber galt es, die Neugier des Sohnes zu stillen. Harkym wollte so vieles wissen, um diesen Tag richtig einordnen zu können. Tibra ging auf alles ein. Er kannte sogar die hellblaue Spinne, deren Gift fast so stark wie jener der Onik-Viper wirkte. Man nannte sie die Monara-Spinne. In den Reichen sah man oft ihr großes Netz, selten aber dessen Erbauerin. Alle Tiere und Pflanzen, die Harkym beschrieb, konnte er einordnen und dem Sohn erklären. Am andern Tag sahen sie ein Luggersegel, das sich Silsa näherte. Der innerste Zirkel fand sich ungewöhnlich früh in diesem Jahr auf der Insel ein. Für Tibra gab es kein Halten mehr. Die wenigen Tage, die er mit ihm ebenbürtigen Magiern verbringen konnte, wollte er nutzen. Er winkte Sasaran herbei. "Ihr müßt ohnehin einige Tage auf mich warten," erklärte er fröhlich. "Segelt zurück nach Smink. Ich wette,
dort ist jemand, der sich nichts mehr wünscht, als an Bord kommen zu dürfen." "Ein Priester, Pala?" "Ein hoher Eingeweihter Magier grinsend.
des
Lichts,"
bestätigte
der
"Und wie finde ich ihn?" "Am einfachsten wohl, wenn du bei der Herberge nachschaust, welchem Gast das edelste der Pferde dort gehört. Xurestar stammt aus Sarai. Ich bin sicher, sein Pferd erregt mehr Aufsehen als sein Reiter." "Ist er gerufen, Herr?" Tibra lachte leise auf. Daß eine Reise nach Amarra nur jenen Priestern erlaubt wurde, die von dort gerufen waren, verstand er so wenig wie die Tatsache, daß nur Priester jenes Land betreten durften. Aber immerhin war er Pala des Than und hatte das Recht, in dessen Namen zu sprechen. Er konnte durchaus der Rufer sein. "Solange ich auf Silsa bin, ist er jedenfalls ein gern gesehener Gast auf diesem Segler," wich er trotzdem einer klaren Antwort aus. "Es geschieht alles, wie ihr es wünscht," versicherte Sasaran da eilig, der schon bedauerte, gefragt zu haben. "Es wird nur schwer sein, euren Sohn am Landgang zu hindern, Herr." "Es wird unmöglich sein," grinste Tibra. "Laßt ihm den Spaß, diesen Priester zu suchen. Es tut ihm gut, wenn er seine Intuition üben und seine Beobachtungsgabe schärfen kann."
H
arkym wehrte sich zunächst, als die Priester Segel setzten. Er wollte nicht allein nach Amarra und fürchtete schon, die Männer würden nicht auf Tibra warten. Erst, als ihm sowohl Bakaar als auch Sasaran versprachen, sehr schnell wieder hier zu sein, beruhigte er sich. Und als er dann ganz allein in Smink an Land gehen durfte, um jenen Gast zu suchen, von dem der Vater sprach, da fühlte er sich sehr erwachsen und unglaublich stolz. Daß er die auf Amarra und somit auch auf dessen Segler übliche braune Tunika trug und nicht mehr die gewohnte Reisekleidung, störte ihn nicht. Er empfand es auch nicht als beschämend, daß sie nur knielang blieb, obwohl dies die Kleidung der Kinder war. Es war nicht schwer, jenes Pferd zu finden, das jederman in Smink über die Maßen lobte. Der feurige Schecke hielt sich nicht im Stall. Er wollte Bewegung und so gab ihn der Wirt der Herberge auf die kleine Koppel hinter seinem Haus. Lange bestaunte Harkym das Tier. Er war nicht sicher, ob er es wagen würde, auf den Schecken zu steigen; nicht einmal dann, wenn dessen Besitzer es erlaubte. Man mußte ein besonders guter Reiter sein, um sich da im Sattel halten zu können. Ein Mann in fester Reisekleidung trat neben Harkym. Der Schecke hielt inne. Dann kam er herbei, als sei er eine alte Stute. Ganz friedlich stand er da, ließ sich die Nüstern streicheln und genoß die Liebkosung seines Herrn. Harkym staunte. So viel Sanftmut hatte er in dem fast wilden Tier nicht vermutet. "Willst du ihn streicheln?" erkundigte sich der Fremde. Zögernd hob der Knabe die Hand. Ein beglückendes Gefühl durchströmte ihn, als der Schecke seine Berührung duldete. "Ich habe viel von Sarais Pferden gehört," gab er zu. "Aber ich habe nicht erwartet, daß sie so phantastisch sind."
Xurestar lachte leise. Er wirkte viel freundlicher und nachsichtiger als sein Bruder Bransyl. "Auch in Sarai gibt es ganz gewöhnliche Tiere," versprach er. "Immerhin erstaunlich, daß du die Herkunft des Schecken erkennst." Harkym schaute den Mann mit leuchtenden Augen an. "Ich habe euch gesucht, Herr. Und ich wußte, woher ihr kommt. Da mußte ich nichts erraten." "Mich gesucht? Weshalb denn?" "Weil es bestimmt sehr langweilig ist, hier allein darauf zu warten, daß das Fest auf Silsa endet. Mein Vater ist auch dort. Wir könnten die nächsten Tage gemeinsam auf dem Schiff verbringen." Xurestar versteifte förmlich. Im kleinen Hafen des Ortes ankerte nur ein Segler und er wünschte sich, er dürfe an Bord gehen. Was der Knabe hier andeutete, das konnte er einfach nicht glauben. "Wer bist du, Junge?" "Ich heiße Harkym. Tibra ist mein Vater. Kennt ihr ihn?" "Ich bin ihm leider nie begegnet," erwiderte Xurestar nachdenklich. "Der Pala des Than ist ein großer Magier. Es ist eine hohe Ehre, auf sein Schiff geladen zu sein." Er bestand jedoch darauf, sich zunächst umzukleiden. Als er Harkym dann folgte, trug er die weiße Tunika, die ihn als Priester des Lichts auswies.
N
ach der Lichtwende blieb Tibra noch auf Silsa. Die Gilde der Magier mußte am folgenden Tag die Insel verlassen. Nur der innerste Zirkel durfte verweilen. Ein paar wenige Frauen und Männer nahmen sich hier die Zeit für eine tiefere Begegnung. Man munkelte, daß jetzt die größten magischen Geheimnisse ausgetauscht wurden, mächtige Geister beschwört und unfaßbare Kräfte gerufen. Die Tiere wußten es besser. Diese wenigen Menschen stellten keine Bedrohung dar; sie waren lediglich Fremdkörper, die bald verschwinden würden. Also verließen sie ihre Verstecke wieder und nahmen ihr voriges Leben erneut auf, nicht begreifend, wie fasziniert die Menschen ihr arglosen Treiben beobachteten. Natürlich sprachen diese Menschen auch über Magie, doch eben nur dann, wenn es ohnehin zu ihrem Thema paßte. Sie alle wußten, daß wahre Magie nicht auf herkömmlichem Weg zu erlernen war und es nicht genügte, Formeln zu intonieren oder die richtigen Werkzeuge zu benutzen. Wirksame Magie war immer eine Äußerung des starken Geistes und dessen Schulung geschah ausschließlich in eigenem Bemühen und niemals in einem Unterricht durch andere. Auf der Suche nach schmackhaften Troggos-Pilzen durchstreifte Tibra mit Bransyl das dichte Unterholz. Die anderen hofften auf reiche Beute, doch den beiden Männern war ein vertrautes Gespräch wichtiger. Bransyl erzählte von seiner Begegnung mit Harkym, wobei er ausführlich sein magisches Wirken beschrieb, das den Mut des Knaben erprobte. Er schilderte seinen Eindruck des Kindes,
warnte aber auch deutlich vor weiteren Besuchen des Knaben auf der Insel. Tibra lachte nur darüber. "Will er ein Magier werden, so verdient er sich den Platz innerhalb des Steinkreises," behauptete er fröhlich. "Will er es nicht, zieht ihn nichts weiter nach Silsa. Aber er muß doch einen starken Eindruck auf euch gemacht haben, wenn ihr vor ihm von eurem Bruder redet." "Tat ich das?" stutzte Bransyl. "Aber sicher." Tibra lachte fröhlich auf. "Wer sich so betont unauffällig nach einem Fremden auf dem Segler erkundigt, hat schon ein besonderes Interesse an der Sache. Ich wußte nicht, daß euch Xurestar stets durch Nodher begleitet." "Bisher blieb er auf dem Gestüt." Bransyl verlor seine gute Laune. "Priester sind seltsame Leute. Sie sind nicht fähig, ihre Rituale allein auszuführen." "Heißt das, daß er seit zehn Jahren keinen Tempel mehr sah?" forschte Tibra da mit leiser Stimme. "Gebt ihr ihm etwa das Gefühl, eure brüderliche Liebe sei davon abhängig, daß er nur euer Bruder, nicht aber auch Priester ist." "Der Pala des Than redet jetzt selbst wie ein Priester," spöttelte Bransyl gutmütig. "Eine Freundschaft zwischen mir und Priestern wäre jedenfalls unmöglich, wenn diese Leute etwas gegen meinen Besuch auf Silsa einzuwenden hätten. Mir ist auch nicht bekannt, daß Farrak seine Freundin Wana an einem Tempelbesuch je gehindert hätte. Aber wir können ihn ja fragen." "Ich habe meinen Bruder nicht behindert," brummte Bransyl nur.
"Hey, er ist Priester des Lichts und spürt natürlich eure innere Abwehr gegen die Tempel." "Seine Sehnsucht kann nicht so groß sein, wenn er es nicht einmal wagt, den Segler Amarras zu betreten." "Ihr wißt erstaunlich wenig über die zugegebenermaßen seltsamen Regeln der Priesterschaft," bemerkte Tibra da trocken. "Amarras Schiff ist so gut wie Amarra selbst. Er kann ungerufen nicht kommen. Habt ihr euch denn bisher so wenig für sein Leben interessiert?" Bransyl gab keine Antwort, doch in Gedanken mußte er Tibra zustimmen. Er liebte den Bruder, der eigentlich der Erbe des väterlichen Gestütes war und dann in jungen Jahren plötzlich verkündete, daß er Priester werden wolle. Er schenkte Bransyl das Gestüt. Sie trennten sich im Streit. Als Bransyl vor vielen Jahren Tibra davon erzählte, war dieser zwar noch nicht Pala des Than, doch diese seltsame Freundschaft keimte bereits. Bransyl wußte, daß Tibras Fürsprache bewirkte, daß Xurestar dann plötzlich in Sarai auftauchte und nach ihrer Aussöhnung auch blieb. Diese Aussöhnung zwischen den Brüdern war auch Amarra wichtig. Es gab Magier, welche Miska schufen. Diese Leute trieben den menschlichen Geist aus seinem Körper. Zurück blieb ein willenloses Wesen, das einfache Arbeiten ausführen, aber weder denken noch fühlen konnte. Man verabscheute Miska und seine Schöpfer. Tibra haßte dieses Wirken, seit er in seinen jungen Jahren selbst einmal Miska schuf und vor den Folgen seiner Tat erschrak. Er suchte einen Weg, Miska zu wenden und dem menschlichen Geist die Heimkehr in seinem Leib zu ermöglichen. Und er fand ihn. Doch dazu war es notwendig, daß er einem starken Priester im entscheidenden Moment des magischen Tuns erlaubte, seinen Geist zu berühren und durch diesen hindurch zu wirken. Tibra duldete dies von Nymardos, dem einstigen Than, den er nun seinen Freund nannte. Im Laufe der Zeit
lehrte er dieses Handeln dann auch Farrak, der mit der Priesterin Wana als Freundin in Minas lebte. Und auch Bransyl konnte inzwischen mit Hilfe von Xurestar Miska wenden. Bransyl liebte seinen Bruder wirklich. Er freute sich über dessen Heimkehr. Es gab kaum etwas Schöneres, als gemeinsam durch Sarai zu reiten und dabei die Kraft der Pferde zu spüren. Ihre tiefen Gespräche bereicherten sie beide. Doch sie redeten nie über Magie, da diese Xurestar bedrohlich und beängstigend erschien. Und sie sprachen nie über das Priestertum, das Bransyl mit spöttischem Argwohn betrachtete. "Xurestar war vor fünf Jahren einige Zeit im Tempel der Kraft," erzählte Bransyl endlich, während er sich im dichten Moos niederließ zum Zeichen, daß er nun tiefer reden wollte. "Er kam verändert zurück; nachdenklicher, aber auch selbstbewußter." "Dann tat ihm der Besuch sehr gut," stellte Tibra grinsend fest, sich nun neben Bransyl setzend. "Ist Gesellschaft für Priester wirklich so wichtig?" "Wohl kaum. Aber Gemeinschaft ist es. Ihre Rituale rufen die für sie erfahrbaren göttlichen Kräfte auf eine spürbare Ebene. Ich kenne einen starken Priester, Lyandros, der innerlich ausbrannte, weil er keine wirksamen Rituale erlebte. Heute ist er Falla der Weisheit in Nodher. Ich denke, Naymal könnte euch mehr darüber erzählen. Immerhin war er viele Jahre hindurch selbst ein Priester, ehe er seine Berufung zum Magier erkannte." "Das klingt jedenfalls reichlich unheimlich." Tibra lachte hell auf. Magisches Tun stand in diesem Ruf, gewiß aber nicht priesterliches Handeln.
"Ihr werdet in jedem Tempel als Gast willkommen sein," behauptete er grinsend. "Begleitet euren Bruder auf einer solchen Reise, Bransyl. Danach werdet ihr vieles verstehen." Der Magier aus Sarai wehrte ab, doch so kraftlos und halbherzig, daß Tibra nicht weiter nachhakte. Es würde wohl nicht lange dauern, bis Xurestar seine Berufung ganz ausleben konnte.
A
uf dem Segler fanden keine Rituale statt. Die Mannschaft setzte sich aus ganz unterschiedlichen Männern zusammen. Es gab Priester aller Grade. Sie versahen ihre Aufgaben und versorgten das Schiff. In der Zeit des Wartens auf Tibra aber gab es nicht viel zu tun. Sie vertrieben sich die Stunden mit Gesellschaftsspielen, plauderten, badeten im warmen Meer. Bei allem waren Harkym wie auch Xurestar einbezogen. Der Knabe bemerkte durchaus, wie dieser fremde Priester förmlich auflebte. Wenn die Seeleute von Amarra erzählten, leuchteten seine Augen auf. In der Nacht der Lichtwende aber stand er an der Reeling und starrte zur entfernt liegenden, noch kleiner wirkenden Insel Silsa, von der trotz des dichten Nebels ganz schwach der Schein eines mächtigen Feuers zu erahnen war. Harkym trat neben ihn. "Ihr wirkt betrübt," stellte er mit leichtem Erstaunen fest. "Für Vater ist diese Nacht ein großes Fest, auf das er sich lange gefreut hat. Empfindet euer Bruder nicht ebenso?" "Er schon," gab Xurestar nach einiger Zeit zu. "Aber ich bin Priester, Junge. Ich glaube kaum, daß das, was auf Silsa geschieht, dem Feiern in den Tempeln auch nur ähnlich ist." "Ich verstehe schon, daß ihr lieber in einem Tempel wäret. Euer Bruder ist bestimmt sehr froh, daß ihr es vorgezogen habt, ihn zu begleiten." Harkym zögerte, ehe er leise
anfügte: "Brüder sollten sich lieben." Xurestar wurde aufmerksam. "Hast du einen Bruder?" "Uhray ist acht und Krystan fast vier Jahre alt. Shannar ist schon ein Mann, fast dreissig Jahre. Er wollte mich töten." Das klang so traurig, daß Xurestar Silsa und alle Magie vergaß. Sacht legte er den Arm um die schmalen Schultern des Knaben. "Willst du mir davon erzählen?" Harkym schüttelte den Kopf. Der Schrecken der Erinnerung wirkte noch zu lebendig. Xurestar ging vor ihm in die Hocke, hielt jetzt nur noch seine Hände fest. Ganz sanft ertastete er Harkyms Geist, fand darin die Bilder der noch frischen Erinnerung, die wie eine Wunde wirkten. "Soll ich den Schmerz in dir vernichten?" bot er leise an. "Ich glaube nicht, daß ich das vergessen darf," zögerte der Knabe. "Es wird irgendwann nicht mehr weh tun." "Das irgendwann kann sofort sein, Junge. Du wirst nichts vergessen. Es ruft nur keine Gefühle von Furcht und Entsetzen mehr hervor." "Das könnt ihr?" "Das kann jeder starke Priester." "Wäre das schön." Harkym bat nicht um Worte als Aufforderung
Hilfe, doch Xurestar faßte diese zur Handlung auf. Der Knabe
spürte es nicht, wie er tiefer in seinen Geist eindrang und dort die Wunde sacht verschloß. Als der Priester gleich darauf lächelte, war schon alles geschehen. Jetzt fiel es ihm leicht, von Shannar zu erzählen. Dabei sprach er auch von dem Urteil, Shannar nach Thara zu schaffen und von Mercurs und Talimas Reaktion. Harkym hielt inne. "Talima ist mit Mercur vermählt," erzählte er dann. "Ihr seid es doch gewesen, der sie vor zehn Jahren Vater geschickt hat." "Ich kenne keine Frau dieses Namens," wehrte Xurestar ab. "Sie war doch Sklavin, Herr. Sklaven tragen einsilbige Namen. Damals nannte man sie Tal. Ihr habt sie in Nurs gekauft und zu Vater geschickt. Ich glaube, ihr habt sie mit einem Stundenstein bezahlt." Xurestar lächelte. Der Knabe wußte wohl noch nicht, wie wertvoll ein Stundenstein blieb. Diese der jeweiligen Gottheit geweihten Steine zeigten in den Tempeln die rituellen Stunden an und im allgemeinen fand man sie auch nur dort. Kaum ein Eingeweihter des Lichts besaß seinen eigenen Stein. Er hatte einen erhalten und damals wirklich für Tal hingegeben. Tibra gab ihm später über Bransyl den Stein zurück, dessen Verlust er vor Amarra kaum begründen konnte und ersparte ihm so diese Demütigung. "Ich wollte Tal helfen, habe sie aber kaum beachtet und eigentlich schon vergessen," gab er schließlich zu. "Dein Vater bewirkte, daß man mich zu meinem Bruder sandte und dafür war ich ihm dankbar. Ich wußte nicht, daß er Tal die Freiheit gab. Er mag wohl keine Sklaven um sich, hhm?" "Ich glaube, das ist ihm ziemlich egal. In Minas leben auch einige Sklaven. Und in Thara handelt er mit ihnen. Freiheit ist nur dann wichtig, wenn es seine Freiheit ist."
Harkym lachte vergnügt. "Oder die von jemand, den er mag." "Bransyl empfindet ähnlich. Magier haben keine sehr hohe Meinung von Menschen und achten deren Geist nicht als unendlich." "Und ihr habt keine hohe Meinung von Magiern," stellte Harkym da erstaunt fest. "Vater sagt, alle Dinge haben einen Geist. Den schwachen Geist muß man beherrschen und dem Starken sich verbünden. Wer sich dem schwachen Geist verbündet, wird geschwächt und wer sich dem starken Geist verbrüdert, der erstarkt darin. Ich wollte auch keinen Schwächling zum Freund haben." "Stärke und Schwäche sind aber oft genug nur körperliche Attribute, zumindest nur an dieses eine Leben gebunden," erwiderte Xurestar gelassen. "Der reine Geist ist stets umfassend." "Heilig?" "Ja. Und unantastbar. In seinem Wesen ist er göttlicher Natur." Harkym grübelte ein wenig. Das paßte so gar nicht dem, was der Vater dachte. Er kannte genug Priester, um zu wissen, daß sie anderes Gedankengut besaßen. Aber bisher mußte er dies nie mit dem des Vaters vergleichen. Er hatte das Gefühl, werten zu müssen und wollte dies nicht tun. "Das klingt hübsch," stellte er schließlich fest. "Aber das kann man nicht leben. Wären alle Menschen einander wirklich so völlig gleich, müßte sich keiner vor dem andern neigen und sogar der Than wäre nichts besonderes." "Die Aufgaben sind verschieden," wandte Xurestar schwach ein.
"Bestimmt sind sie das." Harkym hörte schon nicht mehr zu, sagte dies nur, um eine weitere Diskussion auszuschließen. Es war auch sehr spät geworden und Zeit, sich zur Ruhe zu betten. Artig verabschiedete er sich von Xurestar. Doch dann lag er noch lange wach und versuchte, das Gehörte in sein Weltbild einzubetten.
T
ibra kehrte drei Tage nach der Lichtwende an Bord zurück. Während die Seeleute ihn freudig begrüßten, kniete Xurestar mit überkreuzten Armen nieder. Der Magier nickte ihm nur kurz zu. Seine Aufmerksamkeit galt Harkym, der am Hauptmast lehnte. Der Junge ließ keinen Blick von dem Gastpriester aus Sarai. Sasaran trat neben Tibra. "Sie haben sich gut verstanden," erklärte er ungefragt, "und viel unterhalten. Seit zwei Tagen aber weicht euer Sohn dem Priester aus." "Warum?" "Ihr dürft nicht erwarten, daß alle Priester euer Treiben auf Silsa kritiklos akzeptieren können," erwiderte Sasaran mit feinem Lächeln. Tibra lachte leise auf, ehe er zu Harkym ging und dem Jungen zärtlich durchs wuschelige Haar fuhr. "Ich hoffe, du hast mich vermißt," meinte er fröhlich. "Wo ist Bransyl?" wollte der Knabe statt einer Antwort wissen. Tibra deutete aufs Meer, wo weit entfernt ein kleines Segel dem Ufer zustrebte.
"Hattest du Ärger mit Xurestar?" erkundigte sich der Vater vorsichtig. Harkym schüttelte den Kopf. "Nein, bestimmt nicht," versicherte er. "Wir haben uns viel unterhalten, über Sarai, Pferde und das, was Priester so denken. Und über Shannar," fügte er nach kurzer Pause hinzu. Tibra preßte die Lippen zusammen. Er musterte den Sohn, der arglos zu ihm aufsah und nicht ganz verstand, weshalb der Vater jetzt so düster wurde. Xurestar hatte sich längst erhoben. Als Tibra jetzt zu ihm kam, war er bereit, sich wieder zu neigen. Doch noch ehe er die Arme überkreuzte, hatte sich die Faust des Magiers schon in seine Tunika gekrallt. "Wer gab euch das Recht, den Geist meines Sohnes zu berühren?" forschte er mit gefährlich leiser Stimme. Xurestar erbleichte. "Ich habe ihm nicht geschadet," versicherte er rasch. Harkym wollte ihm beistehen. Da aber Bakaar ihm sacht die Hand auf die Schulter legte, hielt er sich zurück. "Nicht geschadet," höhnte Tibra. "Könnt ihr die Folgen eures Tuns so genau abmessen? Ihr habt ihm die Chance einer wichtigen Erfahrung geraubt und sein Sein beeinflußt. Dazu habt ihr kein Recht, Mann. Niemand hat es." "Es ist meine Pflicht, Leid zu lindern," wehrte sich Xurestar unwirsch, während er versuchte, sich Tibras Griff zu entwinden.
"Ein Problem ist kein Leid," fauchte Tibra, den Mann jetzt von sich stoßend. "Es ist zunächst nichts weiter als eine Chance zu Wachstum und Stärke." "Ich nahm ihm doch nur das Schmerzhafte der Erinnerung." "Und genau dieser Schmerz wäre der Anlaß für ihn gewesen, sich mit dem für ihn fremden Menschen Shannar auseinander zu setzen," knurrte Tibra unwillig. "Jetzt bleibt er ihm fremd. Und das sollte keine Beeinflussung sein? Ich sage euch, Priester: wagt es nie wieder, einen der meinen zu berühren." "Ich bin Eingeweihter des Lichts..." "Und ich bin Pala des Than," fuhr ihn Tibra lautstark an. "Hütet euch vor eurer eigenen Überheblichkeit." Er wandte sich um. "Sasaran, schafft diesen Mann von Bord." Er deutete dabei auf Nodhers Küste. Die Männer setzten Segel. Der Magier ließ Xurestar nicht aus den Augen, der verunsichert an der Reeling stand und dessen Blick zwischen Harkym und ihm hin und her glitt. Es gab kein weiteres Wort mehr. Ein kleines Beiboot brachte den Mann an Land. Danach wählte der Segler sofort den Kurs Richtung Amarra. "Er wollte mir nur helfen," versprach Harkym, der sich fast scheu in Tibras Nähe stahl. "Und er hatte so gehofft, er dürfte mit uns nach Amarra kommen." "Bist du traurig, Söhnchen?" Harkym nickte. "Wegen Xurestar?" Der Knabe nickte erneut, aber nun ergriff er auch zögernd
des Vaters Hand. Tibra setzte sich auf die Planken, zog den Sohn neben sich und hielt ihn zärtlich fest. "Amarra wäre kein Gewinn für diesen Mann," versprach er ganz ruhig. "Er ist Priester und hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinesgleichen. Das ist schwierig für ihn. Er hoffte auf Amarra nur auf ein wenig Stärkung und Erbauung." "Und jetzt muß er meinethalben allein bleiben? Das ist nicht richtig, Dada." "Wir reden über zwei gänzlich verschiedene Dinge, Junge. Das eine ist Xurestar. Und das andere bist du. Für Xurestar ist alles in Ordnung. Bransyl hat gesehen, wie wir ihn an Land brachten und trifft sich mit ihm. Sie reisen gemeinsam zurück." "Dann ändert sich aber nichts." "Doch, ein wenig schon." Tibra lächelte. "Bransyl hat verstanden, daß er seinem Bruder schadet. Und er wird es ändern. Also werden sie auf dem Rückweg bestimmt in einem Tempel rasten und auch in Sarai wird Bransyl darauf bestehen, daß sein Bruder ab und an einen Tempel aufsucht." "Dazu hast du ihn überredet?" "Wir sprachen einfach darüber, Söhnchen. Bransyl weiß selbst, was er zu tun hat, wenn man ihm nur ausreichend Fakten nennt, damit er entscheiden kann." "Aber du bist wütend auf ihn und wenn du Brasyl jetzt sagst, er soll das nicht tun, dann macht er das bestimmt." "Ich bin nicht wütend auf Xurestar. Er hat nicht anders gehandelt, als es Lichtpriester im allgemeinen tun. Ich bin wütend auf dich, Kleiner, denn ich habe dich
gelehrt, daß du keinen Menschen an deinen Geist heranlassen sollst, der dir ein Fremder ist. Das kann man vielleicht einem wirklich vertrauten Freund erlauben, niemals aber einem Menschen, den man kaum kennt." "Und warum schreist du mich nicht an, wenn du wütend auf mich bist?" "Würde das etwas nützen? Du sollst deinen Geist nicht aus Gehorsam mir gegenüber beschützen, sondern um deiner selbst willen." "Wolltest du denn, daß ich über Shannar nachdenke?" "Das hast du zumindest bisher getan. Wir haben uns viel über ihn unterhalten. Ich weiß schon, daß es schlimm ist, wenn es jemanden gibt, der einen umbringen will. Die Welt besteht nicht nur aus Freunden. Manchmal sind es gerade die unangenehmen Erinnerungen, die uns helfen, künftig das Richtige zu tun. Es gibt einfach viele Gründe, weshalb man einen Schmerz nicht sofort auslöschen darf, sondern ihn in sich selbst bezwingen muß." "Du denkst, es ist gut, wenn etwas weh tut?" "Es ist übel, wenn man anderen weh tut. Aber empfundener Schmerz muß nicht schlimm sein. Als kleiner Junge hast du einmal in Vogans Dolch gefaßt. Du erinnerst dich sicher nicht mehr daran. Aber es tat dir weh. Und später bist du immer sehr vorsichtig mit Messern gewesen. Manchmal lernt man aus Schmerzen das richtige Verhalten." "Und was soll ich jetzt tun?" "Gar nichts, Harkym. Es ist ja schon geschehen. Achte künftig einfach darauf, wem du eine Berührung deines Geistes erlaubst. Ein starker Priester könnte dich darin sehr weit beeinflussen und dein ganzes Leben bestimmen. Sie sind
nicht alle von edlem Gemüt." "Das weiß ich," lächelte Harkym da, der in Raakis Tempel einige Priesterschüler und Priester kannte, die er nicht sehr mochte. "Ich wollte ja, daß das Denken an Shannar nicht mehr weh tut. Sag', wärest du auch böse gewesen, wenn Thyrian das gemacht hätte?" "Thyrian ist mein und dein Freund. Wenn du priesterliche Hilfe brauchst und ihn darum bittest, wird er dir sicher nicht schaden." "Ich freue mich schon sehr auf Thyrian," versprach der Knabe. Tibra lächelte, weil der Sohn sich nicht auch auf Seymas freute. Der mächtigste Mann der Reiche blieb ihm fremd. Die beiden sprachen kaum miteinander und sahen sich bestenfalls per Zufall. Thyrian hingegen, der wie ein König über Amarra herrschte, liebte Harkym und suchte auch die Begegnung mit ihm.
S
ie ankerten im Hafen Amarras und warteten. Niemand ging an Land, ehe er nicht als Gast begrüßt wurde. Harkym empfand Ungeduld. Er wollte endlich seinen Freund Andraag sehen und mit den Kindern, die er hier kannte, spielen. Endlich kam ein Priester. Der Mann trug das rote Gewand des Gottes Minosante. Tief verneigte er sich vor Tibra, ehe er formell sprach: "Willkommen auf Amarra, Pala.” Tibra nickte ihm grüßend zu und verbarg meisterhaft sein Erstaunen ob dieses höchst ungewöhnlichen Empfanges. “Verzeiht mein Säumen, das euch warten ließ. Unser Gebieter befindet sich nicht im Tempel, doch Thyrian
erwartet euch dort. Erlaubt, daß ich mich eures Gepäcks annehme." Damit trat er zur Seite und ergriff das Bündel. Er folgte Tibra, der mit Bakaar und Harkym den gewunden Pfad zum Tempel einschlug. Während die Männer sich unterhielten, fiel Harkym etwas zurück, um mit dem fremden Priester zu reden. "Ich bin Harkym, Tibras Sohn," stellte er sich vor. "Mein Name ist Dharin," erwiderte der Priester, der knapp dreissig Jahre alt sein mochte. "Ich werde dir und deinem Vater dienen, solange ihr hier seid." "Das klingt aber nicht so, als wenn euch das freuen würde," stellte Harkym nüchtern fest. "Die meisten Leute hier sind gern mit Vater zusammen. Stört es euch, weil eigentlich nur Priesterschüler Leibdienst leisten müssen?" "Dein Vater ist Pala des Than, Junge. Ihm steht besserer Dienst zu. Nein, es stört mich nicht, wenn ich dienen muß. Eigentlich ist es eine Ehre und ich habe auch um diesen Dienst gebeten." "Dann müßtet ihr doch glücklich sein." Harkym verstand die Anspannung des Priesters nicht. Dharin zögerte, blieb dann stehen. Tibra wandte sich nicht einmal um. Es gab keinen Anlaß, auf Amarra den Sohn ständig zu behüten. "Weißt du, Junge," erklärte Dharin mit leiser Stimme, "ich bin nur unsicher, weil ich befürchten muß, daß dein Vater mir zürnt." "Habt ihr ihn einmal beleidigt?"
"Irgendwie schon." Dharin lächelte etwas wehmütig. "Vor vielen Jahren kam dein Vater in die Siedlung, in der ich aufwuchs. Er war allein. Und er war blind. Ich habe mich sehr überheblich und unfreundlich verhalten. Unser Gebieter tadelte mich deshalb. Heute schäme ich mich dafür." "Ich glaube nicht, daß Vater euch erkannt hat. Ihr müßt ihm ja nicht sagen, wer ihr seid. Aber ich glaube, ihr seid sehr nett und das merkt er auch. Bestimmt ist er euch gar nicht böse. Ich frage ihn." Ehe Dharin einen Einwand hervor bringen konnte, lief der Knabe schon nach vorn. Er redete nicht lange mit Tibra. Der Magier winkte Dharin herbei, lächelte nur und ging dann weiter. Und der Priester wußte aufatmend, daß ihm seine jugendliche Selbstherrlichkeit nicht angelastet wurde.
E
s dauerte Harkym viel zu lange, bis er endlich gewaschen und umgekleidet war. Endlich durfte er zum Kinderhaus laufen. Andraag und seine Kameraden hatten Hirtenflöten gebunden und übten sich darin, diesen einfachen Instrumenten harmonische Töne zu entlocken. Sie zogen Harkym ins Spiel, obgleich er sich als äußerst unmusikalisch erwies. In gemeinsamem Lachen vertrieben sie sich die Zeit. Harkym war glücklich, auf Amarra zu sein.
T
hyrian sah nur kurz auf, als Tibra seinen Arbeitsraum betrat. Als gäbe es keine Störung, so führte er sein Gespräch mit den anwesenden Priestern zu Ende; redete dabei über sehr interne Dinge Amarras und tat ganz so, als sei Tibra ohnehin in alles eingeweiht. Als sie dann allein waren, lächelte er erfreut. "Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, weil ich dich nicht selbst im Hafen begrüßte," meinte er leichthin, während er aus einem Krug den schweren, süßen Wein Amarras einschenkte. "Erinnerst du dich an Dharin?" "Flüchtig." Tibra griff nach dem gefüllten Pokal. "Es sind viele Jahre vergangen seither. Wo ist Seymas?" "Zwei Tagesreisen entfernt. Der San der Siedlung dort braucht Rat und hat Probleme damit, den von mir anzunehmen." Thyrian schmunzelte. "Er hofft wohl, Seymas sei etwas nachsichtiger als ich. Willst du zu ihm?"
"Will er das?" "Er kommt, so schnell er kann," versprach Thyrian. "Aber es würde ihm sicher gefallen, wenn du zu ihm gehst." Tibra grinste. Dann leerte er den Becher, stellte ihn zurück und ergriff Thyrians Rechte. "Eigentlich ist es mir lieb, daß er nicht da ist," behauptete er vergnügt. "Auf diese Weise haben wir beide ein wenig Zeit füreinander. Ich habe mich auf ihn nicht mehr gefreut als auf dich." Thyrian beachtete nun seine Arbeit nicht weiter. An der Seite des Freundes spazierte er durch den parkähnlichen Garten, der den Tempelbereich bildete. Es gab vieles zu erzählen und dadurch die lange Zeit der Trennung zu überbrücken. Tibra trug auf Amarra stets das hellgrüne Gewand der dritten Weihe und darüber einen kostbar gearbeiteten Umhang, wie er eigentlich nur einem Falla zustand. Seymas erhob ihn so über die Menschen und als Pala des Than war er durchaus ein Mann der Macht, der auch auf Amarra Befehlsgewalt besaß. Er übte diese Macht nie aus. Thyrian hingegen, wie jeder Lichtpriester weiß gekleidet, herrschte hier wirklich. Die Menschen neigten sich bei ihrem Nahen, hielten aber genug Abstand, um vertrautes Reden zu ermöglichen. Es war Thyrian allerdings nicht möglich, alle Zeit dem Freund zu widmen. Aber Tibra langweilte sich nicht. Es gab viele Menschen hier, deren Nähe ihm etwas bedeutete. Manche Stunde verbrachte er im Kinderhaus, wo er stets mir lauter Freude begrüßt wurde. Seine spannenden Erzählungen regten die Phantasie an und vertieften die Neugier auf das Leben.
In diesem Haus lebten nur Tempelkinder; jene Menschen, welche in Trance gezeugt wurden als ein Opfer an das Leben, damit ein Geist ohne karmische Bindung zu inkarnieren vermochte. Tibra sah Harkym und dessen Kameraden, die ungewöhnlich still beieinander saßen. Mylena, eine Priesterin, die seit Jahren hier arbeitete, trat zu ihm. "Die Jungen sind ein wenig traurig," erklärte sie, "weil einer der ihren sie verlassen wird. Er verspürt den Ruf zur Weihe und hat sich einen Leiter gewählt, in dessen Haus er nun bleibt." Tibra nickte langsam. Niemand zwang diese Kinder zur Priesterschaft, aber wenn sie den Ruf verspürten, so war dies ihr Weg, der auch Trennung und Abschied bedeutete. Er ging zu den Knaben, setzte sich schweigend zu ihnen ins Gras. "Malgar will jetzt Priester werden," erzählte Harkym ihm sofort. "Er sagt, daß man nur als Priester erfüllt leben könne." Tibra lächelte den so benannten Knaben an, der fast schuldbewußt das Haupt senkte. "Wenn dies sein Weg ist," erwiderte er gelassen, "dann kann er auch nur so Erfüllung finden. Es ist gut, wenn er sich nicht beirren läßt." "Das wäre für alle Menschen gut," murmelte Malgar unsicher. "Jeder Mensch sollte Priester sein." "Sei still," schimpfte Andraag hastig. "Der Pala des Than darf nicht beleidigt werden." "Ich bin nicht gekränkt," versicherte der Magier freundlich. "Aber ihr seid kein richtiger Priester, Herr," murmelte Malgar unsicher. "Das muß doch falsch sein."
Die Wiese, auf der sie saßen und die den Kindern dieses Haus als Spiel- und Lernplatz diente, war gesäumt von dichtem Buschwerk und hüfthohen Stauden. Direkt neben Tibra wuchsen kräftige Riezyn-Stauden, die man gern wegen ihrer aromatisch durftenden Blüten pflanzte. Er deutete nun auf eines der schmalen, langen Blätter. "Siehst du die Raupen da, Junge? Sie denken sicher auch, daß es falsch sein muß, keine Raupe zu sein." "Raupen sind keine Priester," maulte Malgar beleidigt. "Aber ein hübsches Gleichnis für den Weg, den du gehen willst," erwiderte der Magier lächelnd. "Eines Tages werden sie schillernde Tagfalter von großer Farbenpracht sein, die das wahre Licht kennen. Schau dir die kleinen Kerle hier an. Sie fressen voll Hingabe. Alles um sie herum ist unwichtig; sie sind ganz konzentriert, ganz eins mit dem, was sie tun und sind. Sie streiten nicht um das größte Blatt, grenzen sich nicht gegen ihresgleichen ab und verlieren sich nicht in Nichtigkeiten. Das kannst du fast schon mit Tabalkes Weihe vergleichen, in der der Gott des Schweigens dir zeigt, wie unsinnig viele Diskussionen oft sind." "Es ist aber ein weiter Weg von Tabalke zu Antares, der Göttin des Lichts," wandte ein Mädchen ein. "Ist euer Gleichnis schon zu Ende?" Zur Antwort legte Tibra nur den Finger auf die Lippen. Die Kinder schwiegen. Still gesellten sich andere hinzu. Sie beobachteten die Tiere, als sähen sie diese zum ersten Mal. Ein blauer Vogel hüpfte durch die Zweige eines Strauches. Argwöhnisch beobachtete er die Riezym-Staude. Die Raupen spürten wohl die Gefahr, denn sie erstarrten in ihren Bewegungen. Ihre grüne Farbe ließ sie fast mit den Blättern verschmelzen. Der Vogel flog auf, um woanders Beute zu suchen.
"Das war das Gleichnis der zweiten Weihe," erklärte Tibra da. "Liara, die Göttin des Friedens, beherrscht ihr Schwert, aber sie richtet es nicht gegen ihre Feinde. Im still aushalten und abwarten ist ein Kampf oft unnötig. Manchmal gehört viel mehr Mut zum nicht kämpfen als zum Kampf." "Und die dritte fasziniert, wissen.
Weihe?"
wollte
Malgar,
nun ganz
Tibra ergriff eine größere Raupe und setzte sie behutsam auf die Blätter einer Tama-Pflanze. Das grüne Tier wand sich, suchte einen Weg. Schließlich setzte der Magier es zurück, wo die Raupe sofort wieder begann, zu fressen. "Saake ist die Gottheit der Weisheit," erklärte er. "Wer ihr begegnen will, muß der Weisheit Raum gewähren. Diese Raupen sind gierig. Sie fressen ohne Unterlaß. Aber sie sind nicht töricht. Sie fressen nur die Riezym-Staude. Andere Raupenarten fressen andere Pflanzen, aber sie alle sind nicht wahllos in dem, was sie in sich aufnehmen. Weisheit heißt ja nichts anderes, als mit Bedacht zu entscheiden, was man in sich wirken lassen will." Harkym nahm eine Raupe auf die Hand, streichelte sie sacht und betrachtete sie sehr genau. "Stark ist sie jedenfalls nicht," behauptete er. "Wie sollte sie also ein Gleichnis sein können für Minosante?" "Der Gott der Kraft ist nicht nur für starke Muskeln greifbar," lächelte Tibra, der kaum wahrnahm, wie sich immer mehr Menschen, Kinder und Erwachsene, zu ihnen gesellten. "Stärke bedeutet nichts anderes, als sich selbst durchzutragen." Mit den Augen suchte er die Stauden ab. Schließlich fand er, was er suchte, beugte vorsichtig ein paar Stengel zur Seite und öffnete so den Blick für eine Raupe, die eben begann, sich an einem Seidenfaden von ihrem Blatt bis auf halbe Höhe zum Erdboden abzuseilen.
"Sie trägt sich selbst," erklärte der Magier. "Ihren Faden spinnt sie aus eigener Kraft und er ist stark genug, daß sie nicht abstürzen kann." "Wenn sie jetzt ein neues Blatt sucht," vermutete Malgar, "dann frißt sie nur weiter und ist wieder auf Tabalkes Stufe." "Ein Fehler, den manche Priester wohl machen," gab Tibra fast erheitert zu. "Aber diese Raupe ist klüger. Schaut nur, sie wickelt sich in ihren Faden ein. Wenn ihr ein paar Stunden zuschaut, dann werdet ihr sehen, wie sie sich völlig einhüllt." "Warum tut sie das?" wollte ein kleiner Junge wissen. "Sie ist bereit, sich abzusterben." Tibra deutete auf einen Puppenkokon, der unweit hing. "Die Fäden verhärten und die Raupe, die sich darin selbst eingesponnen hat, stirbt." "Das ist Raaki, der dunkle Gott des Todes," murmelte Andraag ergriffen, der ganz in dem Gleichnis aufging. "Wenn man ihm begegnet, ist man nicht mehr derselbe wie zuvor." "Raakis Falla sagt, daß man darin sein Ich verliert und ein viel größeres Wir finden kann," bestätigte Tibra, der gern an den Freund Gerrys dachte. Der Kokon bewegte sich etwas. Es war nicht der sanfte Wind, der hier wirkte. Angespannt beobachteten die Menschen, wie die harte Hülle dicht unter der Oberkante einen Sprung bekam. Nach einiger Zeit weitete sich der Riß. In stiller Ergriffenheit sahen sie alle zu, wie unter größter Kraftanstrengung ein neuer Falter mühsam den Weg ins Licht suchte. Schließlich hing er an dem leeren Kokon und trocknete seine Flügel. "Bald fliegt er davon," wußte Tibra. "Die kleine Raupe hat
ihre Erfüllung gefunden und wird im Licht tanzen." Malgar lächelte voll Sehnsucht. "Wäre das Leben nicht sehr eintönig, wenn es nur Raupen und Schmetterlinge gäbe, Junge?" erkundigte sich Tibra sanft. Der Junge sah ihn fast furchtsam an, trotzdem sprach er seine Gedanken aus: "Sind Magier wie blaue Vögel, die Raupen fressen wollen, Herr?" Tibra lachte leise auf. "Nein, Malgar." Ein etwa dreijähriges Mädchen saß in seiner Nähe. Es hatte von dem Gleichnis nicht viel verstanden und fand das lange Beobachten langweilig. Jetzt spielte es mit einem großen, grünen Käfer, den es durch zarte Berührungen eines Strohhalmes ärgerte. Tibra nahm den Käfer auf, der fast seine ganze Handfläche bedeckte. "Das Kerlchen hier ist ein besseres Gleichnis für Leute wie mich," behauptete er vergnügt. "Es gibt hier keine Weihen, keine Verwandlungen, keine Gesellschaft. So ein Käfer ist ein Einzelgänger. Er gräbt Gänge in die Erde, um in die Tiefe zu dringen. Und keiner ist wie der andere. In Thara sagen die Leute, daß die Farbe der Punkte auf der Flügeldecke eines Käfers die Farbe des Edelsteines verrate, dessen Vorkommen der Käfer kennt. Dann folgen sie ihm oft viele Tage hindurch, bis er irgendwo gräbt und graben selbst, um diese Edelsteine zu finden. In Wyla trocknen die Frauen einen gelben Käfer, zerreiben ihn zu Pulver und fügen das Liebestränken zu. Und in Sarai schützen die Menschen die schwarzen Erdkäfer, weil diese die Steppen
fruchtbar erhalten sollen. Im Süden Sions freuen sich die Menschen, wenn ein bestimmter blauer Käfer in ihren Häusern wohnt, weil sie sagen, daß er das Glück bei ihnen halte. In Moras werden schillernde Erdkäfer denen zum Essen gegeben, die am Sumpffieber erkrankt sind, damit sie genesen sollen. Es gibt viele verschiedene Käfer. Manche mag man, manche nicht." "Ich wollte euch nicht beleidigen, Herr" Malgar da beschämt. "Ich glaube, ich mag euch."
murmelte
"Ich mag ihn auch," ertönte da hinter ihnen eine heitere Stimme. Tibra fuhr herum und richtete sich dabei auf die Knie auf. Die Kinder erschraken, warfen sich zu Boden, wo sie mit ausgebreiteten Armen liegen blieben. Niemand hatte das Kommen des Than' bemerkt. Seymas lachte leise auf, während er mit einer sachten Handbewegung die Kinder aufforderte, sich auf die Knie zu erheben. Schmunzelnd sah er auf Tibra nieder, den er in solcher Haltung eigentlich nie sah, da ihre Freundschaft jede Unterwerfung verbot. "Seltsame Geschichten erzählst du da," spöttelte er gutmütig. "Und verschweigst, daß es auch recht ekelhafte Käfer gibt, die Krankheit, Not und Tod bringen." "Ich habe auch nicht von den Raupen gesprochen, die ihre Wirtspflanze ganz egoistisch für sich allein haben wollen und deshalb ihre schwächeren Artgenossen umbringen," erwiderte der Magier gelassen. "Wir sprachen über verschiedene Wege, nicht über die Entartung auf dem Pfad." Er wollte sich erheben, doch der Than lachte nur noch einmal leise auf und wandte sich dann um, die Wiese verlassend. Achselzuckend richtete Tibra da seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Zuhörer, mit denen er noch einige Zeit plauderte, Fragen beantwortete und das Gleichnis so ver-
tiefte. "Genug für heute," entschied er dann aber doch. "Ihr werdet alle euren eigenen Weg erkennen und diesen dann auch gehen. Ein Weg ist immer dann richtig, wenn er dem entspricht, der ihn geht." Die Zuhörer zerstreuten sich. Nur Harkym blieb noch an seiner Seite. "Wirst du jetzt wieder mit dem Than durch Amarra wandern?" wollte er wissen. "Ich hoffe es," bestätigte der Vater. "Dann bleib' ich im Kinderhaus," beschloß der Knabe, der die Gesellschaft gleichaltriger Kameraden genoß. "Andraag hat mit seinen Freunden ein Baumhaus gebaut. Vielleicht dürfen wir dort sogar einmal zusammen übernachten. Meinst du, das geht?" "Ich bitte Mylena darum," versprach Tibra. "Genieße deine Tage, Söhnchen." Die Priesterin wehrte das Ansinnen der Kinder zunächst ab. Es erschien ihr zu gefährlich, hoch oben in den Wipfeln zu schlafen und die fremden Geräusche der Nacht würden ihrer Ansicht nach die Kinder auch nur bedrängen. Aber Tibra lachte darüber. "Harkym hat schon oft im Freien übernachtet, Mylena. Seine Erfahrung wird den anderen Mut geben. Außerdem ist für einen Jungen das unheimliche Gefühl, das sich da einschleichen kann, eine sehr spannende, aufregende und durchaus positive Sache." Sie ließ sich überreden, nicht zuletzt, weil auf Amarra jeder Wunsch des Magiers wie ein Befehl des Than behandelt
werden mußte. Als sich Tibra zum Tempel wandte, konnte er sicher sein, daß auch der Sohn die kommenden Tage voll Freude verbrachte.
S
eymas stand in seinem sechsunddreissigsten Jahr. Als er nun mit Tibra durch Amarra stromerte, da erinnerte er wieder sehr an den fröhlichen Jungen, der er einst war. Seine hellen Augen und die blonden Locken ließen ihn jünger erscheinen. Alles an ihm strömte Übermut und Lebensfreude aus. Der jährliche Besuch des Freundes bedeutete für ihn stets Freizeit, denn dann schob er für einige Tage alle täglichen Pflichten von sich und widmete sich ausschließlich Tibra. Des Nachts zog er sich zurück, um sein geistiges Werk zu verrichten. Doch die Tage gehörten ihnen beiden, die sie in Gesprächen ebenso verbrachten wie im gemeinsamen Schauen und Erleben oder im Philosophieren über alles, was ihnen in den Sinn kam. Sie waren dabei oft nicht einer Meinung, doch erschien ihnen dies auch nie wichtig, so daß jeder Zwist deshalb ausgeschlossen blieb. Tibra erzählte von Dharin, der ihn mit Umsicht bediente und dabei stets eine gewisse Scheu zeigte. Seymas lachte. "Ich erinnere mich an den Burschen," gab er zu. "Aber ich hätte ihn dir nie zugeteilt. Das verdankst du wohl Thyrian." "Ich habe mich nicht beschwert." "Aber du warst mit den Dienern, die ich dir gab, immer zufriedener. Vielleicht sollte ich dir Tikka rufen?" Tibra grinste. Er erinnerte sich an den Jungen, der ihm damals tapfer beistand, als Dharin ihn eher bedrängte. "Was wurde aus ihm?" wollte er wissen. "Nichts besonderes." Seymas lachte heiter. "Er lebt noch
immer in jener Siedlung und reinigt Fleinfäden, wie er es schon damals tat. Er ist fröhlich und sehr beliebt. Im Gegensatz zu Dharin hat er dich wohl vergessen." "Ich war ja auch nur ein paar Stunden da." "Möchtest du hingehen?" bot Seymas neugierig an. "Viel zu weit," wehrte Tibra rasch ab. "Wir sind schon einige Tage unterwegs und in einer ganz anderen Gegend. Wo sind wir hier überhaupt?" Seymas beschrieb ihm die Umgebung und half ihm so, den Ort ihres Aufenthaltes einzuordnen. Tibra schaute über die sanften Hügel. "Dann müßten dort hinten irgendwo die Erdhöhlen sein, von denen Gerrys mir erzählte," überlegte er. "Und die willst du sehen?" wunderte sich der Than. "Seit vielen Jahren schon," gab der Freund zu. "Ein Hügel mit unzähligen kleinen, aber tiefen Erdlöchern klingt schon sehr seltsam, auch wenn ich es nie verstehen werde, daß ihr Priester da hineinkriecht, um eine Buße abzuleisten." "Aber du verstehst, daß mancher darin Erbauung oder Selbstfindung erstrebt?" "Das sicher." Tibra lachte. "Es klingt nach einem Ort der Kraft." "Das ist es," bestätigte der Than, der nun den Weg wieder aufnahm, aber den Schritt doch zugleich in die angedeutete Richtung lenkte.
O
blgeich Gerrys ihm einst diese Gegend beschrieb, war Tibra nun doch etwas überrascht. Er sah einen sanften Erdhügel, in den recht viele kleine Öffnungen führten. Das Ganze wirkte unbefestigt. Er wußte, daß einst die Menschen hier schmale, tiefe Gänge mit ihren Händen gruben und an deren Ende sich jeweils eine einzige kleine Kammer befand, in die kein Licht und kein Laut einzudringen vermochte. Am Fuß des Hügels befand sich ein kleiner Tempelrundbau. An die zwanzig flache Häuser standen hier, in denen die Menschen lebten, die man die Wächter nannte. Ihre Aufgabe bestand darin, jenen, welche in die Höhlen wollten, eine letzte Gastlichkeit zu gewähren und sie nach der abgesprochenen Zeit aus den Tiefen der Erde zu rufen. Dort unten verlor man sehr schnell jegliches Gefühl für Stunden und Tage. Seymas fand keine Möglichkeit, mit dem Freund über diesen Anblick zu sprechen. Die Menschen hatten ihren Herrn längst entdeckt, kamen ihnen schon entgegen und warfen sich vor dem Than auf die Erde. Sein Kommen ehrte sie über die Maßen. Ein Gruß genügte nicht. Seymas mußte sie mit deutlichen Worten dazu bewegen, sich zu erheben. Ein paar Frauen brachten Schalen mit Früchten, bereiteten rasch auf einem der Holztische in der Siedlung ein reichliches Mahl. Doch noch ehe die Freunde sich setzen konnten, wurden sie abgelenkt. Aus einem der Erdlöcher kroch ein nackter, junger Mann. Einer der Wächter rannte sofort zu ihm. Sie sahen ein heftiges Wortgefecht. Seymas wollte die Sache nicht weiter beachten, aber da Tibra nun unverhohlen zum Erdhügel starrte, blieb ihm keine andere Wahl. Während er den Hügel hinauf schritt, blieb der Magier an seiner Seite. Der nackte Jüngling wie auch der Wächter warfen sich sofort vor Seymas nieder. Der Jüngling zitterte am ganzen Körper. Seine Furcht konnte nicht übersehen werden. Eine kleine Handbewegung des Than bewegte den Wächter, ihn anzuschauen. Tibras Blick verfinsterte sich. Er mochte keine geistige Berührung und sie zu sehen, mißfiel ihm. Aber Seymas achtete jetzt nicht auf ihn, sondern wandte
sich an den Jüngling. Seine Stimme klang unpersönlich: "Du kannst zwei Tage verweilen und prüfen, ob du zum Gehorsam bereit bist. Bist du es nicht, wirst du zum Hafen gehen und Amarra verlassen." Der Jüngling verkrampfte sich, hielt aber ansonsten still und preßte sein Gesicht auf das Erdreich. Seymas wandte sich zum Gehen, aber nun folgte ihm Tibra nicht. Der Magier musterte das Erdloch, doch ebenso den jungen Mann am Boden. Da trat der Than neben ihn. "Die ihm von seinem Leiter auferlegte Buße befiehlt ihn für drei Tage in die Dunkelheit," erklärte er wie beiläufig. "Ein Priester, der die äußere Dunkelheit mehr fürchtet als die innere und den Gehorsam verweigert, kann von Amarra nicht gekannt werden." Für ihn war die Sache damit erledigt. Irgendwann in den nächsten Tage würde er es Tibra genauer erklären. Doch er war es gewohnt, daß der Freund vor Zeugen niemals eine seiner Entscheidungen auch nur hinterfragte oder sich auf irgendeine Weise in Belange des Priestertums einmischte. Tibra warf ihm nur einen kurzen Blick zu, ehe er näher zum Erdloch trat. "Ich sehe es mir von innen an," beschloß er dann, einem Impuls folgend. Seymas lachte leise auf. "Ein heiliger Ort, Tibra. Niemand betritt ihn in Kleidern." Der Magier zuckte nur mit den Schultern. Mit raschem Griff löste er den Gürtel. Seine prachtvolle Tunika fiel unbeachtet zu Boden. Und noch ehe Seymas ein weiteres Wort zu sagen vermochte, bückte er sich schon und begab sich auf den Weg ins Innere des Erdreichs.
D
er fahle Lichtschimmer des Tages verblaßte schnell. Tibra bewegte sich in gebückter Haltung tiefer. Bald umgab ihn Dunkelheit. Er lächelte, weil er sich nun an die kurze Zeit seiner Blindheit erinnerte und in diesem Erinnern fast mühelos weiter voranschreiten konnte. Es ging nur langsam hinab. Er mußte den Weg ertasten. Aber dann fand er sich in einer Höhlung, die ihm aufrechtes Stehen erlaubte. Wie lauschend hob er den Kopf. Was immer ihn hier umgab, es konnte nicht vergleichbar den Schwingungen in den heiligen Hallen der Tempel sein. Trotzdam galt noch immer die Regel, daß er auf Amarra seine Magie nicht ausüben dürfe. Ansonsten wäre es ihm ein Leichtes gewesen, nun mit Hilfe von Feuer oder Erdlicht die Höhle gänzlich zu erhellen. Als einst Gerrys hier unten Raakis ganze Kraft verspürte, hatte Nymardos ihn befreit und mit sich trug er damals seinen Lebenden Kristall und damit Licht in Fülle. Also konnte nicht Licht ein Sakrileg sein. Tibra lächelte. Die Dunkelheit störte ihn nicht. Das Erdreich zeigte sich weich, es dufte sehr angenehm. An der Wand rann ein schmales Rinnsal. Dort ließ sich der Durst stillen, ausreichend auch für jene, die viele Tage hier verweilen wollten. Viele Stunden vergingen. Tibra hatte ein wenig geschlafen. Nun saß er am Boden, gegen die Wand gelehnt, und lauschte still den hier herrschenden Schwingungen. Sie wirkten sehr vertraut und so versuchte er, sie einzuordnen. Sie erinnerten ihn an Wyla. Dort, im Waldreich, kämpfte er einst gegen eine Kraft, die man die Göttin nannte. Diese gewaltige Kraft wurzelte ebenfalls in der Erde und ein wenig war sie wie diese Schwingung hier, wenn auch weniger freundlich und sanft. Tibra gab sich dieser Schwingung hin und verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Irgendwann fand er zu sich selbst zurück. Seine Neugier auf den Hügel als Ort der Kraft und die hier herrschenden Schwingungen war gestillt. Die Stelle war angenehm, aufbauend, stärkend und ganz dazu angetan, dem eigenen Sein zu
begegnen. Aber im Grunde wirkte sie weit weniger stark als so mancher andere Ort, den er kannte. Dafür entbehrte sie jeglicher Gefahr. Es war nichts weiter als eine vertraute Geste, als er mit der flachen Hand über die Erde der Höhlenwand strich, aber hier fiel ihm die Wärme dieses Ortes auf. Er schloß die Augen in dem angenehmen Gefühl, das er dabei empfand. Seine Finger betasteten einen harten Gegenstand, klaubten ihn aus der Erde. Es war nur ein Stein, viel kleiner als Tibras Handfläche. Die Oberfläche fühlte sich rissig, fast rauh an, zugleich aber angenehm kompakt, fast so wie eine ausgetrocknete Erdkrume. Ein kleines Loch blieb in der Wand zurück, ungefähr in Augenhöhe. Tibra musterte den Stein, obgleich auch er in der Dunkelheit nichts zu sehen vermochte. Und er grinste, als das kleine Loch sacht aufschimmerte. Dann lachte er leise auf. Es war ganz gut, daß Seymas dies nicht sah. Er würde es ihm wohl verübeln und ganz sicher nicht verstehen, daß in Tibras Denken diese kleine Kraftbündelung keine wahre Magie darstellte. Wärme und Licht waren ihm eines. Es genügte, ihre Schwingung ein wenig zu verlagern, um das eine in das andere zu wandeln. Seymas! Der Freund wartete sicher seit Stunden auf ihn. Eigentlich wollte Tibra die Höhle ja nur sehen, nicht unbedingt ihre Kraft erleben. Es war Zeit, zurück ins Licht zu gehen.
T
ibra blinzelte, als er ins helle Licht des Tages trat. Einer der Wächter sprang sofort herbei, legte ihm seinen Umhang über die Schultern. Unten in der Siedlung trat eben Seymas aus einem Haus. Er kam ihm nicht entgegen, sondern blieb abwartend stehen, ohne aber den Blick von ihm zu wenden. Tibra fuhr sich durchs erdverschmutzte Haar. Ihm entging der Jüngling nicht, der hinter Büschen verborgen kauerte und keinen Blick von ihm ließ. Der Bursche mochte achtzehn Jahre alt sein. Er wirkte sehr sportlich. Das braune Haar hielt er fest gebunden. Und nun zeigte er sich auch nicht mehr unbekleidet, sondern trug eine hellblaue Tunika. Er besaß also bereits die erste Weihe, galt als Priester. Da Seymas von seinem Leiter sprach, lebte er nun erneut als Chela, um die Göttin des Friedens, Liara, zu finden. Tibra ging in die Siedlung. Seymas trat einen Schritt beiseite, gab den Eingang des Hauses so frei. Er schloß die Tür von innen. "Du solltest dich waschen," stellte er spöttisch fest. Tibra grinste. "Ich dachte, wer da raus kommt, erhält zuerst Nahrung," meinte er leichthin, während er aber schon Wasser aus dem bereit stehenden Krug goß und dann begann, sein Haar zu reinigen. Einer der Wächter trat ein und enthob somit den Than
jeglicher Antwort. Er leistete Tibra Leibdienst, kleidete ihn in seine Tunika. Eine Priesterin brachte nun wirklich ein reichhaltiges Mahl. Auf einen Wink des Than hin gingen sie beide hinaus. "Gefiel es dir?" wollte Seymas da wissen. "Sehr," bestätigte der Magier, der schon begann, seinen Teller zu leeren. "Ich wollte dich nur nicht zu lange warten lassen." "Ich bin es in der Tat nicht gewöhnt, fast drei Tage an einem Ort zu verweilen," gab der Than leichthin zu. "Das bringt das Leben meiner Leute zu sehr durcheinander." "Drei Tage? Du scherzt?" "Bestimmt nicht," lachte Seymas auf. "Aber ich hätte mich auch sehr gewundert, wenn dich die Höhle erschrecken könnte." "Drei Tage? Der Junge ist aber noch da, den du verdammt hast." "Ich weiß," gab Seymas gelassen zu. "Es war eine Chance für ihn, dich im Hügel zu wissen. Aber dein Mut gab ihm keine Kraft und seine Zeit ist nun um." "Für jemand wie mich hat das nichts mit Mut zu tun," brummte Tibra, mit einem Mal sehr mißmutig. "Hast du mit dem Jungen gesprochen?" "Warum sollte ich?" Das klang sehr verwundert, gerade so, als erwarte Tibra unmögliches. "Vielleicht, um ihm zu helfen."
"Er ist Chela, Tibra. Leiter verpflichtet."
Zorynas, so heißt er, ist seinem
"Versuche nur nicht, mich deine Priesterregeln zu lehren," grinste der Magier erheitert. "Es wird mir niemals einleuchten, weshalb man einem Lehrer untertan sein soll. Hast du etwas dagegen, wenn ich mit Zorynas rede?" "Ja." Tibra, der diese knappe Antwort nicht erwartete, schob seinen Teller zurück und schaute fragend den Freund an. Aber Seymas gab keine Erklärung. Er fragte nur: "Können wir nun weiter?" Tibra erhob sich wortlos. Als Seymas das Haus verließ, griff er nach ihren Bündeln. Sie trugen auf ihren Wanderungen nie viel mit sich. Aber auf Amarra war es unmöglich, daß der Than selbst sein Gepäck trug. Das galt zumindest solange, wie man sie sehen konnte. Gab es keine Zeugen, galten Seymas alle Regeln nicht mehr viel.
S
ie hatten noch nicht einmal den Rand der Siedlung erreicht, als der junge Zorynas nicht mehr länger an sich halten konnte. Er stürmte den Hügel herab, rannte auf Tibra zu und warf sich vor ihm zu Boden, dabei seine Hand ergreifend und sie fast schmerzhaft fest haltend. Verzweifelt preßte er seine Lippen dagegen. Wieder zitterte er und wieder beherrschte ihn Furcht. Seine dunklen Augen zeigten sich tränenerfüllt, als er zögernd den Blick zu Tibra hob. Einer der Wächter kam gelaufen, um den jungen Priester vom Pala des Than zu trennen. Tibra sah nur Seymas an, der ihm ja verbot, mit Zorynas zu reden. Gleichzeitig aber legte er wie beschützend die freie Hand auf das Haupt des
Jungen. Der Wächter blieb deshalb zurück. Seymas schüttelte in tadelnder und zugleich verneinender Geste den Kopf. Tibra hielt seinem Blick stand. Er wußte, der Freund versuchte nicht, seinen Geist zu berühren. Ein offener Blick zwischen ihnen bedeutete niemals die Gefahr einer priesterlichen Machtausübung. Zorynas weinte nun unaufhörlich. Er hatte bisher kein einziges Wort gesagt. Daß die Menschen der Siedlung jetzt fast ausnahmslos ihre Blicke auf ihn richteten, belastete ihn. Aber dies belastete auch Tibra, der ja jetzt wirkte, als stelle er sich gegen Seymas. Der Than spürte dies durchaus. Tibra konnte seine Mißbilligung nicht übersehen. Da er aber reglos stehen blieb, trat schließlich doch Seymas zwei Schritte zurück und erlaubte ihm durch diese Geste jegliches Handeln. Der Magier zog Zorynas auf die Beine. Er mußte dazu fast Gewalt anwenden und dann stand der Jüngling mit gesenktem Haupt vor ihm und hielt mit beiden Händen seine Rechte umklammert. "Ich habe in der Höhle keinen Schrecken gesehen," versicherte ihm Tibra mit leiser Stimme. "Sie ist sanft und warm, Junge. Und sie ist auch nicht so finster, wie deine Furcht dir einredet. Sie ist ein Teil der Erde." Zorynas' Tränen versiegten langsam. "In Wyla nennt man sie die Göttin. Die Göttin ist die große Mutter, Junge. Was dich in ihrem Schoß erwartet, das ist nichts anderes als die Geborgenheit im Mutterleib." Jetzt hob der junge Priester den Kopf. Mit flackerndem Blick sah er Tibra an. "Manchmal ist es notwendig, daß wir diesen Zustand des Noch-nicht-Seins wieder finden, weil wir von dort aus unseren eigenen Platz im Leben viel leichter sehen können. Die eigene Mitte findet sich oft am leichtesten dadurch, daß man ganz aus dem Sein tritt. Es wird dich bereichern, wenn du dich der Erde anvertraust." Endlich lockerte sich nun auch der krampfhafte Griff des Priesters, so daß ihm Tibra die Hand entziehen konnte.
Zorynas wirkte nur noch unsicher, aber nicht mehr völlig verängstigt und verzweifelt. Tibra warf Seymas einen kurzen Blick zu. Dann tat er etwas, was er noch nie getan hatte und was er als Magier auch nicht als sinnvoll ansah. Doch als Pala des Than mußte dies große Wirkung zeigen. Darum legte er nun beide Hände auf das Haupt des Jünglings. "Die Götter sind mit dir, Sohn, und werden deinen Weg beschirmen." Seymas konnte eine überraschte Geste nicht verbergen. Die lauernden Wächterpriester entspannten sich. Und Zorynas' Blick wurde mit einem Mal klar, tief und sehr ruhig. Er überkreuzte die Arme vor der Brust, verneigte sich sehr tief. Ohne ein Wort schritt er dann den Hügel hinauf, streifte die Kleidung ab und verschwand in eben jener Höhle, in welcher Tibra sich zuvor aufhielt. Der Magier sah ihm nur kurz nach, ehe er sich wieder zu Seymas gesellte und mit diesem den Weg aufnahm. Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als seine Linke in einer Falte seines Gewandes den rauhen Stein befühlte, den er noch mit sich führte.
S
eymas ging ungewöhnlich schnell; gerade so, als wolle er die Siedlung und den Hügel fliehen. Tibra hielt sich an seiner Seite. Nach geraumer Zeit erkundigte er sich dann: "Du bist wütend auf mich. Warum?" Der Than antwortete nicht sofort. Er ging noch einige Schritte, aber dann blieb er doch stehen. "Du weißt nicht einmal, was du getan hast," stellte er fast erstaunt fest. "Aber das, was heute geschah, das zwingt mich, unsere Beziehung neu zu überdenken. Ich habe dich für klüger gehalten, Tibra."
"Weil ich mit dem Jungen redete?" "Das war kein priesterlicher Gruß," fuhr ihn der Than da ungewöhnlich schroff an. "Du hast ihm den Beistand der Götter nicht gewünscht, sondern fest zugesagt und damit seine Buße ad absurdum geführt. Jetzt ist er nur noch zur Erbauung in der Höhle und nicht mehr gehalten, über sein Versagen nachzudenken. Dieses Handeln stand dir nicht zu." "Du wolltest also wirklich, daß ich ihn zurück stoße und seine stummes Flehen um Hilfe einfach ignoriere?" "Genau das habe ich gewollt. Du kümmerst dich doch auch sonst nicht um dir fremde Menschen." "Ich kann schlecht jemanden übersehen, der direkt vor mir kniet. Man muß wohl Priester sein, um das zu vermögen," murrte Tibra unwillig. "Er lag zuerst vor dir und du hast ihm nicht einmal einen Blick gegönnt. Was ist los mit dir, Seymas? Ein einziges Wort von dir hätte doch genügt, dem Burschen allen Mut zu vermitteln, den er braucht." "Zorynas hat sich zum Gehorsam verpflichtet." "Dir gegenüber?" "Das ohnehin! Aber er hat sich auch unter Leitung begeben und als Chela schuldet er seinem Lehrer ebenfalls unbedingten Gehorsam. Er hat beim schuldigen Leibdienst gesäumt und müßte ohne jedes Zögern die Buße tragen." Verblüfft starrte Tibra den Freund da an. Er suchte förmlich nach Worten. Schließlich nahm er die Bündel wieder auf und ging schweigend weiter. "Gesäumt beim Leibdienst?" wiederholte er endlich ungläubig. "Dafür wird der Junge in die Höhlen geschickt? Bei allen Göttern, Seymas, wenn das kein Mißbrauch von
Macht ist, dann möchte ich lieber nicht wissen, was ein Leiter noch alles bestimmen darf. Und ich dachte, der Bursche hat wirklich Schlimmes angestellt." Er lachte bitter auf. "Die Sklavenkinder in Thara werden beim kleinsten Anzeichen von eigenständigem Denken für Tage in Erdlöcher gesteckt. Dort bricht man ihren Willen und zerstört ihre Persönlichkeit. Ich dachte bisher, ein starker Priester müsse auch einen starken Geist haben, aber anscheinend sind dir deine Leute lieber, wenn sie blind ergeben sind." "Man mischt sich nicht in fremde Leitung ein," fuhr ihn Seymas da an. "Dir steht das aber durchaus zu," erwiderte Tibra in derselben scharfen Tonart. "Wenn du nicht darauf achtest, daß alles seine Ordnung hat, wer soll es dann tun? Dann sind die Chelas sehr schnell wirklich nichts weiter als Sklaven ihrer Lehrer. Der Leibdienst soll Dank für die empfangene Lehre sein und nicht Teil der Ausbildung." "Ach, das kannst du beurteilen, ja?" "Ich hatte einen guten Lehrer," brummte Tibra. "Fast alles, was ich über das Priestertum weiß, hast schließlich du mir beigebracht und früher waren dir die Sorgen deiner Leute auch nicht gleichgültig." "Was weißt du denn von Zorynas! Ich habe seinen Geist berührt und..." "Daran habe ich nicht gezweifelt," fauchte Tibra. "Er braucht strenge Führung, da er dazu neigt, alles und jeden zu hinterfragen." "Das ist eine Tugend und kein Laster," stellte der Magier gelassen fest. "Ich hoffe, die nächsten Tagen geben ihm Frieden."
"Zweifellos," bestätigte Seymas höhnisch. "Schließlich hat ihm der Pala des Than ja genau dies versprochen. Ich habe dir diesen Titel jedenfalls nicht verliehen, damit du dich in die Dinge meines Amtes einmischen sollst." "Es ist ja ganz einfach, mir diesen Titel wieder zu nehmen," stellte Tibra sarkastisch fest. "Tue dir keinen Zwang an, Seymas. Der Than darf sich schließlich nicht einmal von Freunden kritisieren lassen." Er ging schneller, ließ Seymas etwas hinter sich zurück. Tibra war verwirrt. Er empfand eine seltsame Mischung aus Zorn und Erstaunen. Seymas schien wirklich sehr zornig zu sein, wenngleich er versuchte, nicht zu emotional zu reagieren. Da er aber über den Titel des Pala nachdachte, bedeutete ihm die Sache viel mehr, als Tibra ihr beimaß. Zum ersten Mal seit vielen Jahren dachte Tibra über den seltsamen Aspekt ihrer Freundschaft nach. In seinem ganzen Wesen und Sein war er ein Magier und damit für alle Priester zumindest sehr suspekt. Daß der mächtigste Mann der Reiche, der oberste aller Priester ihn öffentlich seinen Freund nannte und diese Freundschaft bisher auch rückhaltlos lebte, das mutete gewiß sehr seltsam an. Seymas nannte ihn seinen Pala und nie ließ er den geringsten Zweifel daran, daß er diesen Titel in vollem Umfang trug. Der Than hatte den Magier seinem Freund Thyrian völlig gleich gestellt. Sie sprachen niemals über Rechte und Pflichten. Tibra mißbrauchte diese Macht nicht, wandte sie im allgemeinen nicht einmal an. Und er hatte im Laufe der Zeit die Macht des Freundes aus den Augen verloren. Seine Gedanken schweiften ab. Nymardos herrschte vor Seymas als Than; war einst dessen väterlicher Freund. Als er Nymardos kennen lernte, herrschte eine gewisse Scheu vor dessen Macht. Der Mann imponierte ihm, aber Tibra hätte sich ihm niemals genaht. Erst als Seymas die Macht übernahm und Nymardos nach Nodher in Gerrys' Tempel zog,
kamen sie sich näher. Ihre Freundschaft wuchs rasch. Doch Tibra wußte, daß eine solche Freundschaft nur möglich wurde, weil Nymardos keine Macht mehr besaß. Damals nannte ihn Seymas zwar noch seinen Pala und verlieh ihm auf diese Weise Macht, aber davon war im täglichen Leben nichts zu spüren. Nymardos liebte Seymas wie einen Sohn. Vielleicht war es ihm deshalb unmöglich, sein Wirken als Than nicht auch beurteilen zu wollen. Diese ständige, mehr oder weniger verborgene Kritik bewegte Seymas dann dazu, ihm den Titel des Pala zu nehmen. Und nun drohte der Than auch Tibra mit genau dieser Maßnahme. Tibra sah zurück. Seymas ging weit hinter ihm, fast gemächlich. In den sinkenden Abendnebeln suchte sich der Magier einen Rastplatz, lagerte unter einem breit ausladenden Strauch mit großen Blättern. Seymas kam nicht zu ihm.
A
ls Tibra erwachte, saß Seymas nahe bei ihm. Er hatte Beeren und Nüsse gesammelt und dem Freund so ein Frühmahl bereitet. Er deutete einem entfernten Hügel zu. "Das ist der Weg zum Tempel," erklärte er mit freundlicher Stimme. "Du wirst zwei bis drei Tage unterwegs sein." Tibra musterte ihn eingehend. Seine Freundlichkeit schien ehrlich und fast schon ein wenig besorgt zu sein. "Was erwartest Amarra verlassen?"
du?"
erkundigte
er
sich.
"Soll
ich
"Natürlich nicht. Ich wünschte, du würdest verstehen, weshalb ich dir nicht immer nachgeben kann. Du kannst aber sicher nicht begreifen, wie sehr du den Weg des jungen Zorynas beeinflußt hast. Ich darf das nicht gut heißen, Tibra. Ich fürchte, du hast durch dein unbedachtes Handeln verhindert, daß er für Amarra je wertvoll sein wird.
Ich habe nicht die Absicht, jetzt mit dir darüber zu streiten. Vielleicht wirst du einsichtiger, wenn du mit Thyrian gesprochen hast." Tibra, inzwischen gesättigt, grinste. "Ich habe nicht die Absicht, Thyrian nach seiner Meinung zu fragen," versicherte er fröhlich. "Es wäre mir auch lieber, wenn wir zusammen gingen. Es ist nicht nötig, weiter über die Sache zu reden." Er hatte sich schon erhoben und band sein Bündel. Nach kurzem Zögern nahm er den prachtvollen Umhang ab und fügte ihn seinem Gepäck zu. "Mir liegt nicht viel an Titeln, Freund," versprach er. "Wenn ich aufhöre, wie ein Falla auszusehen, wird man auf Amarra auch ohne Worte wissen, daß von nun an Thyrian dein einziger Pala ist." Er lachte leise auf. "Eigentlich genügt es sogar, wenn ich es weiß, weil mich das davon abhalten wird, je wieder zu glauben, mich ginge Amarra irgend etwas an." "Du bist verbittert," murmelte Seymas da betroffen. Da Tibra den Weg aufnahm, folgte er ihm und hielt sich an seiner Seite. Ein wirkliches Gespräch wollte nicht aufkommen. Gegen Abend erreichten sie eine Siedlung. Seymas sprach mit den Menschen, während sich Tibra schweigsam abseits hielt und lediglich darauf achtete, daß es dem Freund an nichts mangelte. Für die Nacht erhielt der Than ein Gastquartier. Als er das Haus betrat, hörte er eben noch, wie der San der Siedlung Tibra aufforderte, seinem Herrn ein Mahl zu bringen. Er wandte sich um. Tibra ging schon zum Küchenhaus, kam wenig später zurück. Mit leisen Worten mahnte der San den vermeindlichen Diener zu korrektem Verhalten. Tibra nickte nur dazu, aber er grinste, als er vor Seymas stand und eine Verneigung andeutete. Da ging der Than ins Haus. Tibra folgte ihm. Mit dem Fuß stieß er die Tür zu, ehe er das gefüllte Tablett auf den niederen Tisch stellte.
"Der San mißachtet dich," begriff Seymas etwas unruhig. "Das tut er nicht." Tibra schien unglaublich heiter zu sein. "Er hält mich für deinen Diener und ist nur besorgt, du könntest in seinem Verantwortungsbereich Anlaß zu Unwillen haben. Du solltest dich umkleiden, damit ich deine Tunika reinigen lassen kann." Er trat hinzu, um Seymas dabei zu helfen, doch der Than griff nach seinen Händen und hinderte ihn so. "Du bist nicht Freund eindringlich.
mein
Diener,"
erinnerte
er
den
"Der mächtigste Mann der Reiche hat auf die eine oder andere Art nur Diener," wehrte Tibra, noch immer vergnügt, ab. "Das kränkt mich nicht." "Aber mich kränkt es." Seymas hielt seine Hände fester. "Ich brauche dich, Tibra. Deine Freundschaft bedeutet mir sehr viel. Gib das doch jetzt nicht auf, ich bitte dich. Wenn du mir nur dein Wort geben wolltest, künftig meine Wünsche nicht mehr zu ignorieren, dann könnte alles wie bisher sein." "Wenn ich das tue, dann, erst dann bin ich dein Diener," lächelte Tibra. Er ließ sich nicht überreden und bestand darauf, Seymas an diesem Abend wirklich zu bedienen. Am nächsten Tag aber, als sie wieder allein durch Amarra gingen, verhielt er sich wie stets, plauderte vergnügt und benahm sich in allem wie ein gleichberechtigter Gefährte. Es war Seymas, der darauf achtete, daß sie durch keine Siedlung mehr kamen. Als sie dem Tempel nahten, griff der Than nach Tibras Bündel. Mit ruhiger Bewegung entnahm er diesem den bodenlangen Umhang und legte ihn dem Freund um die Schultern.
"Beim nächsten Mal," warnte er dabei auf seltsam schelmische Art, "werde ich nicht beiseite treten, sondern dich mit scharfen Worten zu hindern wissen. Ich hoffe nur, daß du dann einen harten Tadel verkraften wirst." Als sie sich dem Tempel näherten, war nichts mehr von einem Zerwürfnis zu spüren. Sie erweckten ungewollt den Eindruck liebender Freunde, deren gemeinsame Tage sie beide nur bereicherten.
E
in paar Tage vergingen. Tibra verbrachte nur wenig Zeit mit seinem Sohn, der sich hier viel lieber mit Andraag beschäftigte. Thyrian widmete sich nicht ausschließlich seiner Arbeit, sondern gesellte sich sehr häufig zu Tibra. Seymas hatte ihm erzählt, was mit Zorynas geschah. Sie sprachen nur kurz darüber. Thyrian verstand Tibras Handeln ebenso wie Seymas' Zorn. Da die Freunde sich aber schon versöhnten, war sein vermittelndes Eingreifen nicht nötig. Dharin diente Tibra weiterhin, aber inzwischen hatte er alle Scheu verloren und verhielt sich fast schon wie ein Gefährte. Der Magier behandelte ihn auch nur so. Seit zwei Tagen weilte eine Priesterin in einem der Gasthäuser, deren Kommen Tibra bewog, die Heimreise aufzuschieben. Er kannte Insanna seit Jahren. Sie war Eingeweihte des Lichts. Ihr Tempel stand entfernt. Dort lebte sie mit anderen Frauen und verrichtete das Werk der Erweckerin. Nur diese Priesterinnen vermochten es, in die Sumpfkristalle aus Moras Licht einzubinden; jenes Licht, das in den Reichen die Dunkelheit erhellte und die Grundlage von Amarras Reichtum bildete. Insanna besaß eine gewisse, sehr natürliche magische Neugier. Gespräche mit Tibra bedeuteten ihr viel. Aber sie fand auch Gefallen an dem Mann. Zwischen ihnen gab es eine erotische Spannung, der sie beide nie nachgeben wollten und die sie doch mit einem seltsamen Gefühl großer Zuneigung erfüllte. "Dada, ich muß mit dir reden."
Harkym war ins Haus gekommen und sah bittend den Vater an. Dharin verstand, daß er störte und zog sich lächelnd zurück. Der Knabe setzte sich eng neben den Vater, kuschelte sich förmlich an ihn. "Hast du Probleme, Söhnchen?" "Nein, eigentlich nicht. Malgar hat das Kinderhaus verlassen und uns seit Tagen nicht mehr besucht." "Er ist jetzt Chela," erwiderte Tibra sanft. "Er lebt nun bei seinem Leiter und ich denke, der will solche Besuche vorläufig nicht haben. Malgar muß erst lernen, sich an sein neues Leben zu gewöhnen. Sorgst du dich um ihn?" "Sein Leiter hat ihn selbst abgeholt. Ich glaube, der ist richtig nett, Dada. Aber Andraag fängt jetzt auch damit an, daß er ein Priester werden will und überlegt schon, wer ihn leiten könnte." "Hast du etwa Angst, deine Freunde zu verlieren?" Harkym nickte zögernd. Tibra spürte seine Anspannung. Es kostete den Jungen Mühe, sich zu den nächsten Worten zu überwinden: "Ich will kein Priester sein." Tibra hielt ihn etwas fester, schwieg aber. Bransyl hatte ihm ja schon von dem Entschluß des Knaben berichtet, der ihn also nicht überraschen konnte. "Warum sagst du nichts?" fragte Harkym bang. "Ich höre dir zu," lächelte Tibra. "Wenn du dir deines Weges sicher bist, mußt du ihn gehen. Und wenn deine Freunde dir das verübeln, dann mußt du ihnen eben etwas Zeit lassen, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Hast du
mit Andraag darüber gesprochen?" "Das traue ich mich nicht." Harkym lächelte unbeholfen. "Du hast mir nie gezeigt, was Magie ist. Wirst du mir jetzt helfen, Dada? Ich weiß nicht, ob ich es allein schaffe. Und ich will ein guter Magier sein." "Es gibt keine guten Magier," versicherte Tibra lächelnd. "Aber es gibt starke Magier. Wenn du tust, was in dir ist und deinen eigenen Weg nicht verrätst, wird es immer gut sein für dich. Und jemand anderes sollte deine Güte nie beurteilen dürfen." "Du schon." Tibra lachte leise auf, ehe er den Sohn auf die Wange küßte. Er würde schon darauf achten, daß der Knabe keine Irrwege ging und vor allem in den magischen Anfängen seines Weges nicht all die Fehler durchlebte, die ihm einst widerfuhren. "Hier, Söhnchen," meinte er und reichte Harkym dabei den Stein, den er aus der Erdhöhle mit sich nahm, "verwahre ihn gut und versuche zu ergründen, weshalb ein einfacher Stein wichtig sein kann. Wir bleiben jetzt nicht mehr lange hier, denn auf Amarra kannst du deinen Weg nicht beginnen. Hier gibt es keine Magie." Aber er lächelte dabei auf unergründliche Art, denn der Stein diente ihm ja einige Tage hindurch durchaus auf magische Art, in der er dem jungen Priester Zorynas ein sanftes Schimmern zum Trost in dessen Dunkelheit gewährte.
A
ls er später Thyrian in dessen Gemächern aufsuchte und dort auch Seymas vorfand, verweilte er und erzählte den Freunden von Harkyms Entschluß. Einen Moment lang herrschte völliges Schweigen. Dann hob der Than
den Blick und meinte sehr gelassen: "Das wirst du nicht dulden, Tibra. Harkym ist ein Tempelkind und zur Priesterschaft bestimmt." "Er mag ein Tempelkind sein," erwiderte der Magier wohl überlegt, "aber seinen Weg bestimmt nur er selbst." "Es ist falsch." "Wenn dem so ist, wird Harkym es irgendwann feststellen und seinen Weg korrigieren. Wenn er dabei Zeit verliert, gewinnt er auf alle Fälle doch Erfahrung und Kraft." Seymas neigte sich ihm zu. Jede Freundlichkeit wich aus seinen Zügen und in seine wasserhellen Augen trat ein fast unpersönlicher Schimmer. "Ich fordere es," verlangte er nachdrücklich. Tibra setzte zu einer scharfen Erwiderung an, besann sich dann aber eines Besseren und antwortete in völligem Gleichmut: "Das kannst du nicht. Niemand kann eine Weihe erlangen, der sich nicht berufen fühlt. Das ist deine eigene Lehre. Priesterschaft ist eine Geisteshaltung. Wenn der Junge sich nicht nach den Göttern sehnt, kann er ihnen nicht begegnen. Und er ist alt genug, um seinen Weg selbst zu bestimmen. Du kannst ihn, obgleich ein Tempelkind, nicht einmal mehr zwingen, innerhalb eines Tempels zu leben." "Ich kann nicht?" rief der Than da erregt. "Was weißt du von meinen Fähigkeiten?" Er sprang auf, öffnete die Tür. "Meine Palas warten hier auf mich," befahl er den Priestern draußen. Und dann ging er aus dem Tempel. Tibra wollte ihm
nach, doch Thyrian ergriff ihn rasch beim Handgelenk. Auf seinen Wink hin schlossen die Männer die Tür von außen. "Im Moment sind wir Gefangene," erklärte er eindringlich. "Sei jetzt nur nicht unbedacht, Freund." "Ich fürchte nur, er geht zu Harkym." "Das nehme ich auch an. Aber deinem Sohn wird nichts geschehen, Tibra. Seymas wird ihn schlimmstenfalls beeinflussen. Wenn das geschieht, mußt du mir ein wenig Vertrauen schenken." Sie sahen sich an. Thyrian wirkte sehr ernst, gefaßt und durchaus entschlossen. Da entspannte sich der Magier. Dieser Freund war Seymas fast ebenbürtig in priesterlicher Macht. Und er hatte soeben sein Wort gegeben, diese Macht für Harkym einzusetzen. Mehr als er konnte wohl niemand auf Amarra für Harkym tun und damit mußte er sich zunächst bescheiden.
A
uch Aniela hatte die Heimreise immer wieder aufgeschoben. Es war einfach zu schön, bei der Familie zu sein und Stunde um Stunde mit den Eltern und Brüdern plaudern zu können. Seit zwei Tagen weilte Raakis Falla Gerrys und dessen Freund Nymardos in der Burg. Mit einem Mal hatten der Vater und Ilkonys weniger Zeit für sie. Die Mutter lächelte nur darüber. So war es wohl schon immer gewesen. Wenn diese bleiche, hellhaarige Mann kam, gehörte ihm die ganze Aufmerksamkeit Aristons und auch Ilkonys suchte fast nur noch dessen Nähe. Jetzt waren die Frauen viel unter sich und Aniela dachte ungewollt mehr und mehr an Minas und ihre Pflichten dort. Morgen, so nahm sie sich vor, wollte sie mit der Familie über ihre Abreise reden.
D
as mächtige Burgtor war längst geschlossen. Die Nebel hüllten das Reich ein und ließen sich schon nicht mehr von Flammenden Kristallen oder Feuerschein durchdringen. Für die drei Reiter, die so spät noch unterwegs waren, tauchte die Burgmauer völlig unvermittelt auf. Eines der Pferde scheute, doch seine Reiterin hielt sich fest im Sattel. "Wir sind zu spät," stellte sie enttäuscht fest. "Um diese Zeit wird niemand mehr das Tor öffnen." Der Mann glitt aus dem Sattel. Er war Ende der Fünfzig, wirkte sehr unfreundlich, abweisend und düster. Man mochte ihn nicht sonderlich, aber man schätzte seinen Dienst als käuflichen Magier, der für genügend Solare so manches bewirkte, was unmöglich schien. Farrak fluchte leise, wäh-
rend er seiner Freundin Wana auf den Boden half. Der Flammende Kristall des Magiers legte einen schwachen Schimmer auf das ungewöhnlich schöne Gesicht dieser Priesterin, die nun aber nicht die ihr zustehende weiße Tunika, sondern feste Reisekleidung trug. Ihre tiefgrünen Augen zeigten Enttäuschung und auch ein wenig Müdigkeit. Das hüftlange, rote Haar, dessen Lockenfülle fast schon unnatürlich wirkte, hielt sie lose gebunden. Seit über zehn Jahren lebte sie mit dem über fünfzehn Jahre älteren Farrak in einem Haus. Sie waren wirkliche Freunde, aber kein Liebespaar. Der dritte Reisende führte die Pferde ein wenig beiseite. Auch er trug feste Kleidung. Dal bewegte sich mit sicherem Schritt, hielt das Haupt erhoben. Nichts deutete darauf hin, daß er als Sklave dem Magier gehörte, bis Farrak ihn in die Seite stieß. Da erst schob er seine Ärmel zurück, so daß die Kupferreifen um seine Handgelenke sichtbar wurden. Es war Sklaven nicht erlaubt, ihr Kupfer zu verbergen. Dal war nun vierunddreissig Jahre alt. Als Sklave war er ein Vermögen wert, denn er beherrschte die Schrift, war klug und gebildet. Farrak erhielt ihn einst als Lohn dafür, daß er den Wind auf dem Riatha besiegte und so Ilkonys' Segler zwang, in der Siedlung Leris zu ankern, wo Dal's voriger Besitzer Nodhers Erben schmeicheln wollte. Billig war Farraks Dienst nie zu erhalten. Dal hämmerte mit der Faust gegen das Tor, doch nichts in der Burg rührte sich. Er versuchte es erneut. "Laß es," brummte Farrak schließlich. Er hatte ein paar Nüsse gesammelt und trat nun einige Schritte zurück, um eine der Früchte über das Tor zu schleudern, dessen oberer Rand im Nebel verborgen lag. Als die Nuß im Burghof aufprallte, heulte ein gewaltiges Lärmen auf, wie es ansonsten nur starker Sturm bewirken konnte. Dann hörten sie Schritte. Eine Stimme von oben
fragte nach ihrem Begehr, doch so abweisend, daß jede mögliche Antwort gleichgültig blieb. "Ich trage den Sturm in meiner Hand," rief Farrak hinauf, "und wenn ihr das Tor nicht öffnet, wird er nicht mehr nur heulen, sondern erfassen, was er finden kann." "Wer seid ihr?" kam die fast ängstliche Frage. "Ein Meister der Magie," erwiderte Farrak höhnisch. "Ich suche meinen Herrscher." "Dann kommt morgen wieder." "Soll der Sturm ihn wecken?" Einige Zeit herrschte Stille. Aber dann wurde doch der mächtige Balken gelöst. Das Tor öffnete sich. Wenig später sahen sich die Reisenden von mehr als einem Dutzend bewaffneter Soldaten umringt, deren Säbel sie bedrohten. Man drängte sie in den Burghof, doch nicht wie Gäste, sondern wie Feinde und Gefangene.
J
iddan schlief noch nicht. Seit Ilkonys und Ariston sich fast nur noch um Gerrys kümmerten, nahm er sich, so gut es eben möglich war, deren Aufgaben an. Er kannte keine Scheu vor der Arbeit, doch ließ sie ihm jetzt kaum mehr Zeit für priesterliche Übungen. In der Stille der Nacht hatte er sich auf die Ebene seines Gottes begeben, seinen Geist gestärkt und nun lag er auf seinem Lager und gab sich der gewonnenen Klarheit hin, die sein Denken jetzt befruchtete. Er vernahm das kurze Aufheulen des Sturmes, doch sein Sinnen richtete er nicht darauf. Er lauschte trotzdem. Er erwartete keine Geräusche zur Antwort, sondern ein Wissen, denn ihm war, als sei ein starker Geist nahe, der Kontakt suche. Jiddan lächelte still. Es gab starke Priester in der Burg. Ariston zählte er dazu, Nymardos und Gerrys; auch
Orales, sofern er klare Momente besaß. Aber diesen Geist kannte er nicht. Schließlich erhob er sich, getrieben von einer mehr erahnten denn wirksamen Unruhe. Als er sein Gemach verließ, trat sofort einer der Wachsoldaten zu ihm. "Wir wollten euch nicht stören, Herr," erklärte entschuldigend, "doch im Burghof herrscht Unruhe."
der
"Was gibt es?" "Die Feinde sind schon überwältigt, Herr." "Feinde?" Jiddan lächelte. "Hat eine Armee die Burg angegriffen?" "Ein Magier, Herr," stammelte der Soldat. "Er nennt sich einen Meister." Jiddan zögerte. Der Pala des Than war Magier und nach allem, was er vernahm, gehörte Tibra sicher zu den Besten seiner Gilde. Aber ein Magier konnte niemals seinen Geist auch nur im Entferntesten berühren. "Ist der Mann allein?" "Nein, Pala. Ein Sklave ist bei ihm und eine Frau. Man bringt die Gefangenen soeben in den Kerker." Der Priester seufzte. Er war müde und wollte schlafen, doch etwas war seltsam an diesen Fremden. Er mußte es ergründen, zum einen, weil es wohl seine Pflicht als Pala des Königs war und zum andern, weil er wissen mußte, ob der starke Geist, den er spürte, die diesen Leuten gehörte. "Ich will diese Menschen sehen," bestimmte er darum. "Laß sie in den kleinen Empfangsraum bringen."
Der Soldat entfernte sich eilig. Jiddan rief nach einem Pagen, um sich zunächst einzukleiden.
D
al fürchtete sich ein wenig, aber hierin wußte er sich allein. Weder Wana noch Farrak zeigten sich von den Säbeln auch nur im geringsten beeindruckt. Sie ließen sich durch die Gänge der Burg führen. Wana lächelte, als der Soldat gelaufen kam und berichtete, daß Ilkonys' Pala die Gefangenen sofort sehen wolle. "Der Mann hat wohl meinen Sturm gehört," stellte Farrak befriedigt fest. "Ich wette, er ist ein Priester und hat etwas ganz anderes vernommen," widersprach Wana, erleichtert lächelnd. Während sie dann auf Jiddan warteten, spielten sie mit ihren Mutmaßungen und als der Mann eintrat, flüsterte Farrak der Freundin zu: "Du hast deine Wette verloren. So sieht kein Priester aus." Jiddan trug prachtvolle Gewänder, wie sie einem Fürsten oder eben einem Mann politischer Macht zustanden. Dal warf sich, der Sitte gemäß, zu Boden, wo er mit ausgebreiteten Armen lag, das Gesicht dem Bodenteppich zugewandt. Wana und Farrak überkreuzten die Arme, ehe sie niederknieten. Hinter ihnen standen Bewaffnete, welche die Säbel nicht wegsteckten. Jiddan hatte die Hände in die Hüften gestemmt und musterte die Gefangenen. Er wirkte sehr überheblich, obgleich dies nicht seinem Denken entsprach. Die Schönheit der Frau stand irgendwie in Widerspruch zu der düsteren Ausstrahlung des Mannes. "Steh auf," wandte er sich dann an Dal. "Sieh mich an."
Während sich Dal wirklich auf die Knie erhob, warf Wana Farrak einen raschen, sehr erheiterten Seitenblick zu, ehe sie das Wort ergriff: "Verzeiht, Herr, aber Dal wird euch nicht in die Augen sehen. Ich habe ihn gelehrt, einer Berührung seines Geistes auszuweichen." Jiddan lächelte amüsiert. Mit einem Mal wirkte er sehr freundlich. "Und wer bist du?" wollte er wissen. "Man nennt mich Wana, Herr." "Dein Geist ist abgeschirmt," stellte Jiddan erheitert fest. "Man hat mir berichtet, daß ihr versucht habt, die Burg einzunehmen." Jiddan ergriff Wanas Hand und zog sie auf die Beine. Daß Farrak sich dabei anspannte, entging ihm nicht. Doch auch die Soldaten bemerkten dies. Einer von ihnen legte die Klinge an den Nacken des Magiers. "Nach einer langen Reise ist es sehr unerfreulich, vor verschlossenem Tor zu stehen," erklärte die Priesterin, etwas verunsichert ob der Freundlichkeit, die sie spürte. "Ihr seid Pala, Herr. Ich bitte euch sehr, verhelft uns zu einer Audienz vor Nodhers Erben." "Ich werde mich hüten, einen Meister der Magie in Ilkonys' Nähe zu bringen," spöttelte Jiddan vergnügt. Farrak preßte die Lippen zusammen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Es kostete ihn Mühe, jetzt untätig zu bleiben. "Ist nicht auch der Pecha von Minas ein Meister und doch des Prinzen Freund?" erkundigte sich Wana mit sanfter
Stimme. "Ich denke, der Pala des Than ist ein sehr besonderer Mann." Wana senkte den Kopf. Daß dieser Mann noch immer ihre Hand hielt, verwirrte sie. Und der Säbel, der Farrak bedrohlich berührte, ängstigte die Priesterin. Unwillkürlich gab sie die Abschirmung ihres Geistes auf, so daß Jiddan ihre Angst zu spüren vermochte. Er ließ sie los, winkte die Soldaten etwas zurück. Farrak entspannte sich. "Tibra ist auch unser Freund," gestand Wana da. "Wenn es unmöglich ist, daß wir Nodhers Erben sehen, so erlaubt uns bitte, hier auf Tibras Rückkehr aus Amarra zu warten." "Ich will nicht warten," mahnte Farrak mit selbstsicherer Stimme. "Ilkonys schuldet mir Gehör." "Er steht also in eurer Schuld, Mann?" Das klang belustigt, doch Farrak bemerkte durchaus, daß Jiddan nun die ehrende Anrede verwendete. Es schien zumindest etwas zu bedeuten, wenn man sich hier als Tibras Freund erwies. "Laßt ihn einfach wissen, daß ich hier bin," verlangte der Magier. "Wir sind als Bittsteller hier," versicherte Wana rasch. "Farrak wird Nodhers Erben nicht bedrohen." "Farrak?" Jiddan trat nahe zu ihm, bedeutete ihm, sich zu erheben. "Diesen Namen habe ich freilich schon gehört. Der Mann, der einst Ilkonys das Leben rettete, sollte gewiß etwas freundlicher empfangen werden."
"Er hat euch davon erzählt, Herr? Dann werdet ihr ihm von meinem Kommen berichten?" "Er wird es mir verübeln, wenn ich das nicht tue," lächelte Jiddan. "Laßt euch nun Gasträume zuweisen und bewirten. Ruht euch aus. Nodhers Erbe wird euch rufen lassen, wenn er euch zu sehen wünscht." "Es eilt," murmelte Farrak düster. "Aber mehr kann ich wohl nicht verlangen. Ich danke." Jiddan rief nach Dienerschaft und sorgte dafür, daß die späten Gäste in der Burg gut versorgt wurden. Einen Moment lang überlegte er, ob er Ilkonys noch in der Nacht aufsuchen wolle. Dann verwarf er diesen Gedanken.
A
riston achtete stets darauf, daß das gemeinsame Frühmahl frei blieb von Störungen und Verpflichtungen. Diese Zeit gehörte allein der Familie. Gäste wurden nur selten zugelassen. Doch für Gerrys und mit ihm Nymardos machte man gern eine Ausnahme. In dieser frühen Stunde hörten sie alle Jiddan zu, der von Wana und Farrak sprach. "Die Priesterin ist eine faszinierende Frau," schloß er seinen Bericht, "aber dieser Magier scheint kein sehr angenehmer Mensch zu sein." "Tibra nennt ihn seinen Freund," erinnerte Gerrys versöhnlich. "Ich schulde Farrak jedenfalls mein Leben," gab Ilkonys gelassen zu. "Ohne sein Eingreifen hätte mich Shannar damals kaltblütig ermordet. Ich dachte, er lebt in Minas." "Das tut er," bestätigte Aniela. "Sein Haus liegt nahe der Grenze zu Moras. Tibra reitet manchmal zu ihm. Aber sagt, Jiddan, war nicht noch eine Frau bei der Reisegruppe?"
"Es waren nur drei; Wana, Dal und Farrak." "Du denkst an Vesna?" erkundigte sich Ilkonys, der nicht einmal das kleine Mädchen vergaß, das Farrak damals, vor zwölf Jahren, zu sich nahm. Auf Jiddans fragenden Blick hin erklärte er: "Vesna ist ein paar Jahre jünger als Shannar. Und sie ist seine Schwester. Ihre Mutter Dimira sagte sich von ihr los, als sie fürchten mußte, Vesna würde verklagt, da sie an Shannars Tat nicht ganz unbeteiligt war." "Und dieser Magier behielt das Mädchen bei sich? Warum hat das niemand gehindert?" "Warum sollte man? Vesna mochte Farrak und er sie wohl auch. Außerdem gab es Wana, die bei den beiden blieb. Sie sind wohl so etwas wie eine richtige Familie geworden." "Und du hast sie alle seither nicht mehr gesehen?" "Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihnen gehört und mich auch nicht nach ihnen erkundigt," gab Ilkonys nachdenklich zu. "Aber wenn Farrak zu mir kommt, dann hat er gewiß auch einen Grund dafür. Ich will ihn jedenfalls anhören." Das Mahl endete. Jiddan bot Ilkonys an, die Gäste zu ihm zu bringen, doch Nodhers Erbe winkte ab. Er wollte Farrak ehren, indem er zu ihm ging. Jiddan begleitete den Freund. Pagen trugen eben Geschirr aus dem Gastraum. Bei Ilkonys' Eintreten warf sich Dal, der bisher wie ein freier Mann bei Wana und Farrak saß, sofort zu Boden. "Er hat Angst vor dir," stellte Jiddan erstaunt fest. "Als Shannar mich verwundete und dann entführte, half ihm Dal in allem," erklärte Ilkonys gleichmütig, während er Wana und Farrak mit einer Handbewegung bat, sich von den
Knien zu erheben. "Noch immer gilt das Recht, das sagt, daß der Herr für die Taten seines Sklaven verantwortlich ist," murrte Farrak. Ilkonys lachte leise. "Es sind zwölf Jahre seither vergangen, Farrak. Ihr sagtet meinem Pala, daß ich euch Gehör schulde. Aber ich schulde euch mehr und wenn ihr gekommen seid, Schuldausgleich zu fordern, so redet frei heraus." Wana und Farrak hatten Ilkonys' Aufforderung ignoriert. Sie knieten noch immer vor ihm. Jetzt faßte die Priesterin nach der Hand des Freundes. Doch Farrak brauchte keine Ermahnung zur Beherrschung. "Ich bitte um Vergebung, Gebieter," erklärte er mit fester Stimme. "Wenn ich euch als mir verpflichtet bezeichnete, so nur, weil ich fürchtete, euch nicht begegnen zu dürfen. Ich bin nicht hier, um zu fordern. Ich bitte um die Erlaubnis, eine Bitte vorzutragen." Es irritierte ihn, daß Jiddan erneut Wana bei der Hand ergriff und aufhob. Als er auf einen der Stühle deutete, lächelte sie nur. Sie setzte sich erst, nachdem auch Ilkonys Platz nahm und nun erhob sich auch Farrak. "Was kann ich für euch tun?" erkundigte sich Ilkonys höflich. Zögernd hob Farrak den Blick. Da Ilkonys freundlich lächelte, wich seine Unsicherheit. "Ich war einige Zeit unterwegs," erzählte er nun. "Ich habe Silsa besucht und als ich nach Hause kam, fand ich mein Haus verwüstet. Dal war an der Schulter verwundet, Wana nieder geschlagen und Vesna verschwunden. Vielleicht erin-
nert ihr euch an das Mädchen?" "Ich erinnere mich durchaus. Wo ist sie?" "Ich habe nicht nur Feinde, Gebieter. Menschen aus der nahen Siedlung bemerkten mein Kommen. Sie berichteten mir, daß Soldaten Vesna mit sich nahmen. Ich fand bald heraus, daß sie aus Quenal kamen." Jiddan horchte auf. Er wurde in jenem Ort geboren und kannte viele der Menschen dort. "Aus mir unerfindlichen Gründen hat man Vesna der Hexerei beschuldigt, Gebieter." "Das Mädchen hat keine Ahnung von Magie," versicherte Wana rasch. "Soweit mir bekannt ist," schmunzelte Ilkonys, "herrscht in Minas ein Gesetz, das besagt, daß allein der Pecha über Menschen richten darf, die der schuldhaften Magie verklagt sind." "Mein Pecha befindet sich auf Amarra." "Nun, es ist kein Geheimnis, daß in Minas die Fürstin dieselben Rechte besitzt wie ihr Gemahl," erwiderte Ilkonys fast vergnügt. "Wenn es um Minas' Recht geht, müßt ihr euch an Minas wenden." "Es würde euch kränken, wollte ich mich in eurem Haus an eure Schwester wenden und euch so übergehen," murmelte Farrak unruhig. "Ich bitte um nichts weiter als um die Anweisung, Vesna zu schützen, bis mein Pecha nach Minas kommt. Tibra wird ihre Unschuld sofort erkennen." Ilkonys nickte nachdenklich. Dann schlug er das Triangel an und befahl dem eintretenden Pagen, Aniela zu ihm zu senden. "Ihr müßt Minas bitten, Farrak," beharrte er. "Wenn ihr
danach immer noch eine Bedrohung seht, werde ich euch helfen." Der Magier sprach nicht dagegen, doch man spürte seine Unruhe, während sie alle auf Aniela warteten. Als sie eintrat, kniete Farrak erneut nieder, während Jiddan Wana mit einer sachten Berührung hinderte, ebenso zu handeln. Farrak schilderte erneut, was mit Vesna geschah. "Sie ist immerhin wie die Tochter eines Magiers aufgewachsen," meinte Jiddan nachdenklich, eine Schuld Vesnas so in Erwägung ziehend. Wana richtete ihren Blick auf Aniela. "Auch eure Kinder haben einen Magier zum Vater, Gebieterin," mahnte sie mit sanfter, doch fester Stimme. "Ist auch nur eines von ihnen wenigstens in Ansätzen mit Magie vertraut? Der Weg der Magie verbietet Belehrung. Wer ihn gehen will, muß diese Kraft in sich selbst erwecken." Aniela sagte kein einziges Wort, als sie zur Kommode trat, ihr ein Pergament entnahm und einige Zeilen schrieb. Aber sie lächelte Ilkonys zu, als sie das Schreiben absiegelte. Nodhers Erbe schüttelte ein wenig mißbilligend den Kopf. Es war in den Reichen nicht üblich, daß ein Pecha seiner Gemahlin das Siegel seines Landes gab. Tibra hatte sich nie daran gehalten und man wußte es, obgleich man nicht darüber sprach. "Ein schneller Reiter bringt Minas' Willen nach Quenal," versprach sie Farrak dann. "Ich selbst beginne morgen die Heimreise. Man wird Vesna in unser Haus bringen, wo sie auf Tibra warten muß." Sie lächelte. "Ich werde die junge Frau wie einen Gast halten, denn ich bin sicher, mein Gemahl wünscht nichts anderes. Ihr seid eingeladen, mich nach Minas zu begleiten. Für heute verweilt als Gäste, zu deren Bequemlichkeit alles getan wird."
N
un, da Aniela von Abschied sprach, gehörte ihr noch einmal alle Zeit des Vaters und des Bruder. Jiddan hielt sich an Wana. Er führte sie durch die Burg und den Garten, erklärte ihr, was sie sah, erzählte von sich und erkundigte sich nach ihrem Alltag. Sie näherten sich einander sehr vorsichtig an. Erst am Nachmittag sprachen sie dann auch offen über ihre Priesterschaft und über Amarra, wo sie beide einige Zeit lebten. Farrak beobachtete sie von Ferne. Er empfand ein nagendes Gefühl der Eifersucht und er wunderte sich selbst darüber. Vor Tibra verglich er Wana einst einer Mesa-Blüte: unglaublich schön und zugleich unbeschreiblich gefährlich. Sie lebten seit Jahren wie Freunde zusammen, frei von Begehrlichkeit und körperlicher Zuwendung. Bisher erschien ihm das völlig richtig und ganz natürlich. Aber wenn er Wana nun lachen hörte und sah, wie Jiddan sehr sanft ihre Hand berührte, dann stellte er all dies in Frage. Dieser Priester war ein selbstbewußter Mann von gefälligem Äußeren. Und vor allem war er jung. Er paßte gut zu Wana. Farrak sah keinen Feind in Jiddan, aber er dachte nun darüber nach, wie ein Leben ohne Wana aussehen mochte. In der Magie gab es genug Möglichkeiten, aufkeimende Liebe zu verhindern oder sie auf gewünschte Zeile zu lenken. Doch wenn es um Wana ging, galt seine Macht nichts. Ihre Beziehung gründete auf gegenseitigem Respekt und der freien Entscheidung. Er würde nicht eingreifen, auch, wenn ihm die Entwicklung nicht gefiel. "Eure Gefährtin findet Gefallen daran, umschwärmt zu sein," ertönte hinter ihm eine Stimme. Farrak drehte sich ganz langsam um. Mercur lächelte ihn an, während er sich namentlich als Bruder der Königin vorstellte. "Ihr meint, ich sollte etwas dagegen tun," begriff Farrak mit einem undurchdringlichen Lächeln.
"Seid ihr dazu denn in der Lage? Tibra könnte es." "Wollt ihr andeuten, er habe die Schwester unseres Gebieters mit Magie gewonnen?" spöttelte Farrak mit leiser Stimme. "Wer will das so genau beurteilen," zog Mercur diese Möglichkeit in Erwägung. "Jiddan respektiert eure Beziehung zu dieser Frau jedenfalls nicht und verstößt damit gegen alle Regeln der Gastfreundschaft." "Der Pala des Königs ehrt sie durch seine Aufmerksamkeit," brummte Farrak mißmutig. "Und kränkt euch durch eben diese Haltung." "Er ist Priester, nicht wahr?" "Das bin ich auch," schimpfte Mercur unwillig. "Unhöflichkeit ist keine priesterliche Tugend." "Intrige auch nicht," grinste Farrak da belustigt. "Ihr mögt diesen Mann nicht. Aber wenn ihr etwas wider ihn habt, so tragt das selbst aus und macht mich nicht zum Werkzeug eurer Feigheit." Er wollte Mercur, über den er durch Tibra einiges wußte, einfach stehen lassen. Doch nach wenigen Schritten rief ihn Mercur bereits an. Der Mann hielt nun seinen Säbel in der Hand. Farrak hingegen war unbewaffnet. "Für diese Beleidigung bezahlt ihr mir," rief Marcur erbost. Farrak zog lauernd die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, während er zugleich fast gemütlich die Arme vor der Brust verschränkte. Dann, wie beiläufig, blies er seinen Atem gegen den Mann. Es war nur ein schwacher Hauch, der seine Lippen verließ. Doch dieser Hauch erreichte Mercur
mit der Kraft eines Fausthiebs. Der Priester taumelte zurück. Die Waffe entglitt seiner Faust. Weitere Feindseligkeiten verhinderte Prinz Willar, der eben herbei kam und Farrak ins Gespräch zog.
H
arkym war mit Andraag verabredet. Im Garten des väterlichen Hauses wartete er auf den Freund. Als er Seymas mit großen Schritten nahen sah, verkrampfte er sich etwas. Der mächtigste Mann der Reiche übersah ihn bisher und seine Macht war es, die den Knaben ängstigte. Er kniete mit überkreuzten Armen nieder und als der Than direkt vor ihm stand, unterwarf er sich. Seymas trat einen nur angedeuteten Schritt auf den Knaben zu. Harkym kannte das Zeichen, sich auf die Knie zu erheben. Er gehorchte. Als der Than ihn dann beim Oberarm ergriff und auf die Beine zog, erschrak er sehr. "Sieh mich an," verlangte Seymas, dessen Stimme noch sehr sanft und freundlich klang. Harkym hob zögernd den Kopf. Aber dann richtete er seinen Blick fest auf die Nasenwurzel des Mächtigen. Einen direkten Augenkontakt ließ er nicht zu. "Ich kann deinen Geist mit Gewalt nehmen," drohte Seymas nachsichtig. "Für dich bedeutet das unnötige Schmerzen. Also schau mich an." Harkyms Blick flackerte. Dann aber dachte er an Xurestar und des Vaters heftige Reaktion und verweigerte weiterhin den Kontakt. "Ich bin kein Priester, Herr," stammelte er furchtsam. "Ich will Magier wie mein Vater sein und muß meinen Geist
beschützen. Aber wenn ihr es verlangt, werde ich mich Thyrian öffnen." Seymas sog tief den Atem ein. Der Knabe konnte es nicht wissen, doch indem er soeben seinen Willen und seinen Weg erklärte, nahm er ihm die Möglichkeit der Beeinflußung. Der Than hatte kein Recht mehr, diesen Menschen auf einen gewünschten Weg zu locken. "Dann," entschied er mit unpersönlicher Stimme, "ist hier kein Platz für dich. Du wirst Amarra sofort verlassen, Harkym." Er deutete auf den Weg. "Geh!" Der Junge schaute kurz zum Haus des Vaters. Dann warf er Seymas einen wehen Blick zu, der jede Beschränkung vergaß. Doch der Than rührte seinen Geist nun nicht an. Harkym verneigte sich leicht, ehe er wortlos seinen Schritt dem Weg zu wandte, der zur Küste führte. Andraag sah Harkym, lief ihm nach. Doch Seymas hielt ihn mit scharfer Stimme zurück: "Geh ins Kinderhaus, Andraag. Harkym ist kein Umgang für dich." Der Junge blieb gehorsam stehen. Lange sah er Harkym nach, der mit hängenden Schultern den Weg aufnahm. Als Seymas dem Tempel zuging, rührte sich Andraag noch immer nicht.
I
n gut einer Stunde war das Meer zu erreichen, doch Harkym hatte es nicht sehr eilig damit. Er fühlte sich gedemütigt und abgelehnt. Daß niemand auf Amarra leben durfte, der sich gegen das Priestertum entschied, das wußte er ja. Aber er rechnete nicht damit, daß er sofort zu gehen habe und daß es ihm nicht einmal erlaubt wurde, sich von seinen Freunden zu verabschieden. Von der Anhöhe aus
starrte er lange zum Hafen hinab. Zwei große Segler ankerten hier, auch einige kleinere Schiffe. Sie alle zeigten die weiße Farbe, gehörten zu Amarra. Kein Handelsschiff aus einem anderen Reich war nun zu sehen. Harkym ging langsam weiter. Er suchte nicht den Landungssteg, sondern schlenderte den flachen Strand entlang. Irgendwo dort oben gab es die kleinen Gastinseln. Harkym hockte sich in den Sand. Ein frischer Wind vom Meer her durchwühlte seine Locken, zerrte an seinem Haarband. Die Wellen türmten sich höher als sonst. Der Knabe starrte in die blaue Weite. Hinter dem Horizont lag Nodher. Langsam sanken die Nebel. Harkym erhob sich. Einige Männer zogen die Katamarane weiter an Land. "Verzeiht," wandte sich der Knabe an einen von ihnen, "ich brauche ein Boot." Der Mann unterbrach seine Tätigkeit. Der Knabe schien sehr traurig zu sein. "Ein Sturm kommt auf," erklärte er dann sehr freundlich. "Es wird schwierig, jetzt die Gastinseln zu erreichen. Geh dem Strand entlang, bis du mit ihnen auf einer Höhe bist." "Ihr wißt, daß ich Amarra verlassen muß?" wunderte sich der Knabe. "Es muß auch sofort sein, Herr." "Dann," entschied der Mann, "werde ich dich hinbringen." Harkym schüttelte den Kopf. Jetzt lächelte er sogar etwas. Seymas war nicht Amarra, er herrschte hier nur. Die Menschen, die hier lebten, zeigten sich freundlicher als ihr Herr. "Ich kann gut mit dem Segel umgehen," versicherte der Knabe. Er deutete auf ein etwas größeres Gefährt. "Kann ich den dort haben?"
Der Mann nickte dazu. Er half Harkym, den Katamaran ins Wasser zu schieben, befestigte ihm das Luggersegel und ließ ihn dann allein. Der Knabe hielt die Führleine mit fester Hand, während der Wind das Segel blähte und den Katamaran mit großer Geschwindigkeit voran trieb.
A
ndraag ging ins Kinderhaus, aber er blieb nicht lange. Wenn Harkym ging, so wollte er sich wenigstens von ihm verabschieden. Der Knabe rannte dem Meer zu. Doch er sah nur noch das Segel auf den Wellen. Andraag lief am Ufer entlang. Er hoffte, Harkym würde ihn zumindest noch einmal sehen.
S
eymas schickte die Priester im Gang vor Thyrians Gemächern fort. Als er eintrat, ließ er sogar die breite Tür offen, damit die Freunde dies sehen konnten. Tibra starrte ihm finster entgegen. Thyrian würdigte ihn keines Blickes. Er trat zum muskovitverglasten Fenster und sah in die tief wehenden Nebel hinaus. "Ich habe Harkyms Geist nicht angerührt," versprach der Than. Thyrian wandte sich um und Tibra entspannte sich etwas. "Aber ich habe ihm befohlen, Amarra zu verlassen. Keine Eile, Tibra, du kannst jetzt nicht zu ihm. Es dunkelt bereits. Künftig wirst du ohne ihn zu uns kommen müssen." "Daran habe ich nie gezweifelt und auch Harkym weiß, daß er Amarra nicht mehr aufsuchen kann. Wir müssen seine Wahl respektieren." "Das muß ich nicht," fuhr ihn der Than da unwillig an. "Ich lasse es geschehen. Aber ich nenne es nicht gut. Du hättest ihn auf seine Bestimmung vorbereiten müssen." "Welche Bestimmung? Du selbst hast mir erklärt, daß ein Tempelkind nicht zwangsläufig Priester werden muß.
Ich habe den Jungen seit Jahren immer wieder mit hierher gebracht. Ich wollte, daß er Amarra kennt und deine Welt. Tatsächlich kennt er auch sehr viel mehr Priester als Magier. Was ein Außenstehender über die Götter wissen kann, das weiß er. Von Magie weiß er fast nichts und auf alle Fälle hat er sie nie in vollem Ausmaß wirken sehen. Wenn er nun der Ansicht ist, sie sei sein Weg, so werde ich ihm dabei ebenso helfen, wie ich ihn bei jeder anderen Entscheidung unterstützen würde." "Aber er traf diese Wahl gewiß nicht aus Überzeugung," wehrte Seymas ab. "Es hat ihn wohl nur verunsichert, daß viele seiner Freunde hier plötzlich über Leitung nachdenken. Er wollte es ihnen gleich tun, indem auch er sich entschied." "Das ist falsch! Er entschied sich bereits auf Silsa." Als er diese Worte sagte, starrten die beiden Freunde ihn sprachlos an. Schließlich vergewisserte sich Seymas: "Er war auf Silsa?" "Er wollte die Insel sehen," gab Tibra achselzuckend zu. "Und das hast du geduldet?" fragte Thyrian vorsichtig. "Es war vor der Lichtwende," bestätigte Tibra. "Die Insel zeigte sich noch menschenleer. Harkym meinte, er spüre Kraft in den Tempeln und er wollte wissen, ob er sie auch auf Silsa spüren kann." "Und dann?" "Und dann traf er Bransyl, der ihn bedrohte. Seltsamerweise aber hat Bransyl den Jungen nicht behindert. Harkym erkundete die Insel, fand auf ihr dasselbe wie in den Tempeln, auf Amarra, an Quellen oder bei großen Bäumen. Er begriff, daß die Kraft nicht außerhalb, sondern in ihm ist
und daß er auf jedem Pfad, den er gehen wird, Erfüllung finden kann." "Also auch auf meinem Weg," begriff Thyrian lächelnd. "Gegen den er sich aber entschied," bestätigte Tibra gelassen. "Es war unverantwortlich, dem Knaben Silsa zu sehen," hielt Seymas dem Freund vor.
zu
erlauben,
Tibra schüttelte ein wenig traurig den Kopf. "Es war unverantwortlich, daß ich dir das einmal erlaubt habe, noch dazu zum Fest der Lichtwende," erinnerte er. "Aber immerhin kannst du dadurch beurteilen, ob Silsa in der Lage ist, einen Menschen zur Magie zu rufen. Amarra ruft zum Priestertum. Diese kleine Insel beeinflußt den Menschen nicht. Und auch Bransyl tut das nicht, wie du sehr wohl wissen dürftest." "Ich erinnere mich nicht gern an jene Nacht, in der ich glaubte, dich sterben zu sehen." Seymas' Stimme klang nun versöhnlicher. "Ich will jetzt auch nicht mit dir streiten. Harkym wird begreifen, daß er sich falsch entschied und dann kommt er zu mir." "Wir werden es erleben," wich Tibra einer klaren Antwort aus. Es war müßig, jetzt weiter darüber zu reden. Draußen wehte ein kräftiger Wind von sturmähnlichem Charakter durch die dichten Nebel, die keinen Schritt Sicht erlaubten. Dieses ungewohnt unfreundliche Wetter drückte auf die Stimmung. Alles schien bedeutsamer und auch gefährlicher zu sein. Ein falsches Wort konnte eine jahrelange Freundschaft beenden. Dieses Risiko wollte keiner von ihnen eingehen.
D
harin hatte Mühe, den aufgeregten Andraag auch nur zu verstehen. Es dauerte sehr lange, bis der Junge sich wenigstens so weit beruhigte, daß er zu flüssiger Rede fähig war. Und was er Dharin dann berichtete, gefiel dem Priester gar nicht. Schließlich brachte er Andraag ins Kinderhaus, wo er das lange Fernbleiben des Knaben damit entschuldigte, daß er ihm diente. Andraag lächelte dankbar. Dieser Mann würde gewiß niemandem verraten, daß er versuchte, Harkym noch einmal zu sehen. Im Tempel wollte man den Priester dann nicht vorlassen. Niemand kam ungerufen zum Than. Dharin besaß keinen Rang, der es erlaubte, für ihn eine Ausnahme zu machen. Also suchte er ein in der Nähe stehendes Haus auf. Hier lebte Caryll, inzwischen über sechzig Jahre alt. Zu Nymardos' Zeiten war er Pala des Than und danach endete seine Aufgabe nicht. Er arbeitete eng mit Thyrian zusammen und das gute Einvernehmen der beiden Männer war allgemein bekannt. Caryll hörte dem Priester schweigend zu. Dann führte er ihn selbst in den Tempel. Niemand hielt sie nun auf. Insgeheim begrüßten die Freunde die Störung, da sie doch hoffen konnten, jetzt ein anderes Gesprächsthema zu finden und die aufkeimende Zwietracht so zu überwinden. Dharin hatte sich unterworfen. Nachdem ihm erlaubt war, sich zu erheben, wandte er sich dann nur an Tibra. Er kniete nahe vor ihm nieder. "Ich bringe schlimme Nachricht, Herr," suchte er nach Worten. "Euer Sohn..." Noch ehe er zu Ende sprechen konnte, hatte Tibra schon seine Schultern gepackt und ihn auf die Beine gezogen. "Was ist mit Harkym?" drängte er.
Dharin wich seinem Blick aus, als er mit leise vibrierender Stimme berichtete: "Er ließ sich einen Katamaran geben, Herr. Trotz des nahenden Sturmes lenkte er hinaus aufs Meer. Man hat sein Segel weit draußen in den Nebeln gesichtet, gerade so, als wolle er nach Nodher segeln. Der Sturm zog ihn immer weiter aufs Meer hinaus." Tibra erbleichte. Seine Knie gaben nach; er mußte sich setzen. Thyrian dankte Caryll für dessen umsichtiges Handeln und Dharin für dessen Botschaft. Er entließ die beiden Männer, schloß die Tür hinter ihnen. Dann reichte er Tibra einen Becher Tratta. Der würzige, scharfe Schnaps wirkte, denn der leere Blick des Magiers gewann wieder an Leben. Er starrte Seymas an. "Wer sollte Harkym zu den Gastinseln bringen?" fragte er mit noch tonloser Stimme. "Er ging allein." Seymas wollte sich besorgt neben Tibra setzen, doch der wehrte fast aggressiv ab. "Dein Sohn ist alt genug für diesen Weg. Und er kennt die Gastinseln. Er mußte wissen, daß ich ihn nicht nach Nodher befahl." Tibra schloß die Augen. Harkym vermochte es, einen Katamaran zu lenken und er kannte auch wirklich diese Inseln und deren Zweck, all jene aufzunehmen, die Amarra nicht betreten durften. "Du hast seinen Geist nicht angerührt," erinnerte er. "Weshalb nicht? Hat er sich dagegen gewehrt?" "So ist es," gab Seymas etwas zerknirscht zu. "Und ich wollte ihm keine Gewalt antun." "Was war noch?"
"Was meinst du?" "War er allein?" "Als ich mit ihm fertig war, wollte Andraag zu ihm, was ich nicht erlaubte. Harkym ist allein gegangen. Wenn Dharins Botschaft stimmt, gibt es nicht viel Hoffnung. Ein Sturm geschieht selten und wenn, dann sucht er nie mein Land heim, sondern zieht stets weit hinaus aufs offene Meer, dorthin, wo es keinen Horizont und keine Richtung gibt. Trotzdem werde ich meine Segler veranlassen, morgen nach Harkym zu suchen." "Sie segeln nur so weit, wie sie noch Land erblicken." "Natürlich, Tibra. Ich hoffe, das wird genügen." "Es genügt nicht," brauste der Magier da mit überraschend kraftvoller Stimme auf. "Schau zum Fenster! Der Sturm tobt mit unbändiger Kraft. Gib mir ein Schiff." "Das werde ich ganz bestimmt nicht tun," fuhr ihn Seymas an. "Es ist niemandem geholfen, wenn du dein Leben wegwirfst." Tibras Hand schnellte nach vorn, krallte sich an Seymas' weißer Tunika fest. "Gib mir ein Schiff," verlangte er nochmals. "Nein! Du wirst keinen meiner Leute bitten, dich auf einer hoffnungslosen Reise zu begleiten. Damit wir uns nicht mißverstehen, Tibra: das ist ein Befehl." "Dann gib mir einen Einhandsegler." "Den kannst du nicht bedienen." Seymas löste sich nachdrücklich aus Tibras Griff. "Und so ein kleiner Segler
ist auch nicht für weite Strecken geeignet. Ich werde entsprechende Anweisung geben. Niemand vertraut dir heute ein Schiff an. Wenn Harkym nicht zu weit draußen ist, kann er noch gefunden werden. Aber ich will dir keine große Hoffnung machen." Tibras Zorn und seine Angst um den Sohn explodierten. Plötzlich schnellte seine Faust nach vorn. Thyrian reagierte überraschend schnell, warf sich dazwischen und fing den Hieb mit der Schulter ab. "Nein," fauchte Tibra erregt, Thyrian dabei sogar einen bösen Blick zuwerfend, "du willst keine Hoffnungen machen. Das hast du irgendwann verlernt, als dir deine Macht zu Kopf gestiegen ist. So, wie du Zorynas verzweifeln läßt, so läßt du einen zwölfjährigen Knaben, bedroht von deiner Macht, allein." "Genug." Seymas sagte es ganz leise, doch gerade deshalb sehr wirkungsvoll. Thyrian trat zwischen die beiden. Seine Schulter schmerzte, doch das konnte im Moment nicht wichtig sein. "Das hilft nicht," mahnte er Tibra. Und dann ging er zur Tür, um den Raum zu verlassen. "Was tust du?" wunderte sich der Than. "Ich weiß wohl, daß es Stunden gibt, in denen es mehr als nur unklug wäre, mit dir zu streiten," erwiderte der Freund, ohne ihn anzusehen. "Ich hoffe, Tibra nimmt sich ein Beispiel, ehe er sein eigenes Leben gefährdet." Er ging hinaus. Von oben aus dem Tempel ertönte eben der Ruf zu Raakis Ritual. Aber Tibra hatte verstanden. Daß er versuchte, Seymas zu schlagen, das allein war ein to-
deswürdiges Verbrechen. Jedes zornige Wort konnte jetzt ein Urteil bewirken. Wenn Thyrian erst gar nicht versuchte, vermittelnd einzugreifen, dann muß Seymas in einer Verfassung sein, die nur noch die eigene Macht sah. So ging auch der Magier aus dem Raum. Seymas sah ihm nach, doch er sagte kein Wort mehr und ließ ihn einfach gehen.
D
ie Nacht dehnte sich endlos für Tibra. Dharin befand sich nicht in seinem Haus, was der Magier mit Zufriedenheit zur Kenntnis nahm. Er war nicht in der Verfassung, jetzt einen Menschen zu sehen. Tibra ruhte kurze Zeit, doch sein Schlaf erreichte natürlich keine Tiefe. Lange stand er unter der geöffneten Tür seines Hauses. In der nebeldichten Dunkelheit zerwühlte der starke Wind sein Haar. Doch der Sturm tobte nicht an Land, sondern draußen auf dem Meer. Inzwischen hatte er nachgelassen, zumindest in Küstenähe. Tibra fühlte sich weitgehend gedankenleer. Über Seymas wollte er nun nicht nachdenken und es gab keine Möglichkeit für ihn, den Sohn jetzt auf magischem Weg zu finden. Es war ja nicht das erste Mal, daß Harkym verschwand. Bisher fand er stets eine Richtung, doch stand ihm dann zumindest eine halbwegs brauchbare Karte zur Verfügung. Die unbekannte Weite des Meeres zeichnete niemand auf. Kein Schiff segelte weiter, als es das Land zu sehen vermochte. Einzig der Weg von Amarra nach Nodher verlangte es, daß die Seeleute den Mut aufbrachten, für eine kurze, sehr kurze Zeitspanne den Horizont zu verlieren. Tibra kannte die Katamarane Amarras genau. Sie wurden aus einem einfachen Kanu mit breitem Ausleger gebaut und von den Menschen in Küstenähe überall benutzt. Das Luggersegel erlaubte ein sicheres manöverieren. Und ein solches Gefährt konnte nicht kentern. Daran klammerte er nun seine Hoffnung. Der Sturm mochte den Katamaran des Sohnes weit aufs Meer getrieben haben, er hatte ihn jedenfalls nicht versenkt. Tibra vertraute darauf, daß Harkym klug
genug war, sich in der Gewahr festzubinden, um nicht über Bord gespült zu werden. Und er wußte mit letzter Sicherheit, daß Harkym in seiner verzweifelten Einsamkeit jetzt darauf vertraute, daß der Vater alles unternahm, um ihn zu finden. Ganz langsam hoben sich die Nebel. Tibras Blick glitt zum Tempel, der kaum als Schemen zu ahnen war. Er begriff nicht, weshalb Seymas sich weigerte, ihm jetzt ein Schiff zu geben. Der Freund wußte, daß er keine Gefahr scheute, wenn es um Harkym ging. Er wollte ihn zweifellos schützen. Aber der Magier zweifelte ernstlich daran, daß eine Suche in Küstenähe Erfolg haben könne. Trotzdem ging er, sobald der Pfad zu erkennen war, dem Hafen zu. Als er die Küste erreichte, sah er manches Segel draußen auf den Wellen. Die kleinen Einhandsegler hatten sich weit verteilt. Aber einer von ihnen ankerte. Tibra hoffte noch, er würde dieses Schiff erhalten. Am Landungssteg ankerten zwei größere Schiffe. Eines davon hatte ihn hierher gebracht. Tibra seufzte. Diese prachtvollen Segler besaßen ausgezeichnete Stag- und Gaffelsegel, waren sehr gut zu manöverieren, schnell vor dem Wind und auch für größere Reisen geeignet. Aber man brauchte eine ganze Mannschaft, um sie zu lenken. Und es war ihm verboten, jemanden um Hilfe zu bitten. Er trug noch den Umhang, der nur einem Falla zustand. Er war noch Pala des Than und seinem Befehl würde sich niemand widersetzen. Doch Tibra hielt es durchaus für möglich, daß Seymas bereits entsprechende Anweisung gab und den Männern verbot, mit ihm zu reisen. Tibra seufzte leise. Er fühlte sich wirklich machtlos. Wieder sah er zu dem kleinen Segler. Die Wahrscheinlichkeit, daß er ihn erhielt, war mehr als nur gering.
Nun ja, einen Katamaran würde man ihm nicht verweigern und mit einem solchen konnte er der Küste entlang segeln, bis er in einen Hafen kam, der vielleicht Seymas' Befehle, ihn betreffend, nicht kannte. Er mußte es versuchen. "Wollt ihr mir folgen, Herr?" Ein junger Priester der dritten Ebene war zu ihm getreten und verneigte sich, wenn auch nur angedeutet, gerade so, als wolle er keine Aufmerksamkeit erregen. Irritiert schaute Tibra ihn an. Er kannte Dalphan, wenn auch nur flüchtig. Er diente einige Jahre hindurch Thyrian und als es ein Zerwürfnis gab, versöhnte Tibra die beiden Männer. Das lag lange zurück; Tibra hatte Dalphan fast vergessen. Er kam auch nicht dazu, eine Frage zu stellen, denn der Mann ging schon am Stand entlang. Er sah nicht zurück, sondern begab sich an Bord des großen Seglers. Tibra zögerte. Das war Seymas' Schiff. Er wollte nicht in Küstennähe suchen. Er sah keinen Sinn darin. Aber Dalphan wirkte fast ängstlich, auf alle Fälle sehr unsicher. Ganz gewiß kam er nicht auf Geheiß des Than zu ihm. Die Sache wirkte seltsam. Nun, er würde an Bord erfahren, wer den Priester sandte und niemand konnte ihn zwingen, auf dem Segler zu verweilen. Tibra folgte dem Priester.
D
ie Männer auf dem Schiff hatten nur auf ihn gewartet. Als er an Bord kam, setzten sie sofort Segel. Der Anker war schon halb eingezogen. Langsam glitt das stolze Schiff aus dem Hafen. Tibra stand auf den Planken und starrte die Männer einzeln an. Er kannte sie alle. Einige segelten stets mit ihm, wenn er von Silsa kam und brachten ihn später zurück nach Nodher. Im Heck stand Sasaran und erteilte seine Befehle. Tibra sog tief den Atem ein.
Also brachte man ihn zurück nach Nodher. Seymas wollte kein Wagnis eingehen und nicht riskieren, daß sein Pala sich auf Amarra gegen ihn stellte. Der mißglückte Fausthieb stand ja auch noch zwischen ihnen. Es fiel Seymas wohl leichter, den Freund wegzuschicken als ihn zu verurteilen. Tibra trat in den Bug, starrte auf die Wellen vor sich. Bis zum Abend würde man Nodhers Küste erreicht haben, aber es dauerte einen weiteren Tag, bis auch ein Hafen gefunden wurde. Dort würde er natürlich problemlos ein Schiff kaufen können. Aber es dauerte zu lange. Harkym konnte nicht ewig allein auf dem Meer überleben. Er wandte sich wieder um. Vielleicht konnte er die Männer übereden, ihn auf Amarra zu lassen. Doch nun fiel ihm auf, daß die Mannschaft nicht komplett war. Zu wenige Seeleute manöverierten das Schiff. Er sah einige Frauen, die er kannte. Er sah Priester, die zuvor noch nie das Meer befuhren. Dann sah er zur Küste. Der Segler nahm nicht Kurs auf Nodher, er hielt sich weiter in Amarras Nähe auf. Ein böses Lächeln umspielte seine Lippen. So übel war das gar nicht. Wenn der Segler seinen Kurs beibehielt, erreichte er bald Regionen, in denen Seymas seine Befehle nicht so explizit nannte, weil er nicht damit rechnete, daß der Magier dort auftauchte. Und Tibra traute es sich durchaus zu, schwimmend das Land zu erreichen. Seine Hände umkrallten die Reeling, während sein Blick sich an der Küste festfraß. Tibra zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als sich für ihn unerwartete eine Hand auf seine Schulter legte. Er fuhr herum und starrte geradewegs in Thyrians Augen. "Du hier?" Tibra konnte es kaum glauben. "Warum? Was geschieht hier? Welches Spiel spielt Seymas mit mir?" "Seymas weiß hoffentlich noch nichts von diesem Segler," erwiderte Thyrian mit feinem Lächeln. "Sage uns die
Richtung, Tibra. Wir müssen weit draußen sein, ehe er es bemerkt, damit uns auch keiner der kleineren Segler mehr zurück befehlen kann." "Du hast den Leuten befohlen...?" Tibra hielt das schlichtweg für unmöglich. Thyrian schüttelte sacht den Kopf. "Was mit Harkym geschah, sprach sich sehr schnell herum. Als ich gestern abend zum Hafen kam, waren sie schon fast alle an Bord. Diese Leute wissen nicht, daß du niemanden um Hilfe bitten darfst. Und sie warten auch auf keine Bitte. Sie sind alle freiwillig hier." Thyrian lächelte auf seltsame Art. "Seymas hat nicht verboten, dir freiwillig zu folgen." "Aber er verbot, mir ein Schiff zu geben." "Sasaran befehligt das Schiff. Das ist sein Amt und seine Aufgabe." Tibra preßte die Handflächen gegen sein Gesicht. Er mußte seine Gedanken ordnen. Als er Thyrian wieder ansah, wirkte er sehr gefaßt. "Es geht nicht, Thyrian. Alles, was ich will, das ist ein Einhandsegler, der es mir ermöglicht, nach Harkym zu suchen. Ich weiß sehr wohl, daß diese Suche lebensgefährlich ist. Ich kann nicht dich und all diese Menschen in Gefahr bringen." "Sie sind freiwillig hier," mahnte Thyrian ganz ruhig. "Ich habe in der Nacht ihre Gespräche gehört, Freund. Sie wissen sehr genau, welche Gefahr diese Reise mit sich bringt. Jeder einzelne von ihnen hat das genau bedacht. Sie mögen unterschiedliche Motive haben, doch sie sind alle entschlossen."
"Und du?" "Ich sollte dir alle Knochen brechen, weil du versucht hast, Seymas zu schlagen," sagte Thyrian da sehr ernst. "Wenn wir Erfolg haben und Harkym finden, dann müssen sich diese Leute vor Seymas rechtfertigen. Ich bin hier, um für sie einzutreten. Verstehst du das, Tibra? Indem ich auch hier bin, kann er sie nicht verklagen. Außerdem, nun, ich denke, du kannst uns in die Weite des Meeres leiten. Aber wenn wir zurück finden wollen, dann brauchen wir Kontakt nach Amarra. Ich kann Seymas' Geist erreichen. Niemand sonst kann das tun." Tibra war noch verunsichert. Als Thyrian aber weiter drängte, deutete er endlich aufs Meer hinaus. Sasaran hatte nur auf dieses Zeichen gewartet. Er riß das Ruder herum und lenkte das Schiff von Amarra fort.
S
eymas leitete das morgentliche Ritual. Danach spazierte er durch den parkähnlichen Garten. Er hielt seinen Geist weit geöffnet, um zu erspüren, was in den Menschen ringsum vorging. Tibras Vorwurf, daß er seine Macht mehr oder weniger mißbrauche, ging nicht spurlos an ihm vorüber. Doch für den Moment war es wohl aussichtslos, ein offenes Gespräch mit dem Freund zu suchen. Viel später erfuhr er durch Caryll, daß Thyrian nicht im Tempel weilte, obgleich er dadurch einige Termine versäumte. Seymas nahm dessen Aufgaben wahr. Er könnte Thyrian im Geist erreichen, doch er zog es vor, sich auf ganz konventionelle Art nach dessen Verbleib zu erkundigen. Und als er dann sicher wußte, daß die beiden Freunde über das Meer segelten, empfand er zunächst puren Zorn. Seine Gedanken schweiften ab. Die bedrohliche Weite des Meeres besaß einen eigenen Schrecken. Als Kind war er einmal an Bord gewesen, als Nymardos seinen Segler weit
hinaus lenkte. Damals jagten sie einen von einer inmateriellen Wesenheit besessenen Mann. Jeder fürchtete, sie würden die Richtung verlieren. Aber zugleich vertraute man darauf, daß Nymardos wußte, was er tat. Und er brachte sie auch alle zurück. Auch Seymas als Knabe vertraute dem damaligen Than, trotzdem erinnerte er sich an das seltsame Gefühl des Verlassenseins, das die Weite des Meeres bewirkte. Harkym, sofern er noch lebte, besaß keine Hoffnung in seiner Einsamkeit. Seymas erinnerte sich an jene Nacht, die er auf Silsa verbrachte. Die Magier dort verklagten Tibra, ein Priester zu sein. Um seine magische Macht zu beweisen, trat er ins Lichtwendfeuer. Seymas begriff nie, weshalb er nicht darin verbrannte. Aber er vergaß auch nie den wehen Schmerz, den er verspürte, weil er den Freund vermeindlich sterben sah und nichts für ihn tun konnte. Die beiden Menschen, die ihm mehr bedeuteten als alle Macht und ganz Amarra, die befanden sich jetzt auf dem Weg in eine Zukunft, die nur den Tod bringen konnte. Er kämpfte gegen den Schmerz an, der in ihm wachsen wollte. Seymas trat zum Fenster seines Wohnraumes, öffnete es weit. Er konnte Thyrian im Geist erreichen, ihm die Rückkehr befehlen. Aber er wußte, daß der Freund nicht auf ihn hören würde und so unterließ er es. Thyrian stellte sich vor Zeugen niemals gegen ihn, doch ohne solche vertrat er durchaus seine Meinung und stand zu seiner eigenen Überzeugung. Und ein geistiger Kontakt kannte keine Zeugen. Sie kehrten vermutlich nicht mehr zurück. Tibra würde das Schiff immer weiter aufs Meer hinaustreiben und diese Wasserwüste dehnte sich endlos. Seymas mußte weiter denken. Die Fallas der Reiche, alle Fallas, standen in zwingendem Kontakt mit Amarra. Sie alle besaßen in der Nähe des Tempels einen Rapportbruder oder eine Rapportschwester. Nur auf diese Weise war es möglich, daß er stets wußte, was in den Tempeln geschah und seinen Willen dort durchset-
zen konnte. Thyrian hielt den Rapport zu Raakis Tempel in Nodher. Gerrys, der Falla, brauchte eine neue Rapportverbindung, wenn Thyrian nicht wiederkehrte. Und diese geistige Brücke konnte nur von Angesicht zu Angesicht gewoben werden. Er mußte Gerrys nach Amarra rufen. Seymas suchte Kontakt zu Nymardos. Er unterhielt keinen Rapport mit ihm, doch ein stärkerer Geist konnte einen schwächeren, dessen Schwingungen er genau kannte, immer erreichen. Und er galt als der stärkste, inkarnierte Geist. Nymardos zu finden, fiel ihm leicht, waren sie einander doch einst sehr vertraut. "Ich will, daß Gerrys zu mir kommt," verlangte er. "Das wird geschehen. Wir befinden uns in Burg Nodher. Gerrys hat die Abgaben des Tempels seinem König überbracht." "Ganz sicher eine seiner angenehmsten Aufgaben." Nymardos war sicher, daß Seymas jetzt sehr erheitert war. In der geistigen Verbindung wurden Gedanken so klar wie gesprochene Worte übermittelt, aber Gestik und Mimik ließen sich nur erraten. "Wir reiten morgen früh zum Riatha und werden in vier Tagen bei dir sein. Ein Tempelbericht wird aber unvollkommen ausfallen, da Gerrys nicht mit diesem Ruf rechnen konnte und nicht vorbereitet ist." "Kommt einfach zu mir," verlangte der Than, ehe er den geistigen Kanal verschloß. Er schmunzelte. Von allen Fallas verlangte er hin und wieder einen detaillierten Bericht über den ihnen anvertrauten Tempel. Einmal, vor Jahren, hatte er Gerrys' Bericht getadelt und den Falla darin sehr gedemütigt. Gerrys fürchtete seither
solche Stunden, obwohl sie sich in ihrer negativen Form nie mehr wiederholten. Er leistete guten Dienst und Seymas wußte das. Unwillkürlich dachte er an Tibra. Ein beruhigender Gedanke, noch in der Verbindung Nymardos übermittelt, würde Gerrys jedes ungute Gefühl ersparen. Vielleicht hatte er wirklich verlernt, Hoffnung zu vermitteln. Mit düsterem Sinn widmete er sich danach seinen Aufgaben.
S
ie sahen kein Land mehr, doch sie empfanden dies noch nicht als Bedrohung. Tibra schien genau zu wissen, wohin die Reise gehen mußte. Trotzdem wirkte er bleich und erschöpft. Thyrian reichte ihm einen stärkenden Trank. "Ich sollte dich wohl nicht fragen, was du tust," stellte er dabei fest. Tibra lächelte matt. "Es wäre auch schwer zu erklären," erwiderte er. "Harkym hat einen kleinen Stein bei sich. Dieser Stein ist, hhm, sagen wir so, daß ich seinen Geist kenne und versuche, ihn zu orten." "Nur ein Stein?" "Ein ganz gewöhnlicher Stein, Freund. Ich habe ihn aus dem Büßerhügel mitgebracht. Das erschwert die Sache, weil er mehr mit Amarra als mit Harkym verbunden ist. Ich habe den Jungen aufgefordert, zu ergründen, weshalb ein Stein wichtig sein kann. Ich hoffe, er konzentriert sich auf diese Aufgabe, denn je mehr er das tut, desto eher lenkt mich dieser Stein zu ihm." "Du wirkst erschöpft." "Das bin ich auch. Magie ist eine Geisteshaltung, aber in ihrer Ausübung erfordert sie viel Kraft. Und ich mache mir
Sorgen, weil wir viel zu langsam voran kommen." Sie sahen beide zu den Segeln hinauf. Der Wind flaute mehr und mehr ab. Das Schiff verlor an Geschwindigkeit. Gegen Abend herrschte dann Windstille. Ruhig lag der Segler auf den flachen Wellen. Inzwischen hatte Tibra mit den Menschen geredet, ihnen auch für ihren Beistand gedankt. Jetzt ruhte er sich etwas aus. Er saß auf einer Decke auf den Schiffsplanken, lehnte gegen die niedere Reeling und starrte finster zu den Nebeln hinauf. Insanna setzte sich zu ihm. Zögernd griff sie nach seiner Hand. "Eure Magie hat keinen Einfluß auf den Wind?" erkundigte sie sich vorsichtig. Er lächelte wehmütig, ehe er ihre Hand an seine Lippen zog. "Die Elemente sind schwer zu beherrschen," erklärte er dann. "Niemand kann sie alle lenken. Ich beherrsche das Feuer." "Und eure Freunde?" Er erzählte ein wenig von denen, die das Wasser beherrschten, von Bransyl und seiner Macht über die Erde und dann auch von Farrak, der den Geist der Luft kannte. "Es gibt wohl keinen Rapport unter Magiern, so daß ihr eure Freunde befragen könntet?" murmelte Insanna traurig. Tibra schüttelte den Kopf. Müde lehnte er sein Haupt gegen ihre Schultern, genoß ihre Geborgenheit versprechende Wärme und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Es lag zwölf Jahre zurück. Farrak lebte damals in Leris, einer kleinen Siedlung an den Ufern des Riatha. Sie kannten
sich aus Silsa und Farrak wußte um Tibras Vergangenheit. Als Dimira mit ihren beiden Kindern in Leris auftauchte, wollte Farrak, daß Tibra endlich erfuhr, wo sein Sohn lebte. Er schaffte eine, wenn auch sehr subtile, Art der Verbindung. Farrak nannte diese Verbindung eine Astralreise. Tibra beherrschte diese Art des Reisens nur in Ansätzen. Abrupt setzte er sich auf. Er mußte es einfach versuchen. Die Zeit lief davon und er hielt es nicht aus, untätig zu bleiben. Der Magier zog sich in die Kabine zurück. Thyrian folgte ihm sofort. "Was ist los?" wollte er wissen. "Ich werde versuchen, Farrak zu erreichen," erklärte Tibra. "Er beherrscht den Wind. Vielleicht finde ich Hilfe bei ihm." "Eine geistige Exkusion?" Thyrian nur mißtrauisch. "Auf diese Entfernung?"
wirkte
mehr als
"So wenig, wie ich erlauben kann, daß mein Geist berührt wird, so wenig würde ich ihn auf eine Weise aussenden, wie ihr Priester das tut." Tibra lachte leise. "Das kann ich auch nicht," gab er dann zu. "Es ist keine geistige Exkursion, Freund. Farrak nennt es eine Astralreise. Dabei ist der ganze Mensch beteiligt, mit Ausnahme seines Körpers, wohl aber doch in körperlicher Form. Schwer zu erklären." "Das brauchst du auch nicht," versicherte Thyrian rasch. "Sag mir nur, ob es gefährlich ist und ob ich dir dabei helfen kann." "Diese ganze Reise, die wir hier unternehmen, ist gefährlich," brummte der Magier. "Stille wäre hilfreich."
Thyrian nickte. Er ließ den Freund allein, schloß die Tür hinter sich. Draußen gab er Anweisung, sich ruhig zu verhalten. Nur der Hauptmast knarrte ein wenig. Sonst war nichts mehr zu hören. Tibra beherrschte diese Art des Reisens wirklich nicht. Ein Magier spezialisierte sich immer. Keiner kannte alle Arten des Handelns. Ein wenig wußte er von Farrak, ein wenig hatte er sich auch darin geübt. Doch mühelos zeigte sich der Versuch nicht. Gleich einem Vogel eilte er über das Meer. Er mußte den Weg zu Farraks Haus im Grunde wirklich gehen. Es dauerte und es erforderte Konzentration. Ein abschweifender Gedanke bestimmte eine neue Richtung. Schweiß perlte auf Tibras Stirn. Er zwang sich das Letzte an Kraft ab und erreichte schließlich sein Ziel.
A
ls er taumelnd aus der Kabine trat, war Thyrian sofort bei ihm. Er wünschte, der Magier sei etwas weniger um seinen Geist besorgt, denn dann dürfte er ihn nun anrühren und stärken. Aber er respektierte die Einstellung des Freundes und versuchte es nicht einmal. "Es muß etwas passiert sein," murmelte Tibra erklärend. "Farraks Haus schien halb zerstört. Er ist wohl nicht dort." Das klang fast verzweifelt. "Es war auch nur eine winzige Chance. Hoffen wir, daß der Wind sich bald wieder erhebt." "Du hättest dich mit Farrak verständigen können?" "Ich hätte es versucht," gab Tibra, etwas hilflos, zu. "Ich brauche einen Namen von ihm. Aber wenn ich nicht weiß, wo er ist, kann ich ihn auch nicht erreichen." Thyrian überließ den Freund Bakaar und Sasaran, die ihn ins Gespräch zogen. Er selbst ging ins Heck, wandte der Mannschaft den Rücken zu. Niemand würde ihn jetzt stören, das wußte er.
Der Magier Farrak gehörte zum innersten Zirkel. Thyrian hatte davon gehört. Vor allem aber wußte er, daß er gemeinsam mit der Priesterin Wana Miska wendete. Und Wana unterhielt Rapport zu ihrer einstigen Leiterin auf Amarra. Die beiden Frauen liebten einander. Ihre geistige Brücke bestand nicht auf Befehl hin, sondern aus Zuneigung. Wana mußte wissen, wo sich Farrak aufhielt. Thyrian sandte seinen Geist aus. Er mußte Seymas erreichen und diesen bitten, Wanas Rapportschwester zu befragen. Er schwankte ein wenig, als er spürte, wie Seymas seinen Geist vor ihm verschloß. Er wollte keinen Kontakt. Thyrian sog tief den Atem ein. Der Than zürnte mehr, als er bisher annahm. Sollten sie zurück kehren, mußte die Begegnung sehr unangenehm werden. Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Nun, sie würden vermutlich noch lange unterwegs sein. Für Tibra war es wichtig, Farrak zu finden. Das mochte eventuell zu einem späteren Zeitpunkt auch noch nützlich sein. Thyrian öffnete den Rapport zu Gerrys, spürte sofort, wie dieser innerlich abwehrte und zog sich zurück. Eine solche Verbindung war für Priester nicht ungefährlich. Jede Störung darin konnte Schaden bewirken. Gerrys befand sich wohl in Gesellschaft, da er abzublocken versuchte. Thyrian lächelte still vor sich hin. Der Falla war nicht stark genug, um ihn wirklich zu behindern. Darüber hinaus stellte ein Rapport auch eine zwingende Verbindung dar. Er wartete. Nicht sehr viel später war es dann Gerrys, der den Kanal öffnete. "Ich bitte um Vergebung," ließ er Thyrian wissen, "daß ich mich nicht sofort öffnete. Jetzt bin ich bereit für dich." Thyrian stand reglos. Der Gedankenaustausch kannte keine fremde oder ehrende Anrede; er verbrüderte auf seine eigene Art.
"Es ist gut," ließ er Gerrys wissen. "Tibra vermutet, daß dem Magier Farrak ein Leid geschah, da dessen Haus wohl verwüstet ist. Ein schneller Reiter kann vom Tempel aus in drei Tagen an jenem Ort sein. Sende einen Mann, mit dem du in Rapport bist." "Farrak ist hier." "Im Tempel?" "Ich bin in Burg Nodher, von wo aus ich morgen nach Amarra aufbreche. Du weißt nicht, daß ich gerufen bin? Farrak ist gestern hier eingetroffen." "Dann sprich mit ihm. Sage ihm, daß Tibra einen Namen braucht." "Wessen Namen?" "Farrak wird also eile dich."
es
wissen. Ich warte auf deine Antwort,
Thyrian endete den Rapport. Er wartete in einer seltsamen Unruhe darauf, daß Gerrys ihn erneut belebte.
A
ls der Falla von Nymardos erfuhr, daß er gerufen war, empfand er eine deutliche Unruhe. Es beschäftigte ihn, daß nicht Thyrian, wie es der Sitte entsprach, diesen Ruf übermittelte. Hierüber unterhielt er sich mit Nymardos und Ariston, als er den belebten Rapport abwies. "Öffne dich unbesorgt," hatte Ariston da versprochen. "Wir schirmen deinen Geist ab." "Anscheinend hat Thyrian wirklich nichts von dem Ruf gewußt, der dich nach Amarra befiehlt," überlegte Nymardos, nachdem Gerrys berichtete. "Das ist mehr als selt-
sam, denn bisher war er immer über alles unterrichtet. Wie dem auch sei, wir sollten Farrak befragen." Ariston hatte bereits einen Pagen gerufen und diesen nach dem Magier gesandt. Während sie warteten, begann Orales zu reden. Der Freund des Herrschers hatte nun so oft den Namen des Inselreiches gehört, daß in ihm Erinnerungen auftauchten und eine tiefe Sehnsucht entstand. Er sprach von Amarra, doch er brachte die Zeiten durcheinander und setzte Vergangenes der Gegenwart gleich. Trotzdem schien er seit langem wieder einmal sehr interessiert am Leben und sehr klar in seinen Gedanken, wenn auch auf eine für die Freunde eher beängstigende Art. Als Farrak eintrat und Orales das Interesse seines Freundes verlor, der ihm nun nicht mehr zuhörte, redete er immer noch weiter von einem Land, das ihm wie eine Verheißung erschien. Farrak nickte erfreut, als Ariston seine Unterwerfung mit einer Handbewegung verhinderte. Der Herrscher selbst erzählte ihm dann von Tibras Wunsch nach einem Namen und forderte ihn auf, diesem Wunsch nachzukommen. Gerrys würde über Thyrian die Antwort weiterleiten. "Tibra wußte, daß mein Haus beschädigt ist?" vergewisserte sich Farrak auf eine seltsam heitere Art. "Dann hat er mehr gelernt, als ich erwartete." "Den Namen," mahnte Gerrys. "In der Magie bedeutet das Wissen um einen Namen Macht über dessen Träger." Farrak lächelte auf sehr subtile Art. "Aber nur, wenn man stark genug ist, diese Macht zu beherrschen. Im anderen Fall tötet dieses Wissen." "Tibra kennt seine Kraft," drängte Gerrys.
"Ihr auch, Falla? Verzeiht, aber ich bin nicht bereit, euch die Geheimnisse meiner Gilde zu nennen." "Bedarf es eines Befehles?" erkundigte sich Ariston sanft. "Ich diene und gehorche euch in allen weltlichen Dingen, Gebieter," erwiderte der Magier gelassen. "Aber nicht hierin." Ariston verstand. "Ich fürchte nur, es ist wichtig für Tibra." "Das muß es, da er dabei ein großes Wagnis eingeht." Farrak überlegte kurz, ehe er weitersprach: "Stellt mir die Räume zur Verfügung, die ansonsten Tibra bereitet werden, Gebieter. Da er mein Haus fand, findet er mich auch dort." "Und er kann sich mit euch verständigen?" forschte Nymardos. "Das bezweifle ich. Aber da ich weiß, was er will, wird er es auch bekommen. Dringt nicht weiter in mich, Herr. Zu mehr bin ich nicht bereit."
A
ngespannt lauschte Tibra dem Bericht des Freundes. Dann atmete er voll Hoffnung auf. "Jau!" rief er. "Die Götter sind mit uns." Er suchte erneut die Kabine auf, um allein sein Werk zu tun, nicht ahnend, daß dieser Ausruf den Menschen an Bord eine Fülle an Hoffnung vermittelte. Er fand Nodher, die Burg und jene Räume, die Ilkonys stets ihm bereitete. Farrak weilte hier. Er hob wie lauernd den Kopf. Er spürte die Anwesenheit des Magiers. Farrak sagte etwas, doch Tibra befand sich in einem Zustand des Sehens, in dem kein Hören möglich war. Wie ein körperloses
Wesen umgab er den Freund, mit dem ihn keine Nähe, wohl aber ein gemeinsames Interesse verband. Farrak ergriff ein Pergament. Dicke Kohlestriche zeichneten einen Namen. Er wartete nur kurz, ehe er das Pergament an die Kerzenflamme führte und verbrannte. Tibra verließ die Kabine wieder. Er rief die Menschen zusammen. Seine Stimme klang sehr beherrscht. "Daß dies eine gefährliche Reise wird, habt ihr alle gewußt," begann er. "Doch ein Segel ohne Wind kann uns nirgendwo hinbringen. Ich werde versuchen, den Wind zu rufen. Wenn es mir gelingt, segeln wir weiter. Es besteht aber die Gefahr, daß es ein Sturm sein wird. Die Nebel sinken und ohne Sicht wird euch eine schnelle Fahrt ängstigen." "Mir ist es lieber, ich sehe gar nichts als immer nur das unendliche Wasser," versicherte Dharin. "Ein Sturm könnte die unbehaglich.
Segel zerreißen," warnte Sasaran
"Du wirst sie kappen, bevor das geschieht," vermutete Tibra. "Ich verstehe nichts von Seefahrt. Das ist dein Werk. Du wirst richtig entscheiden. Vermutlich gibt es aber jetzt noch eine Chance, Amarra zu erreichen." Seine Stimme zitterte ein wenig. "Harkym ist irgendwo dort draußen." Er deutete über das Meer. Niemand ging auf seine letzten Worte ein, die ein Angebot zur Umkehr beinhalteten. Sasaran erteilte den wenigen Seeleuten seine Befehle. Clandyl brachte Tibra ein paar Früchte. Thyrian bestand darauf, daß er aß. Danach begleitete er Tibra in den Bug des Schiffes. "Du kannst leiser Stimme.
nicht
bei
mir
bleiben," erklärte Tibra mit
"Ich kann dir jetzt nicht helfen," bestätigte Thyrian. "Und ich werde dich nicht stören und nicht eingreifen. Aber ich bleibe an deiner Seite, Freund. Und jetzt versuche dein Werk." "Ich weiß nicht, ob ich es kann. Es ist Farraks Bereich." "Du wirst es herausfinden. Dieser Name, von dem du gesprochen hast, was bedeutet er?" "Zugang zu den Elementarkräften der Luft," erwiderte Tibra düster. "Es ist unglaublich, daß Farrak mir diesen Namen übermittelte. Solche Dinge sind gehütete Geheimnisse; nirgendwo aufgezeichnet. Ich bin nicht sicher, ob ich ihm einen Feuernamen nennen würde." Seine Schultern strafften sich. "Tritt beiseite," verlangte er. Dann entzog er seine Aufmerksamkeit der Umwelt. Nun galt nichts mehr für ihn, weder Schiff noch Mannschaft, weder Freunde noch Familie. Seine Lippen formten seltsame Laute, er intonierte in einer längst vergessenen Sprache aus der alten Zeit Formeln, deren Inhalt nur noch wenigen bekannt war. Ein gewaltiger Ruck ging durch das Schiff, als sich plötzlich die schlaffen Segel blähten. Sie gewannen an Fahrt. Nicht lange danach türmten sich die Wellen höher auf, heulte der ehemals sanfte Wind mit bösartiger Kraft. Sasaran konnte das Ruder nicht mehr allein halten. Er rief zwei seiner Leute zu Hilfe. Sie banden sich am Holz fest. Auch Thyrian und Tibra hatten Mühe, im Sturm den Stand nicht zu verlieren. Der Magier schien nicht hier zu sein; sein Geist arbeitete auf einer anderen Ebene. Er bemerkte nicht einmal. wie Thyrian ein Seil um seinen Körper schlang und erst ihn, dann sich selbst festband. Stunden vergingen. Der Sturm trieb das Schiff in der nebeldichten Dunkelheit immer weiter hinaus auf die See. Irgendwann ließ er dann nach. Als sich die Nebel hoben,
glitt der Segler, angetrieben von einer frischen Brise, durch die Wasserwüste, als habe er ein fest deffiniertes Ziel. Eine ungewöhnliche Schwäche hinderte Tibra daran, nun mehr zu tun als die Richtung zu suchen. Die Beschwörung hatte ihm das letzte an Kraft abgefordert. Wäre nicht Thyrians offensichtliche Zuversicht gewesen, würden die Menschen jetzt den Mut verlieren. So aber gab er ihnen Mut und Zuversicht und niemand wußte, was er dachte und empfand.
A
n diesem Morgen rüsteten Gerrys und Nymardos zum Aufbruch. Aniela hatte eben mit ihrem Gefolge die Burg verlassen. Etwas verwundert registrierte Ilkonys, daß Farrak und Wana nicht mit der Schwester gingen. Die beiden trugen zwar Reisekleidung, aber sie verharrten im Burghof, wo sie nahe des Brunnens standen und sich leise unterhielten. Ilkonys sah von seinem Fenster aus zu ihnen nieder. "Ich bin absolut nicht beleidigt, wenn Wana noch eine Weile in der Burg bleiben will," bemerkte Jiddan neben ihm mit feinem Lächeln. "Ich habe schon bemerkt, wie sehr sie dir gefällt," gab Nodhers Erbe zu. "Ich bezweifle nur, daß Farrak sie dir kampflos überläßt. Und ich würde mich nicht mit einem Meister unter den Magiern anlegen. Ich frage mich, warum sie nicht mit Aniela ritten." "Das solltest du eher sie fragen," schlug Jiddan vor. "Sie scheinen zu warten." "Fragt sich nur, auf wen. Komm, wir wollen Gerrys verabschieden." Sie gingen nun selbst in den Burghof. Der Vater begleitete die Freunde. Ilkonys sah erstaunt, daß er feste
Reisekleidung trug. "Ich bringe Gerrys nach Amarra," erklärte Ariston dem Sohn. "Du bist aber nicht gerufen, Vater." "Ich rechne auch nicht damit, an Land zu kommen. Aber Orales denkt seit gestern ununterbrochen an Amarra. Es wird ihm gut tun, dieses Land noch einmal zu sehen." "Du nimmst ihn mit?" "Er ist schon im Reisewagen." "Ein Wagen hält euch auf, Vater. Gerrys darf nicht säumen, wenn er gerufen ist." "Es geht schon. Ich habe die besten Wagenlenker für den Zweispänner gewählt. Warum bist du so unruhig? Es ist nicht das erste Mal, daß Amarra seinen Falla ruft." Inzwischen löste sich Farrak von Wanas Seite, was Jiddan sofort ausnutzte, um in ihre Nähe zu kommen und noch ein wenig mit ihr zu plaudern. Farrak trat zu Gerrys. "Ihr wißt nicht, weshalb Tibra nach mir verlangte, Falla?" Gerrys schüttelte erstaunt den Kopf. "Ein Gefühl sagt mir, daß er in Gefahr ist. Vielleicht braucht er mich noch einmal und anscheinend kann er mich über euch erreichen." "Nicht er selbst," schränkte Gerys lächelnd ein. "Thyrian, der Pala des Than, ist bei ihm." "Er hat mir von diesem Mann erzählt. Er vertraut ihm sehr. Ist es möglich, mit euch zu reiten?"
"Aniela bot euch an, mit ihr zu reiten. Es verwundert mich, daß ihr geblieben seid. Ihr kamt doch wegen Vesna. Zieht es euch nun nicht zu ihr?" "Wenn mein Pecha in Gefahr ist und nicht wieder nach Minas kommt, dann, erst dann ist auch Vesna wirklich gefährdet. Und wohl nicht nur sie, Falla. Ich weiß, was es heißt, als Magier in Nodher zu leben, wenn man einen anderen Pecha als Herrn hat." "Aber das ist lange her und gilt so nicht mehr." "Düstere Zeiten kehren zu leicht zurück. Ich würde es vorziehen, in eurer Nähe zu bleiben." "Ich reise nach Amarra, Farrak." "Aber doch wohl auf einem Handelsschiff, das danach wieder nach Nodher segelt." "Ich denke, der Segler unseres Herrschers wartet am Oberlauf des Riatha." "Dann werde ich unseren König bitten," entschied Farrak und wandte sich dem nahe stehenden Ariston zu. Aber Ariston hatte die Worte schon vernommen. Eine Bitte war nicht nötig. Gern erlaubte er Farraks Begleitung, aber er hoffte, daß sich der Gemahl der Tochter nicht wirklich in Gefahr befand und Farraks Ahnung trügte. Die Reisegruppe ritt an. Sie durfte nicht säumen, wenn sie wirklich bis zum Abend den Riatha erreichen wollte. Ilkonys nahm seine Arbeit auf. Er ging mit Jiddan einige Papiere durch, wobei es ihm sehr schwer fiel, sich zu konzentrieren. Schließlich schob er alle Unterlagen beiseite.
"Was meinst du?" "Keine gute Idee," warnte Jiddan erfreut. "Wer sollte Nodher behüten?" "Oh, wenn all unsere Minister und Hofmeister nicht für einige Tage ohne uns auskommen, sind sie ihren Lohn nicht wert." Ilkonys lachte auf. "Wir können sie noch einholen, Jiddan." Sie beide freuten sich auf eine Reise. Nur wenige Gardisten begleiteten sie während des schnellen Rittes. Hatte Ilkonys damit gerechnet, daß der Vater unwirsch reagierte, so sah er sich angenehm getäuscht. Ariston freute sich über das Kommen des Sohnes.
Harkym fühlte nichts mehr, weder Angst noch Verzweiflung noch Hoffnung oder Zuversicht. Angst empfand er, als der Sturm sein kleines Gefährt aufs offene Meer zog, aber da glaubte er noch, er könne die Richtung behalten. Und als starker Wind sein Segel zerriß und er darum kämpfte, den Stoff zu behalten und den Mast am Knicken zu hindern, da wußte er, daß er den Gewalten der Natur völlig ausgeliefert war. Er band sich am unteren Ende des Mastes fest, kauerte in dem schmalen Kanu und fürchtete um sein Leben. Dann legte sich der Sturm und einige Zeit herrschte völlige Windstille. Ringsum zeigte sich endlos eine fast glatte Wasserfläche, die sich in der Ferne mit den Nebeln verband. Es gab noch ein Oben und Unten, aber kein Rechts und kein Links, kein Vorne und Hinten mehr. Die Feuchtigkeit der nächtlichen Nebel hatte die Segelfetzen durchtränkt. Dies genügte, den Durst zu stillen. Und ein wenig Hunger, das ließ sich schon ertragen. Er dachte an den Vater, aber er glaubte nicht daran, daß dieser ihn hier draußen finden könne. Nur dieser unschein-
bare Stein blieb ihm als ein Andenken an die Liebe, die ihn unerschütterlich umgab. Manchmal grübelte der Knabe. Er war kein Umgang mehr für Priester, vor allem nicht für Andraag. Er verstand es nicht. Auch der Vater war ein Magier und trotzdem mit so vielen Priestern befreundet und auf Amarra stets willkommen. Nicht einmal der Adel in Nodher mißachtete den Vater ob seines inneres Pfades. Es war nichts verwerfliches, Magie zu erkunden. Der mächtigste Mann der Reiche aber tat ganz so, als würde er, Harkym, alles verraten, was richtig war. Erst jetzt, so lange danach, fühlte sich der Knabe gedemütigt und gepeinigt. Er weinte ein wenig, bis er endlich in unruhigen Schlummer fiel.
S
ie kreuzten nun schon den dritten Tag auf dem Meer. Es war ja nicht so, daß Tibra wirklich die Richtung wußte. Es gelang ihm nur immer wieder, einen Impuls aufzufangen, von dem er annahm, daß er über den Stein zu Harkym deutete. Aber die ständige Suche strengte ihn ungeheuer an. Er schlief kaum, aß nur wenig und erlaubte sich viel zu selten eine Ablenkung durch ein Gespräch. Schließlich nahm ihn Thyrian beiseite. "So geht es nicht weiter, "mahnte er. "Deine Stimmung drückt auf die der Leute. Laß das noch zwei Tage geschehen und uns umgibt nur noch Hoffnungslosigkeit." Sie standen nebeneinander an der niederen Reeling. Tibra ließ den Blick schweifen. "Genau so kommt mir diese unendliche Wasserweite auch vor," gab er düsteren Sinnes zu. "Dreh' dich um," verlangte der Freund. "Wie?" Tibra begriff nicht sofort, doch dann kam er dieser Aufforderung nach. Jetzt schaute er zwar noch immer das Meer, doch vor diesem den großen, weißen Segler, dessen geblähte Tücher, die kräftigen Masten und vor allem auch die Menschen, von denen einige neugierig, viele aber eher bang zu ihnen sahen.
"Du solltest aufhören, nur auf die drohende Verzweiflung zu starren," riet Thyrian. "Du bist nicht allein, Freund. Diese Leute haben sich deinethalben in große Gefahr begeben und nun schuldest du ihnen Kraft und Zuversicht." "Ich soll geben, was ich selbst nicht habe?" stieß Tibra da bitter aus. "Sie schauen viel mehr auf dich denn als mich. Hier bist du ihr Führer und natürlich bestimmst du damit auch ihr Denken. Hast du nicht immer gesagt, daß Wille und Gedanke die Wirklichkeit erschaffen? Und hängt jetzt nicht deine ganze Hoffnung daran, daß Harkym sich an diese Lehre hält? Ich will mir nicht vorstellen, was der Junge da draußen ohne Hoffnung erleidet." "Ich auch nicht." Tibras Augen schimmerten feucht. "Was willst du denn, das ich tun soll?" Thyrian legte ihm den Arm um die Schultern. Tibra mochte keine körperliche Nähe, aber jetzt ließ er es nicht nur geschehen, sondern lehnte sich sogar etwas gegen den Freund. "Du wirst jetzt essen," bestimmte Thyrian, "und zwar genau so viel, wie ich dir auftischen lasse. Und danach wirst du schlafen, bis ich dich wecke." "Ich habe keine Zeit dafür," murmelte der Magier. "In dumpfem Brüten und Suchen verschwendest du deine Zeit," wehrte Thyrian mit fester Stimme ab, während er Tibra schon zu einer Decke führte, die auf den Planken ausgebreitet war. "Wir waren auf dem richtigen Weg, solange dich Hoffnung und Wille trieb. Jetzt haben wir den Weg verloren. Also wirst du dich neu stärken und was immer wir dadurch an Zeit verlieren, das werden wir danach durch Zielstrebigkeit wieder gewinnen."
Tibra war anderer Ansicht, doch er gab nach, da er nicht mehr die Kraft zur Gegenwehr verspürte. Bakaar brachte ihm das Mahl, zog sich aber sofort danach zurück. "Was ist mit ihm?" wunderte sich Tibra. "Er flieht ja direkt aus meiner Nähe." "Er flieht deine düsteren Gedanken," konkretisierte Thyrian. Er brachte Tibra später in die Kabine, wo der Magier sehr schnell in einen erschöpften, aber tiefen Schlaf fiel. Dann ließ er den Freund allein. Sasaran kam zu ihm. "Und nun, Herr? Welche Richtung?" "Das ist für den Moment unwichtig," erwiderte Thyrian lächelnd. "Laß das Schiff treiben. Es ist gut, wenn sich jetzt alle ausruhen. Morgen werden wir unsere Kräfte brauchen." Als er Tibra dann am frühen Morgen weckte, schien der Magier wirklich neu gestärkt. Er dankte Thyrian für die Ermahnung, verlor aber danach kein Wort mehr darüber. Trotzdem benahm er sich nun wie verwandelt. Er fand Zeit für Gespräche, für kleine Plaudereien. Und manches Mal scherzte er sogar. Oft, sehr oft aber ging er in den Bug des Schiffes. Dort vorne konzentrierte er sich. Niemand sprach darüber, aber wann immer der Magier dort stand, galt er als unerreichbar und keiner versuchte, ihn anzusprechen oder zu stören. Tibra fand erneut die Richtung. Als der Wind abflaute, rief er erneut den Sturm, der sie über das Meer jagte. Doch ob sie voran kamen oder nicht, das war nicht zu erkennen, denn das Bild der Wellen wandelte sich ja nie wirklich.
W
eit mehr als die Erwachsenen empfand Harkym die Endlosigkeit des Meeres als bedrückend und hoffnungslos. Er
verspürte Hunger und auch Durst. Die Feuchtigkeit der Nebel brachte ihm genug Wasser, um zu überleben und doch war es zu wenig, um wirklich jeden Wunsch nach Erfrischung zu besiegen. Den Stein des Vaters beachtete er schon lange nicht mehr. Er lag im Kanu, tränenleer und verzweifelt. Er versuchte, sich vorzustellen, wie das alles geschah. Aber es gelang ihm schon nicht mehr. Der Zorn des Than wirkte so weit entfernt, seine eigene Enttäuschung nur noch unwirklich. Er fühlte sich einsam. Wenn wenigstens ein Vogel zu sehen wäre! Doch so weit vom Land entfernt mußte dies unmöglich sein. Harkym dachte voll Sehnsucht an Aniela und seine Geschwister. Bevor er Amarra verließ, hatte er sich fest vorgenommen, für die Brüder ein Baumhaus zu bauen. Das mußte ihnen sicher gefallen. Und nun würde er sie nicht wieder sehen. Er hatte sich auch immer gewünscht, daß Andraag eines Tages Minas besuchen konnte. Aber jetzt war er ja kein Umgang mehr für diesen Freund. Eigentlich hatte alles an Bedeutung verloren. Harkym setzte sich auf, starrte auf den kleinen Stein in seiner Hand. Dann ruckte sein Kopf hoch. Die ruhigen Wellen schienen ihn in ihrem Lied zu verhöhnen. "Seid endlich still!" rief er ihnen zu. Er holte aus, um den Stein in die Wellen zu schleudern. Aber genau da geschah etwas. Gar nicht so weit von dem treibenden Katamaran entfernt schnellte ein großer Fisch aus dem Wasser. Harkym erstarrte fest, so schön war dieser kurze Anblick gewesen. Und, vor allem, er wußte jetzt, daß er doch nicht ganz allein war. Der Knabe wartete lange, doch das Schauspiel wiederholte sich nicht mehr. Seine Gedanken fanden aber neue Nahrung. Jetzt war das Meer nicht mehr nur Bedrohung und Wüste, sondern belebt von einer zwar unbekannten, aber trotzdem reichhaltigen Vielfalt. Er kannte Korallenbänke unter den
Steilküsten Amarras und wußte, wie wunderschön sich dort das Leben zeigte. Daß aber auch hier draußen, wo es kein Land mehr gab, noch richtig große Lebewesen existierten, das hatte er nicht für möglich gehalten. Je mehr er darüber nachdachte, desto wundersamer erschien ihm die Welt des Meeres. Für ihn war sie fremd, aber für ihre Bewohner stellte sie eine Welt dar, in der sie sich wohl fühlten. Die Fische darin lebten in seiner Vorstellung fast wie Vögel; die einen flogen durch das Wasser, die anderen durch die Luft. Der Knabe fühlte sich weiterhin sehr erschöpft. Er würde nun selbst gern etwas schwimmen und tauchen. Doch er fürchtete, daß seine Kraft versagen könne. Er wollte nicht ertrinken. Er wollte nicht sterben. Harkym dachte zum ersten Mal in seinem Leben über den Tod nach. Als die Nebel sanken, kehrten die großen Fische wieder. Er sah sie in Gruppen springen. Es wirkte wie ein Tanz, Ausdruck von Lebensfreude, Kraft und Stärke. In der Dunkelheit dann entsann er sich seiner Aufgabe. Er sollte herausfinden, weshalb ein gewöhnlicher Stein wichtig war. Von nun an versuchte er wirklich, dieses Geheimnis zu ergründen. Es war schon etwas besonderes an dem Stein, denn wenn er ihn festhielt, dann konnte er auf der Oberfläche des Wassers schwimmen; wenn er ihn hochwarf, vermochte er für kurze Zeit, zu fliegen und wenn er mit ihm sprach, dann konnte er ein wenig auch verstehen. Seine Furchen zeigten, je nach dem, wie das Licht des Tages sie erhellte, kleine Gesichter, winzige Tiere oder beeindruckende Landschaften. Der Stein konnte somit ein Spiegelbild der ganzen Welt sein. Und in ihm mußte es ein unendliches Wissen geben, denn er sah viele Zeitalter. Lange ruhte er im Schoß der Erde. Er mußte auch ihre Geheimnisse kennen.
Der Vater hatte ihm da ein seltsames Geschenk gemacht. Eigentlich besaß es überhaupt keinen Wert. Aber in diesen unzähligen Stunden der verzweifelten Einsamkeit konnte ein Lebender Kristall nicht wichtiger sein. Der Junge merkte kaum, wie die Wellen anstiegen und das Lied des Meeres an Bösartigkeit gewann. Erst, als der Wind an seinem Haar zerrte und die Gischt ihn durchnäßte, wußte er sich erneut inmitten eines Sturmes und der schien furchtbarer zu sein als alles, was er bisher erlebte.
D
iesen Sturm hatte Tibra nicht gerufen. Er kam vom Horizont her, peitschte das Meer und warf sich mit Gewalt gegen die Segel. "Refft die Segel," rief Sasaran seinen Leuten zu, kaum noch in der Lage, das Steuerruder zu halten. "Nein!" Tibra schrie es gegen den Sturm. Sie starrten zu ihm, der sich bisher nie in die Führung des Schiffes einmengte. Tibra krallte sich an der Reeling fest, den Blick starr auf den Horizont gerichtet. Und dann sahen es auch die anderen. Weit entfernt trieb etwas auf den Wellen, kaum wahrnehmbar und ganz gewiß ohne Segel. Aber da war etwas und wenn es sich nicht um Treibholz handelte, dann konnte es nur der verlorene Katamaran sein, den sie schon so lange suchten. Ein paar Männer eilten zu Sasaran, um ihm am Ruder zu helfen. Andere kümmerten sich um die Segel. Einige banden sich zum Schutz vor den alles überspülenden Wellen an der Reeling fest. Tibra stieß den Mann beiseite, der ihm ein Seil um die Hüfte schlingen wollte. Dann erkannte er Thyrian neben sich und lächelte entschuldigend, ohne jedoch weiter auf den
Freund zu achten. "Ist es Harkym?" Tibra nickte krampfhaft. "Er muß es sein. Bei allen Göttern, wenn wir ihn jetzt verlieren..." Die Seeleute leisteten unglaubliches, als sie dem Schiff die Richtung aufzwangen und gegen den Sturm ankämpften. Oft, viel zu oft sah es so als, als sei das ferne Holz verloren und würde in den Wellen verschwinden. Und sie näheren sich viel zu langsam.
Weit entfernt zeigten sich das Meer freundlich und die Wellen ruhig. Aristons Segler näherte sich Amarras Küste. Die Reise verlief ruhig. Orales schien gesund, wie schon lange nicht mehr. Manchmal führte er sogar durchaus sachliche Gespräche mit Ariston, redete dann über Nodher und dessen Zukunft. Da Jiddan seine Zeit mit Wana teilte, hielt sich Ilkonys an Gerrys und Nymardos. Auch ihn verwunderte die Art, wie Gerrys gerufen wurde und er sorgte sich ein wenig um den Freund. Farrak wirkte in diesen Tagen unnahbar. Er sonderte sich ab, schloß sich keinem Menschen an. Aber er beobachtete weder Wana noch Jiddan. Das gute Einvernehmen der beiden beschäftigte ihn. Er sprach nicht darüber, auch nicht mit Dal, den er als einzigen in seine Nähe ließ. Jetzt sah er, genau wie die anderen, dem sich nahenden Land entgegen. Er wußte, daß ein warmer Meeresstrom Amarra umgab, hier nie eine Zeit der kalten Nebel herrschte und deshalb alles etwas größer, fruchtbarer und üppiger wuchs. Er sah den erstaunlich kleinen Hafen, den flachen Sandstrand und hinter diesem das satte Grün. Farrak sah
auch den Tempel, der entfernt aufragte wie ein Berg. Er wunderte sich ein wenig, weil die Menschen an Land das Nahen des Schiffes kaum registrierten. Nymardos trat neben ihn, folgte seinem Blick. Er lächelte in der Erinnerung. "Vor langer Zeit, als dies noch mein Land war," erzählte er leise, "da bot ich Tibra an, mit mir von Bord zu gehen. Man sagt, der Zauber der Insel rufe zur Priesterschaft und entsprechend heftig hat er sich geweigert." "Wollt ihr mir schonend beibringen, daß ein Mann wie ich Amarra nicht betreten darf?" grinste Farrak erheitert. "Es gibt kleine Gastinseln weiter oben. Aber ich bin nicht sicher, ob ein Verweilen überhaupt gestattet ist." "Mich interessiert nur, ob Tibra in Ordnung ist," gab Farrak offen zu, während er sich nun Nymardos zuwandte. "Zumindest über Nacht muß der Segler hier ankern. Ich hoffe, in dieser Zeit werdet ihr das erfahren und es mich wissen lassen." Das Schiff ankerte. Die Seeleute schoben die Laufplanke aus, verankerten sie an der Reeling. Aber niemand ging von Bord. Die Sitte befahl, auf Begrüßung zu warten. Die Menschen am Strand gingen weiter ihrer Arbeit nach. Einzig ein paar Kinder näherten sich neugierig. Ein größerer Junge befand sich unter ihnen, der mit seltsam starren Blick auf den Segler sah. Unerwartet strafften sich dann seine Schultern. Der Junge rannte an Deck, wo er mit einem kräftigen Seemann zusammen prallte. Der Mann hielt ihn an den Oberarmen fest, lachte, schob ihn aber zurück zur Reeling. Der Junge wehrte sich strampelnd. "Laß ihn."
Ilkonys war hinzu getreten. Der Seemann zog sich zurück, doch auch der Junge ging ein paar Schritte rückwärts. "Wer seid ihr, Herr?" fragte er mit scheuem Blick auf die vornehme Kleidung des Mannes. "Ich bin Ilkonys, Nodhers Erbe. Und wer bist du?" "Ich heiße Andraag." Der Junge entspannte sich etwas, da der mächtige Mann so freundlich mit ihm redete. Da war auch noch eine kleine Erinnerung in dem Knaben. Als er noch ganz klein war, da hatte dieser Mann ihm einmal zu trinken geben. Er war sehr freundlich gewesen, ganz im Gegensatz zu seinem Sohn Changanar, den er damals mit nach Amarra brachte. "Ah, dann bist du also Harkyms Freund," lächelte Ilkonys. Andraag zitterte nun ein wenig. Seine dunklen Augen füllten sich. Bestürzt sah Ilkonys dessen Schmerz. Ganz nahe trat er zu ihm, gleichzeitig mit einer Handbewegung alle Lauscher ein wenig wegschickend. "Was ist mit Harkym geschehen?" fragte er leise. "Er sagte, daß er Magier werden will." Andraag starrte zu Boden. "Der Than verlangte, daß er Amarra verläßt und dann kam der Sturm und Harkym segelte immer weiter aufs Meer. Er ist bestimmt tot." Jetzt weinte er in haltlosem Schmerz. Als Ilkonys da den Arm um ihn legte, klammerte er sich an ihn. Nymardos trat zu ihnen. "Caryll kommt," entdeckte er.
Andraag erschrak. Ilkonys verstand. Der Junge durfte nicht hier sein und mußte mit Tadel rechnen. Mit einem leisen 'komm' faßte er da Andraag bei der Hand und zog ihn mit sich in eine der Kabinen. Nymardos schüttelte sacht den Kopf. Es war nicht richtig, den Jungen in seinem Ungehorsam zu unterstützen. Aber es war nicht die Zeit, darüber zu reden. Er trat zur Reeling. Wenig später schon kam Caryll an Bord. "Willkommen auf Amarra," sprach er den formellen Gruß, dabei Gerrys zunickend und zugleich beide Hände Nymardos darbietend. Der ergriff sie freudig. Seit ihrer Kindheit waren sie Freunde. "Wir haben uns Nymardos bewegt.
viel
zu
lange
nicht gesehen," sagte
Caryll sah irritiert zu Ariston, der abseits bei Orales weilte. "Nodhers Herrscher war nicht gerufen," murmelte er unsicher. "Du bist nicht sicher, ob er willkommen ist," stellte Nymardos etwas erstaunt fest. "Wir waren schon erstaunt, weil nicht Thyrian den Ruf übermittelte." "Thyrian ist nicht hier." Das klang unwillig, doch Nymardos kannte diesen Freund zu genau, als daß er nicht wüßte, wie wenig Caryll jetzt zürnte. "Ariston erwies Gerrys die Ehre, ihn auf der Reise zu begleiten," sagte er darum gelassen. "Wenn sich die Nebel heben, segelt er zurück."
Caryll nickte nur. Er wirkte nicht befriedigt, sondern eher ergeben. Anscheinend gefiel ihm das auch nicht. Nymardos nahm es gelassen. Seymas würde erfahren, wer sich auf dem Segler befand und gewiß würde er Nodhers Herrn an Land rufen. Gastfreundschaft galt viel auf Amarra; darüber hinaus besäße es auch politische Tragweite, wenn der Than anders entschied. Gerrys und Nymardos trugen beide die priesterliche Gewandung. Sie hatten bereits alles vorbereitet, um Caryll folgen zu können. Sie gingen mit ihm an Land, folgten ihm den gewundenen Pfad entlang, der zum Tempel führte. Nach einiger Zeit sah Gerrys zurück. Er stieß er kurzen Laut der Überraschung aus. Da bleib auch Nymardos stehen. Sie sahen zum Hafen hinab, wo Nodhers Schiff wieder Segel setzte und jetzt langsam an Fahrt gewann, um Amarra zu verlassen.
I
lkonys saß neben Andraag, hielt den Arm um dessen Seite gelegt und wartete, bis das Weinen des Knaben nachließ. Dann lauschte er dem Jungen, der von Harkym erzählte und auch davon, daß am andern Tag Tibra dem Sohn folgte. Andraag berichtete davon, wie er am Ufer entlang lief, wo er Harkyms Segel dann weit draußen sah. Er erzählte von Dharin, dem er alles sagte und der, wie Tibra, dann verschwand. Er weinte nicht mehr, aber er fühlte eine große Hoffnungslosigkeit. "Sie sind bestimmt alle tot," klagte der Junge. "Das glaube ich nicht," suchte Ilkonys, den Knaben zu beruhigen. "Harkym ist ein tapferer Bursche, der so leicht nicht aufgibt. Und Tibra ist ein großer Magier, der seinen Willen durchzusetzen weiß." "Aber das Meer ist so groß, Herr."
'Wyla ist auch groß', dachte Ilkonys. Aber er sagte es nicht. Seine Gedanken galten jener Zeit, in der Tibra den in das Waldreich entführten Sohn suchte. Mit Schaudern erinnerte er sich daran, wie der Freund lange Dornen in die eigene Hand rammte, um mit dem eigenen Blut einen Zauber zu weben, der ihnen ein Bild des Zieles auf die Oberfläche eines Weihers malte. Blutzauber half wohl nicht auf dem Meer. Aber Tibra hatte nach dem Namen eines Sturmgeistes gefragt. Er gab also nicht auf. Er dachte wieder an Wyla. Sie fanden Harkym, aber seine Befreiung wurde nur dadurch möglich, daß priesterliche Macht und Magie geeint für ein Ziel wirkten. Vielleicht brauchte der Freund wieder solche Hilfe. "Mein Schiff ist größer als Amarras Segler," überlegte er laut. "Es trotzt leichter dem Meer." "Ihr werdet sie suchen, Herr?" Eigentlich war es diese Frage, in der für Ilkonys die Antwort lag. Er nickte Andraag lächelnd zu. "Du gehst jetzt an Land," entschied er. Er führte Andraag ins Freie. Erstaunt sah er Gerrys und Nymardos entfernt auf dem Weg. Rasch ging er zu Ariston. "Du bist verwundert," stellte der Vater fest. "Caryll hat unsere Freunde abgeholt. Wie ich hörte, ist Thyrian nicht in der Nähe. Und ich habe den Eindruck, als wenn wir nicht sehr willkommen seien." "Dann gehen wir wieder," erwiderte Ilkonys grimmig. "Laß die Segel setzen." Er wartete keine weitere Frage ab, sondern ging wieder zu Andraag. Der Junge wollte mit ihnen gehen.
"Du mußt an Land," mahnte Ilkonys. "Vielleicht gelingt es dir, Nymardos zu begegnen. Wenn es keiner hören kann, dann sage ihm, daß wir Harkym und Tibra suchen. Ich denke, er muß es wissen." Andraag wehrte sich nicht weiter. Er verließ das Schiff, ging an Land, wo er hinter Büschen verborgen dann den Segler beobachtete, der den Hafen verließ. "Du willst nach Hause?" vergewisserte sich Ariston bei seinem Sohn. "Ein Sturm hat Harkyms Katamaran aufs Meer gezogen und Tibra hatte nichts besseres zu tun, als ihm zu folgen." "Mit einem Katamaran?" erkundigte sich Farrak mißtrauisch. "Nein, mit dem Segler des Than; zumindest ist das das einzige Schiff, das mit Tibra verschwunden ist. Wie ich unseren Freund kenne, befindet er sich so weit draußen auf dem Meer, daß es unmöglich ist, eine Richtung zu bestimmen." "Du willst ihn also suchen?" "Das wäre Selbstmord," wehrte Ilkonys düster ab. Sie standen als Gruppe beeinander. Neben ihnen saß Orales auf einer Decke. Niemand rechnete damit, daß ausgerechnet er das Wort ergriff: "Tibra hat Arisa getötet." Das klang nicht bitter, sondern sehr nachdenklich. Orales hatte die Tochter nicht vergessen, die durch magisches Wirken ihren Geist verlor und auch die Stunde, in der sie starb, weil Tibra ihr helfen wollte. "Er war ganz allein. Man muß in seiner Nähe sein, wenn er Hilfe braucht."
Ariston starrte ihn an. "Du meinst, wir sollen aufs Meer hinaus?" "Man muß in seiner Nähe sein," beharrte Orales. Er wußte ja, daß seine Tochter nicht nur noch am Leben, sondern auch dem Zustand des Miska entrissen wäre, wenn der Magier in jener Stunde Nymardos an seiner Seite gehabt hätte - ein Beisammensein, das Ariston damals in seinem blinden Haß verwehrte. Sie segelten der Küste entlang, vorbei an den Gastinseln. Als die Nebel sanken, befanden sie sich noch in Sichtweite des Landes. Die Männer holten die Segel ein. Niemand reiste bei Nacht. Ilkonys verließ seine Kabine, als sich die Nebel hoben. Farrak stand im Bug des Schiffes. Jetzt wandte er sich um. Nodhers Erbe trat in den noch dichten Nebelschwaden zu ihm. "Das Meer scheint endlos," murmelte er. "Tibra muß von Sinnen sein, wenn er wirklich dort draußen ist," erwiderte Farrak. "Ich traue ihm zu, Harkym zu finden. Aber wie will er je wieder Land sehen können? Außerdem, nun, ich habe Amarras Schiffe im Hafen gesehen. Sie wirken zerbrechlich." "Ihr denkt an den Sturmgeist, den Tibra nun rufen kann?" "Nicht an diesen." Farrak lächelte auf seltsam unergründliche Art. "Es war nur ein kleiner Name, Gebieter." "Die Strömung hat uns in der Nacht abgetrieben." Ilkonys sah zum Horizont, wo Amarra gerade noch zu erahnen war. "Ich habe nicht den Mut, weiter hinaus zu segeln, solange ich nicht weiß, wohin. Kennt ihr Wege, Tibra zu finden?"
"Ich habe es versucht, Herr. Aber es ist ein Unterschied, jemanden auf astraler Ebene zu finden und dann auch zu wissen, wo er ist." Offen sah er Ilkonys an. "Ihr erstaunt mich, Gebieter. Ihr nehmt magische Möglichkeiten mit derselben Gleichmut wie priesterliches Wirken hin. Und, obgleich ein König, scheint ihr doch sogar euer Leben für einen Magier wagen zu wollen." "Tibra ist mein Freund," gab Ilkonys zur Antwort, als sei dies eine alles umfassende Erklärung. Farrak schwieg einige Zeit, ehe er vorsichtig fragte: "Was wird aus Minas, wenn Tibra verloren ist?" "Daran will ich nicht denken," wehrte Ilkonys düster ab. "Aber als Herrscher seid ihr dazu verpflichtet." "Ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, Farrak. Minas ist, für mich, bei alledem nicht wichtig. Für meine Schwester Aniela ist Minas nach ihrer Familie wohl das wichtigste überhaupt." "Aber eine Frau kann nicht Pecha sein." "Aniela ist es, wenn man es genau betrachtet." Ilkonys lächelte. "Ich glaube, ich würde meinen Bruder Willar nach Minas befehlen. Erinnert ihr euch an ihn?" "Ich vergesse nie einen Mann, der mich einmal geschlagen hat," erwiderte Farrak mit ernster Stimme. Es gab eine kurze Begegnung zwischen ihm und Willar. Dabei ohrfeigte ihn der damals junge Prinz. Er entschuldigte sich zwar danach, doch diese Bemerkung bewies, daß Farrak durchaus nachtragend sein konnte.
"Willar ist kein Mann, der mit Macht umgehen kann. Er würde, genau wie Tibra, wenn auch aus anderen Motiven heraus, alles Aniela überlassen und somit wäre für Minas alles wie gehabt. Befriedigt euch diese Antwort?" "Nein, Herr, aber sie beruhigt mich. Schließt das Vesnas Sicherheit mit ein?" "Ihr habt mein Wort darauf," versprach Ilkonys ernst. Farrak nickte nur dazu. Mit den Augen suchte er schon wieder das Meer ab, als hoffe er, etwas finden zu können. "Der Falla sollte hier sein," murrte er schließlich. "Über ihn hätte Tibra eine Möglichkeit, uns zu erreichen." "Es gibt viele Wege dazu," versicherte Nodhers Erbe gelassen. "Wenn Thyrian Gerrys' Geist berührt, wird Nymardos es erfahren. Und er kennt Lyrna." Farraks Kopf ruckte hoch. Vor vielen Jahren war Lyrna Wanas Leiterin. Sie lebte auf Amarra und zwischen den beiden Frauen bestand aus Freundschaft noch der alte Rapport. Mit dieser Möglichkeit einer Verbindung hatte er bisher nicht gerechnet. "Das ist gut," murmelte er zufrieden. "Dann können wir warten." "Worauf?" "Auf irgendetwas, das uns davor bewahrt, ins Ungewisse zu segeln, Herr. Der Pala eures Vaters sagt, wir müssen Tibra nahe sein. Ich denke, er irrt sich nicht. Aber eine größere Nähe ist im Moment nicht möglich."
Sie waren zur Untätigkeit verdammt und konnten nichts tun, als abzuwarten. Das Meer zeigte sich ruhig und friedlich und solange man in der Ferne noch Land erkennen konnte, fühlten sie sich sicher.
C
aryll führte die Freunde zu einem geräumigen Gasthaus nahe des Tempels. Es gab genug Platz hier, auch genug Häuser. Doch man wußte, daß Gerrys und Nymardos sich gern die Räumlichkeiten teilten. Ein Priesterschüler brachte ein Mahl, entfernte sich auf Carylls Wink hin aber sofort wieder. "Wir sind unter uns," stellte Nymardos da fest. "Darfst du uns erzählen, was geschehen ist?" "Ich kann nur berichten, was ich weiß und das ist wenig genug," gab Caryll zu. Er erzählte von Harkyms Entschluß und seinem Weg aufs Meer. "Am andern Morgen segelte Tibra hinaus. Thyrian ist bei ihm und wohl eine Reihe anderer Leute." "Du vermutest es nur? Du weißt es nicht?" "Ich weiß nicht, wer mit ihm ging. Seymas befahl, die Küstennähe abzusuchen. All diese Segler sind inzwischen zurück. Es sind einige Tage vergangen seither." "Du weißt nicht, wer bei Tibra ist?" vergewisserte sich Nymardos nochmals. "Hat niemand überprüft, wer den Tempelbereich verließ?" "Es gab keine entsprechende Anweisung." Caryll wirkte sehr unsicher. "Ich habe den Eindruck, als wenn unser Gebieter es nicht wissen will. Aber Sasaran ist auf dem Schiff, auch Bakaar. Ich kann dir einige Namen nennen, aber gewiß
nicht alle." "Das klingt so, als sei der Than gegen Tibras Reise gewesen," bemerkte Gerrys. Caryll senkte den Blick. "Er gab Befehl, Tibra kein Schiff zu überlassen," gestand er. Das hörte sich mehr als nur beunruhigend an. Sie unterhielten sich noch sehr lange, doch ihre wichtigsten Fragen fanden keine Antwort. Andraag fand erst am andern Tag Gelegenheit, sich in Nymardos Nähe zu schleichen. Nachdem sie nun wußten, daß Nodher versuchte, Tibra zu helfen, wuchs ihre Sorge an, denn in der Weite des Meeres waren sie leicht alle verloren.
D
er Sturm schien noch anzuwachsen. Als das Hauptsegel einen Riß erhielt, blieb der Segler nicht mehr manöverierfähig. Die Männer versuchten, zu retten, was sich noch retten ließ. Sie holten das Stagsegel ein, kappten die kleineren Segel. Sasarans Befehle gingen im Getöse des Windes fast unter. Tibras Hände krampften sich um die Reeling. In der Gischt war der kleine Katamaran kaum mehr zu finden. "In Sarai," rief ihm Thyrian entgegen, "ist in den weiten Steppen ein Feuer so verheerend wie dieser Sturm. Wir haben es dann immer durch ein kleineres Gegenfeuer bekämpft. Kannst du nichts tun?" Es dauerte geraume Zeit, bis Tibra ganz langsam den Kopf wandte. Was der Freund da sagte, das war ungeheuerlich. Eine tödliche Kraft sollte durch eine ebensolche bekämpft werden? Doch er sprach von Feuer dabei und das war etwas, dessen Geist Tibra genau kannte. So erschien ihm der
Gedanke nicht einmal abwegig. Seine Lippen formten Laute, er intonierte die Beschwörungsformel und er rief jenen Geist, dessen Namen ihm Farrak entdeckte. Gleich einem Brüllen erhob sich der Sturm zu einer nie gekannten Kraft. Es war, als kämpften verfeindete Geister der Lüfte, die sich gegenseitig die Nahrung neideten. Der Hauptmast knirschte. Tibra sah das Unheil nahen. Ein dünner Riß spaltete das feste Holz. Vorn im Bug stand Dharin angebunden, bei ihm Clandyl und eine Frau. Der Magier stieß sich ab. Eine hohe Welle überspülte in diesem Moment das Schiff, riß ihn mit sich. Tibra prallte gegen die Reeling und wäre über Bord gegangen, wenn nicht Bakaar hier mit festen Griff seinen Arm umklammerte. Tibras Bewegung erregte Dharins Aufmerksamkeit. Er sah erst jetzt den Mast, riß an seinem Seil. Es gelang ihm noch, sich von der Reeling zu lösen und Frau neben sich mitzuziehen. Als der Mast brach und krachend auf den Bug donnerte, fand Clandyl den Tod. Der Sturm tobte unvermindert weiter, aber nun erhob er sich weiter in die Lüfte und vergaß den Segler, der ihm hilflos ausgeliefert war. Tibra riß sich von Bakaar los, eilte auf die andere Seite des Schiffes. Der Katamaran! Das Holz tanzte auf den Wellen und sie waren ihm nahe wie nie zuvor. Ehe Thyrian ihn hindern konnte, schwang sich Tibra schon über die Reeling.
H
arkym, der sich in grenzenloser Angst mit Tuchstreifen an sein Gefährt band, glaubte sich bis dahin verloren. Wie gelähmt lag er im Kanu, dessen wilder Tanz auf den Wellen wie ein sinnloses Aufbegehren schien. Immer und immer wieder überspülte das Wasser Holz und Kind. Aber dann, als der Sturm sich in höhere Regionen begab, sah auch
Harkym den weißen Segler und er sah den Mann, der ins Wasser sprang. Der Knabe befreite sich mit klammen Fingern von seiner eigenen Fessel. Das alles dauerte ihm viel zu lange, aber endlich war er frei und nun ließ auch er sich ins Wasser gleiten. Es umgab ihn wie eine warme Welle, die ihn umarmen und verschlingen wollte. Er hatte kaum noch Kraft. Harkym wollte schwimmen, doch seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht. Panik griff nach ihm. Doch Harkym widerstand. In Minas gab es hinter dem Haus des Vaters einen großen See. Dort schwamm er oft und dort lag er auch oft ganz ruhig auf dem Wasser, ohne Bewegung und doch von ihm getragen. Harkym ließ sich auch jetzt treiben. Der Seegang ließ nach, doch hier, eins mit dem Wasser, konnte er nicht sehen, wo sich sein Katamaran und wo der Segler befand. Harkym mußte still halten, warten, hoffen und darauf vertrauen, daß der Vater bis zu ihm gelangte. Plötzlich gab es keine Todesangst mehr. Alles erschien auf sehr gewisse, aber nicht faßbare Weise richtig. Eigentlich war es nun an der Zeit, einfach unterzugehen. Da spürte er den Stein in seiner Hand und harrte aus. Und dann war der Vater bei ihm, der ihn unter den Achseln ergriff und, selbst auf dem Rücken schwimmend, mit sich zog. Ein kleines Beiboot nahm sie schließlich auf, brachte sie zum Segler. Hilfreiche Hände zogen sie an Bord. Harkym zitterte. Die Nässe, Hunger, Durst und Erschöpfung umklammerten ihn. Jemand legte eine Decke um seine Schultern. Aber das war alles nicht wichtig. Wichtig war allein der Vater, der ihn fest umschlungen hielt. Insanna brachte Wasser, das der Knabe gierig trank. Tibra schob den Sohn in die Kabine, bettete ihn nieder. Das Zittern ließ nicht nach. Er deckte Harkym zu, setzte sich an den Rand seines
Lagers und hielt dessen Hände, streichelte sein Gesicht, küßte ihn sacht. Nach langer Zeit erst wurde Harkym etwas ruhiger. "Ich liebe dich, Dada," flüsterte der Sohn endlich. Dann schlief er ein. Zunächst ging sein Atem noch unruhig und flach, doch bald tiefer. Tibra wachte bei ihm. Als Bakaar dann kam, um statt seiner bei Harkym zu bleiben, streifte Tibra die nassen Kleider ab, zog sich um und ging danach hinaus. Sie hatten Clandyls Leib in Tuch gehüllt. Tibra wollte hinzu treten, doch Thyrian hielt ihn zurück. "Kein schöner Anblick," mahnte er. "Der Mast hat seinen Kopf zertrümmert." Er gab den Männern einen Wink, woraufhin diese den Leichnam dem Meer übergaben. "Was ist mit dem bebender Stimme.
Schiff?"
erkundigte sich Tibra mit
"Es sieht übel aus, Freund. Der Mast hat den Rumpf beschädigt. Es dringt Wasser ein; nicht viel, aber es ist unsicher, ob sich der Riß nicht vergrößern wird. Die meisten Segel sind zerstört. Mit dem Stagsegel allein kann das Schiff nicht wirklich manöveriert werden. Und der Mast ist zersplittert. Es gibt keine Möglichkeit, ihn behelfsmäßig wieder aufzurichten." "Das klingt endgültig," begriff Tibra. Er besah sich mit Thyrian und Sasaran den Schaden. Die Sache sah wirklich übel aus. "Jetzt fahre ich seit so vielen Jahren für Amarra zur See," murmelte Sasaran, "daß ich vergessen habe, wie
gefährlich das sein kann. Ich hätte nie gedacht, daß ein Schiff mein Grab werden könnte." "Haben wir schon sich Tibra vorsichtig.
Grund, uns aufzugeben?" erkundigte
"Zumindest nicht mehr viele Chancen," schränkte Sasaran ein. "Die obere Hälfte des Mastes sieht noch gut aus. Man könnte versuchen, einen Zwergmast daraus zu bauen und auch das Segeltuch läßt sich teilweise noch flicken. Wenn wir eine Richtung wüßten, könnten die Beiboote eventuell rudernd das Schiff bis zu einer Strömung ziehen. Und die Vorräte an Wasser und Nahrungsmitteln reichen auch noch einige Tage. Aber das alles ist ein bißchen wenig." "Es ist jedenfalls genug, um sich noch nicht aufzugeben," entschied der Magier. Laßt uns mit der Arbeit beginnen." Er wollte selbst mithelfen, doch Thyrian ließ dies nicht zu. Der Freund brauchte Ruhe, auch wenn er die eigene Erschöpfung ignorierte. Auf Dauer konnte das nicht gut gehen. Während Tibra dann schlief und die Männer Sasarans Befehlen folgend sich um das Schiff kümmerten, versuchte er, im Geist Amarra zu erreichen.
D
as untätige Abwarten an Bord störte kaum jemanden. Die Seeleute freuten sich über die Pause. König Ariston genoß es, Orales so naha bei Amarra geradezu verjüngt zu sehen und mit dem Freund wie in alten Zeiten tiefe Gespräche zu führen. Jiddan hielt sich weiterhin ausschließlich an Wanas Seite auf, mir der er plaudernd, lachend und scherzend über alles sprach, was ihnen gerade so in den Sinn kam. Sie war auf
gewisse Weise fasziniert von diesem Mann, der erst durch Ilkonys Macht erhielt und den eine natürliche Würde umgab, gepaart mit einer beeindruckenden Liebenswürdigkeit. Für Wana war er schlichtweg ein Erlebnis. In seiner Gegenwart fühlte sie sich jünger und sehr begehrenswert. Sie wußte freilich, daß ihre Schönheit jeden Mann beeindruckte, doch Jiddan sah nicht nur ihren Leib und ihr Antlitz, sondern er richtete seine Aufmerksamkeit auf ihre Gedanken und wandte sich auch an die Priesterin ihr. Sie ahnte eine neue Art von Gefühlen in sich, die sie bisher nicht kannte. Wana wuchs in Wyla auf und in jenem Waldreich galten Männer nicht viel. Einige Jahre verbrachte sie allein in einem Baumhaus, weil sie die Einsamkeit und die tiefe Schönheit des dichten Waldes liebte. Dort verspürte sie den Ruf zu den Weihen, zog nach Amarra und wurde Priesterin. Und als sie Amarra verließ, um wieder in Wyla zu leben, begegnete sie Farrak, mit dem sie eine tiefe Freundschaft verband. Doch Farrak schmeichelte ihr nie als Frau. Er gab kein Komplimente, versprühte keinen Charme. Und so badete sie in Jiddans Aufmerksamkeit wie in den warmen Wogen des Meeres. Farrak sagte nichts zu alledem. Er hielt sich ohnehin abseits. Nur mit Dal, der ihn bediente, sprach er ein wenig. Um diesen brauchte er sich ohnehin nicht zu sorgen. Trotz der Kupferreifen um seine Handgelenke behandelte ihn jeder an Bord wie einen freien Mann, was nicht zuletzt daran lag, daß sich Dal auch genau so verhielt. Wanas helles Lachen schallte über Deck, verstummte dann aber abrupt. Jidann ergriff ihre beiden Hände, nickte ihr zu. Da lächelte sie und öffnete ihren Geist einem fernen Ruf. Es war Ilkonys, der das Geschehen bemerkte und auf stille Art für Ruhe sorgte. Er wartete, bis Wana ihre Aufmerksamkeit wieder auf Jiddan richtete; dann trat er hinzu. Wana verneigte sich leicht, was Jiddan ein leises Lachen entlockte.
"Ich habe Nachricht von Tibra," gab sie leise zu. "Dann lebt er," schloß Ilkonys daraus erleichtert. Er gab dem Vater ein Zeichen und winkte so ihn wie auch Farrak herbei. Doch Farrak kam erst, nachdem Jiddan einen Schritt beiseite trat. "Lyrna schloß den Rapport mit mir, weil Nymardos sie darum bat," berichtete Wana dann. "Sie haben Harkym gefunden. Der Knabe ist gesund und unversehrt. Aber sie gerieten wohl in einen heftigen Sturm, der ihren Segler schwer beschädigte." "Wie schwer?" forschte Ariston. "Der Mast ist gebrochen und über den Rumpf dringt Wasser ein." "Gibt es irgendeinen Hinweis, wo sie sind? Gibt es irgendeinen Rat, wie wir sie finden können?" erkundigte sich Ilkonys nachdenklich. Wana schüttelte den Kopf. Sie starrte auf ihre eigenen Hände. Schließlich sagte sie leise: "Thyrian sagt, daß er keinen priesterlichen Weg der Hilfe kennt." Jetzt sah sie Farrak an, fragend und bittend zugleich. Im Moment wirkte der Magier irgendwie überheblich. "Tibra wird niemals bereit sein, durch einen Blutzauber eine Kraft zu rufen, die stark genug ist, um als Ziel geortet zu werden," mutmaßte er gelassen. "Er hat es einmal getan," erinnerte sich Ilkonys erschaudernd.
"Ziegenblut hilft da nicht," grinste Farrak. "Es dürfte sich auch kein Tier auf dem Segler befinden. Und auch sein eigenes Blut wäre ungeeignet." "Was dann?" Farrak zuckte wie gleichgültig mit den Achseln, wandte sich um und setzte sich entfernt auf eine Seilrolle beim Hauptmast. Er wirkte nicht einmal nachdenklich. "Ich würde ihn am liebsten durchbohren," knurrte Jiddan zornig. "Warum?" Ilkonys lächelte. "Weil er ein Magier ist? Was hast du erwartet?" "Jedenfalls nicht die Forderung nach einem Menschenopfer." "Das wäre bestimmt der leichteste und sicherste Weg," vermutete Nodhers Erbe. "Das versteht ihr, Gebieter?" vergewisserte sich Wana, völlig verblüfft ihren Herrn ansehend. "Aussichtslose Situationen erfordern manchmal aussichtslose Mittel, um sie zu wenden," konstatierte Nodhers Erbe ganz ruhig. Dann wandte er sich an den Vater: "Das Schiff wird sinken. Wagen wir es, sie ohne Anhaltspunkt zu suchen?" "Ich überprüfe die Vorräte," erwiderte Ariston zustimmend, ehe er sich entfernte, um mit seinen Männern zu reden. Ilkonys begab sich zu Farrak. Der Magier sah nicht einmal auf, als sich Nodhers Erbe an seine Seite setzte. "Liebt ihr Tibra, Farrak?"
Der Mann lächelte, als habe man ihm soeben eine höchst sonderbare Frage gestellt. Aber dann antwortete er doch: "Nein, Herr. Ich verdanke ihm manches und ich anerkenne seine magische Macht. Ich respektiere ihn. Genügt das nicht?" "Mir würde es nicht genügen," gab Ilkonys nachdenklich zu. "Ich liebe diesen Mann. Sein Tod wäre für mich ein großer Verlust." Ein sanfter Wind spielte mit seinem langen Haar. Ilkonys hatte das Hemd ein wenig geöffnet. Die Wärme des Tages trieb den Schweiß aus den Poren. Als er sich nun etwas nach vorne neigte, baumelte ein Anhänger vor seiner Brust. Farraks Hand schnellte nach vorn, umfaßte das Schmuckstück. "Was ist das?" wollte er hastig wissen. "Ein Schutzzeichen Amarras," erwiderte Ilkonys arglos. Er löste Farraks Hand von dem Anhänger, zog sich dann aber die Kette über den Kopf und reichte das Schmuckstück dem Magier. "Seht ihr, wie in den geschnittenen Amethysten der Siebenstern, Amarras Zeichen, eingegraben ist? Nymardos als Than hat den Stein meinem Vater noch vor meiner Geburt für mich gegeben. Als Kind lag ich einmal mit Gerrys in Sion gefangen. Nymardos hat diesen Stein orten und mich finden können." "Ich spüre seine Kraft," gab Farrak zu, das Schmuckstück nachdenklich in der Hand wendend. "Im Grunde ist auch manches priesterliche Handeln nichts anderes als Magie. Tibra trägt ein ähnliches Zeichen." "Er hat auch einen Amethysten," nickte Ilkonys. "Aber der seine besitzt eine ganz andere Bedeutung. Es ist ein Opal in ihn eingelassen. Er öffnet ihm jeden Tempel und
teilt Amarras Reichtum mit ihm." Farrak reichte den Anhänger zurück. "Nicht stark genug," gab er bedauernd zu. "Es ist kein Geist darin." "Man kann seinen Geist nicht in einen Amethysten binden." Farrak lächelte. "Ich sprach vom Geist des Steines, nicht vom Geist eines Menschen, Gebieter." "Tibra sagt, alles hat einen Geist." "Und ich sage, dies ist nicht stark genug." "Und was besäße ausreichende Kraft?" Sie hatten nicht bemerkt, wie Orales zu ihnen kam. Er hörte schweigend zu. Aber nun redete er, wobei seine Stimme leise vibrierte und ihn jedes Wort viel Kraft kostete: "Nichts ist stärker als der Geist eines Lebenden Kristalles, der sich den menschlichen Geist unterordnet anstatt sich ihm zu ergeben. So viel Zerstörung und Kälte bewirkt nichts sonst." Orales ging weiter. "Wie meinte er das?" "Vor vielen Jahren," erzählte Ilkonys, "hat ein solcher Geist Orales überschattet. Er war als Besessener Sklave dieser Kraft. Es gab viele Tote damals." "Kennt Tibra diese Geschichte, Herr?"
"Er war nicht dabei. Wir kannten uns damals noch nicht. Aber wir haben einmal darüber geredet und er hat gelacht und gesagt, daß man wohl ein Priester sein muß, um sich vom Geist eines Steines gefangen nehmen zu lassen. Einem starken Magier könnte das nicht passieren." "Hat er einen Lebenden Kristall?" "Natürlich nicht." Ilkonys lachte leise. "Er würde seinen Geist bestimmt nicht in einen Kristall binden. Außerdem gibt es nur elf oder zwölf Stück von dieser seltenen Sorte. Thyrian besitzt einen." Farrak nahm erneut Ilkonys' Amethysten an sich. Nachdenklich fuhr er mit dem Finger die Konturen des Siebensterns nach. Schließlich sah er auf. "Ihr sagt, ihr liebt Tibra. Das kann ich verstehen. Aber was ist mit eurem Vater? Warum will er sein Leben riskieren? Schließlich war er es, der Befehl gab, Tibra zu Tode zu peitschen und der meine Gilde hart verfolgen ließ." "Das ist lange versprach Ilkonys.
her. Es wird sich nicht wiederholen,"
Farrak erhob sich. Er fragte nicht um Erlaubnis, als er den Amethysten einsteckte. Ohne Nodhers Erben weiter zu beachten, ging er zu Wana. Seine Stimme klang fast unpersönlich, als er, ohne auch nur einen einzigen Seitenblick auf Jiddan zu werfen, versprach: "Wenn es Tibra gelingt, den Geist des Lebenden Kristalles an Amarras Siegel zu ketten, werde ich ihn finden." Sie wollte etwas sagen, doch Farrak wartete auf keine Antwort. Er ging in seine Kabine unter Deck und verschloß die Tür.
G
esundheitlich erholte sich Harkym in kürzester Zeit. Er trank viel, aß sich satt und hatte ausgeschlafen. Die Entbehrungen der letzten Tage wirkten nicht mehr nach. Wohl aber die Todesangst, die er noch lebendig in sich verspürte. Er hatte einige Menschen befragt, ob sie ähn- liches erlebten, doch er erhielt nur hilflos tröstende Worte. Schließlich wandte er sich an Thyrian. "Als Shannar mich töten wollte," berichtete er zögernd, "hat Xurestar meine Furcht in mir besiegt. Dada war böse deshalb. Dir hätte er es erlaubt." "Und du möchtest nun, daß ich dir helfe?" erkundigte sich Thyrian vorsichtig. "Ich will nicht, daß du meinen Geist berührst," gab der Junge zu. "Aber niemand versteht, was ich empfinde. Verstehst du es, Thyrian? Hast du schon einmal gedacht, daß du sterben mußt?" Thyrian nickte. Er führte Harkym ein wenig beiseite, setzte sich dann mit ihm auf die Planken. "Als ich noch in Sarai lebte," erzählte er, "wurde ich verklagt, den Erben meines Reiches bedroht zu haben. Man kerkerte mich ein. Ich war in einem tiefen Loch gefangen, ohne Fenster, ohne Wasser, ohne Nahrung. Und dort wurde ich vergessen." "Hattest du Angst?" "Ja, die hatte ich. Mein Körper trocknete aus. Ich verdurstete langsam. Und alles, was ich tun konnte, das war, meinen Geist durch kleine priesterliche Übungen von der Verzweiflung abzulenken. Im letzten Augenblick kam dein Vater und hat mich gerettet. Aber daran erinnere ich mich
nicht wirklich, denn eigentlich war ich schon tot." "Hat danach jemand deinen Geist geheilt?" "Nein, Harkym. Nicht jede schreckliche Erinnerung muß durch priesterliches Wirken verhindert werden. Wenn du es ertragen kannst, dann trage es, Junge, denn es wird dich lehren, Leben und Tod neu zu sehen. Aber wenn du meinst, daß es unerträglich wird, dann komm zu mir und ich werde dir helfen." "Ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann," murmelte der Junge. "Aber ich versuche es noch ein wenig, Thyrian." Harkym ging zum Vater. Tibra schlief noch und da legte er sich an seine Seite, kuschelte sich an ihn und wartete wie in den Tagen seiner Kindheit auf dessen Erwachen. Tibras Schlaf endete. Er neigte sich über Harkym, küßte seine Stirn. "Geht es dir gut?" erkundigte er sich besorgt. "Nein, Dada. Aber ich bin froh, daß du da bist. Die Männer versuchen, den Mast zu flicken. Aber es kommt Wasser ins Schiff. Nicht wahr, wir werden sinken? Es ist noch nicht vorbei." "Du darfst niemals aufgeben, solange es Hoffnung gibt," mahnte Tibra mit leiser Stimme. "Das hast du auf dem Katamaran doch auch nicht getan." "Ich hab versucht, das Rätsel des Steines zu ergründen, den du mir gegeben hast. Es ist mir aber nicht gelungen. Als Thyrian in Sarai verdurstete, hat er priesterliche Übungen ausgeführt. Deshalb ist er nicht verzweifelt. Ich glaube, das mit dem Stein ist etwas ähnliches gewesen. Du hast mir einmal erzählt, wie König Ariston dich in Sarai ohne Pferd in den kalten Nebeln allein ließ und du dort fast erfroren bist. Damals hast du dich aber aufgegeben, Dada.
Hatte dein Geist nichts mehr zu wollen?" "Nun ja," gab Tibra lächelnd zu, "ich dachte, ich habe nichts mehr zu hoffen. Zum Glück war Gerrys anderer Ansicht und rettete mich." "Ich bin nicht mehr ganz sicher, ob ich ein Magier werden will," gestand Harkym da unvermittelt. "Im Moment wollen wir alle nur leben," erwiderte der Vater ganz ruhig. "Alles andere hat viel Zeit und jede Entscheidung kann warten, bis wir bereit für sie sind." Er erhob sich. "Ich sollte mich mit Thyrian beraten und nachsehen, ob ich irgendwo helfen kann."
T
ibra war noch fest davon überzeugt, daß sie irgendwie Amarra finden konnten. Er sah die Männer an Mast und Segel arbeiten, sah andere Wasser schöpfen und spürte eine gewisse Hoffnung bei den Leuten, Aber was er dann von Thyrian vernahm, ließ ihn doch erbleichen. Niemand hörte ihnen zu, als sie leise miteinander sprachen. "Ich habe versucht, Seymas zu erreichen," versicherte Thyrian. "Er blockt ab und öffnet sich nicht meinem Geist. Der Than steht mit niemandem in Rapport. Er öffnet sich nur dem, den er auch hören will. Er läßt keine Verbindung mit mir mehr zu." "Er will unseren Tod?" forschte Tibra ungläubig. "Wir haben uns beide seinem Willen widersetzt. Ich habe mit dieser Reaktion allerdings nicht gerechnet und bin sehr verunsichert. Ich fürchte, er ist mehr als nur wütend auf uns."
"Und er ist unsere einzige Chance, eine Richtung zu finden," verstand Tibra. Sie schwiegen einen Moment. "Vielleicht haben wir uns einfach zu sehr auf diese Lösung verlassen. Sobald der Mast steht, müssen wir uns bewegen." "Und dann?" "Wir kennen Orte der Kraft, Thyrian. Und wir Magier glauben, daß alle diese Orte durch Kraftlinien verbunden sind. Diese Linien kann ich erspüren. Es gibt sogar Leute, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes tun, als diesen Linien zu folgen. Wir nennen sie Läufer. Wenn wir eine Kraftlinie finden und ihr folgen, kommen wir zu einem Ort der Kraft und wenn wir Glück haben, dadurch auch irgendwo an Land." "Ich fürchte nur, daß das Schiff nicht lange genug schwimmen wird. Es dringt mehr Wasser ein, als ich zuerst vermutete. Aber da ist noch etwas, das du wissen mußt. Gerrys hat, von sich aus, den Rapport zu mir belebt. Er wollte wissen, ob wir Harkym fanden." "In Seymas' Auftrag?" "Nein, bestimmt nicht, Freund. Seymas weiß nichts davon. Er hat Gerrys bis jetzt noch nicht empfangen und auch Nymardos noch nicht gesehen. Der Than verläßt derzeit den Tempel nicht. Wie dem auch sei, Gerrys sagt, daß Nodhers Segler noch in der Nähe Amarras ist." "Und was hilft uns das?" "Ariston und Ilkonys haben die Freunde nach Amarra geleitet. Sie sind an Bord ihres Seglers. Und mit ihnen ist Farrak. Aber leider ist niemand auf diesem Schiff, dessen Geist ich erreichen kann."
Es sah wirklich nicht gut aus und jeder auf dem Schiff ahnte die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Einzig Harkym gewann die feste Überzeugung, daß sie nicht verloren waren, denn er sah große Fische aus dem Wasser schnellen, die ihm schon zuvor in seinen dunkelsten Stunden Verheißung und Zuversicht bedeuteten.
Tibra betrachtete nachdenklich den Lebenden Kristall des Freundes. Von Farrak über Wana, Lyrna, Gerrys und Thyrian vernahm er die Aufforderung, mineralischen Geist zu beeinflussen. Die Einflußnahme allein schreckte ihn nicht, doch er hatte bisher nie Gelegenheit, einen erweckten Lebenden Kristall zu erforschen. Der Kristall in seiner Hand schimmerte sacht. Er spendete jetzt kaum Licht. "Du mußt deinen Geist aus dem Stein lösen," mahnte Tibra den Freund. "Das ist schon geschehen," versprach Thyrian. Der Magier konzentrierte sich. Thyrian stand still dabei, ebenso Harkym, Dharin und Insanna. Niemand sprach ein Wort. Sie wagten kaum, zu atmen, obgleich sich keine Anstrengung auf Tibras Antlitz zeigte. Er wirkte eher nachdenklich als angespannt. Schließlich sah er Insanna an. "Ich finde keinen Zugang," gab er zu. "Ich würde ihn finden," vermutete die Priesterin. "Meine Aufgabe ist es ja, diese Kristalle zu erwecken. Also bin ich auf sie eingestimmt." "Das sollte helfen?" zweifelte Dharin. "Die Erweckung eines Sumpfkristalles bedeutet eine Beeinflussung dessen Geistes," bestätigte Insanna gelassen. "Wenn es mir gelänge, den Zustand der Erweckung in diesem
Kristall nochmals zu erreichen, könnte Tibra diesen Geist vielleicht umfassen." "Aber du würdest dich dann nicht von ihm lösen können," warnte der Magier. "Ich weiß nicht, welche Folgen das hätte." Unsicher sah Insanna zu Thyrian. Vermutlich verstanden nur sie beide in vollem Umfang die Gefahr, um die es dabei ging. In diesem Moment ertönte ein schriller Schrei. Wenig später wankte eine Priesterin an Deck. Sie war völlig verstört. "Der Riß ist größer geworden," stammelte sie. "Das Wasser dringt jetzt unaufhörlich ein." "Ich helfe beim Schöpfen," versprach Harkym und eilte unter Deck. Dharin folgte ihm. Es wurde jede Hand gebraucht, um die eindringenden Wassermassen einzudämmen und den beschädigten Rumpf abzudichten. Insanna lächelte wehmütig. Aber sie diskutierte nicht, sondern nahm den Lebenden Kristall auf ihre geöffneten Handflächen, setzte sich, wo sie gerade war, nieder und begann sofort ein priesterliches Wirken, wie es nur wenige ausgewählte Lichtspriesterinnen vermochten. Tibra spürte ihr schweigendes Ton. Mit untergeschlagenen Beinen setzte er sich ihr gegenüber, umfaßte den Opalanhänger und starrte nur noch auf den Lebenden Kristall. Thyrian stand wie beschirmend dabei. Weder Insanna noch Tibra sahen sein Antlitz versteinern, als er bemerkte, wie die Priesterin in einen Sog geriet. Er spürte sogar das Eingreifen des Freundes, der eine unsichtbare, machtvolle Kraft umklammerte, in dieser aber auch Insannas Geist zwang, sich dem Siegel Amarras zu ergeben. Obgleich von keinem menschlichen Geist beeinflußt, leuchtete der Le-
bende Kristall auf. Das war kein helles Licht, sondern ein langsames, aber stets Anschwellen, das, wie es nicht der Art dieses Lichtes entsprach, ganz langsam pulsierte.
F
arrak stürmte an Deck. Seine Stimme klang so machtvoll und befehlsgewohnt, als gehöre ihm das Schiff. "Alle Segel setzen," rief er. "Und laßt das Steuerruder los." Der Steuermann knurrte ein paar unwillige Worte, während er weiterhin seiner Arbeit nachkam und seine Aufmerksamkeit nur auf jene ausrichtete, die ihm Befehle erteilen durften. Farrak sprang zu ihm, stieß ihn beiseite. Es wäre zum Handgemenge gekommen, wenn nicht Ariston mit lauter Stimme Einhalt gebot. "Tut, was er sagt," verlangte der Herrscher. "Dann zieht das Ruder ein und überlaßt das Schiff dem Wind," forderte Farrak. "Welchem Wind?" meinte einer der Seeleute grinsend. Es ging nur eine sehr sanfte Brise, kaum geeignet, die Segel zu blähen. Farrak begab sich in den Bug. "Verschwindet," verlangte sich hier unterhielten.
er von Jiddan und Wana, die
"Man sollte euch Benehmen lehren," fauchte Jiddan. Ilkonys rief den Freund an und so entfernte sich Jiddan, ohne auf einem Streit zu bestehen. Farrak sah nicht aufs Meer. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reeling, sah zum Hauptmast hinauf. Die Rechte hielt er etwas ausgestreckt. Vom Mittelfinger herab baumelte Ilkonys' Amethyst an dessen Kette, gleich einem Pendel schwingend.
Eine fast unnatürliche Stille herrschte. Jeder starrte zu Farrak, der seltsam gelassen wirkte. Das Pendel schwang langsam hin und her. Und plötzlich blieb es in widernatürlicher Stellung stehen. Der Amethyst deutete gleich einem Pfeil weit aufs Meer hinaus, entgegen aller Schwerkraft an der gespannten Kette in die Ferne ziehend. Gleichzeitig erhob sich kräftiger Wind, der mit Gewalt in die Segel fuhr und wenig später den Segler über die Wellen trieb. Und dann kam die Angst über die Menschen an Bord. Die gespenstische Stille, in der sogar der Wind und die Segel geräuschlos blieben, die unfaßbare Geschwindigkeit, die der Segler gewann und die unendliche Weite des Meeres, all dies wirkte bedrückend und drohte mit realer Gefahr. Die Nebel sanken. Ganz langsam verwischte der Horizont, verschmolz das Wasser des Meeres mit dem Wasser der Luft. Die Dunkelheit hüllte sie ein. Keiner dachte an Schlaf, denn die Fahrt ging mit unvermindeter Geschwindigkeit weiter.
S
ie hatten vergeblich versucht, das Leck abzudichten und nun arbeiteten sie alle daran, Wasser zu schöpfen. Der Hilfsmast war noch immer nicht befestigt, aber es glaubte ohnehin niemand mehr daran, daß sie noch einmal segeln würden. Tibra wußte nichts davon. Er hatte ein Sein erfaßt und zwang es, an ein Symbol gekettet zu sein. Sein und Symbol schienen bereit, miteinander zu verschmelzen und sich darin aufzugeben. Aber genau das mußte er verhindern, weil dadurch eine neue Form entstand, von der er annahm, daß weder er noch Farrak sie zu halten vermochten. So lebte er in zähem Ringen um eine Verbindung, die keine Einheit erlaubte. Insanna wußte sich im Licht. Dies war aber nicht das Licht ihrer Göttin Antares, sondern ein Wesen, das nach ihr selbst
griff, um sie zu vereinnahmen und zu verzehren. Und sie konnte darin nichts tun, war keiner Handlung fähig. Für sie gab es nur Hingabe und ein Aushalten, das sie eigentlich nicht wollte. Thyrian stand unbeweglich. Er sah nun seit Stunden die großen Fische, die in immer größerer Anzahl nahe des Wracks aus dem Wasser schnellten. Er sah die Nebel sinken und in deren nachtdichten Dunkelheit das Pulsieren des Kristalles, dessen Licht gespenstisch die Nebel tränkte. Für Tibra konnte er nichts tun. Er hätte jetzt nicht einmal dessen Geist erreichen können, wenn er es wollte. Denn der Magier konzentrierte sich so unerschütterlich, daß nichts zu ihm vorzudringen vermochte. Aber Insanna war Priesterin und etwas in ihr schrie förmlich nach ihrer Göttin und deren Licht. Für Thyrian war dies wie ein stummer Schrei um Hilfe. Harkym wurde müde. Es erschien so aussichtslos, das Wasser aus dem Rumpf des Schiffes zu tragen und es kostete ihn zu viel Kraft. Der Junge wankte an Deck. Er sah im Morgenlicht die Fische. Sie wirkten wie von Silber überzogen. Seine Hand tastete nach dem Stein, den er hinter dem Gürtel trug. Dann schaute er zum Vater. Er näherte sich lautlos. Harkym wußte, daß er versunkende Menschen nicht stören durfte. Thyrian warf ihm einen beruhigenden Blick zu. Also war dieser Mann nicht ganz selbstvergessen. Mit ausdruckslosem Gesicht betrachtete Harkym den Vater, Insanna und den Lebenden Kristall. Das Licht des Kristalles wuchs nicht mehr an, doch es pulsierte nun viel heftiger als zuvor. Gleich einem Funken sprang es auf das Opalsiegel in Tibras Händen über. Der Opal begann, zu funkeln. Harkym wich einen Schritt zurück. Thyrian spannte sich an. Er tastete jetzt nicht mehr vorsichtig nach Insannas
Geist, sondern warf sich ihm förmlich entgegen. Als der Kristall in unzählige kleine Stücke zerbrach, umfaßte er den Geist der Priesterin und riß ihn ins Sein zurück. Harkym warf sich neben Insanna auf die Knie, um ihren zur Seite kippenden Körper aufzufangen. Thyrians Aufmerksamkeit galt nun allein Tibra. Der Magier saß unbeweglich und es ging keine geistige Energie von ihm aus. Thyrian wußte nicht, ob auch er Schaden nahm. Harkym hielt den zitternden Leib der Priesterin, die mit flackerndem Blick versuchte, sich auf ihr eigenes Sein zu besinnen. "Du, du kommst wieder nach Hause," flüsterte sie dem Jungen zu. "Die Götter sind mir dir, Harkym." "Ihr dürft euch nicht anstrengen," bat er hilflos. Insanna tastete nach seinem Gesicht. Es gelang ihr sogar ein kleines Lächeln. "Dein Vater...?" Harkym wandte den Kopf und sah, wie Tibras Hand sich fest um den Opalanhänger schloß. "Ihm geht's gut," versicherte der Knabe, der nun nicht mehr verhindern konnte, daß sich eine Träne aus seinem Auge stahl. "Nicht weinen." Insanna sprach sehr leise, doch sie schien keine Schmerzen zu verspüren. "Es ist nicht schlimm, zu sterben. Es ist nur ein Durchgang in ein neues Sein. Da ist so viel Licht..." Thyrian stand über Tibra geneigt. Er atmete auf, als der Freund ihn endlich ansah.
"Du bist in Ordnung?" wollte er trotzdem wissen. "Da war eine Kraft, die ich zuerst auf ihre eigene Ebene zurück drängen mußte," bestätigte Tibra. "Ich bin nur etwas erschöpft. Was ist mit Insanna?" "Die geistige Rückverbindung zu ihrem Körper erlischt," gestand Thyrian sehr leise. "Sie hat zu viel von sich gegeben." Tibra erschrak. Er eilte zu ihr, nahm sie Harkym ab und bettete ihren Kopf an seine Brust. "Das habe ich nicht gewollt," murmelte er erschüttert. "Ich wollte es. War es genug?" Es gab keine Antwort auf diese Frage. Noch immer umgab sie nichts als die unendliche Weite des Meeres. Tibra wußte nicht einmal, ob Farrak etwas von ihrem Tun erspüren konnte. Er fühlte sich hilflos, als er sein Gesicht in ihrem Haar barg. "Ich liebe dich, Insanna." Sie wandte ein wenig den Kopf, so daß sie beide sich ansehen konnten. In ihren Augen lag eine seltsame Mischung aus Glück und Schmerz, Freude und Kummer. Da neigte er sich über sie. Seine Lippen fanden ihren Mund zu einem langen Kuß. Insanna hielt die Augen geschlossen. Als sie sie wieder öffnete, schaute sie Tibra sehr glücklich an. Dann brach ihr Blick. Tibra weinte auf. Er merkte kaum, wie Harkym an seine Seite robbte und den Arm um ihn legte; wurde auch Thyrian nicht gewahr, der sanft nach seiner Schulter griff.
D
ie Nebel hatten sich schon weit gehoben, als sich Wana endlich zur Ruhe begab. Jiddan suchte nun zum ersten Mal
wieder die Nähe des Freundes. Er wirkte nicht mehr so selbstsicher wie bisher und als er in Fahrtrichtung über das Meer starrte, verkrampften sich seine Hände an der befestigten Reeling wie in geheimer Furcht. Nodhers Erbe sah es mit leichtem Erstaunen, da ihn diese rasende Fahrt über die Wogen doch eher faszinierte. "Das war die zweite Nacht in dieser irrsinnigen Geschwindigkeit," murmelte Jiddan endlich. "Wer ist dieser Mann, daß er das zu bewirken vermag?" "Einfach ein Magier." Ilkonys nahm es gelassen. "Seit ich gesehen habe, wie Tibra mit Hilfe seiner Magie ein senkrechtes Loch in einen gewachsenen Berg bohrte, groß genug, daß man einen ganzen Wagen darin versenken konnte und tiefer als alles, was ich je von Menschenhand geschaffen sah, erstaunt mich nichts mehr. Tibra wollte damals Willar retten, der auf der Insel der Läuterung gefangen lag. Farrak will Tibra retten. Ich danke den Göttern, daß so mächtige Männer zugleich so viel Ehre besitzen." "Du meinst, man sollte sie sich nicht zu Feinden machen," stellte Jiddan beunruhigt richtig. "Du bist jedenfalls auf dem besten Weg dazu," befürchtete der Freund. "Es ist eine Sache, sich für Wana zu interessieren. Aber Farrak nur aggressiv zu begegnen, das ist nicht richtig. Zum einen ist er mein Gast. Zum andern brauchen wir ihn." "Er ist jedenfalls nicht sehr höflich." Ilkonys lachte leise auf. "Eine Eigenart, die man auch Tibra schon oft vorgeworfen hat. Diese Männer sind keine Hofleute. Sie wissen nicht, wie man schmeichelt. Sie haben das auch nicht nötig, Jiddan. Sie sind Könige im Reich der Magie und verdienen
Respekt." "Ich werde versuchen, Farrak auszuweichen. Mehr kann ich dir nicht versprechen." "Ich habe nichts von dir gefordert, Freund. Ich bitte dich aber um Besonnenheit. Ich glaube, Wana würde das auch wollen." "Sie ist die erste Frau, mit der ich mein Leben teilen möchte." "Ein schönes Gefühl, ich weiß." Nodhers Erbe lächelte. Er wollte noch mehr sagen, doch da sah er zu Farrak. Amarras Schutzzeichen, das bisher fast waagrecht in der Luft schwebte, fiel in diesem Moment schlaff nach unten und baumelte dann an der Kette. Farrak selbst, der die ganze Zeit bisher reglos dastand, ließ erschöpft den Arm sinken. Ansonsten änderte er seine Haltung nicht, starrte weiterhin zu den geblähten Segeln hinauf und formte mit den Lippen lautlose Worte, die niemand verstand. Ilkonys näherte sich lautlos, blieb dann still abwartend stehen. Er spürte eine Veränderung und er sah seinen Anhänger hilflos an der Kette baumeln. Dann schaute er zu den Segeln hinauf. Sie zeigten sich noch gebläht und doch hatte er den Eindruck, als sei der Wind kraftloser geworden. "Da oben gibt es nichts zu sehen, Gebieter." Farrak schaute ihn an. "Auch da draußen nicht. Ich habe keine Verbindung mehr." "Was bedeutet das?" "Das kann viele Gründe haben, Herr. Vermutlich konnte Tibra aber nur die Kraft nicht länger festhalten."
"Und wie nahe sind wir ihm?" "Das kann ich nicht sagen," gab der Magier bedauernd zu. "Ich tat, was ich zu tun vermochte." "Verzeiht," erwiderte Ilkonys rasch, "ihr habt Großes geleistet und müßt über die Maßen erschöpft sein. Ruht euch aus, Farrak." Er rief seine eigenen Diener herbei und befahl ihnen, für Farrak zu sorgen. Der Magier wehrte sich nicht. Es dauerte nicht lange, bis er in einen tiefen, ermatteten Schlaf fiel. Die Seeleute übernahmen wieder die Kontrolle über das Schiff. Sie kreuzten auf dem Meer, ohne zu wissen, wohin es nun gehen sollte. Jede mögliche Richtung sah gleich aus. Es gab kein Ziel hier draußen.
T
ibra hatte Insannas Leib selbst in Tücher gehüllt. Aber er scheute sich noch, ihn dem Meer zu übergeben. Sie lag nahe des Bugs auf den Planken und er saß wieder einmal an ihrer Seite, seinen eigenen Gedanken nachsinnend. Harkym stand ein paar Schritte abseits. Er ließ keinen Blick von dem Vater. "Was ist, Söhnchen? Komm schon zu mir," lud ihn Tibra endlich ein und da gab es kein Zögern für den Knaben, der sich sofort sehr eng zu ihm setzte. "Hast du Mutter nicht mehr lieb, Dada?" Tibra zog ihn an sich, hielt ihn fest umschlungen. Harkym nannte Aniela nur sehr selten einmal Mutter. Er war zwei Jahre alt, als sich Tibra mit ihr vermählte. Meist nannte er sie nur beim Namen.
"Ich liebe Aniela mehr denn je, mein Junge," versprach er. “Ich wünschte, sie wäre hier und ich könnte sie spüren." "Aber du sagtest zu Insanna, daß du sie liebst. Und du hast sie geküßt." "Es war ein Abschiedskuß, Sohn. Wir waren gute Freunde. Ja, ich habe sie geliebt. Insanna hat ihr Leben für uns geopfert. Trotzdem werde ich niemals eine Frau so sehr lieben wie deine Mutter. Ich fürchte, du verstehst das nicht, hhm?" Harkym schüttelte verneinend den Kopf. Aber das war gar nicht wichtig für ihn. Es kam nur darauf an, daß der Vater nicht zu traurig wurde und er wollte ihn nicht mehr um Insanna weinen sehen. "Müssen wir jetzt sterben, Dada?" "Ich hoffe nicht. Aber wenn es sein muß, dann sind wir wenigstens zusammen. Ich bin jedenfalls sicher, daß Farrak die Kraft erspüren konnte und Nodhers Schiff in unsere Richtung fuhr. Ich weiß nur nicht, wie weit sie noch weg sind." "Selbst, wenn sie ganz nahe wären," überlegte Harkym, "jetzt, wo du die Kraft nicht mehr rufen kannst, würden sie es doch gar nicht merken." Er sprang auf, lief zur Reeling. Angestrengt beobachtete er den Horizont. Seine plötzliche Lebendigkeit wirkte ansteckend. Der Junge rechnete jeden Augenblick damit, in der Ferne ein Segel zu sehen. Bald schauten sie alle über das Meer, in sich den Keim einer Hoffnung tragend. Stunden später erhob sich plötzlich ein Rufen und Schreien. Aufgeregt fuchtelten die Menschen mit den Armen, winkten in die Ferne. Thyrian zog Tibra beiseite.
"Da war zweifellos ein Segel. Aber ich fürchte, sie haben uns nicht gesehen," erklärte er. "Dann müssen wir sie auf uns aufmerksam machen. Es ist ohnehin unsere letzte Chance." "Was hast du vor?" "Das einzige, was ich wirklich kann." Tibra lächelte mit einem Mal fast erheitert. "Feuer, Thyrian. Ein hohes, loderndes Feuer wird bis über den Horizont hin sichtbar sein. Also laß die beiden Beiboote zu Wasser." "Die würden nicht reichen. Außerdem wäre das Schiff zu schnell verbrannt." "Das ist kein Schiff mehr, sondern ein Wrack," widersprach Tibra. "Diskutiere nicht lange, Freund. Jetzt zählt die Zeit." Laut gab er dann Anweisung, den Hauptmast über Bord zu werfen und auch sonst alles, woran sich ein Schwimmer klammern konnte. Er wirkte so stark, so selbstsicher und so zuversichtlich, daß noch nicht einmal Besorgnis, geschweige denn Panik aufkam. Thyrian atmete tief durch. Das gefiel ihm nicht. Aber in einem hatte Tibra zweifellos recht: sie würden keine weitere Chance auf Rettung erhalten. Ihr Segler mußte bald sinken, davon abgesehen besaßen sie fast kein Trinkwasser mehr. Und auf ein Rettungsschiff konnte man nicht hoffen. Das Segel, das die andern entdeckten, mußte Nodher gehören. Und dies war das einzige Schiff, das nach ihnen suchte. So übernahm Thyrian die Führung, ergänzte Tibras Anweisungen und schaffte mit Hilfe von Sasaran die Menschen von Bord. "Ich werde bei dir bleiben," versprach Harkym.
"Das wirst du nicht," lehnte Tibra aber ab. "Jetzt brauchen dich die Leute. Du hast ihnen Mut gegeben. Du hast sie angeregt, den Horizont abzusuchen. Ohne dich hätte niemand ein Segel gesehen. Und jetzt wirst du ihnen die Kraft geben, notfalls zu schwimmen." "Aber..." "Kein aber, Söhnchen. Mach dir um mich keine Sorgen. Hey, ich habe noch viel vor im Leben. Du weißt doch, daß Magie meist ohnehin keine Zeugen duldet." "Du paßt auf dich auf?" "Versprochen." Er umarmte den Sohn kurz, doch sehr innig. Dann schickte er auch ihn von Bord. Tibra blieb allein zurück. Er wartete etwas, bis sich die Boote, das Holz und die Schwimmer ein Stück entfernten. Mit dem Element des Feuers war er seit vielen Jahren vertraut. Hierin brachte er es zur Meisterschaft. Kostete es ihn Mühe, Sturm zu rufen und zu halten, so bedeutete ein Feuergeist für ihn fast schon ein vertrautes Sein. Er entlockte seinen Handflächen kleine, bläuliche Flammen, die er fast sanft auf das Holz bettete. Er wußte, daß das nicht genügte. Damit konnte er das Schiff verbrennen, aber niemals bis über den Horizont hinaus leuchten. Tibra intonierte alte Formeln, rief einen mächtigen Feuergeist herbei, zwang ihn unter seinen Willen. Er bot ihm nur den Sauerstoff der Luft als Nahrung, versprach das Holz als Belohnung. Das Feuer schwoll an, wandelte sich zur gewaltigen Flammensäule. Tibra mußte von Bord, da die Hitze unerträglich wurde. Er warf ein Stück der zersplitterten Reeling voraus, sprang hinterher. Er hielt sich an dem treibenden Holz fest, schwamm aber nicht zu den anderen, sondern blieb in der
Nähe des Wracks, wo er weiter das Feuer beeinflußte und es zu immer größerer Kraft und Ausdehnung anspornte.
E
s war Orales, der auf Nodhers Segler den fernen Schein bemerkte und der mit unglaublicher Sturheit behauptete, daß dort Tibra zu finden sei. Ariston gab Befehl, in jene Richtung zu steuern und wenig später sahen sie dann alle das Leuchten am Horizont. Trotz voll gesetzter Segel dauerte es noch sehr lange, bis sie dann in die Nähe des lohenden Wracks kamen und die Schwimmer aufnehmen konnten. Einer der Seeleute zog Harkym an Bord, ein anderer wollte ihm eine trockene Decke reichen. Doch der Junge achtete gar nicht darauf. "Großvater!" Betroffen sahen die Leute auf den Sohn des Magiers, der sich in Aristons Arme warf. Sie gehorchten den Befehlen ihres Herrschers, aber sie hatten bisher nicht bedacht, daß ihr König sich dem vermißten Jungen als verwandt bezeichnen könnte. Es dauerte noch etwas, bis auch Tibra an Bord kam. Ariston schob Harkym zu Ilkonys. Dann reichte er dem Magier beide Hände. "Ich danke den Göttern, daß sie uns zu euch geführt haben." "Ihr solltet eher Farrak danken, Gebieter." Tibras Antlitz verfinsterte sich. "Und jemandem, den ihr leider nie kennenlernen werdet. Insanna gab ihr Leben für unsere Rettung." Ariston spürte seinen Schmerz. Er drückte die Hände des Magiers etwas fester. Es gab nichts dazu zu sagen. Ilkonys ließ keine Betrübnis aufkommen. Er faßte nach Tibras Schultern, drehte ihn zu sich, umarmte ihn kurz und
zeigte deutlich und auch laut seine Freude über die Rettung des Freundes. Und doch blieb er sehr umsichtig, sorgte dafür, daß die Schiffsbrüchigen trockene Kleidung, Nahrung und Ruhestätten erhielten. Er ließ die Segel einholen. Das Schiff trieb auf dem Wasser. Über alles, was nun kommen sollte, konnte man seiner Meinung nach später nachdenken. Harkym schlief nicht lange. Er erholte sich ausnehmend schnell von all den Strapazen. Bei seinem Erwachen fand er Kleidung. Sie paßte nicht, denn niemand auf dem Segler hatte ihn erwartet. Aber der Junge nahm es gelassen, kürzte mit dem Messer Hose und Hemd und stromerte dann über das Schiff. Auf ihn wirkte es unheimlich groß. Aber es gefiel ihm. Der Segler lag so ruhig auf den Wellen, als könne ihn nichts erschüttern. Harkym fühlte sich sicher, zum ersten Mal seit langem wieder.
E
rst am nächsten Tag fanden sie sich zum Gespräch in Aristons Kabine zusammen. Der Herrscher, Ilkonys, Thyrian und Tibra setzten sich zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Thyrians leise Eröffnung, daß es ihm nicht gelang, Seymas' Geist zu erreichen, erschütterte die Männer. "Ihr könnt doch sicher andere Menschen auf Amarra erreichen?" warf Ilkonys ein. "Gewiß, und nicht nur dort," bestätigte Thyrian. "Aber ihr wißt selbst, daß ein Rapport nur ein Gedankenaustausch ist und keine Möglichkeit des gegenseitigen Findens beinhaltet. Nur ein ungewöhnlich starker Geist könnte mir eine Richtung zeigen." "Oder eine ungewöhnlich starke Kraft," murmelte Tibra. "Ich wäre für den Moment schon froh, wenn wir einen Anhaltspunkt hätten, wo wir uns überhaupt befinden."
"Auf alle Fälle können wir nicht lange suchen." Ariston sah die praktische Seite. "Unsere Vorräte reichen noch einige Tage, auch das Wasser. Aber wir können nicht endlos segeln. Der Than will keinen Kontakt zu euch, Pala. Aber er kann Nodher kaum verloren geben. Also muß er erfahren, wer hier ist." "Das sollte er nicht wissen?" zweifelte Tibra. "Da er sich mir nicht öffnet und bisher weder Gerrys noch Nymardos empfing, ist dies durchaus wahrscheinlich," gab Thyrian zu. "Nymardos." Tibra murmelte den Namen des Freundes sehr nachdenklich. "Du willst einen starken Geist, Thyrian. Nach Seymas und dir gilt er doch als der Stärkste. Hast du versucht, ihn zu erreichen?" "Wir stehen nicht in Rapport und sind uns nicht nahe genug, als daß es ohne den möglich wäre." "Das zählt nicht." Tibra reagierte fast unwillig. "Nymardos und Gerrys sind eins, ob dir das gefällt oder nicht. Wenn er es will, kannst du ihn finden. Da bin ich sehr sicher, Freund. Hey, wir leben noch und das entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Also geben wir jetzt auch nicht auf." Harkym wußte nichts von diesem Gespräch und den Worten dabei. Er stand an der Reeling und sah fasziniert den großen Fischen zu, die aus dem Wasser schnellten. Für ihn waren sie eine Verheißung auf Leben und Sicherheit. Und auch Insanna hatte ihm versprochen, daß er wieder nach Hause kam. Sie sagte ja, die Götter seien mit ihm. Also gab es seiner Ansicht nach keinen Grund zur Besorgnis. Er fing an, auf diesem großen Schiff die Reise zu genießen.
Gerrys atmete auf, als er erfuhr, daß sich Tibra und alle mit ihm auf Nodhers Segler in Sicherheit befanden. Er lagerte vor seinem Gasthaus neben Nymardos im Gras, wo ein Priesterschüler ihnen Früchte und Wein bereit gestellt hatte. Sie beiden hatten die letzten Tage angespannt gewartet und empfanden nun eine tiefe Erleichterung. Aber sie wußten auch, daß die Freunde da draußen verloren blieben, wenn niemand ihnen den Weg zeigte. Thyrian hatte ihnen auch die geistige Verweigerung des Than übermittelt und Tibras Ansicht, daß Nymardos diese Aufgabe übernehmen könnte. Nymardos sah zum hohen Tempelbau hinüber. "Woran denkst du?" erkundigte sich Gerrys. "Wäre dein Geist geöffnet, wüßtest du es." Nymardos lächelte. "Seymas verläßt den Tempel nicht und er redet mit niemanden. Wenn Caryll wegen wichtiger Dinge bei ihm vorspricht, verhält er sich geradezu abweisend. Er scheint durchaus gewillt, uns noch lange warten zu lassen." "Wie lange?" "Bis es keine Frage mehr ist, ob die Freunde den Rückweg finden und die Sache überleben," erwiderte Nymardos düster. "Ich muß mit ihm reden." Gerrys faßte rasch nach seiner Hand. "Tue das nicht," bat er erschrocken. "Ihr seid keine Freunde mehr und er würde dir ein Eindringen nicht verzei-
hen. Sage mir lieber, ob Tibra recht hat. Könntest du für Thyrian der Wegweiser sein?" "Vermutlich schon. Aber sie sind wohl weit draußen und eine solche Führung würde Tage dauern. Ich müßte abgeschirmt sein." "Ich schirme dich ab," versprach Gerrys rasch. "Das genügt nicht, Gerrys. Um das durchzustehen, brauche ich ein größeres Energiefeld. Ich müßte im Tempel sein." "Das wird er niemals dulden." "Genau das befürchte ich. Und deshalb muß ich mit ihm reden. Ich brauche Seymas' Erlaubnis. Verstehst du das?" Gerrys wollte nicht verstehen. Er sprach dagegen, weil er um Nymardos fürchtete. Aber irgendwann besaß er keine Argumente mehr, schwieg und ließ Nymardos gehen.
F
ür ihn war es ein seltsames Gefühl, nach all den Jahren wieder einmal diesen Tempel zu betreten, um den Schritt zu den wenigen privaten Gemächern darin zu lenken. Hier lebte und herrschte er. Doch das lag lange zurück. Seit ihn Tibra, der seine beständige Kritik an Seymas nicht mehr ertrug, vor etwa sieben Jahren aus Amarra fortwies, war er nur noch zwei Mal hier gewesen, aber auch da nicht in diesem Tempelbereich. Niemand hielt ihn auf, bis er den Schritt zu den privaten Räumen des Than lenkte. Dann aber vertraten ihm zwei Priester den Weg. "Ihr seid nicht gerufen," mahnte der eine von ihnen.
Nymardos spürte seine Unsicherheit. Er kannte diese Männer nicht. Zur Zeit seiner Herrschaft dienten sie jedenfalls noch nicht im inneren Tempelbereich. Doch sie wußten genau, wer er war. "Dann sagt ihm, daß ich ihn sprechen will," schlug er vor. Die Männer rührten sich nicht. Diese Aufforderung kam einem Ansinnen gleich. Nymardos lächelte im Gedanken daran, daß auch er sich niemals hätte so überfallen lassen. Er schob die Männer beiseite, wollte weiter. Doch sie griffen nach ihm. Es gab ein kurzes Handgemenge. Einer der Priester hieb Nymardos die Faust ins Gesicht. In diesem Moment öffnete Seymas die Tür. Die beiden Priester verneigten sich sofort, Nymardos nicht mehr beachtend. Mit ausdruckslosem Gesicht sah der Than auf den Mann, der einst als sein väterlicher Freund auf ihn achtete. Und dann ging er wortlos zurück in seinen Wohnraum. Da er die Tür nicht hinter sich schloß, folgte ihm Nymardos mit raschem Schritt. Als die verblüfften Priester ihm endlich folgten, befand er sich schon bei Seymas, vor dem er die Arme kreuzte, niederkniete und sich dann gänzlich unterwarf. Mit einer Handbewegung schickte Seymas die Priester hinaus. Er wartete, bis diese die Tür schlossen, dann setzte er sich in einen der hohen Sessel und sah auf Nymardos hinab. Der ertrug dies einige Zeit. Doch nachdem Seymas weiterhin schwieg, erhob er sich endlich auf die Knie. "Warum unterwirfst du dich?" wollte Seymas da verwundert wissen. "Ich habe das nie von dir verlangt." "Die Zeiten ändern sich," erwiderte Nymardos, vielsagend dabei sein Kinn reibend. "Die Männer tun nur ihre Pflicht," antwortete Seymas unwillig. "Ich habe dich nicht gerufen und ich will jetzt nicht
mit dir reden. Warte noch ein paar Tage." "Du öffnest dich nicht Thyrians Ruf. Wirst du es spüren, wenn er tot ist? Soll ich warten, bis du dir dessen sicher bist?" "Ja!" kam die harte Antwort. "Gerrys wird dann einen neuen Rapportbruder erhalten und ihr könnt zurück nach Nodher." "Das ist alles?" Seymas lehnte sich zurück, schloß die Augen und verweigerte jedes weitere Gespräch. Nymardos erhob sich. Er ging zur Tür. Doch er zögerte und wandte sich noch einmal um. "Willst du mir nicht sagen, was geschehen ist?" bat er leise. "Du hast Tibra Mannschaft und Schiff verweigert. Aber du mußtest wissen, daß er sich nicht fügen wird, wenn es um Harkym geht. Bist du so zornig, daß du den Tod deiner Freunde willst?" "Es ist mir lieber, wenn das Meer sie verschlingt, als daß ich sie richten muß," bestätigte Seymas, dessen Stimme leicht vibrierte. "Es gibt für dich kein Müssen," mahnte Nymardos betroffen. "Alle Macht liegt in deinen Händen. Dein Wille allein ist Gesetz." "Theorie! Mein Wille mag Gesetz sein für alle Menschen und alle Reiche. Nur nicht für meine Freunde." "Das klingt sehr bitter. Aber Freundschaft hat ihre eigenen Gesetze, Seymas." Er trat langsam hinter den Than, legte ihm nach merklichem Zögern die Hand auf die Schulter und wunderte sich ein wenig, daß der Jüngere es geschehen ließ, obgleich er sich ein wenig anspannte dabei. "Bitte
erzähle mir, was geschah." Seymas schwieg und Nymardos wartete. Schließlich sprach der Than dann doch. Er schilderte die Tage mit Tibra, sprach von ihrem Besuch beim Büßerhügel und dem Streit, den sie hatten. Dann berichtete er von Harkyms Entschluß und Verschwinden, seinen Befehlen und der Art, wie die Freunde sie ignorierten. Bei all diesen Worten hielt Nymardos die Schulter des Than etwas fester. Es war unvorstellbar für ihn, daß die Freunde bewußt und willentlich gegen einen Befehl des Than vorgingen. In den Jahren seiner Herrschaft entsann er sich keiner Situation, die auch nur ähnlich gelagert wäre. Sein Wort durfte nie hinterfragt werden; er erlaubte nicht einmal einen Zweifel. Tibra hatte ihn vor Jahren aus Amarra verbannt, weil er selbst solche Zweifel äußerte. Der Magier aber war in der ganzen Zeit, in der Seymas herrschte, von Anfang an wohl der einzige Mann gewesen, der diese Macht in ihren Auswirkungen nie hinterfragte. Allerdings bekam er sie ja auch nie zu spüren. Seymas erhöhte ihn, er grenzte ihn niemals ein. Nymardos überlegte. Er hätte Gerrys bitten sollen, Thyrian genauer zu befragen. Dann wäre er jetzt nicht auf Spekulationen angewiesen. "Als du Tibra ein Schiff verweigertest, wolltest du ihn schützen?" vergewisserte er sich mit leiser Stimme. "Ich wollte verhindern, daß genau das eintrifft, was jetzt geschieht," bestätigte Seymas. "Ich wußte, er würde grenzen- und rücksichtslos immer weiter aufs Meer hinaus drängen und alle, die mit ihm sind, in den sicheren Tod treiben. Ich gab ihm die Macht, andere in seinen Dienst zu zwingen. Das war wohl ein Fehler."
"Ein Fehler?" Nymardos legte jetzt alle Scheu und Vorsicht ab. Er setzte sich auf die breite Armlehne des Sessels, wandte sich ganz Seymas zu. "Er hat diese Macht kaum benutzt und nie mißbraucht. Was du über diesen Zorynas erzählt hast, ist übel, aber weder du noch ich kennen das Ende und wissen, was aus diesem jungen Mann wird. Und ich glaube nicht daran, daß Tibra einen einzigen Menschen durch Macht auf diese Reise zwang." "Du liebst ihn." "Ja, das tue ich. Trifft es für dich nicht mehr zu?" "Er hat mir ein paar Dinge gesagt, die mir niemand vorhalten darf. Tibra behauptete, mir sei meine Macht zu Kopf gestiegen. Und er hat versucht, mich zu schlagen." "Na ja," meinte Nymardos, nach Seymas' Hand tastend, "dann kannst du wenigstens sicher sein, daß er wirklich dein Freund ist, der in dir nur den Menschen und nicht ein bloßes Amt sieht. Er hat sich auch schon mit Ilkonys geschlagen. Du sagtest mir damals, daß sie als Freunde streiten und daß sie sich wieder aussöhnen werden oder schlimmstenfalls Vermittlung brauchen. Ist deine Freundschaft so wandelbar, daß sie dadurch enden kann?" "Das fragst ausgerechnet du?" Seymas starrte ihn an. "Wie hättest du als Than denn auf einen Angriff reagiert?" Nymardos drückte seine Hand, ehe er antwortete: "Ich hätte in diesem wie in unzähligen anderen Fällen völlig anders reagiert als du. Wir haben uns entfremdet, weil du dein Amt so ganz anders versiehst, als ich das tat. Und jetzt sollte mein Handeln für dich wichtig sein? Ich verstehe, daß du Tibra zürnst. Aber was ist mit Thyrian?"
"Er ist immerhin mit Tibra gegangen und hat sich so gegen mich gestellt. Und ganz gewiß hat ihn kein Befehl Tibras gezwungen." "Also sollen sie sterben, weil du in deinem Stolz verletzt bist." Seymas entzog ihm die Hand und schwieg. Da erhob sich Nymardos resigniert. Als er die Tür erreichte, hörte er die Stimme des Than: "Haben sie Harkym gefunden?" "Harkym ist gefunden, trotz aller Widrigkeiten und Stürme. Aber gerettet ist er damit noch nicht. Tibra hatte die Macht, den Jungen auf dem Meer zu finden, dort, wo nur noch Intuition und Eingebung leiten können. Ist es für dich so unmöglich, zu glauben, daß Thyrian mit ihm ging, weil er wußte, daß du die Kraft hast, ihnen den Rückweg zu öffnen?" "Ich kann nicht." Das kam so leise und verzweifelt, daß Nymardos förmlich den Schmerz des Jüngeren spürte. Er kniete vor ihn, aber nun nicht unterwürfig, sondern voll Zuneigung. Sacht ergriff er die Hände des Than. "Du kannst nicht?" "Ich habe eine Aufgabe, Nymardos. Du weißt wohl am Besten, wieviel Kraft nötig ist, um die Reiche auf geistiger Ebene wirklich zu einen. Diese Arbeit muß ich tun. Aber ich müßte sie unterbrechen, um meine Freunde zu retten. Ich könnte es auch nicht ertragen, auf diese Weise Zeuge ihres Sterbens zu sein. Das würde mich zu viel kosten. Ich könnte meine Aufgabe nicht mehr vollbringen." "Dann laß mich es versuchen."
"Du weißt nicht, was du da sagst," wehrte Seymas fast besorgt ab. "Selbst wenn die Verbindung gelänge, es wäre kein Gewinn. Es könnte viele Tage dauern, bis sie wieder Land sehen. Und Thyrians Geist ist so stark, daß er den deinen umklammern würde und dich nicht mehr frei gäbe, ehe er am Ziel ist. Wie willst du das so lange aushalten?" "Laß es mich versuchen, ich bitte dich." "Nein." Seymas hielt Nymardos' Hände jetzt fest umfaßt. "Ich will nicht auch noch dich verlieren. Ich habe dich immer geliebt, Nymardos." Seine hellen Augen schimmerten feucht. Er ließ es geschehen, daß sich Nymardos nun neben ihn schob und den Arm um ihn legte. Seymas empfing Wärme und Halt. Es tat gut, den väterlichen Freund so nahe zu wissen. Nach einer langen Zeit des Schweigens sprach Nymardos wieder. "Ich werde mich jetzt auf das Dach des Tempels begeben," sagte er sehr nachdrücklich. "Gerrys wird mich abschirmen und er wird Thyrian den Kontakt zu mir ermöglichen. Du darfst es nicht hindern." "Ich darf es nicht zulassen," widersprach Seymas, doch nicht zornig, sondern eher sehr betrübt. Trotzdem konnte kein Zweifel daran bestehen, daß er seinen Willen durchzusetzen gewdachte. Nymardos zögerte kurz. "Ariston und Ilkonys haben Gerrys und mich nach Amarra geleitet," entdeckte er dann. "Als sie erfuhren, was Tibra tut, haben sie Kurs aufs Meer genommen. Der Magier Farrak ist bei ihnen und irgendwie haben er und Tibra es geschafft, daß sie zueinander fanden. Dein Segler, auf dem Thyrian und Tibra waren, wäre gesunken. Ein Sturm hat ihn völlig zerstört. Aber Nodhers Schiff ist groß und schwer. Es ist nicht so schnell wie Amarras Schiffe, doch auf langen Fahrten
viel sicherer. Wenn du auch nicht Thyrian und Tibra retten willst, so mußt du doch Nodhers Herren helfen, denn auch das gehört zu deinem Amt." Seymas verkrampfte sich bei dieser Nachricht. Das Nordreich durfte nicht ohne Führung bleiben und wenn er weiterhin jedes Handeln untersagte, dann würde genau dies geschehen. Zwar zeugte Ilkonys seinen Erben auf Amarra, doch war dies noch ein Kind und keineswegs befähigt, das Reich zu führen. Es war zwar unverantwortlich, daß sich Ariston und Ilkonys gemeinsam in Gefahr begaben, doch jetzt nicht mehr zu ändern. Jetzt mußte ein Weg der Rettung gefunden werden. Er sagte nichts mehr, doch die Art, wie er Nymardos nun umarmte, zeigte mehr als alle Worte, wie sehr er um ihn fürchtete und wie sehr ihm die ganze Aktion mißfiel.
T
hyrian war doch etwas überrascht, als er durch Gerrys erfuhr, daß Nymardos den Kontakt mit dem Einverständnis des Than halten wollte. Er gab seine Anweisungen. Ariston versprach, daß er durchgehend auf priesterliche Weise abgeschirmt werde; eine Arbeit, die er sich gern mit Ilkonys, Jiddan und Wana teilen wollte. Orales war sie nicht mehr zuzutrauen, da man nie wußte, wie lange er geistig im Jetzt und Hier weilte. Thyrian begab sich in die ihm zugewiesene Kabine. Zum Erstaunen der Herrscher befahl er, daß außer dem abschirmenden Priester nur Tibra Zutritt habe. Er lächelte dem Freund zu, wohl wissend, daß Tibra wußte, wie er sich zu verhalten hatte, obgleich er kein Priester war. Thyrian setzte sich auf das Lager, lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und nickte den Menschen zu. Außer Ariston und Tibra gingen alle hinaus. Thyrian wandte sich an den Magier. "Wenn ich mich mit Nymardos' Geist verbinde, bin ich deiner Welt entrückt. Es gibt keine Möglichkeit der Verstän-
digung zwischen uns. Ich werde ihn orten und damit eine Richtung wissen, aber ich kann sie dir nicht nennen." "Erwartest du, daß ich sie erspüre?" forschte Tibra mißtrauisch. "In etwa genau das." Thyrian wirkte sehr gefaßt. "Mein Augen werden geschlossen sein, aber unter den Lidern blicke ich doch dorthin, wo Amarra liegt. Dir darf also meine kleinste Regung nicht entgehen. Schaffst du das?" Tibra nickte nur. Er vermochte, sehr genau zu beobachten und konnte sich stets auf sein Gefühl verlassen. Die Kombination dieser beiden Gaben würde ihm jetzt sicher helfen.
V
on nun an ging es relativ still zu auf dem Segler. Thyrian brauchte keine absolute Ruhe in einer geistigen Verbindung, aber Ariston achtete doch darauf, daß er vor zu großem Lärm verschont blieb. Tibra beobachtete Thyrian von der Tür aus, gab dann durch Handzeichen eine Richtung an, die der Steuermann einschlug. Harkym erfreute sich an der Fahrt und wenn er die springenden Fische sah, dann lachte er hell auf. Als Farrak an Deck kam, begrüßte er ihn artig. "Vater bedauert, daß er noch nicht mit euch sprechen konnte," versicherte er. Farrak winkte ab. "Ich hatte einen langen Schlaf nötig," grinste er. "Es sieht so aus, als hättest du die Strapazen der letzten Tage schon verwunden." "Nicht alle," gab der Junge zu, doch er lächelte dabei. "Ich bin froh, wenn ich wieder eine Wiese sehe oder wenigstens Vögel."
"Wir sind wohl auf dem Weg," stellte Farrak mit Erleichterung fest. "So ganz machtlos scheinen die Priester doch nicht zu sein. Komm, laß uns ein wenig plaudern." Wana und Jiddan befanden sich in der Nähe. Mit Erstaunen sahen sie, wie Farrak sich dem Knaben öffnete, mit ihm redete, auch lachte und wie der an sich so finster wirkende Mann mit einem Male sehr umgänglich und freundlich wirkte. Später erzählte Farrak dem Knaben sogar von Vesna und deren Schicksal. Doch Harkym ließ keinen besorgten Gedanken aufkommen. Die Mutter würde bestimmt dafür sorgen, daß Vesna sich sehr wohl fühlte. Der Junge lachte leise auf. "Ich glaube sogar, daß selbst unser Herrscher in Magie nichts mehr Übles sieht," behauptete er. "Wartet noch ein wenig, Farrak. Dann wird Nodher das erste Reich sein, in dem Magie sogar unter den Schutz des Gesetzes gestellt wird." Er zwinkerte Farrak fröhlich zu. "Zumindest die Magie, die niemandem schadet," schränkte er dann ein. "Und wer sollte das beurteilen?" Farrak blieb heiter. "Habe ich nicht gehört, daß du selbst diesen Weg gehen willst? Wirst du dann irgendwelchen Gesetzen erlauben, dein Handeln zu werten? Wenn du das tust, wirst du kein starker Magier sein." "Aber man muß die Gesetze doch einhalten." "Wenn sie gut sind, ist es leicht, sie anzuerkennen. Sind sie es nicht, muß man ihnen dann dienen? Denke dir ein Gesetz, das befiehlt, alle Magier oder meinetwegen auch alle Priester zu töten. Meinst du immer noch, alle Gesetze sind gut, nur, weil sie Gesetze sind?" "Das nicht. Aber wenn jeder selbst entscheiden soll, ob ein Gesetz gut ist, dann gibt es bestimmt ganz viele
verschiedene Meinungen. Und jeder macht, was er will. Das wäre auch nicht richtig." "Ich widerspreche dir nicht. Trotzdem mußt du für dein eigenes Leben selbst die Verantwortung übernehmen, Junge. Keine Gesetze und keine Mächtigen können dir das abnehmen." "Verantwortung übernehmen," wurde mit einem Mal sehr still.
murmelte Harkym und
"Hast du ein Problem damit?" forschte Farrak fast besorgt. Der Junge sah übers Meer. Die ewig gleichen Wellenbilder wirkten ermüdend und entmutigend. "Bis jetzt hat das immer mein Vater für mich getan," erwiderte er leise. "Daß alle hier sind, das ist doch meine Schuld. Und auch, daß Clandyl und Insanna sterben mußten. Und der schöne weiße Segler ist verbrannt. Alles wegen mir, Farrak." "Nein, Junge, das alles geschah aus Liebe und hat nichts mit Verantwortung zu tun. Dein Vater und alle Leute, die hier sind, die haben freiwillig gehandelt." "Glaub ich nicht. Die Seeleute gehorchen einfach nur ihrem König." "Die hast du auch nicht gemeint," bemerkte Farrak lächelnd. "Stimmt." Harkym war schon wieder heiter. "Außerdem bin ich froh darüber, daß Vater auf mich achtet. Ich würde gar nicht alles allein wissen und entscheiden wollen."
Die sechsstöckigen Tempel waren die höchsten Bauwerke in den Reichen, doch der Haupttempel Amarras zeigte sich gewaltiger als andere. Das Flachdach wurde von einer niederen, kaum hüfthohen Brüstung umgeben. Hier oben wehte stets ein frischer Wind und es roch immer ein wenig nach der salzigen Weite des Meeres. Und doch gab es keinen schöneren Ausblick über Amarra, als von dieser Stelle aus. Selten nur kamen Menschen auf das Dach. Nun aber stand ein Priester etwas weiter unten im Säulengang, um niemanden aufs Dach zu lassen. Oben befanden sich nur Nymardos und Gerrys. Nymardos hatte über Gerrys Kontakt zu Thyrian gefunden. Das war schon zwei Tage her. Seit dieser Zeit saß er auf dem Boden, regte sich nicht und leistete eine große geistige Arbeit. Gerrys verharrte bei ihm, seinen Geist vor unliebsamen Störern abschirmend. Der Falla bemerkte das Nahen seines Herrn nicht einmal. Seymas mußte erst seinen Geist berühren, ehe Gerrys sich nach ihm umwandte, um ihm den schuldigen Respekt zu zollen. "Begib dich zur Ruhe," befahl der Than. Gerrys zögerte merklich. Da versprach er: "Ich wache über Nymardos." Auf den Falla wirkte er sehr fremd, unpersönlich und geradezu abweisend. So gehorchte er stumm. Das innere Widerstreben spürte er allerdings nicht lange, denn sobald er sein Lager erreichteund sich darauf niederließ, schlief er auch schon ein. Seymas blieb auf dem Dach. Er schirmte Nymardos nicht nur ab, er vermochte es vielmehr auch, den väterlichen Freund zu stärken. Der Versuchung, sich dann in die Verbindung zu Thyrian einzuschalten, widerstand er allerdings, obgleich er sie mehrfach in Erwägung zog.
Es war spät in der Nacht, als ein Priester den Falla weckte. Gerrys erschrak. So lange wollte er nicht ruhen. Er beeilte sich, aß schnell ein paar Bissen und hastete dann den gewundenen Säulengang des Tempels hinauf. Im fünften Stockwerk lag Raakis Halle. Das breite Tor zeigte sich weit geöffnet. Die rituelle Stunde des dunklen Gottes nahte. Eine Priesterin bedeutete Gerrys durch eine Handbewegung, daß er die Halle betreten solle. Der Falla wandte den Kopf. Die Halle zeigte sich schon gut gefüllt. In ihrer Mitte blieb ein Bereich in Form eines Fünfsternes frei, geformt aus in den Boden eingelassenen Granatsteinen. Am Rand dieses Zeichens stand Seymas. Der Than wollte das Ritual also selbst leiten und wartete jetzt nur noch, bis die zugelassene Priesterschaft vollzählig versammelt war. Gerrys zögerte. Nymardos hatte seinen Geist völlig an Thyrian ausgeliefert. Wurde er jetzt nicht vollkommen abgeschirmt, so konnte ihn schon ein verirrter destruktiver Gedanke unter Umständen aus seinem Körper reißen und somit töten. Innerlich schalt er sich einen Narren, weil er den Freund allein ließ und schlief, während der sein Leben wagte. Da war ein junger Priester, Bayran, gerade mal siebzehn Jahre alt. Er besaß die zweite Weihe. Zu dieser Stunde war er sehr aufgeregt, denn zum ersten Mal wurde er zum Ritual des dunklen Gottes zugelassen. Er sah seinen Herrn, der keinen Blick von Raakis Falla ließ und er sah Gerrys, der noch immer zögernd vor der Halle stand. Bayran fühlte die aufkeimende Spannung wie eine Bedrohung. Er ertrug sie nicht. Nur deshalb verließ er seinen Platz im Hallenrund, ging zu Gerrys und faßte zaghaft nach dessen Oberarm. Der fast ängstliche Blick des Jünglings brachte Gerrys zur Besinnung. Nachdem also auch er die Halle betrat, wurde das Tor geschlossen. Der Priester neben ihm flüsterte:
"Starke Brüder bewahren den Geist Nymardos'." Der Mann schwieg sofort, da ihn ein tadelnder Blick des Than traf. Er senkte schuldbewußt den Kopf, aber Gerrys atmete insgeheim auf und stimmte sich nun selbst auf das kommende Ritual ein. Seymas leitete die Stunde, in der er die Kraft des dunklen Gottes greifbar in die Halle rief. Die Flammenden Kristalle, welche über den Granaten in der Decke eingelassen waren, leuchteten machtvoll auf. Gerrys, dem Raaki und dessen Kraft wohl vertraut war, wurde mitgerissen. Er erlebte dieses Ritual als eines der Stärksten, dem er je beiwohnte. Als es ausklang, empfand er tiefe Beschämung, da er seine Sorge um Nymardos über den Ruf zum Ritual stellte. Die Menschen waren entlassen und verließen ruhig die Halle. Gerrys wollte nach oben, doch da standen ihm zwei Priester im Weg, die jeden Durchgang verwehrten. So wartete er. Seymas kam noch nicht. Er hatte Bayran mit einem Wink zu sich gerufen. Nachdem der Jüngling sich unterwarf und wieder erhob, musterte er ihn kurz. "Tapfer gehandelt, Sohn," lobte er. Eigentlich wollte er noch einen Tadel anfügen, da es dem Burschen nicht zustand, einen Falla zu bedrängen. Dann aber dachte er an Tibras Vorwürfe und schwieg. Bayran verließ die Halle, warf dem Than jedoch zuvor noch einen strahlend-glücklichen Blick zu. Und Seymas wurde wieder neu bewußt, daß ein Lob aus seinem Mund für die Menschen Amarras unendlich viel bedeutete. Als er dann als Letzter die Halle verließ, traten die beiden Priester auf dem Gang nach oben nach einer tiefen Verneigung zurück. Seymas stand dicht bei Gerrys.
"Wenn du je wieder zögerst, meine Wünsche zu befolgen," erklärte Seymas mit kalter Stimme, "schützt dich auch Nymardos' Liebe nicht mehr vor meinem Zorn." Er wartete keine Antwort ab, sondern ging mit großen Schritten den Säulengang hinunter. Die beiden wartenden Priester aber ließen Gerrys nun vorbei, so daß er wieder aufs Tempeldach gelangen konnte, um den Geist des Freundes nun selbst abzuschirmen.
J
iddan stand an der Reeling. Er hatte den Arm um Wanas Seite gelegt und freute sich still, weil sie in vertrauter Geste den Kopf gegen seine Schulter lehnte. Und dann sah er es. "Land!" Er rief es laut und sorgte damit für eine gewaltige, lärmende Aufregung auf dem Schiff. Ilkonys hatte Mühe, wieder für Ruhe zu sorgen. Nodhers Erbe gab Befehl, sich noch etwas weiter der auftauchenden Küste zu nahen und dann die Segel zu reffen, um zu ankern. Bald umkreisten einige Seevögel das Schiff. Harkyms Augen leuchteten auf. Und dann lief er in Thyrians Kabine und warf sich dem Vater stumm, aber sehr glücklich in die Arme. Aristons Werk war noch nicht getan. Er schirmte weiter Thyrians Geist ab, der ja nicht wissen konnte, daß sie ein Ziel erreichten. Doch Tibras Bemühen wurde überflüssig. Er konnte sich endlich entfernen und etwas Ruhe suchen. Harkym blieb bei ihm, bis er einschlief.
A
ls Seymas wieder aufs Tempeldach kam, schickte er Gerrys mit einer Handbewegung nach unten und der Falla gehorchte dieses Mal ohne Zögern. Der Than tastete sorgsam nach dem Geist Nymardos', der sich nicht mehr in einer nur freiwilligen Verbindung befand, sondern fest umklammert wurde. Aus eigener Kraft konnte er sich nicht von
Thyrian lösen. Seymas ging im Geist näher heran. Es gab keinen Rapport zwischen ihm und Nymardos, doch diese Brücke benötigte er auch nicht. Er kannte den Geist dieses Mannes. Mühelos fand er dessen Schwingung, umfaßte ihn und zog ihn sacht zurück ins Sein. Nymardos Blick flackerte. "Sei ohne Sorge," versicherte Seymas rasch, "du hast dein Werk getan. Nodhers Segler hat Land gesichtet." "Woher weißt du das?" forschte Nymardos mißtrauisch. "Wana hat ihre Rapportschwester informiert und diese berichtete Caryll. Du scheinst mir nicht sehr weit zu trauen," hielt ihm Seymas ohne sichtbare Gemütsbewegung vor. "Verzeih, ich wollte dich nicht kränken. Ich..." "Du brauchst zunächst nur Ruhe," stellte Seymas gelassen fest. "Meine Leute bringen dir gleich eine Erfrischung und ein klein wenig Nahrung. Danach geleiten sie dich in dein Haus. Du wirst schlafen, bis ich dich wecken lasse." Nymardos nickte nur. Er fühlte sich wie zerschlagen, gänzlich kraftlos und sehr müde. Für den Moment mußte es genug sein, die Freunde in Sicherheit zu wissen. Ein paar Priester kamen aufs Dach. Nymardos ließ sich bedienen und bemerkte kaum, wie Seymas wortlos nach unten ging.
T
hyrian hatte den Kontakt verloren. Als er die Augen öffnete, sah er sich irritiert im Raum um. Jetzt wachte Ilkonys bei ihm, der aufatmend die Abschirmung unterbrach. "Wir haben Land vor uns, Pala," versicherte Nodhers Erbe. "Wir sind alle gerettet." Er reichte Thyrian einen Becher schon erkalteten Kräutertee. "Ich ließ Anker werfen.
Bitte ruht nun ein wenig, Herr. Auch Tibra schläft. Alles, was besprochen werden muß, kann durchaus bis morgen warten." Thyrian trank in großen Zügen, ehe er fragte: "Warum dieses vorsichtige Warten?" Ilkonys lächelte unsicher. "Ich habe den Eindruck, als wenn nicht alles in Ordnung sei. Verzeiht ein offenes Wort. Doch da der Than sich euch nicht öffnete, befürchte ich Übles. Und ich habe nicht den Eindruck, als hättet ihr euch bisher eingehend mit Tibra beraten können." Thyrian erhob sich lächelnd. Es kostete ihn Mühe, nun nicht ins Schwanken zu geraten. Seine Beine wollten ihn einfach nicht tragen. Zu lange blieb er unbeweglich. So setzte er sich wieder. "Ich hätte gern die Küste gesehen," meinte er leichthin. "Aber das muß wohl warten. Ist es möglich, etwas Nahrung zu erhalten oder sind die Vorräte erschöpft?" Ilkonys rief sofort einen seiner Leute und gab entsprechende Befehle. Wenig später erhielt Thyrian das Gewünschte. "Ihr seid ein paar Tage reglos verharrt," sagte Ilkonys besorgt. "Ihr müßt ruhen, Pala." "Das fürchte ich auch," gab Thyrian fast heiter zu. "Ich danke euch. Ihr habt viel geleistet und uns ganz sicher das Leben gerettet. Auch trügt euer Eindruck nicht. Amarra liegt im Zwist mit uns und ich sollte dringend mit Tibra darüber reden. Es ist kein Mißtrauen, das mich bewegt, euch nicht näher zu berichten, denn es ist eure Pflicht, stets auf
Seiten des Than zu stehen." Er legte sich zurück auf sein Lager. "Aber seid unbesorgt: auch wir sind ihm nicht verfeindet und es war kein Versagen vor ihm, uns zu helfen. Ich bin nicht einmal sicher, ob er davon weiß." Ilkonys blieb bei ihm, bis er sich gesättigt hatte und eingeschlafen war. Danach verharrte er noch ein wenig. Thyrian duzte ihn nicht mehr, wie er es doch bisher mit ihm als seinem einstigen Chela hielt. Doch da war nichts Fremdes zwischen ihnen. Ilkonys empfing Achtung, Respekt und auch Dankbarkeit. Er lächelte im Wissen, daß auch Thyrian ihn inzwischen ganz als Herrscher verstand. Dann erst ging er hinaus, um sich mit seinem Vater zu beraten.
W
ana hatte versucht, mit Farrak ins Gespräch zu kommen, doch da er sich seltsam abweisend verhielt, zog sie sich rasch wieder zurück. Jiddans Gesellschaft war viel angenehmer. Dal brachte ihnen einen Krug Wein und wunderte sich ein wenig, weil Jiddan ihn, den Sklaven, nicht nur zur Kenntnis nahm, sondern ihm sogar wie einem freien Mann für diesen Dienst dankte. "Dieser Mann gefällt dir," stellte Farrak fest, als Dal auch ihn bediente. "Er scheint sehr freundlich zu sein, Herr. Wollt ihr, daß ich ihm ausweiche?" "Ganz im Gegenteil, Dal. Achte etwas mehr auf seine und vor allem auch Wanas Wünsche." Dal zeigte sich irritiert, doch Farrak erklärte dies nicht weiter. Der Magier aber war entschlossen, den Sklaven Wana zu geben, wenn sie bei Jiddan blieb.
A
ls Tibra erwachte, saß Harkym am Rand seines Lagers. Der Vater lächelte dem Knaben zu, zog ihn an sich. Sie schwiegen gemeinsam, beide froh darüber, einander nahe zu sein und fern jeder Gefahr. "Ich muß dir was sagen," flüsterte Harkym schließlich an Tibras Ohr. "Das klingt nach einem Geheimnis," spöttelte der Vater. Harkym kuschelte sich näher an ihn. "Ein Geheimnis ist es eigentlich nicht, Dada. Aber ich möchte das auch nicht allen Leuten erklären müssen." "Na, was ist es denn?" "Bransyl hat gesagt, ich finde auf jedem Weg Erfüllung. Das denke ich auch, Dada. Ich glaube, es ist egal, wie ich lebe, ich werde dabei immer meinen Weg gehen. Aber... aber ich denke auch, daß es nicht egal ist, wie ich sterbe. Als ich allein war und nicht mehr glaubte, daß mich jemand finden wird - ich hatte solche Angst." Tibra hielt ihn fester, schwieg aber. "Ich dachte, daß ich sterben muß und ich habe mich davor gefürchtet." "Sterben ist keine einfache Sache, Sohn." "Insanna hat sich nicht gefürchtet, Dada. Sie sagte, da sei so viel Licht. Bist du sehr traurig, wenn ich dieses Licht suchen will?" Tibra küßte zärtlich seine Stirn, ehe er antwortete: "Du hast in letzter Zeit viel durchgemacht, Harkym. Das ist schwer zu tragen und einiges davon wird dich noch lange beschäftigen. Ganz sicher auch diese Fragen. Wie immer du entscheidest, es wird richtig sein, wenn du dir
deines Weges sicher bist. Traurig wäre ich nur, wenn du dich irgendwem verpflichtet fühlst und deshalb dessen Weg wolltest. Du kannst meinen Weg nicht gehen und du kannst Insannas Weg nicht gehen. Es ist dein Leben und darum muß es auch dein eigener Weg sein." "Ich glaube, daß es richtig ist, das Licht zu suchen," beharrte Harkym, wenn auch mit unsicherer Stimme. "Du sagst es doch noch keinem, nicht wahr?" "Nicht einmal Thyrian?" "Na ja, ihm vielleicht schon. Aber sonst niemand, ja?" Tibra versprach es lächelnd. Er hielt es durchaus für möglich, daß der Sohn sich noch mehrmals anders entscheiden würde. Andererseits wirkte Harkym auch sehr gefaßt und besaß ohnehin ein mehr ernstes Wesen. Er spielte nicht mit seiner Zukunft. Doch auch Tibra war überzeugt, daß der Junge seinen Weg gehen würde und letztlich war es gleichgültig, welchen Weg er erwählte. Sie aßen zusammen. Das Schiff ankerte noch. Endlich gab es Zeit genug, um miteinander zu reden. Harkym schilderte sehr ausführlich seine Gefühle und Ängste während der Einsamkeit. Für ihn bedeutete diese Stunde ein sehnlichst erhofftes Aufarbeiten des Erlebens. Später suchte Tibra Thyrians Kabine auf. Der Freund schlief noch. Leise schloß der Magier die Tür. Er wartete. Es dauerte auch nicht lange, bis der Schläfer seine Gegenwart spürte. Thyrian unterdrückte ein Gähnen. "Ariston ließ eine Tunika von Orales für dich anpassen," meinte Tibra grinsend, während er dem Freund das Gewand zuwarf. "Er dachte wohl, der Pala des Than sollte keine gewöhnliche Kleidung tragen."
Thyrian musterte Tibras feste Reisekleidung. "Es ist vielleicht ganz gut, wenn der Herrscher in dir jetzt nur den Pecha sieht." "Ich glaube kaum, daß er mich kränken wollte," behauptete Tibra gelassen. "Der Segler ankert übrigens noch." "Kennst du die Küste?" "Ich vermute es. Wir sind weit oberhalb der Gastinseln; eine gute Tagesreise vom Haupthafen entfernt. Warum fragst du?" "Weil ich noch keine Gelegenheit hatte, an Deck zu gehen," gab Thyrian zu, während er sich nun ankleidete. "Und weil ich überlege, ob es nicht klüger wäre, wenn nur ich an Land ginge, du aber mit Nodher nach Hause fährst." "Du nimmst an, daß Seymas so wütend ist, daß er mir schaden wird?" "Er ist wütend. Auf uns beide. Nur daß er mir nicht wirklich schaden kann, Tibra. Er braucht mich und sei es auch nur, um für ihn Amarra zu verwalten." "Das könnte sicher mancher andere auch." "Aber nicht so gut wie ich," behauptete Thyrian lächelnd. "Seymas ist, auch in dieser Sache, nicht anspruchslos. Außerdem kann ich nicht so einfach wie du verschwinden, weil noch einige andere Leute bei uns sind, die ganz sicher zurück nach Amarra wollen. Ich hoffe, ich kann sie beschützen." "Beschützen?" Tibra wurde leicht ärgerlich. "Sie haben nichts getan, was er ihnen vorwerfen kann. Ich hätte ihre Hilfe nicht dulden dürfen. Nun gut, ich habe ihn um seinen
Segler gebracht. Er kann den Verlust verschmerzen." "Er kann dir auch den Verlust eines Lebenden Kristalles anlasten," mahnte Thyrian nicht ohne Sorge. "Und den Angriff auf ihn wird er dir auch noch verübeln. Nimm es nicht zu leicht, Freund. Es wäre wirklich klüger, Nodhers Herren zu bitten, sofort die Heimreise zu beginnen." "Du hast es damit ja sehr eilig," wunderte sich Tibra. Er verstand bald, weshalb dies so war. Thyrian hatte sich eben den Bart geschabt, als er Tibra ein Zeichen gab, das bat, still zu sein. Er spürte den dringenden Rapportruf, dem er sich öffnete. "Wo seid ihr?" wollte Gerrys wissen. "Irgendwo an Amarras Küste; oberhalb der Gastinseln und weit vom Haupthafen entfernt. Tibra und Harkym sind wohlauf. Mußt du fragen?" "Ich habe Weisung dazu wie auch den Befehl, Nodhers Herren aufzufordern, sofort zum Tempel zu kommen. Unser Gebieter erwartet den Segler." "Der Strecke ist heute nicht mehr zu überwinden. Wir werden morgen da sein. Ist Nymardos in Ordnung?" "Er ist noch etwas erschöpft, doch unversehrt. Ich habe keine Erlaubnis, mehr zu berichten." Thyrian dankte, beendete den Rapport und berichtete Tibra. Damit war jede Diskussion überflüssig, wie sie sich weiterhin verhalten wollten. Ariston und Ilkonys waren gerufen. Ihr Ziel konnte also nur noch der Haupthafen Amarras sein. Während der Fahrt berichteten sie Nodhers Herren dann wenigstens so weit, daß diese verstehen konnten, weshalb
die Ankunft vermutlich nicht sehr erfreulich ausfiel. Sie sprachen nicht über die harten Worte, nicht über Tibras Hieb, wohl aber über das Verbot, ein Schiff zu nehmen und eine Mannschaft zu rekrutieren. Besorgt sahen Ariston und Ilkonys zu Tibra. Auch wenn Thyrian das Zerwürfnis nur andeutete, so ahnten sie doch eine mögliche Gefahr.
A
marras Hafen kam in Sicht. Jene, die mit Tibra gingen, hatten von der Besatzung neue Kleidung erhalten. Doch da sie alle Priester waren, fühlten sie sich jetzt nicht sonderlich wohl. Tibra grinste unwillkürlich, weil sie ihn an eine Gruppe Wegelagerer erinnerten. Thyrian zeigte sich weniger heiter. Ariston, Ilkonys, Jiddan und Orales trugen die ihnen zustehenden priesterlichen Gewänder. Orales selbst stand an der Reeling und bewunderte die wechselnde Küstenlandschaft. Er schien sehr viel Anteil an allem zu nehmen, doch seine Worte beweisen, daß sein Geist irgendwo in seiner Kindheit weilte und ihm das Jetzt unbekannt blieb. Das große Schiff ankerte. Die Segel wurden eingeholt. Danach befahl Ariston die meisten seiner Leute unter Deck. Den Männern war dies ganz recht, denn keiner von ihnen wollte unbedingt dem Than begegnen, den man ja liegend zu begrüßen hatte und der sich damit über ihren König erhob. Sie mußten nicht lange warten. Seymas und Nymardos kamen den gewundenden Pfad herab, begleitet von einigen Priestern, die ihnen mit wenig Abstand folgten. "Ob er wohl auch meine Unterwerfung erwartet?" raunte Tibra Thyrian zu. "Ich weiß es nicht. Er könnte es auch als Schuldeingeständnis werten."
"Nun ja, ich sollte mich ohnehin nicht über meinen König erheben," meinte der Magier leichthin. "Und wenn er wütend ist, wertet er sowieso nach eigenem Gutdünken." "Reize ihn nicht," bat Thyrian eindringlich. Tibra nickte versprechend, obgleich er sich nicht sicher war, dieses Wort auch einlösen zu können. Immerhin gab er sich Mühe und als Seymas an Bord kam, da unterwarf er sich genau wie alle anderen. Einzig Thyrian begnügte sich mit einer tiefen Verneigung. "Willkommen auf Amarra." Der Than sprach die formellen Grußworte und erlaubte den Menschen so, sich auf die Knie zu begeben. Orales vergaß, wer dieser Mann war. Er erhob sich, um weiter von der Reeling aus an Land zu sehen. Um ihn nicht ins Unrecht zu setzen, bedeutete Seymas allen, sich zu erheben. Danach sprach er ein paar freundliche, aber belanglose Worte mit Nodhers Herren. Sie alle spürten, daß er hier nur der Pflicht Genüge erwies, die ihm gebot, die Herrscher höher zu werten als ihre Begleitung. "Ihr werdet Gelegenheit erhalten, euch von der anstrengenden Reise zu erholen, ehe wir miteinander reden," versprach der Than noch, ehe er sich halb zur Seite wandte und Sasaran zu sich rief. Seymas sah ihn nur an und berührte dabei den weit geöffneten Geist des Priesters. Unvermittelt sah er zu Dharin. "Geh zum Tempel, Sohn," befahl er. "Man wird dir im inneren Bezirk ein Werk zuweisen." Der Priester kniete überrascht nieder. Darauf konnte er nie und nimmer hoffen. Der Than selbst nahm ihn in Dienst und zeichnete ihn dadurch aus.
Seymas sah nun zu den Freunden, die nebeneinander standen. "Geh in dein Haus, Tibra, und warte dort auf meine Weisung." Er schaute Thyrian an. "Kümmere dich um deine Arbeit." Das war alles. Es gab kein frohes Erkennen, kein freundliches Wort, sondern nur diese knappe und sehr unpersönliche Weisung. Nymardos spannte sich unwillkürlich etwas an. Diese harte Reaktion Seymas' erschreckte ihn. Der Than drehte sich zur anderen Seite und musterte Farrak. Der Magier wich seinem Blick aus. Seymas' Mundwinkel zuckten, doch er unterdrückte ein Lächeln. "Es sind wohl einige Arbeiten notwendig, ehe dieser Segler wieder ganz seetüchtig ist," meinte er gelassen. "Ein Mann wie ihr sollte nicht gezwungen sein, die Wartezeit an Bord zu verbringen. Unsere Gastinseln sind klein, doch ihr erhaltet dort ein Haus und vielerlei Möglichkeiten der Zerstreuung." Fast trotzig schob Harkym seine Hand in die des Magiers. "Euer Sklave und dieser Junge werden euch Gesellschaft leisten." Farrak nickte zustimmend. "Jiddan wird euch in dieser Zeit dienen." Der Priester fuhr herum. Ilkonys sah hastig auf. "Er ist mein Pala, Gebieter," gab er zu Bedenken. "Hier ist er nur Priester," erwiderte Seymas und jetzt lächelte er doch, wobei seine Freundlichkeit allerdings eher Farrak galt. "Geleite die Gäste zur oberen Insel," befahl er Jiddan, "und diene ihnen gut; ihnen allen. Auch Dal ist Amarras Gast." Jiddan verneigte sich ergeben. Man hatte schon einen Katamaran zum Landungssteg gebracht. Farrak, Dal und
Harkym ließen sich dorthin führen. "Mit so einem Ding wolltest du übers Meer?" erkundigte sich Farrak belustigt bei Harkym. Der Knabe lachte ein wenig. Nun, nicht mehr in der Nähe des Than, fühlten sie sich alle wohler. Farrak betrachtete das Gefährt mit größstem Mißtrauen, ehe er einstieg. Da man Katamarane in anderen Reichen nicht verwendete, blieben sie ihm bisher fremd. Aber dann stellte er fest, daß man sich damit durchaus sicher und schnell fortbewegen konnte. Jiddan hielt die Führleine. Es behagte ihm nicht, ausgerechnet Farrak dienen zu müssen. Doch gegen ein Wort des Than gab es keinen Einwand. Orales, der gar nicht begriff, daß der Than ins einer Nähe weilte, sang inzwischen ein kleines Lied vor sich hin. Seymas betrachtete ihn irritiert. "Verzeiht ihm, Gebieter," bat Ariston rasch. "Er verliert manches Mal Zeit und Ort aus dem Sinn." "Und warum ist er hier?" "Der Gedanke an Amarra gab ihm viel Klarheit. Er wünschte sich, dieses Land noch einmal zu sehen. Seine größte Sehnsucht ist es, noch einmal Antares' Ritual zu erleben." "Auch mit klarem Geist würde ich das nicht gestatten," lehnte der Than ab. "Er ist viel zu schwach, um die sechs Stockwerke im Tempel hinauf zu gehen." "Magie hat keine Probleme, Stärke zu verleihen," murmelte Tibra da vor sich hin. Seymas fuhr herum.
"Geh," verlangte er, mühsam beherrscht. Nymardos trat rasch an Tibras Seite, schob ihn förmlich von Bord. Thyrian folgte dem Freund. Mehr als Tibra spürte er den Zorn des Than, der jetzt nicht gereizt werden sollte. "Immerhin können wir gemeinsam gehen," stellte Tibra grinsend fest. "Und er hat nicht geurteilt. Also wird er in ein paar Tagen sich wohl wieder beruhigt haben." "Mir wäre ein Urteil lieber," gab Thyrian unruhig zu. "Dann wüßte ich wenigstens, woran wir sind. Es gefällt mir nicht, daß er zwar Sasarans Geist berührt, sich aber weder für dich noch für mich interessiert." Tibra horchte auf. Zweifelnd sah er Thyrian von der Seite her an. Dann schüttelte er den Kopf. "Nein, ich glaube nicht, daß das etwas mit Nymardos zu tun hat." "Deine Intuition ist immer noch erstaunlich," stellte Thyrian fest. "Du errätst meine Gedanken. Und du weißt doch sicher noch, weshalb er dich zum Freund erkor." "Darin war er sehr ehrlich," bestätigte Tibra lächelnd. "Seymas hat mich nie getäuscht. Er ließ mich wissen, daß in ihm eine Leere entstand, weil er Nymardos' Nähe verlor und daß ich diese Leere ausfüllen solle." "Ganz augenscheinlich hat er sich mit Nymardos ausgesöhnt." "Sieht so aus," gab Tibra zu. "Und ich freue mich darüber. Aber ich bezweifle, daß wir deshalb überflüssig werden. Gewiß, Nymardos' Nähe kann schon Freundschaft genug sein für jemanden wie Seymas und ganz sicher könnte er auch deine Arbeit verrichten. Immerhin hat er als Than Amarra
selbst regiert. Ich liebe Nymardos, Thyrian. Und deshalb darf ich wohl auch sagen, daß er ein miserabler Ersatz für uns beide wäre." Er lachte leise auf. Thyrian schmunzelte und wunderte sich ein wenig darüber, wie leicht es Tibra gelang, seine Bedenken etwas abzumildern.
T
hyrian suchte seine Räume auf. Er seufzte leise, als er sah, wieviel Arbeit liegen blieb, doch er begann schon, die Schriften zu ordnen und sich einen Überblick zu verschaffen. Anstehende Entscheidungen traf er dann sehr schnell. Thyrian arbeitete, doch nicht, weil Seymas es befahl, sondern weil er Amarra liebte und das Werk, das er für dieses Reich zu tun vermochte. Die Nebel sanken, als er zwei seiner Leute gerufen hatte und ihnen Anweisungen erteilte. Unvermittelt öffnete sich die Tür. Seymas trat ein, gefolgt von Nymardos. Thyrian erhob sich, seine beiden Männer knieten sofort nieder. Völlige Unterwerfung war hier nicht erforderlich. Der Than trat einen Schritt beiseite und gab so die Tür frei; Anweisung genug für die Männer, den Raum zu verlassen. Nymardos schloß hinter ihnen die Tür, verhielt sich ansonsten jedoch still und reglos. "Du kniest nicht vor mir?" sagte Seymas, nachdem er einige Zeit Thyrian nur ansah. "Nein." Thyrian lächelte, doch ohne Herzlichkeit. "Als du vor vielen Jahren erfahren hast, daß du der neue Than sein wirst, da sagtest du zu mir: Wenn wir Freunde sind, wirst du nicht knien und mich niemals deinen Herrn nennen." Seymas' Blick wandelte sich. Das war jetzt nicht mehr nur ein Anschauen, sondern ein Eindringen in Thyrians Geist, der es ohne Widerwehr geschehen ließ. Nach einiger Zeit erst löste sich der Than von ihm.
"Ab jetzt," verlangte Seymas mit unpersönlich klingender Stimme, "wirst du knien, Pala." Er nannte Thyrian noch seinen Pala, doch zum ersten Mal benutzte er das Wort nun nicht in der Betonung, die einen Freund, eine innige Liebe, ja, sogar einen Teil der eigenen Seele umschrieb. Er sprach das Wort so aus, wie es einen Verwalter, einen Vertreter im Amt, bezeichnete. Es war Thyrian nicht anzusehen, wie diese Worte auf ihn wirkten. Aber er überkreuzte die Arme vor der Brust und kniete nieder, ohne jedoch dabei das Haupt zu senken. Nymardos wirkte viel erschrockener als er und hatte sichtlich Mühe, nun weiter abwartend zu schweigen. Doch Seymas wartete auf keine Reaktion. Er verließ den Raum, nicht ohne zuvor Nymardos kurz am Arm zu berühren und ihn so aufzufordern, mit ihm zu gehen. Thyrian blieb allein zurück. Mit einem Mal empfand er Zorn. Unbeherrschtheit gehörte nicht zu seinem Wesen, doch jetzt wischte er mit einer erregten Armbewegung die Papiere vom Tisch. Er atmete tief durch, schenkte sich einen wuchtigen Achatpokal voll des süßen Weines Amarras. Thyrian trank. Und dann schleuderte er das Gefäß gegen die Wand, wo es durch die Wucht des Aufpralles in drei Stücke zerbrach und zu Boden fiel. "Hinaus!" Er rief es laut, noch ehe die nahenden Priester seinen Arbeitsraum betraten. Niemand störte ihn. Thyrian trat zum Fenster, öffnete es, sah hinaus und ordnete seine Gedanken. Es war nicht der geforderte Kniefall und auch nicht die fremde Anrede, die ihn erregten. Doch Seymas hatte seinen Geist berührt, hatte in ihm das Geschehen der vergangenen Tage gefunden und betrachtet. Und doch gab er ihm kein einziges persönliches Wort. Erst jetzt begriff Thyrian, was er bisher nicht einmal in Gedanken erwägen wollte. Als sich
Seymas dem geistigen Kontakt verweigerte, vor Tagen, als sie in seiner Hilfe ihre einzige Chance auf Rettung sehen konnten, da wollte er also wirklich ihren Tod. Die Pläne des Than wurden durch das mutige Eingreifen Nodhers gestört. Er hatte wirklich gehofft, daß weder er noch Tibra jemals wieder Land erblicken würden.
T
ibra blieb in seinem Haus. Er kleidete sich um. Nachdenklich betrachtete er seinen Umhang, ehe er ihn beiseite legte. Er wartete, ohne genau zu wissen, worauf. Nachdem Dharin anderen Dienst erhielt, gab es nun niemanden, der ihn bediente. Tibra brauchte keinen Pagen. Aber er verspürte etwas Hunger und war nicht sicher, ob er selbst zum Küchenhaus durfte. Seymas befahl ihm, hier zu verweilen. Die mühsame Beherrschung des Freundes und Thyrians Sorge blieben auch auf Tibra nicht ohne Wirkung. Er zweifelte nicht daran, sich in einer sehr kritischen Situation zu befinden. Es gab für ihn nichts zu bereuen. Harkym befand sich in Gefahr und mußte gerettet werden. Dazu war Tibra jedes Mittel recht und der Erfolg rechtfertigte ihn auch vor der Umwelt. Aber wenn ihm Seymas jede Möglichkeit eines offenen Gespräches verwehrte, konnte es keine Aussöhnung geben. Er verfiel ins Grübeln. Irgendwann kam Bakaar zu ihm. Er brachte ein Tablett mit Speise und einen Krug Wein. "Es ist nicht üblich, wenn Amarras Gäste keine Diener erhalten," meinte er leichthin. "Außerdem stand mir der Sinn nach etwas Unterhaltung." Tibra dankte. Bakaar betrachtete er nie als Diener und auch jetzt wertete er dessen Handeln als Freundesdienst. Wenig später kam Dalphan, der den Schrecken der Reise längst verwand. Auch er brachte Speise und Trank, da er annahm, Tibra sei ohne Dienst. In der nächsten Stunde
kamen sie dann fast alle, die mit auf dem Meer waren. Sie kamen einzeln, jeder brachte etwas Nahrung oder Tee oder Wein. Jeder wollte Tibra einen Gefallen erweisen. Das Haus füllte sich. Als sich dann auch Sasaran aus eben diesem Grund zu ihnen gesellte, beendete Tibra das bisherige vorsichtige Unterhalten mit dem Vorschlag, jetzt doch einfach ein Fest zu feiern. "Wir haben die feinsten Leckereien und Wein im Überfluß," stellte er vergnügt fest. "Und wir haben allen Grund, uns zu freuen." Bakaar warf ihm einen skeptischen Blick zu. "Ich bin jedem einzelnen von euch dankbar für die Hilfe, die ich erhalten habe. Und ich bin mehr als nur froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben." "Das bin ich auch," bestätigte eine Priesterin. Sie lachten. Unversehens verschwand jede Bedrückung. Sie wich einem fröhlichen Plaudern und dem Erleben der Gemeinsamkeit fernab jeder Gefahr. In den dichten Nebeln der Nacht kam auch Thyrian. Er stand einige Zeit unbemerkt in der geöffneten Tür, von wo aus er erstaunt dem fröhlichen Treiben zusah. Als die Menschen ihn bemerkten und das gefüllte Tablett sahen, das er mit sich trug, lachten sie auf. Das war keine Respektlosigkeit gegenüber dem Pala des Than, sondern das freudige Begrüßen eines Mannes, der mit ihnen die Gefahr teilte.
N
ymardos blieb in Seymas' Nähe. Er wunderte sich etwas, weil der Than an keinem Ritual derzeit teilnahm und die Menschen weitgehend mied. Er sah, wie er Caryll empfing und ein paar Dinge ihres Alltags mit ihm durchging. Und er spürte die Bedrückung Carylls, dem sein Gebieter jetzt fremd und abweisend erschien. Seymas interessierte sich kaum für das, was Caryll vortrug.
"Nachdem Thyrian wieder hier ist," verweigerte er endlich ein weiteres Arbeiten, "wirst du dich mit solchen Dingen künftig erneut an ihn wenden." Caryll sah irritiert zu Nymardos. Doch er schwieg, verneigte sich und ging hinaus. Nymardos verstand. "Du schonst Thyrian um seines Werkes willen?" murmelte er. "Amarra braucht ihn," erwiderte Seymas unwirsch. "Und du nicht?" Seymas lehnte sich mit geschlossenen Augen in seinem Sessel zurück. Die Frage kränkte ihn nicht, sie schmerzte. "Ich werde eine Möglichkeit finden, nur noch sachlich mit ihm zu verkehren," versprach er langsam. "Du bist verunsichert," stellte Nymardos fest. "Aber doch wohl nicht wegen Thyrian, oder? Was hast du in seinem Geist gefunden?" "Mehr als in Sasaran, doch in Thyrian ging ich auch tiefer. Sasaran zeigte mir, daß er nicht gezwungen wurde, das Schiff zu leiten. Er ist so oft für Tibra gesegelt, daß es für eine natürliche Sache war, es auch dieses Mal zu tun. Dharin hatte Thyrian gebeten, Tibra dienen zu dürfen. Auch er ging freiwillig an Bord. Aber er wollte nicht Tibra einen Gefallen tun, sondern eigentlich mir." "Wie meinst du das?" "Ich habe Dharin vor Jahren getadelt, weil er sich hochmütig über Tibra erhob."
"Wann?" forschte Nymardos rasch, der sich nicht vorstellen konnte, daß ein solches Verhalten nur einen Tadel und nicht Schlimmeres bewirkte. "Das war auf dem Rückweg von Sinnar," erwiderte Seymas, in der Erinnerung lächelnd. "Tibra war noch blind und ich habe seine Gesellschaft ja nur geduldet. Wir waren keine Freunde. Damals noch nicht. Dharin wollte mir mit dieser Reise wohl beweisen, daß er sich nicht mehr über andere Menschen erhebt. Deshalb nahm ich ihn jetzt in Dienst." "Dann nehme ich an, daß das Vergangene weder für Sasaran noch für Dharin unangenehme Konsequenzen haben wird," hoffte Nymardos. Seymas richtete sich etwas auf und sah Nymardos nun an. "Ich dachte wirklich, Tibra hätte die Leute aufgefordert, mit ihm zu gehen," gab er zu. "Und so war es nicht?" "Wir hatten Streit. Tibra schlug nach mir und Thyrian fing den Hieb ab." Seymas wirkte sehr nachdenklich. "Thyrian ging dann hinaus. Er hoffte, sein Verhalten brächte Tibra wenigstens so weit zur Besinnung, daß er zumindest so tat, als füge er sich. Das hat er auch erreicht. Thyrian ging noch in dieser Nacht zum Hafen. Er wußte ja, daß ich Tibra ein Schiff verweigerte. Aber ich habe Thyrian nichts befohlen und er nahm sich vor, gemeinsam mit Tibra auf einem Einhandsegler nach Harkym zu suchen." "Aber sie nahmen dein Schiff," wunderte sich Nymardos, froh darüber, daß Seymas endlich offen über alles sprach. "Thyrian sah, wie der Segler reisefertig gemacht wurde und ging an Bord, um zu sehen, was geschah. Es waren
schon einige Leute bei Sasaran. Sie wußten alle nur, was mit Harkym geschah und wollten Tibra beistehen. Verstehst du das? Sie waren alle freiwillig gekommen. Diese Männer und Frauen warteten nicht auf Tibras Bitte. Sie kamen ihm zuvor." "Und Thyrian schloß sich ihnen an?" "Er wußte, daß Tibra weit hinaus segeln würde und hoffte, durch sein Verhalten zum einen diese Menschen vor mir zu beschützen und zum anderen, einen Rückweg zu ermöglichen. Aber vor allem wollte er natürlich Tibra beistehen." "Ich sehe darin kein Versagen," gab Nymardos sehr vorsichtig zu. "Er wußte, daß ich diese Reise verbot und es ist sein Amt, für die Umsetzung meiner Wünsche zu sorgen." Seymas sagte es in sehr sachlichem Tonfall. "Mein eigener Segler ist zerstört. Ein Lebender Kristall wurde vernichtet und zwei Menschen fanden den Tod. Ich kann das nicht einfach übergehen." "Es gab Opfer?" forschte Nymardos erschrocken. "Als der Mast brach, erschlug er Clandyl. Er war Thyrians Vertrauter; einer der wenigen Männer, mit denen er über die Pflicht hinaus seine Zeit teilte." "Das muß ihn furchtbar belasten." "Soll ich ihn jetzt bedauern?" brauste Seymas da auf. "Er hat durch sein Verhalten auch solche Opfer billigend in Kauf genommen. Die Schuld liegt bei Thyrian. Es ist Wahnsinn, so weit hinaus zu segeln. Und ich muß Clandyls Tod auch Tibra anlasten, denn in der stürmischen Gefahr beschwor er einen Gegensturm und entfesselte so erst jene Kraft, die den Mast fällte."
Nymardos senkte den Blick. Seymas war erregt, doch nicht nur menschlich enttäuscht. Er dachte wie ein Herrscher, wie ein Richter. "Du hast von zwei Opfern gesprochen," forschte er dann doch weiter. "Vielleicht erinnerst du dich an Insanna," erzählte Seymas, nun wieder ganz ruhig. "Als sie das erste Mal hierher kam, warst du furchtbar zornig, weil sie die Flammenden Kristalle aus ihrem Tempel Tibra übergab und nicht mir. In den letzten Jahren fand sie immer Gelegenheit, hierher zu kommen, wenn Tibra da war. Sie wurden Freunde. Insanna ging mit auf den Segler. Als sie Harkym fanden und den Rückweg suchten, da hat sie den Geist des Lebenden Kristalles Thyrians gerufen, damit Tibra diese Kraft für Farrak als Richtung mißbrauchen konnte. Als der Kristall zerbrach, zerbrach auch ihre Rückverbindung zu ihrem Körper." "Sie war eine Erweckerin und mußte wissen, was sie tat." Nymardos war erschüttert. "Wie erträgt Tibra diesen Verlust?" "Ich habe in Thyrians Geist nicht nach Tibras Gefühlen geforscht," murrte Seymas in einem Anflug von Bitterkeit. "Und auch nicht nach denen von Thyrian selbst," verstand Nymardos. "Dich haben ausschließlich die Geschehnisse und Tatsachen interessiert. Was willst du nun tun?" "Was kann ich tun?" Seymas sprang auf. "Ich habe ihre Rückkehr nicht gewollt, weil ich mich davor fürchte, urteilen zu müssen. Was hättest du getan, Nymardos, wenn etwas derartiges vor Jahren geschehen wäre?" Nymardos ging zu ihm, legte ihm sanft den Arm um die Seite.
"Ich hätte ungeachtet aller Liebe und Freundschaft jene verurteilt, die sich gegen mich stellten," gab er zu. "Tibra fände in diesem Fall den Tod und Thyrian würde zumindest seine Weihen verlieren, um dann irgendwo in den Reichen den Rest seines Lebens in der Sehnsucht nach göttlichen Ebenen zu leben, die er nicht mehr erreichen könnte." Er zog Seymas an sich und hielt ihn in fester Umarmung. "Aber ich hätte es auch nicht erlaubt, daß ein blinder Mann, der kein Priester ist, zu mir nach Sinnar kommt und die Möglichkeit erhält, mir nahe zu sein. Ich hätte niemals einen Magier zu meinem Pala ernannt. So viele Dinge, die du getan hast, waren zu meiner Zeit und für mich unmöglich. Das hilft dir nicht weiter, nicht wahr? Wir beide sind sehr verschieden und du mußt das tun, was in dir ist." "Ich weiß aber nicht, was richtig ist," gab Seymas zu, ohne die Umarmung zu enden. "Tibra würde jetzt behaupten, daß das nicht wichtig ist. Du bist der Than, Seymas. Deine Entscheidungen darf niemand kritisieren. Sie müssen nur vor dir selbst Bestand haben können." "Das ist schwierig genug." Seymas löste sich von Nymardos. "Die Sache belastet mich," gab er zu. "Thyrian die Weihen zu sperren, das wäre für ihn eine grausame Folter und für Amarra ein schrecklicher Verlust. Er regiert das Land und er macht es besser, als ich es je könnte." Plötzlich wirkte er fast jungenhaft. "Mein Volk würde leiden, weil ich persönlich gekränkt bin und das wäre bestimmt nicht richtig. Thyrian wird also weiter für mich arbeiten, aber ich werde seine Rechte gewaltig einschränken und ihm Räume außerhalb des Tempels zuweisen. Ich denke, ich sollte mit ihm reden." Er ging schon zur Tür, wandte sich dann aber nochmals um und forderte Nymardos zur Begleitung auf. Als sie
dann in Thyrians Arbeitszimmer standen und die Verwüstung sahen, wich die Selbstsicherheit des Than. Betroffen hob Seymas die Scherben des Achatpokales auf, während Nymardos die Schriften auf den Schreibtisch zurück legte. Nachdenklich drehte Seymas das Bruchstück des polierten Steines in den Händen. "Thyrian ist wohl bei Tibra," murmelte er. Er ging mit Nymardos aus dem Tempel. Das Haus des Magiers lag nicht weit entfernt. Sie hatten erwartet, die beiden Freunde im besorgten Gespräch zu finden und standen dann in den dichten Nebeln, dem Lachen und Lärmen lauschend, das aus dem Haus drang. "Sie feiern ein Fest," stellte Nymardos voll Verwunderung fest. Besorgt sah er zu Seymas, der eben das Licht seines Lebenden Kristalles weit abdämpfte. Dieses Verhalten mußte den Than beleidigen und eine harte Reaktion herausfordern. Seymas rührte sich nicht, doch in Thyrians Geist explodierte das sichere Wissen, daß er nach draußen zu kommen habe.
T
hyrian warf Tibra einen besorgten Blick zu, ehe er das Haus verließ. Die Nachtnebel verboten jede Sicht. Er wandte sich dem Tempel zu. Nach wenigen Schritten flammte dicht vor ihm der Lebende Kristall des Than auf. Er unterwarf sich wortlos. Erst, als Seymas einen knappen, nur angedeuteten Schritt auf ihn zutrat, erhob er sich auf die Knie. "Wenn du Tibras Leben retten willst, errege nie wieder meinen Unwillen," verlangte der Than sehr leise, doch mit gefährlich scharfer Stimme.
"Sein Leben, Gebieter?" "Ihr habt alle keinen Grund zur Fröhlichkeit," fauchte Seymas. "Ich erwarte deinen unbegrenzten Dienst und nur den. Du hast keine Privilegien mehr und bist von der Teilnahme an den Ritualen vorläufig ausgeschlossen." "Was befehlt ihr noch?" Thyrians Worte klangen untertänig, doch seine Haltung bewies Abwehr. "Geh' in deine Räume. Du wirst Tibra nicht wiedersehen. Sobald Nodhers Segler seetüchtig ist, wird er mein Land auf immer verlassen. Das ist mehr, als ihr verdient habt. Doch meine Geduld ist erschöpft. Ich nehme kein weiteres Versagen mehr hin." Thyrian nickte wie ergeben. Als sich Seymas abwandte, erhob er sich und ging zum Tempel. Die Weisung war klar und deutlich. Wenn er sich nicht in allem so verhielt, wie Seymas es wollte, so würde Tibra dafür büßen. Thyrian wußte sich einer sehr subtilen Art der Sklavschaft ausgeliefert, doch er war bereit, sich in allem zu fügen, um Tibra nicht zu gefährden. Seymas rief das Licht wieder zurück. Aus dem Haus erklang immer noch das lebhafte Reden der Leute. "Soll ich das Fest beenden?" bot Nymardos voll Unruhe an. "Nein," wehrte Seymas sofort ab. "Aber bringe mir bitte Tibras Opalanhänger. Er wird wissen, was es bedeutet, wenn du ihn forderst.” Er spürte Nymardos’ Entsetzen und fügte darum an: “Wenn du willst, sende ich jemand anderes." "Du weißt, daß ich Tibra liebe. Es wird leichter für ihn, wenn ich mit ihm rede."
Seymas nickte nur. Wortlos ging er ins Dunkel. Nymardos blieb zurück. Er ging nicht in das Haus des Magiers, sondern wartete, bis das Lärmen nachließ und die Menschen das Fest beendeten. Sie gingen in ihre eigenen Häuser. Inzwischen nahte der Morgen. Tabalke, der Gott des Schweigens, rief zum Ritual. Tibra verabschiedete den letzten seiner Gäste unter der Tür. Erfreut sah er Nymardos, der ihm jedoch jeden Gruß verweigerte. So trat er einfach beiseite. Wortlos kam Nymardos in den großen Wohnraum. Er wartete, bis Tibra die Tür schloß. "Schon gut," meinte Tibra leichthin, "du mußt nicht nach Worten suchen." Er begann, das benutzte Geschirr beiseite zu stellen. "Ich habe schon auf dem Schiff gesehen, daß du mit Seymas ausgesöhnt bist. Ich freue mich darüber, Nymardos. Ich habe nur erwartet, daß Seymas etwas feinfühliger ist und nicht ausgerechnet dich dazu bestimmt, mir mein Urteil zu überbringen." "Du hast getrunken," stellte Nymardos etwas unruhig fest. Tibra lachte auf. Er hatte seine Arbeit beendet, griff nun nach zwei unbenutzen Bechern und füllte sie voll Wein. Einen davon reichte er Nymardos, ehe er sich in einen der Sessel fallen ließ. "Du meinst, ist sei nicht bei Sinnen?" Tibra grinste. "Da wirst du wohl Recht haben, Freund. Immerhin ist dies vielleicht die letzte Nacht meines Lebens und ich denke, es steht mir zu, sie mit Menschen zu verbringen, die bewiesen haben, wieviel ich ihnen bedeute. Aber nicht einmal das gönnt mir Seymas, denn sonst hätte er Thyrian in dieser Nacht nicht gerufen." "Ich habe den Auftrag, dein Opalsiegel zu fordern," wich Nymardos einer klaren Antwort auf die ungestellte Frage aus.
"Liegt da drüben." Tibra deutete nachlässig hinter sich. "Auf der Kommode findest du auch die Umhänge, die nur einem Falla zustehen." Er leerte den Becher. "Hast du auch den Auftrag, mich umzubringen?" Die Frage kam so unerwartet, daß Nymardos vor Schreck fast der Becher entglitt. Ein wenig des Weines schwappte über und ergoß sich auf sein weißes Gewand. Tibra grinste frech. "Dein Leben ist nicht in Gefahr," versprach Nymardos eindringlich. "Gut." Tibra neigte sich vor. "Und was ist mit denen, die bei mir waren?" "Seymas weiß, daß sie dir freiwillig folgten und nicht wußten, daß er dies verbot." "Und Thyrian?" Nymardos preßte die Lippen zusammen und schwieg. Was er da erlebte, mißfiel ihm, doch verstand er Seymas' Zorn und Handeln. "Uh oh, so übel ist es also? Na ja, du wirst es mir erzählen müssen, weil ich ansonsten in den Tempel gehe und Seymas selbst befrage." "Du stehst unter Arrest," warnte Nymardos rasch, was Tibra aber nur ein geringschätziges Lächeln entlockte. "Du spielst mit deinem Leben." "Ich spiele nicht," fauchte Tibra und mit einem Mal wirkte er alles andere als angetrunken. "Was ist mit Thyrian? Sag' es mir!" Nymardos zögerte noch immer. Da erhob sich Tibra, öffnete
die Tür und trat ins Freie. Nymardos folgte ihm rasch, ergriff ihn beim Oberarm und zog ihn zurück ins Haus. Und dann beantwortete er Tibras Frage mit knappen Worten, ohne jedoch etwas Wesentliches zu verschweigen. "Danke." Das war alles, was Tibra dazu sagte, ehe er in den Nebenraum ging. "Was tust du?" Tibra drehte sich in der Tür um. "Ich gehe schlafen," erwiderte er leichthin. Verblüfft sah Nymardos, wie der Magier sein Gewand abstreifte und sich auf das Lager warf. Tibra zog eine dünne Decke über den Leib. Er gähnte. Aber er lächelte, als Nymardos zu ihm kam und sich auf den Rand seines Lager setzte, ehe er nach seinen Händen griff. "Ah," spöttelte Tibra, "fällt dir wieder ein, daß wir Freunde sind? Weißt du, ich denke, deine Vorsicht ist ganz in Ordnung. Schließlich habe ich dich einmal aus Amarra verbannt, weil du alles besser wissen wolltest als Seymas." Er lachte leise auf. "Es ist schön, daß du ihn nun nicht mehr anzweifelst. Es ist egal, ob er dir zu streng oder zu nachgiebig ist. Er ist, auf seine eigene Art, immer im Recht." "Du begehrst nicht auf?" forschte Nymardos verwundert. "Nein, natürlich nicht. Es mißfällt mir nur, daß Thyrian durch mich erpreßbar wird. Andererseits rettet ihm das wahrscheinlich das Leben, denn er wird sich in allem fügen, um mich zu schonen. Geh' jetzt lieber. Du könntest ansonsten Schwierigkeiten bekommen, weil du mir zu nahe bist."
"Tibra, ich liebe dich. Und du bist auch Seymas nicht gleichgültig. Wenn ich irgendwie vermitteln kann, werde ich es tun." Der Magier richtete sich hastig auf. "Das wirst du nicht," verlangte er. "Das bißchen Zeit, das ich jährlich auf Amarra verbringe, füllt mein Leben nicht aus. Wenn ich von hier verbannt bin, ist das ein recht harmloser Verlust; zumindest für mich. Seymas verliert dabei viel mehr als ich. Du wirst nicht für mich eintreten. Versprich es mir." "Aber warum willst du das?" "Weil es Lüge wäre." Tibra grinste. "Du hättest mich an Seymas' Stelle umgebracht, wenn ich nach dir geschlagen hätte. Also ist er eigentlich sehr gnädig." "Du nimmst die Sache zu leicht," mahnte Nymardos. "Seymas ist nicht der einzige Herrscher, dessen Freundschaft mich bereichert," stellte Tibra gelassen fest. "Ich habe mich auch schon mit Ilkonys geprügelt. Es ist gut, daß du Seymas jetzt nahe bist. Vielleicht kannst du etwas für Thyrian erreichen. Das wäre mir wichtig, Nymardos." Er starrte auf seine eigenen Hände. "Viel wichtiger, als du glauben magst." Nymardos spürte seine innere Bewegung. Einem Impuls folgend zog er Tibra an sich, obwohl er genau wußte, daß der Freund körperliche Nähe nicht schätze. Der Magier ließ es auch nur kurze Zeit geschehen, ehe er sich zurück legte und demonstrativ gähnte. Da ließ ihn Nymardos allein.
S
eymas brauchte sehr wenig Schlaf. Zumindest war nichts von Müdigkeit an ihm zu spüren, als Nymardos in
dieser frühen Morgenstunde zu ihm kam, um ihm Tibras Zeichen der Macht zu bringen. "Du bist verletzt!" rief Seymas aufspringend aus. Irritiert legte Nymardos die Umhänge und das Siegel auf den Tisch. Dann erst bemerkte er selbst den Fleck auf seinem Gewand. "Verzeih mir," bat er rasch, "ich hätte mich umkleiden sollen. Das ist nur Wein. Ich war etwas unvorsichtig." Seymas atmete auf. "Hast du etwa geglaubt, Tibra würde mich angreifen?" "Er muß denken, daß du ihn von seinem Platz vertreibst," zog Seymas auch dies in Erwägung. "Bestimmt nicht." Nymardos lächelte. "Er freut sich über unsere Aussöhnung." "Du hast ihm gesagt, daß er unter Arrest steht, bis der Segler ihn nach Nodher bringt?" "Gewiß." "Wie nimmt er es auf?" Nymardos zögerte. Wenn er Seymas zu offen berichtete, mochte dieser zornig reagieren. Andererseits mußte er nicht fragen. Er könnte seinen Geist berühren und dadurch ohnehin alles wissen. Daß er es nicht tat, bewies seinen Respekt vor Tibra, den er wohl immer noch hoch achtete. Der Than hatte ja auch in Thyrian nicht nach Tibras Gefühlen geforscht; eine Tatsache, die Nymardos kaum begriff. "Tibra ist erstaunlich gelassen," gab er deshalb zu. "Er meint, daß du auf deine eigene Art immer im Recht seist und deine Entscheidungen akzeptiert werden müssen. Er
untersagt mir jeden Versuch der Vermittlung zwischen euch." "Weshalb das denn?" "Weil er weiß, daß ich ihn an deiner Stelle zum Tode verurteilt hätte. Wie sollte ich dich um eine Nachsicht bitten, die ich selbst nie gewährte?" "Das ist keine Frage der Nachsicht," behauptete Seymas, den Freund in einen Sessel drückend und ihm einen Becher mit heißem Kräutertee reichend. "Tibra hat sich mir nie öffentlich widersetzt. Er ist zu klug, um das zu versuchen. Aber er ist auch nicht so ergeben, wie es den Anschein hat. Es ist gut, wenn ich mich von ihm trenne." "Er sagt, der Verlust sei für dich viel größer als für ihn," erwiderte Nymardos ein wenig traurig. "Das ist richtig." Seymas öffnete die große, muskovitverglaste Tür, die zum hinteren Garten führte. "Er wirft mir Größenwahnsinn vor. Und doch ist er der einzige, der mich vermutlich bisher davor bewahren konnte, weil er es mir ermöglichte, für eine kurze Zeit im Jahr einfach nur ein Mensch zu sein, der keine Pflichten hat, sondern neugierig und fröhlich das Leben betrachten kann." Seymas sprach sehr sachlich und wirkte ungemein überlegt und gefaßt. "Seine Besuche haben mich immer bereichert. Der Verlust ist unbeschreiblich groß." Nymardos trat hinter ihn, hebenden Neblschwaden.
sah
gleich
ihm
zu den sich
"Ist er unumgänglich?" fragte er leise. Seymas sah ihn nicht an, als er antwortete: "Das ist er. Ich habe Tibra zum ersten Mal einen Befehl erteilt und er hat sich darüber hinweg gesetzt. Wenn er
noch einmal diese Chance bekommt, muß ich ihn töten. Und das würde mich verletzen, Nymardos. Wenn ich gezwungen werde, ihm wirklich zu schaden, kann ich mein Amt nicht mehr ausführen." "So schlimm ist es?" forschte Nymardos erschrocken. "Das ist nicht schlimm." Seymas lächelte nun doch. "Mir gefällt mein Leben. Ich mag meine Macht und meine Möglichkeiten. Die Arbeit der geistigen Einung der Reiche ist mir inzwischen sehr wichtig geworden. Aber alles andere, das Vertreten der Gesetze, die Pflicht, Recht zu sprechen und der Zwang, andere zu beherrschen, das gefällt mir nicht. Deshalb brauche ich Thyrian, weil er dieses Werk vollbringt und weil er es auch gern tut. Wenn Tibra mich zwingen würde, etwas wider ihn zu tun, was ich in meinem tiefsten Sein verabscheue, dann wäre alles, was mir gefällt, ohne Wert und ich würde meinen Platz Thyrian überlassen. Oder eben einem anderen, das wäre nicht mehr wichtig." "Du hast aber nicht versucht, ihm das zu erklären?" "Nein, aber ich bin sicher, er weiß es. Und darum fügt er sich, ob er meine Ansicht teilt oder nicht." Seymas lachte leise auf. "In all den Jahren unserer Freundschaft habe ich mir immer gewünscht, mit ihm richtig zu streiten. Ich wollte, daß er so großen Anteil an meinem Leben hat, daß er es mir auch sagt, wenn ihm etwas nicht gefällt. Thyrian und ich, wir streiten oft." "Jetzt wohl nicht mehr." Seymas verweigerte die Antwort. Es war erstaunlich, daß er fast arglos über Tibra sprach, jedoch Thyrian aus allem ausklammerte. Nymardos gab sich damit zufrieden, denn er fürchtete, er könne den Unwillen des Than erwecken, wenn er darauf bestand, auch hierüber zu reden. Sie hatten sich ausgesöhnt, es gab auch wieder so etwas wie Nähe zwischen
ihnen. Doch Nymardos wußte genau, daß eine Spur Fremdheit immer bleiben würde und daß es auch künftig eine Grenze gab, die er nicht überschreiten durfte; eine Grenze, die einzig Tibra niemals zu sehen bekam.
F
ür Wana gestaltete sich der Aufenthalt auf Amarra frei von Bedrückung. Endlich konnte sie wieder einmal viele Stunden mit ihrer Freundin Lyrna verbringen. Es erschreckte sie etwas, zu sehen, wie alt die Freundin wurde und wie gebrechlich. Die Flüchtigkeit des Lebens wurde ihr deutlich und intensiver dachte sie jetzt auch über ihre eigene Zukunft nach. Dieses Denken betraf nur sie selbst. Sie hatte keine Möglichkeit, sich mit Farrak oder auch Jiddan zu beraten, denn es wurde ihr deutlich gemacht, daß ihr Besuch auf der Gastinsel von Amarra nicht gewünscht wurde. Jiddan wünschte sich ihren Besuch. Er sehnte sich nach ihr. Diese erzwungene Trennung verdeutlichte ihm erst, wie viel ihm diese Frau bedeutete. Daß er ausgerechnet ihren Freund bedienen mußte, dem gegenüber er sich wie ein Dieb vorkam und dessen Eifersucht er fürchtete, erleichterte seine Lage nun wirklich nicht. Dabei konnte er sich nicht beschweren. Farrak nahm seinen Dienst hin, ohne ihn darin zu demütigen oder zu schikanieren. Zuerst beobachtete er den Priester voll Mißtrauen. Doch als Jiddan ihm wie auch Dal mit größter Höflichkeit begegnete, richtete er seine Aufmerksamkeit vermehrt auf die Schiften, die man ihm zum Studium zukommen ließ und deren Inhalt einen Magier zu faszinieren vermochte. Harkym befreundete sich mit Dal. Sie schwammen gemeinsam in der warmen Strömung, spielten auf der leicht ab-
schüssigen Wiese, kletterten auf die hohen Bäume und plauderten über alles, was ihnen in den Sinn kam.
T
ibra ertrug seine Gefangenschaft voll Gleichmut, zumal sie sich nicht als unangenehm erwies. Er besaß zwar keine ständige Bedienung mehr, doch zumindest einmal täglich kam ein Priesterschüler, um ihm Nahrung zu bringen und die wichtigsten Handreichungen zu tun. Die ergebene Haltung des Mannes bewies Tibra, daß sein Zerwürfnis mit Seymas nicht öffentlich bekannt wurde. Anscheinend gab es kein lautes Urteil und somit wurde ihm wohl jede öffentliche Demütigung erspart. Das war schon fast mehr, als er erhoffte. Etwas überraschend kam nach zwei Tagen Orales zu ihm. Der Mann aus Moras wußte nichts von Tibras Arrest und ging auf Tibras Versuche, ihn zum Gehen zu bewegen, nicht ein. Er fühlte sich etwas stärker, sein Geist zeigte sich wach. Es war ihm ein Bedürfnis, den Pecha von Minas zu besuchen und mit ihm zu reden. Er sprach über Arisa und die Art, wie seine Tochter starb. Da war kein Vorwurf, sondern ein letzter Versuch, das Geschehene zu verstehen und einzuordnen. Als vom Tempel her der Ruf zum Ritual ertönte, stieg Sehnsucht in Orales auf. Er sprach mit Tibra über seine Priesterschaft und vergaß völlig, daß er mit einem Magier und nicht mit seinesgleichen redete. Ehe Orales nach Nodher kam, lebte er als Falla des Lichts in Moras. Er sehnte sich wirklich danach, noch einmal die Fülle der Kraft seiner Göttin zu erfahren. Als Orales Tibras Haus betrat, wurde er von Rhyanor gesehen. Dieser Priester besaß die vierte Weihe, stand nicht unter Leitung. Seit einiger Zeit gehörte es zu seinem Aufgabenbereich, für perfekte Bedienung des Than zu sorgen. Er leistete keinen Leibdienst, aber er wählte jene aus,
welchen diese Ehre zuteil wurde. Seymas hatte ihn mit knappen Worten angewiesen, auch dafür zu sorgen, daß Tibra täglich kurz bedient wurde. Rhyanor wußte nicht, was geschah. Doch bisher galt die Regel, daß stets alles nach Tibras Wünschen geschehen müsse und da dies nicht mehr zutraf, ahnte er ein Zerwürfnis. Der Magier verließ niemals sein Haus. Also war ihm dies verboten. Rhyanor begriff, daß auch Orales' Besuch seinem Herrn nicht gefallen konnte. Er hielt es für seine Pflicht, Seymas zu unterrichten. "Ich bitte um Vergebung, wenn ich falsch handelte," schloß er. Seymas bedeutete ihm, sich zu erheben, ehe er zum Fenster trat und nachdenklich ins Freie sah. Als er Nodhers Leute im Hafen begrüßte, da sprach Ariston ja schon von Orales' Wunsch. Seine Ablehnung desselben mißfiel Tibra. Seymas dachte unwillkürlich an Zorynas. Dem Magier mißfiel in letzter Zeit so manches, das er anordnete. "Führe Orales in sein Gasthaus. Danach komme zu mir," befahl er. Rhyanor gehorchte. Es war nicht ganz einfach, Orales zum Gehen zu bewegen. Tibra mußte den Priester unterstützen, ehe er den alten Mann wirklich wegführen konnte. Bald danach kniete Rhyanor wieder vor Seymas. Der Than berührte seinen weit geöffneten Geist. Erleichtert stellte er fest, daß Tibra nichts unternahm, um Orales auf magische Art zu stärken und ihm so den Weg ins sechste Stockwerk des Tempels zu ermöglichen. Seymas entließ Rhyanor, aber er dachte weiter über die Sache nach. Sie hatten vor vielen Jahren ein Abkommen getroffen: keine Magie auf Amarra. Tibra hatte sich stets daran gehalten.
Seymas wußte ja nichts von dem magischen Licht, das Zorynar im Büßerhügel half. Er war sich fast sicher gewesen, daß all dies nicht mehr galt und Tibra Orales stärken würde mit Mitteln, die nur ihm zur Verfügung standen. Daß er es nicht tat, verwirrte Seymas etwas. Tibra war fest davon überzeugt, daß der Than falsch entschied, wenn er Orales dieses Ritual nicht gestattete. Und doch tat er nichts dagegen, obwohl sich Orales einige Stunden bei ihm aufhielt. Das besaß etwas Beruhigendes und zugleich auch sehr Gefährliches. Vorsichtige Bedenken über Tibras Verhalten wurden überflüssig; zugleich aber konnte all dies auch eine innere Abwendung bedeuten, die Seymas trotz allem nicht wollte. Gegen Abend rief er nach Thyrian, der sofort kam und sich völlig korrekt wortlos unterwarf. Seymas hob ihn nicht auf. Seine Stimme klang sehr unpersönlich, als er befahl: "Du wirst Orales aus Moras in Antares' Halle bringen. Der Weg ist weit für ihn. Ihr werdet Stunden brauchen dafür. Stärke ihn, wo es nötig ist, damit er bis zur Mitte der Nacht sein Ziel erreicht. Bleibe an seiner Seite während des Rituals und bringe ihn danach in sein Gasthaus zurück. Wenn Dunkelheit in dir ist, dann trage sie." Fast fluchtartig verließ er danach den Raum. Thyrian erhob sich langsam. Er war etwas verwirrt. Seymas revidierte eine Entscheidung. Daß er ihm Orales zuliebe erlaubte, an diesem Ritual teilzunehmen, war allerdings kein Zugeständnis. Zu deutlich ließ er ihn wissen, daß ihm nicht erlaubt wurde, um Erhellung der eigenen Dunkelheit zu bitten, was ja ein sehr persönliches Reden mit dem Leiter des Rituals bedeuten mußte. Thyrian verstand. Seymas wollte diese Stunde selbst leiten.
D
ie Nacht überschritt ihren Höhepunkt, als das Ritual des Lichtes begann. Ariston nahm seinen Platz neben Orales ein, Thyrian dabei einen dankbaren Blick zuwerfend. Er blieb auch nach dem Ritual bei seinem Freund, den er gemeinsam mit Thyrian den gewundenen Säulengang hinab begleitete. Orales' Augen leuchteten in einem geheimnisvollen Licht, während er mühsam Schritt um Schritt tat und auf die Stütze der Männer bei ihm angewiesen blieb. Das letzte Stück des Weges mußten sie ihn dann fast tragen. Als Ariston die Tür öffnete, nahm Thyrian Orales auf die Arme und trug ihn zu seinem Lager. Vorsichtig bettete er den alten Mann nieder. Als er ihm den Gürtel löste, legte Ariston seine Hand auf Thyrians Schulter. "Ich danke euch, Pala," versprach er bewegt. "Doch ich denke, in dieser Nacht sollte mein Freund das Gewand des Lichtes nicht ablegen." Thyrian richtete sich auf. Er sah den Schmerz in Aristons Augen und den Frieden auf Orales' Antlitz. Da ging er still hinaus und wachte dann Stunde um Stunde vor dem Haus, damit niemand die Freunde bei ihrem letzten Abschied störte. Es war heller Tag, als er Geräusche hörte. Da wandte er den Schritt zum Tempel und dort zu Seymas' Gemächern, den er wieder sehr unterwürfig grüßte. Zwei Priester weilten beim Than, um seinen Weisungen zu lauschen. "Ich habe dich nicht gerufen," wies Seymas Thyrian von sich. Sein Pala erhob sich ohne Erlaubnis auf die Knie und richtete fest den Blick auf ihn. "Es ist meine Pflicht, Gebieter," sagte er mit fester Stimme, "euch darüber zu informieren, daß Orales aus Moras, Falla des Lichts und Pala in Nodher zurück gekehrt ist ins
Licht." Mit einer Handbewegung schickte hinaus, ehe er sich an Thyrian wandte.
Seymas die Männer
"Das Ritual war zu anstrengend für ihn," befürchtete er. "Ihr habt ihm seinen letzten großen Wunsch erfüllt, Herr. Orales ging in Frieden, geleitet von Ariston, der bei ihm blieb, bis seine Stunde nahte. Nodhers Herrscher empfindet große Dankbarkeit." "Sein Segler ist seetüchtig. Aber es ist wohl ein schlechter Zeitpunkt, ihn jetzt zu empfangen. Er soll zwei weitere Tage der Einkehr haben. Danach will ich Nodhers Herren sehen." "Großer Empfang in der Halle?" "Natürlich." Seymas wirkte sarkastisch, wußte er doch genau, daß Thyrian nichts anderes wollte. "Das ist doch genau das, was einem großen Reich zukommt." "Es geschieht nach eurem Willen," versicherte Thyrian ergeben. "Das tut es nicht," fuhr ihn Seymas da an. "Nichts geschieht hier mehr, wie ich es will." Er schleuderte Thyrian einige Schriften entgegen, die der ihm am vorigen Tag zukommen ließ. "Früher hast du solche Entscheidungen selbst getroffen." "Es wäre anmaßend, wollte ich eure Befugnisse unterlaufen," erwiderte Thyrian ungerührt. "Als euer Pala," er betonte das Wort sehr nachdrücklich in seinem rein sachlichen Gehalt, "habe ich die Pflicht, euren Willen zu verwirklichen, Herr, aber nicht das Recht, ihm vorzugreifen." "Du kannst gehen," entschied Seymas resigniert.
Er konnte Thyrian ja nicht wirklich tadeln. Der Freund verhielt sich formvollendet und äußerst korrekt. Er arbeitete, wie es ihm zustand. Daß er nicht mehr wirklich herrschte und wichtige Entscheidungen jetzt dem Than überließ, entsprach den Sitten.
I
n den folgenden Tagen änderte Thyrian sein Verhalten nicht. Er benahm sich genau so, wie es jeder der Priester im Tempelbereich tat; ein wenig unterwürfig und ein wenig scheu im Angesicht der Macht. Er hielt sich auch ansonsten an seine Weisung, blieb den Ritualen fern und widmete alle Zeit ausschließlich der Arbeit. Nicht ein einziges Mal verließ er seine Räume mit Ausnahme der morgentlichen Stunde, in welcher er gemeinsam mit Caryll vom Than empfangen wurde, um dessen Befehle zu vernehmen. Er hielt seinen Geist weit geöffnet, denn alles andere galt in Gegenwart des Than als grobe Beleidigung. Aber Seymas berührte seinen Geist nicht. Thyrian hätte es gespürt und auch gewußt, welche Bereiche seines Leben belauscht wurden. Zum ersten Mal spürte Seymas nun den Schrecken der Einsamkeit. Thyrian lebte noch in seiner Nähe, doch innerlich schien er Welten entfernt zu sein. Tibra würde Amarra in diesen Tagen ohnehin verlassen. Es gab noch Nymardos, doch der beabsichtigte, gemeinsam mit Gerrys zurück nach Nodher zu gehen. Ein Befehl des Than würde ihn zwar hindern können, doch mußte dies dann in erneuter Entfremdung enden. Seymas kannte die meisten Menschen in seiner Umgebung und es war nicht sein Versagen, daß sie ihm fremd blieben. Seine unbegrenzte Macht trennte ihn von den Leuten, die sich in seiner Gegenwart nie gänzlich unbefangen verhielten. Er achtete nun bewußter darauf und mehr denn je erschien
es ihm unbegreiflich, daß Thyrian und auch Tibra seine Macht nie als trennend empfanden. Zumindest galt dies bisher. In diesen Tagen kostete es ihn Mühe, sein geistiges Werk zu leisten. Seymas verließ den Tempel, um ein wenig durch den parkähnlichen Garten zu gehen und sich am Blütenreichtum zu erfreuen. Doch wirkliche Freude kam nicht auf; nur das beruhigende Gefühl, in einer wundervollen Heimat zu leben. Auf dem Rückweg begegnete er Ariston und Ilkonys, die ihn, ins Gespräch versunken, erst sehr spät bemerkten und dann schon zu nahe waren, um sich ganz zu unterwerfen. Seymas hob sie auf, wobei er Ariston einen besorgten Blick zuwarf. Doch Nodhers Herrscher lächelte. Fast unmerklich tatstete der Than nach seinem Geist. Er fand keinen Schmerz. Ariston befand sich im Frieden. Orales' Tod bedeutete für ihn Verlust, doch die ruhige Art des Sterbens zugleich Gewinn. Orales hatte noch einmal Antares' ganze Kraft gespürt und ging, geborgen in dieser Kraft. Ariston empfand wirklich Dankbarkeit, weil sein Than dies ermöglichte. "Der Segler ist bereit," versprach Seymas. "Morgen werde ich euch beide verabschieden." "Ist es möglich, zuvor noch mit euch zu Gebieter?" erkundigte sich Ariston sehr überlegt.
reden,
"Ohne Zeugen?" "Wenn ihr so gnädig sein wollt, wäre ich euch dankbar." "Dann kommt mit mir," willigte Seymas ein und führte die beiden Männer in seine eigenen Räume, wo er sie zunächst bewirten ließ und erst danach alle Dienerschaft entfernte.
"Orales war mir stets ein treuer Freund," begann Ariston, dem man anmerkte, wie genau er seine Worte vorbereitet hatte. "Er kam zu mir, als ich noch kein Priester und mit Amarra verfeindet war. Er brachte mir Frieden, Gebieter. Über vierzig Jahre waren wir einander verbunden. Ich habe diesen Mann geliebt." Er warf einen liebevollen Blick auf seinen Sohn, ehe er fortfuhr: "Orales teilte meine Pflicht und Arbeit, doch nun, da er von mir ging, weiß ich, daß er mir sehr viel mehr gab, als ich je für ihn erübrigte. Er schenkte mir seine Zeit, nicht ich ihm die meine. Und ich weiß nun, wie wenig Zeit mir noch bleibt. Ich bin über siebzig Jahre alt, Gebieter. Ich will keine Pflichten mehr, sondern alle Zeit, die mir noch bleibt, jenen schenken, die ich liebe. Ich habe eine wundervolle Gemahlin, großartige Söhne und eine bemerkenswerte Tochter. Ich will mich diesen Menschen widmen und Nodher jetzt ganz in die Hände meines Erben legen." "Vater!" Ilkonys wäre fast aufgesprungen. "Warum hast du mir nichts davon gesagt." "Ich bezweifle, daß Ilkonys schon fähig ist, das Reich allein zu führen," warf Seymas skeptisch ein. "Besäße er genug Bewußtsein über das Maß der Verantwortung, hätte er nie erlaubt, Tibra aufs Meer zu folgen. Das Risiko, Nodher danach ohne Leitung zu finden, war groß." "Nicht größer als das Risiko, Minas ungeleitet zu finden," murrte Ilkonys, der diesen Vorwurf nicht billigte. "Du dachtest dabei also nur an Minas?" spöttelte Seymas. "Wir blieben abwartend in Küstennähe," stand Ariston dem Sohn bei, "bis wir erfuhren, daß der Segler, auf dem sich die Leute befanden, sinken wird. Und wir hatten eine Chance, sie zu finden." "Aber
keine
Chance, danach wieder Land zu erreichen,"
hielt ihm Seymas gelassen vor. "Nymardos gefährdete sein Leben, um Nodhers Herren zu retten. Für einen Herrscher muß die erste Pflicht sein, seinem Volk zu dienen. Persönliche Wünsche gelten da nichts." "Auch ihr seid Herrscher, Gebieter." Ilkonys sprach nicht trotzig, sondern eher verunsichert. "Auch ihr habt, gemeinsam mit Thyrian, einst Amarra verlassen, um Tibra zu helfen, als sein Sohn nach Wyla entführt wurde. Und auch dies ging nicht ohne Gefahr." Seymas warf ihm einen zornigen Blick zu, der ihn verstummen ließ. "Wir nehmen euren Vorwurf hin," lenkte Ariston da ein. "Wenn Liebe und Verantwortung nicht dasselbe wollen, geht nicht immer die Pflicht aus dem Zwiespalt als Sieger hervor. Ich gebe mein Volk gern in die Hände eines Mannes, dem Freundschaft eine Tugend ist und der Treue und Loyalität hoch wertet." "So ist dein Entschluß unumstößlich?" erkundigte sich Seymas, der hier nicht wirklich eine Entscheidungsbefugnis besaß. Dies waren Nodhers innere Angelegenheiten. Der Than konnte nur Einspruch erheben, wenn Nodhers Erbe wirklich noch nicht fähig war, zu herrschen. Aber dies war Ilkonys nicht anzulasten, zumal er zu diesem Zeitpunkt bereits ohnehin fast alle Arbeit allein verrichtete. Ariston verzichtete auf die Pflicht, auf ein Mitspracherecht und auf die Möglichkeit, bei schwerwiegenden Entscheidungen seinen Willen durchzusetzen. Letztlich ordnete er sich mit diesem Schritt dem Sohn unter, dessen Befehlen er sich dann zu fügen hatte. Es entsprach allerdings nicht den Sitten. Ein König dankte nicht einfach ab, sondern herrschte bis zu seinem Tod. Erst danach erhielt sein Erbe alle Macht. Eine solche Haltung
mußte Unruhe in die Reiche bringen. Sarais Erbe Delaros war vier Jahre älter als Ilkonys, doch er herrschte nicht wirklich, sondern wurde von seinem Vater Wharhan in allen Schritten überwacht. Khyons junger Erbe lag ohnehin in ständigem Zwist mit seinem Vater und neigte zur Rebellion. Wenn Nodhers Herr noch zu Lebzeiten abdankte, so mußten die anderen Reiche darin eine Aufforderung sehen, den Jüngeren zu früh Raum zu geben. Seymas gab dies zu bedenken, als er Ariston recht offen aufforderte, weiterhin seiner Pflicht zu leben. "Ich füge mich euren Wünschen," gab Ariston da schweren Herzens nach, "und danke für euren Rat."
I
lkonys empfand Zorn, doch er war klug genug, dies nicht vor dem Than zu zeigen. Erst später, als er mit dem Vater gemeinsam allein zu ihrem Gasthaus ging, hielt er sich nicht weiter zurück. "Man könnte meinen, du kannst es nicht erwarten, bis ich dir alle Macht übergebe," spöttelte Ariston liebevoll. "Du weißt, daß das nicht wahr ist," brauste Nodhers Erbe auf. "Ich liebe dich, Vater. Ich habe auch keine Probleme damit, dir untertan zu sein. Aber ich denke, du hast ein Recht darauf, dein Leben selbst zu bestimmen. Es geht Seymas nichts an."
"Er hat nichts befohlen," mahnte Nodhers Herrscher. "Und seine Bedenken sind nicht unbegründet. Es wäre nicht wünschenswert, wenn in Sarai und Khyon Unruhen entständen." "Verdammte Politik," fauchte Ilkonys. "Ich bin jedenfalls froh, wenn wir hier weg sind. Es ist eine Frechheit, uns Tibras Rettung vorzuwerfen. Das scheint ihm völlig egal zu sein."
"Ja," stimmte Ariston nachdenklich zu, "es ist wohl manches nicht so, wie es sein soll." Er warf einen nachdenklichen Blick in die Richtung von Tibras Haus. "Unser Freund..." "Dein Freund?" wunderte sich Ilkonys lächelnd, ihn unterbrechend. "Leider nicht," gab Ariston zu, der vor Jahren als Tibras Feind lebte und dem es nicht gelang, jegliche Ferne zwischen ihnen zu überwinden. "Es ist mehr ein Wunsch. Auf alle Fälle gefällt es mir nicht, daß Tibra sein Haus nie verläßt." "Er scheint auch keine Diener zu haben," bemerkte Ilkonys, der in den vergangenen Tagen aufmerksamer beobachtete, als es seiner Art entsprach. "Es sind immer ein paar Priester in der Gegend, die durch Gesten deutlich zeigen, daß man Tibra nicht besuchen darf. Ich wüßte zu gern, was geschehen ist." "Ich auch. Gerrys jedenfalls weiß nur, daß Tibra den Segler Amarras ohne Erlaubnis nahm. Mehr erzählt ihm Nymardos nicht." "Sie werden sich kaum wegen einem Schiff entzweien," brummte Ilkonys, der wußte, daß Amarras Reichtum alles übertraf. "Das kann für Seymas kein wirklicher Verlust sein." Sie grübelte in ihrer Sorge um Tibra und vergaßen darüber den Zorn, den Seymas' Wunsch bewirkte.
A
m nächsten Morgen erhielt Thyrian Befehl, die Reisenden aus Nodher in die Empfangshalle zu rufen. Dort wollte der Than die Gäste der Sitte gemäß verabschieden. Er mochte die offiziellen Empfänge vor vielen Zeugen nicht. Thyrian wußte dies genau und meist nahm er wenig-
stens insofern Rücksicht darauf, daß er die Anzahl der Gäste so weit als möglich reduzierte. Aber nun sorgte er dafür, daß die große Halle bis auf den letzten Platz gefüllt war. Er war schon auf dem Weg zum Gasthaus Aristons, als er zögernd zu Tibras Haus sah. Es war ihm verboten, den Freund noch einmal zu sehen. Thyrian seufzte unmerklich. Nymardos befand sich mit Gerrys auf dem Weg zur Halle. Als er Thyrian sah, schickte er den Falla voraus und trat zu ihm. "Ihr solltet nicht einmal daran denken," warnte er freundlich. "Seymas wird es euch nicht verzeihen, wenn ihr Tibra jetzt aufsucht." "Ich habe Befehl, Nodhers Gäste in die Halle zu rufen," erwiderte Thyrian langsam. "Das betrifft aber sicher nicht Tibra." "Nein, sicher nicht," gab Thyrian zu. Er wollte weiter, doch da hielt ihn Nymardos am Oberarm zurück. "Ich bedauere zutiefst, was geschehen ist," versicherte er. "Leider fand ich keine Möglichkeit, vermittelnd einzugreifen und euch dem Than zu versöhnen." "Mich?" vergewisserte sich Thyrian verwundert. "Tibra würde sich genau dies wünschen." Nymardos überlegte, wie offen er reden wollte und entschloß sich dann, jeden Rückhalt aufzugeben. "Es ist seltsam, Pala. Ich weiß genau, daß ich viel härter reagiert hätte als Seymas. In diesen Tagen bin ich mehr als nur froh, daß ich
diese Macht nicht mehr tragen muß. Ich habe mir oft gewünscht, Seymas würde wie ich regieren. Das hat mich seine Nähe gekostet. Und heute wünsche ich, daß er nur seinem Herzen folgt. Er handelt richtig - nach Sitte und Gesetz. Aber er verletzt sich selbst dabei. Ich sorge mich um ihn." "Ihr werdet sicherlich verstehen," entgegnete Thyrian in verbindlichem Tonfall, "daß ich eure Sorge im Moment nicht zu teilen vermag. Ich fürchte mehr um Tibra und werde erst aufatmen, wenn er wieder in Nodher ist." "Ihr habt nicht mit ihm gesprochen," verstand Nymardos. "Das ist mir verboten." "Wenn ihr ihn in die Halle bringt, fordert ihr Seymas erneut heraus." Nymardos überlegte. "Ich verstehe schon, daß dies eure letzte Möglichkeit ist, ihn wenigstens noch einmal zu sehen." "Ihr versteht gar nichts," stellte Thyrian fest. "Mein Befehl bezieht sich auf die Gäste aus Nodher. Unser Gebieter hat Tibra weder ausgeklammert noch besonders erwähnt. Er schuldet mir natürlich auch keine Erklärung." Thyrian wirkte nur mühsam beherrscht. "Es wird erwartet, daß ich meine Befehle befolge - und daß ich sie richtig deute. Und das fällt mir im Moment etwas schwer." "Ihr seid sehr abweisend, Pala." Thyrian lächelte sacht. "Ihr betont mein Amt in der falschen Weise," hielt er Nymardos vor, der dem Wort Pala noch die Bedeutung der Freundschaft beimaß. "Verzeiht, ich habe Nohers Herren zu geleiten. Ihr solltet euch übrigens auch in der Halle einfinden."
Er nickte Nymardos kurz zu, ehe er seinen Weg wieder aufnahm. Thyrian sah nicht zurück und so entging ihm das Grübeln des Mannes, dem er nur mit Vorsicht begegnete.
T
ibra sprang überrascht auf, als die Tür seines Hauses geöffnet wurde. Doch so sehr er sich auch freute, Nymardos zu sehen, so wenig zeigte er dies. "Du solltest nicht hier derzeit gemieden werden."
sein,"
mahnte
er.
"Ich muß
"Ariston und Ilkonys segeln heute. Ich werde mit Gerrys dabei sein. Der Abschiedsempfang beginnt gleich." "Dann beeile dich, damit du nichts versäumst," riet Tibra gleichgültig. "Sobald die Wachen draußen verschwinden, werde ich dann wohl zum Hafen gehen." "Thyrian hat Befehl, die Gäste aus Nodher in die Halle zu bringen," erzählte Nymardos unsicher. "Er weiß nur nicht, ob dich das mit einschließt." "Dann sind sie einander also immer noch fremd," begriff Tibra unruhig. "Konntest du nichts für Thyrian erreichen?" "Seymas weigert sich, über ihn zu reden. Was sollte ich tun, Freund? Mich auch noch mit ihm entzweien?" "Natürlich nicht," versprach Tibra rasch. "Aber so nahe seid ihr zwei euch dann auch nicht gekommen, wenn es dir nicht möglich ist, frei über alles zu reden." Er grinste. "Seymas scheint verletzter, als ich dachte. Das ist gut." "Was ist daran gut?" "Ich würde mir Sorgen machen, wenn ihn das alles nicht belastet," meinte der Magier leichthin. "Wie wichtig ist dir
Seymas' Nähe?" "Was meinst du?" "Nun, wenn du mich jetzt in die Halle bringst, kann es sein, daß er wütend wird." Tibra streifte sich bereits seine priesterliche Tunika über. "Aber immerhin hast du das dann angestellt und nicht Thyrian. Wenn ich fern bleibe und er wollte, daß ich dabei bin, wird er es Thyrian anlasten. Nachdem Thyrian es so oder so nicht richtig machen kann, wäre es mir lieb, wenn du das Risiko des Fehlers tragen wolltest." "Du verlangst viel," zögerte Nymardos. Tibra trat nahe zu ihm, ergriff seine Hände und drückte sie fest. "Es bedeutet mir viel," versicherte er. "Du bringst damit auch dich in Gefahr. Aber das schreckt dich wohl nicht. Nun gut, dann komm mit mir. Aber du wirst zwischen mir und Gerrys bleiben und dich in nichts einmischen." Tibra lachte leise auf. Die Sitten Amrras waren ihm inzwischen sehr vertraut. Er wußte genau, wie er sich zu benehmen hatte und er war auch fest entschlossen, sich in allem völlig korrekt zu verhalten.
A
ls Seymas die Empfangshalle durch die hintere Seitentür betrat und die Huldigung seiner Leute empfing, galt sein Blick doch allein Tibra, den er sofort bei Nymardos entdeckte. Aber kein Muskel seines Antlitzes zuckte auch nur und kein Zeichen verriet ein Erkennen. Er benahm sich ganz wie ein Herrscher, der die Unterwerfung Nodhers akzeptierte. Dann knieten Ariston und Ilkonys vor seinem Thron, um seine Abschiedsworte zu vernehmen. Man spürte genau, daß die Rede des Than wohl vorbereitet war, doch nicht von Herzen kam. Plötzlich unterbrach er sich. Nach einem langen Blick auf Tibra redete er wieder, doch nun waren es keine im voraus schon gewählten Worte mehr. Seymas sprach von Pflicht und Verantwortung und der Notwendigkeit, diese über eigenes Wollen zu stellen. "Steh auf, Ilkonys, und tritt beiseite," verlangte er dann. Nodhers Erbe gehorchte überrascht. Doch er spannte sich an, als sich der Than nun erhob und die drei Stufen von seinem Thron herab kam. Dann stand er dicht vor dem knienden Ariston. "Nodhers Volk hat ein Recht auf einen Herrn, dem sein Wohl über alles geht," mahnte Seymas nüchtern. "Du hast bewiesen, daß dein Amt für dich nicht mehr in allem Vorrang hat." Ariston sah auf. Ihre Blicke trafen sich. Seymas sprach ungerührt weiter: "Du hast Amarra Gehorsam und Treue gelobt und nun fordert Amarra die Einlösung
dieses Schwurs. Du wirst dich von deinem Amt lösen und es ganz in die Hände deines Erben legen." Ilkonys hatte sich angespannt, weil er fürchtete, der Vater würde gedemütigt. Jetzt kniete er still nieder. Atemlose Stille herrschte. Die Menschen begriffen kaum, daß Seymas einen König entmachtete. Nymardos hatte seine Faust um Tibras Handgelenk geklammert, um ihn an einer unbedachten Reaktion zu hindern. Thyrian preßte in ohnmächtigem Zorn die Lippen zusammen. Ariston ergriff die Hände des Than, zog sie an seine Lippen. "Ich höre und gehorche," versprach er mit fester Stimme. Unbemerkt von allen drückte Seymas kurz die Hände des Herrschers. Keiner der Zeugen ahnte, daß er soeben Ariston einen Wunsch erfüllte. Das freiwillige Abdanken des Königs hätte Unruhe in die Reiche gebracht. Doch eine Entmachtung durch Amarra, die ganz in Seymas' Machtbefugnis fiel, erhob Ilkonys, ohne daß andere Erben der Macht dasselbe hoffen wollten. Seymas trat einen knappen Schritt zurück, entließ Ariston so in die Reihen der Zeugen und winkte dann Ilkonys herbei, den er danach wiederum sehr offiziell als neuen König über Nodher begrüßte. "Die Götter sind mit dir, Ilkonys. Und mit deinem Volk." Damit fand der Empfang sein Ende. Seymas verließ als erster die Halle. Doch ehe er die Seitentür erreichte, kam er an Thyrian vorbei, dessen Platz ja schräg hinter dem Thron des Than war. "Du bleibst noch," befahl Seymas knapp, "ebenso Gerrys und Alkar. Bakaar lasse wissen, daß es ihm frei steht, auf Amarra zu bleiben."
Seymas ging hinaus. Es dauerte einige Zeit, bis die Halle sich wirklich leerte. Mehr als zweihundert Menschen mußten hinaus in den Garten und sie beeilten sich nicht damit. Seymas war es lieb, jetzt ein wenig allein zu sein. Er hatte nicht erwartet, Tibra in der Halle zu sehen und er hatte auch nicht geplant, Ariston zu entmachten. Der Gedanke kam ihm erst, als er den Magier sah. Aber er wollte Tibra nicht mehr sehen. Trotzdem empfand er keinen Zorn auf Thyrian, der, wie auch immer, dies ermöglichte. Als er wieder in die Halle kam, unterwarf sich Thyrian ebenso wie Gerrys und Alkar. Seymas winkte ab. Er wollte jetzt keine Förmlichkeiten. "Thyrian, löse den Rapport mit Raakis Falla," verlangte er, ohne sich dabei einem der Männer zuzuwenden. Gerrys erschrak. Mit größter Verwunderung sah er Thyrians gleichmütiges Nachgeben, der seinen Geist sofort auf Gerrys ausrichtete und dann den Rapport zerbrach. "Alkar ist seit Jahren Eingeweihter des Lichts," erklärte Seymas überflüssigerweise, denn das Gewand des Priesters bewies zur Genüge dessen Rang. "Er wird künftig deine Rapportbrücke nach Amarra sein, Gerrys." Rakkis Falla nickte. Es stand ihm ohnehin nicht zu, seinen Rapportbruder selbst zu wählen. Der Than entschied und er hatte zu gehorchen. So richtete er sich auf Alkar aus und schloß den Rapport. Ein Handzeichen des Than genügte, damit sich Alkar dann wortlos entfernte. "Geleite Raakis Falla zum Hafen," befahl Seymas Thyrian. Wiederum verneigte sich sein Pala still und zustimmend. Da ließ sie Seymas allein.
A
uf dem Weg zum Hafen war Gerrys weitaus stiller als Thyrian, der dem Falla von seinem neuen Rapportbruder erzählte. Nur über sein eigenes Empfinden sprach er nicht und Gerrys wagte nicht, danach zu fragen. Die Menschen der Gastinseln und Tibra befanden sich bereits an Bord des Segler. Auch Bakaar war an Bord gekommen. Einst befahl ihn Seymas an Tibras Seite, um für den Magier die Rapportbrücke nach Amarra zu bilden, die er ja nicht selbst eingehen konnte. Inzwischen liebte dieser Mann sein Leben in Minas und er war froh, es nicht aufgeben zu müssen. Nur Ariston, Ilkonys und Nymardos warteten noch am Strand. Gerrys und Thyrian gesellten sich zu ihnen. Die Verabschiedung in der Halle genügte ja noch nicht. Es entsprach Amarras Sitte, Gäste auch im Hafen zu verabschieden. Da Thyrian diese Aufgabe nicht zugedacht wurde, rechneten sie alle mit dem Kommen Carylls. Dann sahen sie Seymas, der allein den gewundenen Pfad zum Meer herab kam. Er verabschiedete zuerst Gerrys, dann sehr freundlich Nymardos. Sein Blick glitt zum Segler, wo er Tibra an der Reeling sah. Da wandte er sich an Thyrian, der sofort die Arme überkreuzte und niederkniete. "Steh auf." Das klang mit einem Mal sehr müde. "Du bist Eingeweihter des Lichts, Thyrian, und hast das Recht, deinen Platz in den Reichen selbst zu wählen. Begib dich an Bord. Mögen die Götter dich geleiten." Er ignorierte Thyrians völlige Überraschung, sondern wandte sich fast hastig an Ariston und Ilkonys, verabschiedete beide und eilte dann mit großen Schritten dem Tempel zu.
D
er Segler glitt aus dem Hafen. Harkym begrüßte freudig den Vater, dem jedoch jetzt der Sinn nicht nach einem Gespräch mit dem Sohn stand. Er war froh, als Farrak sich des Jungen annahm, auch wenn dieser dies nur tat, um einem Gespräch mit Wana auszuweichen. Ariston lud die Freunde in seine eigene Kabine ein, wo er hoffte, sehr offen reden zu können. Es wurde etwas eng. Gerrys und Nymardos setzten sich auf das an der Wand befestigte Lager, Ariston wählte den Stuhl, während Ilkonys sich ungeniert auf den Tisch setzte. Tibra setzte sich auf die Truhe und Thyrian lehnte sich gegen die verschlossene Tür. Jiddan befand sich draußen bei Wana. "Wo ist Orales?" erkundigte sich Tibra arglos. Erst jetzt erfuhr er vom Sterben dieses Mannes und auch davon, daß er zuvor noch einmal das Licht-Ritual erleben durfte. Betroffen kniete er zu Ariston. "Ich bedauere euren Verlust, Gebieter. Ich verdanke euch mein Leben und werde schwer daran zu tragen haben, daß euer selbstloser Einsatz euch euer Amt gekostet hat." Lächelnd zog ihn Ariston auf die Beine, ehe er einen langen Blick mit Ilkonys tauschte. Da lachte der Sohn leise auf. Ilkonys berichtete, wie der Vater schon am Vortag den Entschluß faßte, sein Amt zu enden und wie der Than dies zunächst ablehnte. Daß er auf dem Empfang die Sache dann so regelte, als sei dies Amarras Entscheidung, das täuschte nicht darüber hinweg, daß Seymas Ariston damit einen Dienst erwies. Jetzt waren sie alle verwirrt. Es hatte den Anschein, als sei Ariston schwer gedemütigt worden und ingeheim hatten sie dies Seymas auch angelastet. Nun wußten sie, daß sie ihm hierin Unrecht taten.
Betrübt wandte sich Tibra an Thyrian. Daß auch der Freund aus Amarra verbannt wurde und nicht einmal die Möglichkeit erhielt, etwas von seinen persönlichen Haben mitzunehmen, belastete ihn. Auch Thyrian war nicht erfreut, wenngleich ihm diese Lösung bedeutend besser gefiel als die Aussicht, künftig als fremder Diener in Seymas Nähe zu sein. Thyrian beschloß, nach Sarai, seiner Heimat, zu gehen. Vielleicht ließ sich die alte, kaum aufgekeimte Freundschaft mit dem Pecha Xymenar dort wieder neu beleben. Auch Nymardos fühlte sich nicht wohl. Tief in sich fürchtete er, seine Aussöhnung mit dem Than habe dessen Entfremdung mit den Freunden erst ermöglicht. Sie waren alle sehr bedrückt.
T
ibra ertrug diese Stimmung nicht. Er schob Thyrian beiseite und ging hinaus, um den Fahrtwind zu spüren, als könne der trübe Gedanken wegwischen. Sein Blick hing an der sich entfernenden Küste Amarras. Nach einiger Zeit kam Farrak zu ihm. "Ihr freut euch nicht auf die Heimkehr," stellte er ruhig fest. Tibra sah zu Wana, die mit Jiddan ins Gespräch vertieft ihre Umwelt fast vergaß. "Ihr auch nicht, Farrak. Ein klärendes Gespräch könnte euch wohl helfen." "Es gibt nichts zu reden," wehrte Farrak gelassen ab. "Wana ist der Liebe begegnet und sie wäre töricht, wenn sie das nicht halten wollte." "Aber ihr habt ein Problem damit." "Ich habe ein Problem mit dem Mann, den sie erwählte,"
gab Farrak ruhig zu. "Der Pala Ilkonys' ist mir nicht unbedingt sympathisch." Tibra lächelte wider Willen. "Mir schon," meinte er. "Jiddan ist ein prachtvoller Mensch. In den letzten Tagen war er euer Diener. Da ist es wohl verständlich, wenn er, der er ein Mann der Macht in Nodher ist, eure Nähe nicht unbedingt schätzt." "Ich wurde nie zuvor so aufmerksam und zuvorkommend bedient," grinste Farrak da. "In den letzten Tagen war mir Jiddan durchaus sympathisch. In Nodher wird er wieder überheblich sein. Diesen Priestern gilt das Wort ihres Than wohl so viel wie göttliche Weisung." "Ja, so ist es in etwa," brummte Tibra, den der Gedanke an Seymas belastete. "Dann scheint mir dieser Than ein bedauerswerter Mensch zu sein," stellte Farrak in der ihm eigenen gleichgültigen Art fest. "Er besitzt alle Macht, die nur denkbar ist." "Weltliche Macht," wertete Farrak dies verächtlich ab, "priesterliche Macht. Was ist das schon. Ich habe magische Macht. Das ist auch nichts, Pecha. Nichts, wenn es einsam macht." Er ließ Tibra stehen und ging nun endlich doch zu Wana. Jiddan zog sich sofort höflich zurück. Auch er hatte Farrak falsch eingeschätzt, hielt ihn für unnahbar und äußerst unfreundlich. In den Tagen auf der Gastinsel mußte er dieses Vorurteil revidieren. Dieser düster wirkende Mann besaß durchaus seine Vorzüge. Jiddan war ihm dort unterstellt und doch nutzte Farrak diese Vormachtstellung nicht ein einziges Mal aus. Er nahm den Dienst hin, aber er
ersparte Jiddan dabei jede Demütigung und ließ ihn einfach gewähren. "Willst du dich Jiddan anvermählen?" erkundigte sich Farrak, der nicht gewillt war, so zu tun, als gäbe es im Moment andere Gesprächsthemen. "Ich kenne ihn kaum." Wana lächelte. "Und ganz gewiß will ich zuerst Vesna sehen und mich von ihrem Wohlergehen überzeugen. Aber wenn er es ermöglicht, will ich ihn wiedersehen und näher kennenlernen." "Dazu mußt du doch nur in Burg Nodher bleiben." "Du magst ihn nicht," stellte sie lächelnd fest. "Du magst auch die Burg nicht. Und es ist weit von Minas bis dorthin. Ich will auf deine Nähe nicht verzichten, Farrak." "Du wirst dich entscheiden müssen," sagte er da nur. Jiddan hatte einen Pagen herbei gewunken und sich von ihm einen Krug mit erfrischendem Pejuk-Saft bringen lassen. Dann aber schickte er den Diener weg und trug das Tablett selbst zu Wana und Farrak. Er lächelte dem Magier zu, als er leicht den Kopf neigte, gerade so, als sei er noch immer ihm zum Dienst verpflichtet. Farrak schenkte sich einen Becher voll. Dal beeilte sich, das Tablett zu nehmen, wartete, bis auch Jiddan und Wana einen Becher in der Hand hielten und entfernte sich dann. "Wenn wir in Nodher sind," wandte sich Jiddan an Farrak, "dann hoffe ich, ihr verweilt einige Tage auf der Burg. Wenn auch Wana mit Tibra nach Minas reitet, so würde ich mich doch freuen, wenn ich Gelegenheit erhielte, euch Nodhers Gastfreundschaft auf angenehmere Art zu beweisen, als dies bei eurem letzten Besuch der Fall war."
"Ich werde zweifellos so schnell als möglich nach Minas reisen," lehnte Farrak ab. Wana senkte den Kopf. Der Freund schien Jiddans Angebot nicht verstehen zu wollen. "Vesna ist wie unsere Tochter," fuhr Farrak gelassen fort. "Sie sehnt sich nach uns. Wenn ihr uns jedoch begleiten wollt," fügte er nach kurzer Pause hinzu, "dann wäre dies vielleicht eine gute Gelegenheit, sich näher kennen zu lernen. In Burg Nodher könnte ich mich erst wohl fühlen, wenn sie das Haus eines Freundes ist." "Ich bin sicher," ging Jiddan auf Farraks Tonfall ein, "wenn wir Minas erreichen, wird mir euer Haus gefallen." Der Magier lachte wider Willen. "Mein Haus ist verwüstet, Pala." "Dann bauen wir es wieder auf. Ich habe das in meiner Jugend gelernt und werde es wohl noch vermögen." Das vorsichtige Belauern war längst entschwunden. Jetzt plauderten sie miteinander. Als Jiddan den sich nahenden Dal dann ebenfalls ins Gespräch mit einbezog und damit dessen Nähe zu Farrak ungeachtet seines Standes achtete, legte der Magier jeden Vorbehalt ab und nahm sich vor, die Freundschaft dieses Mannes zu gewinnen.
T
ibra hatte all dies beobachtet und er freute sich über die Entwicklung der Dinge. Wana würde Jiddan sicher noch näher kommen, aber an all dem würde auch Farrak Anteil haben und darin nicht verlieren. Und er dachte über Farraks Worte nach, die Seymas einen bedauerswerten Menschen nannten. Thyrian kam an Deck, ging aber nicht zu ihm. Der Mann aus Sarai lehnte am Hauptmast des Seglers. Tibra spürte förmlich seinen Schmerz. Langsam ging er zu ihm.
"Ich will nicht reden, Tibra," wehrte Thyrian mit dunkler Stimme ab. "Gib mir etwas Zeit, ich bitte dich." "Du sollst mir nur etwas versprechen." Fragend sah ihn der Freund an. "Harkym sagt, er will das Licht suchen." Thyrian sah auf. "Er hat sich entschlossen, Priester zu werden? Wann?" Tibra erzählte es kurz, fuhr dann fort: "Der Junge braucht einen fähigen Leiter, Thyrian. Ich dachte zuerst, ich bringe ihn zu Lyandros in den Tempel der Weisheit." "Der Schüler wählt den Leiter, niemand sonst," lächelte Thyrian nun doch. "Wirst du auf den Jungen achten?" "Was meinst du? Du weißt, daß ich ihn liebe." Tibra drückte kurz seine Hand. Er sagte nichts mehr, sondern ließ den Freund allein und begab sich erneut in Aristons Kabine. "Kehrt um, Gebieter, ich bitte euch," verlangte er. Überrascht sah Ariston ihn an. Nymardos sprang auf. "Seymas bringt dich um, wenn du wieder nach Amarra gehst," rief er warnend. Tibra ignorierte ihn. Er sah nur Ariston an. Der deutete sacht auf Ilkonys.
"Nodher hat einen neuen Herrn," erinnerte er Tibra lächelnd, doch auch sehr besorgt. "Du kannst nicht zurück," mahnte Ilkonys drängend. Tibra sah ihn nur an. "Was willst du erreichen? Seymas wird dich nicht einmal empfangen. Ihr habt euch nichts mehr zu sagen." "Er mir vielleicht nicht," zog Tibra in Erwägung. "Aber ich habe ihm eine Menge zu sagen und ich schwöre dir, bei allen Göttern, Ilkonys, er wird mich anhören." "Und dann?" "Das weiß ich nicht. Es ist mein Wagnis, Freund. Bringe mich nur so weit zur Küste, damit ich schwimmen kann. Wir sind jetzt schon zu weit entfernt." "Schwimmen?" Ilkonys zeigte sich skeptisch. "Du hast in letzter Zeit wohl Wasser genug gesehen." Er öffnete die Tür, rief den Steuermann und gab seine Befehle. "Wir kehren um," versprach er Tibra dann. "Ich bezweifle aber, daß man dich an Land läßt." "Ich warte bestimmt nicht darauf, eingeladen oder begrüßt zu werden," grinste der Magier, der mit einem Mal sehr entschlossen und geradezu heiter wirkte. "Wehe, du verständigst deinen neuen Rapportbruder," drohte er Gerrys dann auf heitere Weise. Gerrys wie auch Nymardos versuchten, ihn umzustimmen, doch Tibra war fest entschlossen und keinem Argument zugänglich. Sie begaben sich an Deck, wo dann auch Thyrian sich bemühte, Tibra diese Absicht auszureden. Er sah bald ein, daß jeder Versuch hierzu erfolglos bleiben würde. Nur Nymardos gab nicht auf. "Ich
kenne
Seymas
seit seiner Geburt," mahnte er
eindringlich. "Ein fröhlicher, freundlicher Mensch, der niemandem weh tun will und der es haßt, wenn er urteilen muß. Deshalb holte er euch nicht vom Meer zurück. Er wollte nicht urteilen." "Er wollte, daß wir absaufen, nur um kein Urteil zu sprechen?" "Letztendlich ja. Um sich das zu ersparen, hat er ja auch seit deiner Rückkehr nicht mehr mit dir gesprochen. laß es genug sein, Tibra. Du kannst nicht mehr an Nachsicht erwarten." "Nachsicht?" fauchte Tibra zornig. "Das ist keine Nachsicht, das ist Willkür." "Das ist ein Urteil, das ihm zusteht," widersprach Nymardos. Thyrian hörte dem Zwist kopfschüttelnd zu, mischte sich aber nicht weiter ein. Er zog Ilkonys beiseite. "Tibras Art, seinen Willen ohne Rücksicht durchzusetzen, kann ihn dieses Mal wirklich das Leben kosten," bemerkte er dabei ohne jede sichtbare Erregung. "Er begibt sich oft leichtfertig in Gefahr und ich stehe ihm gern bei, wenn er damit etwas Sinnvolles erreichen will. Aber jetzt ist sein Vorsatz Wahnsinn. Seymas war nie so zornig und nie so enttäuscht. Er wird Tibra nicht einmal anhören." "Ihr meint, ich soll wenden lassen? Tibra würde mir das nie verzeihen." "Er ist viel versöhnlicher, als ihr annehmt," lächelte Thyrian. "Aber für ein einfaches Wenden ist es schon zu spät." Er deutete aufs Meer, wo man kleinere Segler sah. "Vermutlich weiß Seymas schon, daß wir uns wieder der Küste nahen." Er überlegte kurz und lächelte dann auf eine
sehr seltsame Art. "Bekomme ich einen Becher Wein?" Ilkonys stutzte. Die Bitte kam so unvermittelt, daß er nicht einmal nachhakte. Er winkte einem seiner Leute zu und wenig später hielt Thyrian einen breiten Becher in der Hand, gefüllt bis unter den Rand. "Ich brauche eure Hilfe," lächelte Thyrian, "wenn wir Tibra jetzt vor sich selbst bewahren wollen." "Und wie?" "Nun, er muß unter Deck." Thyrian wartete nicht weiter, sondern ging zu Tibra, dem er den gefüllten Becher anbot. Der Magier, noch sehr erregt von dem heftigen Wortwechsel mit Nymardos, winkte ab. Ilkonys begriff. "Zarbron!" Er rief seinen Teju herbei. Der Führer der Garde mußte nahe an Thyrian vorbei. Ilkonys gab ihm ein Zeichen. Zarbron zögerte, sah zweifelnd auf seinen herrn. Aber als Ilkonys nachdrücklich nickte, rempelte er wie aus Versehen Thyrian an. Der wurde nach vorn gedrückt und ergoß, ebenfalls wie aus Versehen, den Inhalt des Bechers über Tibras Gewand. Der Magier fluchte. "Ich bedauere, Tibra," behauptete Thyrian ungerührt. "Du wirst dich umkleiden müssen." "Wir haben gewiß kein priesterliches Gewand an Bord, das Tibra entspricht," murrte Nymardos, der sich besorgt fragte, wie der Than auf andere Kleidung reagieren würde. Thyrian stieß ihm recht unsanft den Ellbogen in die Seite und da verstand er. "Sehen wir nach, was die Truhen bergen. Es wird sich etwas finden lassen."
Er führte Tibra unter Deck. Ilkonys hatte Zarbron schon seine Befehle erteilt. Der Soldat würde dafür sorgen, daß, sobald sich die Männer in einer Kabine befanden, wie aus Zufall der Riegel einrastete und die Tür verschloß. Thyrian sah an Land. Die Küste wirkte schon wieder sehr groß, sehr nahe; zwar noch viel zu weit entfernt, um sie schwimmend zu erreichem, doch das mußte sich bald ändern. "Soll ich wenden lassen?" erkundigte sich Ilkonys bei Thyrian. "Noch nicht," wehrte der langsam ab. Katamarane kreuzten auf den Wellen. Die Jugendlichen Amarras begrüßten gern auf diese Art die Handelsschiffe, denen sie ein fröhliches Geleit gaben. Thyrian rief Harkym zu sich. "Möchtest du mitkommen?" erkundigte er sich sehr freundlich. Ilkonys trat überrascht einen halben Schritt zurück. "Nach Amarra?" wollte Harkym mißtrauisch wissen. Thyrian nickte sacht. "Nein, da mag ich nicht hin. Der Than kann mich nicht leiden. Ich will nicht, Thyrian." "Es muß nicht sein. Sag deinem Vater, daß... nein, sag ihm nichts." Kurz umarmte er Harkym. "Wir beide sehen uns bestimmt wieder." Dann schickte er den Knaben weg und wandte sich erneut an Ilkonys, den er mit gewohntem Ernst ansah. "Es gibt einen kleinen Unterschied zwischen Tibra und mir: er hat Freunde, die ihn davon abhalten, Tollheiten zu begehen." Er warf einen Blick aufs Meer. "Jetzt laßt
wenden und wagt es nicht, euch ungerufen nochmals Amarras Küste zu nähern." "Ihr wollt nicht wirklich..." "Ich danke euch," unterbrach ihn Thyrian. Dann lächelte er ihm kurz und ehe Ilkonys ihn aufhalten konnte, da hatte er sich schon über die Reeling geschwungen. Rasch rief Ilkonys dem Steuermann seine Befehle zu. Dann beugte er sich weit über Reeling. Thyrian schwamm in großen Zügen, hatte sich schon ein ganzes Stück entfernt. Einer der Katamarane näherte sich dem Schwimmer, um ihn aufzunehmen.
Als einer der Seeleute endlich das Klopfen und Rufen der Eingeschlossenen hörte, war es schon zu spät. Der große Segler befand sich auf dem Weg nach Nodher; Amarras Küste wurde zunehmend kleiner. Tibra tobte und fluchte, aber als Ilkonys auf den weit entfernten Katamaran deutete, der Thyrian aufnahm, wurde er sehr still. Zwar versuchte er noch, Ilkonys zur erneuten Umkehr zu bewegen, doch als dieser nachsichtig, aber bestimmt ablehnte, zog er sich auf Stunden in seine Kabine zurück. In den sinkenden Nebeln erreichte der Segler Nodhers Küste, wo er Anker warf, um auf den neuen Tag zu warten. Ilkonys speiste gemeinsam mit Ariston und den Freunden. Auch Harkym weilte bei ihnen. Der Knabe fragte mehrmals besorgt nach dem Vater. Schließlich gab Nodhers neuer Herrscher einem Pagen Befehl, Tibra zu bewirten. Er ging mit dem Mann, wohl wissend, wie unfreundlich der Magier auch auf solchen Dienst zu unwillkommener Stunde zu reagieren vermochte. Den Diener schickte Ilkonys wieder fort, er selbst jedoch verweilte.
"Erzähle mir endlich, brummte Tibra mißmutig.
wie das geschehen konnte,"
"Ich werde dir alles erzählen," versprach der Freund, "aber erst, nachdem du gegessen hast." Widerwillig griff Tibra nach der Speise. Während er aß, berichtete ihm Ilkonys dann ausführlich, weshalb Thyrian und nicht er nach Amarra zurück kehrte. "Der Wein und der Riegel waren also ein Trick," begriff Tibra, aufkeimenden Zorn unterdrückend. "Thyrian wollte dich schützen und da er das für nötig hielt, gab es wohl wirkliche Gefahr. Nun sei nicht beleidigt, Tibra." "Du hättest ihn aufhalten müssen." "Und wie?" Tibra seufzte, da er hierauf keine Antwort wußte. Sie sprachen weiter miteinander. Tibra wurde wieder zugänglich, doch die Sorge um Thyrian blieb. Am andern Morgen ging er mit Harkym von Bord. Sie befanden sich nahe jener Steilküste, über der der Tempel der Weisheit erbaut wurde. Steile Stufen, in Fels gehauen, führten hinauf. Tibra kam als Gast in den Tempel, doch eigentlich plante er nur, Harkym mit dem hiesigen Falla Lyandros bekannt zu machen. Der Mann und der Knabe fanden auch rasch Gefallen aneinander. Drei Tage später ritt Tibra allein aus dem Tempel. Harkym hatte Lyandros um Leitung gebeten und blieb nun zurück, um seinen Weg zu den Weihen zu finden.
F
ür die jungen Laute auf dem Katamaran war der hohe Gast eine Freude und eine Herausforderung zugleich. Sie wollten zeigen, wie gut sie ihr Gefährt beherrschten. Thyrian kam rasch und sicher an Land. Niemand hielt ihn auf, als er den blütengesäumten Pfad zum Tempel einschlug. Die warme Luft trocknete ihm Gewand und Haar, noch ehe er die Hälfte des Weges ging. Im Tempelbereich erfuhr er, daß Seymas sich innerhalb des hohen Bauwerkes befand und nun wagte er es nicht, ungerufen zu ihm zu gehen. Thyrian wartete. Der Than wußte vermutlich schon von seinem Hiersein, zumindest würde er es sehr schnell erfahren. Am Mittag verließ Seymas den Tempel. Er kam nicht zu Thyrian, sondern schlug einen anderen Weg ein. Ein paar Priester begleiteten ihn. Das Warten wurde ohnehin unerträglich. So endete Thyrian es, indem er nach vorne ging und Seymas den Weg vertrat. Er kniete mit überkreuzten Armen nieder. Seine völlige Unterwerfung verhinderte der Than, indem er einen raschen Schritt nach vorn trat. Mit einer verhaltenen Geste schickte Seymas seine Begleiter fort. Dann sah er still auf Thyrian nieder, der es nicht wagte, den Blick zu ihm zu erheben. "Ich habe dir erlaubt, zu gehen," ergriff Seymas endlich das Wort. "Das war mein letztes Zugeständnis an unsere Freundschaft. Was willst du also hier?"
"Ich bin mit Amarra verwurzelt und kann nur noch hier leben," erwiderte Thyrian mit leiser Stimme. "Warum sollte das für mich wichtig sein?" "Es ist für mich wichtig. Ich bitte darum, wieder in Dienst genommen zu werden." Thyrian kämpfte einen stillen Kampf mit sich, doch dann fügte er ergeben hinzu: "Gebieter." Er sah nicht, wie Seymas' Mundwinkel schmerzvoll zuckten. Aber er hob ihn nicht auf. Seine Stimme klang abweisend: "Dein Dienst taugt nichts mehr, Thyrian." "Ich würde euch dienen wie zuvor, Herr." "Genau wie früher?" "Soweit es mir möglich ist, ja. Nur ohne Anspruch und ohne Widerspruch." Seymas dachte flüchtig daran, daß gerade Thyrians Widerspruch zu den Dingen gehörten, die er so sehr an ihm liebte. Doch darüber sprach er nicht. Er sagte nur: "Du wirst deine Räume im Tempel nicht verlassen. Es gibt für dich weder Geselligkeiten noch Freizeit noch Rituale. Ich werde sehen, ob dein Dienst wieder brauchbar ist." Damit wandte er sich um und ging seiner Wege. Thyrian erhob sich langsam. Er wußte, daß diese Begegnung nicht angenehm ausfallen konnte und im Grunde durfte er mit dem Ergebnis zufrieden sein. Von nun an widmete er sich ausschließlich seiner Arbeit, die er wie zu jener Zeit versah, als er nicht fürchten mußte, Seymas könne sein Werk kritisieren. Es gab zwangsläufig häufige Begegnungen, doch verhielt sich Seymas darin
konstant fremd und abweisend. Es gab weder eine Aussöhnung noch eine Annäherung. Thyrian ertrug dieses Leben. Er beklagte sich nicht, doch jeder in seiner Umwelt spürte genau, wie sehr dieser Mann litt, vor dem sich doch ganz Amarra neigte.
B
akaar, der einst Thyrians Chela war, erfuhr von diesem, daß sein Wirken auf Amarra fortdauerte. Tibra nahm es zur Kenntnis, wohl wissend, daß dies keine Versöhnung der Freunde bedeuten konnte. Doch er sah keine Möglichkeit, etwas zu tun. Bei seiner Ankunft auf Minas weilten Wana, Jiddan und Farrak noch in seinem Haus als Gäste. Sie blieben einige Tage. Die Gäste lenkten Tibra von trüben Gedanken ab. Schon die erste flüchtige Begegnung mit Vesna bewies ihm, daß die junge Frau noch nie direkten Kontakt zur Magie besaß. Selbst die kleine Antaya wußte mehr über diese Dinge als Vesna. Natürlich gab es da kein Urteil, im Gegenteil. Vesna hatte sich sehr eng an Aniela angeschlossen. Sie war froh, als die Fürstin versprach, sie bei sich zu behalten. Tibra fand keine Zeit, um tief zu grübeln. Nicht zuletzt die vier Kinder verlangten seine Aufmerksamkeit. Überraschend kamen dann Ariston und seine Gemahlin Cynesta nach Minas, um endlich einmal viel Zeit mit der Tochter zu verbringen. Der Magier konnte sich des Gefühls nicht erwehren, als verflössen die Tage jetzt schneller; als fliehe jede Gewohnheit vor ihm. Jeder Tag stellte seinen eigenen Anspruch, forderte, verlangte, gab und belohnte. Im Grunde, das wußte er, führte er ein Leben, wie es besser nicht zu wünschen war.
E
in Jahr verging. Farrak lebte inzwischen mit Wana auf Burg Nodher. Vom Tempel der Weisheit kam ganz selten einmal eine Botschaft. Es erstaunte Tibra, daß Lyandros seinem Chela überhaupt diesen, wenn auch nur flüchtigen Kontakt erlaubte. Doch dem Jungen war es wohl zu wichtig,
den Vater von seinen Fortschritten zu unterrichten. Kurz vor der heißen Lichtwende begab sich Tibra auf Reisen. Er blieb einige Tage in Burg Nodher. Farrak befand sich leider nicht mehr hier. So ritt er allein von dort weiter, um dem Treffen seiner Gilde auf Silsa beizuwohnen. Es war mehr Gewohnheit denn Notwendigkeit, daß er über Smink ritt, aber da die Nebel sanken, beschloß er, in diesem winzigen Hafenort zu nächtigen. Er riß hart am Zügel, als er den weißen Segler sah. Der erste Impuls wollte möglichst schnell und möglichst weit reiten. Doch da war auch ein Gefühl, das davon abriet. Tibra gab viel auf sein inneres Fühlen. Also ritt er näher. Zwei Priesterer der zweiten Ebene kamen gelaufen. Sie wollten ihm Pferd und Gepäck abnehmen. "Langsam," wehrte er mißtrauisch ab, "ich bin noch gar nicht sicher, ob ich an Bord gehen werde." Sie wichen erschrocken zurück, während er skeptisch den Segler betrachtete. Er erkannte Sasaran an Bord, nickte ihm grüßend zu, blieb aber weiter an Land. Das Pferd schnaubte ungeduldig. "Du hast völlig recht," redete er da beruhigend mit dem Tier, "wenn du der Ansicht bist, daß du jetzt einen guten Stall verdient hast. Und ich suche mir eine Herberge, bevor ich noch so verrückt bin, an Bord zu gehen." Er führte sein Tier am Zügel mit sich. Was die Frage der Unterbringung betraf, so gab es hier nicht viel Auswahl. Tibra versorgte selbst das Pferd im Stall, obwohl er für dessen Pflege bezahlte. Erst, nachdem er das Tier striegelte und es endlich sein Futter erhielt, ging er in die Herberge, wo der Wirt ihm ein bescheidenes, aber schmackhaftes Mahl bereitete.
Es gab keine weiteren Gäste hier. Smink lag abseits der Handelsstraßen. Fremde blieben die Ausnahme in diesem Ort. So saß Tibra allein an dem großen Tisch aus rohem Holz. Als sich die Tür ins Freie öffnete, sah der Magier auf. Thyrian stand im Raum. Er trug die weiße Gewandung der Lichtpriester. Er lächelte, doch er wirkte blaß und abgespannt. Als er Tibra gegenüber Platz nahm, ergriff der Magier über den Tisch hinweg seine Hand und drückte sie fest. "Ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen," gab Tibra unumwunden zu. "Ich habe nicht einmal erwartet, dich überhaupt jemals wieder zu sehen. Ich freue mich, daß ich mich irrte." "Dir geht es gut?" "Zweifellos viel besser als dir," brummte Tibra. "Du wirkst nicht sehr gesund und zufrieden. Du hättest mit mir kommen sollen." "Nach Amarra?" erkundigte sich Thyrian leicht belustigt. "Nach Minas. Ja, ich weiß, daß du mich vor einer Dummheit bewahrt hast. Aber wäre das nicht auch anders gegangen?" "Die geänderte Fahrtroute hätte Nodher erklären müssen. Aber, nun ja, ich wollte auch nie wirklich fort von Amarra. Kommst du mit mir?" "Bin ich etwa gerufen?" wunderte sich der Magier. "Du bist kein Priester, trotz deiner drei nie anerkannten Weihen. Seymas kann nur Priester rufen. Aber er will dich sehen." "Warum?"
"Ich weiß es nicht. Ich habe Auftrag, dich zu überreden, mit nach Amarra zu kommen." "Überreden? Auftrag? Das klingt nach Konsequenzen." Thyrian schwieg. Da begriff der Magier, daß er zwar diese Einladung ausschlagen konnte, der Freund jedoch dafür zumindest getadelt würde. Also willigte er ein. Die Nacht verbrachte er dann doch auf dem Segler. Thyrian blieb lange bei ihm. Es gab viel zu erzählen, wobei eher Tibra redete und von seinem Alltag sprach. Am andern Tag brachten ihn die Priester nahe zur Insel Silsa.
Z
wei Tage nach der Lichtwende kehrte Tibra auf den weißen Segler zurück, der sofort Kurs auf Amarra nahm. Nun aber war er nicht mehr mit dem leichten Plaudern zufrieden. Er wollte jetzt genau wissen, wie es Thyrian erging. "Wie soll es mir schon ergehen? Ich tue daselbe, was ich immer tat. Ich lenke Amarras Geschick, Tibra." "Das ist aber nicht alles." "Doch, das ist alles." Dies klang sehr bitter. "Als ich zu Seymas kam, nahm er zwar meinen Dienst hin, verbot mir jedoch die Teilnahme an den Ritualen, jegliche Geselligkeit und auch das Verlassen meiner Räume. Nachdem er sah, daß ich in meinem Wirken wie auch früher alle Entscheidungen treffe und jede Verantwortung übernehme, erlaubte er mir das Ritual der Kraft." "Mehr nicht?" forschte Tibra angespannt. "Du solltest mich nicht fragen, Freund." "Hat er etwa verboten, darüber zu reden?"
"Nein, das nicht. So viel reden wir nun auch wieder nicht miteinander. Eigentlich reden wir nur über die Dinge, die für Amarra wichtig sind. Zur kalten Lichtwende hob er jede Beschränkung bezüglich meines priesterlichen Wirkens auf und ich durfte wieder an allen Ritualen teilnehmen, wie ich es wollte." "Was ist mit Freunden, mit Festen? Was ist mit dem Arrest? Du willst doch nicht etwa andeuten, daß du noch immer wie ein Gefangener lebst?" "Nein, das nicht. Seymas hat Zug um Zug alle Beschränkungen erst gelockert und dann aufgehoben. Seit einiger Zeit kann ich wieder leben, wie ich will - zumindest äußerlich. Daß mir das alles nicht gefällt, muß ich dir ja nicht erzählen. Es gefällt mir auch nicht, daß er dich jetzt sehen will. Er ist, was Harkyms Rettung betrifft, noch immer voll Zorn. Als er mir befahl, dich zu holen, bebte seine Stimme vor Erregung." Das klang besorgniserregend. Wie ein Fluch schwebte der Zorn des Than über ihnen, weshalb während der Reise keine gelöste Heiterkeit möglich wurde. Alle ihre Gespräche trugen einen Keim der Unruhe in sich. Seymas war nur vergessen, als sie über Harkym sprachen. Thyrian erzählte dem Freund von dessen Alltag, dessen Fortschritten und Erfolgen. Tibra hatte nicht geahnt, wie genau der Pala des Than den Weg des Jungen beobachtete, zugleich über ihn wachend.
A
marras Küste kam in Sicht. Die Freunde kleideten sich um. Tibra stutzte, als Thyrian ihm den feinen Umhang gab, den er als Zeichen seiner Erhöhung stets trug. Doch er legte sich den Stoff um die Schultern. Der Than schien dies zu wollen und es war nicht ratsam, ihn zu erzürnen. Noch ehe der Segler den Landungssteg erreichte, sahen sie die in glitzerndes Weiß gekleidete Gestalt am Strand. Der Than stand allein, sah ihnen mit verschränkten Armen
scheinbar gelassen entgegen. "Er wartet nur auf dich," bemerkte Thyrian. "Daran zweifle ich nicht," brummte Tibra. "Ich frage mich nur, was er will. Vor einem Jahr war ich ihm kein Wort wert. Ich habe eigentlich gedacht, daß nach all der Zeit die Sache jetzt erledigt ist." Er lächelte Thyrian aufmunternd zu. "Keine Sorge, Freund, ich werde durchaus höflich sein und ihn vor Zeugen als meinen Gebieter achten." "Nur vor Zeugen?" erkundigte sich Thyrian mißtrauisch. "Ich bezweifle, daß er mir Gelegenheit gibt, allein mit ihm zu reden." Tibra lachte leise. "Er weiß genau, daß ich seine Macht dann zu leicht vergesse." Sasaran ließ Anker werfen. Tibra drückte Thyrians Hände, als gäbe es nun einen Abschied für lange Zeit. Dann ging er an Land. Seymas sah ihm mit ausdruckslosem Gesicht entgegen, wartete aber nicht, bis der Magier ganz nahe kam, sondern wandte sich um und betrat einen halb aufs Land gezogenen Katamaran. Tibra unterdrückte ein Grinsen. So wurde er vor vielen Jahren schon einmal hier erwartet. Er hatte nur nicht damit gerechnet, daß der Than wiederum so handeln würde. Der Magier wartete keine Aufforderung ab, sondern folgte Seymas auf das breite Gefährt, wo er sofort die Führleine ergriff. Einige Männer kamen gelaufen und schoben den Katamaran aufs Wasser. Seymas stand vorn im Kanu. Er sah sich nicht nach Tibra um. "Wohin?" erkundigte sich der Magier gelassen. "Wohin du willst." Der Wind blähte das Luggersegel. Tibra zog an der Führleine,
lenkte den Katamaran vom Land weg. Dann wählte er den Kurs an den Gastinseln vorbei, wo sich der flache Sandstrand bald in steile Klippen wandelte. Die Brandung ging hier höher. Tibra hatte durchaus Mühe, das Gefährt sicher zu lenken. In den sinkenden Abendnebeln fand er dann jene Bucht, die er suchte. Sie war vom Land aus nicht zu erreichen, da steiler Fels sie umgab. Der Katamaran schrammte auf Land. Seymas sprang vom Kanu. Er wartete, bis Tibra ihr Gefährt weiter an Land zog, griff dann aber selbst mit zu, da sich dieses Werk als durchaus mühsam zeigte. Der Than entnahm dem Kanu einen geflochteten Korb, ging einige Schritte und stellte ihn dann ab. Er hatte Speise und Trank mitgebracht. Er wirkte unsicher, als er Tibra mit einer Handbewegung einlud, sich zu ihm zu lagern. "Ich sollte vielleicht zuerst wissen, was von mir erwartet wird," lehnte Tibra die Einladung ab. "Nur ein offenes Wort," versprach Seymas ganz ruhig. Tibra setzte sich, doch Mißtrauen und Vorsicht bleiben noch. Er aß und trank, doch er gab sich nicht den Anschein, als sei alles in Ordnung. Seymas legte sich zurück, bettete sein Haupt auf den eigenen Ellbogen und sah zu den sinkenden Nebeln hinauf. "Dein Verhalten ist voll Abwehr," stellte er ohne jede Wertung fest. "Du benimmst dich genau wie Thyrian. Kannst du nicht für ein paar Stunden ehrlich sein?" "Ehrlich wäre es, den durch Thyrian verhinderten Hieb zu Ende zu führen," brummte Tibra unwirsch. "Aber ich bin kein Selbstmörder." "Es ist niemand hier, der werten kann." Seymas lächelte nun doch etwas. Mit geschlossenen Augen fuhr er fort: "Du
bist nicht mein Gefangener. Sasaran bringt dich morgen nach Nodher zurück. Wenn ich Thyrian befehle, mit dir an Bord zu gehen, wirst du ihn dann überreden, auch wirklich mit dir zu gehen?" "Thyrian ist mein Freund. Ich denke, ein Freund entscheidet selbst, was er will. Er braucht nicht meine Überredung, sondern meine Unterstützung - egal, welchen Weg er gehen will." "Er muß gehen," erwiderte Seymas mit Stimme. "Ich ertrage seine Nähe nicht mehr."
trauriger
"Welche Nähe? Ihr seid euch beide fremd und fern." "Genau das meine ich, Tibra. Ihn zu sehen, das bedeutet für mich nur noch eine Belastung. Mein eigenes Amt macht mir keine Freude mehr. Man kann nichts gut tun, das man nicht mit Freude tut. Ich eine noch auf geistiger Ebene die Reiche, aber ich sehe auch, wie dieses Einen immer schwächer wird. Hast du nicht gehört, daß es Spannungen gibt zwischen Sarai und Wyla? Weißt es nicht, daß Thara und Sion ihren Handel unterbinden? Das ist meine Schuld, Tibra, denn ich vollbringe die geistige Verbindung nicht mehr in ihrer ganzen Kraft. Vielleicht finde ich einen Weg des Friedens, wenn ich Thyrian endlich vergessen kann. Aber dazu muß er Amarra verlassen." "Wäre es nicht bedeutend einfacher, sich mit ihm zu versöhnen?" Tibra setzte sich nun ganz nahe zu Seymas, der aber weiter die Augen geschlossen hielt. "Wie sollte das gehen? Verzeihung gebeten." "Wofür sollte er das tun?"
Er hat mich nicht einmal um
"Er hat mich verraten, indem er meine Befehle mißachtete," erwiderte Seymas, dessen Stimmme nun zitterte. "Er dich?" Tibra fühlte den Zorn in sich wie eine Woge aufbäumen. "Nicht du ihn?" Er packte Seymas bei den Schultern und zog ihn etwas nach oben. "Mir kannst du das vorwerfen, wenn du willst. Und nicht einmal ich würde mir diesen Vorwurf gefallen lassen. Thyrian kam mit mir, weil er darauf vertraute, daß du uns zurück bringen würdest. Du hast sein Vertrauen verraten. Und dafür soll er um Vergebung bitten?" Seymas setzte sich nun auf. Er sah Tibra an. Seine wasserhellen Augen erhielten einen dunklen Schimmer. "Ich kann Clandyls und Insannas Tod nicht übergehen." "Du kannst den Tod nicht aufhalten," fuhr ihn Tibra an. "Der Sturm hätte uns alle vernichtet. Der Gegensturm brach lediglich den Mast. Clandyl starb dabei, doch das war ein Unfall und kein Versagen, vor allem nicht Thyrians Versagen. Und Insanna wußte genau, was sie tat. Sie kannte das Risiko und sie hat sich für uns geopfert. Niemand hat ihren Tod gewollt. Aber starke Kräfte sind nicht immer ganz zu lenken. Ohne ihren Einsatz waren wir jedenfalls verloren. Du vergißt, daß noch jemand das Risiko einging. Nymardos hat ebenfalls sein Leben gewagt, als er Thyrian die Richtung wies. Das wäre deine Aufgabe gewesen, nicht die seine. Für dich wäre es zweifellos ein bedeutend geringeres Risiko gewesen." "Wie sollte ich Zeuge eures Sterbens sein und gleichzeitig mein Amt versehen?" erwiderte Seymas bekümmert. "Ich konnte nichts für euch tun." "Wolltest du es denn?" stieß der Magier da bitter aus.
"Nein, ich wollte es nicht. Ihr habt mich verraten und euch von mir abgewandt. Natürlich war ich gekränkt." Tibra grinste wider Willen. "Ich habe dich nie für unfehlbar gehalten," meinte er leichthin. "Der mächtigste Mann der Reiche ist letztlich auch nichts anderes als ein Mann, der seine Emotionen glücklicherweise nicht vollkommen beherrscht. Nimm es einfach hin, Seymas: auch Thyrian ist gekränkt. Er kehrte nicht nach Amarra zurück, weil er dir verzieh. Er tat es, weil dies sein Land ist. Man nennt ihn zu Recht den heimlichen König Amarras. Er ist nur seinem Volk treu geblieben, ungeachtet des Schmerzes, den er dafür hinnehmen muß." "Es gibt keine Beschränkungen mehr für ihn." "Doch, die gibt es. Deine Nähe ist für ihn ebenso unerträglich wie die seine für dich. Und du kannst nicht beides haben, Seymas. Du kannst nicht die Liebe eines Freundes wollen und zugleich von ihm den völligen Gehorsam eines Sklaven erwarten. Diese beiden Dinge schließen sich gegenseitig aus." "Ich muß auf Gehorsam bestehen," beharrte der Than, aber das klang nicht trotzig, sondern traurig. "Wenn du davon überzeugt wärst, hättest du Nymardos um Rat gefragt und nicht mich," grinste Tibra. "Er würde dich in dieser Ansicht bestärken. Du weißt genau, daß ich das nicht tun werde, Freund." "Freund?" Seymas erhob sich unruhig. "Noch immer Freund?" Tibra trat nahe zu ihm. "Ich
war
dessen nicht ganz sicher," gab er zu. "Aber
solange du unter unserem Zerwürfnis leidest, solange bist du es." "Im Moment bist du mir nicht ganz so wichtig," lächelte Seymas da. "Es geht mir nur um Thyrian. Er liebt dich, Tibra. Ich könnte mir denken, daß er in Minas glücklich wird." "Mindestens so glücklich, wie du hier nach seinem Weggang sein wirst." Tibra lachte leise auf. "Ein Glück dieser Art von Einsamkeit hat den Geruch des Todes." Unvermittelt brach der Than hier das Gespräch ab. "Ich danke dir für deine Offenheit," versicherte er. "Aber nun ist genug gesagt. Schlafe jetzt, Tibra." Seymas entfernte sich etwas und die tief wogenden Nebel entzogen ihn sehr schnell jedem Blick. Der Magier seufzte. Er empfand den Verlauf der Dinge nicht als befriedigend, mußte sich aber damit bescheiden.
A
ls Seymas ihn am Morgen weckte, hatte er zuvor aus Früchten, Wurzeln und Nüssen ein Mahl bereitet. Sie aßen schweigend. Unvermittelt faßte Seymas dann nach Tibras Hand. “Du bist immer nach dem Treffen auf Silsa zu mir gekommen. Ich hatte stets ein ganzes Jahr Zeit, mich auf dich zu freuen, Tibra. Ohne diese Freude war mein Alltag nur Last. Ich habe unendlich viel verloren. Du und Thyrian, ihr seid nicht wichtiger als mein Werk, aber sehr viel wertvoller als meine Macht.” In diesem Moment gab er jeden Anschein von Unnahbarkeit auf und ließ den Magier den wehen Schmerz fühlen, den er empfand.
"Muß ich mich bei dir entschuldigen?" fragte er eindringlich. "Das hast du soeben getan," grinste Tibra. "Außerdem werde ich mich hüten, mich völlig mit dem Mann zu überwerfen, dem mein Junge Treue schwören wird." Seymas zuckte förmlich zurück. "Harkym steht unter Leitung," begriff er. "Das dir so sinnlos erscheinende Sterben Insannas hat in dem Jungen die Sehnsucht nach dem geweckt, was ihr Priester Licht nennt," bestätigte der Magier gelassen. "Thyrian hat dir das nicht gesagt?" Seymas schüttelte langsam den Kopf. Der Freund mußte sehr verletzt sein, wenn er diese gute Nachricht verschwieg. Doch der Than sagte nichts weiter dazu.
S
ie segelten zurück zum Hafen. Der Segler, der Tibra nach Nodher bringen sollte, wartete schon. Seymas begleitete den Magier auf den Landungssteg. "Ich hoffe, du kommst wieder," gab er dort zu. "Aber jetzt will ich kein Verweilen von dir, denn ich muß zuerst mein Leben in Ordnung bringen. Verstehst du das?" Als Tibra nickte, entnahm der Than einer Falte seines Gewandes das Opalsiegel und reichte es dem Magier. "Ich möchte, daß du es wieder trägst," erklärte er bittend. Tibra zögerte. Aber dann zog er den Freund zu einer herzlichen Umarmung an sich, ungeachtet der unzähligen Blicke, die sie trafen. Geraume Zeit hielt er Seymas einfach fest. Als er dann die Kette des Anhängers über den Kopf zog, lächelte Seymas.
"Ich komme zu dir, sobald ich kann," versprach er. "Dann werden wir über alles reden." "Der Than geht nicht auf Reisen." "Ich werde es willkommen bin."
tun," versprach Seymas, "wenn ich dir
"Ich freue mich darauf." Tibra deutete eine Verneigung an, ehe er sich dem Schiff zuwandte. Er sah noch einmal zurück, sah Seymas lächeln und spürte dabei, daß dieser seine innere Ruhe und Kraft wieder fand. Da ging er zufrieden an Bord, um die Heimreise zu beginnen.
S
eymas ging nicht sofort zum Tempel. Er brauchte Zeit, um seine Gedanken zu ordnen und das Gehörte wie das nicht Gesagte zu verinnerlichen. Am Nachmittag erst suchte er Thyrians Gemächer auf. Der Freund legte sofort die Schrift, in der er las, beiseite. Wortlos kniete er nieder. Er wußte schon, daß sich Tibra auf dem Heimweg befand und dachte mit Erleichterung daran. Seymas trat zum Fenster, sah schweigsam hinaus. Es fiel ihm schwer, einen Anfang zu finden. Irritiert erhob sich Thyrian. Er wartete. Es dauerte geraume Zeit, bis sich der Than zu ihm umwandte. "Tibra ist der festen Ansicht," gestand er in leichtem Plauderton, "daß ich mich bei dir entschuldigen muß. Eigentlich kam ich genau deswegen zu dir. Aber es geht nicht, Thyrian. Ich bin mir keiner Schuld bewußt." Verblüfft trat der Freund einen Schritt zurück, hob langsam den Blick und sah ihn fassungslos an. "Indem ich allerdings darüber nachdachte," fuhr Seymas ungerührt fort, "verlor die ganze Angelegenheit auch an Wichtigkeit. Ich würde mir wünschen, daß wir einen Neuanfang finden."
Thyrian sagte nichts dazu. Forschend betrachtete er den Freund, der zugleich alle Macht über ihn besaß. Ein trauriges Lächeln umspielte Seymas' Lippen, als er jetzt zur Tür ging. "Wartet," bat Thyrian da rasch. "Einen neuen Anfang kann man nicht aufschieben." "Und was kann ich tun, um ihn zu ermöglichen?" Thyrian zögerte. Ihm fielen einige Möglichkeiten hierzu ein, doch keine wirkte befriedigend. Er dachte an Tibra. Der Magier verbrachte nur eine Nacht mit Seymas und in dieser kurzen Zeit hatte er nicht nur sehr deutliche Worte gefunden, sondern auch eine Versöhnung erreicht. Ganz gewiß ging er dabei nicht sehr vorsichtig zu Werke. Thyrian schmunzelte, als er sich Tibras sehr direkte Rede vorstellte. Der Than legte wohl keinen Wert auf ein langsames Ändern der Entfremdung. "Wir könnten über einige eurer letzten Entscheidungen reden," schlug Thyrian halb nachdenklich vor. "Möglicherweise sollte ich meine Bedenken hierzu artikulieren." "Deine steten Einwände habe ich wirklich vermißt," gab Seymas aufatmend zu. "Aber du kannst bestimmt nicht mit mir streiten, solange du mich so fremd anredest." "Ich will nicht streiten. Ich will nur offen darlegen, was mir nicht gefällt und meine Argumente vorbringen dürfen." "Das sollte ein Anfang sein?" Seymas blieb skeptisch, aber er ging auf den Vorschlag ein. Die nächsten Stunden verbrachten sie mit Arbeit. Es gab keine wirkliche Diskussion, nur in manchen Bereichen ein ausführliches Erwägen aller Tatsachen. In einigem gab Seymas dann nach, bei anderen Dingen bestand er auf seiner Ansicht.
Der Tempel rief zum Ritual der Weisheit. Seymas lächelte Thyrian zu, als er ihn bat, diese Stunde zu leiten. Damit gewährte er ein Privileg, das er Thyrian ein ganzes Jahr lang entzog. Die Leitung der rituellen Stunden wurde stets nur sehr verdienten Priestern übertragen. Thyrian ließ sich nicht zwei Mal bitten. Nur zu gern begab er sich in die heilige Halle. Als er dann später wieder in seine Räume kam, fand er Seymas nicht mehr vor. Doch auf seinem Arbeitstisch lag ein faustgroßer Kristall. Behutsam nahm Thyrian das Kleinod in die Hand. Der Sumpfkristall glühte kaum, spendete fast kein Licht. Thyrian lächelte, als er seinen Geist zentrierte und danach den Stein hell aufflammen sah. Das warme Licht des Lebenden Kristalles erschien ihm wie ein schwacher Abglanz der Liebe, die seine Freunde ihm schenkten. Jetzt wußte er, daß die Nähe zu Seymas keine Vorbehalte mehr duldete und er, vermutlich mehr als jemals zuvor, dem Than in aller Offenheit und ohne jede Beschränkung begegnen konnte. Ihre Freundschaft hatte die wohl schwerste Prüfung bestanden und würde nie wieder ins Wanken geraten.